Episierung im Drama: Ein Beitrag zur transgenerischen Narratologie 9783110488159, 9783110480719

This monograph builds upon transgeneric narratology to develop a new model of epization in drama. It differentiates betw

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German Pages 332 [334] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
1.1 Darstellung der Problematik
1.2 Forschungsstand
1.3 Zielsetzung
1.4 Methode und Vorgehen
2. Das Drama in der Forschung
2.1 Das Drama zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft
2.2 Dramentext und Aufführungstext
2.3 Was ist ein Drama?
2.3.1 Literarisches Kriterium
2.3.2 Aufführungskriterium
2.3.3 Textuelles Kriterium
2.3.4 Typographisches Kriterium
3. Drama und Narratologie
3.1 Gründe für eine Narratologie des Dramas
3.1.1 Die Geschichte als Gemeinsamkeit von Drama und Erzähltext
3.1.2 Terminologische Substituierbarkeit und theoretische Konvergenz
3.1.3 Inkommensurabilität der bisherigen Forschungsansätze
3.2 Was ist Erzählen?
3.2.1 Zur Bestimmung des Narrativ-Begriffs
3.2.2 Erzählen als kommunikativer Akt
3.2.3 Das Erzählen und das Narrative als kognitives Schema
3.2.4 Minimaldefinition und Narreme am Beispiel von Catharina von Georgien
3.2.5 Zusammenfassung
3.3 Das Was und das Wie eines narrativen Textes
3.3.1 Das Was und das Wie
3.3.2 Narrative und diegetische Ebenen
3.3.3 Kritik an der Terminologie
3.4 Zustände und Ereignisse
3.4.1 Ereignis I
3.4.2 Ereignis II
3.4.3 Ereignis III
3.4.4 Zusammenfassung
3.5 Das Kommunikationsmodell
3.5.1 Das Kommunikationsmodell bei Schmid
3.5.2 Das Kommunikationsmodell bei Pfister
3.5.3 Das Kommunikationsmodell bei Nünning
3.5.4 Die Implikationen des Modells
3.5.5 Das Kommunikationsmodell und die diegetischen Ebenen im Drama (Bühnendiegese und freie Diegese)
3.6 Mittelbarkeit und Erzähler
3.6.1 Die Problematik der Eigenschaft Mittelbarkeit
3.6.2 Verborgene und offensichtliche Erzähler
3.6.3 Diegetische und mimetische Narrationen
3.6.4 Zusammenfassung
3.7 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz)
3.7.1 Grundlegende Überlegungen zur Einführung einer Erzählinstanz im Drama
3.7.2 Verschiedene Konzeptionen eines Erzählers im Drama
3.7.3 Die dramatische Instanz
3.7.4 Dramatische Instanzen anhand von drei Beispielen
3.8 Funktionen von Haupt-, Neben- und Paratext
3.8.1 Haupt- und Nebentext
3.8.2 Paratext und nebentextueller Paratext
3.8.3 Funktionen des Nebentextes
3.9 Zusammenfassung des Kapitels
4. Episierung im Drama
4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung
4.1.1 Episierung und episches Theater
4.1.2 Episierung bei Peter Szondi
4.1.3 Episierung bei Bernhard Asmuth
4.1.4 Episierung bei Manfred Pfister
4.2 Kritik an bisherigen Modellen
4.2.1 Der Begriff ›episch‹
4.2.2 Das Brecht’sche ›Paradigma‹
4.2.3 Inkommensurabilität der bisherigen Theorie im Umfeld einer postklassischen Narratologie
4.2.4 Lösungsansatz und weiteres Vorgehen
4.3 Das revisionierte Modell der Episierung
4.3.1 Schreibweisen und Verfahren
4.3.2 Narrative Motivation
4.3.3 Episierung im Drama
5. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Autorenverzeichnis
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Episierung im Drama: Ein Beitrag zur transgenerischen Narratologie
 9783110488159, 9783110480719

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Alexander Weber Episierung im Drama

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 24

Alexander Weber

Episierung im Drama Ein Beitrag zur transgenerischen Narratologie

ISBN 978-3-11-048071-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048815-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048693-3 ISSN 2198-932X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786 Satz und Druckvorlage: Alexander Weber, Erlangen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Studie ist meine überarbeitete Dissertation, die im Dezember 2013 abgegeben, im März 2015 verteidigt und schließlich von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg angenommen wurde. Nur die Unterstützung von verschiedensten Seiten machte es möglich, die Arbeit in dieser Form entstehen zu lassen. Mein herzlicher Dank gilt meinem akademischen Lehrer, Ratgeber und Doktorvater Professor Dr. Dirk Niefanger. Er half mir mit konstruktiven Gesprächen, seinen kritischen Einsichten sowie Anregungen und Hilfestellung über den gesamten Verlauf der Arbeit an dieser Dissertation. Professorin Dr. Christine Lubkoll danke ich für die intensive Beurteilung meiner Arbeit als Zweitgutachterin und für ihre unterstützenden Worte in der Endphase und vor der Verteidigung derselben. Ich bedanke mich insbesondere auch bei Professor Dr. Michael Scheffel, der sich bereit erklärte ein drittes Gutachten zu übernehmen. Er brachte mir gerade für den narratologischen Aspekt meiner Arbeit nochmals wertvolle Kritik entgegen. Bedanken möchte ich mich auch bei Professor Dr. Georg Seiderer, der sich die Zeit für die Verteidigung meiner Dissertation nahm und bei der regen Diskussion aus der Sicht eines Historikers auch ein fachübergreifendes Interesse am Thema meiner Arbeit bekundete. Mein Dank gilt auch allen Diskutanten der zahlreichen Erlanger Forschungskolloquien. Für Inspiration, Diskussion und seelische Unterstützung geht mein herzlicher Dank schließlich noch an Dr. Michael Beck, Florian Eberle, Privatdozent Dr. Alexander Fischer, Florian Hoffman, Professorin Dr. Erika Greber, Dr. Viktoria Gutsche, Dr. Katrin Kurzbuch, Dr. Christiane Zauner-Schneider, Franziska Weber und Felix Werner, M. A. Bedanken möchte ich mich darüber hinaus bei Katharina Lukoschek, M. A. für ihre sorgfältige Korrektur und konstruktive Kritik in der Endphase dieser Arbeit. Tiefen Dank zuletzt naturgemäß an meine Eltern Franziska und Alfred Weber. Nürnberg, im April 2016

Alexander Weber

Inhalt Vorwort | V 1 1.1 1.2 1.3 1.4

Einleitung | 1 Darstellung der Problematik | 1 Forschungsstand | 3 Zielsetzung | 8 Methode und Vorgehen | 9

2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4

Das Drama in der Forschung | 17 Das Drama zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft | 18 Dramentext und Aufführungstext | 22 Was ist ein Drama? | 30 Literarisches Kriterium | 31 Aufführungskriterium | 32 Textuelles Kriterium | 34 Typographisches Kriterium | 35

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4

Drama und Narratologie | 38 Gründe für eine Narratologie des Dramas | 38 Die Geschichte als Gemeinsamkeit von Drama und Erzähltext | 38 Terminologische Substituierbarkeit und theoretische Konvergenz | 39 Inkommensurabilität der bisherigen Forschungsansätze | 41 Was ist Erzählen? | 49 Zur Bestimmung des Narrativ-Begriffs | 50 Erzählen als kommunikativer Akt | 56 Das Erzählen und das Narrative als kognitives Schema | 61 Minimaldefinition und Narreme am Beispiel von Catharina von Georgien | 74 Zusammenfassung | 77 Das Was und das Wie eines narrativen Textes | 78 Das Was und das Wie | 79 Narrative und diegetische Ebenen | 81 Kritik an der Terminologie | 89 Zustände und Ereignisse | 94 Ereignis I | 95 Ereignis II | 104 Ereignis III | 111 Zusammenfassung | 113

3.2.5 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4

VIII | Inhalt 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.7 3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4 3.8 3.8.1 3.8.2 3.8.3 3.9 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3

Das Kommunikationsmodell | 116 Das Kommunikationsmodell bei Schmid | 119 Das Kommunikationsmodell bei Pfister | 120 Das Kommunikationsmodell bei Nünning | 122 Die Implikationen des Modells | 126 Das Kommunikationsmodell und die diegetischen Ebenen im Drama (Bühnendiegese und freie Diegese) | 131 Mittelbarkeit und Erzähler | 134 Die Problematik der Eigenschaft Mittelbarkeit | 134 Verborgene und offensichtliche Erzähler | 139 Diegetische und mimetische Narrationen | 149 Zusammenfassung | 157 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz) | 159 Grundlegende Überlegungen zur Einführung einer Erzählinstanz im Drama | 159 Verschiedene Konzeptionen eines Erzählers im Drama | 163 Die dramatische Instanz | 170 Dramatische Instanzen anhand von drei Beispielen | 173 Funktionen von Haupt-, Neben- und Paratext | 176 Haupt- und Nebentext | 178 Paratext und nebentextueller Paratext | 181 Funktionen des Nebentextes | 183 Zusammenfassung des Kapitels | 187 Episierung im Drama | 194 Die bisherigen Modelle der Episierung | 194 Episierung und episches Theater | 196 Episierung bei Peter Szondi | 214 Episierung bei Bernhard Asmuth | 221 Episierung bei Manfred Pfister | 224 Kritik an bisherigen Modellen | 244 Der Begriff ›episch‹ | 244 Das Brecht’sche ›Paradigma‹ | 247 Inkommensurabilität der bisherigen Theorie im Umfeld einer postklassischen Narratologie | 249 Lösungsansatz und weiteres Vorgehen | 253 Das revisionierte Modell der Episierung | 255 Schreibweisen und Verfahren | 255 Narrative Motivation | 262 Episierung im Drama | 284

Inhalt

5

Zusammenfassung | 298

Literaturverzeichnis | 301 Stichwortverzeichnis | 317 Autorenverzeichnis | 321

| IX

1 Einleitung 1.1 Darstellung der Problematik »The commonly accepted doctrine can be summed up as follows: The novel tells, drama shows.«¹ Das Drama erzählt nicht. Vielmehr stellt es dar oder zeigt. Unter Erzählen wird in diesem Zusammenhang ein kommunikativer Akt verstanden, bei dem ein Erzähler einem Leser oder Zuhörer eine Geschichte vermittelt. Der Erzähler beschreibt dabei Orte und Figuren sowie Handlungen, die diese Figuren vollführen. Im Drama wird die Geschichte allerdings direkt und unvermittelt auf einer Bühne präsentiert. Diese Argumentation scheint nach wie vor ein Dogma der Literaturwissenschaft zu sein, obwohl sich nicht von der Hand weisen lässt, dass sich im Drama durchaus erzählende Passagen finden. So gibt es raffende und erzählende Berichte von Boten, Chöre, von denen die Handlung kommentiert wird, oder Regiefiguren wie etwa im epischen Theater, die die Handlung reflektieren oder vor den Augen des Zuschauers sogar beeinflussen. Dazu gezählt werden können auch Phänomene wie die Hinwendung einer Figur an die Zuschauer (ad spectatores), die die Vierte Wand durchbricht, Prologe und Epiloge, die eine Rahmengeschichte aufbauen oder metadramatische Elemente wie das Spiel-im-Spiel. Sieht man von der Aufführung des Dramas ab und lenkt den Blick in die Richtung des Dramentextes, tritt darüber hinaus oftmals der Fall ein, dass Inhaltsangaben oder kommentierende Vorworte der eigentlichen Handlung vorangestellt sind. Um diese Phänomene zu erklären, sind Theorien einer sogenannten Episierung des Dramas entwickelt worden, die auf der obigen Unterscheidung aufbauen. Erzählend zu sein heißt demzufolge episch zu sein. Des Weiteren bedeutet erzählend zu sein, einen Erzähler zu besitzen. Dementsprechend wird dramatisch zu sein entgegengesetzt verstanden: Im Drama ist kein Erzähler vorhanden, weswegen im Drama auch nichts erzählt wird. Ob ein Text einen Erzähler hat oder nicht, stellt damit das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Dramen- und Erzähltexten dar. Erstere sind zeigend und unmittelbar (showing), weil eine vermittelnde Instanz fehlt, letztere sind erzählend und damit mittelbar (telling). Hinzu kommt, dass man in der Forschung epische Elemente in Dramentexten häufig mit dem epischen Theater in Verbindung bringt. Konsequenterweise werden diesen Elementen dann die entsprechenden Funktionen zugeschrieben, etwa die Erzeugung von Distanz zwischen dem Zuschauer und dem Dramengeschehen oder die Brechung der Realitätsillusion, die gerade in klassischen

1 Ansgar Nünning/Roy Sommer: The Performative Power of Narrative in Drama. On the Forms and Functions of Dramatic Storytelling on Shakespeare’s Plays, in: Current Trends in Narratology, hrsg. v. Greta Olson, mit einem Vorw. v. Monika Fludernik/Greta Olson (Narratologia 27), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2011, S. 200–231, hier S. 204. DOI 10.1515/9783110488159-001

2 | 1 Einleitung Dramen bevorzugt erzeugt wird. Die gängigen Erklärungsansätze weisen solcherlei Dramen eine Sonderstellung innerhalb der Gattung des Dramas zu oder sehen in ihnen sogar eine vierte Gattung neben der Epik, der Lyrik und der (konventionellen) Dramatik. Die epischen Elemente werden darin als Ausnahmen von einer gattungslogischen Regel betrachtet, nach der im idealtypischen Drama keine Vermittlung zwischen dramatischem Geschehen und Zuschauer besteht, ein Erzähler fehlt und weder mit distanzierenden noch mit illusionsbrechenden Mitteln gearbeitet wird. Problematisch werden diese Zuordnungen, wenn trotz der Analogien zwischen Erzähltexten und Dramen unterschiedliche Terminologien verwendet werden müssen, die die ›klassische‹ Erzähltheorie von der Dramentheorie trennen. Eine Schwierigkeit ergibt sich auch, wenn anerkannt wird, dass epische Elemente speziell des epischen Theaters der Gestalt nach in Dramen existieren, die unabhängig von oder zeitlich vor der Brecht’schen Theater- und Dramenästhetik entstanden sind, jedoch nicht dieselbe Funktion erfüllen. In der Narratologie entwickelten sich um 1990 verstärkt Ansätze einer sogenannten postklassischen Narratologie. Eine ihrer Prämissen lautet, dass nicht nur in Texten der Epik erzählt wird und dementsprechend nicht nur Erzähltexte narrativ sind. Mit dieser ›narratologischen Wende‹ begann sich die Narratologie auf andere Gattungen als die der Epik, aber auch auf andere Medien als die der Literatur auszuweiten. Sie wurde mit anderen Worten transgenerisch und transmedial und in der Folge entsprechend auch transdisziplinär.² Mit der narratologischen Wende wurden neue methodische Rahmenbedingung geschaffen, die dazu führten, dass einschneidende terminologische Revisionen vorgenommen werden mussten. Diese sind besonders auffällig, wenn man solche erzählenden Passagen in Dramen betrachtet, wie sie eingangs erwähnt wurden. Wenn episch zu sein bedeutet narrativ zu sein, das Drama aber in der Folge der narratologischen Innovationen nun doch als narrativ betrachtet wird, kann erstens die Differenzierung der Gattungen über die Eigenschaften ›episch‹ und ›dramatisch‹ nicht mehr aufrechterhalten werden und zweitens werden die bisherigen Theorien einer Episierung des Dramas hinfällig. Während die Theorien der Episierung noch bestimmte ästhetische Phänomene in Dramen beschreibbar zu machen versuchten, kehrte sich die Herangehensweise mit der postklassischen Narratologie um. Das Drama wurde nun wie die Erzähltexte als

2 Vgl. hierzu etwa auch Überlegungen aus dem Bereich der Game Studies und allgemein der transmedialen Narratologie: Hans-Joachim Backe: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 44), Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, passim und insbesondere S. 167–172; vgl. Jan-Noël Thon: Game Studies und Narratologie, in: Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung, hrsg. v. Klaus Sachs-Hombach/Jan-Noël Thon, Köln: Herbert von Halem Verlag, 2015, S. 104–164; vgl. Jan-Noël Thon: Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture, Lincoln: University of Nebraska Press, 2016.

1.2 Forschungsstand | 3

eine narrative Gattung verstanden. Unter dieser Voraussetzung ist Episierung keine Besonderheit mehr im Drama. Es muss in Dramen nicht mehr punktuell nach epischen Anteilen gesucht werden. Vielmehr ist das ganze Drama episch bzw. narrativ. Damit einher geht die synonyme Verwendung der Begriffe ›episch‹ und ›narrativ‹. Zum einen leuchtet so jedoch die Gegenüberstellung von ›episch‹ und ›dramatisch‹ nicht mehr unmittelbar ein. Zum anderen verschiebt die analoge Differenzierung von ›narrativ‹ und ›dramatisch‹ das Problem lediglich, ohne eine Lösung zu bieten, denn die Gegensätze haben sich mit dem postklassischen Zugang erübrigt. Narrativ zu sein bedeutet diesem Verständnis folgend nicht mehr unbedingt, einen Erzähler zu besitzen. Stattdessen kann auch einfach nur eine Geschichte präsentiert werden, wobei es unerheblich ist, ob dies über eine mittelbare Darstellung in Erzähltexten mit Erzähler geschieht oder über eine unmittelbare Darstellung wie etwa in Theateraufführungen oder Filmen und ohne Erzähler. Diese eben beschriebene Forschungskonstellation bildet die grundlegende Problematik, mit der diese Studie konfrontiert ist. Bei dem Vorhaben, die Theorie der Episierung zu revisionieren, kommen jedoch noch weitere Problemstellungen hinzu. So ergeben sich eine begriffliche Diversität in Bezug auf den Terminus ›episch‹ (unter anderem breit, detailreich, episodisch) sowie bisweilen eine Inkommensurabilität³ in Bezug auf die zugehörigen Theorien der bisherigen Forschung. Ferner wird der Begriffsumfang häufig erweitert: ›Episch‹ wird zum einen in die Nähe von ›narrativ‹ gerückt und wird zum anderen aufgrund des paradigmatischen Charakters des epischen Theaters als dialektisch, verfremdend und illusionsbrechend begriffen. Die bisherigen Theorien bauen auf eben diesen unterschiedlichen Bestimmungen des Begriffs des Epischen auf. Diese Unterschiede werden unter anderem anhand eines genaueren Blicks auf die Forschung zur Episierung im Drama und zur postklassischen Narratologie verdeutlicht und kritisch beleuchtet.

1.2 Forschungsstand Kommt es zur Episierung im Drama, spricht man in den bisherigen Theorien von einer erzählerähnlichen Instanz, die vermittelnd zwischen die dargestellte Handlung und den Zuschauer geschaltet erscheint. Peter Szondi erkennt in dieser Instanz den Autor eines Dramas, was im Rahmen seiner Überlegungen als Abweichung von einer Normal-

3 Manfred Pfister und Reinhold Grimm verweisen mit Blick auf die unterschiedlichen Phänomene, die als episch bezeichnet werden, auf die Problematik bei der Begriffsverwendung. Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse (Information und Synthese 3), München: Wilhelm Fink Verlag, 11 2001, S. 104; vgl. Reinhold Grimm: Naturalismus und episches Drama, in: Episches Theater, hrsg. v. Reinhold Grimm (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 15), Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1966, S. 13–35, hier S. 28.

4 | 1 Einleitung form gelten kann.⁴ Denn innerhalb seiner literatur- und ideengeschichtlichen Reflexion des Dramas erhebt er das von ihm so bezeichnete absolute Drama zur ›dramatischsten‹ Form dieser Gattung, um so Episches in Dramen kontrastiv sichtbar zu machen. Bernhard Asmuth sieht die Erzählerrede, wie man sie aus Erzähltexten kennt, im Nebentext eines Dramas verwirklicht.⁵ Asmuth stellt allerdings die Bedingung auf, dass der Nebentext nur dann als Erzählerrede verstanden werden könne, wenn sich ein Erzähler explizit bemerkbar macht.⁶ Die ausladenden Nebentexte naturalistischer Dramen begreift er daher als einen deutlichen Hinweis auf eine solche erzählende Instanz.⁷ Einen etwas anderen Ansatz verfolgt Manfred Pfister. Seine Monographie Das Drama⁸ hat den Anspruch, eine Einführung in den Bereich der Dramentheorie zu leisten. Sie bietet trotz ihres Überblickcharakters noch immer eine der differenziertesten und umfassendsten Darstellungen von Begriffen, Theorien und Konzepten der Dramentheorie. Pfister unterbreitet innerhalb dieser analytisch-strukturalistischen Aufarbeitung einen Vorschlag zur Integration der Episierung in die Dramentheorie und -analyse und verwendet Untersuchungen bis ca. 1980. Er versucht, die Episierung anhand einer veränderten Kommunikationssituation zu erklären.⁹ Von Episierung spricht Pfister dann, wenn entweder der Zuschauer direkt von einer Figur des Stücks angesprochen oder eine vermittelnde Ebene mit einem zugehörigen Erzähler gebildet wird. Allerdings sind diese Ansätze, die noch von einer disjunkten Trennung in Epik und Dramatik anhand der Eigenschaften erzählend (narrativ/episch) und darstellend (dramatisch) ausgehen, nicht mehr kompatibel mit Ansätzen der postklassischen Erzähltheorie, für die auch das Drama als narrativer Text gilt. Zusätzlich behandeln die bisherigen Ansätze der Episierung im Drama und insbesondere des epischen Theaters oftmals lediglich Funktionen und Manifestationen eines Verfahrens, das dem Epischen zugeordnet wird, ohne das Verfahren im Vorfeld genau bestimmt zu haben. So wird oft in Bezug auf beispielsweise eine erzählende Instanz im Drama davon gesprochen, dass sie illusionsbrechend wirken kann. Es ist jedoch nicht klar, welches Verfahren genau zum Einsatz kommt, um eine erzählende Instanz zu erzeugen bzw. einen Illusionsbruch hervorzurufen. Man setzt also bereits bestimmte Sichtweisen über des Wesen des Epischen und des Dramatischen als dessen Gegenbegriff voraus.

4 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. 1880–1950 (edition suhrkamp 27), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1963, S. 17. 5 Vgl. Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (Sammlung Metzler 188), Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 5 1997, S. 53; vgl. außerdem auch Holger Korthals: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 6), Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2003, S. 80. 6 Vgl. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 55. 7 Vgl. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 53. 8 Pfister: Das Drama (2001). 9 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 21.

1.2 Forschungsstand | 5

Was ein zugrundeliegendes episches Verfahren ausmacht, das zu bestimmten Effekten in Dramentexten führt und das für bestimmte Funktionen eingesetzt wird, bleibt meist vage. Auch das Phänomen als solches erscheint in den bisherigen Theorien begrifflich noch nicht präzise genug bestimmt. Der Grund dafür mag in der strikten Trennung von Zuständigkeiten, Konzepten und Analysekategorien zwischen der klassischen Dramen- und Erzähltheorie liegen. In dieser Konstellation konnte eine übergreifende Bestimmung des epischen Verfahrens meines Erachtens nicht bewerkstelligt werden. Die Trennung führte vielmehr zu Vermischungen, Behelfskonstruktionen und Ausnahmen, die eine Regel bestätigen, anstatt den Erzähler als Analysekategorie des Epischen im Drama, der dessen ›Normalform‹ gänzlich abgesprochen wird, für die Dramentheorie fruchtbar zu machen. Dieser Logik zufolge tritt beim Einsatz beispielsweise eines Boten oder eines Chores wie auch eines Prologes oder eines Spiel-im-Spiel ein Erzähler in Erscheinung bzw. wird zumindest eine vermittelnde Ebene erzeugt, die ein ›normales‹ Drama nicht besitzt. Mit der narratologischen Wende kann allerdings die aus der Sicht einer sich dezidiert von der Narratologie absetzenden Dramentheorie postulierte Unmöglichkeit des Erzählers im Drama nicht mehr ausreichend gerechtfertigt werden. Auch können die im bisherigen Modell der Episierung forcierten und benötigten Gattungs- und damit auch Analysedifferenzen zwischen Dramatik und Epik nicht mehr in der Form aufrechterhalten werden, wie sie für die bisherige Theorie der Episierung betont und für ihre Anwendung benötigt wurden. Mit den postklassischen Ansätzen in der Narratologie gerieten allerdings epische und dramatische Verfahren im Drama aus dem Fokus. Die theoretische Forschung zum epischen Theater¹⁰ sowie die Forschung zur Episierung im Drama hat seit Manfred Pfisters Monographie nachgelassen. Außer vereinzelten Aufsätzen und Einführungen sind umfassende literaturwissenschaftliche Monographien oder Sammelbände zum Drama, zur Dramentheorie und gerade zum Phänomen der Episierung im Drama im literaturwissenschaftlichen Bereich seltener geworden. Das 2012 von Marx herausgegebene Handbuch Drama¹¹ stellt, gerade durch seine eher theaterwissenschaftliche Ausrichtung, keine Ausnahme dar. Die Ansätze Pfisters und Szondis werden allerdings, das zeigt beispielsweise das von Rüdiger Zymner herausgegebene Handbuch Gattungstheorie,¹² noch immer für gattungstheoretische und dramentheoretische Argumentationen herangezogen und

10 Vgl. dazu Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 9. 11 Vgl. Peter W. Marx (Hrsg.): Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2012. 12 Rüdiger Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2010.

6 | 1 Einleitung finden sich, deutlich kritischer betrachtet, auch in einigen Texten zur postklassischen Narratologie.¹³ Im Gegensatz zu diesem Rückgang der dramentheoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Episierung ist in dieser Hinsicht ein bemerkenswerter Anstieg narratologischer Forschung zu verzeichnen. Die Episierung des Dramas wurde mit einer ›Narratisierung‹ des Dramas gleichgesetzt und stellte unter dem Paradigma der postklassischen Narratologie keinen Ansatzpunkt mehr dar. Es ist nicht immer eindeutig, ob ›episch‹ gänzlich im begrifflichen Erbe der Diskussion, also in ›narrativ‹, ›diegetisch‹, ›telling‹, ›vergangenheitsdarstellend‹, ›einen Erzähler besitzend‹ usw. aufgegangen ist oder ob der Begriff nur noch im Modell des epischen Theaters weiter besteht und deshalb besser als ›illusionsstörend‹, ›dialektisch‹ oder ›verfremdend‹ verstanden wird. Wirft man einen Blick in Einführungen zur Dramenanalyse, scheint episch zu einem festen, auf Brecht fixierten Gebrauch reduziert worden zu sein. In diesem Fall ist er tatsächlich nur noch in Bezug auf das Drama und auch nur auf Werke von und nach Brecht sinnvoll anwendbar. In dieser Studie soll diese enge Auffassung nicht aus den Augen verloren, sondern ebenfalls kritisch betrachtet werden. Entsprechend wird auch die Forschung zum epischen Theater diskutiert. Für die Auseinandersetzung mit dem Thema ›Episierung und episches Theater‹ bis 1966 erachte ich den Sammelband Episches Theater von Reinhold Grimm¹⁴ als repräsentativ.¹⁵ Hierin wird Brechts Theorie unter dem Aspekt der Gattungsdifferenz von Epik und Dramatik zum Teil noch emphatisch rezipiert. Die Theorien gehen von einem normativen Gattungsverständnis aus und einige Ansätze sehen im epischen Theater etwas Originäres. Es wird als ein spezielles Genre des Dramas verstanden. Eine etwas radikalere Variante erkennt im epischen Theater sogar eine eigene Gattung neben Epik, Lyrik und Dramatik.¹⁶ Im Hinblick auf die Genese des Begriffs ›episches Theater‹ setze ich mich mit einem neueren und differenzierten Beitrag von Jörg-Wilhelm Joost, Klaus-Detlef Müller und

13 Beispielhaft sei hier die Auseinandersetzung Irina Rajewskys mit Pfisters Kommunikationsmodell erwähnt. Irina O. Rajewsky: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln. Überlegungen zu grundlegenden Annahmen der Dramentheorie im Kontext einer transmedialen Narratologie, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 117 (2007), S. 25–68. 14 Reinhold Grimm (Hrsg.): Episches Theater (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 15), Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1966. 15 Vgl. auch Walter Hinck: Die Dramaturgie des späten Brecht (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und englischen Philologie und Literaturgeschichte 229), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1959; Franz Hubert Crumbach: Die Struktur des Epischen Theaters. Dramaturgie der Kontraste (Schriftenreihe der pädagogischen Hiochschule Braunschweig 8), Braunschweig: Waisenhaus-Buchdruckerei und Verlag, 1960; Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963); Marianne Kesting: Das epische Theater. Zur Struktur des modernen Dramas (Urban-Taschenbücher 36), 8 1959 [Ndr. Stuttgart, Berlin und Köln: Kohlhammer, 1989]. 16 Vgl. Andrzej Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke, in: Episches Theater, hrsg. v. Reinhold Grimm (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 15), Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1966, S. 197–230, hier S. 222.

1.2 Forschungsstand | 7

Michael Voges auseinander.¹⁷ Die jüngsten Beiträge aus Jan Knopfs Brecht Handbuch und dem Brecht Lexikon von Anna Kugli und Michael Opitz¹⁸ dienen meiner Gegenüberstellung neuerer Forschungsansätze zu Brechts Ästhetik und den Untersuchungen der älteren Forschung im Sammelband von Grimm. Hierbei wird sich zeigen, dass sich wesentliche Ansichten kaum verändert haben. Ein grundlegend neuer Ansatz für die Einbindung der Episierung wie für die Analysemethoden des Dramas ergibt sich, wie oben angedeutet, durch die generelle Ausweitung der Narratologie. Sie verspricht durch ihren Zugriff auf andere Gattungen als die des Erzähltextes und auf andere Medien als das der Literatur bzw. der Sprache sowie auf andere Disziplinen und Bereiche als die der Literaturwissenschaft eine Möglichkeit, dem Phänomen der Episierung anhand einer konsistenten Theoretisierung beizukommen. So weist etwa Brian Richardson im Jahr 2001 in Bezug auf die Untersuchung des Films unter narratologischen Gesichtspunkten darauf hin, dass »[b]y contrast, the critical literature on narration in drama is still relatively slight and virtually unknown beyond a few theorists of drama«.¹⁹ Diese Einschätzung teilen auch Ansgar Nünning und Roy Sommer noch im Jahr 2008,²⁰ obwohl sich auf diesem Gebiet mit den Arbeiten von Manfred Jahn,²¹ Holger Korthals,²² Eike Muny²³ und nicht zuletzt sogar in ihren eigenen Beiträgen²⁴ schon verschiedene und auch umfassende transgenerische wie transmediale Zugänge abzeichnen.²⁵

17 Jörg-Wilhelm Joost/Klaus-Detlef Müller/Michael Voges: Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung, hrsg. v. Klaus-Detlef Müller (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), München: C. H. Beck, 1985. 18 Vgl. Jan Knopf (Hrsg.): Brecht Handbuch. Schriften, Journale, Briefe, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2003; Ana Kugli/Michael Opitz (Hrsg.): Brecht Lexikon, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2006. 19 Brian Richardson: Voice and Narration in Postmodern Drama, in: New Literary History 32.3 (2001), S. 681–694, hier S. 682. 20 Ansgar Nünning/Roy Sommer: Diegetic and Mimetic Narrativity. Some further Steps towards a Narratology of Drama, in: Theorizing Narrativity, hrsg. v. John Pier/José Ángel Garcia Landa (Narratologia 12), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2008, S. 331–354. 21 Manfred Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama. Aspects of a Narratology of Drama, in: New Literary History 32 (2001), S. 659–679. 22 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003). 23 Eike Muny: Erzählperspektive im Drama. Ein Beitrag zur transgenerischen Narratologie (Cursus 26), München: Iudicium, 2008. 24 Vgl. Ansgar Nünning/Roy Sommer: Drama und Narratologie. Die Entwicklung erzähltheoretischer Modelle und Kategorien für die Dramenanalyse, in: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, hrsg. v. Ansgar Nünning/Vera Nünning (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2002, S. 105–128; Nünning/Sommer: Diegetic and Mimetic Narrativity (2008); Nünning/Sommer: The Performative Power of Narrative in Drama (2011). 25 Vgl. außerdem Stefan Schenk-Haupt: Narrativity in Dramatic Writing. Towards a General Theory of Genres, in: Anglistik 18.2 (2007), S. 25–42; Brian Richardson: Drama and Narrative, in: The Cambridge Companion to Narrative, hrsg. v. David Herman (Cambridge Companions to Literature), Cambridge: Cambridge University Press, 2007, S. 142–155; Rajewsky: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln (2007);

8 | 1 Einleitung Trotz dieser ersten Ansätze ist die transgenerische und transmediale Ausweitung der Narratologie jedoch noch immer ein relativ junges Forschungsgebiet in der Literaturwissenschaft. Korthals beispielsweise baut seine Arbeit, in der er die Anwendungsmöglichkeiten narratologischer Begrifflichkeiten auf Dramentexte untersucht, auf der gemeinsamen Erfassung von Dramen- und Erzähltexten unter dem Gesichtspunkt der Geschehensdarstellung auf. Er spricht aber noch im Jahr 2003 von seinem eigenen Ansatz nicht von einem transgenerischen. Dabei wies bereits Pfister darauf hin, dass eine grundlegende Gemeinsamkeit der Dramatik und Epik die Repräsentation einer Geschichte sei. Die narratologische Ausweitung auf das Drama ist somit im Ansatz bereits bei Pfister zu finden und ist so gesehen nicht als Erkenntnis der postklassischen Narratologie zu verzeichnen, weswegen es umso mehr verwundern muss, dass der Gedanke des transgenerischen Ansatzes sich nicht bereits früher verbreitet und gefestigt hat. Für die Narratologie des Dramas und insbesondere für die Revision der Episierung wird, neben Korthals und Muny, der kognitive und transmediale Ansatz Werner Wolfs²⁶ herangezogen, der, basierend auf der Schematheorie, die Rolle des Lesers bei der narrativen Kohärenzbildung erklären kann.²⁷

1.3 Zielsetzung Ziel dieser Studie ist es, aufgrund der Möglichkeiten, die die klassische und postklassische Narratologie wie auch die klassische Dramentheorie bieten, ein konsistentes Modell der Episierung im Drama zu entwickeln. Die Besonderheit dieses Ansatzes liegt darin, dass er sich von einem Bezug auf Brechts Auffassung des Epischen löst und aufbauend auf einer Narratologie des Dramas epische Verfahren in Texten der Gattung

Monika Fludernik: Narrative and Drama, in: Theorizing Narrativity, hrsg. v. John Pier/José Ángel Garcia Landa (Narratologia 12), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2008, S. 355–383; Peter Hühn/ Roy Sommer: Narration in Poetry and Drama, in: Handbook of Narratology, hrsg. und mit einem Vorw. vers. v. Peter Hühn u. a. (Narratologia 19), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2009, S. 228–241. 26 Vgl. Werner Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie, in: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, hrsg. v. Ansgar Nünning/Vera Nünning (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2002, S. 23–104. 27 Vgl. dazu auch andere einschlägige Arbeiten wie Manfred Jahn: »Speak, friend, and enter«. Garden Paths, Artificial Intelligence, and Cognitive Narratology, in: Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. David Herman (Theory and interpretation of narrative series), Columbus: Ohio State University Press, 1999, S. 167–194; David Herman: Basic Elements of Narrative, mit einem Vorw. v. Peter Hühn u. a., Chichester: Wiley-Blackwell, 2009; David Herman: Cognitive Narratology, in: Handbook of Narratology, hrsg. und mit einem Vorw. vers. v. Peter Hühn u. a. (Narratologia 19), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2009, S. 30–43; Marie-Laure Ryan: Narratology and Cognitive Science. A Problematic Relation, in: Style 44.4 (2010).

1.4 Methode und Vorgehen | 9

des Dramas in einem umfassenden Sinne herausarbeitet. Die Arbeit wendet sich damit der Bestimmung von epischen und dramatischen Verfahren bzw. Schreibweisen zu. Grundsätzlich sollen Begriffe und Konzepte der Erzähltheorie auf Dramentexte anwendbar gemacht werden. Darauf aufbauend wird das Thema Episierung im Drama methodisch aufgearbeitet und eine Theorie mit zugehörigem Begriffssystem entwickelt. Die Besonderheit dieser Studie lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: Erstens verstehe ich diese Arbeit als Beitrag zur transgenerischen Narratologie (vgl. Kapitel 3). In diesem Sinne die Dramentheorie mit der Narratologie zu verbinden eröffnet die Möglichkeit, die reichen Analyseinstrumentarien der Dramentheorie und der Erzähltheorie zu reflektieren und in einen größeren Modellzusammenhang der Textanalyse einzubinden. Zweitens betrachte ich das bisherige Modell der Episierung, um dieses a) zu aktualisieren und an die neueste Forschung anzupassen und b) es, so hoffe ich, konsistenter im Vergleich zu seinem Vorgängermodell zu gestalten (vgl. Kapitel 4). Drittens rücke ich das Drama als Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft und damit in seiner gedruckten und gerade nicht aufgeführten Form in den Vordergrund (vgl. Kapitel 2). Ich sehe eine Notwendigkeit dieses Vorgehens und der Theoriebildung unter anderem darin begründet, dass ein Großteil dramatischer Werke beispielsweise im Bereich der Frühen Neuzeit und der Moderne nur über das gedruckte Drama und damit über das Drama als fixierten Text und nicht als zeitgenössische Aufführungen erschließbar ist. Dies wird von Dramentheorien, die nur die Aufführung und nicht den Dramentext als Drama gelten lassen, nicht abgedeckt. Ich halte dies mit Blick auf Dramen der Gegenwart für ebenso relevant, da sie so neben ihren Aufführungen im Theater zusätzlich als literarische Kunstwerke begriffen, analysiert und interpretiert werden können.

1.4 Methode und Vorgehen Die Narratologie hat, was die theoretische Fundierung und Untersuchung eines Erzählers bzw. einer Erzählinstanz im Drama betrifft, von der auto- bis zur heterodiegetischen, von der intra- bis zur extradiegetischen, von der versteckten (covert) und offensichtlichen (overt) Erzählinstanz und vom dramatischen bis zum narrativen Modus differenzierte Analysekategorien entwickelt, die selbst unwahrscheinliche und empirisch seltene Fälle einer Erzählinstanz bestimmbar, analysierbar und interpretierbar machen. Wenn im Drama eine Geschichte erzählt wird, so kann meines Erachtens auch eine erzählerähnliche Instanz in der Theorie des Dramas etabliert werden, die sich unabhängig vom Autor für den Dramentext verantwortlich zeigt. Mit einer Narratologie des Dramas wird es möglich, für das Drama eine ständige, wenn auch nicht immer explizit anwesende erzählerähnliche Instanz herauszuarbeiten, die in Analogie zu den Begriffen ›Erzählinstanz‹ und ›lyrisches Ich‹ in meiner Arbeit als ›dramatische Erzählinstanz‹ bzw. ›dramatische Instanz‹ bezeichnet werden soll. Im

10 | 1 Einleitung Gegensatz zur freien Ausgestaltung der erzählten Welt bzw. Diegese in Erzähltexten ist die von dieser Instanz erschaffene Welt auf der einen Seite gebunden an einen imaginierten Theaterraum. Auf der anderen Seite bildet sie gleichzeitig eine zweite Diegese, die frei ist vom Bühnenbezug. Ähnlich wie in diesem Fall bei der dramatischen Instanz stellt sich auch an anderen zentralen Stellen dieser Arbeit die Frage nach der terminologischen Präzision und gegebenenfalls sogar der Revision. Letztere ist vor allem der mehrfach betonten Konsistenz des Modells geschuldet, das hier verfolgt wird. Insbesondere an der begrifflichen Diskrepanz der Termini ›episch‹ und ›narrativ‹ wird dies deutlich. Hier ergeben sich mindestens drei Möglichkeiten, um sich mit einer Theorie der Episierung im Drama zu beschäftigen: (a) Man setzt ›episch‹ mit ›narrativ‹ gleich und fasst sowohl Texte der Dramatik als auch der Epik als erzählend auf. Man verlagert die Anstrengungen darauf, Konzepte der Narratologie auf das Drama abzubilden und sucht nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten der narrativen Repräsentation in Dramatik und Epik. (b) Man setzt ›episch‹ nicht mit ›narrativ‹ gleich, erkennt Texte der Epik wie der Dramatik gleichermaßen als narrativ an und verwendet Episierung nur im Bezug auf das epische Theater. (c) Man setzt ›episch‹ nicht mit ›narrativ‹ gleich und sieht das Narrative in den verschiedensten Artefakten aus unterschiedlichen Gattungen und Medien verwirklicht. Man hält darüber hinaus nicht am Paradigma des epischen Theaters fest und begreift episch und dramatisch als spezielle Verfahren innerhalb einer narrativen Repräsentation. Ich werde kurz klären, welche Implikationen diese drei Möglichkeiten für ein weiteres Vorgehen eröffnen und begründen, warum ich mich für (c) entscheide. Zu (a): Die erste Möglichkeit macht eine Theoriebildung für das Phänomen der Episierung obsolet, denn die Frage, was Episierung in Dramen ist, braucht in diesem Fall nicht mehr gestellt zu werden. Vielmehr wird so das Dramatische zu einer Ausnahmeerscheinung in narrativen Texten. Dies führt jedoch durch den Austausch der Gegensätze episch/dramatisch mit narrativ/dramatisch zu neuen begrifflichen Komplikationen. Zu (b): Die zweite Möglichkeit ist meiner Einschätzung nach nicht nur deswegen wenig zielführend, weil die Forschung zum epischen Theater abgeklungen ist. Da das epische Theater erstens vielmehr eine Sonderform bzw. ein historisches Genre der Gattung Drama darstellt,²⁸ kann damit nicht die Gattung als Ganzes in den Blick genommen werden, denn sie baut gerade nicht auf den poetologischen Prämissen Brechts auf. In der Forschung zum epischen Theater finden sich dementsprechend

28 Vgl. Ulrich Kittstein: Episches Theater, in: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. v. Peter W. Marx, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2012, Kap. III.15, S. 296–304, hier S. 302.

1.4 Methode und Vorgehen | 11

(und im Übrigen auch bei Brecht selbst) Verweise darauf, dass die Mittel die Brecht in seinem epischen Theater einsetzt, im Drama schon immer Einsatz fanden. Sicherlich traten sie mit anderer Intensität bzw. Häufung auf und wurden mitunter in anderer Funktion gebraucht. Daraus folgt zweitens, dass die Zuschreibungen, die ›episch‹ durch die Forschung zum epischen Theater erhielt, nicht ohne Weiteres in einem allgemeineren und vom epischen Theater unabhängigen Beschreibungskontext zur Anwendung kommen können bzw. die dort als episch bezeichneten Phänomene nur deshalb als solche zu bezeichnen sind, da sie in Texten des epischen Theaters auftauchen. So könnte etwa der im epischen Theater häufig auftretende und ebenfalls dem Epischen zugeschriebene Einsatz von Songs auch dem Lyrischen zugeordnet werden. Insbesondere die bei Brecht prominente Technik der Verfremdung lässt sich meines Erachtens nicht einfach mit einem epischen Verfahren verbinden, sofern man dieses von bestimmten Grundverfahren der Erzähltexte abgeleitet sieht.²⁹ Texte der Epik müssten dann ebenfalls verfremdend wirken. Begreift man die Songs als Manifestationen eines epischen Verfahrens, sollten ähnliche Strukturen auch in Erzähltexten häufig auftreten. Schließlich muss der Einsatz eines Songs auch nicht verfremdend, illusionsstörend oder Distanz schaffend sein. So sind zum Beispiel in Brechts Stück Mutter Courage und ihre Kinder (1941), die Songs innerhalb der Dramenhandlung durchaus sinnvoll und sinnstiftend eingebunden und erhalten so keinen verfremdenden Charakter. In Szene 9 beispielsweise singen Mutter Courage und der Koch, um an Nahrungsmittel zu gelangen (»der koch Im Pfarrhaus ist Licht. Wir können singen.«). In Szene 10 ziehen Mutter Courage und Kattrin an einem Bauernhaus vorbei, aus dem Gesang nach außen dringt. In beiden Fällen setzen die Songs nicht abrupt ein und sind durch die Handlung und das Bühnenbild motiviert.³⁰ Mir erscheinen weder (a) noch (b) zielführend, weswegen ich die dritte Variante favorisiere. Zu (c): Mit dieser Variante ist es möglich, episch wie auch dramatisch innerhalb einer postklassischen Narratologie als Konzepte und Begriffe neu zu erfassen. Unter diesen Voraussetzungen möchte ich die Forschung zur Episierung im Drama noch einmal aufnehmen und sehe somit ›episch‹ nicht als ein Synonym für ›narrativ‹ . Die Synonymführung der Begriffe scheint mir zu vorschnell getroffen. Gleichzeitig ergeben sich daraus erhebliche Begriffsverschiebungen und Überschneidungen, die sich unter anderem in der Verwendung von ›episch‹ als Sammelbegriff für Funktionen und Phänomene wie Mittelbarkeit, Illusionsbrechung, Episodizität, Verfremdung, breite oder detailreiche Darstellung usw. zeigen. ›Episch‹ nimmt nicht nur Merkmale der Epik,

29 Ich behaupte nicht, dass ein episches Verfahren aus konstitutiven Merkmalen der Epik abgeleitet werden muss. Auch die Zuordnung der Songs zum Lyrischen dient hier nur der Illustration einer komplizierten Lage. 30 Vgl. Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg (edition suhrkamp 49), Berlin: Suhrkamp, 1963, S. 92–98.

12 | 1 Einleitung sondern auch solche der Narration und des epischen Theaters auf. Dies erschwert die Diskussion der Episierung erheblich. Die Zuschreibungen die ›episch‹ auf diese Weise erhält, erweisen sich als so disparat, dass sich daraus ein episches Verfahren nicht mehr ableiten lässt. Ich gehe allerdings davon aus, dass nach der Wende hin zur postklassischen Narratologie ›episch‹ innerhalb derselben keine allzu große Beachtung mehr findet und in der Terminologie nicht fest eingebunden ist. Hier ergibt sich die Möglichkeit, ›episch‹ unter einer veränderten terminologischen Konstellation nach der narratologischen Wende neu zu betrachten. Damit eng verbunden geht das bisherige Modell der Episierung gerade von einem Gegensatz epischer (narrativer) und dramatischer Texte aus. Dies lässt sich jedoch nicht mehr mit der Ausweitung der Untersuchung des Narrativen auf andere Medien und Texte vereinbaren. Ich sehe eine große Chance darin, die Narratologie und ihre Konzepte in anderen Kontexten als dem der Epik anzuwenden, in diesem Zusammenhang andere Gattungen und Medien als narrationsfähig zu betrachten, so narrative Repräsentationen über Gattungsgrenzen hinweg vergleichbar zu machen und die bereits stark differenzierte Terminologie der Narratologie universal einzusetzen. Gerade die Revitalisierung der literaturwissenschaftlichen Dramenanalyse und -forschung, die sich aus den Arbeiten zur transgenerischen wie auch zur transmedialen Narratologie mit Blick auf das Drama und das Theater vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten ergeben hat, liefert den Anlass, die Untersuchung im Rahmen dieser neuen Zusammenhänge durchzuführen. Ich sehe hierin sowohl die Voraussetzung als auch eine Gelegenheit, ›episch‹ als Begriff und Verfahren von ›narrativ‹, wie auch von seiner Verwendung in Bezug auf das epische Theater zu differenzieren und das Epische damit nicht mehr als eine Ausnahmeerscheinung im Drama zu betrachten. In dieser Arbeit verstehe ich das Epische in erster Linie als ein künstlerisches Verfahren, welches generell und unabhängig von der Gattungszugehörigkeit in Texten auftreten kann. Ich gehe davon aus, dass seine Anwendung nicht per se mit einem gesellschaftskritischen und ideologischen Impetus verknüpft ist, wie er sich in Brechts Dramen oder auch in den Dramen des Naturalismus findet. Die Phänomene ›episch‹ und ›dramatisch‹ werden von mir als grundlegende ästhetische Strukturierungs- und Gestaltungsoptionen narrativer Werke verstanden. Dramen mit epischen Elementen stellen für mich keine Misch-, Sonder- oder Zwischenformen dar. Vielmehr werden in ihnen mit dem Epischen und Dramatischen genuine Möglichkeiten der künstlerischen Werkproduktion und -strukturierung angewandt. Dabei schließe ich nicht aus, dass bestimmte Gattungen, Genres oder Medien bestimmte Verfahren stärker oder medienbedingt anders ausgebildet haben. Das Drama wird erstens als ein narratives Medium verstanden. Mit dieser Arbeit reagiere ich auf die Bemerkungen von Nünning/Sommer aus dem Jahr 2002 und 2008³¹

31 Nünning/Sommer: Drama und Narratologie (2002); Nünning/Sommer: Diegetic and Mimetic Narrativity (2008).

1.4 Methode und Vorgehen | 13

sowie auf die Forschungsdesiderate der Narratologie insbesondere im Bereich des Dramas, die seit 1987 von Brian Richardson immer wieder prominent formuliert wurden, und arbeite das Phänomen der Episierung unter diesen neuen postklassischen Bedingungen systematisch auf. Für die Neufassung des Modells der Episierung und damit der Begriffe ›episch‹ und ›dramatisch‹ innerhalb einer transgenerischen Narratologie greife ich unter anderem das Konzept der Motivierung von Matías Martínez auf, mit dem er sich in seiner Monographie Doppelte Welten beschäftigt.³² Zudem werden Beiträge von Hans-Harald Müller und Jan-Christoph Meister³³ sowie Julia Abel³⁴ hinzugezogen, die sich mit der narrativen Kohärenzbildung auseinandersetzen. Hier nur grob skizziert, werde ich die Episierung als ein grundlegendes Verfahren der narrativen Repräsentation einer Geschichte verstehen. Während mit einem dramatischen Verfahren diejenigen kausalen, teleologischen oder ästhetischen Zusammenhänge, die die Zustandsfolge der repräsentierten Geschichte motivieren bzw. relationieren, nicht zusätzlich erläutert werden, wird das epische Verfahren eingesetzt, um diese Relationen für den Rezipienten explizit zu machen. Mit dem dramatischen Verfahren werden Zustände und Ereignisse nacheinander scheinbar zusammenhanglos aneinandergereiht. Der Rezipient ist für die Stiftung von Kohärenz und Sinn in Bezug auf die dargestellten Ereignisse und die Geschichte selbst verantwortlich. Um diese Vorgänge greifbar und verständlich zu machen, werde ich Ansätze der kognitiven Narratologie heranziehen. Ich beziehe mich hier auf die sogenannte Schematheorie, wonach der Rezipient durch seine Erfahrung mit dem Narrativen und seine allgemeine Welterfahrung bestimmte stereotype Handlungssequenzen und thematische Zusammenhänge internalisiert hat und mit deren Hilfe wahrgenommene Situationen erfassen und ergänzen kann, selbst wenn nicht alle Informationen vorliegen. Genau davon kann auch der Produzent von narrativen Texten ausgehen. Er muss nicht alle Verknüpfungen oder Motivationen der Geschichte offen darlegen oder sie durch einen Erzähler äußern. Er kann sie auch dramatisch und damit implizit gestalten. Mithilfe des epischen Verfahrens werden dem Rezipienten hingegen bestimmte Motivationsstrukturen, die der Zustandsfolge zugrunde liegen (sollen), explizit angezeigt.

32 Vgl. Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens (Palaestra 298), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996. 33 Hans-Harald Müller/Jan Christoph Meister: Narrative Kohärenz oder: Kontingenz ist auch kein Zufall, in: Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. Julia Abel/Andreas Blödorn/Michael Scheffel (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2009, S. 31–54. 34 Julia Abel/Andreas Blödorn/Michael Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz. Einführung, in: Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. Julia Abel/Andreas Blödorn/Michael Scheffel (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2009, S. 1–11.

14 | 1 Einleitung In diesem Zusammenhang erweist sich auch Wolfs transmedial kognitiver Ansatz als fruchtbar. Er versucht das Modell der intramedialen bzw. intragenerischen klassischen Narratologie auf ein Modell einer intermedialen Erzähltheorie zu überführen.³⁵ Ich möchte mich allerdings auf den treffenderen Begriff der Transmedialität im Gegensatz zur Intermedialität des Narrativen festlegen. So wie das Erzählen transmedial betrachtet werden kann, gilt dies auch »für das Erzählerische bzw. Narrative, d. h. für den [. . .] ›Rahmen‹, in dem Erzählen vollzogen wird, sowie für die Narrativität, also die spezifische Qualität des Narrativen«.³⁶ Das Erzählen wie auch das Erzählerische kann nach transmedialer Auffassung in jedwedem Medium angewandt werden und auftreten, so wie auch jedes künstlerische Werk Narrativität aufweisen kann. Um andere Medien und Gattungen als narrativ begreifen zu können, gehe ich von einem weiten Begriff des Erzählens aus, bei dem nur das Merkmal einer erzählten Welt und einer darin stattfindenden Geschichte, jedoch nicht das ansonsten häufig angeführte Merkmal der Mittelbarkeit konstitutiv ist.³⁷ Wolf begreift das Narrative zusätzlich als ein »kulturell erworbenes und mental gespeichertes kognitives Schema«.³⁸ Das Erzählerische wird als ein »stereotypes verstehens-, kommunikations- und erwartungssteuerndes Konzeptensemble«³⁹ verstanden. Daran beteiligt sind in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext der Autor eines Werks, das Werk selbst und der Leser. Innerhalb eines Textes lassen sich über die Erfahrung eines Lesers mit dem Narrativen bestimmte, durch den Autor eingesetzte narrative Stimuli in Werken erkennen, die das kognitive Schema des Narrativen evozieren. Sogenannte werkinterne Stimuli oder Narreme, verstanden als kleinste bedeutungstragende Einheiten eines narrativen Werks, helfen die Erwartungshaltung des Lesers dem Text gegenüber zu steuern bzw. aufzubauen und befähigen diesen gleichzeitig dazu, narrative Muster zu entdecken⁴⁰ und Kohärenz zu stiften, wo sie sich nicht ohne bewussten Reflexionsaufwand herstellen lässt und nur angedeutet bzw. stimuliert wird. Um sich den von der erzählerähnlichen Instanz eingesetzten epischen und dramatischen Verfahren systematisch zu nähern, wird auf das Konzept Klaus Hempfers zurückgegriffen, das er 1973 in seiner Monographie Gattungstheorie⁴¹ ausgearbeitet

35 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002). 36 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 23. 37 Vgl. Ansgar Nünning/Vera Nünning: Produktive Grenzüberschreitungen. Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie, in: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, hrsg. v. Ansgar Nünning/Vera Nünning (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2002, S. 1–22, hier S. 7; vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 31. 38 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 29. 39 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 29. 40 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 29, 43. 41 Vgl. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie (Information und Synthese 1), München: Wilhelm Fink Verlag, 1973, S. 26 ff.

1.4 Methode und Vorgehen | 15

hat und das von Theodor Verweyen und Gunther Witting⁴² speziell für die Parodie fruchtbar gemacht wurde: die Schreibweise. Dabei wird eine literaturwissenschaftliche Position und keine theaterwissenschaftliche eingenommen. Ich entwickle ein Modell für den Dramentext bzw. Theatertext und nicht für den Aufführungstext. Die Plurimedialität des Dramas in Bezug auf eine Aufführung desselben, von der Pfister und viele andere wenn auch mit anderen Begrifflichkeiten sprechen,⁴³ wird dabei nicht geleugnet, wenngleich von einer rein lesenden Rezeption des Dramas ausgegangen wird. Dieser eingeschriebene Medienwechsel hin zum Medium Theater wird im Gegenteil als konstitutiv für Werke der Gattung des Dramas erachtet. Allein aus der Perspektive einer lesenden Rezeption bleibt die Aufführung jedoch imaginiert. Auch bei Erzähltexten eröffnet sich dem Rezipienten ein imaginierter plurimedialer Raum, der auf verschiedene medienabhängige Wahrnehmungsbereiche des Rezipienten verweist. Die potenzielle Aufführbarkeit, die dem Dramentext durch Hinweise im Layout (optische Unterscheidung von Haupt- und Nebentext), im Titel (›Schauspiel in drei Akten‹) oder im Text (›Erster Auftritt‹; ›geht nach rechts ab‹; ›Verehrtes Publikum‹ usw.) eingeschrieben ist, wird nicht ausgeblendet, sondern durch das Konzept der Exegesis (Wolf Schmid) erklärt. Demnach wird vom Dramentext eine erzählte und selbst erzählende Theaterwelt geschaffen. Diese Studie versteht sich als ein Beitrag zum transgenerischen und transmedialen Neuansatz der Narratologie. Neben der Beschreibung der epischen und dramatischen Verfahren werden erzähltheoretische Analysewerkzeuge auf Dramentexte übertragen und anwendbar gemacht. Ich versuche schon früh (in Kapitel 3) nachzuweisen, dass das Drama als ein narrativer Text verstanden werden kann und werde im Anschluss daran Begriffe und Modelle der Narratologie detailliert auf das Drama abbilden und für die Neugestaltung der Episierung fruchtbar machen. Angesichts der mittlerweile unüberschaubar gewordenen Forschungsbeiträge im Bereich der postklassischen Narratologie und somit der Narratologie im Allgemeinen kann es allerdings nicht das Ziel dieser Arbeit sein, die umfassende Aufarbeitung einer quantitativ repräsentativen Masse an Positionen und Publikationen zu leisten. Dies liegt zum einen daran, dass der dafür nötige Umfang und Aufwand nicht zu bewältigen sind, und zum anderen daran, dass viele verschiedene Auffassungen in der Forschung sich lediglich in Nuancen unterscheiden. Ich werde mich stattdessen auf prominente und aufgrund dieser Prominenz besonders einschlägige Forschungsansätze konzentrieren und diese als charakteristische Vertreter von solchen Positionen diskutieren, wie sie in der Narratologie von verschiedenen Lagern eingenommen werden.

42 Vgl. Theodor Verweyen/Gunther Witting: Die Parodie in der Neueren Deutschen Literatur. Eine systematische Einführung (Germanistische Einführungen), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1979. 43 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 28.

16 | 1 Einleitung Des Weiteren werde ich an gegebener Stelle terminologische Verkürzungen vornehmen, die der besseren Lesbarkeit sowie stil- und sprachökonomischen Gründen geschuldet sind. Diese Stellen sind entsprechend gekennzeichnet.

2 Das Drama in der Forschung Die Beschäftigung mit der Gattung des Dramas ist durch eine weit verbreitete Annahme geprägt: »Gewöhnlich heißt schon der schriftliche Text Drama, doch seine wahre Bestimmung findet er erst auf der Bühne. Als bloßes ›Lesedrama‹ bleibt jedes Stück unvollendet.«¹ Normalerweise ist eine solche Aussage der Theater- und Medienwissenschaft zuzuordnen. Dieses Zitat stammt allerdings vom einem Literaturwissenschaftler. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Dramen- und Gattungstheorie wird des Öfteren, wie hier im Fall von Bernhard Asmuth, darauf verwiesen, unter einem Drama sei nicht seine textuelle Gestalt, sondern erst seine aufgeführte Form zu verstehen.² Der Dramentext wird in der Literaturwissenschaft offenbar als eine ›Marginalie‹ des eigentlichen Kunstwerks, also der Theateraufführung, betrachtet.³ Eine Analyse durch Lektüre muss aus dieser Sicht defizitär bleiben. Die Literaturwissenschaft muss folglich ihren Fokus ausweiten. Zu einer Analyse und Interpretation des im Dramentext einzig verwendeten Zeichensystems Sprache, das im Falle der Aufführung einen Medientransfer vom Buch zur Bühne erfährt, treten die dem Theater eigenen Zeichensysteme und Submedien (Kostüme, Lichtregie, Musik, Proxemik, Paralinguistisches usw.) hinzu. Im Zusammenhang mit diesen Zeichensystemen und Medien⁴ des aufgeführten Dramas spricht Pfister auch vom Superzeichen Drama und dessen Plurimedialität mit seiner Vielzahl an semiotischen Systemen (Sprache, Gestik, Mimik usw.).⁵ In Anbetracht dieser beiden untersuchbaren Größen Text und Aufführung steht eine Narratologie des Dramas vor einem Problem. Es muss geklärt werden, was unter dem Begriff ›Drama‹ eigentlich zu verstehen ist, da es offenbar zwei unterschiedliche Begriffsdimensionen gibt. Im Folgenden werde ich diese verschiedenen Ansätze gegenüberstellen, um im Anschluss daran eine Arbeitsexplikation bilden zu können.

1 Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 10. 2 Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 53 f. 3 Für Theaterformen wie das Stegreifspiel, das Happening oder die Commedia dell’arte sind Textgrundlagen sogar obsolet. 4 Nach Gerd Hallenberger gibt es in literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen mindestens vier unterscheidbare Begriffsverwendungen von ›Medium‹. Allerdings ist eine »auch nur einigermaßen konsistente Verwendung des Begriffs [. . .] nicht feststellbar«. Hier wird ›Medium‹ als Bezeichnung für spezifische Zeichensysteme verwendet (Sprache, Gestik, Bühnenbild usw.) Zugleich verstehe ich ›Medium‹ im Sinne von ›Trägermedium‹ oder ›Veröffentlichungsmedium‹. Für die textuelle Form des Dramas ist es das Medium Buch, im Falle des aufgeführten Dramas ist es das Medium Bühne. Vgl. Gerd Hallenberger: Art. ›Medien‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Harald Fricke, Bd. 2, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2000, S. 551–554, hier S. 551. 5 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 24 f. DOI 10.1515/9783110488159-002

18 | 2 Das Drama in der Forschung

2.1 Das Drama zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft Um zu verdeutlichen, warum bei der Beschäftigung mit dem Drama der Aufführung eine primäre Stellung eingeräumt wird, stelle ich zunächst schlaglichtartig die historische Entwicklung dar. Der Fokus auf das aufgeführte Drama und die sich dort offenbarende plurimediale wie plurisemiotische Ausdrucksform ist historisch gesehen selbst in der dichterischen Praxis nicht immer unstrittig gewesen. Dazu reicht es aus, sich die Bemühungen um ein ›literarisches Theater‹ zum Ende der Frühen Neuzeit und während der Moderne zu vergegenwärtigen.⁶ Es handelt sich dabei um eine Tradition, die im deutschsprachigen Raum⁷ bereits bei Gottsched und Lessing, später bei Goethe und Schiller und noch jünger in der Dramenpoetik Freytags zu beobachten ist.⁸ Die Traditionslinie lässt sich bis zu Aristoteles zurückverfolgen. In seinen für die abendländische Poetologie des Dramas grundlegenden Ausführungen Perí Poietikés bemerkt er: »Zudem tut die Tragödie auch ohne bewegte Darstellung ihre Wirkung, wie die Epik. Denn schon die bloße Lektüre kann ja zeigen, von welcher Beschaffenheit sie ist.«⁹ Mit Blick auf eine gegenüber der schauenden Rezeption gleichberechtigte lesende Rezeption des Dramas, bei der, wie Peter W. Marx feststellt, die szenische Darstellung [Aufführung] zwar als konstitutiv für das Drama verstanden [wird], aber eben nicht im Sinne einer semiotisch wie künstlerisch eigenständigen Darstellung, sondern nur als Ableitung aus dem Gefüge des Textes[, wird der] Primat des Textes [. . .] nachhaltig festgeschrieben.¹⁰

6 Peter W. Marx erkennt gerade für das 18. Jahrhundert aber auch schon um 1800 im Zuge der Romantik die Tendenz innerhalb der Gattung des Dramas, den Nebentext als »literarisches Element« über die Figurenrede zu erheben. In Anlehnung an Anke Detken spricht er auch von einer Wende zum »imaginären Drama«, d. h. vom Drama als einer Form die besonders die bloße Lektüre und Imagination einer Aufführung unterstützt. Peter W. Marx: Regieanweisung/Szenenanweisung, in: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. v. Peter W. Marx, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2012, Kap. II.3, S. 144–146, hier S. 145; vgl. auch Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts (Theatron 54), Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2009, S. 392. 7 Marx weißt darauf hin, dass Opitz in seinem Buch der deutschen Poeterey das Theater nicht einmal eigens erwähnt. Vgl. Peter W. Marx: Dramentheorie, in: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. v. Peter W. Marx, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2012, Kap. I.1, S. 1–11, hier S. 5. 8 Vgl. hier Peter W. Marx: Theorien der Theaterliteratur, in: Handbuch Gattungstheorie, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. Rüdiger Zymner, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2010, S. 335–338, hier S. 335; Anke Detken verweist auf Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, der sich wie andere Dichter im Sturm und Drang für eine »Aufwertung der dramatischen Gattung« bemühte und für den die »theatralische Illusion als sekundär« neben dem dichterischen Potenzial gilt. Detken: Im Nebenraum des Textes (2009), S. 202 f. 9 Aristoteles: Poetik, aus dem Griechischen übers. v. Manfred Fuhrmann, Bibliographisch ergänzte Ausgabe (RUB 7828), Stuttgart: Reclam, 2008, S. 97. 10 Marx bezieht sich hier auf ein Zitat Paul Flemings. Marx: Dramentheorie (2012), S. 7.

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Mit der Etablierung der Theaterwissenschaft unter anderem durch Max Hermann zu Beginn des 20. Jahrhunderts ändert sich diese Auffassung einer das Drama als Text und Aufführung gleichermaßen bestimmenden Literarizität grundlegend.¹¹ Zwar ist davon auszugehen, dass sich Theater und Dramenproduktion gegenseitig beeinflussen und die dichterische Gestaltung gleichermaßen eine Rolle spielt.¹² Durch die Etablierung der Theaterwissenschaft rückt bei der Beschäftigung mit dem Drama nun aber das Darstellend-Performative und das Unmittelbare in der Aufführungssituation in den Mittelpunkt des Interesses und der Dramentext wird zur Nebensache.¹³ Diese Sicht setzte sich offenbar ebenfalls in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung des Dramas durch, was sich unter anderem auch mit Blick auf die Beschäftigung mit avantgardistischen Formen des Theaters erklären lässt. Gerade die Untersuchungen der sechziger Jahre zum epischen Theater verdeutlichen dies.¹⁴ Insbesondere durch die vom epischen Theater bezweckten Überwindungen der Gattungsgrenzen wurden diese in der Literaturwissenschaft gleichsam zu Mediengrenzen zwischen Dramatik und Epik ausgebaut. Hier verlagert die literaturwissenschaftliche Forschung ihren Fokus ebenfalls vom Dramentext zur Aufführung.¹⁵ Insbesondere die dichterische Gestaltung des Dramentextes sowie sein Eigenwert als künstlerisches Werk unabhängig von einer Aufführung tritt in der Dramen- und Gattungstheorie in den Hintergrund. So lieferte unter anderem Käte Hamburger ein Argument, dass die Trennung von Dramenund Aufführungstext unterstützt, anstatt den Dramentext auf einen performativen Charakter festzulegen. Die dramatische Gestalt ist [. . .] so gebaut, daß sie nicht nur, wie die epische, im Modus der Vorstellung existiert, sondern dazu bestimmt und angelegt ist, in den Modus der Wahrnehmung

11 Nach Marx »wurde die Ebenbürtigkeit des Theaters gegenüber der Literatur nachgerade zum Gründungsmerkmal des theaterwissenschaftlichen Diskurses«. Peter W. Marx: Drama und Performativität, in: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. v. Peter W. Marx, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2012, Kap. II.7, S. 162–165, hier S. 162; vgl. auch Marx: Dramentheorie (2012), S. 7; vgl. zudem Stefan Hulfeld: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht (Materialien des ITW Bern 8), Zürich: chronos, 2007. 12 Erika Fischer-Lichte spricht in diesem Zusammenhand auch von einem »Goldenen Zeitalter« für das Theater. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Was ist eine »werkgetreue« Inszenierung? Überlegungen zum Prozess der Transformation eines Dramas in eine Aufführung, in: Das Drama und seine Inszenierung. Vorträge des internationalen literatur- und theatersemiotischen Kolloquiums. Frankfurt am Main, 1983, hrsg. v. Erika Fischer-Lichte (Medien in Forschung und Unterricht. Serie A 16), Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1985, S. 37–49, hier S. 37. 13 Es ließe sich die These formulieren, dass dies auf zwei Gründe zurückzuführen ist: einerseits auf die avantgardistischen Formen des Theaters um die Jahrhundertwende, andererseits auf die Etablierung des Films als Konkurrenzmedium für Theater und Literatur. Vgl. Willi Flemming: Epik und Dramatik. Versuch ihrer Wesensdeutung (Dalp-Taschenbücher 311), München: Lehnen Verlag München, 1955, S. 37; vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart: Klett-Cotta, 4 1994, S. 177. 14 Vgl. Grimm (Hrsg.): Episches Theater (1966). 15 Vgl. auch die Ausführungen zum epischen Theater in Kapitel 4.1.1

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(der Bühne) hinüberzutreten, d.h. also in die physikalisch definierte Wirklichkeit wie die des Zuschauers.¹⁶

Unter einem Drama vorrangig die Aufführung zu verstehen, wie es hier von Hamburger vertreten wird, ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb der Literaturwissenschaft geradezu paradigmatisch geworden. Der Dramentext entspricht nur noch einer Art Skizze. Diese Auffassung gewinnt gerade auch durch ihre Verbreitung in Standardwerken und kodifizierenden Schriften der Literaturwissenschaft sowie insbesondere in der Forschungsliteratur zur Dramentheorie erheblichen Zuspruch. Sie findet sich in Pfisters einschlägigen Darstellung Das Drama (1977),¹⁷ Asmuths Einführung in die Dramenanalyse (1980), in Volker Klotz’ Erzählen (2006),¹⁸ in neueren Ausgaben des Metzler-LiteraturLexikons,¹⁹ in Lahn/Meisters Einführung in die Erzähltextanalyse (2008),²⁰ dem von Dieter Lamping herausgegebenen Handbuch der literarischen Gattungen (2009),²¹ in dem 2010 veröffentlichten Handbuch Gattungstheorie,²² in Martínez’ Handbuch Erzähl-

16 Hamburger: Die Logik der Dichtung (1994), S. 177. 17 »Der dramatische Text als ein ›aufgeführter Text‹ bedient sich, im Gegensatz zu rein literarischen Texten, nicht nur sprachlicher, sondern auch außersprachlicher-akustischer und optischer Codes; er ist ein synästhetischer Text.« Pfister: Das Drama (2001), S. 24 f. 18 »Dramatische Szenen [. . .], so ist vorweg zu betonen, sind Theaterszenen. Nicht zum Lesen im Buch sind sie letztlich bestimmt, sondern zum Spiel auf der Bühne.« Einschränkend fügt Klotz hinzu: »Aber auch dann, wenn wir sie lediglich lesen – schwarz auf weiß als gedruckten Text –, erscheinen sie unmittelbar auf unserer inneren Bühne, ohne erzählenden Zwischenträger.« Volker Klotz: Erzählen. Von Homer zu Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner, München: C. H. Beck, 2006, S. 20 f. 19 Auch wenn er in seinem Artikel das Drama als »literar[ische] Großform« beschreibt, entzieht Jürgen Kühnel einer textuellen Betrachtung dennoch die Grundlage, wenn er anmerkt: Das Drama »verwirklicht sich in der Regel erst mit der szen[ischen] Aufführung. Es wendet sich damit nicht wie das Epos an den Zuhörer oder wie der moderne Roman an den Leser, sondern an den Zuschauer.« Jürgen Kühnel: Art. ›Drama‹, in: Metzler-Literatur-Lexikon, hrsg. v. Günther u. Irmgard Schweikle, Stuttgart: J. B. Metzler, 2 1990, S. 108–111, hier S. 108. 20 »Unter ›Drama‹ im eigentlichen Sinne versteht man die Aufführung auf einer Bühne, und nicht lediglich den Dramentext (als eine andere, rein literarische Gattung).« Silke Lahn/Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart: J. B. Metzler, 2008, S. 261. 21 Dieter Lamping (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 2009, S. 143. 22 Peter W. Marx formuliert vermittelnd: »Unter den literarischen Gattungen nimmt das Drama eine Sonderstellung ein, weil seine Form nicht nur auf die literatische Rezeption ausgerichtet ist, sondern immer auch schon auf das Theater zielt [. . .]« Allerdings findet sich diese Aussage im Kapitel Theorien der Theaterliteratur, was die vermittelnde Formulierung etwas schwächt. Marx: Theorien der Theaterliteratur (2010), S. 335.

2.1 Das Drama zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft | 21

literatur (2011)²³ sowie dem jüngst erschienenen dramentheoretischen Standardwerk Handbuch Drama (2012).²⁴ Zwar wird im letzteren gleich zu Beginn²⁵ sowie in einem gesonderten Kapitel auf das Spannungsverhältnis von Textualität und Performativität hingewiesen, in dem sich das Drama befinde.²⁶ In den meisten Beiträgen des Handbuchs spielt sein textueller Charakter (Dramentext) aber dennoch eine untergeordnete Rolle.²⁷ Die oben beschriebenen Positionen lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen:

23 »Während Erzählprosa typischerweise die Geschichte durch eine Erzählerfigur, also diegetisch, vermittelt, vollzieht sich diese in Dramen unmittelbar, mimetisch oder performativ, in Form von Dialogen und Aktionen der handelnden Charaktere (verkörpert durch Schauspieler).« Peter Hühn: Erzähltexte im Verhältnis zu anderen Textsorten, in: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. v. Matías Martínez, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2011, S. 12–16, hier S. 13. 24 Marx (Hrsg.): Handbuch Drama (2012). 25 Vgl. Marx: Dramentheorie (2012), S. 1–8. 26 Vgl. Marx: Drama und Performativität (2012), passim; vgl. auch Janine Hauthal: Metadrama und Theatralität. Gattungs- und Medienreflexion in zeitgenössischen englischen Theatertexten (CDE-Studies 18), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2009, S. 80 ff. 27 Die beschriebene Sichtweise ändert sich jetzt aber insbesondere mit einem Blick auf das Drama als für die lesende Rezeption gestaltetes Druckkunstwerk. Hier fließen Überlegungen zur semantischen Relevanz der typographischen Gestaltung eines Drucks, zum Drama als künstlerischen und insbesondere literarischen Artefakt, zur mise-en-page – abgeleitet von der mise-en-scène – und Ansätze transmedialer Narratologie zusammen. Vgl. Julie Stone Peters: Theatre of the Book 1480–1880. Print, Text, and Performance in Europe, Oxford: Oxford University Press, 2000; vgl. Wiliam B. Worthen: Print and the Poetics of Modern Drama, Englisch, Cambridge: Cambridge University Press, 2009; vgl. Ursula Rautenberg: Typographie und Leseweisen. Überlegungen zu den Melusine-Ausgaben der Frankfurter Offizinen Gülferic hund Weigand Han / Han Ergeben, in: Catherine Drittenbass/André Schnyder (Hrsg.): Chloe 42 (2009), S. 341–363; vgl. Nina Nørgaard: The semiotics of typography in literary texts. A multimedial approach, in: Orbis litterarum 64.2 (2009), S. 141–160; vgl. Hauthal: Metadrama und Theatralität (2009); vgl. Detken: Im Nebenraum des Textes (2009); vgl. Georg Stanitzek: Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive, in: Buchwissenschaften in Deutschland, hrsg. v. Ursula Rautenberg, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2010, S. 157–200; vgl. Sandro Jung: Print Culture and Visual Interpretation in Eighteenth Century. German Editions of Thomson’s The Seasons, in: Comparative Critical Studies 9.1 (2012), S. 37–59; vgl. Dirk Niefanger: Metadramatische Anfänge im Lesedrama des 18. Jahrhhunderts, in: Der Einsatz des Dramas, hrsg. v. Claude Haas/Andrea Polaschegg (Rombach Wissenschaft: Reihe Litterae 129), Freiburg: Rombach, 2012, S. 233–250; vgl. Alexander Košenina: Erläuterte Theaterkupfer als Vermittler zwischen Bühne, Stück und Zuschauer, in: Medien der Theatergeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, hrsg. v. Hermann Korte/Hans-Joachim Jakob/Bastian Dewenter (Proszenium. Beiträge zur historischen Theaterpublikumsforschung 3), Universitätsverlag Winter, 2015, S. 151–171; vgl. Dirk Niefanger: Frühneuzeitliche Lesedramen als Medien der Theatergeschichte. Zu Paul Rebhuhns Hochzeit zu Cana Gallileae (1538) und Johann Narhammers Historia Jobs (1546), in: Medien der Theatergeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, hrsg. v. Hermann Korte/Hans-Joachim Jakob/Bastian Dewenter (Proszenium. Beiträge zur historischen Theaterpublikumsforschung 3), Universitätsverlag Winter, 2015, S. 9–27; vgl. Rainer Falk/Thomas Rahn (Hrsg.): Typographie und Literatur (TEXT Sonderband), Frankfurt am Main und Basel: Stroemfeld, 2016.

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Die Plurimedialität des Dramas ist durch die Aufführung bedingt. Das Drama wird als »Superzeichen«²⁸ aufgefasst, das nicht nur auf einen sprachlichen Zeichenvorrat zurückgreift. Es wird auf die Sonderstellung des Theaters zusammen mit dem Hinweis auf die Kollektivität von Produktion und Rezeption²⁹ respektive die Performativität im Rahmen dieses Mediums rekurriert. Damit entsteht ein Paradox, dass zwar schriftsprachliche Fassungen der Dramen auf dem Buchmarkt existieren, diese aber bis auf wenige Ausnahmen nicht zum Lesen gedacht sind. Diese Ausnahmen werden als Lesedramen bezeichnet.

Es wird also zwischen einer textuellen (Lesedrama) und einer performativen (Drama) Produktion und Rezeption unterschieden. Es wird aber auch darauf verwiesen, dass nur ein aufgeführtes Drama ein vollständiges Kunstwerk ist und Ausnahmen lediglich in den sogenannten Lesedramen existieren. Diese Sonderfälle sind aus theaterwissenschaftlicher Sicht konsequenterweise von der Gattung des Dramas auszuschließen und bleiben für die Literaturwissenschaft, deren Kompetenz in der Analyse und Interpretation von (im emphatischen Sinne) literarischen Texten liegt, die einzige Form, die sich für eine sinnvolle Untersuchung eignet.

2.2 Dramentext und Aufführungstext Im Folgenden werde ich die Plausibilität des Arguments prüfen, das Drama sei nur in seiner aufgeführten Form ein vollständiges Kunstwerk. Ich ziehe hierzu die Differenzierung der Forschungsliteratur zum Drama in drei Textstufen³⁰ heran.

28 Pfister: Das Drama (2001), S. 25. 29 »Die Kollektivität der Rezeption dramatischer Texte an sich ist jedoch soziologisch und historisch eine Invariante [. . .]. Und diese kommunikative Eigenschaft dramatischer Texte, ihre Intendiertheit für kollektive Rezeption, bedingt ihre interne Struktur wesentlich mit.« Pfister: Das Drama (2001), S. 62 f. 30 Dabei muss von einem weiten Textbegriff ausgegangen werden. Mit Text als einem weit gefassten Begriff wird eine zu einem bestimmten Beobachtungszeitraum fixierte und wahrnehmbare Struktur von Zeichen in einem bestimmten Code über ein bestimmtes Medium, welches die Zeichen übertragen kann, verstanden. »Ein Text ist immer ein Komplex aus Zeichen verschiedener Art, die gemeinsam Sinn anbieten.« (Ulla Fix: Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text. Bezüge und Abgrenzungen, in: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, hrsg. v. Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer [Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie 2], Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2009, S. 103–135, hier S. 106) Mit Struktur wird eine Menge bestehend aus Einzelelementen und deren Relationen bezeichnet. Als Codes gelten virtuelle Zeichensysteme und deren Grammatik (also etwa der Sprachcode Deutsch oder der Bildcode Ikonographie). Als Medium soll in diesem Fall das jeweilige Trägermedium gelten (Papier, Körper, Leinwand, Ton). (Vgl. Fix: Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text [2009], S. 107) Dabei können mehrere Medien zur Textproduktion eingesetzt werden, ebenso wie auch mehrere Codes innerhalb eines Textes miteinander

2.2 Dramentext und Aufführungstext | 23

Die Forschung unterscheidet in Dramen- bzw. Theatertext,³¹ Inszenierungstext bzw. Inszenierung und Aufführungstext bzw. Aufführung.³² Dramentext bezeichnet den fixierten, schriftlichen Text im herkömmlichen Sinne, also beispielsweise eine Reclam-Ausgabe, die historisch-kritische Ausgabe oder die Erstveröffentlichung eines Dramas in gedruckter Form. Der Inszenierungstext ist das, was der Theaterapparat, der Regisseur und das Ensemble als Vorlage für eine Aufführung aus dem Dramentext entwickeln. Der Inszenierungstext liegt der Aufführung als eine Art idealer Plan zugrunde. Er setzt sich zusammen aus der Zuordnung von Schauspielern zu bestimmten Rollen, der Kostümgestaltung, der Wahl der Requisiten, den Beleuchtungsanweisungen für die Bühne, der Gestaltung der Bühne usw. Die Inszenierung ist bestimmt durch die Auswahl und den Einsatz der Theatermedien bzw. der theatralen Codes. Legt man einen engen Textbegriff an, handelt es sich beim Inszenierungstext jedoch nicht mehr um einen Text. Dasselbe gilt für den Aufführungstext. Bei diesem handelt es sich um die Aufführung selbst und darum, wie diese zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Theater stattfindet. Der Inszenierungstext und der daraus entwickelte Aufführungstext stellen gegenüber dem Dramentext das Produkt einer Interpretationsleistung des Regisseurs und des Ensembles sowie anderer am Theaterapparat beteiligter Personen dar. Manfred Jahn unterscheidet in Anlehnung an diese Unterscheidung drei Betrachtungsweisen:³³ theater studies, poetic drama und reading drama.³⁴

kombiniert werden können. Ein schriftsprachlicher Text kann somit beispielsweise eine Zeichenstruktur bestehend aus Wörtern in deutscher Sprache (einem Sprachcode) und auf Papier (Medium) sein. Ein Film im Sinne eines weiten Textbegriffs ließe sich als eine Symbiose mindestens zweier Codes (Bildcode, Sprachcode) in den Medien Bild und Ton beschreiben. Dabei können die Zeichenträger des Sprachcodes sowohl lautlich über den Ton als auch schriftlich über das Bild transportiert werden. Nach Erika FischerLichte ist gerade die Theateraufführung ein Konglomerat verschiedenster theatraler Codes. (Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen: Gunter Narr, 5 2007, passim) Der Unterschied zwischen Drama und Aufführung ist dann in der Fixierung zu sehen. Während die Zeichenstruktur bei einem Dramentext im Druck auf Papier fixiert gegeben ist, bildet sich die Zeichenstruktur in der Aufführung erst heraus und ist – es sei denn der Theaterabend wird aufgezeichnet – flüchtig. 31 Gerade die Bezeichnung ›Theaterliteratur‹ und ›Theatertext‹ für die gedruckte Form des Dramas impliziert, dass nur ein aufgeführtes Drama ein vollwertiges Drama sei, wenngleich sie aus pragmatischen und gattungshistorischen Gründen eingeführt wurde. ›Theatertext‹ soll vor allen Dingen ›Drama‹ als Gattungsbegriff ablösen, da dieser zu sehr mit einer bestimmten historischen Form dramatischer Literatur verbunden sei. Vgl. Marx: Theorien der Theaterliteratur (2010), S. 335; vgl. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse (Theatron 22), Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1997, S. 42; vgl. Hauthal: Metadrama und Theatralität (2009), S. 88–91. 32 Vgl. Bernhard Jahn: Grundkurs Drama (Uni-Wissen), Stuttgart: Klett-Cotta, 1 2009. 33 Vgl. Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 660–663. 34 Vgl. dazu auch Hauthal: Metadrama und Theatralität (2009), S. 61–65.

24 | 2 Das Drama in der Forschung Die erste Betrachtungsweise kann als eine ›Schule‹ verstanden werden, die sich speziell auf den Wert konzentriert, den die Performativität der Aufführung hat. Sie stellt die Performanz zusammen mit dem Theater als künstlerisches Medium in den Mittelpunkt der Betrachtung. Das Drama wird als ein prinzipiell aufzuführendes Kunstwerk und nur in dieser medialen Manifestation als der Rezeption angemessen betrachtet, da sich erst hier sein volles Potenzial entfaltet. Von diesem Standpunkt her besehen besteht die Gattung Drama lediglich aus Theateraufführungen. Jahn beschreibt diese Betrachtungsweise und die Stellung des Dramentextes in ihrem Kontext so: »A play’s text is accepted as something that is ›intended to be performed,‹ but the performed play is really the only relevant and worthwhile form of the genre.«³⁵ Für die Relevanz und Beschäftigung mit dem Aufführungstext spricht, vereinfacht gesagt, dass der Aufführungstext nicht mit dem jeweils zugrunde liegenden Dramentext identisch ist. Der Aufführungstext ist vielmehr ein eigenständiges, im Kollektiv des Theaterapparates geschaffenes, künstlerisches Produkt.³⁶ Nicht nur sind der Dramentext und der Aufführungstext verschieden, auch die Aufführungen ein und desselben Stücks unterscheiden sich von Inszenierung zu Inszenierung und von Theaterabend zu Theaterabend. Der Aufführungstext folgt dem aus dem Dramentext entwickelten Inszenierungstext und stellt – sofern man davon ausgeht, dass jede Aufführung ein wenig anders verläuft und vom Inszenierungstext abstrahiert werden muss – eine Interpretation des Inszenierungstextes dar. Bereits in diesem wird der zugrunde liegende Dramentext interpretiert. Gerade in dieser interpretatorischen Vielfalt ist ein nicht zu vernachlässigender ästhetischer Wert zu sehen, den die Aufführung eines Dramas gegenüber der Textgrundlage gewinnt. Der Dramentext stellt folglich weder für die Theater- noch für die Literaturwissenschaft ein für die Analyse relevantes Artefakt dar. Dies ist nachvollziehbar für eine Theaterwissenschaft, die sich hauptsächlich der Analyse von Inszenierungen und Aufführungen sowie der damit zusammenhängenden Performanz widmet. Im Rahmen dieser Betrachtungsweise, die, wie ich oben beschrieben habe, ebenfalls in der literaturwissenschaftlichen Dramentheorie vertreten wird, gilt dasselbe für die Literaturwissenschaft, sofern sie es als eine methodische Prämisse erachtet, den Dramentext nur als Vorstufe für das Kunstwerk Drama in der Aufführung zu betrachten. Genau genommen gewinnt der Aufführungstext über den Inszenierungstext einen doppelten, interpretatorischen Abstand zum Dramentext. Das Drama wird nach dem oben beschriebenen Leitsatz der Literatur- und Theaterwissenschaft vom Aufführungstext her verstanden. Für diesen und die Analyse desselben stellt das zugrundeliegende ›Textsubstrat‹ des Theater- bzw. Dramentextes eher eine Marginalie dar

35 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 661. 36 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 3: Die Aufführung als Text, Tübingen und Basel: Gunter Narr, 1988, S. 22.

2.2 Dramentext und Aufführungstext | 25

und der Dramentext stellt tatsächlich ›nur noch‹ ein Referenzmuster für die spezielle künstlerisch-ästhetische Ausarbeitung durch Inszenierungs- und Aufführungstext dar. Diese Bestimmung des Dramas hat für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung der Gattung und ihrer Artefakte meines Erachtens allerdings eine weitreichende Folge: Unter dieser Voraussetzung fehlen der Literaturwissenschaft die für eine angemessene Analyse des Dramas nötigen Werkzeuge. Eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Drama, die dem kulturellen Artefakt angemessen ist, kann nicht vollzogen werden und ist sogar unnötig, wenn nicht der Dramentext, sondern dessen Aufführung sein Wesen ausmacht bzw. das vollendete Werk darstellt. Das Drama ist dann für die Literaturwissenschaft in seiner semiotischen Potenz über den Dramentext nicht analysierbar, da die literaturwissenschaftlich analysierbare Textgrundlage nur eine Skizze darstellt und das Drama erst auf der Bühne ›existiert‹. Dies könnte nur unter Einbindung von theater- und medienwissenschaftlichen Methoden kompensiert werden. Bemerkenswert daran ist aber, dass selbst Untersuchungen die von der Annahme ausgehen, das Drama sei erst als plurimedialer Aufführungstext zu untersuchen, auf den Dramentext als stellvertretendes Analysandum zurückgreifen³⁷ – sei es der Einfachheit oder einer Unzugänglichkeit von Aufführungstexten geschuldet.³⁸ Der Dramentext ist aber von der Untersuchung ausgeschlossen und er müsste aufgrund des interpretatorischen Abstandes vernachlässigt werden, außer bei einer komparativen Analyse etwa hinsichtlich der Werktreue. Ganz ähnlich wird auch bei transmedial narratologischen Ansätzen vorgegangen. Hier werden die Art und die kulturelle Einbindung der Repräsentation von Geschichten in verschiedenen Medien untersucht. Das Drama verstanden als aufgeführter Text wird mit dem Medium Film verglichen und ihm wird eine narrative Kompetenz zugesprochen. Für die Analyse wird aber auch hier zumeist auf den auch aus transmedialer Sicht ›nebensächlichen‹ Dramentext zurückgegriffen. Zwar mag der Dramentext allein nicht das vollendete Kunstwerk darstellen. Er bleibt aber eine notwendige Voraussetzung für die Erarbeitung des Inszenierungstextes und für dessen Umsetzungen in eine Aufführung. Dieser Umstand wurde in der Forschung bereits festgestellt. So sieht Marx gerade in der Spannung zwischen »Textualität vs. Performativität«³⁹ den Nexus zeitgenös-

37 Manfred Pfister begründet die Analyse von Dramentexten in seiner Monographie, in der er sich eingangs explizit für die Plurimedialität des Dramas ausspricht, unter anderem mit der literaturwissenschaftlichen Reihe Information und Synthese, in der Das Drama erscheint: »Daß wir uns jedoch im folgenden dann doch zumindest schwerpunktmäßig auf dramatische Texte mit literarischem Textsubstrat konzentrieren, ergibt sich schon aus der literaturwissenschaftlichen Orientierung der vorliegenden Reihe.« Pfister: Das Drama (2001), S. 33. 38 Damit ist gemeint, dass beispielsweise keine Aufzeichnungen (filmisch oder schriftlich) der zu untersuchenden Aufführung oder zumindest der Aufführungssituation vorliegen. 39 Marx (Hrsg.): Handbuch Drama (2012), S. 1.

26 | 2 Das Drama in der Forschung sischer Theoriediskussionen.⁴⁰ Die Beziehung zwischen Drama und Theater erfahre »gegenwärtig aus theaterwissenschaftlicher Perspektive eine Neubewertung, die auch mit einer Revision des Performativitätsparadigmas zu tun«⁴¹ habe.⁴² Aber selbst dann bleiben Dramen für die Theater- und die Literaturwissenschaft ›Zwitterwesen‹ zweier medialer Ausformungen, nämlich der Textgrundlage Dramentext und seiner aufgeführten Form Aufführungstext. Jiři Veltruský formuliert dies 1985 so: »The theory of theater is an extraordinarily troubled discipline, and so is the theory of drama. The phenomena they study overlap so much that they tend to merge, not only in the thinking of scholars and critics but also in the common vocabulary.«⁴³ Dies führt zudem dazu, dass die Begriffe ›Drama‹, ›Theater‹, ›Theatertext‹, ›Theaterliteratur‹ und ›Theateraufführung‹ in Theorietexten synonymhaft gebraucht werden und bei der Verwendung der Begriffe in konkreten Studien zur Gattung Drama nicht immer zu unterscheiden ist, ob nun vom Dramentext, vom Aufführungstext, vom Inszenierungstext oder gar von einer nicht greifbaren, virtuellen Zwischenstufe die Rede ist: Zumindest im deutschen Sprachraum wird in der Theaterwissenschaft seit Max Hermann scharf zwischen ›Theater‹ und ›Drama‹ unterschieden [. . .], während in der literaturwissenschaftlichen Praxis de facto meist Dramentexte im Vordergrund stehen, der Terminus ›Drama‹ aber dennoch nicht per se anzeigt, ob auf dramatische Texte oder aber auf eine Aufführung abgehoben wird [. . .]⁴⁴

Nachdem ich soeben dargelegt habe, welche Unterscheidungen vorgenommen werden und mit welchen Problemen diese verbunden sein können, werde ich nun zeigen, was für eine Beschäftigung und Aufwertung des Dramentextes gerade aus literaturwissenschaftlicher Sicht spricht. Selbst wenn der zugrundeliegende Text ohne Auslassungen und Umstellungen auf die Bühne gebracht wird, müssen, dem Charakter einer medialen Übertragung, Übersetzung bzw. Transformation entsprechend, unbestimmte Stellen ausgestaltet sowie den Möglichkeiten und Einschränkungen des Zielmediums Theater Rechnung getragen werden. Aufführungen stellen Interpretationen und gleichsam Ausarbeitun-

40 Vgl. auch Nünning/Sommer: Drama und Narratologie (2002), S. 119; Sie beziehen sich dabei auf Ausführungen von Manfred Jahn. Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 673. 41 Marx: Drama und Performativität (2012), S. 165. 42 Vgl. Sophia Totzeva: Das theatrale Potential des dramatischen Textes. Ein Beitrag zur Theorie von Drama und Dramenübersetzung (Forum Modernes Theater 19), Tübingen: Gunter Narr, 1995; vgl. William B. Worthen: Drama. Between Poetry and Performance, Chichester: John Wiley & Sons, 2010; vgl. Rebecca Schneider: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London und New York: Routledge, 2011. 43 Jiří Veltruský: Drama as Literature and Performance, in: Das Drama und seine Inszenierung. Vorträge des internationalen literatur- und theatersemiotischen Kolloquiums. Frankfurt am Main, 1983, hrsg. v. Erika Fischer-Lichte (Medien in Forschung und Unterricht. Serie A 16), Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1985, S. 12–21, hier S. 12. 44 Rajewsky: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln (2007), 28, FN 12.

2.2 Dramentext und Aufführungstext | 27

gen des Dramentextes dar und können im äußersten Fall nur noch den Titel mit diesem gemein haben. Aspekte, die im Dramentext nicht explizit oder ausreichend bestimmt sind – oftmals sind dies zum Beispiel die Kostüme, die Bewegungen im Raum, das Aussehen der Figuren oder das Bühnenbild –, müssen erst erstellt oder komplettiert werden. Im Dramentext kann beispielsweise auf das gute Aussehen einer Figur referiert werden. In Hugo von Hofmannsthals Fragment Der Tod des Tizian (1892) wird eine Figur mit folgenden Worten beschrieben: »gianino (er ist 16 Jahre alt und sehr schön)«.⁴⁵ Angesichts einer solchen Beschreibung stellt sich die Frage, wie in der Aufführungssituation damit umgegangen wird. Wenn ich der Einfachheit halber davon ausgehe, dass das Theaterensemble einen großen Wert auf eine werkgetreue Umsetzung legt, dann sind derartige Beschreibungen und Vorgaben kaum zu verwirklichen. Das Ensemble braucht in diesem Fall einen sechzehnjährigen gut aussehenden Jungen, der die Rolle übernimmt. Hier stellt sich zusätzlich die Frage, nach welchem Schönheitsideal eine Wahl getroffen wird. Dies ist nur einer von vielen Aspekten der Darstellung, denn andere Eigenschaften wie Haarfarbe, Größe usw. sind im Text erst gar nicht genannt. Der Leser eines Dramas befindet sich in solchen Fällen jedenfalls in einer anderen Lage als der Zuschauer. Egal auf welche Weise genau sich der Leser Gianino vorstellt, dieser wird »sehr schön« und »16 Jahre alt« sein. Als Zuschauer einer datierten Aufführung muss er allerdings Alter und Schönheit der Figur unabhängig von eigenen Schönheitsidealen am Schauspieler erkennen, weil ihm die explizite und konkrete Beschreibung Gianinos über den Nebentext nicht zugänglich ist. Sicherlich sind die Übergänge zwischen der vollständig werkgetreuen Umsetzung und der abweichenden Umsetzung eines Dramentextes fließend.⁴⁶ Während es im Fall einer Aufführung von Hofmannsthals Stück, die nahe am Text bleiben will, und anstatt eines 16-jährigen einen 24-jährigen Schauspieler für die Rolle einsetzt, keinen Nachteil bezüglich der Werktreue einbringt, führt ein anderes Beispiel vor, wie ausgeprägt die Indifferenz gegenüber der Textvorlage sein kann. In Andreas Gryphius’ Absurda Comica (1657) wird über ein Spiel-im-Spiel metadramatisch vorgeführt, wie eine Handwerkertruppe für die Darstellung der jungen Frau Thisbe aus Ermangelung einer Schauspielerin einen bärtigen Mann einsetzt.⁴⁷ Bestimmte Aspekte eines Dramentextes können also weggelassen werden oder bei einer Aufführung verloren gehen. Dies kann beispielsweise aufgrund der Länge des zugrundeliegenden Dramentextes oder wegen bestimmter historischer Einschränkungen sogar nötig sein, seien diese der Zensur oder den Darstellungskapazitäten

45 Hugo von Hofmannsthal: Der Tod des Tizian, in: Hugo von Hofmannsthal: Lyrische Dramen, hrsg. v. Andreas Thomasberger (RUB 18038), Stuttgart: Reclam, 2000, S. 41–56, hier S. 42. 46 Vgl. dazu Fischer-Lichte: Die Aufführung als Text (1988), S. 35–54. 47 Vgl. Andreas Gryphius: Absurda Comica. Oder Herr Peter Squentz. Schimpff-Spiel, in: Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Bd. 7: Lustspiele I, hrsg. v. Hugh Powell, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1969, S. 1–40, hier S. 4, 10.

28 | 2 Das Drama in der Forschung des Theaterapparates geschuldet. So können konkrete Angaben fehlen, der zugrundeliegende Dramentext kann zu lang ausfallen, moralisch und politisch anstößig sein oder bühnentechnische Mittel verlangen, die nicht gegeben sind, weswegen er für das Vermittlungsmedium Theater gekürzt oder verändert werden muss. Daneben bergen der Dramentext ebenso wie der Aufführungstext ein nicht zu vernachlässigendes semiotisches Potenzial. Für die Dramenproduktion der Frühen Neuzeit verweist zum Beispiel Dirk Niefanger im Bezug darauf, dass es durch die Vielzahl von Para- und zum Teil nicht aufführbaren Nebentexten sowie durch den großen Umfang vieler Barockdramen und durch die nicht selten beigelegten Illustrationen (Titelkupfer, Abbildungen der Hauptfiguren usw.) [. . .] zu einer deutlichen Differenz zwischen Lesedrama und Aufführungstext [komme].⁴⁸

Anders ausgedrückt können insbesondere Veröffentlichungen dramatischer Werke mit einer aufwändigen Gestaltung wie etwa durch Abbildungen, Vorworte an die Leser, Anmerkungsapparate u. Ä. nur mit Mühe als bloße Aufführungsvorlagen betrachtet werden. Sie sind vielmehr und in erster Linie zur ›bloßen‹ Lektüre gedacht. Daraus folgt nicht nur, dass uns im Sinne Aristoteles’ schon die bloße Lektüre zeigen kann, von welcher Beschaffenheit das Drama ist. Eine Konzentration der Literaturwissenschaft auf die Aufführung führt dazu, das davon abzusetzende, eigenständige semiotische Potenzial des Dramentextes zu vernachlässigen. Dies kann nun im Gegenzug dazu verleiten, bei einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung der Gattung Drama allein den Dramentext zu favorisieren. Manfred Jahn fasst eine solche Betrachtungsweise unter dem Schlagwort ›poetic drama‹. Dabei werden das Lesen, das Analysieren und das Interpretieren von Dramentexten als die eigentlich gewinnbringende Rezeptionsweise erachtet. Der Dramentext hat eine höhere Relevanz, da die Aufführung nicht alle in Neben- und Haupttext eingeschrieben Elemente umsetzen kann oder der Dramentext für die Aufführung abgeändert wird. Die ›Spannung‹ zwischen Textualität und Performativität, von der Marx im Handbuch Drama spricht,⁴⁹ wird hier zugunsten der Textualität aufgelöst: »Poetic Drama’s main interpretive strategy is a close reading which aims at bringing out the dramatic work’s full aesthetic quality and richness.«⁵⁰ Allerdings scheint etwa in Bezug auf das epische Theater ein Aufführungsfokus für die adäquate Analyse notwendig. Beispielsweise lassen sich aus den Redebeiträgen der Mutter Courage nicht die von Brecht geforderte Distanz der Schauspielerin zur dargestellten Figur und ihre entsprechenden paralinguistischen Konnotationen herauslesen, was dem dialektischen Verfahren des epischen Theaters entsprechen würde. Dafür ist

48 Dirk Niefanger: Barock, in: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. v. Peter W. Marx, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2012, Kap. III.7, S. 230–243, hier S. 235. 49 Vgl. Marx (Hrsg.): Handbuch Drama (2012), S. 1. 50 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 661.

2.2 Dramentext und Aufführungstext | 29

ein entsprechender Inszenierungsstil notwendig.⁵¹ Dies ist bei Brecht jedoch weder im Haupt- noch im Nebentext eingeschrieben, wenngleich es genau diese Texte sind, mit denen sich der Literaturwissenschaftler (aber auch das Theaterensemble) beschäftigt. Sie analysieren und interpretieren das Drama zuerst anhand der Textgrundlage und nicht anhand der aufgeführten Form – sofern eine solche überhaupt zur Verfügung steht. Die dritte Betrachtungsweise, der sich Jahn selbst zuordnet, stellt eine Art Synthese der vorigen Positionen von einem hauptsächlich literaturwissenschaftlichen Standpunkt her dar. Dem Dramentext und dem Aufführungstext wird jeweils ein eigener Wert zugesprochen. Grundlegend für diese Postion ist, dass der Dramentext, wenn er gelesen wird, nur dann adäquat erfasst werden kann, wenn er in Form einer potenziellen und imaginären Aufführung im Kopf des Lesers rezipiert wird, wenn also nicht (wie bei der Betrachtungsweise poetic drama) Passagen des Neben- und Haupttextes in ihrer Funktion der Etablierung einer imaginären Aufführung ausgeblendet werden: Its interpretive strategies include performance-oriented textual analysis, paying particular attention to the »secondary text« of the stage directions, and comparing the reading of plays to the reading of novels. Points on its agenda include the rehabilitation of the text as a piece of of literature, and the promotion of a cross-disciplinary exchange between critics, theorists, and theater practioners.⁵²

Das Modell, das ich mit dieser Arbeit zu schaffen versuche, um epische aber auch dramatische Verfahren in Dramen literaturwissenschaftlich analysierbar zu machen, geht von dieser zuletzt angesprochenen Textebene aus. Dramentexte müssen dafür zuerst getrennt von den Dispositionen und Realisierungen, die sie im Aufführungstext erhalten, betrachtet werden. Ich schließe mich deshalb Jahns Position des reading drama an.⁵³ Es muss also – und das ist die wichtigste Unterscheidung zu den anderen möglichen Positionen – stets mitbedacht werden, dass der Dramentext auf der einen Seite

51 »Kurz gesagt: der Schauspieler muß Demonstrant bleiben; er muß den Demonstrierten als eine fremde Person wiedergeben, er darf bei seiner Darstellung nicht das ›er tat das, er sagte das‹ auslöschen. Er darf es nicht zur restlosen Verwandlung in die Demonstrierte Person kommen lassen.« (Bertolt Brecht: Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters, in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22: Schriften 2, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 370–381, hier S. 376) 52 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 662. 53 In Bezug etwa auf Brecht’sche Stücke würde dies bedeuten, dass der Literaturwissenschaftler auf der Ebene des Dramentextes ansetzen kann und dessen volles semiotisches Potenzial in Betracht zieht. Er muss diese aber gegebenenfalls korrelieren mit Kontexten, die der theoretische und poetologische Diskurs über Drama und Theater zur Zeit Brechts eröffnet. Vgl. Peter M. Boenisch: Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition, in: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. v. Peter W. Marx, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2012, Kap. II.2, S. 122–144, hier S. 126.

30 | 2 Das Drama in der Forschung für eine Aufführung geschrieben ist, auf der anderen Seite diese Aufführung aus literaturwissenschaftlicher Sicht aber fiktiv bleibt.⁵⁴ Es muss stattdessen vielmehr davon ausgegangen werden, dass alles, was zum Verständnis des Textes notwendig ist, darin eingeschrieben und durch die kulturellen Kontexte, in denen der Text eingebettet ist, ergänzt werden kann. Nach Andreas Höfele kann ein Dramentext auch als »Transkription einer gedachten Theateraufführung«⁵⁵ betrachtet werden.⁵⁶ So kann der Dramentext als eine eigenständige literarische Gattung verstanden werden, die für die potenzielle Interpretation in Form einer Aufführung im Theater zur Verfügung steht. Autoren von Dramentexten sind dann nicht nur Ideengeber und befinden sich nicht in einer bloßen ›Schreibknechtschaft‹ in Bezug auf den Theaterapparat.

2.3 Was ist ein Drama? Entgegen der Auffassung Pfisters, man könne das Drama nicht mit allgemeingültigen Kriterien beschreiben,⁵⁷ schlage ich folgende Explikation des Dramas vor: Ein Drama in der Literaturwissenschaft ist 1. ein aus hauptsächlich sprachlichen Zeichen aufgebautes, künstlerisches Produkt, das als Dramentext bezeichnet wird (literarisches Kriterium). 2. Der Dramentext verweist über Indizes im Text auf eine mögliche Aufführungssituation (Aufführungskriterium). 3. Der Dramentext ist als ein Textensemble zu betrachten. Er besteht aus der Kombination von peritextuellen Paratexten und dem Spieltext. Bei diesem können abermals zwei Textsorten, Haupttext und Nebentext, unterschieden werden (textuelles Kriterium). 4. Der Spieltext ist nach einem bestimmten tradierten typographischen Aufbau gestaltet, der es ermöglicht, den Nebentext vom Haupttext zu trennen und Handlungen oder Redebeiträge bestimmten Figuren zuzuordnen. Die typographische Gestal-

54 Michael Issacharoff spricht von einer über den Dramentext repräsentierten inscribed performance bzw. von einer virtual performance. Horst Turk verwendet die Bezeichnungen der ›implizierten‹ oder auch ›eingeschriebenen Inszenierung‹. Vgl. Michael Issacharoff: Inscribed Performance, in: Rivista di Letterature moderne e comparate 39 (1986), S. 93–106; vgl. Michael Issacharoff: Discourse as Performance, Stanford: Stanford University Press, 1989; vgl. Horst Turk: Soziale und theatralische Konventionen als Problem des Dramas und der Übersetzung, in: Soziale und theatralische Konventionen als Problem der Dramenübersetzung, hrsg. v. Erika Fischer-Lichte u. a. (Forum Modernes Theater 1), Tübingen: Gunter Narr, 1988, S. 9–53; vgl. Andreas Höfele: Drama und Theater. Einige Anmerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines umstrittenen Verhältnisses, in: Forum Modernes Theater 6.1 (1991), S. 3–23. 55 Höfele: Drama und Theater (1991), S. 20. 56 Vgl. auch Boenisch: Grundelemente (2). (2012), S. 125 f. 57 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 31 f.

2.3 Was ist ein Drama? | 31

tung erlaubt es zudem den Spieltext von den ihn umgebenden Paratexten zu sondern (typographisches Kriterium).

2.3.1 Literarisches Kriterium Eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung, Analyse und Interpretation der Gattung Drama, muss das Drama zunächst als literarisches Kunstwerk betrachten. Dramen sind zwar dennoch beides: Vorlagen für eine mögliche Aufführung und eine eigenständige Gattung der Literatur. Der literaturwissenschaftliche Interpret ist meines Erachtens aber in erster Linie auf die Textgrundlage angewiesen. Es liegt demnach ein literarischer Text vor, der als Dramentext⁵⁸ bezeichnet wird. Dramen gehören in der Literaturwissenschaft zu den Texten, denen ein »Medienwechsel«⁵⁹⁶⁰ eingeschrieben ist bzw. die auf ein anderes Medium verweisen.⁶¹ Sie müssen aber als literarische Kunstwerke⁶² mit einem gegenüber einer potenziellen Aufführung eigenen semiotischen Potenzial erachtet werden.⁶³

58 Von der Alternative bzw. dem scheinbaren Synonym Theatertext für Dramentext sehe ich ab, da ich erstens ein Modell ausdrücklich für die schriftliche Form entwickle und zweitens das Drama als literarischer Untersuchungsgegenstand im Vordergrund steht. Vgl. Jahn: Grundkurs Drama (2009), S. 7; vgl. Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 4 2008, S. 82–88. 59 Irina O. Rajewsky: Intermedialität (UTB 2261), Tübingen und Basel: Francke Verlag, 2002, S. 16. 60 Vgl. Hauthal: Metadrama und Theatralität (2009), S. 65 ff. 61 Ähnliche Texte sind Drehbücher oder Hörspielskripts. Entfernen wir uns vom Literarischen, können auch Kochbücher und Anleitungen als Texte, die eine Umsetzung vorschlagen, dazu gezählt werden. 62 Hier folge ich der Einschätzung Fischer-Lichtes: »Es [(gemeint ist die Theateraufführung; A. W.)] handelt sich vielmehr um ein eigenständiges Kunstwerk, das ebensowenig als bloße Übersetzung eines Dramas angemessen zu begreifen ist wie umgekehrt das Drama lediglich als Vorlage für eine Aufführung im Sinne einer Partitur. Sowohl das Drama als auch die Aufführung stellen jeweils ein Werk sui generis dar, das wohl durch vielfältige Beziehungen an das je andere geknüpft sein mag, in seiner jeweiligen Eigenart und Besonderheit jedoch allein aus dieser Relation heraus kaum adäquat verstanden werden kann.« Fischer-Lichte: Die Aufführung als Text (1988), S. 53. 63 Aber auch bei Texten treten neben sprachlichen Zeichen weitere Zeichensysteme wie etwa visuelle Zeichen auf, die ebenfalls durch bestimmte kulturelle Konventionen geregelt sein können und die nicht zu vernachlässigen sind. Dazu kann in erster Linie die typographische Gestaltung eines Textes gezählt werden (vgl. typographisches Kriterium), aber es fallen gegebenenfalls auch Illustrationen oder Ähnliches darunter. Fix: Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text (2009), S. 106 ff.; Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 69), Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2000, passim.

32 | 2 Das Drama in der Forschung 2.3.2 Aufführungskriterium Aus der engen Verbindung der literarischen Gattung zum Theater lässt sich erklären, warum ein Drama immer auf eine prinzipiell mögliche Aufführung verweist. Dies kann durch die Titelgebung oder die Gattungsbezeichnung aber auch durch Nebentexte, Textstrukturierungen oder typographische Gestaltungen geschehen. Nach Martin Ottmers Eintrag im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft handelt es sich bei einem Drama um einen »[p]oetische[n] Text, der neben einer Lektüre die Inszenierung auf dem Theater ermöglicht«.⁶⁴ Damit setzt Ottmers eine lesende Rezeption offenbar der einer aus dem Text entwickelbaren Inszenierung gleich. Pfister verzichtet in seiner Überblickdarstellung darauf, dies zu spezifizieren.⁶⁵ Das Drama blicke auf eine lange historischen Entwicklung zurück, was es unmöglich mache, allgemeingültige Kriterien und Kategorien zu bestimmen.⁶⁶ Er verfolgt stattdessen einen umfassenderen Ansatz und zählt auch Darstellungsarten zum Drama, die nicht auf einer literarischen Textgrundlage basieren wie zum Beispiel Happenings.⁶⁷ Die Aufführung muss allerdings nicht realisiert sein, um den Text aus literaturwissenschaftlicher Sicht als Dramentext und damit als einen Vertreter der literarischen Gattung Drama zu verstehen und eine bestimmte Rezeptionshaltung einzunehmen. Diese Rezeptionshaltung schließt ein, den Dramentext unter anderem auf seine potenzielle Aufführbarkeit hin auszulegen, was bedeutet, dass bestimmte Hinweise des Textes mit Blick auf eine nur vorgestellte theatrale Präsentation hin gestaltet sind und der potenzielle Medienwechsel bei der Analyse und Interpretation bedacht werden muss. Die imaginierte performative Präsentation als ein Aspekt eines Dramas wird in dieser Arbeit Aufführungskriterium⁶⁸ genannt. Dass eine Zuordnung des Textes zur Gattung Drama geleistet und überhaupt eine fiktive Bühnenrealisation vom lesenden Rezipienten mitgedacht werden kann, wird durch verschiedene Indikatoren im Text unterstützt. Diese finden sich in Untertiteln (›Trauerspiel in fünf Aufzügen‹), in Akt- und Szenenbegrenzungen (›Zweiter Aufzug‹), in Angaben zum Auf- und Abtritt von Figuren (›Geht ab.‹, ›Tritt auf.‹) oder in Regieanweisungen, die die Proxemik des Personals auf der Bühne betreffen (›Tritt an den Bühnenrand.‹). Diese Indikatoren legen dem Rezipienten nahe, sich eine Bühne vorzustellen. Sie sind in jedem Fall nötig, um den Text der literarischen Gattung Drama zuzuordnen.⁶⁹

64 Martin Ottmers: Art. ›Drama‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Klaus Weimar u. a., Bd. 1, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 1997, S. 392–396, hier S. 392. 65 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 31 ff. 66 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 18 f.; vgl. auch Kühnel: Drama (1990), S. 108. 67 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 32. 68 Vgl. auch Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 53 ff. 69 Mit dem Aufführungskriterium können beispielsweise philosophische Dialoge oder Interviews, die typographisch ähnlich einem Dramentext gestaltet sind, leichter ausgeblendet werden.

2.3 Was ist ein Drama? | 33

Mit Pfister wird der Dramentext und nicht erst der Aufführungstext als plurimedialer Text⁷⁰ verstanden, der über gewisse Indizes auf eine potenzielle Aufführung und damit auf ein weiteres, wenn auch fiktives Medium (Bühne) verweist. Pfister hat allerdings eine theaterpraktische Umsetzung im Blick. Seine »These des Informationsüberschusses des plurimedialen dramatischen Textes [gemeint ist der Aufführungstext, A.W.] gegenüber dem literarischen Textsubstrat [Dramentext, A.W.]«⁷¹ mag sicherlich richtig sein. Jedoch ist jener Überschuss nicht immer auf den Dramentext zurückzuführen, der hier ähnlich einem Erzähltext (mit einem Begriff Roman Ingardens) ›Unbestimmtheitsstellen‹ lässt bzw. bietet.⁷² Natürlich wird der Haupttext erst durch die Rezitation eines realen Schauspielers mit »paralinguistischen Variablen«⁷³ wie zum Beispiel bestimmten Betonungen, Lautstärken oder Sprechgeschwindigkeiten sowie »individuelle[n] Stimmqualitäten«⁷⁴ angereichert. Dies ist jedoch eine zeitlich und örtlich konkrete Interpretation und nur eine von vielen durch den Text implizierten möglichen Aufführungen.⁷⁵ Diese diversen Möglichkeiten werden vom Dramentext deswegen nicht abgedeckt, weil er wie jedes andere literarische Produkt in der Form, in der er vorliegt, für die Interpretation gedacht ist, nicht aber, weil er ›nur‹ das Textsubstrat⁷⁶ darstellt. Stellen, die hinsichtlich des Bühnenbildes oder des Paralinguistischen unbestimmt gelassen werden, sind nicht viel anders als in Erzähltexten als freie Interpretationsräume durchaus erwünscht und nicht unbedingt auf eine Nicht-Darstellbarkeit von außersprachlicher Realität zurückzuführen. Auch in Erzähltexten werden nicht alle zitierten Reden einer Figur paralinguistisch gestaltet oder die Räume, in denen sich die Geschichten abspielen, detailliert beschrieben. Es wird davon ausgegangen, dass der Dramentext in seiner

70 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), 25. Hier ist anzumerken, dass der Dramentext als Text selbst nicht mit unterschiedlichen Medien arbeitet. Als plurimedial kann er, wenn dann nur im übertragenen Sinne verstanden werden. 71 Pfister: Das Drama (2001), S. 28. 72 Martínez/Scheffel beschreiben ›Unbestimmtheitsstellen‹ im Zusammenhang mit der Motivierung der Handlung eines Erzähltextes. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München: C. H. Beck, 9 2012, S. 115, 165–169. 73 Pfister: Das Drama (2001), S. 29. 74 Pfister: Das Drama (2001), S. 29. 75 »Diese Opposition zwischen der relativen Unbestimmtheit der sprachlichen und einer weitgehenden Konkretheit der theatralischen Zeichen gilt für alle Objekte und Vorgänge, von denen im Haupt- oder Nebentext derart die Rede ist, daß sie als auf der Bühne anwesend bzw. ablaufend gedacht werden müssen. Wenn Claudias Ton in »Emilia Galotti« als »stutzig« beschrieben oder in »Kabale und Liebe« vom Kammerdiener gesagt wird, er würde die nachfolgenden Sätze »mit schrecklicher Stimme« oder »mit fürchterlichem Lachen« sprechen, so weisen diese Sätze jeweils auf einen Eindruck hin, der beim Zuschauer hervorgerufen werden soll, ohne jedoch auch nur eine konkrete Anweisung zu übermitteln, unter Verwendung welcher paralinguistischer Zeichen der Schauspieler diesen Eindruck hervorzurufen hätte.« Vgl. Fischer-Lichte: Die Aufführung als Text (1988), S. 49 f. 76 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 28.

34 | 2 Das Drama in der Forschung vorliegenden Form vollständig ausgearbeitet ist und dass er in dieser angemessen analysiert und interpretiert werden kann.

2.3.3 Textuelles Kriterium Ein Dramentext besteht aus einem Ensemble an Texten. Im Kern steht der Spieltext. Dieser ist normalerweise umgeben durch peritextuelle Paratexte verschiedenster Form und Quantität (Titel, Vorworte, Nachwort, Anhang etc.). Speziell der Spieltext zeichnet sich des Weiteren durch die Kombination zweier gesondert wahrnehmbarer Textsegmente aus: durch eine direkte Rede (Figurenrede, Redebeiträge bzw. Haupttext) und durch nicht-narrative Passagen (Regieanweisungen bzw. Nebentext).⁷⁷ Letztere »arrangieren, situieren [und] kommentieren«⁷⁸ nach Ottmers den Haupttext. Indem im Drama die Merkmale der funktional aufeinander bezogenen »Subtexte« (Haupttext und Nebentext) und des Aufführungskriteriums miteinander kombiniert werden, grenzt »sich das Drama von den beiden anderen Hauptgattungen Erzählung und Lyrik ab«.⁷⁹ Auf ein Detail in Ottmers Ausführungen bezüglich des Nebentextes sei hier hingewiesen: Er schreibt ihm die Eigenschaft des ›Nicht-Narrativen‹ zu. Mit Blick auf eine mögliche Verortung und Zuweisung der kommentierenden Funktion gesteht er aber offenbar doch die kritisch vermittelnden Eigenschaften einer Instanz zu, die sich über den Nebentext äußern kann. Volker Klotz nimmt ebenfalls eine vermittelnde Instanz beim Dramentext an, die bei einer (fiktiven) Aufführung verschwindet: »Aber auch dann, wenn wir sie [die dramatischen Szenen, A.W.] lediglich lesen – schwarz auf weiß als gedruckten Text –, erscheinen sie unmittelbar auf unserer inneren Bühne, ohne erzählenden Zwischenträger.«⁸⁰ Anke Detken konstatiert für die dem Nebentext zugeordneten Regieanweisungen genau das Gegenteil:⁸¹ Allerdings sind die Regiebemerkungen beim Lesen eines Dramentextes für die Bedeutungsgenerierung konstitutiv: Sie sind ein narratives Element, das Teil der Fiktion ist, und differenzierte Informationen über die handelnden Personen und deren Umgebung vermittelt.⁸²

77 Vgl. Ottmers: Drama (1997), S. 392. 78 Hierbei handelt es sich um drei Funktionen, die nach Silke Lahn und Jan Christoph Meister aber auch Wolf Schmid der Erzähler in Erzähltexten übernimmt und über die ein Erzähler immer implizit aus dem Text abgeleitet werden kann (vgl. Kapitel 3.6 ab Seite 147). Ottmers: Drama (1997), S. 392. 79 Ottmers: Drama (1997), S. 392. 80 Hervorhebung von A.W. Klotz: Erzählen (2006), S. 20 f. 81 Vgl. Detken: Im Nebenraum des Textes (2009), S. 4; vgl. auch Werner Wolf: Introduction. Frames, Framings and Framing Borders in Literature and Other Media, in: Framing Borders in Literature and Other Media, hrsg. v. Werner Wolf/Walter Bernhart (Studies in Intermediality 1), Amsterdam und New York: Rodopi, 2006, S. 1–40, hier S. 87. 82 Hervorhebungen von A.W. Anke Detken: Art. ›Nebentext‹, in: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, hrsg. v. Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff, 3. völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2007, S. 536–537, hier S. 537.

2.3 Was ist ein Drama? | 35

Der Hinweis auf die Kombination zweier Textebenen speziell im Spieltext durchzieht seit Ingardens Einführung des Begriffs ›Nebentext‹ alle formalen Beschreibungen.⁸³ Sie lässt sich auch bei Klaus Weimar in seiner Enzyklopädie der Literaturwissenschaft finden: »Kennzeichen des Dramas könnte die Kombination von direkten Reden (Haupttext) mit einem Nebentext sein.«⁸⁴ Von leichten Begriffsverschiebungen hinsichtlich des Geschehens und der Geschichte abgesehen unterscheidet Korthals das Drama von Erzähltexten anhand formaler Kriterien und kommt zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Ein von ihm so bezeichneter dramatischer Modus stellt sich folgendermaßen dar: Ich nenne folglich einen geschehensdarstellenden literarischen Text dann im dramatischen Modus verfaßt, wenn in ihm [. . .] Haupt- und Nebentext getrennt wird, wenn also die verschiedenen Stimmen, die gemeinsam zur Geschehensdarstellung beitragen, quasi nebeneinander »montiert« angeordnet sind.⁸⁵

Im Gegensatz dazu ist ein narrativer Modus nach Korthals: Ein solcher [geschehensdarstellender, A.W.] Text steht dagegen im narrativen Modus, wenn die Geschehensdarstellung sich aus einem freien Zusammenspiel von Rede der Geschehensteilnehmer und Rede einer Erzählinstanz ergibt, die z. B. in Form der erlebten Rede ineinander verschlungen sein können. Statt von »Montage« müßte man hier von »Integration« der Diskursebenen sprechen.⁸⁶

2.3.4 Typographisches Kriterium Die typographische Präsentation eines Dramentextes ist relativ konstant. Alle Beschreibungen des Dramas setzten indirekt ein Unterscheidungskriterium voraus, welches es ermöglicht, auf einer formalen Ebene beim Spieltext Nebentext vom Haupttext zu differenzieren. Hier spielen Aspekte der Konvention und der Tradierung eine Rolle. Ottmers weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich erst in den Tradierungsprozessen von antiken Dramen ausgehend vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zur Wiederentdeckung in der italienischen Renaissance, »das Schriftbild des Dramentextes mit zwischengeschalteten Sprecherbezeichnungen und ›Bühnenanweisungen‹«⁸⁷ herausgebildet habe. Dies lässt sich von Terenz-Ausgaben des Mittelalters bis zu den aktuellen Ausgaben von Dramentexten etwa Roland Schimmelpfennigs leicht nachweisen: Es existiert eine

83 Vgl. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2 1960, S. 220 ff., 403. 84 Klaus Weimar: Enzyklopädie der Literaturwissenschaft (UTB 1034), München: Francke, 1980, S. 62. 85 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 80. 86 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 80. 87 Ottmers: Drama (1997), S. 395.

36 | 2 Das Drama in der Forschung relative Konstanz der Typographie.⁸⁸ Susanne Wehde entwickelt in ihrer Studie Typographische Kultur für derartige Phänomene den Begriff ›typographisches Dispositiv‹. Nach Wehde sind typographische Dispositive besonders komplexe und stark institutionalisierte typographische Formen mit sinnbildender Funktion[. Sie sind] makrotypographische Kompositionsschemata, die als syntagmatisch gestalthafte ›Superzeichen‹ jeweils Textsorten konnotieren. Typographische Dispositive stellen eine hochgeneralisierte Form der konnotativen Semantisierung typographischer Syntax dar. Der Existenz von typographischen Dispositiven ist es zu verdanken, daß man auf den ersten Blick in der Lage ist, eine Seite aus einer Tageszeitung von einem Dramentext oder einem Lexikoneintrag zu unterscheiden.⁸⁹

So ist der Nebentext formal durch ein anderes Schriftbild oder durch eine gesonderte Stellung zum Haupttext,⁹⁰ von diesem abgesetzt und als ein anderes Textsegment zu erkennen und zu benennen.⁹¹ Man kann Korthals’ Gegenüberstellung von Dramen- und Erzähltexten als Unterstützung für diese Argumentation hinzuziehen und es als ein Kriterium des Dramas erachten, dass die Spieltexte in Dramentexten aus einem Hauptund einem Nebentext aufgebaut sind und diese zusammen eine darstellend-erzählende Welt bilden.⁹² Die beiden Textebenen übernehmen in Bezug auf die Entwicklung der erzählten Welt und in Bezug auf den Dramentext als Ganzes bestimmte Funktionen bzw. Aufgaben.⁹³ Unabhängig davon, ob nun Dramen sehr wenig oder sehr viel Nebentext aufweisen – der Nebentext wird vom Haupttext stets typographisch differenziert.⁹⁴ In diesem Fall könnte man von einem Phänomen an der Oberfläche des Textes sprechen und es ist der typographische Code bzw. das typographische Zeichensystem, welches dazu beiträgt, dass ein Dramentext von einem Leser als ein solcher erkannt werden kann.⁹⁵ Eine solche Differenzierung von Produktionsseite außer Acht zu lassen, kann unter Umständen zu einer Fehlinterpretation führen oder zumindest die Zuordnung

88 Dies ist selbtsverständlich einer historischen Entwicklung und der damit einhergehenden Verfestigung von typographischen Konventionen zuzuschreiben. Vgl. zum Themenkomplex Manuskript, Buchdruck, Typographie und Drama insbesondere Peters: Theatre of the Book 1480–1880 (2000); vgl. auch Rainer Falk: Das typographische Dispositiv des Dramas. Konvention – Varianz – Interpretation, in: Rainer Falk/Thomas Rahn (Hrsg.): Text. Kritische Beiträge. Sonderheft 1 (2016), Typographie und Literatur, S. 35–50. 89 Wehde: Typographische Kultur (2000), S. 119. 90 Im Erstdruck von Friedrich Gottlieb Klopstocks Hermanns Tod (1787) beispielsweise sind die Nebentexte an den Fuß der Seite als Anmerkungen verschoben. Vgl. besonders Friedrich Gottlob Klopstock: Hermanns Tod. Ein Bardiet für die Schaubühne, Hamburg: Benjamin Gottlob Hoffmann, [1787], S. 5, 20, 34, 39. 91 Vgl. Marx: Regieanweisung/Szenenanweisung (2012), S. 144. 92 Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 80; vgl. Detken: Im Nebenraum des Textes (2009), S. 386. 93 Vgl. Kapitel 3.8 ab Seite 176. 94 Diese typographische Okkurenz wurde zudem auch in Lesedramen übernommen. 95 Vgl. Fix: Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text (2009), S. 106 f., 111, 128.

2.3 Was ist ein Drama? | 37

des Textes als Drama erheblich erschweren. Ich betrachte deshalb dieses Phänomen als eine prägende Eigenschaft der Gattung Drama. Zudem verstehe ich diese Eigenschaft als systematisch in Bezug auf die Gattung Drama, auch wenn sie sich aus der historischen und kulturellen Entwicklung ergibt. Zusammenfassend halte ich Folgendes fest. Ich begreife aus literaturwissenschaftlicher Sicht unter ›Drama‹ einen gedruckten Text, den ich als Dramentext bezeichne. Als ein solcher zeichnet er sich neben seiner ästhetisch-literarischen Komposition und Einbettung durch die typographische Sonderung zweier Textsegmente aus, die als Haupt- und Nebentext bezeichnet werden. Da er zur Gattung Drama gerechnet wird, die wiederum eng mit dem Theater verbunden ist, ist überdies der Bezug auf eine Aufführungssituation anhand von Indizien im Text zu erkennen. Dies können Gattungszuordnungen im Titel oder in den Paratexten im Allgemeinen, Hinweise auf eine Bühnensituation im Nebentext o. ä. sein. Ich verstehe das Drama im Sinne von Jahns reading drama als einen Lesetext, dessen Semiotik für eine lesende Rezeption angelegt ist oder zumindest durch eine solche erschlossen werden kann. Auf dieser Grundlage gehe ich nun einen Schritt weiter und untersuche das narrative Potenzial des Dramas. Um die Episierung im Drama aus literaturwissenschaftlicher Sicht neu betrachten zu können und um auf die Änderungen des narrativ-Begriffs zu reagieren, beschreibe und entwickle ich eine Narratologie des Dramas unter dem Eindruck der postklassischen Erweiterung der Narratologie.

3 Drama und Narratologie Im vorherigen Kapitel wurde beschrieben, was ein Drama aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist. Zu seinen wichtigsten Eigenschaften gehören neben seinem literarischen Charakter die Bezugnahme auf eine Aufführungssituation und die Aufteilung des Spieltextes in Haupt- und Nebentext. Im weiteren Verlauf soll gezeigt werden, wie erstens auch ein Dramentext als ein narrativer Text begriffen werden kann und wie sich zweitens Beschreibungen narrativer Komponenten (beispielsweise das Kommunikationsmodell, der Erzähler, Ereignisse, narrative Ebenen) in Bezug auf das Drama gestalten. Die Ziele dieses Kapitels liegen in einer Explikation des Erzählens, der Etablierung einer analog zum Erzähler in Erzähltexten gebildeten Erzählinstanz des Dramas (dramatische Instanz) und insgesamt auf der Entwicklung von Grundzügen einer Narratologie des Dramas. Diese Narratologie des Dramas bildet die Voraussetzung für die in Kapitel 4 neu gestaltete Episierungstheorie. Zuerst werden die Gründe für eine Narratologie des Dramas dargelegt. Es wird dann eine Explikation des Erzählens bzw. des Narrativen entwickelt, auf deren Basis bestimmte Komponenten des Erzählens im Allgemeinen und im Speziellen mit dem Bezug auf eine Narratologie des Dramas diskutiert werden. Dazu gehören narrative Ebenen (Geschehen, Geschichte, Erzählung, das Erzählen, Exegesis und Diegese), Ereignisse und Zustände, das Kommunikationsmodell narrativer Texte, der Erzähler und die dramatische Instanz anhand der Eigenschaft der Mittelbarkeit. Zuletzt beschreibe ich die spezielle Textstruktur des Dramas und dessen Differenzierung in einen Spieltext (mit Haupt- und Nebentext) und Paratexte.

3.1 Gründe für eine Narratologie des Dramas 3.1.1 Die Geschichte als Gemeinsamkeit von Drama und Erzähltext Die Anwendung und Übertragung narratologischer Konzepte und der Terminologie auf das Drama mit Blick auf eine Revision der Episierung hat mehrere Gründe. Zum einen haben Dramen und Erzähltexte eine bezeichnende Gemeinsamkeit: In beiden ereignet sich eine Geschichte und es wird eine Welt gestaltet, in der sich diese Geschichte abspielt. Das heißt, es gibt handelnde Figuren, die in Ereignisse involviert sind, die Ereignisse haben bestimmte Folgen, es werden Orte, Zeiten und Gegenstände der Welt beschrieben, die Ereignisse werden als ein sinnvolles Ganzes dargestellt usw. Die Geschichte im Gebrauch der narratologischen Terminologie, der vom alltäglichen Sprachgebrauch abweicht, wird in der Forschung auf verschiedene Arten beschrieben. Pfister zum Beispiel bestimmt ›Geschichte‹ anhand von drei Elementen, nämlich »eines oder mehrerer menschlicher bzw. anthropomorphisierter Subjekte, einer temporalen Dimension der Zeiterstreckung und einer spatialen Dimension der DOI 10.1515/9783110488159-003

3.1 Gründe für eine Narratologie des Dramas | 39

Raumausdehnung«.¹ Eine Geschichte umfasst nach Pfister Figuren und die Darstellung von Raum und Zeit. In der Narratologie wird unter einer Geschichte hauptsächlich eine Abfolge aus temporal organisierten Zuständen bzw. eine Zustandssequenz verstanden. Diese ist in der Regel auch kausal² zusammenhängend dargestellt.³ Figuren und allgemein Entitäten, die in der Geschichte eine Rolle spielen, sowie Räume und Situationen, in denen sich die Ereignisse der Geschichte abspielen, werden zur Diegese respektive zur erzählten Welt gezählt. Neben dem Gemeinplatz Geschichte gibt es weitere Kategorien, die sowohl bei der Analyse von Erzählungen als auch von Dramen relevant werden können und sowohl von der Dramentheorie als auch der Narratologie abgedeckt werden. In Anlehnung an Brian Richardsons Artikel Drama and Narrative können beispielsweise die Kategorien Figur, Zeit- und Raumdarstellung, plot als die über die narrative Ebene Erzählung repräsentierte Geschichte und die Kausalität als ein Verknüpfungsprinzip der repräsentierten Zustände einer Narration genannt werden.⁴ Eine Abbildung narratologischer Modelle und eine Anwendung narratologischer Analyseverfahren auf Dramentexte kann sich also auf eine gemeinsame Grundlage sowie weitere gemeinsame und davon ableitbare Kategorien berufen.

3.1.2 Terminologische Substituierbarkeit und theoretische Konvergenz Aufgrund dieser Strukturähnlichkeit der beiden Gegenstände lassen sich ferner auch die wissenschaftlichen Ansätze zu diesen Gegenständen zusammenführen. Die Anwendung narratologischer Terminologien und Modelle erlaubt es, Erzähl- und Dramentexte über Gattungsgrenzen hinweg vergleichbar zu machen. Dabei muss bedacht werden, dass einige Begriffe nur in eine Richtung übertragbar sind und andere in beide. Dazu zwei Beispiele: In Dramen kann die Situation vorkommen, dass eine Figur sich in einem Redebeitrag an das Publikum wendet. Anstatt in ihrer Welt zu bleiben, ›überschreitet‹ sie sozusagen die Grenze zur Welt des Zuschauers, was in der Dramentheorie ›als ad spec-

1 Was Pfister mit den tautologisch erscheinenden Formulierungen der »temporalen Dimension der Zeiterstreckung« und der »spatialen Dimension der Raumausdehnung« ausdrücken will, ist unklar. Pfister: Das Drama (2001), S. 265. 2 Darauf aufbauend lässt sich ›Geschichte‹ von ›Geschehen‹ unterscheiden. Während von einer Geschichte gesprochen wird, wenn Zustände und Ereignisse sowohl temporal als auch kausal organisiert dargestellt sind, spricht man von einem Geschehen, wenn die Zustandssequenz ausschließlich temporal relationiert ist. Auf diese Unterscheidung werde ich in Kapitel 3.3.2 noch genauer eingehen. 3 Vgl. Hühn/Sommer: Narration in Poetry and Drama (2009), S. 228. 4 Richardson zählt character, plot, beginnings and endings, time, space, cause, frames and reflexivity und narration auf und lehnt sich an Aristoteles Poetik an: »The topics he covers, including character, plot, beginnings and endings, poetic justice, and the goals of representation, are as relevant to narrative theory as to a poetics of drama.« Richardson: Drama and Narrative (2007).

40 | 3 Drama und Narratologie tatores‹, als eine Hinwendung an den Zuschauer, bezeichnet wird. In Erzähltexten kann ein ähnliches Phänomen auftreten. In E. T. A. Hoffmanns literarische Narration Lebens-Ansichten des Katers Murr (1819/21) wendet sich der erzählende Kater mit einem Mal an den Leser und bittet diesen um Zustimmung: Ich hoffe, daß jeder meiner gütigen Leser die Musterhaftigkeit dieses herrlichen Sonetts, das aus der tiefsten Tiefe meines Gemüts hervorfloß, einsehen und mich um so mehr bewundern wird, wenn ich versichere, daß es zu den ersten gehört, die ich überhaupt verfertigt habe.⁵

In der Terminologie des Erzähltheoretikers Gérard Genette wird eine solche Wendung an den Leser auch Metalepse genannt. Beide Erscheinungen – ad spectatores und Metalepse – sind der Sache nach gleiche Kunstgriffe. Sie werden jedoch gattungsspezifisch verschieden bezeichnet. Ad spectatores ist allerdings nur in der Analyse eines Dramentextes sinnvoll anwendbar. Ich behaupte jedoch, dass ein dramenspezifisches ad spectatores als eine spezielle gattungstypische Ausformung einer Metalepse verstanden werden kann. Ein anderes Beispiel ist die Übertragbarkeit von ›Peripetie‹, also dem Umschwung von Glück in Unglück im Handlungsverlauf. Dieser Begriff lässt sich sowohl für Erzähltexte als auch für Dramentexte anwenden. Ich erkläre diese unproblematische Übertragbarkeit damit, dass sich der Begriff im Wesentlichen auf ein strukturelles Merkmal der präsentierten Geschichte⁶ bezieht. Auch ohne die medienspezifischen Begriffe aufzugeben, lassen sich Phänomene so auf einer gemeinsamen Basis vergleichen. Die Dramentheorie mit der Narratologie zu verbinden, eröffnet die Möglichkeit, das reiche Analyseinstrumentarium der Dramentheorie und das der Erzähltheorie zu reflektieren und in einen größeren Modellzusammenhang der Textanalyse einzubinden. Dabei nehme ich an, dass die Konzepte und Kategorien der Erzähltheorie anhand von Erzähltexten entwickelt wurden und für die Analyse von Dramentexten in manchen Belangen angepasst, aber nicht immer unbedingt geändert werden müssen. Allerdings steht der Begriff ›narrativ‹ in meiner Arbeit in einem Spannungsverhältnis zum Begriff ›episch‹. Ich kläre deshalb nicht nur den Terminus ›narrativ‹, sondern zeige hier sowie in Kapitel 4, wie sich ›episch‹ als Begriff und als Verfahren zu ›narrativ‹ abgrenzen und in der Narratologie neu korrelieren lässt.

5 Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Lebens=Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern, Bd. 1, Berlin: Ferdinand Dümmler’s Verlagsbuchhandlung, 3 1855, S. 76. 6 Pfister weist mit Bezug auf Aristoteles darauf hin, dass Dramen und Erzähltexten eine Geschichte zugrundeliegt. Implizit versteht er den Aristotelischen mythos als Geschichte. Die Geschichte situiert er im Bereich des Repräsentierten. Nur wenige Absätze später ordnet er jedoch Aristoteles’ mythos der Repräsentation zu, indem er diesen mit Fabel bzw. Plot gleichsetzt. Diese Argumentation irritiert und ist aufgrund der ausbleibenden Begründung nicht nachvollziehbar. Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 265 ff.

3.1 Gründe für eine Narratologie des Dramas |

41

3.1.3 Inkommensurabilität der bisherigen Forschungsansätze Hieraus leitet sich der dritte und entscheidende Grund für meinen narratologischen Ansatz ab: Zwar lässt sich bereits auf allgemeine Arbeiten der transgenerischen und transmedialen Narratologie sowie auf solche Arbeiten, die sich in jüngster Zeit vermehrt um eine Narratologie des Dramas bemühen, verweisen.⁷ Gleichzeitig sind aber die bisherigen Modelle der Episierung im Drama noch vor dieser dezidierten Ausweitung der Narratologie auf andere Gattungen und Medien bzw. das Drama entstanden. Eine Betrachtung der Episierung im Drama unter diesen postklassischen Voraussetzungen fehlt. Dabei stehen sich allerdings verschiedene inkommensurable Theorien und Theoreme gegenüber: die bisherige Episierungstheorie des Dramas, die noch von einer Trennung dramatischer und narrativer Texte ausgeht, die Theorie geschehensdarstellender Texte von Korthals, mit der er versucht, Konzepte der klassischen Narratologie auf das Drama zu übertragen ohne sich allerdings mit der Episierungstheorie auseinanderzusetzen. Gleiches gilt für die dritte Variante einer postklassischen Narratologie, die sowohl Erzähl- als auch Dramentexte als narrative Texte begreift, dabei allerdings nur ansatzweise bzw. gar nicht nach einem Abgleich mit der Dramentheorie und der Episierungstheorie sucht. Ich werde diese problematische Konstellation hier etwas näher beschreiben. Nachdem Pfister 1977 eine Theorie der Episierung innerhalb der Dramentheorie vorgelegt hat, wurde 2003 von Korthals in seiner Studie Zwischen Drama und Erzählung⁸ eine erneute Beschäftigung mit der Episierung unter dem Hinweis abgelehnt, dass eine Forschung zum in diesem Zusammenhang oft genannten epischen Theater

7 Vgl. Horst Spittler: Darstellungsperspektiven im Drama (Europäische Hochschulschriften: Deutsche Sprache und Literatur 314), Frankfurt am Main: Peter Lang, 1979; Brian Richardson: ›Time is out of Joint‹. Narrative Models and the Temporality of the Drama, in: Poetics Today 8.2 (1987), S. 299–309; Brian Richardson: Point of View in Drama. Diegetic Monologue, Unreliable Narrators, and the Author’s Voice on Stage, in: Comparative Drama 22.3 (1988), S. 193–214; Gerhard Tschauder: Wer »erzählt« das Drama? Versuch einer Typologie des Nebentexts, in: Hans Jürgen Heringer/Gerhard Kurz/Georg Stötzel (Hrsg.): Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 68 (1991), S. 50–67; Richard Aczel: Hearing Voices in Narrative Texts, in: New Literary History 29.3 (1998), S. 467–500; Richardson: Voice and Narration in Postmodern Drama (2001); Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001); Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003); Nünning/Sommer: Drama und Narratologie (2002); Roy Sommer: Art. ›Narrative and Drama‹, in: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, hrsg. v. David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan, London und New York: Routledge Taylor & Francis Group, 2005, S. 119–124; Muny: Erzählperspektive im Drama (2008); Richardson: Drama and Narrative (2007); Rajewsky: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln (2007); Nünning/Sommer: Diegetic and Mimetic Narrativity (2008); Roland Weidle: Organizing the Perspectives. Focalization and the Superordinate Narrative System in Drama and Theater, in: Point of View, Perspective, and Focalization. Modeling Mediation in Narrative, hrsg. v. Peter Hühn/Wolf Schmid/Jörg Schönert, mit einem Vorw. v. Peter Hühn (Narratologia 17), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2009, S. 221–242. 8 Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003).

42 | 3 Drama und Narratologie nachgelassen habe⁹ und das Drama mittlerweile ohnehin als erzählende Gattung verstanden werde.¹⁰ Korthals sieht im oben beschriebenen Zustand einen Grund, seine Anstrengungen nicht mehr auf Episierung anhand des epischen Theaters sowie auf das Epische als solches zu konzentrieren, das er lieber »moderner ausgedrückt«¹¹ als »narrative[s] Moment«¹² des Dramas bezeichnet und so ›episch‹ mit ›narrativ‹ gleichsetzt.¹³ Dieser Umstand rechtfertige neue Untersuchungen zur Episierung nicht mehr und ein Bemühen darum sei zudem wegen der wenig zielführenden Frage nach Wesensmerkmalen des Epischen umsonst.¹⁴ Trotzdem zählt Korthals, der sich, wie Manfred Jahn, als einer der ersten mit dem Dramentext und nicht mit dem aufgeführten Drama unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten befasst, seine Studie nicht zu einer transgenerischen Narratologie des Dramas, obwohl er sich mit der Anwendbarkeit der Genettschen Begrifflichkeiten in Bezug auf den Dramentext beschäftigt. Er widmet einen Großteil seiner Monographie der Bestimmung von Dramen als geschehensdarstellenden Texten. Dabei wird nicht ganz klar, ob ›geschehensdarstellend‹ als eine Eindeutschung von ›narrativ‹ gelten soll, ob der Begriff nur einen Aspekt des Narrativen beschreibt oder ob er von ›narrativ‹ unabhängig ist. Denn im weiteren Verlauf schlägt Korthals, wie oben erwähnt, die Unterscheidung geschehensdarstellender Texte in einen narrativen und einen dramatischen Modus vor. Korthals lehnt damit erstens eine weitere Untersuchung des Phänomens Episierung ab, obwohl er sie zuerst als eine Möglichkeit in Betracht gezogen hatte.¹⁵ Zweitens treten mit den Begriffen ›narratives Moment‹, ›narrativer‹ und ›dramatischer Modus‹ sowie ›geschehensdarstellend‹ weitere terminologische Schwierigkeiten auf. Damit will Korthals zeigen, dass keine grundlegenden Unterschiede zwischen Dramentexten und Erzähltexten bestehen. Er vermeidet so eine Beschreibung des Dramas als narrativ und stellt dementsprechend die Frage, ob das Drama

9 Korthals formuliert dies so: »Zwar wird das ›epische Theater‹ von der zeitgenössischen Dramatik noch selektiv zitiert, als Gesamtkonzept hat es jedoch unter den neuren Autoren keinen Vertreter mehr und entsprechend ist auch die literaturwissenschaftliche Debatte um dieses literarische bzw. theatrale Phänomen seit langem verstummt.« Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 9. 10 Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 10. 11 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 9. 12 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 9. 13 Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 9. 14 In Bezug auf Emil Staigers Unterscheidung von Form- und Wesenskategorien schreibt Korthals: »In dieser Arbeit wird daher die Frage nach Wesensmerkmalen des Dramatischen und auch des Epischen bewußt nicht gestellt, sondern werden Drama und Erzählung weitgehend anhand ihrer äußeren Gestalt verglichen.« Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 37; vgl. dazu zusätzlich bei Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 9–15, 36 f. 15 Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 36 f.

3.1 Gründe für eine Narratologie des Dramas |

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wirklich eindeutig narrativ [sei] oder [ob] man nicht eher konstatieren [müsse], daß Drama und Erzählung zum Teil alternative Lösungen für gleiche Probleme der Geschehensdarstellung wie Rückblick, Zeitraffung etc. hervorgebracht haben bzw. immer wieder hervorbringen.¹⁶

Wenn Korthals Erzähltexte und Dramentexte gleichermaßen als geschehensdarstellende Texte bestimmt, anschließend aber die narrativen und dramatischen Modi auf der Darstellungsebene unterscheidet, ist er, zumindest was diese Unterscheidung angeht, nicht wesentlich über Pfisters Modell hinausgegangen. Wie eingangs zitiert, weist Pfister auf die der Epik und Dramatik gemeinsame Basis der Repräsentation einer Geschichte hin und widmet sich dieser Äquivalenz zwischen Drama und Erzähltexten in einem gesonderten Kapitel.¹⁷ Anhand des Kriteriums der Repräsentation von Zeitlichkeit und Räumlichkeit trennt Pfister die Geschichte von Argument und Deskript: Geschichte, Argument und Deskript lassen sich aufgrund der An- bzw. Abwesenheit der zeitlichen und räumlichen Dimension voneinander abheben. [. . .] Damit sei nicht behauptet, daß dramatischen und narrativen Texten nicht auch Argumente und Deskripte zugrundeliegen, sondern daß diese nicht ihre Makrostruktur bestimmen.¹⁸

Eine Geschichte zugrunde liegen zu haben, so wird hier deutlich, stellt für Pfister keinen Grund dar, einen narrativen Text vorliegen zu haben.¹⁹ Mit Pfister können narrative und dramatische Texte in ihrer Makro- und Mikrostruktur Geschichten repräsentieren, ohne dass ihre Gattungsdifferenz gestört wäre. Trotz dieser von Korthals und Pfister konstatierten Äquivalenz stuft aber keiner von beiden die Gattung Drama als narrativ ein. Vielmehr bleiben bei ihnen narrative Texte von dramatischen Texten und damit ›narrativ‹ von ›dramatisch‹ unterschieden. Bei Pfister sind es Gattungs- und Mediengrenzen, die das Drama von den Erzähltexten trennt, und die mit der Beschreibung ›narrativ‹ oder ›dramatisch‹ ausgedrückt werden: Texte der Epik sind narrative Texte, Texte der Dramatik sind dramatische Texte. Bei Pfister nähert sich das Drama erst dann dem Narrativen, wenn das Epische zur Geschichte hinzutritt. Dieses zeichnet sich nach Pfister dadurch aus, dass eine Vermittlungsebene, die denen von Erzähltexten vergleichbar ist, geschaffen wird. Dies ist im Drama eine zusätzliche Ebene der Kommunikation, von der aus eine dem Erzähler ähnliche Figur die Geschichte des Dramas an die Zuschauer vermittelt. Das Drama bleibt aber in seiner Makrostruktur dennoch dramatisch. 16 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 10. 17 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 265–326. 18 Pfister: Das Drama (2001), S. 265. 19 Zudem scheint es Pfister angebracht, Geschichte von Argument und Deskript zu trennen und nicht, wie es erwartbar wäre, Narration von Argument und Deskript. Letztere Unterscheidung etabliert sich später durch Seymour Chatmans Vorschlag in seiner Monographie Coming to Terms. Vgl. Seymour Chatman: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, Ithaca und London: Cornell University Press, 1990, S. 6–21.

44 | 3 Drama und Narratologie Bei Korthals sind ›narrativ‹ und ›dramatisch‹ nur noch verschiedene Darstellungsmodi geschehensdarstellender Texte, was sich in deren Form niederschlägt. Zu den geschehensdarstellenden Texten zählt er gleichermaßen Texte der Gattung Drama sowie der Gattung Epik. In seinem Sinne kann ein Drama jedoch auch ohne Gattungsüberschreitungen narrativ gestaltet sein, da er Texte der Dramatik und Texte der Epik zu der Gattung geschehensdarstellender Texte zählt. Dies ist bei Pfister nicht möglich. Die transgenerische und die transmediale Narratologie interpretiert genau diesen Punkt anders. Beispielsweise Ansgar Nünning/Roy Sommer, Werner Wolf oder Peter Hühn gehen von einem weiten Erzählbegriff aus, um das Drama, die Lyrik oder generell andere Medien als narrativ verstehen zu können. Demnach ist vor allem die Repräsentation eines Geschehens bzw. einer Geschichte als konstitutiv für das Erzählen anzusehen. Dies macht aber nur eine von »two dimensions«²⁰ des Erzählens aus. Erzählen kann als ein kommunikativer Akt verstanden werden, der durch die Mediation²¹ einer Sequenz von Zuständen²² bestimmt ist. Letzteres fasst Hühn auch unter dem Begriff ›Sequenzialität‹. Damit bezeichnet er die Eigenschaft von narrativen Texten, eine zeitlich organisierte Sequenz von Zuständen zu repräsentieren (Geschehen bzw. Geschichte), die in einer erzählten Welt (Diegese oder story world) situiert sind. Unter ›Mediation‹ versteht Hühn the choice of a particular medium, [. . .] the standpoint, perspective and normative attitude of a presenter (a narrator) and the selection, presentation and arrangement of incidents (which convey an underlying, implicit perspective, commonly called the implied or abstract author).²³

Eine temporale Sequenzialität kann so mit Hühn als konstitutiv für Narrationen gelten, während die Mediation kommunikative Akte im Allgemeinen bestimmt und kein ausschließliches Merkmal von Narrationen darstellt.²⁴ Allerdings nimmt die Mediationsart beim Erzählakt Einfluss auf den repräsentierten Inhalt sowie auf die Darstellung und Wirkung der Zustandssequenz und der erzählten Welt. Für den weiten Erzählbegriff ist nur das Merkmal einer über den Text repräsentierten Geschichte (Darstellung von Sequenzialität), nicht aber das Merkmal der Mittelbarkeit (verbales Erzählen, Erzähler, vermittelndes Kommunikationssystem) essentiell, 20 Peter Hühn: Introduction, in: Eventfulness in British Fiction, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. Peter Hühn, mit einem Vorw. v. Peter Hühn (Narratologia 18), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2010, S. 1–13, hier S. 1. 21 Mit ›Mediation‹ ist hier sowohl die Vermittlung im Allgemeinen als auch die Vermittlung über bestimmte Medien gemeint. 22 Hühn und andere sprechen normalerweise nicht von einer Zustands-, sondern von einer Ereignissequenz. Ich werde später noch genauer auf diesen Unterschied eingehen (vgl. Kapitel 3.4), zunächst allerdings Zustände und Ereignissen synonym verwenden. Ereignisse zeichnen sich im narratologischen Sinne als Zustandsveränderungen aus. Ein Ereignis setzt zwei Zustände voraus, aus denen es sich zusammensetzt. Diese stehen unter anderem in einer chronologischen Relation zueinander. 23 Hühn: Introduction (2010), S. 1. 24 Vgl. Hühn: Introduction (2010), S. 1.

3.1 Gründe für eine Narratologie des Dramas | 45

um von einem narrativen Text sprechen zu können.²⁵ Daraus folgt nach Werner Wolf, bezogen auf eine literaturwissenschaftliche Narratologie, daß der eigentliche Ort des Narrativen innerhalb von Romanen und ähnlichen epischen Texten derjenige Teil ist, der auch bei solchen nicht epischen Werken vorhanden ist, nämlich die diegetische Ebene mit der darauf entfalteten Welt.²⁶

Wie bereits erwähnt ist dies allerdings und gerade mit Blick auf Pfister und Korthals keine neue Einsicht. Es muss jedoch offenbar von einem ›weiten Erzählbegriff‹ ausgegangen werden, um auch das Drama als einen narrativen Text verstehen zu können. Pfister und Korthals bestimmen beide die Geschichte bzw. die Geschehensdarstellung als gemeinsame Eigenschaft von Dramen und Erzähltexten, gehen aber nicht den weiteren Schritt, Dramen und Erzähltexte deshalb gleichermaßen als narrative Texte zu bezeichnen. Dass die betrachteten ästhetischen Artefakte auf eine jeweils medienbedingt eigene Weise eine Geschichte repräsentieren, reicht für einige Theoretiker offenbar nicht aus, um von einem narrativen Artefakt zu sprechen. Die Unterscheidung in einen engen und einen weiten narrativ-Begriff wird in jüngster Zeit von Wolf Schmid²⁷ und die Unterscheidung in einen sogenannten semiotischen und einen sprachlichen Begriff von Matthias Aumüller²⁸ vertreten.²⁹ Der Grund für diese Unterscheidung liegt darin, eine spezielle mediale und generische Ausprägung des Narrativen – nämlich die von Erzähltexten – von einer allgemeinen Narrativität medial andersartiger Werke (Filme, Comics usw.) oder sogar von der Anwendung in verschiedenen Disziplinen (Historiographie, Psychologie usw.) zu trennen.³⁰ H. Porter Abbott beschreibt dies so:

25 Im Gegensatz dazu umfasst der enge Erzählbegriff Texte, die sowohl eine Geschichte als auch Mittelbarkeit aufweisen. 26 Wolf verwendet hier ›episch‹ als Synonym für ›narrativ‹. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 31. 27 Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie (De Gruyter Studienbuch), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2 2008, S. 1–7. 28 Vgl. Matthias Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe, in: Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung, hrsg. und mit einem Vorw. vers. v. Matthias Aumüller (Narratologia 31), Berlin und Boston: Walter de Gruyter, 2012, S. 141–168, hier S. 156 ff. 29 Allerdings unterscheidet die Narratologie nicht erst seit Wolf und Aumüller einen engen und einen weiten narrativ-Begriff. Variationen dieser Differenzierung finden sich etwa schon bei Genette und Chatman. Bei Genette ist dies allerdings als eine Reaktion auf die ubiquitäre Ausweitung des narrativBegriffs durch Roland Barthes zu sehen, während es zum Beispiel bei Wolf Schmid pragmatischen Gründen geschuldet ist. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, hrsg. und mit einem Nachw. vers. v. Jürgen Vogt, aus dem Französischen übers. v. Andreas Knop (UTB), München: Wilhelm Fink Verlag, 2 1998, S. 202; vgl. Chatman: Coming to Terms (1990), S. 111, 113, 115. 30 Mit einem oftmals getätigten Bezug auf Roland Barthes oder auch Tzvetan Todorov wird bei den transmedialen und transdisziplinären Ansätzen von der Ubiquität des Narrativen ausgegangen. Vgl. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: Roland Barthes: Das

46 | 3 Drama und Narratologie

The gift of narrative is so pervasive und universal that there are those who strongly suggest that narrative is a »deep structure,« a human capacity genetically hard-wired into our minds in the same way as our capacity for grammar (according to some linguists) is something we are born with.³¹

Anders ausgedrückt gehört das Narrative zum Umgang des Menschen mit seiner Umwelt und ist schon allein deshalb in den unterschiedlichsten Kunstformen (Literatur, Film, Theater usw.) vertreten. Dementsprechend hätte es dann keinen Sinn, das Narrative auf Erzähltexte zu begrenzen. Gerade in der angloamerikanischen Narratologie besteht spätestens seit den 1990er Jahren³² offenbar kein Einwand mehr, das Narrative auch für Werke anzunehmen, die nicht den Erzähltexten bzw. der Epik zugeordnet werden.³³ So beschreibt Brian Richardson das Narrative einer Theateraufführung,³⁴ während Seymour Chatman und Mieke Bal Beispiele aus Film und Comic heranziehen.³⁵ Bal schlägt ebenso wie Monika Fludernik eine kulturwissenschaftliche Ausweitung der narrativen Analyse vor.³⁶ Davon abgesehen verwenden sie die Begrifflichkeiten und Modelle der Narratologie explizit bei der Analyse von künstlerischen Werken, die keine Erzähltexte sind und damit ›narrativ‹ in einem weiten Verständnis. ›Narrativ‹ oder ›erzählend‹ im weiten Sinne schließt die Epik, und damit den engen Begriff nach Aumüller im ›metonymischen‹ Sinne ein. Aumüller hält diese Hyponymie – das Erzählen im weiten Sinne schließt das Erzählen im engen Sinne ein – für problematisch. Denn für ihn ist es keine metonymische Beziehung, die das sprachliche Erzählen (ungefähr (≈) Erzähleneng ) unter den weiten Begriff einschließen würde.³⁷ Erzählen sei in erster Linie sprachliches Erzählen und

semiologische Abenteuer (edition suhrkamp 1441), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, S. 102–143; Tzvetan Todorov: Grammaire du »Décaméron« (Approaches to Semiotics 3), Den Haag: Mouton, 1969; vgl. auch H. Porter Abbott: The Cambridge Introduction to Narrative (Cambridge Introductions to Literature), Cambridge: Cambridge University Press, 2008, S. 1 ff.; vgl. auch Herman: Cognitive Narratology (2009), S. 7 ff. 31 Abbott: The Cambridge Introduction to Narrative (2008). 32 Deutsche Veröffentlichungen folgen zu dieser Zeit eher einer engen Variante. Korthals musste sich mit seiner Studie also nicht umsonst absetzen. 33 Vgl. auch Rajewsky: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln (2007), S. 29. 34 Richardson wird zwar gerne der Narratologie des Dramas zugeordnet. Nach meiner Aufteilung beschäftigt er sich aber vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, mit dem Aufführungstext (Theateraufführung) und nicht mit dem Dramentext (Drama) und folglich mit dem aufgeführten und nicht mit dem gedruckten Drama. 35 Vgl. beispielsweise Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca und London: Cornell University Press, 2 1980, S. 97; vgl. Chatman: Coming to Terms (1990); vgl. auch Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, aus dem Niederländischen übers. v. Christine van Boheemen, Toronto, Buffalo und London: University of Toronto Press, 3 2009, S. 165–175. 36 Vgl. etwa Bal: Narratology (2009), S. 14; vgl. Monika Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology, London und New York: Routledge Taylor & Francis Group, 1996, passim. 37 Vgl. Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 157.

3.1 Gründe für eine Narratologie des Dramas |

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der weite Begriff, der auch nicht-sprachliches Erzählen umfasst, stehe dazu in einer ›metaphorischen‹ Beziehung: Erzählen ist zunächst einmal eine sprachliche Handlung. Nicht-sprachliche Handlungen bzw. deren Resultate mit demselben Wort zu bezeichnen ist die Folge einer Bedeutungsübertragung. [. . .] Sprachliche Ereignisvermittlung ist die Voraussetzung und nicht ein Spezialfall des medienindifferenten Erzählbegriffs.³⁸

Aumüller schlägt vor, besser einen semiotischen (≈ Erzählenweit ) und einen sprachlichen (≈ Erzähleneng ) Begriff zu unterscheiden.³⁹ Dem sprachlichen Erzählbegriff sind solche Narrationen zuzuordnen, die mit Sprache gestaltet sind, also in der Regel literarische Texte. Der semiotische Begriff bezieht sich auf Narrationen, in denen andere Zeichensysteme als das der Sprache zum Einsatz kommen. Ähnlich geht auch Schmid vor, der ›erzählend‹ (Erzähleneng ) und ›narrativ‹ (Erzählenweit ) differenziert (vgl. Tabelle 3.1).⁴⁰ Tab. 3.1: Narrativ-Begriffe nach Schmid und Aumüller Schmid

Aumüller

Allgemein

erzählend narrativ

Erzählensprachlich Erzählensemiotisch

Erzähleneng Erzählenweit

Dass das Narrative ein Phänomen ist, das vom verwendeten Medium unabhängig analysiert und interpretiert werden kann, ist also seit längerem anerkannt. Aus Sicht der Ausweitung auf andere mediale Umsetzungen kann allerdings der enge narrativBegriff der klassischen Narratologie nicht verwendet werden, wenn dieser das Erzählen auf sprachliche Mediation beschränkt. Mit der Verwendung der weiten Variante läuft man allerdings Gefahr, dass das Narrative gänzlich ubiquitär wird und es nichts mehr gibt, dass nicht-narrativ ist. Beim Kriterium der Mediation eines engen narrativ-Begriffs bzw. Erzählbegriffs handelt sich um eine bestimmte Ausprägung der sprachlichen Mediation bzw. um einen speziellen Fall sprachlicher Präsentation. Damit ist genauer die Stanzelsche Mittelbarkeit gemeint, unter der die unbedingte Vermittlung von Diegese und Ereignissequenz sprachlich durch einen Erzähler verstanden wird.

38 Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 157. 39 Vgl. Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 156–158. 40 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 3.

48 | 3 Drama und Narratologie

Wo eine Nachricht übermittelt, wo berichtet oder erzählt wird, begegnen wir einem Mittler, wird die Stimme des Erzählers hörbar. Das hat bereits die ältere Romantheorie als Gattungsmerkmal, das erzählende Dichtung vor allem von dramatischer unterscheidet, erkannt.⁴¹

Der enge Begriff fordert damit genau genommen Sequenzialität und Mittelbarkeit (Mediation durch einen Erzähler) für einen narrativen Text. Der weite narrativ-Begriff fordert Sequenzialität und Meditation, wobei die Mediation sprachlich mit einem Erzähler oder auf eine andere Weise gestaltet sein kann wie etwa durch Bilder in einem Comic. Die transgenerische und die transmediale Narratologie schließen die Mediation als Kriterium für das Narrative nicht aus, sondern dispensieren lediglich eine spezielle Form, die der Mittelbarkeit,⁴² nach der ein narrativer Text immer verbales Erzählen und einen Erzähler erfordert.⁴³ Was bedeutet dies für mein Vorgehen, die Narratologie als Fundament für die Beschreibung der Episierung im Drama zu verwenden? In Pfisters dramentheoretischem Modell, wird die Episierung als ein spezielles Teilgebiet geführt, die Begriffe ›episch‹ und ›narrativ‹ sind in der klassischen Narratologie nicht klar getrennt und das Drama ist noch nicht derart in das Untersuchungskorpus der Narratologie integriert, als dass sich dies in der Terminologie niederschlüge – gleichwohl Filme und Comics bereits zu den narrativen Artefakten gezählt wurden und sich Richardson schon früh für eine Narratologie des aufgeführten Dramas stark gemacht hat. Bei Korthals wird ›episch‹ als Synonym zu ›narrativ‹ verwendet, womit die Episierung einer Narratisierung gleichkommt. Meiner Ansicht nach liegt in einer Unterscheidung zwischen ›narrativ‹ und ›episch‹ das Potenzial, die Episierung in die Narratologie als ein spezielles Verfahren einzubinden. In neuesten Einführungen zur Dramenanalyse finden sich kaum noch Abschnitte zur Episierung, die das Phänomen als Bestandteil einer allgemeinen Dramentheorie beschreiben, sondern es wird mit der Beschreibung der Verfahren und Funktionen des epischen Theaters als einer Sonderform der Gattung Drama zusammengefasst. Gleichzeitig gesteht man aber bisweilen zu, dass die Verfahren auch in Dramen vor Brecht oder in bestimmten Dramengenres (zum Beispiel in Komödien) und generell zum Einsatz kommen. Eine Auseinandersetzung mit narratologischen Ansätzen in Bezug auf das Drama finden sich lediglich als spezielle Kapitel in Einführungen zur Erzähltheorie. Einführungen und Handbücher zum Drama thematisieren dies weniger.⁴⁴ Da aber nicht erst seit Kurzem narratologische Konzepte auf das Drama und andere Medien 41 Franz Karl Stanzel: Theorie des Erzählens (UTB 904), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2 1982, S. 15. 42 Generell können performative, interaktive und fixierte Mediationsarten zusätzlich zu solchen mit oder ohne Mittelbarkeit unterschieden werden. 43 Vgl. Nünning/Nünning: Produktive Grenzüberschreitungen (2002), S. 7; vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 31. 44 Das Handbuch Drama beispielsweise behandelt die Ausweitung der narratologischen Analyse bis auf die Erwähnung der Monographie von Korthals und eines Unterkapitels zu Narration im Beitrag

3.2 Was ist Erzählen? |

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übertragen werden und zudem etwa Schmid in seiner ausschließlich auf Erzähltexte konzentrierten Monographie Elemente der Narratologie eine Diskussion um den engen und weiten Begriff des Narrativen führt, wirkt dies irritierend.⁴⁵ In der aktuellen Forschungskonstellation sehe ich nunmehr eine Möglichkeit, Episierung im Drama vor dem Hintergrund einer postklassischen Narratologie zu revisionieren. Am narrativ-Begriff und an der Sicht auf das Erzählen hat sich etwas grundlegend geändert, sodass nicht mehr nur Erzähltexte, in denen ein Erzähler eine Geschichte präsentiert, als narrativ begriffen werden. Darin unterscheiden sich heutige transgenerische und transmediale Ausweitungen der Narratologie von der konventionellen Trennung der Gattungen sowie den Theorien. Deshalb sehe ich es als notwendig an, zu zeigen, wie Erzählen und damit narrativ und das Narrative nun verstanden werden können und wie auch Dramen nicht nur als narrative Artefakte aufgefasst, sondern wie sie auch als solche analysiert werden können. Speziell dafür beschreibe ich die aktuellen Modelle und Konzepte postklassischer Narratologie in Bezug auf das Drama. So wird es möglich, episch in ein narratologisches Modell des Dramas zu integrieren und die Episierung als eine Komponente narratologischer Dramenanalyse einzubinden.

3.2 Was ist Erzählen? Bis jetzt habe ich ein intuitives Verständnis von Erzählen vorausgesetzt, wonach Erzählen eine zusammenhängende Darstellung von (vergangenen) Ereignissen ist, die von einem Erzähler vermittelt wird. In diesem Kapitel soll eine genauere Vorstellung vom Erzählen gebildet werden. Dazu betrachte ich verschiedene Positionen, die diesen Begriff bereits zu bestimmen versucht haben und führe dabei wesentliche erzähltheoretische Termini ein.

Dramenanalyse nach dem Ende der Gattungskonvention von Miriam Drewes nur am Rande. Und dies geschieht selbst mit Blick auf das Spannungsverhältnis von Textualität und Performativität innerhalb der theater- und literaturwissenschaftlichen Dramentheorie. (Vgl. Hauthal: Metadrama und Theatralität [2009], S. 80 ff.) Auch im Kapitel Erzählperspektiven im Drama von Kurt Taroff wird die transgenerisch ausgerichtete Monographie Erzählperspektive im Drama Eike Munys zum selben Thema nicht herangezogen. Taroff erwähnt nur kurz die Besonderheit des fehlenden Erzählers im Drama mit einem Verweis auf Pfister sowie die damit zusammenhängende Problematik der Diskussion um eine Perspektivenführung im Drama und begnügt sich in Bezug auf die Forschung zur Erzählperspektive mit einem Verweis auf Michail Bachtins Arbeiten zum Roman. Vgl. Marx (Hrsg.): Handbuch Drama (2012), S. 1; vgl. Miriam Drewes: Dramenanalyse nach dem Ende der Gattungskonvention, in: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. v. Peter W. Marx, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2012, Kap. II.8, S. 166–170, hier S. 169 f.; vgl. Kurt Taroff: Erzählperspektiven im Drama, in: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. v. Peter W. Marx, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2012, Kap. II.8, S. 166–170, hier S. 147, 150. 45 Vgl. Fußnote 7 auf Seite 41.

50 | 3 Drama und Narratologie Zuerst betrachte ich die Möglichkeiten der Bestimmung dessen was Erzählen ist genauer. Ich werde dann zeigen, wie Erzählen innerhalb einer stärker strukturalistisch ausgerichteten Narratologie als kommunikativer Akt aufgefasst wird. Danach beschäftige ich mich damit, wie mithilfe der kognitiven Narratologie Erzählen auch als kognitives Schema verstanden werden kann. Hier wird sich zeigen, dass in dieser Hinsicht zwischen der strukturalistischen und der kognitiven Narratologie keine wesentlichen Unterschiede bestehen.

3.2.1 Zur Bestimmung des Narrativ-Begriffs Um mich einer ersten Explikation des Erzählens unter transgenerischen und transmedialen Bedingungen zu nähern, greife ich auf Überlegungen von Fotis Jannidis zurück. Jannidis betrachtet den Versuch, eine vom Präsentationsmedium unabhängige Beschreibung des Narrativen aufzustellen, skeptisch. Seine Kritik macht er daran fest, dass eine solche Beschreibung konkrete medienbedingte Phänomene nicht erfasst: Zwar habe die Narratologie differenzierte Modelle für die Arten der Repräsentation von Sprache und Gedanken in Erzähltexten ausgearbeitet. Gerade dieses Modell erweise sich aber für visuelle Narrationen (zum Beispiels Filme oder Comics) als unzureichend. Im Gegenteil, so gibt er weiter zu bedenken, könnten nur wenige Phänomene des Narrativen ausgemacht werden, die tatsächlich in jedwedem Präsentationsmedium umsetzbar sind: »because in most cases [. . .] additional, medium-specific factors come into play«.⁴⁶ Jannidis kritisiert insbesondere die Praxis, dass die Phänomene und die Kriterien die dem Begriff ›narrativ‹ zugeschrieben werden von einer speziellen medialen Ausformung desselben abgeleitet sind und dann behauptet wird, diese seien in anderen Medien ebenso umsetzbar und vor allem auf gemeinsamer terminologischer Basis analysierbar.⁴⁷ Overlooking medium-specific properties in order to derive a more abstrakt, medium-independent concept of the narrative may well be a useful way of communicating more quickly and concisely, but that does not mean that we should turn the resultant abstraction into our object of study itself, for to do so would mean hypostatizing a non-existent common element.⁴⁸

Bei einer zu ›medienvergessenen‹ Definition bestehe die Gefahr, dass sich Untersuchungen nur noch auf ein Abstraktum und die zugehörige Theorie und nicht auf einen kon-

46 Fotis Jannidis: Narratology and the Narrative, in: What Is Narratology? Questions and Answers. Regarding the Status of a Theory, hrsg. v. Tom Kindt/Hans-Harald Müller (Narratologia 1), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2003, S. 35–54, hier S. 38. 47 Vgl. auch Tilmann Köppe/Tom Kindt: Erzähltheorie. Eine Einführung (RUB 17683), Stuttgart: Reclam, 2014, S. 45–48. 48 Jannidis: Narratology and the Narrative (2003), S. 39.

3.2 Was ist Erzählen? | 51

kreten Text oder konkrete mediale Bedingtheiten konzentrieren. Dies wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass die Wahl eines bestimmten Mediums und somit bestimmter medienbedingter Vermittlungsverfahren (Mediation) einen erheblichen Einfluss auf die Repräsentation ausübt und es ohnehin eines der Hauptziele der Narratologie ist, konkrete Artefakte aus verschiedenen Medien und darin konkrete Phänomene narratologisch untersuchbar zu machen. In einem Film etwa wird also anders erzählt als in einem Erzähltext. Deshalb merkt Jannidis auch an, dass narrativ zu sein beispielsweise nicht bedeuten sollte, eine Geschichte zum Inhalt zu haben. Vielmehr sollte es bedeuten, dass eine Geschichte repräsentiert wird, da der Inhalt (Geschichte) nicht von der Mediation (Umsetzung der Erzählung mit bestimmten medienabhängigen Vermittlungsverfahren) und damit von der Repräsentation im Akt des Erzählens getrennt werden kann.⁴⁹ Wie könnte daher eine Definition des Narrativen beschaffen sein, bei der die mediale Bindung nicht außer Acht gelassen wird und der resultierende Begriff eine Auseinandersetzung mit der jeweiligen medialen Beschaffenheit des konkret untersuchten Artefakts zulässt? Jannidis sieht eine mögliche Antwort darin, mit einem PrototypenModell⁵⁰ ausgehend von der mündlichen (Alltags-)Erzählung zu arbeiten. Er bezieht sich dabei auf die Beschreibung des Erzählens bei Kayser: »Die Technik der Erzählkunst leitet sich aus der Ursituation des Erzählens ab: daß ein Vorgängliches da ist, das erzählt wird, daß ein Publikum da ist, dem erzählt wird, und daß ein Erzähler da ist, der zwischen beiden gewissermaßen vermittelt.«⁵¹ Die Ursituation oder der Prototyp des Erzählens wird hier als ein kommunikativer Akt zwischen zwei Individuen über etwas zum Erzählzeitpunkt Vergangenes (›Vorgängliches‹) beschrieben. Er lässt sich so paraphrasieren: Jemand vermittelt jemand anderem etwas, das geschehen ist. Jannidis favorisiert diese Herangehensweise, um das Narrative in verschiedenen Medien beschreibbar zu machen: »Adopting the prototype model allows us to treat the narration in films, the narration in comic strips, and the narration in computer games as different forms of ›narration,‹ each of which is located at a greater or lesser distance from the prototype, oral narration.«⁵² Als Vorzug dieser Prototypensemantik kann gelten, »daß ein konkret dem Prototypen zuzuordnendes Phänomen nicht alle [. . .]

49 Vgl. Jannidis: Narratology and the Narrative (2003), S. 39 f., 50. 50 Vgl. dazu Köppe/Kindt: Erzähltheorie (2014), S. 73. 51 Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, 5 1948 [Ndr. Bern: Francke, 1959], S. 201. 52 Jannidis vernachlässigt hier offensichtlich written narration. Jannidis: Narratology and the Narrative (2003), S. 40.

52 | 3 Drama und Narratologie Faktoren [. . .] aufweisen muß und trotzdem noch eine ›Familienähnlichkeit‹ mit diesem haben kann«.⁵³ Die obigen Überlegungen zeigen, dass die Prototypensemantik auf der Idee der Graduierbarkeit und der typologischen Bestimmung von Begriffen beruht. Gerald Prince beschreibt diese Idee der Graduierbarkeit mit Blick auf die narratologische Terminologie anhand von drei Beispielen, auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte:⁵⁴ (1) die Graduierbarkeit des Narrativen bzw. der Narrativität.⁵⁵ Diese hängt eng zusammen mit (2) der Abhängigkeit der narrativen Beschaffenheit eines Textes vom Kontext, in den er eingebettet ist, und (3) mit der Frage nach der Erzählwürdigkeit (tellability) eines narrativen Werks bezogen auf dessen Inhalt und die Darstellung dieses Inhalts. Zu (1): Die Eigenschaften des Narrativen können erstens von bestimmten Werken in unterschiedlicher Qualität wie Quantität erfüllt werden und zweitens können einzelne Eigenschaften für die Evaluation, ob ein vorliegendes Werk eine Narration ist oder nicht, verschieden gewichtet werden. Prince weist damit auf eine Graduierbarkeit narrativer Werke innerhalb der Gattung Narration hin⁵⁶ und damit auf einen typologischen Gebrauch des Begriffs.⁵⁷ Zu (2): Zum zweiten Aspekt merkt er an, dass beispielsweise »a text like »She was very rich and then she developed a passion for poker and then she lost all her money« as a response to »Tell me a story about her« or as a response to »Give an example of an English sentence made up of three conjoined sentences« «⁵⁸ kontextualisiert werden könnte. Im ersten Fall ist er als narrativ zu betrachten, im zweiten Fall ist er dies nicht. Aber selbst dann, wenn durch den Kontext die narrative Beschaffenheit eines Textes klar gegeben ist, ließe sich eine eindeutige Zuordnung durch eine von Marie-Laure Ryan so bezeichnete transkategorische Leseweise (transcategorial reading)

53 Werner Wolf ist ebenfalls ein Vertreter einer Prototypensemantik. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 35. 54 Vgl. Gerald Prince: Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability, in: Theorizing Narrativity, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. John Pier/José Ángel Garcia Landa (Narratologia 12), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2008, S. 19–27. 55 Zur Narrativität werden von Prince narrativehood und narrativeness als zwei Aspekte gezählt. Vgl. Prince: Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability (2008), S. 20; vgl. ähnlich David Herman: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative (Frontiers of narrative), Lincoln: University of Nebraska Press, 2002, S. 100 ff.; vgl. auch Hühn: Introduction (2010), S. 3; vgl. auch Köppe/Kindt: Erzähltheorie (2014), S. 72. 56 Dieser Hinweis wird von Nünning/Sommer bei ihrer Bestimmung der Narrativität des Dramas wieder aufgenommen. Vgl. Nünning/Sommer: Diegetic and Mimetic Narrativity (2008), S. 333; vgl. auch Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 159 f. 57 Vgl. Prince: Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability (2008), S. 21 ff. 58 Prince: Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability (2008), S. 23.

3.2 Was ist Erzählen? | 53

unterlaufen.⁵⁹ Das bedeutet, dass der Rezipient eine Narration auch ›gegen den Strich‹ lesen kann – etwa Homers Ilias im Sinne einer Gebrauchsanweisung für das Schmieden eines prachtvollen Schildes. Zu (3): Prince weist darauf hin, dass auch die in der postklassischen Narratologie neu ins Spiel gebrachte Erzählwürdigkeit eines narrativen Artefakts im hohen Maße von der Perspektive und der Einstellung des Rezipienten abhängig ist: More generally, different persons (or the same person on different occasions) can greet the same story with »So what?« or with »He did?« I may have heard this or that tale a hundred times or not even once; I may long to hear it anew, but then again I may not; I may want to learn what happend and why, but you may not; I may find an account of what took place fascinating, and you may disagree.⁶⁰

Was Prince mit diesen drei Aspekten beschreibt, ist eine Herangehensweise, die verstärkt in der postklassischen Narratologie zu beobachten ist. Gerade mit der Ausweitung auf andere Medien und Genres sowie insbesondere mit der Verlagerung des Fokus von der Produktions- und Strukturseite hin zur Rezeptionseite, wird das Narrative als ein graduell zu behandelndes Phänomen verstanden, um den Begriff auf ein größeres Korpus anwendbar zu machen.⁶¹ Bei der Begriffsbildung der postklassischen Narratologie werden graduierbare Begriffe generell bevorzugt. Neben der Narrativität (narrativity) und Erzählwürdigkeit (tellability)⁶² entstanden Konzepte zur Ereignishaftigkeit (eventfulness)⁶³ und Erfahrungshaftigkeit (experientiality).⁶⁴ Verschiedene Werke innerhalb eines Mediums und

59 Marie-Laure Ryan: Toward a definition of narrative, in: The Cambridge Companion to Narrative, hrsg. v. David Herman (Cambridge Companions to Literature), Cambridge: Cambridge University Press, 2007, S. 22–35, hier S. 25. 60 Prince: Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability (2008), S. 25. 61 Nach Miriam Drewes geht dies sogar so weit, dass es in einigen Ausläufern der postklassischen Narratologie die »Kategorie der Narration als ›cross medial phenomenon‹ erlaubte, [. . .] neue Konzepte von Narration zu entwickeln, die nicht mehr auf eine chronologische und kausallogische Geschichte bezogen sein mussten«. Vgl. Drewes: Dramenanalyse nach dem Ende der Gattungskonvention (2012), S. 169. 62 Vgl. beispielsweise Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, Bloomington: Indiana University Press, 1991; Marie-Laure Ryan: Art. ›Tellability‹, in: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, hrsg. v. David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan, London und New York: Routledge Taylor & Francis Group, 2005, S. 589–591. 63 Vgl. beispielsweise Wolf Schmid: Narrativity and Eventfulness, in: What Is Narratology? Questions and Answers. Regarding the Status of a Theory, hrsg. v. Tom Kindt/Hans-Harald Müller (Narratologia 1), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2003, S. 17–33; Schmid: Elemente der Narratologie (2008). 64 Bezogen auf die von ihr ins Spiel gebrachte Erfahrungshaftigkeit schlägt Fludernik sogar vor, die Repräsentation einer Geschichte als ein notwendiges Merkmal der Narrativität zu tilgen: »narrativity should be detached from its dependence on plot and be redifined as the representation of experientiality« Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology (1996), S. 109; Matías Martínez betrachtet diesen Vorschlag eher skeptisch. Vgl. Matías Martínez: Erzählen, in: Handbuch Erzählliteratur. Theorie,

54 | 3 Drama und Narratologie Werke aus verschiedenen Medien können das Narrative unterschiedlich ausgebildet haben. Einer postklassischen Narratologie geht es jetzt stärker um den Grad an Narrativität eines Werks und weniger darum, ob und wie eine unzweifelhafte Zuordnung begründet werden kann. Jedoch muss auch bei einem bevorzugt typologischen Gebrauch des Begriffs geklärt werden, welche Phänomene oder Eigenschaften der Narrativität denn eigentlich die graduierbaren sind, also mit anderen Worten, was die Eigenschaften eines Untersuchungsobjekts sind, auf deren Basis man es in Teilen oder vollständig als narrativ betrachtet. Es ergibt sich aus diesen Überlegungen, dass eine Definition des Narrativen entweder klassifikatorisch oder typologisch ausfallen kann. Ich kann also in Bezugnahme auf die Begriffsbestimmung gleichzeitig fragen: ›Ist das Werk narrativ?‹ und ›Wie narrativ ist das Werk?‹ In beiden Fällen ziehe ich die Eigenschaften heran, die bei der Definition des Begriffs festgelegt wurden. Im ersten Fall muss das Objekt sie erfüllen, im zweiten Fall kann es sie abhängig vom Kontext auch graduell erfüllen. Dabei ist die letzte Frage interpretatorisch wohl stets leichter zu beantworten.⁶⁵ Die Frage ›Ist Goethes Text Erlkönig eine Narration?« ist weniger eindeutig zu beantworten, als die Frage ›Ist Goethes Text Erlkönig narrativer als Goethes Text Wanderers Nachtlied?‹ Mit einer Definition des Narrativen ist die Evaluation des narrativen Charakters eines bestimmten Werkes weder unabhängig von seiner kontextuellen Einbettung noch von der Disposition des jeweiligen Rezipienten. Wenn ein Artefakt per Definition als Narration begriffen werden kann, kann es immer noch gegen den Strich gelesen werden. Ich schließe mich Ryan in diesem Zusammenhang an, die die Relevanz einer Definition des Narrativen so umschreibt: Assessing the narrative status of a text is not a cognitive question that we must consciously answer for proper understanding, but a theoretical question that enables narratologists to delimit the object of their discipline, to isolate the features relevant to their inquiry, and to stem the recent inflation of the term narrative.⁶⁶

Man kommt zusätzlich im Falle einer Bestimmung des Narrativen als graduelles Phänomen nicht umhin, die zugehörigen Begrifflichkeiten und ihre Eigenschaften vorher genau festzulegen. Es geht mir bei der Explikation sowohl des Erzählens (als Akt) als auch des Narrativen (als Eigenschaft) und den damit zusammenhängenden Konzepten und Merkmalen nicht darum, welche Qualitäten und Eigenschaften ein als narrativ eingestuftes Artefakt teilweise während der Produktion und teilweise während der Rezeption erhält. Der Begriff soll gleichzeitig auch unabhängig vom konkreten narrativen Artefakt blei-

Analyse, Geschichte, hrsg. v. Matías Martínez, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2011, S. 1–12, hier S. 8; vgl. auch Drewes: Dramenanalyse nach dem Ende der Gattungskonvention (2012), S. 169 f. 65 Vgl. Ryan: Toward a definition of narrative (2007), S. 30. 66 Ryan: Toward a definition of narrative (2007), S. 32 f.

3.2 Was ist Erzählen? | 55

ben. Ob diese Qualitäten vom Produzenten explizit eingesetzt sind, was sich anhand des Textes belegen ließe, ob sie vom Rezipienten bei der Rezeption inferiert,⁶⁷ oder ob sie von ihm erst über eine Interpretation abgeleitet werden bzw. wie stark eine Kontextualisierung die Evaluation beeinflusst, ist für den Begriff zuerst irrelevant. Es zeigt sich sogar, dass die bisherigen Versuche, zum Wesen des Narrativen ausgehend von konkreten medialen Umsetzungen zu gelangen, ebenfalls mit der von Jannidis vorgeschlagenen prototypischen Konstellation arbeiten. Narration ist eine Form der Kommunikation mit den Konstituenten Sender, Information und Empfänger. Auch der Ausgangspunkt neuerer medien- und gattungsunabhängiger Definitionen ist immer schon eine enge, auf Erzähltexte beschränkte Art des Erzählens, das ja gerade von der Grundkonstellation Kaysers abgebildet wird, welche sich ihrerseits vom mündlichen Erzählen ableitet. Selbst Prince setzt bei seiner mehrfach kritisierten formalen Definition des Narrativen anhand einer Minimalgeschichte,⁶⁸ die Einbettung in eine Kommunikationssituation voraus, wenn er von sender und receiver spricht.⁶⁹ Er schlägt unter dieser Voraussetzung folgende Minimaldefiniton vor:⁷⁰ »[A]n object is a narrative if it is taken to be the logically consistent representation of at least two asynchronous events that do not presuppose or imply each other.«⁷¹ In dieser Definition⁷² sind jedoch lediglich Merkmale enthalten, die den Inhalt (Ereignisse) und die Form (Sequenzialität) eines

67 Vgl. beispielsweise Marisa Bortolussi/Peter Dixon: Psychonarratology. Foundations for the Empirical Study of Literary Response, Cambridge: Cambridge University Press, 2003; vgl. Richard J. Gerrig: Conscious and Unconscious Processes in Readers Narrative Experiences, in: Current Trends in Narratology, hrsg. v. Greta Olson, mit einem Vorw. v. Monika Fludernik/Greta Olson (Narratologia 27), Walter de Gruyter, 2011, S. 37–60; vgl. Manfred Jahn: Frames, Preferences, and the Reading. Towards a Cognitive Narratology, in: Poetics Today 18.4 (1997), S. 441–468. 68 Jon K. Adams erkennt bereits in der Studie, in der Prince diese Definition einführt, erste Probleme: »Within his presentation of narratology, Prince’s minimalist definition does not function as a conception of narrative, first because he does not use it to derive his narrative parts of narrating and narrated, and second because his analysis of narrative does not focus on elaborating his definition but rather on elaborating his parts. The result is that his minimalist definition becomes a peripheral issue in his theory of narrative.« Vgl. Jon K. Adams: Narrative Explanation. A Pragmatic Theory of Discourse (Aachen British and American Studies 7), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 1996, S. 41. 69 Vgl. Prince: Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability (2008), S. 25 f. 70 1973 formuliert Prince noch eine etwas andere Definition, die ihm offenbar selbst zu rigide war: »We can now define a minimal story as consisting of three events, the third of which is the inverse of the first. The three events are conjoined in such a way that (a) the first event precedes the second in time and the second precedes the third, and (b) the second event causes the third.« Vgl. Gerald Prince: A Grammar of Stories, Den Haag und Paris: Mouton, 1973, S. 28; vgl. dazu auch John Pier: After this, therefore because of this, in: Theorizing Narrativity, Theorizing Narrativity, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. John Pier/José Ángel Garcia Landa (Narratologia 12), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2008, S. 109–140, hier S. 117 f. 71 Prince: Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability (2008), S. 19. 72 Princes Minimaldefinition scheint dem Verständnis einiger Narratologen zufolge zu inklusiv zu sein, da sie auf Kochrezepte offenbar ebenso zutrifft. Meiner Ansicht nach spricht jedoch zunächst nichts

56 | 3 Drama und Narratologie narrativen Kommunikationsaktes betreffen. Prince schließt aber gleichzeitig einen evaluativen Rezeptionsakt ein, da er den Zusatz macht: ›if it is taken to be‹.⁷³ Dass eine Repräsentation von Ereignissen nicht voraussetzungslos entstanden, durch ein Medium übertragen sowie sinnvoll ist und damit einen Produzenten des semiotischen Objekts ebenso wie einen in die Kommunikationssituation eingebundenen Rezipienten erfordert, ist eine basale Voraussetzung, um überhaupt ein als Narration zu verstehendes semiotisches Objekt als solches bestimmen zu können: Es muss produziert sein, es muss medial umgesetzt sein und es muss rezipiert werden. Selbst mit dem Ansatz über einen mündlichen Prototyp sollte am Ende die jeweilige Umsetzung gewisser Eigenschaften dieses Erzähltyps in verschiedenen Präsentationsoder Mediationsformen vergleichbar werden.

3.2.2 Erzählen als kommunikativer Akt Mit dem aus Kaysers ›Urform‹ abgeleiteten Prototypen ist das Narrative in seinen Grundzügen beschreibbar: Erzählen ist ein kommunikativer Akt. Innerhalb dieses Rahmens müssen zusätzlich die Eigenschaften des Narrativen bestimmt werden, die die zu untersuchenden Objekte als narrative Artefakte auszeichnen. Um das bisher Diskutierte zusammenzufassen und gleichzeitig zu ergänzen, ziehe ich eine Beschreibung des Erzählens von Matías Martínez heran. Demnach können drei Dimensionen des Erzählens unterschieden werden, die Martínez analog zur »linguistischen Grundeinteilung zwischen Pragmatik, Semantik und Syntax der Sprache«⁷⁴ erläutert:⁷⁵ (1) Erzählen als kommunikativer Akt ist kontextuell eingebettet. Es steht somit in Abhängigkeit zum Kontext des Erzählers und desjenigen, an den sich der Erzähler richtet, sowie dem Gegenstand der Narration. Es steht aber auch in Form eines geschlossenen Erzählakts (einschließlich der Kommunikationspartner, der Inhalte, der Situation etc.) in Relation zu anderen Erzählakten. Das Erzählen kann in verschiedensten semiotischen Systemen und Medien realisiert werden: mündlich, schriftlich, visuell oder in Filmen, Erzähltexten, Dramen, Theateraufführungen, Zeitungsberichten usw. Als kommunikativer Akt schließt das Erzählen pragmatisch-funktionale und intentionale Aspekte ein. Erzählt werden kann ebenso zur einfachen Informationsweitergabe wie zur Unterhaltung, Belehrung oder Selbstdarstellung. Es kann der Illustration innerhalb einer Argumentation dienen oder aber die Beschreibung eines Handlungs-

dagegen, auch Rezepte als erzählende Texte zu begreifen. Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 34. 73 Vgl. Prince: Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability (2008), S. 21. 74 Martínez: Erzählen (2011), S. 1. 75 Vgl. im Folgenden Martínez: Erzählen (2011), S. 1.

3.2 Was ist Erzählen? | 57

vorganges verdeutlichen. Mich werden im Folgenden weniger diese pragmatischen und funktionalen Aspekte beschäftigen, dafür aber das Kommunikationsmodell sowie die daran beteiligten Personen (vgl. Kapitel 3.5 und Kapitel 3.7) und deren Funktionen und Möglichkeiten (erzählende Figuren, fiktive Erzähler, erzählende Autoren). (2) Der Inhalt der beim Erzählen kommuniziert wird, stellt eine Geschichte (histoire, story) – oder anders: eine Zustands- oder Ereignissequenz – zusammen mit der Diegese dar, in die diese Geschichte eingebettet ist. Eine Geschichte besteht aus mindestens zwei Zuständen (vgl. die Kapitel 3.3 und 3.4). Zum Erzählinhalt gehören also die Handlungen von Figuren, die Geschehnisse in der erzählten Welt sowie die Räume bzw. Schauplätze, worin sich die Handlungen und Geschehnisse abspielen. Geschichte und erzählte Welt werden über den Erzählakt bzw. das Erzählen als Erzählung (plot) aktualisiert. (3) Die dritte Dimension betrifft das Wie des Erzählens. In diesem Zusammenhang wird gefragt, auf welche Weise der erzählte Inhalt gestaltet und wie aus bloßen Ereignissen eine sinnvolle und zusammenhängende Handlung gestaltet wird, die in einer Erzählung medial repräsentiert wird. Außerdem muss beachtet werden, aus welcher Perspektive erzählt wird: figurenbezogen, zeitbezogen, usw. Auch die Anordnung einzelner Komponenten der Geschichte spielt eine Rolle. Es ist für die Art der Darstellung wesentlich danach zu fragen, in welcher Konstellation sich die Figuren zueinander befinden, ob es Vorgriffe oder Rückgriffe auf bestimmte Ereignisse gibt oder sogar, nach welchem Prinzip einzelne Kapitel unterteilt sind. Grundsätzlich ist es aber auch von großer Wichtigkeit, ob ein stärkeres Gewicht auf der Darstellung des Inhalts liegt oder ob die Art der Darstellung, etwa eine besonders kunstvolle sprachliche Gestaltung oder ein besonderer Kniff in der Perspektivengestaltung, stärker im Vordergrund steht. Zusätzlich zu den obigen Dimensionen werden von Martínez die folgenden Eigenschaften zu denen des literarisch Narrativen gezählt:⁷⁶

76 Matthias Aumüller beschäftigt sich ebenfalls mit den Möglichkeiten einer Bestimmung des Narrativen. Er stellt einen auf den ersten Blick recht umfangreichen Merkmalskatalog auf. Zu den diskutablen Merkmalen des Narrativen zählt er: Vergangenheit oder Repräsentation von Vergangenem, Mittelbarkeit, Epizität, Zustandsveränderung, Temporalität, Kausalität, Sequenzialität, Fiktionalität, Konstruktivität, Ereignishaftigkeit, Erzählwürdigkeit, Subjektivität. Unter letzteren subsumiert er auch experientiality und embodiment. Allerdings schränkt Aumüller diese Aufstellung sogleich wieder ein, da es sich hierbei nur um eine »offene« und damit nicht umfassende »Liste von Merkmalen« handle. Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 142; Gleichzeitig will er damit seine »These belegen, dass es in der Literaturwissenschaft keinen allgemeinen Begriff des Erzählens gibt; denn die jeweiligen Merkmalskombinationen bzw. Bedingungen, die an den Begriff des Erzählens gestellt werden, sind nicht nur zu unterschiedlich, auch die Minimalbedingungen, zu der sich fast alle – aber nicht einmal alle – bekennen, existiert in ganz unterschiedlichen Fassungen – von den unterschiedlichen Zielen, die mit den Erzählbegriffen verfolgt werden, ganz zu schweigen«. Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 142; Obwohl er betont, dass es sich nicht um eine umfassende Liste von Merkmalen handelt, kann Aumüller in seinem Aufsatz die angeführten Merkmale in ihrer Bedeutung für die Bestimmung des Narrativen so weit relativieren, dass letztlich allein die Eigenschaften als relevante übrig bleiben, die hier auch von Martínez aufgeführt werden. Vgl. Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 144–156; vgl. Martínez: Erzählen (2011), S. 11.

58 | 3 Drama und Narratologie 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Repräsentation einer Geschichte (story und discourse) Mittelbarkeit (Mediation oder mediacy) Ereignishaftigkeit (eventfulness) Erzählwürdigkeit (tellability) Erfahrungshaftigkeit (experientiality) Fiktionalität (fictionality)

Martínez schränkt diese Eigenschaften allerdings in ihrer differenzierenden und definierenden Leistung in Bezug auf ›narrativ‹ ein: Ereignishaftigkeit, Erzählwürdigkeit und Erfahrungshaftigkeit setzen keine trennscharfen Bedingungen voraus. Es ist zwar möglich, dass diese Eigenschaften auftauchen, aber sie sind nicht notwendig, damit ein Text als narrativ gelten kann. ›Mittelbarkeit‹ ließe sich allenfalls für das Erzählen im engen Sinne anführen, bei dem sprachliche Vermittlung und damit ein Mittler in der Form eines Erzählers vorausgesetzt wird. Mittelbarkeit sei jedoch grundsätzlich Teil einer jeden Kommunikationssituation und somit keine Eigenschaft, die ausschließlich für Narrationen typisch ist.⁷⁷ Fiktionalität sei ebenfalls keine Eigenschaft, die generell für Erzähltexte vorausgesetzt werden könne. Dies sei nicht nur deshalb anzunehmen, weil in der alltäglichen Kommunikation oder in nicht-fiktional darstellenden Medien wie etwa einer Zeitung ebenso erzählt wird, sondern weil auch künstlerisch gestaltete Erzählungen nicht unbedingt fiktional gestaltet sein müssen.⁷⁸ Fiktional zu sein bedeutet im Gegensatz zur Faktualität, keinen referentiellen Geltungsanspruch in Bezug auf die reale Welt zu erheben.⁷⁹ Mit der fiktionalen Darstellungsqualität einer Narration geht in der Forschung die Auffassung einher, dass eine zweite Kommunikationsebene generiert wird. Es wird davon ausgegangen, dass zur Kommunikation zwischen Autor und Rezipient durch den real vorliegenden Text noch eine weitere Kommunikationsebene im Text selbst vorliegt: die Ebene zwischen dem Erzähler und dessen Adressaten. Damit wird eine stets anzunehmende Mittelbarkeit durch eine vom Autor unterscheidbare Instanz im Falle von fiktionalen Erzähltexten behauptet. Dabei wird das Kriterium der Mittelbarkeit künstlerisch-narrativer Texte und deren Fiktionalität eng geführt und es wird damit die Erzählinstanz der Texte erklärt: Anders als der reale Sprecher einer faktualen Rede ist das fiktive Aussagesubjekt der fiktionalen Rede nicht an die ›natürlichen‹ Beschränkungen menschlicher Rede gebunden und kann deshalb z. B. ungestraft die Position eines allwissenden Erzählers einnehmen.⁸⁰

77 Vgl. Martínez: Erzählen (2011), S. 11. 78 Vgl. Martínez: Erzählen (2011), S. 11; Köppe/Kindt: Erzähltheorie (2014), S. 73–80. 79 Vgl. Martínez: Erzählen (2011), S. 9. 80 Martínez: Erzählen (2011), S. 9. Diese Beschreibung ist aus mehreren Gründen merkwürdig: (1) Wenn fiktional zu sein bedeutet, keinen Anspruch auf Referenzierbarkeit zu haben, dann kann sich bereits der reale Urheber (also der Autor) über »natürliche« Beschränkungen hinwegsetzen. (2) In

3.2 Was ist Erzählen? | 59

Fiktionalität kann »textpragmatisch, dadurch angezeigt werden, dass Name und Person des realen Autors nicht mit dem Erzähler übereinstimmen«.⁸¹ Andere Möglichkeiten bestehen in der Wahl der Gattungsbezeichnung, im Verweis auf den fiktionalen Charakter in Paratexten oder aber in textinternen Merkmalen.⁸² Zu letzteren lassen sich zum Beispiel die Allwissenheit des Erzählers und dessen Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle der Figuren wiederzugeben, zählen. Textinterne Merkmale »ermöglichen keine trennscharfe Abgrenzung zwischen fiktionalen und faktualen Texten«.⁸³ Erstens müssen, um beim Beispiel zu bleiben, Hinweise auf die Allwissenheit nicht immer in fiktionalen Erzählungen auftauchen, zweitens können sie aber auch in faktualen Erzählungen enthalten sein und drittens kann in einem fiktionalen Text absichtlich der Eindruck des Faktualen oder der Authentizität erweckt werden.⁸⁴ Das Kriterium der Fiktionalität und die damit zusammenhängende Generierung einer zweiten Kommunikationsebene spielt für Dramen insofern eine Rolle, als Dramentexte zu den fiktionalen Texten gerechnet werden können. Allerdings wird ihnen die für fiktionale Texte als typisch erachtete Etablierung einer zweiten Kommunikationsebene abgesprochen. Wird in Dramentexten entgegen dem ›Normalfall‹ dennoch eine solche Ebene generiert, kann man mit Pfister von Episierung sprechen. Wenn Dramentexte, speziell der Spieltext, fiktionale Texte sind, ist auch eine vermittelnde zweite Kommunikationsebene für sie nicht fakultativ, sondern sie ist im Gegenteil vorauszusetzen. So wäre im Umkehrschluss jedes Drama episiert. Zusammengefasst bedeutet dies, dass Martínez die Ereignishaftigkeit, die Erzählwürdigkeit, die Erfahrungshaftigkeit und zu großen Teilen auch die Mittelbarkeit und

faktualen Erzählungen erzählt der reale Autor des jeweiligen Textes, in fiktionalen Texten aber gibt er diese erzählende Aufgabe an den Erzähler als fiktiven Sprecher ab. Wenn aber in faktualen Erzählungen klar der Autor erzählt, in fiktionalen Erzählungen hingegen immer ein von ihm unterschiedener Erzähler, was macht dann der Autor im Falle der fiktionalen Erzählung, wenn er nicht mehr erzählt? Ist dann der von ihm an den Rezipienten kommunizierte Text noch eine Erzählung oder nur das was vom fiktiven Erzähler geäußert wird? Nach den Überlegungen von Martínez kann ein realer Autor offenbar keine fiktionalen Aussagen treffen – zumindest nicht »ungestraft«. Er wird in diesem Fall immer durch eine fiktive Figur respektive den Erzähler ersetzt der die fiktionale Darstellung übernimmt. Allerdings spricht ein so verstandener Erzähler nicht unbedingt über fiktive Sachverhalte und in einem fiktionalen Modus. Von dessen werkinternen Position aus gesehen, spricht er über reale Sachverhalte und in einem faktualen Modus. Diese typische Trennung und Sichtweise möchte ich jedoch etwas anders auflösen: Ich gehe mit Köppe/Kind und Köppe/Stühring davon aus, dass ein Autor Aussagen in einem fiktionalen Modus treffen kann und den Leser auffordert: ›Stelle Dir vor, dass dieses und jenes der Fall ist‹. Wird der Text unter einer narratologischen Perspektive betrachtet, nehme ich für diesen Text an, dass die Aussagen analytisch einer Erzählinstanz, verstanden als narratologische Kategorie, zugeordnet werden können. Ob diese Instanz mit dem Autor korreliert, ist aus dieser analytischen Sicht zuerst nicht relevant. 81 Martínez: Erzählen (2011), S. 9. 82 Vgl. Martínez: Erzählen (2011), S. 9 f. 83 Martínez: Erzählen (2011), S. 10. 84 Vgl. Martínez: Erzählen (2011), S. 10.

60 | 3 Drama und Narratologie die Fiktionalität als Eigenschaften des Narrativen relativiert. Als relevante Eigenschaften narrativer Texte bleiben die Repräsentation einer Geschichte (Zustandsveränderung/Temporalität/Kausalität/Sequenzialität) zusammen mit einer erzählten Welt (Diegese) übrig. Die Repräsentation einer Zustandsveränderung wird oftmals als Minimalbedingung angeführt, die narrative Texte von anderen Kommunikationstypen unterscheidet. Narrative Texte sollen demnach mindestens zwei Zustände eines Objekts der erzählten Welt (zum Beispiel einer Figur) darstellen, die in ihrer zeitlichen Folge repräsentiert und relationiert werden (Temporalität). Nach Matías Martínez und Michael Scheffel wird mit einer ausschließlich temporalen Verknüpfung von Zuständen nur ein Geschehen repräsentiert. Damit von einer Geschichte gesprochen werden kann, die im Akt des Erzählens erzeugt wird, müssen neben der temporalen weitere Relationen zwischen den Zuständen und Ereignissen erkennbar sein. Als wichtigste Relationierung wird hier die der Kausalität geführt.⁸⁵ Während sich also ein Geschehen nur durch die temporale Folge von Ereignissen auszeichnet, sind diese in Geschichten zusätzlich kausal und in der Regel sogar als komplexes kausales Netz organisiert.⁸⁶ »Die Ereignisse werden dann so verstanden, dass sie nicht grundlos wie aus dem Nichts aufeinander, sondern nach Regeln oder Gesetzen auseinander folgen.«⁸⁷ Sequenzialität als eine grundlegende Eigenschaft wird auf Prince zurückgeführt.⁸⁸ Demnach besteht eine Narration aus der Repräsentation mindestens dreier temporal geordneter Ereignisse. Eine Sequenz wird dadurch erzeugt, dass das dritte Ereignis die Umkehrung des ersten Ereignisses sei und das zweite Ereignis das dritte kausal bewirke.⁸⁹ Wie bereits angemerkt geht Prince allerdings später von nur noch zwei chronologisch aufeinanderfolgenden Ereignissen aus, die sich gegenseitig weder voraussetzen noch implizieren.⁹⁰ Damit verwirft er die Sequenzialität wieder. Auch für Schmid ist es für die »Narrativität [. . .] hinreichend, wenn die Veränderung impliziert wird, etwa durch die Darstellung von zwei miteinander kontrastierenden Zuständen«.⁹¹ Diese Einschätzung findet sich auch bei Genette, zumindest bis zu der Stelle, an der er im Noveau discours de récit zusätzlich die Diskursivität bzw. die Mittelbarkeit als grundlegende Eigenschaft des Narrativen hinzunimmt.⁹²

85 Vgl. Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 150 f. 86 Vgl. Martínez: Erzählen (2011), S. 4 f. 87 Martínez: Erzählen (2011), S. 4. 88 Vgl. Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 151. 89 Vgl. Prince: A Grammar of Stories (1973), S. 28. 90 Vgl. Prince: Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability (2008), S. 19. 91 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 4. 92 Ich beziehe mich hier auf die deutsche Übersetzung. Vgl. Genette: Die Erzählung (1998), S. 201; vgl. Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 149 f.

3.2 Was ist Erzählen? |

61

Aus der bisherigen Darstellung ergibt sich als eine erste Annäherung an den narrativ-Begriff: Das Erzählen ist ein kommunikativer Akt, mit dem eine Geschichte vermittelt wird. Als solcher hat er einen Sender, eine Nachricht und einen Empfänger bzw. einen Autor, einen Text und einen Rezipienten. Als Narration bzw. als narrativ wird ein Text dann bezeichnet, wenn mit ihm eine Geschichte repräsentiert wird. Als Geschichte wird eine temporal verknüpfte Sequenz von Zuständen bezeichnet, die zusätzlich durch über bloße Chronologie hinausgehende Relationen (insbesondere Kausalität) verbunden ist. Dies stellt eine gängige Sichtweise auf das Erzählen sowie auf die Untersuchungsgebiete einer klassisch-strukturalistischen Narratologie dar.

3.2.3 Das Erzählen und das Narrative als kognitives Schema Um näher auf werkexterne und -interne Qualitäten und Eigenschaften eines narrativen Textes einzugehen, möchte ich den kognitionsnarratologischen Ansatz Werner Wolfs⁹³ hinzuziehen, der die Perspektive auf das Erzählen erweitert. Ich verstehe ihn wie die kognitionspsychologisch orientierten Modelle der Narratologie im Allgemeinen nicht als einen Gegen- oder Alternativentwurf, sondern vielmehr als eine ergänzende Explikation. Wolf unterscheidet zunächst das Erzählen vom Narrativen/Erzählerischen und von der Narrativität: Erzählen als Akt des Hervorbringens von Geschichten geht weit über das Medium Literatur und verbale Textsorten hinaus: Erzählen ist intermedial. Dasselbe gilt für das Erzählerische bzw. Narrative, d. h. für den [. . .] ›Rahmen‹, in dem Erzählen vollzogen wird, sowie für die Narrativität, also die spezifische Qualität des Narrativen.⁹⁴

Beide, das Erzählen als der Akt der Realisierung des Narrativen und das Narrative selbst, können als ein »kulturell erworbenes und mental gespeichertes kognitives Schema [. . .], d. h. also als stereotypes verstehens-, kommunikations- und erwartungssteuerndes Konzeptensemble«⁹⁵ verstanden werden.⁹⁶ Daran Anteil haben der Produzent eines Textes, dieser Text selbst und der Rezipient des Textes, die jeweils in kulturelle Kon93 Ich beziehe mich in meinen Ausführungen zur kognitiven Narratologie auf das transmediale narratologische Modell Werner Wolfs, in das er den kognitiven Ansatz integriert hat. Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002). 94 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 23. 95 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 29. 96 Wolf stützt sich in seinem Aufsatz auf Überlegungen von Karlheinz Stierle, auf Paul Ricœurs Begriff der ›Mimesis I‹ sowie auf Beiträge Jerome Bruners und Marie-Laure Ryans. Karlheinz Stierle:

62 | 3 Drama und Narratologie texten stehen.⁹⁷ Erzählen ist auch hier ein kommunikativer Akt. Mit dem Ansatz der kognitiven Narratologie lässt sich diese Bestimmung allerdings erweitern: Erzählen ist ein kommunikativer Akt, bei dem das kognitive Schema des Narrativen aktiviert wird. Dieses Schema beeinflusst die Produktion sowie die Rezeption narrativer Texte gleichermaßen, steuert und bedingt den Verstehens- bzw. Sinnbildungsprozess, die Art und Weise des Kommunikationsaktes und die Erwartung in Bezug auf beispielsweise die Organisation und den Aufbau des narrativen Artefakts.⁹⁸ Kognitive Schemata, von Wolf auch ›Rahmungen‹ genannt »fungieren [. . .] produzentenseitig als Verständigung stützende Elemente, rezipientenseitig als Interpretationshilfen«.⁹⁹ Sie besitzen in Bezug auf künstlerische Texte als Hauptfunktionen¹⁰⁰ – das Vermitteln von Interpretationshilfen, – die Werbung für und Kontrolle der Rezeption und – die Einordnung des Werks in einen kulturellen Kontext; wozu auch die Abgrenzung von bestimmten Kontexten gehört. An Detailfunktionen ordnet Wolf den Schemata – die Nennung von Autorintentionen, – die Signalisierung von Fiktionalität oder (Pseudo-)Faktualität, – die Einfügung des Werks in bestimmte Gattungskontexte und – die Bezugnahme auf andere relevante wie zum Beispiel zeitkritische Kontexte zu.

Erfahrung und narrative Form: Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie, in: Theorie und Erzählung in der Geschichte: Theorie der Geschichte, hrsg. v. Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Beiträge zur Historik 3), München: dtv, 1979, S. 85–118; Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Zeit und historische Erzählung, aus dem Französischen übers. v. Rainer Rochlitz, Bd. 1 (Übergänge 18), München: Wilhelm Fink Verlag, 1988; Jerome Seymour Bruner: Acts of Meaning, Cambridge: Harvard University Press, 1990; Marie-Laure Ryan: The Modes of Narrativity and Their Visual Metaphors, in: Style 26 (1992), S. 368–387; vgl. außerdem weitere Beiträge zu kognitiven Ansätzen in der Narratologie von Erving Goffman, Manfred Jahn und David Herman. Erving Goffman: Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, Cambridge: Harvard University Press, 1974; Jahn: Frames, Preferences, and the Reading (1997); Jahn: »Speak, friend, and enter« (1999); Herman: Story Logic (2002). 97 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 29. 98 Vgl. zu einer kurzen Darstellung der Einflüsse und Implikationen kognitiver Ansätze wie beispielsweise der Schematheorie auch Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 165–169. 99 Werner Wolf: Der Prolog als traditionelle Form dramatischer Anfangsrahmung, in: Metamorphosen. Englische Literatur und die Tradition, hrsg. v. Hugo Keiper/Maria Löschnigg/Doris Mader (Anglistische Forschungen 355), Heidelberg: Winter, 2006, S. 203–238, hier S. 91. 100 Das Folgende ist übernommen aus Wolf: Introduction (2006), S. 92.

3.2 Was ist Erzählen? |

63

Nach Alexander Ziem sind Schemata¹⁰¹ kognitive Datenstrukturen, in denen individuelle Erfahrungen unterschiedlicher Inhaltsbereiche zu typischen Erfahrungen auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion und Komplexität verallgemeinert zusammengefasst sind, so dass diese beim Verstehen aktueller Erfahrungen als Interpretations- bzw. Datenbasis dienen können.¹⁰²

Auf der Schematheorie basieren die sogenannten frame- und script-Theorien. Sie wurden im Rahmen kognitionswissenschaftlicher Ansätze gerade in der Forschung und Anwendung der Künstlichen Intelligenz¹⁰³ und dort insbesondere für das computergestützte Textverstehen weiterentwickelt. Der Begriff und das Konzept des ›frames‹ als »Modell für menschliche Wissensrepräsentation«¹⁰⁴ gehen auf Marvin Minsky,¹⁰⁵ der Begriff und das Konzept des ›scripts‹ auf Roger Schank und Robert Abelson¹⁰⁶ zurück. Nach Schank/Abelson bezeichnet ein script »a structure that describes appropriate sequences of events in a particular context. A script is made up of slots and requirements about what can fill these slots«.¹⁰⁷ Mit frames verhält es sich ähnlich. Ein frame lässt sich begreifen als ein ›Verstehensrahmen‹, der durch bestimmte Stimuli ausgelöst und vom Rezipienten zu einer von ihm wahrgenommenen Situation herangezogen wird. Minsky beschreibt dies auf diese Weise: We can think of a frame as a network of nodes and relations. The »top levels« of a frame are fixed, and represent things that are always true about the supposed situation. The lower levels have many terminals—»slots« that must be filled by specific instances or data. Each terminal can specify conditions its assignments must meet [. . .] A frame’s terminals are normally already filled with »default« assignments.¹⁰⁸

101 Eingeführt wurde der Begriff ›Schema‹ 1928 von Jean Piaget. Vgl. Jean Piaget: The Child’s Conception of the World, London: Routledge Taylor & Francis Group, 1928; Das Konzept wurde 1932 erstmals von Frederic Bartlett in dessen psychologischer Studie zum Erinnern verwendet, um als Modell für generisches Wissen zu dienen. Vgl. Frederic Bartlett: Remembering. A study in experimental and social psychology, Cambridge: Cambridge University Press, 1932; vgl. dazu auch Alexander Ziem: Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz (Sprache und Wissen 2), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2008, S. 258–265. 102 Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 256. 103 Vgl. Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 14–22. 104 Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 17. 105 Vgl. Marvin Minsky: A Framework for Representing Knowledge, in: Frame Conceptions and Text Understanding, hrsg. v. Dieter Metzing (Research in Text Theory), 1975 [Ndr. New York: Walter de Gruyter, 1979], S. 1–25, hier S. 1 f. 106 Vgl. Roger C. Schank/Robert Paul Abelson: Scripts, Plans, Goals and Understanding. An Inquiry into Human Knowledge Structures, Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum, 1977, S. 41, 67. 107 Schank/Abelson: Scripts, Plans, Goals and Understanding (1977), S. 174. 108 Minsky: A Framework for Representing Knowledge (1979), S. 1.

64 | 3 Drama und Narratologie Es wird davon ausgegangen, dass scripts und frames durch subjektive Erfahrungen des Rezipienten sowie durch und vor dessen kulturellen Hintergrund gebildet und gefestigt werden. Es wird vom Rezipienten ein aus Erfahrung aufgebauter und abgeleiteter Bedeutungs- wie kontextueller Rahmen gewählt, der hilft, die gegebene Situation zu erfassen, sie adäquat zu verstehen und auf sie zu reagieren. Aumüller erklärt scripts auf recht prägnante Weise als im Gedächtnis gespeicherte Repräsentationen von kulturell präformierten, gewohnten Ereignisfolgen, die durch häufige Aktivierung fest im Gedächtnis verankert sind und leichtere und schnellere Informationsverarbeitung von ähnlichen Ereignissen ermöglichen.¹⁰⁹

Bei der Entwicklung des frame- und script-Konzepts durch Schank/Abelson bzw. Minsky stehen sowohl Verstehens- und Evaluierungsprozesse als auch die dazu notwendige Kontextualisierung des Rezipienten mit Blick auf eine damit mögliche Implementierung in der Künstliche Intelligenz-Forschung im Vordergrund. Verstehen, so Schank/Abelson, sei a process by which people match what they see and hear to pre-stored groupings of actions that they have already experienced. New information is understood in terms of old information. A human understander comes equipped with tousands of scripts. He uses these scripts almost without thinking.¹¹⁰

Manfred Jahn vergleicht die Modelle der script und frame-Theorien wohl auch deshalb mit dem des hermeneutischen Zirkels: Frames/scripts and data enter into a mutual dependency-and-reinforcement relationship which constitutes an operationally practicable version of the hermeneutic circle. On the one hand, frames and scripts offer slots within wich the data accumulate and »make sense«, and on the other, the data continually test the adequacy of whichever frames and scripts are active. Put simply, frames and scripts tell us what the data are, and the data tell us whether our choice of frame or script is appropriate.¹¹¹

Es liegt nahe, frames und scripts aufgrund ihrer Strukturähnlichkeit als einander gleichwertige Konzepte zu betrachten. So verwendet Minsky ›frame‹ als Synonym zu ›schema‹, während das script eine Unterart mit einem bestimmten Strukturmuster darstellt. Was Schank/Abelson in Bezug auf scripts anführen, kann aber ebenso in Bezug auf frames konstatiert werden. Jedoch liegt ein Unterschied darin, dass frames eher semantische Bereiche und statische Strukturmuster abdecken (zum Beispiel das kognitive Schema einer politischen Idee wie des Kapitalismus oder der Demokratie), während sich scripts

109 Matthias Aumüller: Empirische und kognivistische Theorien, in: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. v. Matías Martínez, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2011, S. 125–129, hier S. 126. 110 Schank/Abelson: Scripts, Plans, Goals and Understanding (1977), S. 174. 111 Jahn: »Speak, friend, and enter« (1999), S. 176.

3.2 Was ist Erzählen? |

65

auf situative Abläufe und dynamische Strukturmuster (beispielsweise das kognitive Schema eines Restaurantbesuchs oder einer Geburtstagsfeier) beziehen.¹¹² Mit Alexander Ziems Monographie Frames und sprachliches Wissen wurde die Schematheorie als Frame-Semantik in der kognitiven Linguistik weiter ausgebaut.¹¹³ Ziem relationiert seinen Frame-Begriff zu ›Schemata‹, wobei er unter ›Schema‹ ein allgemeines, modalitätsunspezifisches Strukturformat, unter »Frames« hingegen eine semantische Organisationseinheit [versteht]. Der Begriff »Schema« fungiert also als Oberbegriff für alle komplexen konzeptuellen Strukturen. Auch Frames sind Schemata, nur spezifische, da sie verstehensrelevantes Wissen repräsentieren und strukturieren, das zur Interpretation sprachlicher Ausdrücke herangezogen wird.¹¹⁴

Nach Ziem weisen Schemata und in der Folge auch Frames bestimmte Charakteristika auf.¹¹⁵ Schemata sind aus zueinander relationierten slots aufgebaut. Diese gehören mit konkreten Füllwerten (fillers) und Standardwerten (default values) zu den Strukturelementen eines Schemas.¹¹⁶ Mit konkreten Füllwerten werden die Slots eines Schemas durch »Daten der aktualen Wahrnehmung besetzt«.¹¹⁷ Standardwerte werden vom wahrnehmenden Subjekt für die Leerstellen/Slots eines Schemas herangezogen bzw. inferiert, wenn die wahrgenommene Situation keine konkreten Füllwerte bietet¹¹⁸ oder das Schema aufgerufen wird, ohne dass etwas konkret wahrgenommen wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn über einen Restaurantbesuch nur nachgedacht, dieser jedoch nicht tatsächlich vollzogen wird. Es können drei Strukturmuster von Schemata unterschieden werden: dynamische Strukturmuster ohne Zielorientierung (Skript), dynamische Strukturmuster mit Zielorientierung (Plan) und statische Strukturmuster. Ziem subsumiert Skripte, Pläne und statische Strukturmuster unter ›Frame‹. Ich werde im Folgenden statische Strukturmuster als Frame bzw. Rahmen bezeichnen und ›Schema‹ als Oberbegriff für Skripte, Pläne und Frames/Rahmen heranziehen. Es gibt zwar bestimmte Strukturmuster, jedoch ist die Anzahl und Art der zur Struktur gehörenden Elemente nicht festgelegt. Schemata (Skripte, Pläne, Rahmen) bleiben in diesem Sinne nicht konstant, sondern verändern sich. »Mit jeder aktuellen Erfahrung werden neue Füllwerte den Leerstellen eines aktivierten Schemas zugewiesen. Tauchen ähnliche Füllwerte innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls mit hoher Frequenz auf, können sie vorhandene Standardwerte verändern.«¹¹⁹ Zusätzlich »ergibt sich [ein Sche-

112 113 114 115 116 117 118 119

Vgl. auch Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 268. Vgl. Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008). Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 257. Vgl. Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 266–272. Vgl. Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 266 f. Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 267. Vgl. Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 267. Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 270.

66 | 3 Drama und Narratologie ma] abduktiv und induktiv aus der Schnittmenge ähnlicher Einzelerfahrungen«.¹²⁰ Das heißt, es können Schemata ebenso wie ihre Füllwerte als beste Hypothesen für ein wahrgenommenes Phänomen herangezogen und erst entwickelt werden (Abduktion) oder sie werden aus dem Wahrgenommenen abgeleitet und gebildet (Induktion). Wird ein Schema, wie etwa das des Narrativen oder des Erzählens, über bestimmte Stimuli aktiviert, »erzeugt [es] Erwartungen bezüglich der zu ihm passenden Informationen, d. h. bezüglich potentieller Wissenselemente der aufgerufenen Leerstellen«.¹²¹ Hat der Rezipient Hinweise erkannt, die ihn dazu veranlassen, ein Artefakt als narrativ zu begreifen und damit auch das Schema des Narrativen zu benutzen, wird er weitere Indizes und Stimuli am Artefakt suchen und solche erwarten, die er mit dem Schema des Narrativen in Verbindung bringt. In Schemata sind auch Sub-Schemata bzw. andere Schemata im Allgemeinen eingebunden. Genau genommen kann jeder Standard- und Füllwert der slots eines Schemas, abermals den Ausgangspunkt eines Sub-Schemas bilden.¹²² Beispielsweise wird, sobald der Rezipient eine Situation erkennt, die scheinbar etwas mit ›Schiff‹ zu tun hat, ein damit von ihm aus seiner Erfahrung vorhandenes Schema aktiviert, das Leerstellen und zugehörige Standardwerte in einem bestimmten Relationsmuster enthält. Leerstellen ([ ]) und Standardwerte (› ‹) können beispielsweise sein: [Relevanz des Objekts] ›Beförderung über Wasser‹ [natürliche Umgebung des Objekts] ›Hafen‹ oder auch ›Wasser‹ Es wird angenommen, dass ein Schema wie ›Schiff‹ unabhängig davon aktiviert werden kann, ob jemand am Hafen spazieren geht, sich auf einem Schiff befindet, innerhalb eines Gesprächs das Thema auf Schiffe gelenkt wird oder aber in einem Text auf Schiffe referiert wird. Bestimmte Slots und Relationen können an Bedingungen geknüpft sein und auch Standardwerte besitzen. Beispielsweise hat es, solange das Schiff nicht schief im Wasser liegt, wenig Sinn, nach einer Beschaffenheit wie zum Beispiel einem ›Leck‹ zu suchen. Allerdings liegt es näher, bei der Situation ›Schiff‹ ein Leck zumindest im Bereich des Erwartbaren zu halten als etwa bei der Situation ›Haus‹. Hat das Schiff hingegen ein Leck, werden Rezipienten, solange sie keine konkreten Füllwerte entdecken, für die dazu wiederum in Relation stehende Leerstelle [Ursache] etwa von einem ihnen bekannten Standardwert ausgehen: beispielsweise ›Eisberg‹. Dass Schiffe nicht nur durch Eisberge ein Leck entwickeln können, ist zwar klar, aber dies mag für das über Literatur und allgemeines Weltwissen erlangte kognitive Schema eines Rezipienten, der gebildete Standardwert sein. In vielen Fällen werden diese Standardwerte auch genügen, um den Inhalt eines Textes oder die Bedeutung einer Situation zu erfassen.

120 Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 271. 121 Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 270. 122 Vgl. Ziem: Frames und sprachliches Wissen (2008), S. 270 f.

3.2 Was ist Erzählen? |

67

Abhängig von der Situation wird es wichtiger sein, dass ein leckgeschlagenes Schiff sinken kann, als zu versuchen einen Füllwert dafür zu suchen, was genau das Leck verursacht hat. Schemata helfen somit, Wahrgenommenes einzuordnen und auf Situationen schnell sowie angemessen zu reagieren, selbst wenn nicht alle Informationen vorliegen. Beim Hinzuziehen eines Schemas werden bestimmte semantische Verbindungen und Ereignisfolgen vorausgesetzt, andere für die meisten Fälle erwartet und wieder andere hängen von einer genaueren Evaluierung der Situation bzw. der Umgebung oder dem Kontext ab, innerhalb dessen bestimmte Stimuli dazu führen, ein bestimmtes Schema zu aktivieren. Nach Wolf ist das Narrative/Erzählerische (wie auch das Erzählen) nun ein kognitives Schema von relativer Konstanz, das [. . .] auf menschliche Artefakte, und hier wiederum auf deren makro- wie mikrotextuellen oder -kompositionellen Bereich, applizierbar ist, und zwar ohne daß dabei apriorische Festlegungen hinsichtlich bestimmter Realisierungs- oder Vermittlungsmedien getroffen werden müssen.¹²³

Als kognitives Schema erfüllen das Narrative und das Erzählen bestimmte Funktionen. Als Basisfunktionen zählt Wolf folgende Möglichkeiten auf:¹²⁴ – sinngebende und philosophische Funktion – repräsentierende und rekonstruierende Funktion – soziale und unterhaltende Funktion Eine sinngebende Funktion habe das Narrative insofern, als »Erzählwerke zeitlichem Erleben und der Erfahrung von Wandel Kohärenz und Kommensurabilität verleihen«.¹²⁵ Wolf unterscheidet dabei rückwärtsgewandte Sinngebung durch Kausalität und vorwärtsgewandte Sinngebung durch Teleologie.¹²⁶ Über »die repräsentierende und (re-)konstruierende Funktion«,¹²⁷ werde zeitliches Erleben vergegenwärtigt. Dabei werden meist fiktive, mitunter auch reale Geschichten (re-)konstruiert und durch Medien repräsentiert.¹²⁸ »Bezogen auf einzelne Werke und Medien ist Narrativität deren Fähigkeit, das Narrative im Verein mit einer bestimmten Geschichte zu evozieren oder zu vermitteln.«¹²⁹ Anders ausgedrückt besitzt ein narrativer Text eine bestimmte Qualität. Diese Narrativität ergibt sich aus der Bewertung, aber auch aus der bloßen Häufigkeit bestimmter Indizes und Stimuli. Je höher die Narrativität eines Textes, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er auch als ein narrativer

123 124 125 126 127 128 129

Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 37. Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 32 ff. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 32. Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 33. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 32. Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 33. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 38.

68 | 3 Drama und Narratologie Text gelesen wird und das kognitive Schema des Narrativen bzw. kurz das narrative Schema aufgerufen wird. Letzteres verursacht eine Art Rückkopplung, die bewirkt, dass noch gezielter nach Indizes gesucht und Grenzfälle dem Schema zugerechnet werden. Dabei ist die »Realisierung des Narrativen [. . .] nur in Ausnahmefällen (etwa im geheimen Tagebuch, im Traum) ein innersubjektiver Vorgang«¹³⁰ und das Narrative besitzt immer auch die oben erwähnte »kommunikative, soziale und unterhaltende Funktion«.¹³¹ Gerade der daraus ableitbare Bezug auf einen Rezipienten ist der wichtigste werkexterne Faktor, denn gerade er bestimme Wolf zufolge in hohem Maße Inhalt und Form des Erzählten mit.¹³² Demnach schließt das kognitive Schema Erzählen das Erzählen als kommunikativen Akt mit ein. Erzählen kann also sowohl als kommunikativer Akt als auch als kognitives Schema verstanden werden, insofern der erzählende Akt dem Produzenten und Rezipient gleichermaßen als Schema geläufig ist und beim Erzählen aktiviert wird. Was die Art und Weise der Vermittlung des Narrativen betrifft, werden drei Vermittlungsebenen unterschieden, »die innerhalb der strukturalistischen Narratologie zur Ebene des discours bzw. discourse zu rechnen wären«.¹³³ Demnach müsse sich der Produzent für ein Medium entscheiden, über das seine Geschichte vermittelt werden soll und mit dem er das narrative Schema evozieren will. Zudem wählt er eine medienspezifische Gattung. Darin konkretisiert er mithilfe verschiedener Präsentationsund Diskursmodi narrative Stimuli und evoziert im besten Fall beim Rezipienten das Schema des Narrativen. Wolf differenziert also folgende Vermittlungsebenen:¹³⁴ – Medium – medienspezifische Gattung – Präsentations- und Diskursmodus Bei den Medien unterscheidet Wolf solche, die die Geschichte und die Diegese mittelbar über einen Erzähler und damit über eine »verbale mündliche oder schriftliche Kommunikation«¹³⁵ transportieren und solche, die dies ohne einen Erzähler realisieren. Zu den letzteren zählt er beispielsweise das Theater und bildliche Medien.¹³⁶ Hier lässt sich im Übrigen wieder die Unterscheidung in den engen und den weiten narrativ-Begriff erkennen. Zusätzlich entscheide sich der Produzent für eine Unterkategorie dieser Medien bzw. eine medienspezifische Gattung. Bei einer mündlichen verbalen Umsetzung sind

130 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 33. 131 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 33. 132 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 34. 133 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 39. 134 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 39 f. 135 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 39. 136 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 39.

3.2 Was ist Erzählen? |

69

dies weit gefasste Genres wie etwa der Erlebnisbericht oder der Witz. Bei der schriftlichen verbalen Umsetzung sind dies zum Beispiel Romane, Kurzgeschichten, Novellen, Märchen und allgemein Texte, die der Gattung Epik zugeordnet werden. Beim Theater sind Komödien, Tragödien usw. als Unterkategorien anzunehmen.¹³⁷ Ferner wird zwischen Präsentations- und Diskursmodi unterschieden. Diese Modi sind »wie das Schema des Narrativen selbst nicht an spezifische Medien gebunden«.¹³⁸ Werner Wolf unterteilt die Präsentationsmodi in einen direkten und einen indirekten Modus. Der Produzent entscheidet bei der Präsentation seiner zu vermittelnden Geschichte, ob er diese direkt – beispielsweise als Theateraufführung – oder indirekt über ein verbales (mündliches und schriftliches) Medium präsentiert.¹³⁹ Beim Drama kann ein indirekter Präsentationsmodus angenommen werden, da der Produzent den schriftlich fixierten Dramentext als Vermittlungsmedium für die zu imaginierende Aufführung gewählt hat. Natürlich vermittelt auch das Theater streng genommen nicht direkt. Denn auch hier ›stehen‹ Schauspieler zwischen dem Rezipienten und den Figuren, ebenso wie die Requisiten zwischen Rezipient und dem referenzierten Objekt ›stehen‹. Im Falle der Diskursmodi unterscheidet Wolf analog zu Chatman Narration, Deskription und Argumentation. Monika Fludernik schlägt in ihrem Aufsatz Genres, Text Types, or Discourse Modes?¹⁴⁰ ein ähnliches Modell vor. Hier nimmt sie auf ihre Monographie Towards a ›Natural‹ Narratology¹⁴¹ Bezug. Fluderniks Arbeit versucht dabei, die Strategien und Strukturen ›elaborierter‹ literarischer Erzählungen aus den ›einfacheren‹ Formen alltäglicher und mündlicher Erzählungen abzuleiten. Ihr Ansatz verbindet linguistische, semiotische und konstruktivistische¹⁴² sowie kognitive und historische Aspekte. In ihrem Aufsatz unterscheidet sie ebenfalls drei Ebenen einer kommunikativen Strategie, die der Einteilung Wolfs ähneln:¹⁴³ macrogenres, genres/text types und discourse modes. Demnach ist vom Produzenten eine Makrogattung (macrogenre) gewählt. Hierzu zählt Fludernik narrative, argumentative, instructive, conversational und reflective. Allerdings müssen diese Makrogattungen als Idealtypen gedacht werden, die nie konkretisiert als Texte vorliegen. Sie könnten beispielsweise mit der oben beschriebenen Schematheorie erklärt werden. 137 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 39 f. 138 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 41. 139 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 40 f. 140 Monika Fludernik: Genres, Text Types, or Discourse Modes? Narrative Modalities und Generic Categorization, in: Style 34.2 (2000), S. 274–292. 141 Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology (1996). 142 Vgl. Bruno Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie. Kognitive und ›Natürliche Narratologie‹, in: Neue Ansätze in der Erzähltheorie, hrsg. v. Ansgar Nünning/Vera Nünning (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2002, S. 219–242, hier S. 226–230. 143 Vgl. im Folgenden Fludernik: Genres, Text Types, or Discourse Modes? (2000), S. 280–284.

70 | 3 Drama und Narratologie Eine Stufe konkreter sind die Gattungen, die jeweils einer Makrogattung zugeordnet werden können. Im Falle des macrogenres Narration sind dies beispielsweise novel, drama, film, conversational, narrative und myth. Im Falle des macrogenres Argumentation könnten es scientific texts, historiography, newspapers und oratory sein. Natürlich sind auch dies diskussionswürdige Typen, die ohne genauere Explikation abstrakt bleiben müssen. Am konkretesten sind schließlich die discourse modes. In einem Text können ein oder meist mehrere discourse modes verwendet werden. Sie erfüllen in je verschiedenen Makrogattungen als auch in den je verschiedenen Gattungen unterschiedliche Funktionen. Sie sind auf unterschiedliche Weise konstitutiv für das jeweilige macrogenre bzw. das jeweilige Genre anzunehmen und stehen in jeweils verschiedenen Relationen zueinander. Diesen discourse modes ordnet Fludernik zum Beispiel report, sequence, description, argumentative passages, directives usw. zu.¹⁴⁴ Wird davon ausgegangen, dass diese Möglichkeiten der Produktion von Texten bzw. das Wissen um sie von den Produzenten und Rezipienten der Texte im kulturellen Raum geteilt werden, lässt sich folgern, dass auch der Rezipient diese Möglichkeiten bei der Einordnung des Textes in Betracht zieht und Zuordnungen vornimmt, die er für seinen Verstehensprozess einsetzt. Diese bisherigen Überlegungen allgemeinerer Art möchte ich im Folgenden kurz zusammenfassen: Das narrative Schema wird zwar als transhistorisch und -kulturell verstanden, aber es müssen bei der Untersuchung eines konkreten Werks immer auch die historischen oder kulturellen Erwartungs- und die darauf reagierenden Produktionshaltungen in Betracht gezogen werden.¹⁴⁵ Des Weiteren verdient ein Einwand von Wolf besondere Beachtung. Geht man davon aus, dass das Narrative und die repräsentierte Geschichte vom Vermittlungsmedium unabhängig sind, läuft man schnell Gefahr, den Begriff des Narrativen ubiquitär

144 Die Zuordnung oder Analyse noch feinerer Aufspaltungen der Gattungen wie Roman, historischer Roman, Sonett, petrarkistisches Sonett, Trauerspiel, bürgerliches Trauerspiel o. Ä. wird ebenso wie eine historische Differenzierung über diese Modi nicht geleistet oder angestrebt. Es hat auf dieser Ebene, auf der versucht wird, Texte und textliche Phänomene systematisch über sozial-kommunikative Kriterien einzuteilen, auch keine Relevanz. Hierbei wird von historischen und kulturellen Bezügen sowie von Unterscheidungen in Literatur und Nicht-Literatur bei diesen zuerst systematisch zu differenzierenden Kommunikationsmöglichkeiten abgesehen. Gleichwohl bezieht diese Variation der Textlinguistik ihre Strukturen und Ebenen aus der Empirie menschlicher Kommunikation und kognitiver Verarbeitung von Eindrücken über Texte. Sowohl die Texte als auch die Strukturen und Ebenen sind auf Mikroebene in ihren Voraussetzungen wie Möglichkeiten selbstverständlich immer historisch, sozial und kulturell eingebunden. Wie indirekt bereits durch meine Darstellung angezeigt, können hier enge Beziehungen zu Wolfs Modell aus seinem Aufsatz Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik erkannt werden. Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), Fludernik scheint darüber hinaus von gewissen invarianten Diskursmodi auszugehen (argumentative) die auch als abstrakte Muster textueller Art (macrogenre argument) zumindest schemenhaft oder eben auch als kognitive Schemata vorliegen. 145 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 30.

3.2 Was ist Erzählen? | 71

zu verwenden und Nicht-Narratives auszuschließen.¹⁴⁶ Gleichzeitig muss aber von einem allzu engen Begriff Abstand genommen werden, demzufolge lediglich Erzähltexte narrativ sind. Auch muss das Narrative nicht auf makro- sowie mikrotextuellen Ebenen durchgängig verwirklicht sein. Bezogen auf ein konkretes Artefakt bedeutet dies, dass die Qualität sowie die Quantität an narrativen Elementen bzw. das Narrative/Erzählerische auf werkinternen und werkexternen Bereichen und auch in Makrowie Mikrobereichen eines konkreten Kunstwerks verschieden stark ausgeprägt sein kann.¹⁴⁷ Das »Schema des Narrativen mit seinen Realisierungen [ist] gekennzeichnet durch die Qualität der Narrativität [. . .]«¹⁴⁸ Die Qualität der Narrativität eines Werks kann wiederum bestimmt werden durch das Auftreten von gewissen Stimuli und Rahmungen, die das Werk bietet (werkintern), Faktoren die sich im Kontext des Werks finden (werkextern) oder aber durch solche, die sich der Rezipient selbst setzt, um ein Werk als narrativ zu verstehen. Gerade Letzteres ist eine Implikation der Schematheorie. Es wird davon ausgegangen, dass der Rezipient die Fähigkeit hat, fehlende narrative Stimuli bzw. nicht konkret gefüllte slots zu ergänzen oder Standardwerte zu verwenden. Dies stellt für den Produzenten einer Narration eine Ressource dar, mit der er bei der Gestaltung arbeiten kann. Im Falle werkinterner Qualitäten und Stimuli der Narrativität spricht Wolf angelehnt an Prince von sogenannten Narremen,¹⁴⁹ worunter sich die kleinsten funktionalen Einheiten des Narrativen verstehen lassen. Da das Narrative und damit auch die Narreme eines transgenerischen und transmedialen Ansatzes nicht über Inhalte spezifiziert werden, sondern hauptsächlich formale, funktionale und strukturelle Aspekte eine Rolle spielen, bleibt »auch die Bestimmung der Narreme im Bereich allgemeiner, nur formal zu erfassender Elemente«.¹⁵⁰ Mit ihnen können Bezugspunkte skizziert werden, um verschiedene Realisierungen narrativer Stimuli in Texten und Medien zu vergleichen und einzuordnen. Werke müssen gewisse Bedingungen erfüllen, um zweifelsfrei der Gattung narrativer Texte zugeordnet werden zu können. Darüber hinaus können sie natürlich weitere fakultative Elemente und Eigenschaften aufweisen, die eine Zuordnung verstärken oder erleichtern.¹⁵¹ Obwohl das Narrative unabhängig von Inhalten ist, kann es dennoch nur »im Verein mit einer bestimmten Geschichte«¹⁵² evoziert werden.¹⁵³ Die Narrativität eines Textes oder eines 146 Vgl. dazu auch Köppe/Kindt: Erzähltheorie (2014), S. 63 f. 147 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 31, 37. 148 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 37 f. 149 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 44; vgl. Gerald Prince: Remarks on Narrativity, in: Perspectives on Narratology. Papers from the Stockholm Symposium on Narratology, hrsg. v. Claes Wahlin, Frankfurt am Main: Lang, 1996, S. 95–106, hier S. 98 f. 150 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 38. 151 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 35. 152 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 38. 153 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 38.

72 | 3 Drama und Narratologie Mediums zeigt sich darin, wie effizient sie das narrative Schema evoziert bzw. narrative Stimuli und Indikatoren umsetzt. Wolf schlägt in diesem Zuge wie schon Prince eine Graduierbarkeit der Narrativität vor.¹⁵⁴ Ein Rezipient, der Erfahrung im Umgang mit Narrationen hat und an einigen erzählerischen Kommunikationsakten teilgenommen hat, verfügt über einen Erfahrungsschatz an erwartbaren, möglichen oder von weiteren Bedingungen abhängigen Werten und Qualitäten einer Narration. Dasselbe gilt umgekehrt für die Produzenten narrativer Artefakte. Sie ›wissen‹, wie sie einen hohen Grad an Narrativität erreichen können und wie ein Artefakt gestaltet sein sollte, damit es als eine Narration verstanden wird. An einem Artefakt lassen sich, wird die Erfahrung eines Rezipienten mit dem Narrativen in Rechnung gestellt, bestimmte, zu großen Teilen vom Produzenten eingesetzte narrative Stimuli und Implikationen erkennen. Werkexterne Indikatoren sowie Narreme helfen dabei, die Erwartungshaltung des Rezipienten zu steuern bzw. aufzubauen und befähigen diesen gleichzeitig, narrative Muster zu entdecken und gegebenenfalls zu ergänzen.¹⁵⁵ Für den Erzähltheoretiker bedeutet dies, dass er bestimmte erzählerische Muster, Stimuli und Indikatoren in anderen Gattungen als der der Erzähltexte erkennen und auswerten kann. Daraus folgt aber auch, dass eine bewusste Gestaltung des rezipierten Artefakts sowie ein Verständnis des narrativen Schemas beim Produzenten angenommen werden muss. Ansonsten müssten die Deutungsversuche des Rezipienten wie des Theoretikers ins Leere laufen bzw. sie würden selbst zu Produzenten einer eigentlich nicht vorhandenen Narration.¹⁵⁶ Indikatoren, die bereits auf werkexterner kontextueller Ebene oder auf paratextueller Ebene darauf hinweisen, dass man es mit einer potenziellen Narration zu tun hat, können zum Beispiel sein: Gattungszuordnungen im Titel wie ›Roman‹, ›Märchen‹, ›Novelle‹ usw., Hinweise in Vor- und Nachworten oder die Reklame des Verlags, die auf den erzählerischen Wert hinweist. Bei Dramentexten kann dies nur dann funktionieren, wenn entweder das Drama als narratives Medium verstanden wird und damit Gattungsangaben wie ›Tragödie‹, ›Schauspiel‹ usw. den Rezipienten bereits das nar-

154 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 51. 155 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 29, 43. 156 Die von mir behandelten Dramen- und Erzähltexte sind Teil einer asymmetrischen und ›zerdehnten‹ Kommunikationssituation in dem Sinne, dass sie vom Produzent fixiert wurden, bevor sie von einem Rezipienten wahrgenommen werden. Die Produktionshandlung findet nicht gleichzeitig mit der Rezeption statt. Es handelt sich also nicht um eine Dialogsituation mit Aussagen der Kommunikationspartner im nahezu simultanen Wechsel, in der auch Nachfragen, Berichtigungen und Beeinflussungen möglich sind. Schon allein deshalb muss der Produzent Sorge tragen, dass seine Nachricht auch adäquat verstanden werden kann. Will er einen narrativen Text produzieren, muss er angemessene Stimuli setzen, die den Rezipienten veranlassen können, den Text als einen narrativen zu lesen und zu verstehen. Vgl. dazu auch Frank Zipfel (Hrsg.): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 2), Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2001, S. 36 f.

3.2 Was ist Erzählen? | 73

rative Schema aufrufen lassen. Allerdings lässt sich für das Drama annehmen, dass dort besonders werkinterne Stimuli bzw. die Narreme für dessen narrativen Charakter ausschlaggebend sind. Speziell mit Blick auf die Narreme entwickelt Wolf eine Minimaldefinition des Erzählens, die er auch als »Erweiterung der Formel von Prince«¹⁵⁷ begreift und die ich als eine zweite Annäherung an den Begriff ›Erzählen‹ begreife: Erzählen wäre damit [. . .] die Darstellung wenigstens von Rudimenten einer vorstellund miterlebbaren Welt, in der mindestens zwei verschiedene Handlungen oder Zustände auf dieselben anthropomorphen Gestalten zentriert sind und durch mehr als bloße Chronologie miteinander in einem potentiell sinnvollen, aber nicht notwendigen Zusammenhang stehen.¹⁵⁸ In dieser Minimaldefinition fasst Wolf die von ihm unterschiedenen allgemeinen oder auch qualitativen Narreme (Sinndimension, Darstellungs- und Erlebnisqualität), inhaltliche Narreme (Ereignisse, Zeit, Ort, Figuren usw.) und syntaktische Narreme (Selektion, Verknüpfung, Präsentation, formale Einheitsbildung durch beispielsweise Chronologie, Teleologie, Wiederholung usw.) zusammen. In ähnlicher Weise unterscheidet Martínez in der obigen Darstellung in pragmatische, semantische und syntaktische Dimensionen des Erzählens (vgl. Kapitel 3.2.2 auf Seite 56).¹⁵⁹ In Ergänzung zu Wolfs Schema-Begriff schlägt Marie-Laure Ryan ein ganz ähnliches Konzept vor, das sie cognitive template nennt und das ähnlich dem Schema als mentales Muster zur Strukturierung der wahrgenommenen Umwelt zu verstehen ist. Bezogen auf narrative Texte handelt es sich dabei um »a type of text able to evoke a certain type of image in the mind of the recipient«.¹⁶⁰ Ich werde es hier nur kurz mit Ryans eigenen Worten vorstellen. Drei Eigenschaften dieses ›Bildes‹ – Ryan bezieht sich auf den Inhalt einer Narration – bestimmt sie als ausschlaggebend: 1. 2.

The mental representation of story involves the construction of the mental image of a world populated with individuated agents (characters) and objects. (Spatial dimension.) This world must undergo not fully predictable changes of state that are caused by nonhabitual physical events: either accidents (›happenings‹) or deliberate actions by intelligent agents. (Temporal dimension.)

157 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 51. 158 Hervorhebungen im Original. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 51. 159 An dieser augenscheinlichen Analogie in der Unterteilung der Narreme lässt sich gut erkennen, dass die strukturalistisch orientierte und die kognitive Narratologie sich bisweilen in ihren Methoden und Erkenntnissen nicht wesentlich unterscheiden. 160 Marie-Laure Ryan: Art. ›Narrative‹, in: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, hrsg. v. David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan, London und New York: Routledge Taylor & Francis Group, 2005, S. 344–348, hier S. 347.

74 | 3 Drama und Narratologie

3.

In addition to being linked to physical states by causal relations, the physical events must be associated with mental states and events (goals, plans, emotions). This network of connections gives events coherence, motivation, closure and intelligibility, and turns them into a plot. (Logical, mental and formal dimension [. . .])¹⁶¹

Ryan beschreibt hier, was der Rezipient offenbar aufbauend auf dem kognitiven Schema und bei der Wahrnehmung eines narrativen Objekts konstruiert. In ihrer Beschreibung und in Wolfs Minimaldefinition finden sich insbesondere in Bezug auf die werkinternen narrativen Stimuli die von Pfister bei der Beschreibung der Geschichte aufgestellten Konstituenten wieder, die Wolf zu den inhaltlichen Narremen zählt: Temporalität, Spatialität und Figuren bzw. anthropomorphisierte Subjekte (vgl. Kapitel 3.1.1 auf Seite 38). Trotz der kognitiven Ausrichtung der Modelle Wolfs und Ryans verschwinden nicht die für eine Narration und Geschichte wichtigen Konstituenten klassischer Narratologie. Es ergibt sich nur eine zusätzliche Sichtweise auf das Narrative als kognitives Schema und das Erzählen als kommunikativer Akt und kognitives Schema.

3.2.4 Minimaldefinition und Narreme am Beispiel von Catharina von Georgien In diesem Abschnitt verdeutliche ich die bisherigen Überlegungen anhand eines Beispiels und analysiere das Trauerspiel Catharina von Georgien (1657) von Andreas Gryphius auf seine narrative Qualität und speziell auf dort eingesetzte Narreme. Das Stück behandelt auf exemplarische Weise die Beständigkeit des Glaubens anhand des Konflikts zwischen der christlichen und der islamischen Religion, indem es die Gefangenschaft Catharinas von Georgien, Christin und Königin von Armenien, im Reich des persischen Schahs Abas, der sie zur Ehe zwingen will, zum Thema hat. Anstatt sich auf Abas’ Forderung einzulassen, wählt Catharina den Märtyrertod und prophezeit Abas die Strafe Gottes am Ende des Stücks. Den Grundqualitäten oder Kennzeichen des Narrativen ordnet Wolf die qualitativen Narreme¹⁶² zu, die in narrativen Medien und Texten auffindbar sein müssen. Diese leitet er ab von den oben vorgestellten Basisfunktionen des Narrativen. So zeigt sich beispielsweise in diesem Stück sogar schon in einer Ansprache des Lesers der »spürbare Bezug [. . .] auf eine insbesondere die Zeitlichkeit involvierende Sinndimension«,¹⁶³ die Wolf von der sinngebenden Funktion des Narrativen ableitet. Im Trauerspiel stellt »Catharine [. . .] in jhrem Leib vnd Leiden ein vor dieser Zeit kaum erhöretes Beyspiel

161 Zitiert aus Ryan: Art. ›Narrative‹ (2005), S. 347; vgl. auch Marie-Laure Ryan: On the Theoretical Foundations of Transmedial Narratology, hrsg. v. Jan Christoph Meister, eingel. v. Jan Christoph Meister/Tom Kindt/Wilhelm Schernus (Narratologia 6), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2005, S. 1–23, hier S. 4; vgl. auch Nünning/Sommer: Diegetic and Mimetic Narrativity (2008), S. 335. 162 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 44. 163 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 44.

3.2 Was ist Erzählen? | 75

vnaußsprechlicher Beständigkeit«¹⁶⁴ dar. Damit weist schon der Paratext des Dramas auf ein überzeitliches Sinnpotenzial hin, was später auch programmatisch im Spieltext beim Auftritt der »Ewigkeit«¹⁶⁵ als anthropomorphe Prologfigur umgesetzt wird.¹⁶⁶ Abgesehen davon, dass durch Catharinas letzten Lebenstag¹⁶⁷ ein repräsentierendes Moment erfüllt wird, wird auf die (re-)konstruierende Funktion aufmerksam gemacht, wonach das Drama aus einem schon länger bestehenden »entwurff«¹⁶⁸ entwickelt wurde. Diese Textstelle verweist zusätzlich auf seine Darstellungsqualität¹⁶⁹ und damit auf ein Narrem. Schließlich lässt sich durch die hier explizit vorgenommene Leseransprache eine »zeitliche Erlebnisqualität [. . .] bzw. die Qualität des Miterleben-Lassens des Erzählten«¹⁷⁰ als weiteres qualitatives Narrem nachweisen. (»DIe von mir begehrete Catharine trit nunmehr auff den Schauplatz vnsers Vaterlandes/ vnd stellet dir dar [. . .]«¹⁷¹) Die von Wolf so bezeichnete Gruppe der inhaltlichen Narreme¹⁷² lässt sich hauptsächlich anhand der repräsentierten Geschichte und teilweise auf der Diskursebene erschließen. Dazu gehören die Erwähnung von Zeit und Ort des Geschehens, die Ausrichtung auf antropomorphe Wesen respektive Figuren und die auf sie bezogene Handlung. Für eine ausgeprägtere Narrativität sind äußere Handlungen und Handlungsmotivationen den inneren vorzuziehen.¹⁷³ Lange Monologe oder monologhafte Passagen, wie z. B. die von Catharina erzählte Lebensgeschichte, die einen Großteil des dritten Akts einnimmt und als eine nachgeholte, sie selbst charakterisierende Exposition verstanden werden kann, zeichnen sich durch wenig äußere Handlung aus und sind als abgeschwächte Narreme zu betrachten. Natürlich kann innerhalb der Geschichte, die durch den Monolog erzählt wird, verstärkt äußere Handlung vermittelt werden. Dies ist auch bei Catharinas Lebensgeschichte der Fall. Zudem beteiligt sich in dieser Szene ein Gesandter mit Kommentaren

164 Andreas Gryphius: Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit (RUB 9751), Stuttgart: Reclam, 2006, S. 43. 165 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 13. 166 Die Ewigkeit hat eine über die Zeitlichkeit bestimmte beispielhafte Handlung gewählt (die Ereignisse des letzten Lebenstages der Catharina). Zumindest innerhalb des diegetischen Raumes sollte klar sein, dass die Ewigkeit sicher ein anderes Beispiel gewählt hätte, hätte sie gewusst, dass es eines gibt. Die Sinndimension ist hier innerhalb der Diegese garantiert. 167 Vgl. Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 11. 168 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 5. 169 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 44. 170 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 44. 171 Hervorhebungen von A. W. Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 49. 172 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 44. 173 Dies ist bemerkenswert, da ja gerade in Erzähltexten die Geschichten, bedingt durch den Erzähler, eher indirekt präsentiert werden und äußere Handlungen teilweise nur abschnittsweise in einem direkten – von Martínez/Scheffel so bezeichneten – dramatischen Modus dargestellt werden. Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 45 f.

76 | 3 Drama und Narratologie und Nachfragen und erhält damit in Ansätzen auf einer übergeordneten diegetischen Ebene eine äußere Handlung aufrecht.¹⁷⁴ Die Erwähnung von Zeit und Ort befindet sich in Bezug auf die Diskursebene am Ende des Personenverzeichnisses: »Das Trauerspiel beginnet vor Auffgang der Sonnen/ vnd endet sich mit dem Tage. Der Schauplatz ist die Königliche Hoffhaltung zu Schiras in Persen. Die gantze Handelung bildet ab den letzten Lebens-Tag der Königin CATHARINE.«¹⁷⁵ Aber auch auf Handlungsebene finden sich Hinweise, wenn beispielsweise Demetrius mit seinem Redebeitrag »die feste Burg«¹⁷⁶ auf den Schauplatz verweist, wenn über den Nebentext allgemein das Bühnenbild und damit der Ort beschrieben wird (»Der SchauPlatz verendert sich in einen Lustgarten.«¹⁷⁷) oder wenn Salome auf den Sonnenaufgang verweist (»Die braune Nacht vergeht [. . .] Das grosse Licht der Weltt die edle Sonn erwacht.«¹⁷⁸). Unter syntaktischen Narremen werden vor allem auf der Handlungs- und auf der diegetischen Ebene Selektionen, Verknüpfungen und Präsentationen verstanden, die über die Diskursebene realisiert sind.¹⁷⁹ Sie garantieren »die Qualität der Sinnhaftigkeit und die Erlebnisqualität des Erzählmaterials«.¹⁸⁰ Neben Chronologie, Teleologie und Kausalität gehört eine thematische Einheitsstiftung und eine darauf möglicherweise aufbauende Erzählwürdigkeit zu den syntaktischen Narremen.¹⁸¹ So soll die zeitliche Abfolge von Ereignissen und Handlungsteilen sowie ihre sequenzielle Anordnung sinnvoll erklärbar sein. Dass die Handlung des Stückes eine Chronologie und gleichzeitig auch Kausalität aufweist, kann ihr grober Verlauf belegen. Catharina wird von Chach Abas gefangengehalten. Dieser wiederum wird von einem Gesandten überredet, sie freizulassen. Chach Abas überdenkt allerdings seinen Entschluss und stellt Catharina vor die Wahl, seine Gemahlin oder getötet zu werden. Catharina entscheidet sich für letzteres und wird folglich zu Tode gefoltert. Daneben ist das Geschehen teleologisch gestaltet und motiviert. Die Ewigkeit verweist in ihrem Prolog bereits auf das Ende des Trauerspiels und das Schicksal Catharinas. Der Rezipient kann so die folgenden Ereignisse auf diesen Ausgang beziehen und entsprechend wahrnehmen. Darüber hinaus wird damit ein paradigmatischer Charakter der Ereignisse nochmals unterstrichen. Als willentliche Auswahl von erzählwürdigen Ereignissen deuten sie eine übergeordnete Sinnhaftigkeit an, was im Paratext und im Spieltext bestätigt wird.

174 Interessant ist dabei, dass hier gerade ein Gesandter durch seinen Botenbericht den langen Bericht Catharinas auslöst. V. a. Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 67–78. 175 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 10 f. 176 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 17. 177 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 17. 178 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 20. 179 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 46 f. 180 Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 47. 181 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 50.

3.2 Was ist Erzählen? | 77

Was steht euch an? Diß ist was Ewig euch ergetzen vnd verletzen kan. Schauplatz der Sterbligkeit/ Ade! ich werd auff meinen Thron entrücket Die werthe Fürstin folget mir die schon ein höher Reich erblicket/ Die in den Banden frey/ nicht jirdisch auff der Erd/ Die stritt vnd lid für Kirch vnd Thron vnd Herd. Ihr/ wo nach gleicher Ehr der hohe Sinn euch steht; Verlacht mit jhr/ was hir vergeht. Last so wie Sie das werthe Blut zu Pfand: Vnd lebt vnd sterbt getrost für Gott vnd Ehr vnd Land.¹⁸²

Das Beispiel Catharina von Georgien zeigt, dass das Drama die Bedingungen des Narrativen in hohem Maße erfüllt. Es finden sich Hinweise auf eine repräsentierte Diegese und ein Geschehen. Dieses besteht aus einer Sequenz mehrerer Ereignisse, die auf die dramatis personae als antropomorphe Figuren konzentriert sind. Daneben sind die Einzelhandlungen über mehr als ihre chronologische Abfolge miteinander verknüpft. Ich behaupte, dass hier das Schema des Narrativen evoziert wird. Es lässt sich aus dem Geschehen eine sinnvolle Geschichte bilden, die über den Dramentext und speziell den Spieltext als Erzählung repräsentiert ist. Der Dramentext kann von einem Leser unter kognitiven Prämissen sehr leicht als ein narrativer Text bzw. als die Präsentation einer Erzählung aufgefasst werden, die eine Geschichte repräsentiert, ebenso wie sich in ihm auch die Eigenschaften eines im strukturalistischen Sinne weiten narrativ-Begriffs bemerken lassen.

3.2.5 Zusammenfassung Erzählen werde ich nach dieser ersten Annäherung auf folgende Weise verstehen: Das Narrative/Erzählerische ist ein kognitives Schema, welches in einem kommunikativen Akt, dem Erzählen, zwischen Autor und Leser aktualisiert werden kann. Der Akt des Erzählens ist dabei ebenfalls als kognitives Schema zu begreifen bzw. dem Schema des Narrativen zuzuordnen. Dabei gehe ich davon aus, dass es die Vertrautheit des Produzenten und des Rezipienten mit diesen kognitiven Schemata dem Produzenten ermöglicht, zielgerichtet bestimmte narrative Stimuli innerhalb des literarischen Textes anzulegen. Diese Stimuli erleichtern es wiederum dem Rezipienten, die kognitiven Schemata des Narrativen bzw. Erzählerischen und des Erzählens aufzurufen und diese gegebenenfalls auch zu ergänzen. Mit dem Verständnis des Narrativen und des Erzählens als kognitives Schemata hängt meines Erachtens die Evaluierung des Grads an Narrativität eines narrativen Artefakts eng zusammen. Damit wird bestimmt, in welchem Maße ein Artefakt als ein

182 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 16 f.

78 | 3 Drama und Narratologie narratives begriffen wird. Die Narrativität ergibt sich aus der Anzahl und der Qualität der dabei eingesetzten Narreme. Die Narreme können aus den Gruppen der qualitativen (Sinndimension, Darstellungs- und Erlebnisqualität), inhaltlichen (Ereignisse, Zeit, Ort, Figuren usw.) und syntaktischen Narreme (Selektion, Verknüpfung, Präsentation, formale Einheitsbildung etwa durch Chronologie, Teleologie, Wiederholung usw.) stammen. Eine unentbehrliche Eigenschaft des Narrativen bleibt dabei die Repräsentation einer Geschichte (Zustandssequenz) über eine Erzählung im Akt des Erzählens. Mit dieser Verbindung strukturalistischer und kognitionsnarratologischer Ansätze und Modelle in Bezug auf die Eigenschaften des Erzählens und des Narrativen ist ein Fundament geschaffen, um das Drama als narrativen Text zu begreifen und die Narratologie grundsätzlich auf den Dramentext anzuwenden. Ich wende mich nun der genaueren Diskussion der wichtigsten Komponenten des Erzählens zu. Dazu gehören die analytisch unterscheidbaren Ebenen eines narrativen Textes, die von Schmid auch als narrative Ebenen bezeichnet werden (Geschehen, Geschichte, Erzählung und das Erzählen¹⁸³ bzw. die Präsentation der Erzählung bzw. das Was und das Wie einer Narration, Diegese und Exegesis), die Kategorie der Ereignisse und Zustände, das Kommunikationsmodell narrativer Texte, die Mittelbarkeit und Mediation sowie damit zusammenhängend der Erzähler bzw. die erzählende Instanz im Drama. Zuletzt werde ich die verschiedenen Textsegmente eines Dramas (Para-, Spieltext mit Neben- und Haupttext) und deren Funktionen genauer betrachten, bevor ich mich in Kapitel 4 speziell der Episierungstheorie zuwende.

3.3 Das Was und das Wie eines narrativen Textes In diesem Kapitel beschreibe ich die analytisch unterscheidbaren Bereiche eines narrativen Textes und diskutiere sie kurz. Dazu zählen die Grundeinteilung in das Was und das Wie eines narrativen Textes aber beispielsweise auch die von Schmid vorgenommene Unterscheidung in Geschehen, Geschichte, Erzählung und die Präsentation der Erzählung sowie in die erzählte Welt respektive Diegese und die Welt des Erzählers als sogenannte Exegesis. In der Terminologie und damit auch in der Einteilung der analytisch unterscheidbaren Ebenen eines narrativen Textes, oder kürzer: der narrativen Ebenen, herrscht kein Konsens. Vielmehr werden für dieselben Konzepte und Ebenen in verschiedenen Veröffentlichungen teilweise neue Bezeichnungen eingeführt oder miteinander vertauscht.¹⁸⁴ Aus diesem Grund möchte ich die Terminologie an dieser Stelle kritisch

183 Das Erzählen umgreift genau genommen alle narrativen Ebenen. Ich werde dies später noch begrifflich herausstellen. Vgl. auch Köppe/Kindt: Erzähltheorie (2014), S. 42. 184 Was Chatman ›story‹ nennt, nennt Bal ›fabula‹. Sie verwendet ›story‹ für das Konzept, das Genette ›récit‹ oder Schmid ›Erzählung‹ betiteln würde. Vgl. Bal: Narratology (2009); vgl. Schmid: Elemente

3.3 Das Was und das Wie eines narrativen Textes | 79

betrachten. Die allgemeine strukturalistische Unterscheidung in das Was und das Wie eines narrativen Textes stelle ich anhand von Seymour Chatmans Überlegungen vor. Mithilfe des idealgenetischen Modells von Wolf Schmid beschreibe ich die narrativen Ebenen des Geschehens, der Geschichte, der Erzählung und der Präsentation der Erzählung und stimme beide am Ende des Kapitels kritisch mit dem Modell von Matías Martínez und Michael Scheffel ab.

3.3.1 Das Was und das Wie Zur Differenzierung der analytischen Ebenen eines narrativen Textes existieren in der Narratologie im Allgemeinen dyadische, triadische und tetradische Modelle.¹⁸⁵ Dabei sind die Aufteilungen in drei oder vier analytische Bereiche als Differenzierungen des dyadischen Grundmodells zu verstehen, das zwischen story und discourse bzw. zwischen dem Inhalt eines narrativen Textes und der Art und Weise der Darstellung dieses Inhalts unterscheidet. Von Seymour Chatman wird dies so beschrieben: Structuralist theory argues that each narrative has two parts: a story (histoire), the content or chain of events (actions, happenings), plus what may be called the existents (characters, items of setting); and a discourse (discours), that is, the expression, the means by which the content is communicated. In simple terms, the story is the what in a narrative that is depicted, discourse is the how.¹⁸⁶

Diese Einteilung in das Was und das Wie eines narrativen Textes ist die gängige dyadische Einteilung, wie sie sich beispielsweise bei Martínez/Scheffel oder Lahn/Meister findet.¹⁸⁷ Martínez/Scheffel unterscheiden hier über die Begriffe ›Handlung‹ (›story‹) und ›Darstellung‹ (›discourse‹). Story umfasst nach Chatman sowohl die handlungsrelevanten Ereignisse und ihre Zusammenfügung als auch Objekte/Entitäten (Charaktere, Szenerie, Gegenstände usw.) aus dem gesamten Kontinuum der Diegese, in die die

der Narratologie (2008); vgl. Genette: Die Erzählung (1998), S. 197; vgl. Chatman: Story and Discourse (1980). 185 Dyadische Modelle sind beispielsweise: Tomaševskij: fabula, sjužet, Todorov: histoire, discour, Barthes: récit, narration, Chatman: story, discourse, Martínez/Scheffel: Handlung/dargestellte Welt, Darstellung. Als triadische Modelle können gelten: Genette: histoire, récit, narration, Bal: fabula, story, text, Stierle: Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte, Landa: acción, relato, discurso narrativo, ¯ story, text, narration. Tetradische Modelle sind etwa Schmids Einteilung Geschehen, Rimmôn-Qênan: Geschichte, Erzählung, Präsentation der Erzählung aber auch Stierle Unterscheidung, wenn er den Text der Geschichte noch einmal in einen Oberflächen- und einen Tiefendiskurs aufteilt. Vgl. dazu auch die Tabelle in Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 28. 186 Chatman begreift story im Sinne der histoire Todorovs und nicht im Sinne Tomaševskijs fabula. Chatman: Story and Discourse (1980), S. 19. 187 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 24 ff.; vgl. Lahn/Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse (2008), S. 14.

80 | 3 Drama und Narratologie Ereignissequenz eingebunden ist.¹⁸⁸ Mit discourse wird zum einen die Präsentation der story-Ebene über den plot durch Zeichen in einem Medium und gleichzeitig die Art und Weise dieser Präsentation bezeichnet. Chatman belässt seine Einteilung in Story and Discourse dyadisch,¹⁸⁹ zeigt aber anhand eines semiotischen Modells die Möglichkeit einer Aufteilung in vier Dimensionen.¹⁹⁰ Er unterscheidet story und discourse analog zu content und expression.¹⁹¹ Dabei stellt die story, verstanden als content (Signifikat, Bezeichnetes),¹⁹² das dar, auf das mit dem discourse, verstanden als expression (Signifikant, Bezeichnendes), verwiesen wird. Aus dieser Perspektive sind story und discourse untrennbar im Sinne des strukturalistischen Zeichenmodells miteinander verbunden. Discourse und story fächert Chatman dann jeweils in form und substance auf.¹⁹³ Die form der story bezeichnet die einzelnen Strukturkomponenten, aus der die story aufgebaut ist. Dies sind analytische Kategorien wie Ereignis, Entität, Verknüpfung usw.¹⁹⁴ Die substance der story sind die konkret dargestellten Ereignisse, Entitäten und Verknüpfungen, auf die ein Produzent mit der narrativen Zeichenstruktur verweist.¹⁹⁵

188 Die fabula Tomaševskijs umfasst nur die Geschichte und nicht zusätzlich Charaktere und Szenerie. Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 25. 189 Chatman schränkt seinen Untersuchungsbereich jedoch wieder ein. »This book is essentially about the form of narrative rather than its substance, but substance will be discussed where it seems to facilitate an understanding of narrative form.« Chatman: Story and Discourse (1980), S. 25. 190 Vgl. Chatman: Story and Discourse (1980), S. 26. 191 Chatman bezieht sich dabei auf eine Verfeinerung von Ferdinand de Saussures Zeichenmodell durch Louis Hjelmslev, der in content, expression, substance und form unterscheidet. 192 Auch Genette spricht im Zusammenhang mit der histoire von ›Signifikat‹. Vgl. Genette: Die Erzählung (1998), S. 16. 193 Vgl. dazu auch Werner Wolf: Narratology and Media(lity). The Transmedial Expansion of a Literary Discipline and Possible Consequences, in: Current Trends in Narratology, hrsg. v. Greta Olson, mit einem Vorw. v. Monika Fludernik/Greta Olson (Narratologia 27), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2011, S. 145–180, hier S. 166 f.; für eine Diskussion über Verwendung und Möglichkeiten des deutlich differenzierteren aber auch komplexeren Text-Kommunikationsmodells Umberto Ecos in Kontrast zur Übernahme des Modells von Hjelmslev bei Chatman und indirekt bei Schmid zur Unterscheidung narrativer Ebenen, sei auf John Piers Aufsatz On the Semiotic Parameters of Narrative verwiesen. Vgl. John Pier: On the Semiotic Parameters of Narrative. A Critique of Story and Discourse, in: What Is Narratology? Questions and Answers. Regarding the Status of a Theory, hrsg. v. Tom Kindt/ Hans-Harald Müller (Narratologia 1), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2003, S. 73–97, hier S. 85–93. 194 »Narrative story components: events, existents, and their connections.« Chatman: Story and Discourse (1980), S. 24. 195 »Representations of objects & actions in real & imagined worlds that can be imitated in a narrative medium, as filtered through the codes of the author’s society« Chatman: Story and Discourse (1980), S. 24.

3.3 Das Was und das Wie eines narrativen Textes | 81

Die form des discourse ist die Struktur oder der Aufbau der Repräsentation des contents.¹⁹⁶ Damit ist beispielsweise seine Aufteilung in extra- und intradiegetische Teile, die homo- oder heterodiegetische Stellung einer erzählenden Instanz oder ein analytischer im Gegensatz zu einem synthetischen Aufbau einer Handlung gemeint.¹⁹⁷ Die substance des discourse bezeichnet dessen Materialität, also dessen Manifestation in einem bestimmten Medium und wird durch die mediale Beschaffenheit der Zeichen und Relationen gebildet, die im jeweils verwendeten Medium zur Verfügung stehen.¹⁹⁸ Der Autor eines Dramentextes kann zum Beispiel nicht direkt auf auditive oder visuelle Zeichenträger zurückgreifen. Die substance des discourse eines Dramentextes ist bestimmt durch sprachliche Zeichenträger, die durch Schrift fixiert sind (Schriftsprache erhält durch den typographischen Aspekt durchaus eine visuelle Komponente). Der Autor kann den Schuss der Mordwaffe oder die Erdolchung in Emilia Galotti nicht tatsächlich hör- oder sichtbar machen, was etwa bei einer Aufführung im Theater oder im Film möglich ist. Er kann aber auf die korrespondierenden Sinneseindrücke verweisen und so die plurimediale Darstellung in einer Aufführung ›imitieren‹.

3.3.2 Narrative und diegetische Ebenen Ein Vorschlag der Aufteilung in verschiedene narrative Ebenen findet sich bei Schmid.¹⁹⁹ Er unterteilt in Geschehen, Geschichte, Erzählung und Präsentation der Erzählung.²⁰⁰ Die Grenzziehung über das dyadische System zwischen Was und Wie bleibt auch bei ihm erhalten.

196 »Narrative discourse (the structure of narrative transmission) consisting of elements shared by narratives in any medium whatsoever.« Chatman: Story and Discourse (1980), S. 24. 197 Vgl. Wolf: Narratology and Media(lity) (2011), S. 167. 198 »Media insofar as they can communicate stories. (Some media are semiotic systems in their own right.)« Chatman: Story and Discourse (1980), S. 24. 199 Das Modell hat Schmid bereits 1982 in seinem Aufsatz Die narrativen Ebenen ›Geschehen‹, ›Geschichte‹, ›Erzählung‹ und ›Präsentation der Erzählung‹ vorgestellt. Vgl. Wolf Schmid: Die narrativen Ebenen ›Geschehen‹, ›Geschichte‹, ›Erzählung‹ und ›Präsentation der Erzählung‹, in: Wiener Slawistischer Almanach 9 (1982), S. 83–110, hier S. 94–98; Pier sieht in Schmids Modell die bessere Integration bzw. Umsetzung des Zeichenmodells von Hjelmslev für die narratologische Ebenenunterscheidung. Allerdings wird solch ein Bezug von Schmid nicht explizit genannt. Vgl. Pier: On the Semiotic Parameters of Narrative (2003), S. 85, 92 f.; Schmid integriert zudem zwei Sichtweisen auf die vier Ebenen. Einmal eine ›idealgenetische‹ Sichtweise, die von der Produktionsseite eines narrativen Werks ausgeht und ein andermal eine ›semiotische‹ Sichtweise, die von der Rezeptionsseite ausgeht. Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 281. 200 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 251.

82 | 3 Drama und Narratologie Nach Schmid ergeben sich die verschiedenen Ebenen von Produktionsseite her betrachtet auseinander »idealgenetisch«²⁰¹ durch Transformationsprozesse, Auswahlverfahren und Perspektivierungen. Sie können jedoch auch umgekehrt von der Rezipientenseite her als semiotischer Prozess gelesen werden,²⁰² bei dem der Rezipient ausgehend von der Ebene der ›Präsentation der Erzählung‹, also über den von ihm wahrgenommenen Erzähltext, die Geschichte und die Erzählgeschichte²⁰³ sowie Sinn und Bedeutung des narrativen Artefakts konstruiert. 3.3.2.1 Narrative Ebenen Als Geschehen bezeichnet Schmid die Gesamtheit aller Ereignisse, Objekte, Figuren, Verknüpfungen und Qualitäten, auf die die Repräsentation direkt und indirekt verweisen kann. Es stellt damit ein in den Dimensionen Zeit und Raum sowie in seiner Detailliertheit unendlich erweiterbares Kontinuum dar. Die Ebene des Geschehens enthält damit die gesamte Diegese in all ihren Details sowie alle Ereignisse, auf die in der Repräsentation (Erzählung und Präsentation der Erzählung) nur ausschnittsweise oder implizit Bezug genommen wird bzw. werden kann. Schmid rückt dies in die Nähe des Produktionsschritts der rhetorischen inventio.²⁰⁴ Diese ›Erfindung‹ des Geschehens mit all seinen möglichen Detaillierungen stelle einen ästhetisch-schöpferischen Akt des Produzenten sowie dessen Resultat dar.²⁰⁵ Ich ziehe zur Veranschaulichung der Ebene des Geschehens bei Schmid eine Stelle aus Goethes Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773) heran. Die Zeichenstruktur »Götz: Wo meine Knechte bleiben. Auf und ab muss ich gehen, sonst übermannt

201 Schmid beschreibt es auf diese Weise: »Idealgenetische Modelle bilden [. . .] nicht den realen Schaffens- oder Rezeptionsakt ab, sondern simulieren mit Hilfe zeitlicher Metaphern die ideale, nichtzeitliche Genesis des Erzählwerks mit dem Ziel, die das Erzählen leitenden Verfahren zu isolieren und in ihren Beziehungen zu beleuchten.« Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 230. 202 Schmid schreibt dazu: »Zum Schluss [bezogen auf die Gliederung von Schmids Monographie; A.W.] betrachten wir das Modell der narrativen Ebenen von der anderen Seite, d. h. wir gehen vom Erzähltext aus und fragen nach der Konstruktion der erzählten Geschichte und der Erzählgeschichte durch den Leser. Eine solche Perspektive führt zu einem semiotischen Modell, das die Korrelationen zwischen Signifikanten und Signifikaten im Prozess der Rezeption abbildet.« Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 285; vgl. dazu auch Pier: On the Semiotic Parameters of Narrative (2003), S. 84. 203 Unter ›Erzählgeschichte‹ sei die Geschichte des Erzählers bzw. seines erzählenden Aktes verstanden. Vgl. Kapitel 3.3.2.2 Seite 88. 204 Der Vergleich mit der rhetorischen inventio ist meines Erachtens nur teilweise zutreffend. Bei dieser werden aus allen möglichen Argumentationen bereits einige bestimmte ausgewählt, die in der Rede verwendet werden könnten. Diese Auswahl baut auf der allgemeinen Welterfahrung und dem allgemeinen Wissen des Redeproduzenten auf. Derartige Vergleiche der Produktionsstufen bzw. der Analyseebenen narrativer Texte mit rhetorischen Begriffen zieht bereits Todorov in seiner Monographie Grammaire du »Décaméron«. Er führt dort unter anderem auch den Begriff ›Narratologie‹ ein. Vgl. Todorov: Grammaire du »Décaméron« (1969). 205 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 252.

3.3 Das Was und das Wie eines narrativen Textes | 83

mich der Schlaf.«²⁰⁶ in der Szene »Herberge im Wald« des ersten Akts Götz von Berlichingen verweist explizit auf die Figuren Knechte,²⁰⁷ auf das Aussagesubjekt Götz, auf das Ereignis Auf-und-Ab-Gehen, auf den Zustand des Aussagesubjekts große Müdigkeit und auf eine Verknüpfung des Auf-und-Ab-Gehens mit der Müdigkeit. Sie impliziert unter anderem die Beziehung zwischen Götz und seinen Knechten als anderen Figuren im Kontinuum des Geschehens, des Weiteren dass ein Platz bzw. ein Raum vorhanden sein muss, in dem Götz auf und ab gehen kann,²⁰⁸ dass es noch andere Räume gibt, in denen sich die Knechte aufhalten, dass diese Knechte gerade anderen Tätigkeiten nachgehen, dass Götz ungeduldig ist,²⁰⁹ was übrigens auch darauf hindeutet, dass es sich um kein gemächliches Schreiten handelt usw. Die Zeichenstruktur impliziert zudem, dass Götz auch eine Vorgeschichte hat, dass er und seine Knechte geboren wurden, dass es Sauerstoff im Raum gibt und vieles andere. Schmid kommt es genau auf ein solches bis ins letzte Detail vom Produzenten erschaffenes und durch den Rezipienten rekonstruierbares Kontinuum des beim idealgenetischen Schaffensprozess entwickelten Geschehens an. Im Produktionsprozess des Geschehens muss all dies selbstverständlich nicht bewusst bedacht worden sein. Im Gegenteil, es kann vieles als gegeben bzw. leicht ergänzbar vorausgesetzt werden. Es muss in der Darstellung nicht explizit darauf hingewiesen werden, dass es sich beim Aussagesubjekt um einen Menschen handelt, dass die Welt in der er lebt, Sauerstoff besitzt, wann und wo er geboren wurde und wer genau seine Eltern sind. Für die Entwicklung der Geschichte und ihrer Darstellung in der Erzählung stünden diese Informationen aber zur Verfügung und sie sind, von der Rezeptionsseite aus betrachtet (außer womöglich bei science-fiction, fantasy oder phantastischen Stoffen), aus der eigenen Erfahrungswelt oder, wie im Fall von Götz von Berlichingen, aus dem Wissen über die Historie und die Kontexte am Ende des Spätmittelalters bzw. am Beginn der Frühen Neuzeit ableitbar. Dass solche Informationen nicht immer explizit bereitgestellt werden, deutet erstens auf zu füllende unbestimmte Leerstellen und in jedem Fall auf inferierbare Informationen hin. Es deutet zweitens darauf hin, dass die aktuale Welt des Produzenten und des Rezipienten sowie deren Weltwissen grundsätzlich vorausgesetzt wird und drittens schließlich darauf, dass hin und wieder auf bereits etablierte und komplexe fiktive Welten zurückgegriffen wird. Um zum Beispiel Faust II adäquat zu verstehen

206 Johann Wolfgang Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel, erläut. v. Volker Neuhaus (RUB 71), Stuttgart: Reclam, 2006, S. 7. 207 Aus expliziten Informationen der vorhergehenden Szene »Schwarzenberg in Franken. Herberge.« und aus einem späteren Hinweis in einem Redebeitrag Götz’ wissen wir, dass es sich um die zwei »Reuter« bzw. Kundschafter der ersten Szene handelt. Wir wissen also genau genommen auch, in welchem Gebiet sie sich aufhalten. 208 Götz befindet sich laut Nebentext vor einer Herberge. 209 Dies wird impliziert durch die Stellung zweier Ereignisse: Der Hinweis des Wartens auf die Knechte wird parallelisiert mit dem Auf-und-ab-Gehen.

84 | 3 Drama und Narratologie sollte man Faust I kennen.²¹⁰ Diese Informationen können aber viertens auch irrelevant für die Geschichte sein. Trotz der ›Darstellungslücken‹ wird weder der zeitgenössische noch der heutige Leser beispielsweise einen expliziten Hinweis auf die Beschaffenheit des Bodens erwarten, auf dem Götz sich bewegt. Er wird in der Diegese keine Kaffeemaschine oder gar einen Verweis in der Erzählung erwarten, wie viel Kaffee Götz schon getrunken hat, um sich wach zu halten, und eben solches wohl auch nicht inferieren, ebenso wie der Produzent etwas Derartiges nicht für sein Kontinuum der Götz-Diegese in Erwägung ziehen wird. Aus literaturanalytischer Sicht muss daher vorerst angenommen werden, dass alles, was für das Verständnis von Belang ist, auch eingeschrieben ist und/oder mit der Hinzunahme von Kontexten, innerhalb derer der Text entstanden ist, ableitbar ist. So verhält es sich generell bei Dramentexten: Nur weil keine Hinweise auf Beleuchtung, Kostüme oder ähnliches enthalten sind, bedeutet dies nicht, dass der Dramentext defizitär ist, die Bühne dunkel ist oder Schauspieler und Figuren nackt. Dies gilt selbst dann, wenn in fiktiven Welten mit realweltlichen Gesetzen gebrochen wird. Selbstverständlich kann hier differenziert werden. Für fiktive Welten, die zum Beispiel im Rahmen von Literatur-, Fernseh- oder Filmserien zum Teil jahrelang ausgestaltet wurden (seien dies nun Science Fiction- oder Fantasy-Reihen, Krimireihen oder Gesamtwerke eines Künstlers) ist nicht nur eine allgemeine Welterfahrung des Rezipienten nötig oder eine generelle Erfahrung mit fiktiven Welten hilfreich. Um bestimmte, im Text nicht hinreichend erklärte Gegenstände, Verhaltensweisen oder nicht explizit gelieferte Referenzen aufzufüllen – aber auch um die jeweilige Semiotik und Symbolik nachzuvollziehen–, benötigt der Rezipient auch die Erfahrung und das angesammelte Wissen um das jeweilige fiktive und/oder künstlerische Kontinuum oder auch über die sich aus verschiedenen medialen Umsetzungen entwickelte und etablierte storyworld.²¹¹

210 Grundsätzlich ›verstehen‹ lässt sich Faust II sicherlich. Ob sich der Text jedoch angemessen verstehen lässt, wenn man Referenzen auf Faust I aufgrund fehlender Kenntnis desselben nicht erkennt, ist zweifelhaft. 211 »Popular culture has accustomed us to narratives that refuse to leave the stage, returning repeatedly for another round of applause and for another pot of gold. For examples, think of the many installments of the novel-based franchises of The Lord of the Rings and A Song of Ice and Fire, the movie-based franchises of Star Wars and Indiana Jones, the comics-based franchises of Batman and Spiderman, or the video game-based franchises of Tomb Raider and Warcraft. Each of the sequels, prequels, adaptions, transpositions, or modifications that make up the body of these franchises spins a story that provides instant immersion, because the recipient is spared the cognitive effort of building a world and its inhabitants from a largely blank state. The world is already in place when the recipient takes his or her first steps in it, once again.« Andererseits mögen in letzter Zeit bestimmte etablierte fiktive Welten (beispielsweise Star Trek aber auch Star Wars) deswegen einem Relaunch unterzogen werden und, dem jeweiligen Zeitgeist angepasst, abermals von Vorne beginnen, damit einer neuen Zielgruppe oder Generation der Einstieg und vor allem die Kohärenzbildung sowie das Verstehen der jeweiligen Narration und damit die Immersion erleichtert wird. Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon: Storyworlds

3.3 Das Was und das Wie eines narrativen Textes | 85

Schmids Konzeption des Geschehens geht über die Konzeption von form und substance der story bei Chatman hinaus. Geschehen ist bei Schmid das ›Rohmaterial‹ der Geschichte und enthält alle Ereignisse, Entitäten und Verknüpfungen sowie generell die gesamte Diegese unabhängig von einer tatsächlichen Referenzierung und Qualifizierung der Objekte in der Narration. Seine narrative Ebene der Geschichte stellt entsprechend das Resultat eines Auswahlvorgangs aus dem Kontinuum des Geschehens dar. Nicht alles, worauf in der erzählten Welt verwiesen werden kann, ist auch referenziert. Nach Schmid finden dabei zwei Selektionsprozesse statt. Es werden bestimmte »Geschehensmomente[] (Situationen, Personen und Handlungen)«²¹² sowie »bestimmte[] Qualitäten aus der unendlichen Menge der den gewählten Momenten im Geschehen zuschreibbaren Eigenschaften«²¹³ ausgesucht. Zur Geschichte gehört das, was im Text genannt und denotiert wird, und dies auch nur in der Form, in der es qualifiziert wird. Dabei nimmt der Produzent erste Perspektivierungen vor. Schmid zählt hier perzeptive, ideologische, räumliche, zeitliche und bereits sprachliche Perspektivierungen auf.²¹⁴ Im Fall des Götz-Beispiels wählt der Produzent aus einer perzeptiven Perspektivierung heraus die Figur Götz zusammen mit einem raumzeitlichen Moment, in dem diese sich gerade befindet (ungeduldig wartend vor der Herberge) und worin auch die ausgewählten Geschehensmomente bzw. Ereignisse situiert sind (Auf-und-Ab-Gehen, das Treffen mit dem Klosterbruder, etc.). An späterer Stelle der Szene wird im Nebenund im Haupttext der Ort kenntlich gemacht: »Herberge im Wald. Götz vor der Türe unter der Linde.«²¹⁵ Über Götz’ Redebeitrag »Ehrwürdiger Vater, guten Abend! woher so spät?«²¹⁶ erhalten wir auch eine zeitliche Situierung. Sprachlich perspektiviert ist die Geschichte insofern, als nicht nur von Götz, sondern auch von allen anderen Figuren ein eher gehobenes Deutsch – speziell ein ›Lutherdeutsch‹– gesprochen wird.²¹⁷ Eine

across Media. Introduction, in: Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology, hrsg. v. Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon (Frontiers of Narrative), Lincoln und London: University of Nebraska Press, 2014, S. 1–21, hier S. 1; zum Begriff der storyworld siehe auch Marie-Laure Ryan: Story/Worlds/Media. Tuning the Instruments of a Media-Conscious Narratology, in: Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology, hrsg. v. Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon (Frontiers of Narrative), Lincoln und London: University of Nebraska Press, 2014, S. 25–49; vgl. allgemein zum Komplex der transmedialen Narratologie und zu Transmedia Henry Jenkins: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide, Updated and with a New Afterword, New York und London: New York University Press, 2006; Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon (Hrsg.): Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology (Frontiers of Narrative), Lincoln und London: University of Nebraska Press, 2014; Thon: Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture (2016). 212 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 252. 213 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 252. 214 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 279. 215 Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 7. 216 Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 9. 217 Dies kann aber auch der Effekt einer sprachlichen Perspektivierung auf der Darstellungsebene sein, da die Figuren sich wahrscheinlich der Zeit und dem Umfeld angemessen in verschiedenen

86 | 3 Drama und Narratologie ideologische Perspektivierung lässt sich darin erkennen, dass Götz zuerst und trotz seiner offensichtlichen Aufregung wegen des Verbleibs seiner Kundschafter sowohl seinem Knecht Georg gegenüber wohlgesonnen bleibt²¹⁸ als auch dem umherziehenden Klosterbruder ein Gastgeber ist.²¹⁹ Es wurde also ein Geschehen mit besonderem Fokus auf Götz aus dem Kontinuum des gesamten Geschehens ausgewählt, dass diesen im positiven Licht zeigt, bevor im weiteren Verlauf eine Gegenpartei zu Götz, der Bischof von Bamberg, eingeführt wird. Die Geschichte vergleicht Schmid mit dem Resultat der rhetorischen dispositio.²²⁰ Die Geschehensmomente bzw. Ereignisse, aus denen sich die Geschichte unter anderem zusammensetzt, stehen bei Schmid in einer ordo naturalis.²²¹ Eine ordo artificialis nehmen die Geschehensmomente nach Schmid in der Erzählung an. Die Kategorie bzw. die Ebene Erzählung ist dabei nicht mit dem Erzähltext selbst zu verwechseln. Sie ist vielmehr die ästhetisch-künstlerische Umsetzung der Geschichte, unabhängig von ihrer konkreten Darstellung. Die Erzählung ist »das Resultat der Komposition«.²²² Zur Komposition zählt Schmid die Verfahren Linearisierung und Permutation.²²³ Die Linearisierung bringt gleichzeitige Ereignisse in eine lineare Folge – was allerdings nicht immer der Fall sein muss und sehr von den Möglichkeiten des eingesetzten Mediums abhängt – und die Ereignissequenz der Geschichte kann

Dialekten und Soziolekten unterhalten. Je nachdem, wo der Rezipient dies zuordnet – auf der idealgenetischen Ebene der Geschichte oder der der Erzählung –, ist das Lutherdeutsch entweder Teil der zeitgenössischen Götz-Welt oder es stellt eine Perspektivierung dar, die von Kontexten des Autors herrührt und es dem Rezipienten offenlässt, sich die Gespräche auf diegetischer Ebene beispielsweise mit verschiedenen Soziolekten vorzustellen. 218 Vgl. Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 9. 219 Vgl. Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 9–13. 220 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 252 f. 221 Hier stellt sich der Vergleich mit der dispositio als unpassend heraus. Denn bei der dispositio kann das aus der inventio zur Verfügung stehende Material abermals einer Selektion unterworfen werden. Wichtiger noch als die Selektion ist allerdings, dass die ausgewählten Elemente für die Ausarbeitung in der elocutio in eine bestimmte Ordnung gebracht werden. Diese muss aber nicht der ordo naturalis entsprechen. Sie umfasst auch andere Ordnungen und Gliederungen, wie die ordo artificialis, die Schmid erst der Ebene der Erzählung zuordnet. Schmid will offenbar mit seiner Zuordnung der ordo artificialis auf den ästhetischen und künstlerischen Moment hinweisen, den die Gestaltung der Erzählung darstellt. 222 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 253. 223 Hier tritt Schmids ausschließlicher Bezug auf Erzähltexte deutlich hervor, denn etwa im Film oder im Theater können simultan stattfindende Ereignisse durchaus auch in dieser Form dargestellt sein und müssen nicht notwendig linearisiert werden. Die Möglichkeiten, Ereignisse und Entitäten im und über das Medium zu ordnen, werden von diesem mitbestimmt. In Texten ist die Darstellung der Gleichzeitigkeit allerdings nur schwer oder, nimmt man den Rezeptionsprozess hinzu, gar nicht zu erreichen. Wenngleich es dafür die Möglichkeit gibt Haupt- und Nebentext oder verschiedene Handlungsstränge in Spalten nebeneinander zu setzen.

3.3 Das Was und das Wie eines narrativen Textes | 87

umgestellt werden.²²⁴ Der Autor kann dabei ideologische, zeitliche und räumliche Perspektivierungen einsetzen.²²⁵ Die Erzählung ist das Resultat von bestimmten Entscheidungen des Autors darüber, welche Ereignisse und Qualitäten der Geschichte explizit oder implizit angegeben werden und in welcher Reihenfolge dies getan wird bzw. auf welchem Wege sie in Bezug auf das Medium vermittelt werden. Im Medium Film oder auch im Medium Theater beispielsweise können Entscheidungen darüber getroffen werden, was visuell oder auditiv vermittelt werden soll. In literarischen Texten wird hauptsächlich Schriftsprache verwendet, aber auch hier können unterschiedliche Wege eingeschlagen werden: Es kann beschrieben werden, dass die Hauptfigur einen Schuss aus dem Nebenzimmer hört oder dass sie ihn durch ein Fenster sieht, dass ihr dies nur von einer anderen Figur berichtet wird oder indem dort einfach ›Bumm!‹ steht. Die Handlungen und Geschehnisse können vom Erzähler beschrieben und erzählt oder sie können explizit oder implizit über Figurenreden bereitgestellt werden – in jedem Fall hat der Rezipient den Schuss ›gehört‹ und die Handlungen und Geschehnisse ›gesehen‹. Im Götz-Beispiel ist eine Entscheidung getroffen, die die höchstwahrscheinlich gleichzeitigen, aber an anderen Orten stattfindenden Ereignisse des Essens auf Götz’ Burg und im bischöflichen Palast in einer bestimmten Ordnung nacheinander setzen. Am Ende der Szene »Jagsthausen. Götzens Burg.« verweist Götz’ Sohn Carl mit den Worten »Zu Tisch Papa.«²²⁶ auf das bereitete Mahl, während die anschließende Szene »Im bischöflichen Palast zu Bamberg. Der Speisesaal.« über den Nebentext im Titel der Szene und mit »Bischof von Bamberg, Abt von Fulda [. . .], an Tafel, der Nachtisch und die großen Pokale werden aufgetragen.«²²⁷ auf ein herrschaftliches Essen verweist. Hier werden verschiedene Ereignissequenzen in unterschiedlichen Räumen (Götz’ Burg/bischöflicher Palast) mithilfe des Themas Essen in einen Zusammenhang gestellt.²²⁸ Die vierte narrative Ebene, die Präsentation der Erzählung, ist als einzige »der empirischen Beobachtung zugänglich«.²²⁹ Potentiell können aus ihr all die anderen Ebenen abstrahiert werden. Die Präsentation der Erzählung wird mit einer empirisch fassbaren Struktur an Zeichenträgern, also beispielsweise über einen gedruckten Text, transportiert. Gleichzeitig stellt sie die Erzählerrede dar und zeigt die Erzählung an.

224 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 253. 225 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 279. 226 Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 25. 227 Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 25. 228 Mit der Schematheorie ließe sich dies so beschreiben: Am Ende der Götz-Szene wird das Schema gemeinsames Mahl auf einer Burg evoziert und über die Szenengrenzen hinweg mit weiteren Stimuli aufrechterhalten. Gleichzeitig werden aber zwei konkrete Ausgestaltungen des Schemas gemeinsames Mahl miteinander kontrastiert. 229 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 253.

88 | 3 Drama und Narratologie Perspektivierung findet hier ideologisch und sprachlich statt.²³⁰ Schmid vergleicht diese Ebene seines idealgenetischen Modells mit dem Resultat der elocutio. Bei der Verbalisierung im Erzähltext spielen der verwendete Sprachstil sowie Sozio- oder Ideolekte auf der Präsentationsebene eine Rolle. Nehmen wir für einen Moment an, dass der Spieltext des Beispiels Götz von Berlichingen als Ganzes analog zu einem Erzähltext eine Erzählerrede darstellt. Der Nebentext, der die Situationen, Handlungen und paralinguistischen Merkmale der Figuren auf der diegetischen Ebene beschreibt, bliebe in diesem Fall pragmatisch und wäre neutral und elliptisch gehalten. Der Sprachstil unterschiede sich zudem, soweit dies beurteilt werden kann, nicht von dem, der für die Redebeiträge der Figuren bzw. den Haupttext verwendet wird. Dass dieser Erzähler des Dramas keinen differenzierten Stil für die Figurenreden gebraucht, könnte auf verschiedene Weise ausgelegt werden. Der Erzähler könnte beispielsweise den Rezipienten nicht überfordern wollen, es könnte ihm nicht auf geschichtliche Adäquatheit oder Realitätsnähe ankommen, es könnte schlicht der Fall sein, dass er es nicht besser weiß oder in Götz ist das verwendete Lutherdeutsch tatsächlich eine Stilentscheidung. 3.3.2.2 Diegetische Ebenen Schmid trifft noch eine weitere Differenzierung, die vom Autor gestaltet bzw. vom Rezipienten semiotisch unterschieden werden kann. In der Präsentation der Erzählung können sich »Wertungen, Kommentare, Generalisierungen, Reflexionen und Autothematisierungen«²³¹ finden, die eine von Schmid so bezeichnete Exegesis²³² gestalten. Die Präsentation der Erzählung stellt gleichzeitig die durch sie präsentierte Erzählung und die Erzählerrede dar. Sie gestaltet damit mindestens implizit die Welt der Exegesis – also die Welt, aus der heraus erzählt wird – und charakterisiert die erzählende Instanz, die sie äußert. Schmid unterscheidet analog zu seiner Differenzierung in Geschehen und Geschichte in ein Erzählgeschehen und eine Erzählgeschichte bei der Exegesis.²³³ Der Begriff ›Erzählgeschichte‹ wird verwendet, wenn die Exegesis besonders ›detailreich‹ gestaltet ist. Sind Kommentare, Wertungen usw. und damit explizite Verweise auf den Erzählakt hingegen selten oder gar nicht vorhanden, »müssen [wir] aber grundsätzlich ein (natürlich auch fiktives) Erzählgeschehen ansetzen, ohne das es keine Erzählgeschichte gäbe«.²³⁴ Für den Leser wäre in diesem Fall eine Erzählgeschichte

230 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 253. 231 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 280. 232 Schmid verwendet ›Diegesis‹ anstatt ›Diegese‹ als Bezeichnung für die erzählte Welt. So kann er den Begriff besser dem der ›Exegesis‹ (Welt des Erzählens) als Kontrast zur Seite stellen. Die naheliegende Bildung ›Exegese‹ verwendet Schmid wohl deswegen nicht, da dies leichter zu Verwechslungen führen könnte. 233 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 280. 234 Gleichwohl es etwas seltsam anmutet, dass Schmid hier die Unterscheidung zwischen Geschehen und Geschichte vom Detailgrad abhängig macht. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 280.

3.3 Das Was und das Wie eines narrativen Textes | 89

und mit ihr ein (figürlicher) Erzähler auf äußerster Präsentationsebene nur implizit rekonstruierbar.²³⁵ Auch hier zeigt sich Schmids Verständnis des Geschehens, mit dem er ein Kontinuum von Entitäten und Ereignissen bezeichnet. Im Götz-Beispiel könnte anhand des oben beschriebenen, neutral gehaltenen und in einem geradlinigen Stil verfassten Dramentext der Erzähler als eine neutrale Beobachterfigur inferiert werden, die die Ereignisse und Dialoge der Figuren detailliert beschreibt und abbildet.

3.3.3 Kritik an der Terminologie Mithilfe der von Martínez/Scheffel vorgeschlagenen Terminologie möchte ich an dieser Stelle Kritik an den eben vorgestellten Begrifflichkeiten üben und eine alternative Terminologie vorschlagen. Zur Erinnerung: Chatman macht die strukturalistische Einteilung in das Was und das Wie anhand eines semiotischen Modells klar. Damit soll verständlich werden, dass die Kategorie des Inhalts (content) eines narrativen Textes nur analytisch von dessen Darstellung (expression) getrennt werden kann. Chatman teilt die story nochmals auf in deren form (die analytischen Kategorien Ereignis, Entität und Verknüpfung) und deren substance (die konkreten referenzierten Ereignisse, Entitäten und Verknüpfungen). Auch den discourse teilt er ein in dessen form (die analytischen Kategorien wie homo- und heterodiegetisch, Erzähler, Erzählperspektive, Handlungsaufbau der Erzählung usw.) und desen substance (konkreten Umsetzungen der Kategorien im jeweiligen Vermittlungsmedium). Chatman differenziert also in die jeweils analysierbare Struktur auf Inhalts- und Darstellungsseite und in die konkreten Inhalte und Manifestationen. Der Begriff ›story‹ umfasst bei Chatman im engeren Sinne eine Ereignissequenz aus Handlungen und Geschehnissen. In einem weiten Sinne werden noch Figuren und Entitäten der erzählten Welt hinzugezählt. Was bei Chatman auf Seiten der story scheinbar nicht berücksichtigt wird oder zumindest eine untergeordnete Rolle spielt, ist die Diegese, in der die Ereignisse der Geschichte stattfinden sowie die Welt des Erzählers oder die Exegesis, die von Schmid zusätzlich unterschieden wird. ›Discourse‹ bezeichnet bei Chatman schließlich zum einen die Präsentation in einem bestimmten Medium, zum anderen die Art und Weise sowie die Struktur dieser Präsentation. Gegen Chatmans Vorschlag lässt sich aber beispielhaft und unabhängig von der semiotischen Einteilung einwenden, dass die Unterscheidung zwischen story und discourse²³⁶ ungenau ist.²³⁷ Dies zeigt sich neben den Doppelbedeutungen von story

235 Vgl. die Unterscheidung in covert und overt narrator in Kapitel 3.6.2 auf Seite 139. 236 Gleiches gilt für histoire/discours oder Handlung/Darstellung. Das Was eines narrativen Textes wird meist im Sinne eines pars-pro-toto mit der Geschichte bezeichnet. 237 Vgl. Pier: On the Semiotic Parameters of Narrative (2003), S. 75 f., 84; vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 25 f.

90 | 3 Drama und Narratologie und discourse in den oben angesprochenen Differenzierungen in verschiedenste triund tetradische Modelle beispielsweise auch in der Vernachlässigung der diegetischen Ebenen. Martínez/Scheffel ersetzen bzw. übersetzen die Begriffe ›story‹ und ›discourse‹ durch ›Handlung‹ und ›Darstellung‹ und unterteilen diese ebenfalls, wobei sie die folgenden Elemente unterscheiden: Auf der Ebene des Was bzw. der Handlung eines narrativen Werks lassen sich die »handlungsfunktionalen Elemente«²³⁸ Ereignis, Geschehen, Geschichte (story) und Handlungsschema ausmachen. Zusätzlich zählen Martínez/Scheffel noch das Kontinuum der Diegese zur Seite des Was hinzu. Neben den Ereignissen sind auch die beteiligten Figuren, Entitäten, Orte usw. eingebunden. Die Ereignisse stellen dabei die kleinsten narrativ funktionalen Einheiten dar, aus denen eine Geschichte bestehen kann. Unter Geschehen verstehen Martínez/Scheffel eine aus dem narrativen Text abstrahierte chronologische Sequenz der repräsentierten Ereignisse. Die Geschichte ist eine elaborierte Form des Geschehens, die neben der chronologischen Ordnung zusätzliche Relationen zwischen den Ereignissen enthält (Kausalität, Teleologie, Ästhetik u. Ä.). Handlungsschemata sind einerseits abstrahierte Makrostrukturen der der Narration zugrundeliegenden Ereignissequenzen und andererseits stereotype Makrostrukturen wie das Handlungsschema des Bildungsromans, der klassischen Tragödie, des Märtyrerdramas usw.²³⁹ Allerdings wende ich hier ein, dass diese Handlungsschemata konkret erst in der Repräsentation der Geschichte über die Erzählung manifest werden, sie also vielleicht besser zur Ebene des Wie bei Martínez/Scheffel zu rechnen sind. Nicht die Geschichte ist beispielsweise wie eine Tragödie aufgebaut, sondern ihre Elemente sind in der Erzählung auf eine Weise gestaltet und strukturiert, sodass deren mediale Präsentation (etwa mithilfe eines Spieltextes oder einer Aufführung) dem Handlungsschema einer Tragödie entspricht. So gesehen ist es eine Eigenschaft der Repräsentation der Geschichte in der präsentierten Erzählung. Die Ebene der Darstellung oder des Wie schließt bei Martínez/Scheffel die Erzählung als die Repräsentation der Geschichte und das Erzählen als die Präsentation der Erzählung²⁴⁰ ein. Das Erzählen umfasst »die Art und Weise dieser Präsentation in bestimmten Sprachen, Medien (z. B. rein sprachliche oder audio-visuelle) und Darstellungsverfahren (z. B. Erzählsituation oder Sprachstil)«.²⁴¹ Ich wende hier ein, dass das Erzählen, das in dieser Studie als kommunikativer Akt und kognitives Schema aufgefasst wird, in Bezug auf die narrativen Ebenen auf einer höheren begrifflichen

238 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 27. 239 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 27. 240 Martínez/Scheffel sprechen in Bezug auf das Wie an diesser Stelle von ›Geschichte‹ anstatt von ›Erzählung‹. Ich gehe davon aus, dass hier ›Erzählung‹ gemeint ist, aufgrund derer wiederum eine zugrundeliegende Geschichte repräsentiert wird. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 28. 241 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 28.

3.3 Das Was und das Wie eines narrativen Textes | 91

Ebene anzusetzen ist. Das Erzählen umfasst das Wie und das Was. Es ist nicht nur bestimmend für die Mediation und die Präsentation der Erzählung über und mit Mitteln des jeweiligen eingesetzten Mediums (Literatur, Theater, Film usw.), sondern auch für die Erzählung wie deren Gestaltung. Da die Erzählung die Geschichte und Diegese repräsentiert, sind diese ebenfalls im Akt des Erzählens integriert. Das Erzählen auf dieser Ebene durch die Präsentation der Erzählung zu ersetzen, wie von Schmid vorgeschlagen, erscheint mir sinnvoll. Im Gegensatz zu Martínez/Scheffel schlage ich anstatt ›Handlung‹ und ›Darstellung‹ als Oberbegriffe ›Repräsentiertes‹ und ›Repräsentation‹ vor.²⁴² Meines Erachtens ist ›Handlung‹ (oder mit Chatman: ›story‹) als Oberbegriff für die analytische Ebene des Was zu exklusiv, denn von ihm werden die Diegese und ihre Entitäten nicht eingeschlossen, obwohl sie sicherlich zum Was bzw. zum Inhalt eines narrativen Textes gezählt werden können. Der Oberbegriff des Repräsentierten setzt genau an dieser Stelle an und schließt auch die diegetische Ebene der erzählten Welt (Diegese) sowie deren Entitäten mit ein. Er umfasst damit die Diegese, die zugehörigen Ereignisse und Entitäten, das Geschehen und die Geschichte. Der Oberbegriff der Repräsentation begreift mithin die Erzählung, das Handlungsschema, die Präsentation der Erzählung und damit auch die Mediation. Auch hier scheint mir der Begriff ›Repräsentation‹ gegenüber ›Darstellung‹ geeigneter, da er sowohl die Darstellung bzw. die Präsentation der Erzählung als auch die Erzählung, als Repräsentation der Geschichte, einschließen kann. Die Unterbegriffe im Rahmen der Repräsentation und des Repräsentierten stehen ebenfalls zur Diskussion. Betrachten wir etwa das Konzept des Geschehens, das nach der obigen Beschreibung Schmids in Konkurrenz zum Begriff der ›Diegese‹ bzw. als Erzählgeschehen zu dem der Exegesis steht. Von Lahn/Meister wird Schmids Einteilung der narrativen Ebenen und damit auch dessen Konzept des Geschehens im Wesentlichen übernommen. Das Geschehen und seine Elemente – Lahn/Meister nennen Gegebenheiten, Personen und Dinge sowie Geschehnisse – liegen außerhalb des Textes. Die Geschichte stellt bei ihnen ein ›ästhetisches Konzentrat‹ des Geschehens dar. Gegebenheiten werden zum Setting, Personen zu Protagonisten²⁴³ und die Geschehnisse zu Ereignissen.²⁴⁴ Diese Beschreibung des Konzepts Geschehen sowohl bei Schmid als auch bei Lahn/Meister teile ich nicht. Schmids Explikation und im Anschluss daran auch die von Lahn/Meister sind meines Erachtens adäquater mit den bereits etablierten Begrif-

242 Nünning/Sommer unterscheiden alternativ die diegetische Ebene (diegetic level) und die Ebene der Mediation (super-ordinate level of narrative mediation). Vgl. Nünning/Sommer: The Performative Power of Narrative in Drama (2011), S. 202; Köppe/Kindt nennen dies auch Erzähltes. Vgl. Köppe/Kindt: Erzähltheorie (2014), S. 41 f. 243 Die Dinge werden wahrscheinlich zu Requisiten. Lahn/Meister lassen sie im Diagramm auf der Ebene der Geschichte außen vor. Vgl. Lahn/Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse (2008), S. 15. 244 Lahn/Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse (2008), S. 15 f.

92 | 3 Drama und Narratologie fen der ›Diegese‹ bzw. ›erzählten Welt‹ in Einklang zu bringen, den Schmid ja auch selbst, wenn auch nicht im Zusammenhang mit Geschehen, verwendet. Schmids Begriffe sind bis auf die ›Präsentation der Erzählung‹ analog zu Martínez/Scheffel gewählt. Allerdings ist bei Martínez/Scheffel die mit Geschehen bezeichnete, ausschließlich chronologische Reihung der Ereignisse,²⁴⁵ als eine strukturell einfachere Form der Geschichte zu verstehen und nicht als ein Kontinuum aller möglichen Ereignisse und Entitäten einer erzählten Welt. In die erzählte Welt erhält der Leser über das narrative Artefakt Einblick, sie ist immer als detailreicher anzunehmen, als sie durch die Erzählung dargestellt werden kann. Wenn Schmid Geschehen als ein unendlich detailreiches Kontinuum beschreibt, wird bei ihm nicht deutlich, wie dieses zum Kontinuum der Diegese eines narrativen Textes abgegrenzt sein soll. Damit an dieser Stelle keine Doppelung der Begriffe entsteht, werde ich deshalb fortan für das von Schmid beschriebene Konzept die Bezeichnungen ›Diegese‹ bzw. ›erzählte Welt‹ verwenden und ›Geschehen‹ vielmehr als Terminus für chronologisch geordnete Zustände innerhalb der Diegese verstehen. Analog spreche ich ebenfalls in diesem Sinne von einem Erzählgeschehen auf der Ebene bzw. im System der Exegesis bzw. der Welt des Erzählers oder der Erzählwelt. Die Unterscheidung zwischen Geschehen und Geschichte treffe ich ferner nach Martínez/Scheffel. Die Geschichte stellt im Gegensatz zum Geschehen ein differenzierteres Konzept dar. Die Konstruktion der Geschichte gibt Antwort auf Fragen wie Warum ist das passiert?, Wie ist das passiert?, Was bedeutet das?, Was hat dies für Auswirkungen? oder Wie hängt das alles zusammen?. Die bloße Reihung von Einzelereignissen im Geschehen wird »zur Einheit einer Geschichte integriert«.²⁴⁶ Die Konstruktion des Geschehens hingegen entspricht vielmehr der Antwort auf die Frage Was ist passiert? Dafür ausreichend ist bereits die Repräsentation einer chronologischen Sequenz von Ereignissen durch die Erzählung. Ich spreche demzufolge auch dann von einem narrativen Text, wenn durch diesen nur ein Geschehen dargestellt wird. Ich gehe aber in solchen Fällen davon aus, dass der Leser die ›Integration zur Einheit einer Geschichte‹ übernimmt und fehlende Narreme im Sinne der kognitiven Narratologie ergänzt. Auch diese Bestimmung des Konzepts Geschichte unterscheidet sich von der Schmidschen Version, was außerdem Implikationen für das Konzept der Erzählung mit sich bringt. Während bei Martínez/Scheffel der Ereignissequenz und der Geschichte Relationen zugeordnet werden, die über Temporalität hinausgehen, verzichtet Schmid in seiner Konzeption von Geschichte auf diese. Doch auch sein Vorschlag, den Unterschied zwischen der abstrakten Ebene der Geschichte und der konkreten Ebene der Erzählung anhand des Unterschieds zwischen einer ordo naturalis und einer ordo artificialis zu verdeutlichen, überzeugt nicht. Meines Erachtens können die Ereignisse der Geschichte in der Erzählung immer noch natürlich-chronologisch geordnet sein.

245 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 27. 246 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 27.

3.3 Das Was und das Wie eines narrativen Textes | 93

Bei der Erzählung handelt es sich um eine ästhetisch-künstlerische, mindestens jedoch intentional gearbeitete, Repräsentation der Geschichte und ihrer Ereignisse, die in einer bestimmten Ordnung repräsentiert werden (sei diese nun natürlich oder künstlich). Die Ebene der Erzählung stellt somit eine perspektivierte und komponierte Form der Geschichte dar, da die Geschichte einen Transformationsprozess hin zur Erzählung durchläuft. Zusätzlich verleiht die Erzählung und deren je besondere Präsentation der Geschichte Wert. Sie strukturiert sie zudem beispielsweise in Anfang, Mitte und Schluss oder verleiht den Ereignissen Eigenschaften, die über ihre bloße sequentielle Ordnung hinausgehen. Basal ausgedrückt: Ein Krimi etwa wirkt insbesondere dann spannend auf seinen Leser, wenn er entsprechend spannend gestaltet wurde. Die Spannung ergibt sich normalerweise nicht aus der bloßen Aneinanderreihung von Ereignissen, die zur Auflösung des Mordes führen. Für die Erzählung erscheint mir deshalb der Vergleich mit dem Resultat der rhetorischen dispositio angemessener, die Schmid für die Geschichte verwendet. Für die Geschichte halte ich den Begriff der inventio für angebrachter, denn die in der inventio ausgewählten Elemente werden in eine intentionale Ordnung gebracht, deren Resultat die Erzählung darstellt. Die Elemente der zugrundeliegenden Geschichte können dabei in der ordo naturalis oder in jeglicher ordo artificialis stehen. Die Repräsentation der Geschichte bei der Erzählung lässt diese beispielsweise auf eine Pointe oder auf eine Moral hinauslaufen, die Geschichte selbst verfügt jedoch weder über Pointe noch Moral oder Ähnliches. Zusätzlich wird die Diegese über die Erzählung repräsentiert. Ich unterscheide also vier analytische Ebenen eines narrativen Textes: Geschehen und Geschichte auf Seiten des Repräsentierten bzw. des Inhalts eines narrativen Textes und die Erzählung und die Präsentation der Erzählung auf Seiten der Repräsentation des narrativen Textes. Zusätzlich differenziere ich mindestens zwei diegetische Systeme im Sinne von Weltsystemen: die Diegese bzw. erzählte Welt und die Exegesis bzw. die Erzählwelt, die beide zum Inhaltsbereich des narrativen Textes gezählt werden. Hinzu kommen schließlich noch die Zustände und Entitäten der beiden Welten wie etwa Figuren, Gegenstände, Orte usw. Diese hier unterschiedenen narrativen Ebenen zusammen mit den diegetischen Systemen sowie deren Entitäten und Zuständen können nur abstrakt und analytisch und nicht realiter getrennt werden. Das Repräsentierte ist nur anhand des Erzählakts bzw. der Repräsentation desselben im Erzähltext ableitbar. Dass Götz von Berlichingen Knechte hat, wie die Ereignisse und Zustände um ihn herum zusammenhängen und wie sie chronologisch geordnet sind, kann nur über die Struktur der Zeichenträger im Dramendruck abstrahiert werden und nicht aus einer Realität der Ebene des Repräsentierten. Die Geschichte und das Geschehen können schon allein deshalb nicht in einer ordo naturalis stehen, sondern werden nur über die Abstraktion und Analyse der Repräsentation mithilfe des narrativen Textes als solche präziser fassbar.

94 | 3 Drama und Narratologie

3.4 Zustände und Ereignisse Ein narrativer Text kann analytisch in verschiedene narrative und diegetische Ebenen unterteilt werden. Mithilfe eines narrativen Textes wird eine vorstell- und miterlebbare Welt (Diegese) sowie eine Geschichte durch eine Erzählung repräsentiert. Die Geschichte setzt sich zusammen aus Ereignissen. Ereignisse ihrerseits können in Zustände zergliedert werden, die temporal und gegebenenfalls zusätzlich kausal, teleologisch oder kompositorisch zueinander relationiert sind. Was aber sind Ereignisse und Zustände im Sinne der Narratologie genau? Hühn unterscheidet im Handbook of Narratology zwei Bedeutungsdimensionen des Ereignisbegriffs:²⁴⁷ Ereignis I (event I) und Ereignis II (event II). Wie bereits im Fall des Erzählbegriffs ist dies eine Unterscheidung in ein weites Verständnis (Ereignis I) und ein enges Verständnis (Ereignis II). Während unter Ereignis I jedwede Zustandsveränderung ohne besondere Qualifizierung verstanden wird, werden Zustandsveränderungen nur dann dem Ereignis II zugeordnet, wenn sie zusätzliche Merkmale aufweisen.²⁴⁸ Dazu zählt Hühn »certain features such as relevance, unexpectedness, and unusualness«.²⁴⁹ Treten Merkmale wie diese auf, handelt es sich um ereignishafte Zustandsänderungen. Zustandsveränderungen im Sinne des Ereignis II werden damit durch evaluative Merkmale bestimmt. Texte, in denen zwar Zustandsveränderungen im Sinne von Ereignis I nachgewiesen werden, können im Sinne von Ereignis II aber wenig oder sogar überhaupt nicht ereignishaft sein. Aus den Aussagen ›Der alte Mann starb.‹ und ›Der König starb.‹ kann in beiden Fällen abgeleitet werden, dass etwas passiert ist oder anders ausgedrückt: Eine Zustandsveränderung wird repräsentiert und damit ein Ereignis I. Hier ist es die Veränderung der Eigenschaften der Entitäten (alter Mann, König) vom Zustand lebendig zum Zustand tot. Die erste Aussage könnte der Explikation von Ereignis II folgend als ereignislos, die zweite Aussage als ereignishaft bestimmt werden. Dass ein alter Mann stirbt, ist erwartbar, nicht unüblich und deshalb ohne weitere Kontextualisierungen nur ein Ereignis der Kategorie I. Dass ein König stirbt, so kann hier auch ohne ein näheres und spezielles Kontextwissen inferiert werden, hat schon eher das Potenzial, als eine relevante Zustandsveränderung und damit als Ereignis II begriffen zu werden. Die Einordnung einer Zustandsveränderung als Ereignis II bleibt jedoch von komplexen Faktoren abhängig. Zu diesen gehören unter anderem der im narrativen Werk aufgebaute Kontext, die Einbettung des Werks innerhalb des literarischen bzw. außerhalb des literarischen Diskurses, die Perspektive der Figuren, der Erzählinstanz und des Rezipienten, das Welt- und/oder Literaturwissen des Rezipienten bzw. des Pro-

247 Vgl. Peter Hühn: Event and Eventfulness, in: Handbook of Narratology, hrsg. und mit einem Vorw. vers. v. Peter Hühn u. a. (Narratologia 19), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2009, S. 80–97. 248 Vgl. Hühn: Event and Eventfulness (2009), S. 80. 249 Hühn: Event and Eventfulness (2009), S. 80.

3.4 Zustände und Ereignisse | 95

duzenten usw. Das alles wirkt sich auf die Einschätzung der Zustandsveränderungen aus. Im Folgenden bespreche ich diese verschiedenen Konzepte, die dem Ereignisbegriff in der Narratologie zugrunde gelegt werden, anhand von exemplarischen Forschungspositionen. Der Ereignis I-Begriff wird von Jan-Christoph Meister genauer aufgearbeitet und von David Herman in seinem Beitrag Events and Event-Types diskutiert. Der Ereignis II-Begriff zusammen mit der Qualität der Ereignishaftigkeit ist von Schmid entwickelt worden. Hühn überträgt den Ereignis II-Begriff auf weiter differenzierte Ereignistypen (story-world event, presentation event und reception event) und setzt ihn im Rahmen der transgenerischen Narratologie der Lyrik ein. Martínez/Scheffel haben schließlich noch einen weiteren Ereignisbegriff etabliert, den sie vom Motivbegriff Boris Tomaševskijs ableiten und der sich von den beiden von Hühn unterschiedenen nochmals absetzt. Dementsprechend stelle ich anhand der Überlegungen Martínez/Scheffels noch einen Ereignis III-Begriff vor.

3.4.1 Ereignis I Nach David Herman handelt es sich bei Ereignissen um zeit- und raumspezifische Wechsel von einem Ausgangszustand Z1 zu einem Endzustand Z2 .²⁵⁰ Als ein Beispiel nennt er: (1) Die Temperatur fiel letzte Woche unter Null und der Teich hinter meinem Haus fror zu. Hier können zwei Zustände Z1 (der Teich ist nicht gefroren) und Z2 (der Teich ist gefroren) inferiert werden, da ein sogenanntes effektives Ereignis E e (der Teich fror zu) vorliegt. Ein effektives Ereignis ist eine Zustandsveränderung, die tatsächlich eingetreten ist. Es ist selbst wiederum das Ergebnis eines anderen Ereignisses, welches Herman als verursachendes Ereignis E c (causal) bezeichnet. Dieses verursachende Ereignis ist der Auslöser für die Zustandsveränderung des Teichs, nämlich das Sinken der Temperatur unter Null. Herman gibt dabei zu bedenken, dass es die Anordnung und die Repräsentation von Zuständen und Ereignissen sind, die den Ausschlag dafür geben, von einer Narration sprechen oder eben nicht sprechen zu können. Das folgende Beispiel illustriert dies. Es enthält zwar Zustände und Ereignisse, stellt aber nach Hermann keine Narration dar:

250 Vgl. David Herman: Art. ›Events and Event-types‹, in: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, hrsg. v. David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan, London und New York: Routledge Taylor & Francis Group, 2005, S. 151–152, hier S. 151.

96 | 3 Drama und Narratologie (2) Der Teich war gefroren. Der Teich war nicht gefroren. Die Temperatur fiel unter Null. Hingegen sind die Ereignisse und Zustände in den folgenden Beispielen in einer Weise angeordnet (3) oder zusätzlich entsprechend semantisiert und verknüpft (4), dass sie als narrativ angesehen werden können. (3) Der Teich war nicht gefroren (Z1 ). Die Temperatur fiel unter Null (E c ). Der Teich war gefroren (Z2 ). (4) Letzte Woche fiel die Temperatur unter Null (E c ). Daraufhin war der Teich zugefroren (Z2 ). Vorher war er nicht gefroren (Z1 ). Beispiel (2) zeigt im Gegensatz zu den Beispielen (3) und (4), dass Ereignisse und Zustände, genauer: die Repräsentation derselben, für die Geltung eines Textes als narrativ zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung darstellen. In Beispiel (2) sind zwar ohne Zweifel Ereignisse und Zustände angeführt, allerdings nicht in einer Reihenfolge (3) oder in einer Semantisierung (4), die über die bloße Abfolge hinaus auf eine chronologische und/oder kausale Ordnung schließen lassen. Zustände und ihre sequentielle Anordnung reichen somit nicht immer aus, um von Narrationen sprechen zu können. Herman stellt zusätzlich eine Ereignis-Typologie auf. Er unterscheidet Ereignisse in Form von Handlungen (David geht Eislaufen) bzw. actions und solche in Form von Geschehnissen (Teich friert zu) bzw. happenings. Als einen dritten Typ schlägt er moves vor. Sie unterscheiden sich von Handlungen (actions) dadurch, dass sie konfliktlösende Handlungen bzw. geplante Handlungen darstellen, mit denen ein Ziel mit hoher Priorität verfolgt wird, wobei allerdings auch eine hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns dieser Handlung gegeben ist.²⁵¹ Zusätzlich unterscheidet Herman materielle (der Teich friert zu) von mentalen (ich werde aufgeregt) Ereignissen. Jan Christoph Meister vertritt eine etwas andere Position. Ein Ereignis ist ihm zufolge nicht einfach da bzw. durch die Zeichenstruktur eines narrativen Textes abgebildet. Vielmehr wird es mit Hilfe von Inferenzleistungen des Rezipienten sowie anhand der Aktivierung von Frames und Skripts bei der Rezeption durch Stimuli der Zeichenstruktur gebildet. Es ist damit ein während des Rezeptionsakts inferiertes kognitives Konstrukt.²⁵² Bei einer entsprechenden Kontextualisierung des Ereignises entlang des

251 Vgl. Herman: Art. ›Events and Event-types‹ (2005), S. 152. 252 Meister ist sich dessen bewusst, dass die Bestimmung eines Ereignises von der Wahrnehmung des Rezipienten abhängt und definiert seinen Ereignisbegriff entsprechend unter Einbeziehung der Inferenz- und Interpretationsleistungen des Rezipienten. Es ist deshalb nicht richtig, dass Meisters Ereignisbegriff von diesen Belangen absehe, wie es bei Schmid oder Hühn behauptet wird. Er entwickelt stattdessen ein Modell, mit dem ein genereller und auch ein individueller Prozess der Ereignisinferenz aus einer Zeichenstruktur abgebildet werden kann. Auch Schmid beschreibt in seiner Erklärung und

3.4 Zustände und Ereignisse | 97

Textes oder durch besondere Anstrengungen des Rezipienten beim Inferieren kann selbst aus dem obigen Beispiel (2) ein Ereignis konstruiert werden. Unter einem Ereignis lässt sich der Wechsel von bestimmten Eigenschaften einer Entität, beispielsweise einer Figur, der erzählten Welt verstehen, während diese über einen gewissen Zeitraum im Blick behalten wird. Spezieller ausgedrückt ist ein Ereignis »the attribution of distinct properties to an identical event object under a stable event focus«.²⁵³ Der Leser bildet einen Ereignisfokus und nimmt damit zugleich ein sogenanntes Ereignisobjekt in den Blick, das einen Zustandswechsel erfährt.²⁵⁴ Ein Ereignisobjekt ist eine Entität der erzählten Welt, die eine Zustandsveränderung erfährt. Zustandsveränderungen sind Veränderungen der Eigenschaften einer Entität. Zustände einer Entität können in Texten durch Prädikate abgebildet werden (Der König ist lebendig) bzw. bei der Lektüre von Texten anhand von Prädikaten inferiert werden. Ereignisse in Texten bestehen demnach aus mindestens zwei Prädikaten, die einer Entität zugeschrieben werden, wobei der dadurch angezeigte Zustandswechsel das Ereignis ausmacht. Der Blick des Rezipienten auf die Zustandssequenz wird zwar vom narrativen Artefakt beeinflusst, die Perspektive des Rezipienten ist aber nur teilweise von ihm determiniert und er nimmt sie in erster Linie unabhängig davon ein.²⁵⁵ So ist es nicht ausgeschlossen, dass er ein Ereignis (zwei Zustände eines Objekts) über längere Passagen des Textes hinweg in den Blick nimmt, ohne dass dafür konkrete Hinweise im Text vorliegen müssten. Ferner müssen nun, um ein Ereignis (Zustandsveränderung eines Objekts) zu bilden, vier Bedingungen erfüllt sein.²⁵⁶ Es muss erstens eine zeitliche Ordnung eines Zustands Z1 und eines Zustands Z2 angenommen werden (können), in der Z2 zeitlich nach Z1 eintritt. Es muss zweitens in beiden Zuständen derselbe Ereignisfokus gebildet werden (können) und der Prädikatswechsel auf dasselbe Ereignisobjekt konzentriert sein. Das Prädikat von Z1 darf drittens nicht identisch sein mit dem Prädikat von

Terminologie der Ereignishaftigkeit letztlich nur terminologische Kristallisationspunkte wie Realität, Resultativität, Relevanz usw., an denen ein Verstehensprozess des Rezipienten ansetzen kann. Anders ausgedrückt müssen die Einzelkomponenten eines Ereignisses, wie sie Schmid und Meister beschreiben, nicht explizit in der Zeichenstruktur und -sequenz der Präsentation kenntlich sein, damit ein Ereignis inferiert werden kann. Die Wahrnehmung und Interpretation einer Repräsentation eines Ereignises ist in hohem Maße von der Disposition des Rezipienten, den Kontexten und kognitiv-interpretatorischen Prozessen abhängig. Vgl. Fußnote 18 bei Schmid. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 12; vgl. Hühn: Event and Eventfulness (2009), S. 81. 253 Meister unterscheidet nicht in die Kategorien Ereignis I und Ereignis II. Sein Erkenntnisinteresse liegt vielmehr in der Repräsentation und Evaluierung von Zustandsveränderungen. Die Hervorhebungen im Zitat finden sich im Original. Jan Christoph Meister: Computing Action. A Narratological Approach, Englisch, aus dem Deutschen übers. v. Alastair Matthews, mit einem Vorw. v. Marie-Laure Ryan (Narratologia 2), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2003, S. 116. 254 Vgl. Meister: Computing Action (2003), S. 116. 255 Vgl. Meister: Computing Action (2003), S. 115 f. 256 Vgl. Meister: Computing Action (2003), S. 117 ff.

98 | 3 Drama und Narratologie Z2 . Wäre dies der Fall, würde es sich um kein bzw. um ein unbestimmtes Ereignis (undeterminate) handeln. Es muss viertens eine sogenannte Übersetzungs- bzw. Abbildungsregel vorhanden sein oder gebildet werden (können), die das Prädikat P1 des ersten Zustands in das Prädikat P2 des zweiten Zustands überführt. Dies lässt sich an einer etwas abgewandelten Form von Edward Morgan Forsters Minimalbeispiel einer Narration erläutern: (5) (Zuerst) Der König ist lebendig. (Dann) Der König ist tot. Beispiel (5) kann als ein Ereignis verstanden werden, wenn 1. die zwei Aussagen als zwei Zustände verstanden werden, die zeitlich nacheinander folgen (König ist lebendig, König ist tot), 2. der Ereignisfokus konstant bleibt (in diesem Fall die Geschehnisse um die Figur König) und beide Zustände auf dasselbe Ereignisobjekt gerichtet sind, in diesem Fall auf die Figur König, 3. das Prädikat P1 des Königs im ersten Zustand nicht-identisch ist mit dem Prädikat P2 im zweiten Zustand. In diesem Fall ist der König im ersten Zustand lebendig (P1 ) und im zweiten Zustand tot (P2 ). 4. eine Abbildungsregel vorhanden ist. In diesem Fall ist die Abbildunsgsregel als eine Negation zu begreifen und zwar in dem Sinne, dass ist tot die Umkehrung von ist lebendig ist. Das Ereignis ist in diesem Fall der Tod des Königs und es ließe sich auch in dieser Form ausdrücken: (5’) Der König starb. Das Beispiel (5’) erfordert tendenziell eine höhere kognitive Abstraktion des Rezipienten, da er die zwei prädikatorisch verschiedenen Zustände (lebendig und tot) des Ereignisobjekts König ableiten muss. Anders ausgedrückt: Damit ein König gestorben ist, muss er vorher lebendig gewesen sein. Der Leser muss die zwei Zustände aus (5), die dort direkt in der Repräsentation beschrieben sind, im Fall von (5’) inferieren, um ein Ereignis wahrzunehmen. Liegt nur die eine Aussage ›Der König ist tot.‹ vor, und damit nur ein Zustand des Ereignisobjekts König, muss ein zum Prädikat P2 konträrer Zustand angenommen werden, damit von einem Ereignis gesprochen werden kann. Der Leser muss in diesem Fall das Prädikat P1 zusammen mit einem vorgängigen Zustand Z1 erst selbst inferieren, um ein Ereignis wahrzunehmen. Im Extremfall muss der Leser in der Zeichenstruktur auftauchende Ellipsen bzw. nur implizite Nennungen der notwendigen Einzelkonstituenten eines Ereignisschemas (Ereignisfokus, Ereignisobjekt, Z1 und Z2 , P1 und P2 , Prädikatklasse und Abbildungsregel) selbstständig ableiten. Diese von Meister modellhaft beschriebene Ereignisbildung lässt sich mit der Schematheorie vereinbaren, die ich für den Erzählbegriff herangezogen habe (vgl. Kapitel

3.4 Zustände und Ereignisse | 99

3.2 ab Seite 63). Die Ereignisbildung basiert also beispielsweise auf Erfahrungswissen über Zustände, die ein Objekt annehmen kann, bzw. darüber, was in bestimmten Situationen erwartbar ist und was nicht (Frames), sowie über Zustandsfolgen, die für bestimmte Ergebnisse ebenfalls in Form von Zuständen durchlaufen werden müssen oder können (Skripte und Pläne). Die Prädikate P1 und P2 dürfen zwar nicht identisch sein, müssen sich aber miteinander vergleichen bzw. aufeinander abbilden lassen.²⁵⁷ Die Erstellung oder das Heranziehen einer Abbildungsregel von P1 zu P2 ist von mehreren Faktoren abhängig: 1. ob die Prädikate derselben Prädikatklasse zugeordnet werden können, 2. ob eine Abbildungsregel über die Zeichenstruktur behauptet wird, 3. ob eine Abbildungsregel aus der Zeichenstruktur und deren Semantik logisch erschlossen werden kann oder 4. ob eine Abbildungsregel durch kulturelle Prägung erlernt ist oder sogar bei und zur Wahrnehmung eines Ereignisses neu erlernt bzw. entworfen werden muss. Eine Abbildungsregel is not a generally valid, ahistorical law; it is a perceived or assumed regularity. One possibility is that this regularity is predetermined, in which case it is stored in the fields of cultural and, in the case of literature, genre-specific knowledge to which the recipient has access.²⁵⁸

Damit weist Meister darauf hin, dass das ›Lesen‹ eines Ereignisses neben den Stimuli der Zeichenstruktur selbst in hohem Maße von der vom Leser gesammelten Erfahrung mit der Repräsentation von Ereignissen über Zeichenstrukturen und damit von seinem Weltwissen abhängig ist. Es können also keine generellen Regeln angegeben werden. Vielmehr kann es vorkommen, dass eine Abbildungsregel neu gebildet werden muss. The regularity of the translatability of predicates can be just as much normative as thetic in origin; the translatability of a predicate P1 into a second predicate P2 can be learnt from a textual example, learnt from the socially conditioned interpretation of events in the world in which we live, or introduced on an ad hoc basis; [. . .] Event constructs [. . .] are not only based on knowledge. They also, at least potentially, make knowledge.²⁵⁹

Je nachdem ob die Prädikate derselben oder verschiedenen Prädikatklassen zugeordnet werden, lassen sich klassenhomogene und klassenheterogene Ereignisse unterscheiden. Im obigen Beispiel wird angenommen, dass lebendig sein und tot sein derselben Prädikatklasse biologisch zugeordnet werden können. Die Etablierung einer Prädikatklasse biologisch sowie die Zuordnung bestimmter Prädikate zu dieser Klasse basieren auf pragmatischen Entscheidungen. Sie hängen gleichzeitig in hohem Maße vom Sprach-,

257 Vgl. Meister: Computing Action (2003), S. 117. 258 Meister: Computing Action (2003), S. 127. 259 Meister: Computing Action (2003), S. 128.

100 | 3 Drama und Narratologie Zeichen- und Weltwissen des Rezipienten als auch des Produzenten ab. Diese Folgerungen bauen auf der Annahme auf, dass mit derartigen Klassenbildungen die Wahrnehmung der Welt strukturiert wird. Eine weitere damit verbundene Annahme ist, dass diese Bildungen kulturell bedingt sowie sozial und zeitlich variabel sind. Ob und wie ein Ereignis inferiert wird, ist von Leser zu Leser verschieden, selbst wenn es gewisse transsubjektive Zuordnungen geben mag. Diese Zuordnungen sind dann meist abhängig von Konventionen sowie kulturell und/oder historisch eingebetteten hermeneutischen Prozessen und bauen eher auf Arbitrarität als auf Bestimmtheit auf.²⁶⁰ If we try to apply such formalizations [im Sinne von modellhafter Abstraktion; A.W.] to concrete processes of reception and event construction, however, they give rise to the illusion that predicate classes, their respective elements, and the rules that translate between them are invariant and universally available, whereas in reality they are not. The formation of event constructs is a dynamic process, which means that during it we can draw on existing predicate classes, elements, and translation rules, as well as making new classes and defining new rules. A translation rule which is firmly established inside a homogenous predicate class from the very beginning is so only because of convention and encompasses only a fragment of what is theoretically possible.²⁶¹

In Meisters abgewandelten Beispiel (6) Der König war satt. (Dann) Der König war wissbegierig. zählt er war satt zur Prädikatklasse biologisch und war wissbegierig zu einer Prädikatklasse kognitiv. Wird mit diesen Annahmen vom Rezipienten ein Ereignis inferiert, dann ist dies ein Beispiel für eine klassenheterogene Zustandsveränderung. Es muss vom Rezipienten jedoch eine Übersetzungsregel gefunden werden, die das Prädikat war satt in das Prädikat war wissbegierig über die Klassengrenzen hinweg überführen kann.²⁶² Meister schlägt für diesen Fall die Bildung einer metaphorischen Übersetzungsregel vor. Biologisch satt kann als das Gegenteil von kognitiv hungrig oder wissbegierig betrachtet werden. Während die Übersetzungsregel und die Zuordnung der Prädikate ist tot und ist lebendig zur selben Prädikatklasse noch relativ leicht getroffen werden kann, um die Aussagen (5) und (5’) als Repräsentation eines Ereignisses zu verstehen, ist dies im Fall von Beispiel (6) schon deutlich schwieriger. Gerade die Wahrnehmung und Bildung solcherlei klassenheterogener Ereignisse ist abhängig vom kulturellen und vom Weltwissen des Lesers (beispielsweise davon, wie viele Narrationen er bereits

260 Vgl. Meister: Computing Action (2003), S. 137. 261 Meister: Computing Action (2003), S. 121. 262 Sollte keine Übersetzungsregel gefunden werden können, dann wird, so möchte ich behaupten, der Text eher als eine Deskription als eine Narration interpretiert. Dies lässt sich beispielsweise mit der Aussage ›Der König ist satt. Der König ist braungebrannt. Der König hat einen roten Mantel an.‹ illustrieren.

3.4 Zustände und Ereignisse |

101

gelesen hat). Meister leitet die obige Übersetzungsregel im obigen Beispiel aus dem Wissen um ein spezifisches Motiv jüdisch-christlicher Religionen ab: »a stereotype which sees physical asceticism as the way to cognitive riches«.²⁶³ Die Bildung eines Ereignisses und damit das Verstehen einer Zeichenstruktur als Repräsentation von Ereignissen, ist gerade bei klassenheterogenen Prädikaten keine Notwendigkeit. Über die obigen Aussagen in (6) kann nämlich auch hinweg gelesen werden, ohne ein Ereignis zu bilden. Die Passage ließe sich in diesem Fall auch als Beschreibung eines Königs lesen, der sich durch Sattheit und Wissbegierigkeit auszeichnet.²⁶⁴ Welche Prädikationen bzw. welche Zustände der Rezipient zur Bildung und Ableitung eines Ereignisses heranzieht, ist nicht determinierbar und abhängig von verschiedenen Standards die sich aus der kulturellen Sozialisation ergeben haben und die im Falle fiktionaler Werke neben allgemeiner Lebenserfahrung auch auf Erfahrungen mit Genrestandards u. Ä. Bezug nehmen können. Nehmen wir folgendes Beispiel von Meister: (7) Der König war lebendig. (Dann) Der König war satt. (Dann) Der König war warm. (Dann) Der König war tot. Dem Rezipienten ist es freigestellt, ob er ein Ereignis aus den Zuständen lebendig/satt, lebendig/warm, lebendig/tot, satt/warm, satt/tot oder warm/tot bildet. Ich übertrage Meisters Überlegung an dieser Stelle auf ein literarisches Beispiel: In Johann Christoph Gottscheds Tragödie Sterbender Cato (1732) trifft der Stoiker Cato als Anhänger und Verfechter einer freiheitlichen römischen Republik auf den machthungrigen, aber durchaus aufgeklärt auftretenden Cäsar, der sich selbst zum Diktator erheben will. Cato wird am Ende des Stücks den Selbstmord wählen, anstatt sich der Diktatur Cäsars zu beugen. Hier kann ein Objektereignis mit Fokus auf die Figur Cato und die Prädikatklasse biologisch über das gesamte Stück hinweg gebildet werden: Cato lebt zu Beginn des Stücks und stirbt an dessen Ende. Mit dem Fokus auf diese Zustandsveränderung kann der Leser das Verständnis von Sterbender Cato als Repräsentation einer Geschichte aufrechterhalten, da mindestens ein Ereignis stattfindet. Es können aber zudem über die dazwischenliegenden Prädikatswechsel bezogen auf die Figur Cato weitere Ereignisse gebildet werden, die zu seinem Tod führen oder unabhängig davon eintreten. Hinzu kommt, dass der Leser nicht darauf festgelegt ist, am Ende

263 Meister: Computing Action (2003), S. 125 f. 264 ›Erzwungen‹ werden kann eine Ereignisinferenz durch die explizite semantische ›Temporalisierung‹ zweier Zustände. Andere Prädikationen können eine Ereignisbildung auch ohne explizite temporale Semantisierung evozieren; insbesondere dann, wenn es gemäß dem Weltwissen des Rezipienten eine Unmöglichkeit darstellt, dass das Ereignisobjekt die Zustände zur gleichen Zeit einnehmen kann. Ein König kann gleichzeitig satt und wissbegierig sein. Er kann jedoch nicht gleichzeitig lebendig und tot sein oder beispielsweise zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten.

102 | 3 Drama und Narratologie des Stückes ein klassenhomogenes Ereignis zu bilden – Cato stirbt –, sondern beispielsweise auch ein klassenheterogenes Ereignis zwischen Catos mentalem Zustand der Unfreiheit und dessen eigener Relationierung des Zustands Tod mit Freiheit und Unabhängigkeit. Angedeutet wird dies im Text dadurch, dass Cato auf die Lektüre von Platons Dialog Phaidos verweist, in der unter anderem die Trennung von Leib und Seele im Tod und die dadurch vom Philosophen schon zu Lebzeiten angestrebte Unabhängigkeit von weltlichen Querellen und Gelüsten erreicht wird. Der Stoiker Cato erkennt also in seinem Selbstmord eine Möglichkeit, seinen Idealen treu zu bleiben, diejenige Unabhängigkeit zu erreichen, die ihm durch Cäsars Machtergreifung verwehrt blieb, und seine Idee einer freiheitlichen Republik durch und über den Tod hinaus zu retten. Solchermaßen klassenheterogene Ereignisse können jedenfalls, das zeigt sich hier, in hohem Maße davon abhängig sein, ob eine derartige Ereignisbildung über die Repräsentation unterstützt wird. Meister unterscheidet im Weiteren zwischen den bis jetzt beschriebenen Objektereignissen, die einen einheitlichen Ereignisfokus und ein konstantes Ereignisobjekt besitzen und sogenannten Diskursereignissen. Bei Diskursereignissen wechselt das Ereignisobjekt. Sie zeichnen sich aber durch eine einheitliche Prädikatklasse aus. Das Ereignis findet allerdings genau genommen nicht mehr auf der Ebene der Diegese, sondern vielmehr auf der Repräsentationsebene statt. Aus Goethes Novellensammlung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) bildet Meister beispielhaft folgende Diskursereignisse: (8) Der Fährmann schlief. Die Frau hörte Stimmen. (9) Der Fährmann schlief. Die Frau war wach. (10) Der Fährmann war müde. Die Frau war müde. In Beispiel (8) stehen weder Ereignisobjekt, Prädikatklasse noch Prädikat in einem Verhältnis der Einheitlichkeit zueinander, genauer: sie stimmen nicht überein. Dies lässt sich als ein unbestimmtes Diskursereignis bezeichen. Ein unbestimmtes Diskursereignis ist ebenso wie ein unbestimmtes Objektereignis, bei dem Ereignisobjekt, Prädikatklasse und Prädikate übereinstimmen, genau genommen kein Ereignis. Die Beispiele (9) und (10) bezeichnet Meister als jeweils antithetisches und thetisches Diskursereignis. Antithetisch sei (9) wegen des inhaltlichen Gegensatzes der Prädikate schlief und war wach bei gleichzeitiger Kongruenz der Prädikatklasse und Inkongruenz der Ereignisobjekte. Ein thetisches Diskursereignis wie in Beispiel (10) stellt nach Meister die extremste Form der Ereignisbildung dar. Hier sind nur noch die Prädikate sowie die Prädikatsklasse gleich. Dies sei »the last resort of a recipient who pursues synthesis in the form of an event construct; [. . .] an indication of the lengths to which recipients will go in their

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103

continual struggle against the semantic horror vacui«.²⁶⁵ Meister geht davon aus, dass der Leser eines Textes dafür Sorge trägt, einen von ihm als narrativ eingeschätzten Text, selbst bei Schwierigkeiten, dennoch als einen solchen zu verstehen. Dafür muss er die Repräsentation einer Zustands- bzw. Ereignissequenz und damit einer Geschichte garantieren. Das bedeutet, dass der Rezipient im Falle ausschließlich thetischer Diskursereignisse einen erheblichen Aufwand betreiben muss, um die Ereignisse überhaupt als solche wahrzunehmen und daraus eine Geschichte zu bilden, für die er zusätzlich sicherlich auch Objektereignisse inferieren muss. Im Falle eines Diskursereignisses bildet der Rezipient gegebenenfalls neue Standards, was die Ordnung der Prädikatklassen und die Zuordnung von Prädikaten betrifft. Der Ereignisfokus wird von der Ebene der Geschichte bzw. Erzählung übertragen in das Bewusstsein des Rezipienten. So kann es auch bei ›bloßen‹ Objektereignissen erforderlich werden, neue semantische Verbindungsmöglichkeiten zu entwickeln, damit die beschriebenen Zustände in eine zeitliche Sequenz integriert werden können. Diskurs- und Objektereignisse können sich überlappen. Nehmen wir das Beispiel (11) Der Vampir war getränkt in Weihwasser. Der Vampir brannte. Die Übersetzungsregel zwischen weihwassergetränkt und brennen ist etwas, das Genreoder Kulturwissen voraussetzt, um es überhaupt als ein Ereignis bzw. um es adäquat als ein solches begreifen zu können.²⁶⁶ Sollte dem Rezipienten das Wissen über die mutmaßliche Kraft von Weihwasser im Zusammenhang mit Vampiren fehlen, bleiben ihm zwei Möglichkeiten: Entweder er findet eine neue Übersetzungsregel, um die Prädikatklassen anzugleichen und damit einen Zusammenhang zwischen weihwassergetränkten und brennenden Vampiren herzustellen, oder er begreift es als ein Diskursereignis. Dann werden zwar zwei Prädikate eines Vampirs geliefert, diese weisen aber abgesehen vom Fokus auf dasselbe Objekt keine temporalen oder kausalen Zusammenhänge auf – besonders in dem Fall, da der Rezipient die Vorgaben, nach denen Vampire anfällig gegenüber Weihwasser sind, erst als Diskursereignis rezipieren muss, um anschließend das Verbrennen des Vampirs nach der Benetzung mit Weihwasser, als ein Objektereignis zu entwickeln und es überhaupt als ein Objektereignis auf Ebene der Diegese verstehen zu können. Mit Objektereignissen hängt meines Erachtens die Illusion einer zeitlichen Sequenz auf diegetischer Ebene bzw. einer temporalen und gegebenenfalls kausalen Relation der Zustandssequenz zusammen. Die Veränderungen an den Ereignisobjekten, seien es

265 Meister: Computing Action (2003), S. 143. 266 Der Zusammenhang zwischen einem extensiven Gebrauch von Weihwasser und der spontanen Entflammbarkeit einer Person ist des Weiteren und insbesondere nur bei Vampiren, nicht aber bei Königen gegeben. Für die Pfahl-durchs-Herz-Variante reicht hingegen Weltwissen aus und sie wirkt auch bei Königen.

104 | 3 Drama und Narratologie Figuren, Räume oder Objekte, implizieren eine Bewegung durch die Zeit. Die Bildung von Objektereignissen hilft, die simple Abfolge von Zeichen einer Zeichenstruktur in eine temporale und gegebenenfalls kausale Folge von Einzelzuständen einer erzählten Welt zu überführen. Die Zeichenstruktur kann so als Repräsentation eines Geschehens oder gar einer Geschichte verstanden werden. Die Bildung von Diskursereignissen führt zur Entwicklung neuer Inferenz- und Informationsvorgaben in Form von erwartbaren Prädikaten und Prädikatswechseln sowie passenden Prädikatklassen. Diskursereignisse bilden zusätzliche Beziehungen zwischen mikrotextuellen Strukturen des Textes. So können auch objektheterogene Zustände semantisch aufeinander und über das temporale Netz hinausgehend etwa zusätzlich kompositorisch aufeinander bezogen werden. Ich halte es daher für sinnvoll davon auszugehen, dass aus dem Zusammenspiel von Objekt- und Diskursereignissen ein Netz aus kausalen, teleologischen und kompositorischen Relationen zwischen Zuständen und Ereignissen eines narrativen Textes entsteht, die über die bloße temporale Ordnung der Zustände hinausreichen, sei es auf der Ebene der Diegese oder der Ebene der Exegesis. Sie tragen damit zur Sinnhaftigkeit einer narrativen Zeichenstruktur bei. Allerdings ist es meiner Ansicht nach bei ausschließlichen Diskursereignissen nicht mehr möglich, von einem Geschehen auf der Ebene der Diegese oder der Ebene der Exegesis zu sprechen. In diesem Fall gibt es nur noch ein kontemplatives ›mentales Geschehen‹, dass zwar durch Stimuli der Repräsentation ausgelöst wird, sich aber dann ›verselbstständigt‹. Bei ausschließlichen Diskursereignissen ist kein Geschehen auf der Ebene der fiktiven Welten bzw. keine temporal relationierte Zustandssequenz mehr inferierbar und damit keine narrative Zeichenstruktur mehr gegeben. Ich folgere daraus, dass bei ausschließlichen Diskursereignissen weder eine kohärente Diegese noch eine temporale Zustandssequenz innerhalb der Diegese gebildet werden kann. Hier ist es für den Rezipienten äußerst schwierig bis unmöglich, mindestens ein Geschehen zu inferieren und die Zeichenstruktur als Repräsentation einer Geschichte zu begreifen. Denn nur wenn der Leser genügend Stimuli in Form von Narremen erhält, wird er den Text als einen narrativen Text begreifen. Allerdings wird er, ist er erst einmal überzeugt von der Narrativität einer Zeichenstruktur, dann auch gegebenenfalls fehlende oder nur implizit gegebene Objektereignisse inferieren, um daraus eine chronologische und sinnvolle Zustandssequenz (Geschichte) zu bilden. Fehlen Diskursereignisse kann allerdings wiederum das Verstehen bzw. die Synthese des dargestellten Geschehens als sinnvolle und kausal oder kompositorisch zusammenhängende Zustandssequenz bzw. als Geschichte erschwert oder unmöglich sein.

3.4.2 Ereignis II Ein anderer Vorschlag, sich dem Ereignisbegriff der Narratologie zu nähern, geht auf Wolf Schmid zurück. Es zeigt sich, dass Ereignisbildungen durch Rezipienten im Sinne von Ereignis I mithilfe der expliziten und impliziten Hinweise der Zeichenstruktur, zwar

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nicht unendlich, aber dennoch sehr zahlreich sein können und dass zudem mit der Länge der Texte die Zahl an Ereignissen I auch für die Analyse ins Unüberschaubare ansteigt. Schmid unterscheidet deshalb bloße Zustandsveränderungen (Ereignis I) und wichtige bzw. bedeutsame Zustandsveränderungen, die sowohl für die fiktiven Welten (Diegese, Exegesis) als auch für das Verständnis und die Interpretation »Aktionalität, Relevanz und Tragweite«²⁶⁷ aufweisen und somit erst dann die Bezeichnung ›Ereignis‹ (Ereignis II) verdienen: »Jedes Ereignis impliziert eine Zustandsveränderung, aber nicht jede Zustandsveränderung bildet ein Ereignis.«²⁶⁸ Ereignisse im Sinne Schmids sind besonders ereignishafte Zustandsveränderungen. Ausgehend von der Voraussetzung, dass eine Narration, um als solche verstanden zu werden, immer Zustandsveränderungen aufweisen muss,²⁶⁹ trägt die Etablierung eines Ereignisses II über dessen Ereignishaftigkeit (eventfullness) zur Erzählwürdigkeit (tellability) bzw. sogar zur raison d’être einer Narration²⁷⁰ und damit auch zu deren Grad an Narrativität bei.²⁷¹ Neben dem rein quantitativen Aspekt tritt ein qualitativer Aspekt. Je ereignisreicher eine Narration in diesem Sinne ist, desto erzählwürdiger und narrativer ist sie auch:²⁷² »Das Ereignis [Ereignis II; A.W.] soll definiert werden als eine Zustandsveränderung, die besondere Bedingungen erfüllt.«²⁷³ Als notwendige Bedingungen, um eine Zustandsveränderung als ein Ereignis II zu begreifen, nennt Schmid die Merkmale Realität und Resultativität. Realität bedeutet, dass die Zustandsveränderung innerhalb der fiktiven Welt tatsächlich stattfinden muss. Er schließt damit von Figuren oder vom Erzähler nur »[g]ewünschte, imaginierte oder geträumte Veränderungen«²⁷⁴ als Ereignisse aus, wohingegen der Akt des Wünschens, Imaginierens usw. selbst durchaus ein Ereignis und dann auch ereignishaft sein kann. Resultativ seien Zustandsveränderungen, wenn sie nicht nur begonnen (inkohativ), versucht (konativ) oder sich noch im Vollzug (durativ) befänden, sondern mit einem Ergebnis abgeschlossen sind.²⁷⁵ Wenn allerdings eine Zustandsveränderung nicht real (auch innerhalb einer fiktiven Welt) und nicht resultativ (also inkohativ, konativ oder durativ) ist, dann wechselt auch kein Zustand. Wenn Cato beginnt zu sterben, ist er solange lebendig, bis er schließlich stirbt. Erst dann ist eine Zustandsveränderung aufgetreten. Wenn Schmid Realität

267 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 11. 268 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 12. 269 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 11. 270 Vgl. Hühn: Event and Eventfulness (2009), S. 81. 271 Vgl. Hühn: Introduction (2010), S. 3. 272 Ob eine Zustandsveränderung ein Ereignis II ist und ob eine Narration als erzählwürdig verstanden wird, ist beides in hohem Maße interpretations- und kontextabhängig. Ich habe dies oben bereits angemerkt. Ereignisse in diesem Sinne sind insofern hermeneutische Kategorien und vom Standpunkt abhängig (Produzent, Rezipient, Charaktere, Gattung und Genre der Narration usw.). 273 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 12. 274 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 12. 275 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 12.

106 | 3 Drama und Narratologie und Resultativität fordert, um von einem Ereignis II sprechen zu können, dann sind dies ihrerseits Merkmale, die es überhaupt erlauben, von einer Zustandsveränderung und damit von einem Ereignis I sprechen zu können. Meister weist darauf hin, dass die Wahrnehmung einer Zeichensequenz als Repräsentation einer Zustandsveränderung neben dem Text und der in ihm enthaltenen Stimuli in hohem Maße von der Disposition des Rezipienten und seiner Evaluation der Zeichensequenz (Drama, Roman, Film, Computerspiel usw.) abhängt. Für Schmid beruhen die beiden konstitutiven Kriterien für eine ereignisreiche Zustandsveränderung (Ereignis II) hingegen eher auf dem Inhalt des Artefakts. Anders ausgedrückt: Um die Zeichensequenz aus Sterbender Cato »artabanus [. . .] Er stirbt!«²⁷⁶ als Ereignis I (Cato wechselt von lebendig zu tot) und somit als Zustandsveränderung zu begreifen, kommt es besonders auf die Inferenz- und Evaluationsleistung des Rezipienten und auf dessen Erfahrung mit sprachlichen Repräsentationen von Zustandsveränderungen an. Damit dieselbe Zeichensequenz als Ereignis II nach Schmid begriffen werden kann, kommt es zuerst darauf an, ob eine Figur auf Ebene der Diegese (in diesem Fall Artabanus) oder der Erzähler auf Ebene der Exegesis die Zustandsveränderung als real und resultativ begreift. Allerdings ist diese Evaluation wiederum von Disposition, Erfahrung und Wissen des Rezipienten unter anderem über die erzählte Welt abhängig. Schmid schlägt fünf weitere graduierbare und hierarchisch geordnete Merkmale vor, die eine reale und resultative Zustandsveränderung ereignishaft machen. Merkmale, »die in einer Zustandsveränderung realisiert sein müssen, damit diese ein Ereignis [Ereignis II; A.W.] genannt werden kann«.²⁷⁷ Dabei sei nicht anzugeben, wie ereignishaft eine Zustandsveränderung sein muss, um in einem individuellen Werk als Ereignis II zu gelten. Davon ist deswegen auszugehen, da die Perzeption und Interpretation einer Zustandsveränderung als Ereignis II vom Wissen über Gattung, Genre, Epoche, dem Werk selbst und vom Weltwissen des Rezipienten abhängig ist.²⁷⁸ Die fünf zusätzlichen und graduierbaren Merkmale sind: 1. Relevanz 2. Imprädiktabilität 3. Konsekutivität 4. Irreversibilität 5. Non-Iterativität Dabei seien Relevanz und Imprädiktabilität die entscheidendsten Merkmale für die Rezeption und Bezeichnung einer Zustandsveränderung als Ereignis II. Sie müssen zu einem gewissen Grad der Zustandsveränderung zuschreibbar sein.²⁷⁹

276 Johann Christoph Gottsched: Sterbender Cato, hrsg. v. Horst Steinmetz (RUB 2097), Stuttgart: Reclam, 2005, S. 84. 277 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 13. 278 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 13, 18–22. 279 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 13.

3.4 Zustände und Ereignisse |

107

Zu 1.: Die Relevanz oder Bedeutsamkeit einer Veränderung hängt von werkimmanenten Eigenschaften ab. Die Veränderung muss innerhalb der Diegese als wesentlich und nicht trivial empfunden werden. Natürlich kommt es hier schon zu ersten Schwierigkeiten, da beispielsweise eine Veränderung zwar vom Erzähler als wesentlich verstanden werden kann, von den Figuren aber nicht notwendig so aufgefasst werden muss. Zusätzlich hängt es, wie oben angemerkt, von der Gattung, dem Genre usw. sowie von der Verstehensleistung des Rezipienten ab.²⁸⁰ Die Verwandlung in einen Frosch mag zum Beispiel in einem realitätsnahen Werk eher unwahrscheinlich und bei seinem Eintreten als äußerst ereignisreich – oder aber als besonders inadäquat – erfahren werden. In einem phantastischen Märchen würde dies eine durchaus erwartbare Zustandsveränderung sein²⁸¹ – beides zumindest aus der Sicht des Rezipienten, der schon einige realitätsnahe Narrationen und Märchen gelesen hat. Für den Protagonisten der realitätsnahen Narration wie für den Protagonisten des Märchens ist die Verwandlung in einen Frosch in jedem Fall relevant und damit ein Ereignis II. Von der anderen Seite betrachtet, mag die Verwandlung Gregor Samsas in ein Ungeziefer gerade angesichts der ansonsten in Franz Kafkas Die Verwandlung so überbetonten Normalität und Durchschnittlichkeit der Lebensumstände und der Umgebung als besonders ereignisreich wahrgenommen werden. Ähnliches gilt für alle weiteren Eigenschaften, die Schmid für den Ereignis II-Begriff anführt. Zu 2.: Die Unvorhersehbarkeit einer Veränderung in Relation zur Diegese ist eine weitere ausschlaggebende Eigenschaft, um eine Veränderung als ereignishaft und damit als Ereignis nach Schmid zu begreifen. Hier wird der Bezug auf das in der Diegese und Narration dargestellte Wertesystem besonders wichtig. Für einen Rezipienten, der schon mehrere Tragödien gelesen oder gesehen hat, ist die Peripetie im Sinne von Ereignis II ebenso wie der Tod des Protagonisten zu dem Zeitpunkt, da er zu lesen beginnt, sowie bei dessen Eintreten erwartbar. Im Gegenteil wäre der Rezipient wohl eher enttäuscht oder zumindest verwundert, sollte der Held überleben oder eine Tragödie keinen Wechsel von Glück in Unglück aufweisen. Dies ändert aber auch im Falle der hundertsten Tragödie nichts daran, dass die betroffene Figur sowie gegebenenfalls andere Figuren des Werks bezogen auf ihren Wahrnehmungsbereich überrascht und schockiert qua der Unvorhersehbarkeit des Todes, des Glückswechsels bzw. der Peripetie sind.²⁸² Zu 3.: Wichtig wird auch der Grad an Konsequenz der Zustandsveränderung für das Denken und/oder Handeln der betroffenen Figur oder aber für bestimmte Wertesysteme

280 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 14, 19. 281 Im übrigen sind diejenigen, die zum ersten mal ein Märchen lesen über die Ereignisse in der fiktiven Welt sicherlich überrascht. Der in den meisten Fällen verborgene extradiegetische Erzähler eines Märchens wie auch die Figuren und Wesen der Diegese stören sich hingegen nicht so sehr daran, ob Wölfe sprechen, Frösche sich in Prinzen verwandeln oder zur Lösung einer Aufgabe in einen verwunschenen Wald gezogen werden muss. 282 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 14 f.

108 | 3 Drama und Narratologie innerhalb der erzählten Welt.²⁸³ Demnach kommt es also zusätzlich darauf an, wann die Zustandsveränderung eintritt. Zumindest gibt es dann ein Wertesystem innerhalb des diegetischen Raums vor und nach einer solchen ereignishaften Zustandsveränderung. Zu 4.: Je unwahrscheinlicher es ist, dass der über die Veränderung erreichte Zustand wieder rückgängig gemacht werden kann, desto ereignisreicher ist die Veränderung.²⁸⁴ Für tragische Handlungen ist die Irreversibilität des Ereignisses, das für das Strukturelement Peripetie ausschlaggebend ist, die unbedingte Eigenschaft und Qualität. Die Irreversibilität zeichnet aber nicht nur das Ereignis der Peripetie qualitativ aus, sondern sie ist auch für den Grad an Tragik einer solchen Repräsentation einer Geschichte verantwortlich. Zu 5.: Je einzigartiger eine Zustandsveränderung innerhalb der Diegese ist, desto ereignisreicher ist sie auch. Aber auch hier können Zustandsveränderungen, die in verstärkter Anzahl in der erzählten Welt äußerst selten oder unwahrscheinlich wären, als äußerst ereignisreich und deshalb auch als erzählwürdig eingeschätzt werden. Wenn Schmids Darstellung des Ereignisbegriffs mit derjenigen Meisters verglichen wird, dann müsste sich dabei ergeben, dass insbesondere mit dem Kriterium der Realität die von Meister eingeführten Diskursereignisse als Kandidaten für ein Ereignis II ausgeschlossen werden und nur Objektereignisse Anwärter bleiben. Um diese Diskrepanz auszugleichen, spricht Schmid im Zusammenhang mit seinem Ereignisbegriff nicht nur von der Möglichkeit einer zeitlichen, sondern auch einer unzeitlichen Verknüpfung von Geschehensmomenten,²⁸⁵ bei der eine Relation durch Äquivalenz hergestellt werden kann. Zwei Elemente (dazu zählt er neben Entitäten der Diegese auch mikrotextuelle Strukturen) können in Verbindung gebracht werden, wenn sich das Interesse des Rezipienten auf eine Äquivalenz aufgrund einer Opposition oder auf eine Äquivalenz aufgrund einer Similarität der beiden Elemente konzentriert.²⁸⁶ Ich verstehe dies so: Zwei voneinander als unabhängig dargestellte Zustände und Zustandssequenzen können in einem narrativen Text auftauchen. Eine Äquivalenz durch Similarität zwischen beiden kann dann postuliert werden, wenn beide Sequenzen beispielsweise den Lebensverlauf eines Menschen von dessen Geburt bis zu dessen Tod zeigen. Werden hingegen gegenteilige Verläufe gezeigt, etwa in der ersten Sequenz die Geburt eines Menschen und in der zweiten Sequenz der Tod eines Menschen, liegt eine Äquivalenz durch Opposition vor. In beiden Fällen können damit auf den ersten Blick voneinander unabhängige Geschehens- und Geschichtsteile der Diegese miteinander in Verbindung gebracht werden.

283 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 16. 284 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 17. 285 Ich gehe davon aus, dass Schmid mit ›Geschehensmomenten‹ Zustände der erzählten Welt bzw. von Entitäten in der erzählten Welt meint. Er führt das an keiner Stelle aus, weswegen ich es hier nur vermuten kann. 286 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 22 ff.

3.4 Zustände und Ereignisse |

109

Meister unterscheidet antithetische und thetische Diskursereignisse. Dabei sind antithetische Diskursereignisse aufgrund einer Opposition, thetische aufgrund einer Similarität der Prädikate bestimmt. Die Diskursereignisse zeichnen sich gerade dadurch aus, dass das Ereignisobjekt in den beiden betrachteten Zuständen nicht identisch und der Ereignisfokus auf die Prädikate konzentriert ist. Diese Konstellation führt zu einem ausschließlich ›kognitiven Ereignis‹ im Bewusstsein des Rezipienten. Das Erkennen von Äquivalenzen führt zu einem besseren oder zumindest einem zusätzlichen Verständnis der Zeichenstruktur über die bloße Aneinanderreihung von Objektereignissen in zeitlicher Folge hinaus. Diskursereignisse können also Relationen zwischen Elementen der narrativen Zeichenstruktur bilden und die Verbindungen gehen über bloße temporale Relationen hinaus. Meines Erachtens können weder die Diskursereignisse Meisters noch die dazu analog zu begreifenden, atemporalen ›ereignishaften Äquivalenzen‹ Schmids alleine die Illusion einer temporalen Sequenz leisten, die für eine Narration nötig sind. Mit ihrer Hilfe können jedoch zusätzliche Relationen erzeugt werden oder die Bildung einer sinnvollen Geschichte generell aus einer bloßen Zustandssequenz unterstützt werden. Derartige Konstellation verleihen einer Erzählung sicherlich ›Tiefe‹, etablieren alleine aber keine Narration. Bisher habe ich mit Schmid hauptsächlich die theoretische Beschäftigung mit dem Ereignisbegriff gezeigt, nun möchte ich anhand von Überlegungen Hühns den Ereignis II-Begriff kurz in seinen Implikationen vorstellen. Hühn entwickelt seine Narratologie der Lyrik sowie insbesondere seine Differenzierungen von Ereignisarten²⁸⁷ unter anderem auf Schmids Ereignisbegriff (Ereignis II, Ereignishaftigkeit)²⁸⁸ und auf Lotmans sujet-Konzept²⁸⁹ aufbauend sowie mit Bezug auf die Schematheorie.²⁹⁰

287 Vgl. Peter Hühn/Jörg Schönert: Zur narratologischen Analyse von Lyrik, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 34 (2002), S. 287–305; Peter Hühn/Jens Kiefer (Hrsg.): The Narratological Analysis of Lyric Poetry. Studies in English Poetry from the 16th to the 20th Century, übers. v. Alastair Matthews, eingel. v. Peter Hühn/Jörg Schönert, mit einem Vorw. v. Peter Hühn (Narratologia 7), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2005; Peter Hühn: Conclusion. The Results of the Analyses and Their Implications for Narratology and the Theory and Analysis of Poetry, in: The Narratological Analysis of Lyric Poetry. Studies in English Poetry from the 16th to the 20th Century, hrsg. v. Peter Hühn/Jens Kiefer, übers. v. Alastair Matthews, eingel. v. Peter Hühn/Jörg Schönert, mit einem Vorw. v. Peter Hühn (Narratologia 7), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2005, S. 233– 259; Peter Hühn: Functions and Forms of Eventfulness in Narrative Fiction, in: Theorizing Narrativity, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. John Pier/José Ángel Garcia Landa (Narratologia 12), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2008, S. 141–163; Hühn: Event and Eventfulness (2009); Hühn: Introduction (2010). 288 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 11–22. 289 Vgl. Jurij Michajlovič Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil (UTB 103), München: Wilhelm Fink, 4 1993. 290 Vgl. Schank/Abelson: Scripts, Plans, Goals and Understanding (1977); Goffman: Frame Analysis (1974); Roger C. Schank: Tell Me a Story. A New Look at Real and Artificial Memory, New York: Scribner,

110 | 3 Drama und Narratologie Zwar stellt er den Bezug nicht explizit her, jedoch unterscheidet er zwei Arten von Narrationen aufgrund der in ihnen repräsentierten Zustandsveränderungen. Enthält ein narratives Werk nur Zustandsveränderungen die unter Ereignis I fallen, spricht er von process narration.²⁹¹ Diese Art der Narration trete vor allem in wissenschaftlichen Texten der Naturwissenschaften oder der Historiographie, in Tagebüchern, Reiseberichten, Sportberichten sowie in Rezepten, Anleitungen, Reisetagebüchern oder auch in Wetterberichten auf.²⁹² Beinhaltet ein narratives Werk allerdings Ereignisse im Sinne von Ereignis II kann von einem zweiten, spezifischeren Typ der Narration gesprochen werden, nämlich von eventfull narration. Narrationen dieses Typs beinhalten besondere Zustandsveränderungen bzw. sie haben beispielsweise eine Pointe.²⁹³ In Verbindung mit der process narration insbesondere bezogen auf Rezepte, Anleitungen, Reisetagebücher und Wetterberichte spricht Hühn auch von proto-narrativen Gattungen (proto-narrative). Da er keine literarischen oder künstlerischen Gattungen (außer unter Umständen Tagebücher oder Reiseberichte) in seiner Aufzählung nennt, ist davon auszugehen, dass ästhetische Narrationen nach Hühn immer Narrationen des zweiten Typs sind. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie mindestens eine ereignishafte Zustandsveränderung (event II) repräsentieren.²⁹⁴ The common premise [verschiedenster Ansätze und Beschreibungen der Erzählwürdigkeit; A.W.] consists in the assumptions that something more crucial than mere succession and change is demanded for proper narratives: an unexpected, exceptional or new turn in the sequential dimension, some crucial departure from the established course of incidents [. . .]²⁹⁵

Die Ereignishaftigkeit eines narrativen Textes bedingt damit dessen Erzählwürdigkeit (tellability) und letztlich, so behaupten Hühn und Schmid, die narrative Qualität bzw. den Grad an Narrativität eines Werks.²⁹⁶ Nach Hühn sind also die Ereignishaftigkeit und die Narrativität typologische und gleichzeitig klassifikatorische Eigenschaften.

1990; Guy Cook: Discourse and Literature. The Interplay of Form and Mind (Oxford Applied Linguistics), Oxford: Oxford University Press, 1994; Jahn: Frames, Preferences, and the Reading (1997); Herman: Story Logic (2002). 291 Vgl. Hühn: Introduction (2010), S. 1. 292 Vgl. Hühn: Introduction (2010), S. 2. 293 Vgl. Hühn: Introduction (2010), S. 2. 294 Vgl. Fußnote 30 in Hühn: Functions and Forms of Eventfulness in Narrative Fiction (2008), S. 145; vgl. Fußnote 4 in Hühn: Introduction (2010), S. 2. 295 Hühn: Functions and Forms of Eventfulness in Narrative Fiction (2008), S. 145. 296 Unter diesen Voraussetzungen könnte sogar behauptet werden, dass Ereignisse im Sinne von Ereignis II die Literarizität oder die Güte eines Textes bestimmen.

3.4 Zustände und Ereignisse | 111

Jedoch, so gestehen Hühn und Schmid zu,²⁹⁷ ist die Ereignishaftigkeit stark vom jeweiligen Kontext abhängig.²⁹⁸ Speziell ist die Ereignishaftigkeit abhängig von²⁹⁹ den sozialen und kulturellen Umständen, die im Text vorgegeben werden und damit von sozialen, kulturellen wie literarischen Kontexten, die außerhalb des Textes vorliegen, sowie davon, was in Bezug auf die zeitgenössische Welt als Ereignis gilt.

3.4.3 Ereignis III Matías Martínez und Michael Scheffel verwenden einen dritten Ereignisbegriff. Sie beziehen sich auf die Kategorie Motiv bei Tomaševskij und begreifen es als »die kleinste, elementare Einheit der Handlung«³⁰⁰ eines narrativen Textes: »Tomaševskij sah das Motiv als die nicht mehr weiter unterteilbare Einheit des thematischen Materials eines Erzähltextes an und stellte es in Analogie zum Satz als kleinster Einheit des Diskurses«.³⁰¹ Sie leiten ab, dass Motive bzw. Ereignisse propositionale Gehalte darstellen, über die den Entitäten »Geschehnis-, Handlungs-, Zustands- und Eigenschaftsprädikate«³⁰² zugeschrieben werden. Ein Ereignis bei Martínez/Scheffel ist also genau genommen nicht auf der diegetischen oder exegetischen Ebene verortet, sondern ist eine Proposition, die auf Ebene der repräsentierenden Zeichenstruktur ausgedrückt wird. Der propositionale Gehalt der Aussage ›Der König starb.‹ ist nach Martínez/Scheffel das Ereignis, nicht aber, dass die fiktive Figur König auf diegetischer Ebene einen Zustandswechsel von lebendig zu tot erfährt. Letzteres ist bei Martínez/Scheffel die Funktion des Ereignisses/Motives auf diegetischer Ebene: »Motive, oder Ereignisse, können im Zusammenhang der jeweiligen Handlung eine (1) dynamische oder eine (2) statische Funktion haben, je nachdem, ob sie die Situation verändern oder nicht.«³⁰³ Im Fall ›Der König starb.‹ ist es eine dynamische Funktion, die dieses Ereignis auf der diegetischen Ebene der erzählten Welt und innerhalb der Ereignissequenz der Geschichte erfüllt. Damit bilden Martínez/Scheffel einen dritten Typ von Ereignissen. Ereignisse sind demnach keine Zustandsveränderungen, sondern propositionale Gehalte, die beispielsweise Zustandsveränderungen ausdrücken. Die Bedeutungen von Aussagen lassen sich explizit oder implizit erschließen. Ist die Bedeutung explizit gegeben, kann der Rezipient eine Zustandsveränderung auf diegetischer Ebene direkt aus dem Text ableiten; ist sie nur implizit, ist der Aufwand an Inferenz höher.

297 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 18–22. 298 »Furthermore, this additional requirement of eventfulness is context-sensitive and consequently culturally as well as genre-specific, and historically variable.« Hühn: Introduction (2010), S. 3. 299 Vgl. Hühn: Introduction (2010), S. 3. 300 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 111. 301 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 111. 302 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 111. 303 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 112.

112 | 3 Drama und Narratologie Der dritte Begriff steht dem Ereignis I-Begriff recht nahe. Meister versteht Ereignisse als Zustandsveränderungen auf der Ebene der Diegese, wobei Zustände von Entitäten der Diegese durch je verschiedene Prädikate temporal relationiert werden. Diese Prädikate sind entweder direkt in die Zeichenstruktur eingeschrieben oder sie müssen inferiert werden. Im Sinne Ryans ›konstruiert‹ der Leser dabei die mentale Repräsentation einer Zustandsveränderung und damit die Vorstellung eines Geschehens bzw. einer Geschichte. Narration ist »a type of text able to evoke a certain type of image in the mind of the recipient«.³⁰⁴ Teilweise über die Stimuli im Text geleitet und teilweise mithilfe des eigenen Literatur- und Weltwissens entwickelt der Rezipient ein mentales Bild einer erzählten Welt, wobei sich deren Zustände sowie die Zustände von darin existierenden Figuren und Objekten verändern. Die Integration weiterer Relationen und Verbindungen zwischen Zuständen und Zustandsveränderungen dieser Welt, die zum Teil durch die Ebene der Repräsentation gesteuert werden, führt zur Entwicklung eines davon abgeleiteten sinnvollen, kohärenten und gegebenenfalls bedeutsamen Geschehens und damit einer Geschichte.³⁰⁵ Bei Martínez/Scheffel drückt sich dies anhand der Funktionen aus, die sie den Ereignissen im Sinne von Ereignis III zuschreiben. Sie unterscheiden (1) dynamische und (2) statische Funktionen von Ereignissen sowie Ereignisse die auf unbelebte Objekte (Räume, Gegenstände usw.) oder auf belebte Objekte (Figuren, antropomorphe Agenten) konzentriert sind oder von ihnen ausgehen. Ereignisse mit dynamischer Funktion (dynamische Ereignisse) verändern die Situation. Ereignisse mit statischer Funktion (statische Ereignisse) tun dies nicht, sie beschreiben unter anderem nur die erzählte Welt. Zusammen bilden sie die erzählte Welt und die darin stattfindenden Zustände und Zustandssequenzen ab. Mit der Bestimmung des Ereignisbegriffs als der Bedeutung und Funktion einer durch eine Zeichenstruktur repräsentierten Proposition, können Referenzen sowie die Repräsentation von Statik und Dynamik einer erzählten Welt unter einem einzigen Begriff subsumiert werden. Dadurch ist es mit ›Ereignis III‹ auch möglich, die Beschreibung von Zuständen der erzählten Welt als Ereignisse zu begreifen. Darauf aufbauend lassen sich bestimmte Typen unterscheiden: Ereignisse mit nicht-intendierter dynamischer Funktion bilden (1a) Geschehnisse, solche mit intendierter dynamischer Funktion (1b) Handlungen. Ereignisse mit statischer Funktion, die auf Gegenstände, Räume und ähnliches bezogen sind, verweisen auf (2a) Zustände; sind sie auf Figuren bezogen, sind es (2b) Eigenschaften (vgl. Tabelle 3.2). Daneben können noch Ereignisse mit sogenannter (3a) verknüpfter und (3b) freier Funktion unterschieden werden, je nachdem, ob das entsprechende Ereignis für die Gesamthandlung und ihren Fortgang als notwendig oder vernachlässigbar angesehen

304 Ryan: Art. ›Narrative‹ (2005), S. 347. 305 Vgl. Kapitel 3.2 ab Seite 73 und vgl. Ryan: Art. ›Narrative‹ (2005), S. 347.

3.4 Zustände und Ereignisse | 113 Tab. 3.2: Ereignisfunktionen nach Martínez/Scheffel (1a) Geschehnis (1b) Handlung (2a) Zustand (2b) Eigenschaft

Die Achse des Wagens bricht. Odoardo ersticht Emilia. Der Raum ist weiß gestrichen. Der Prinz ist aufgeregt.

werden kann.³⁰⁶ Verknüpfte Ereignisse tragen damit unter anderem zur Bildung von Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit des repräsentierten Geschehens bei, die über die bloße Folge der Zustände hinausgeht.

3.4.4 Zusammenfassung Es zeigt sich, dass der Begriff ›Ereignis‹ sehr unterschiedlich bestimmt ist. Offenbar wird mit verschiedenen methodischen Ansätzen operiert. Dennoch finden sich Gemeinsamkeiten. Es lassen sich drei Gebrauchsweisen des Begriffs ›Ereignis‹ feststellen: Ereignis I Ein Ereignis ist eine Zustandsveränderung auf diegetischer oder exegetischer Ebene (Objektereignis) oder auf der Ebene der Repräsentation (Diskursereignis). Ereignis II Ein Ereignis ist eine besondere Zustandsveränderung auf diegetischer oder exegetischer Ebene (ereignishaftes Objektereignis). Ereignis III Ein Ereignis ist eine Proposition abgeleitet von der Ebene der Repräsentation, die eine bestimmte Funktion innerhalb der Diegese oder der Exegesis (Objektereignis) bzw. bei der Bildung derselben übernimmt und dort etwa Statik oder Dynamik ausdrückt. Zu Ereignis I: Ereignisse als Zustandsveränderungen auf diegetischer oder exegetischer Ebene zu verstehen, ist eine Beschreibung die trotz der komplexen Modellierung bei Meister meines Erachtens sehr nahe an einem allgemeinverständlichen Ereignisbegriff liegt: Ein Ereignis ist, wenn etwas passiert. Problematisch ist jedoch, dass die Möglichkeiten der Bildung von Ereignissen über die Stimuli einer Zeichenstruktur nahezu unendlich sein können und mit deren Umfang exponentiell ansteigen. Jedoch ist gerade die Repräsentation von Objektereignissen bzw. einer temporal relationierten Zustandssequenz eine konstitutive Eigenschaft von Narrationen. Denn können aus einer Zeichenstruktur keine temporal relationierten Zustandsveränderungen bestimmter Entitäten der erzählten Welt inferiert werden und sollte es nur Zustandsveränderungen auf exegetischer Ebene oder sogar nur Diskursereignisse ohne temporale Relationen geben, dann liegt in diesen Fällen auch keine Narration vor. Ich setze also voraus, dass eine Narration mindestens Objektereignisse in temporaler Relation auf der Ebene der 306 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 112.

114 | 3 Drama und Narratologie Diegese im Sinne von Ereignis I enthalten muss. Diskursereignisse können wichtig werden für die Bildung der Objektereignisse und generell für die Synthese eines sinnvollen, kausal und kompositorisch zusammenhängenden Geschehens bzw. eben für die Bildung einer Geschichte. Zu Ereignis II: Schmid setzt für seinen Ereignis II-Begriff die Bestimmung von Zustandsveränderungen voraus, während Meister für seinen Ereignis I-Begriff überhaupt erst an dieser Stelle mit einer Bestimmung ansetzt. Mit Schmids Begriff ist eine temporale Zustandssequenz möglich, die keinerlei besondere Zustandsveränderungen und damit Ereignisse im Sinne von Ereignis II enthält – weder für den Rezipienten, noch für die Figuren oder den Erzähler. Der Ereignisbegriff bei Schmid ist an diesen Gebrauch angelehnt: Bloße Repräsentationen temporaler Zustandsfolgen sind keine Narrationen. Zu Narrationen werden solche Texte erst, wenn einzelne Zustandsveränderungen auf eine bestimmte Weise als besonders markiert werden (können), das bedeutet, wenn etwas Besonderes oder Unerwartetes passiert. Dies schränkt zwar die relevanten Zustandsveränderungen bezogen auf die Interpretation stark ein, allerdings sind Ereignisse im Sinne von Ereignis II erheblich stärker von einer Evaluierung abhängig. Nur schwach ereignishafte Texte haben lediglich einen geringen Grad an Narrativität. Dies impliziert eine geringere Erzählwürdigkeit und damit eine geringere literarische Güte. Gleichwohl kann aber die Darstellung einer ›Ereignisarmut‹ bzw. alltäglicher (nicht-besonderer) Zustandsveränderungen ein ästhetisch-kompositorisches Mittel eines narrativen Textes sein. Ohne dies lösen zu wollen, schlage ich in diesem Zusammenhang vor, Ereignishaftigkeit nur als Qualität für Ereignisse bzw. Zustandsveränderungen zu verwenden und nicht gleichzeitig klassifizierend zur Trennung ›bloßer‹ Zustandsveränderungen von ›eigentlichen‹ Ereignissen. Eine Zustandsveränderung ist immer schon ein Ereignis im erzähltheoretischen Sinne und kann über die Kategorien der Ereignishaftigkeit und in Bezug auf textinterne und -externe, kulturelle und soziale, medien-, gattungs- und genretypische Kontexte evaluiert werden. Die Bestimmung der Ereignishaftigkeit ist aber kein geeignetes Mittel, um Ereignisse von Nicht-Ereignissen und damit Narrationen von Nicht-Narrationen oder gute von schlechten Narrationen zu unterscheiden. Zu Ereignis III: Dieser Begriff steht Meisters Vorstellung des Ereignisses sehr nahe. Allerdings erzeugen bei Meister die Propositionen auf der Ebene der Repräsentation bzw. die Inferenz derselben bei der Rezeption die Ereignisse auf Ebene der erzählten Welt, während bei Martínez/Scheffel bereits die Propositionen selbst als die Ereignisse verstanden werden, die für die Bildung der erzählten Welt sowie der Geschichte bestimmte Funktionen wie etwa Statik oder Dynamik erfüllen. Problematisch ist sicherlich, dass mit ›Ereignis III‹ sowohl Zustände (Eigenschaft, Zustand) als auch Zustandsveränderungen (Geschehnis, Handlung) unter dem Ereignisbegriff versammelt werden. Gleichwohl wird kein narrativer Text ohne Repräsentationen einfacher Zustände (Deskriptionen) der erzählten Welt oder ihrer Entitäten auskommen. So betrachtet erlaubt dieses Verständnis von Ereignis sogar eine Erklärung für die Gestaltung der erzählten Welt zusätzlich zur Bildung einer Zustandssequenz. Anders ausgedrückt kann es keine

3.4 Zustände und Ereignisse | 115

Narration ohne Deskription geben, also keine Repräsentation von Zustandsveränderungen und damit mindestens zweier Zustände ohne eine Repräsentation mindestens eines Zustands. Eine Narration besteht immer aus einer Mischung von Ereignissen mit statischer (Zustände) und dynamischer (Zustandsveränderungen) Funktion. Mindestens zwei dieser Ereignisse müssen aber eine temporale Relation zueinander andeuten und sich auf die Diegese beziehen. Für eine abschließende Ereignistypologie ziehe ich noch einmal Hühns Vorschlag einer Differenzierung anhand des ›Orts‹ der Zustandsveränderungen heran: Er unterscheidet (1) Zustandsveränderungen, die innerhalb der Diegese auftreten (events of happenings oder story events), (2) solche, die innerhalb der Exegesis oder auf Ebene der Mediation (presentation events und mediation events) anzusiedeln sind und (3) Zustandsveränderungen, die auf Rezeptionsebene (reception events) liegen.³⁰⁷ Die Rezeptionsereignisse »take place during the reading process with the reader as agent in cases when neither the protagonist nor the speaker is willing or able to undergo a (necessary or desirable) change«.³⁰⁸ In diesem Fall sei also der Leser das Ereignisobjekt, der anstelle des Erzählers oder der Figuren einen Zustandswechsel erfahre. Zum einen scheint Hühns Beschreibung nahe an der von Meisters Diskursereignis zu liegen, da auch dort ein Ereignisobjekt auf einer der diegetischen Ebenen fehlt. Allerdings wird dort dem Leser keine handelnde Rolle zugeschrieben bzw. erfährt er keinen Wandel stellvertretend für eine der Entitäten des narrativen Textes. Sofern Hühn auf eine Änderung der Einstellung des Lesers zu bestimmten Sachverhalten ausgelöst durch die Narration hinaus will, so kann dies durch die Lektüre eines jeden beliebigen Textes geschehen und ist zweitens nicht nur dann der Fall, wenn es einer der Figuren unmöglich ist. Wegen dieser uneindeutigen Lage werde ich Rezeptionsereignisse nicht mit in eine narratologische Terminologie übernehmen. Die bei Hühn angeführten Mediationsereignisse und Präsentationsereignisse stehen sich relativ nah. Während Präsentationsereignisse eher vom Erzähler ausgehen, haben Mediationsereignisse ihren Ursprung beim abstrakten bzw. impliziten Autor. Beide ändern oder bestimmen die Eigenschaften der Darstellung, während letztere vor allem dann vorliegen, wenn die Art der Mediation bzw. der Präsentation auf eine Weise geändert wird die nur schwer einem fiktiven Erzähler zugeschrieben werden kann. Zum Beispiel »by modification or replacement of schemata, attributable not to the speaker but to the abstract author (as when the speaker’s lament about his artistic sterility is mediated in the form of a perfect poem)«.³⁰⁹ Meiner Ansicht nach muss für die Erklärung derartiger Mediationsereignisse nicht auf den impliziten Autor zurückgegriffen werden und ich sehe keinen Widerspruch darin, dass die jeweils vermittelnde Instanz selbst einen Wechsel der Art der Präsentation vornimmt oder diese, wie es sich in Hühns 307 Vgl. Hühn: Conclusion (2005), S. 246 f.; vgl. Hühn: Event and Eventfulness (2009), S. 93; vgl. Hühn/Sommer: Narration in Poetry and Drama (2009), S. 234; vgl. Hühn: Introduction (2010), S. 9. 308 Hühn/Sommer: Narration in Poetry and Drama (2009), S. 234. 309 Hühn/Sommer: Narration in Poetry and Drama (2009), S. 234.

116 | 3 Drama und Narratologie Beispiel andeutet, kontrastiv gestaltet bzw. dass die vermittelnde Instanz nicht selbst die Vermittlung bestimmt.³¹⁰ Ich unterscheide funktionale Ereignisse auf der Ebene der Diegese von solchen auf Ebene der Exegesis. Diegetische Ereignisse ändern oder beschreiben die Zustände von Figuren, Entitäten und Räumen innerhalb der erzählten Welt und haben möglicherweise die Figuren der Diegese als handelnde Entitäten. Exegetische Ereignisse ändern die Zustände von Figuren, Entitäten und Räumen außerhalb der Diegese, damit innerhalb der Welt des Erzählens (Erzählgeschichte) und haben gegebenenfalls den Erzähler als handelnde Entität. Ich grenze zusätzlich Ereignisse, die das Erzählgeschehen und die Exegesis gestalten von solchen ab, die die Präsentation selbst betreffen. Damit nähere ich mich den Mediationsereignissen und Präsentationsereignissen Hühns an. Ich möchte aber bei funktionalen Ereignissen auf Ebene der Präsentation nur noch von Präsentationsereignissen sprechen, da die Präsentation die Mediation mit einschließt. Die diegetischen und exegetischen Ereignisse sowie die Präsentationsereignisse können im Sinne von Martínez/Scheffel in dynamische und statische sowie in gebundene und freie Ereignisse differenziert werden. Im Sinne Meisters lassen sie sich zusätzlich in Objekt- und Diskursereignisse unterscheiden.

3.5 Das Kommunikationsmodell Erzählen ist ein kommunikativer Akt. Modelle narrativer Kommunikation sind dabei Ausdifferenzierungen einer realen Kommunikationssituation: Ein Autor/Sprecher bildet ein Kommunikat in Form einer Zeichenstruktur, das zur Übermittlung eines Inhalts an einen Leser/Hörer dient. Narrationen, die die Literaturwissenschaft untersucht, sind in der Regel fiktionale Narrationen. Wie Martínez/Scheffel anmerken hat dies Auswirkungen auf die Kommunikationssituation Autor/Text/Leser und damit auf die Beschreibung des zugrunde gelegten Kommunikationsmodells: Fiktionale Texte sind [. . .] Teil einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Fiktionale Texte sind jedoch komplexer als faktuale, weil sie außer der realen auch noch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation angehören. Die fiktionale Erzählung richtet sich sowohl im imaginären als auch im realen Kontext an einen Leser und stellt daher eine »kommunizierte Kommunikation« dar [. . .].³¹¹

310 Ich werde dies später im Zusammenhang mit der Diskussion um das Kommunikationsmodell und um die Mittelbarkeit sowie die dramatische (Erzähl)Instanz genauer herausstellen. Ich verweise aber schon hier darauf, dass ich den impliziten Autor bzw. den implied author nicht mit in das Kommunikationsmodell narrativer Texte aufnehme. 311 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 19.

3.5 Das Kommunikationsmodell | 117

Frank Zipfel fasst diese Konstellation in einem Schaubild zusammen, das in der Abbildung 3.1 nachgebildet ist.³¹² Es handelt sich allgemein bei der literarischen Kommunikationssituation um eine von ihm so bezeichnete zerdehnte Sprachhandlungssituation. Damit ist gemeint, dass der Produktionsprozess und der Rezeptionsprozess eines Textes nicht zur selben Zeit stattfinden. Der Kommunikationsakt geht zudem asymmetrisch vom Autor aus. Der empirische Autor gestaltet einen narrativen Text, den Erzähltext1 , für den empirischen Leser. Zipfel argumentiert weiter, dass jedoch der sprachhandlungslogische bzw. der erzähllogische Produzent der Erzählung bzw. des Erzähltextes2 eines fiktional-narrativen Textes nicht mehr der Autor, sondern eine von ihm analytisch zu unterscheidende fiktive Instanz ist. Dabei sind Erzähltext1 und Erzähltext2 in ihrem Wortlaut identische Texte. Ihr Unterschied liegt vielmehr in der veränderten Kommunikationssituation in Bezug auf Erzähltext2 . Dort kommuniziert, wie Zipfel erklärt, ein Erzähler im werkinternen Bereich als eine fiktive Instanz³¹³ mit einem Adressaten. Damit unterscheidet Zipfel für fiktionale Narrationen eine werkexterne (Autor/Leser) und eine werkinterne (Erzähler/Adressat) Kommunikationssituation.³¹⁴ Nach Eike Muny besitzen die vom Autor getroffenen Aussagen über das repräsentierte Geschehen und die Diegese in einem fiktionalen Erzähltext keine Geltung bzw. keine behauptende Kraft im werkexternen Bereich, bezogen auf die Kommunikation zwischen Erzähler und Adressaten im werkinternen Bereich hingegen schon. Sobald die Grenze zum werkinternen System überschritten wird, »in der sich ein imaginierter Erzähler an eine imaginierte Leserschaft richtet«,³¹⁵ werden die Aussagen zu »authentische[n] Sätze[n]«.³¹⁶ Das von Dieter Janik so benannte Modell der »kommunizierten Kommunikation«³¹⁷ fiktionaler Texte und die obligatorische Trennung der Narratologie von Autor und Erzähler bedingen sich gegenseitig. Ausdifferenzierungen dieses Kommunikationsmodells fiktionaler narrativer Texte entstanden seit Anfang der siebziger Jahre, wobei das von Rolf Fieguth zur Unterscheidung dramatischer und narrativer Texte entworfene Modell das am meisten zitierte und eine Grundlage der entwickelten

312 Vgl. die Abbildung bei Zipfel (Hrsg.): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001), S. 119. 313 Fiktive Entitäten, Objekte oder Sachverhalte, die durch eine Aussage bedeutet werden, haben keine Entsprechung in der Wirklichkeit des jeweiligen Sprechers. Geschichten oder auch erzählte Welten zeichnen sich dann durch Fiktivität aus, wenn ihre Komponenten, also Zustandsveränderungen, Figuren, Gegenstände, Orte und Zeiten, keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben. Dies bedeutet allerdings nicht, dass nicht gleichzeitig auf Entitäten verwiesen werden kann, die sehr wohl in der Wirklichkeit des Sprechers referenzierbar sind und zudem, dass der Leser oder Hörer durchaus unterbestimmte Stellen einer solchen fiktiven erzählten Welt mit seinem Weltwissen ergänzen kann. Insbesondere in der Literatur sind fiktive Geschichten in fiktionale Darstellungen eingebunden und Teil fiktionaler, narrativer Texte. 314 Vgl. Zipfel (Hrsg.): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001), S. 117–120. 315 Muny: Erzählperspektive im Drama (2008), S. 41. 316 Muny: Erzählperspektive im Drama (2008), S. 41. 317 Dieter Janik: Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks. Ein semiologisches Modell (Thesen und Analysen 3), Bebenhausen: Lothar Rotsch Verlag, 1973, S. 12.

118 | 3 Drama und Narratologie zerdehnte Sprachhandlungssituation Produktionssituation Autor

Erzähltext1 Erzähler

Erzähltext2 Geschichte Adressat Leser Rezeptionssituation

Abb. 3.1: Frank Zipfels Modell der Sprachhandlungsstruktur eines fiktionalen ›Schrift-Erzähl-Textes‹

Varianten darstellt.³¹⁸ Insbesondere Frank Zipfel erkennt hier eine ›enge Verbindung‹, die die Fiktionstheorie und die Erzähltheorie zueinander einnehmen.³¹⁹ Die Narratologie stellt für die werkinterne Kommunikationsituation die analytische Kategorie des Erzählers bereit. Da beispielsweise Eike Muny den Dramentext als einen sowohl fiktionalen als auch narrativen Text versteht, nimmt er folgerichtig für diesen ein stets vorhandenes imaginäres Kommunikationssystem und damit eine stets vorhandene erzählende Instanz an.³²⁰ So einfach dies klingt, so wird dem Drama in der gängigen Forschung dennoch ein Erzähler/Adressaten-Diskurs abgesprochen, ironischerweise gerade anhand dieses Kommunikationsmodells. Diese Einschätzung rührt daher, dass das Drama als ein dramatischer und nicht narrativer Text begriffen wird. Denn in dramatischen Texten werde die Information direkt, ohne dazwischen geschaltete Instanz vermittelt. Dem Drama fehle deshalb eine werkinterne Kommunikationssituation und es könne unter diesen Voraussetzungen auch keinen Erzähler besitzen. Ein nicht von der Hand zu weisender fiktionaler Charakter von Dramentexten spielt dabei offenbar keine Rolle mehr. Oben habe ich gezeigt, dass der Dramentext durchaus als ein narrativer Text verstanden werden kann. Da gleichzeitig anzunehmen ist, dass im Falle des Dramas der Autor den Dramentext und mit ihm insbesondere den Spieltext als einen fiktionalen

318 Vgl. Rolf Fieguth: Zur Rezeptionslenkung bei narrativen und dramatischen Texten, in: Sprache im technischen Zeitalter 47 (1973), S. 186–201. 319 Zipfel (Hrsg.): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001), S. 179 f. 320 Vgl. Muny: Erzählperspektive im Drama (2008), S. 65, 67.

3.5 Das Kommunikationsmodell | 119

Text gestaltet hat, wird unter diesen Voraussetzungen zu zeigen sein, wie im Falle des Dramentextes das Modell der kommunizierten Kommunikation übertragbar ist. Ich ziehe für meine Darstellung die Varianten von Manfred Pfister, Ansgar Nünning und Wolf Schmid heran. Schmid behandle ich deshalb, da er die Kommunikationssituation narrativer Texte semiotisch einbindet, Pfister, da er das Kommunikationsmodell speziell zur Trennung von Drama und Epik heranzieht und darüber auch die Episierung beschreibt sowie schließlich Nünning aus dem Grund, da er eine Alternative für den hin und wieder im System auftauchenden sogenannten impliziten Autor entwickelt.

3.5.1 Das Kommunikationsmodell bei Schmid Schmid trennt in Bezug auf das Kommunikationsmodell den literarischen Text sowie die dargestellte/erzählende und die erzählte Welt voneinander. Letztere korrespondieren mit seiner Unterscheidung in Exegesis und Diegese. Dargestellte und erzählte Welt gehören einem werkinternen Bereich an, der vom werkexternen Bezug des literarischen Textes durch das Fiktionalitätskriterium geschieden werden kann.³²¹ Der Autor produziert ein literarisches Werk, in dem er die fiktionale Darstellung einer Welt (dargestellte Welt, Exegesis) entwirft, in der ein Erzähler eine Erzählung an einen Adressaten richtet³²² und dabei wiederum eine erzählte Welt (Diegese) entwirft. Schmid unterscheidet damit drei Systeme der Kommunikation. Auf der äußersten Ebene steht bei ihm die Autorkommunikation, die das literarische Werk und die anhand dessen entwickelte dargestellte Welt generiert, des Weiteren die Erzählkommunikation, verortet in der dargestellten Welt, und schließlich die Figurenkommunikation innerhalb der erzählten Welt. Die Autorkommunikation und die Erzählkommunikation sieht er als konstitutiv für Erzählwerke an. Sind alle drei Systeme ausgestaltet,³²³ erkennt Schmid ein Schema einer bedeutungsschaffenden Aktivität der Instanzen verwirklicht, wie es in Abbildung 3.2 auf Seite 120 nachgebildet ist. Es kann wie folgt gelesen werden: Die Figurenkommunikation bildet ein semiotisches System F, wobei die Zeichen S über die »Interdependenz (⇔) der Signifikanten (Sa, signifiants) und Signifikate (Se, signifiés) [. . .] gebildet werden«.³²⁴ Dieses ist ein Element der Erzählkommunikation, welche selbst ein semiotisches System E bildet. E wiederum ist Teil der Autorkommunikation und dem semiotischen 321 Schmid legt dazu folgende Beschreibung eines fiktiven und eines fiktionalen Status zugrunde: »Fiktiv sein heißt: nur dargestellt sein. Die literarische Fiktion ist die Darstellung einer Welt, die keine direkte Beziehung des Dargestellten zu einer realen außerliterarischen Welt impliziert. Die Fiktion besteht im Machen, in der Konstruktion einer ausgedachten, möglichen Welt.« Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 37. 322 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 41 f. 323 Es kann von dem Fall ausgegangen werden, dass in einem narrativen Text keine Figuren außer dem Erzähler auftreten. In diesem Fall gibt es keine Figurenkommunikation. 324 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 64.

120 | 3 Drama und Narratologie System A. Bezogen auf Schmids semiotische Überlagerung bedeutet dies, dass der Autor eine dargestellte Welt, genauer: eine Repräsentation einer dargestellten Welt über die Zeichenstruktur des literarischen Werks schafft. Zu den gebildeten Zeichen gehört im Falle des engen Erzählbegriffs ein Erzähler und dessen Erzählen. Dieser schafft abermals eine Zeichenstruktur, die die erzählte Welt konstituiert. Darin bildet sich in Form des Geschehens, der Ereignisse, der Figuren usw. abermals ein semiotisches System. Ausgangspunkt der semiotischen Überlagerungen ist damit immer der reale Autor, wovon alle weiteren ineinander geschachtelten Systeme abhängen.

Figurenkommunikation

F : Sa F ⇔ Se F ⏟ ⏞

Erzählkommunikation

E:

Autorkommunikation

A:

S F ∈ Sa E ⇔ Se E ⏟ ⏞ S E ∈ Sa A ⇔ Se A

Abb. 3.2: Bedeutungsüberlagerung bei Schmid

3.5.2 Das Kommunikationsmodell bei Pfister Pfister beschreibt ein Kommunikationsmodell,³²⁵ das sowohl er als auch Nünning/Sommer in einer abgewandelten Version³²⁶ der Diskussion um den narrativen Charakter von Erzähl- und Dramentexten zugrunde legen.³²⁷ Dieses Modell stellt wie bei Schmid eine Schachtelung dreier Kommunikationssysteme dar. Dazu werden ein äußeres, ein vermittelndes und ein inneres Kommunikationssystem gezählt. Diese Systeme können analog zu Schmids Autor-, Erzähler und Figurenkommunikation verstanden werden. Bei Pfister und Schmid sind diesen Systemen vier »einander übergeordnete semiotische[] Niveaus«³²⁸ (N4 − N1) zugeordnet.³²⁹ Jedes dieser semiotischen Niveaus konstituiert sich kommunikationstheoretisch über die von einer Sender- an eine

325 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 20 ff. 326 Vgl. Nünning/Sommer: Drama und Narratologie (2002), S. 109 f. 327 Vgl. dazu auch Ansgar Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktionen der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots (Horizonte 2), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1989, S. 22–40. 328 Pfister: Das Drama (2001), S. 20. 329 Nünning will dabei nicht von einer hierarchischen Ordnung sprechen. »Die Tatsache, daß sich verschiedene Modelle auch in der Nummerierung der Kommunikationsebenen unterscheiden, ist insofern sekundär, als diese Ansätze nicht ein normatives Konzept von Hierarchie zugrundelegen; es geht nicht um eine Abstufung der Ebenen im Sinne von größerer Wichtigkeit, sondern lediglich um die

3.5 Das Kommunikationsmodell | 121

Empfängerinstanz in Form von Zeichenstrukturen gerichteten Aussagen, wenngleich nur auf dem Niveau N4 tatsächliche oder reale und nicht nur fiktive oder abstrahierte Sender und Empfängerinstanzen angenommen werden. Das äußerste Niveau N4 wird nach Pfister gebildet durch die Kommunikation zwischen dem empirischen Autor, »in seiner literatur-soziologisch beschreibbaren Rolle«³³⁰ als Werkproduzent sowie Senderinstanz und dem empirischen Leser als Empfängerinstanz. Auf der nächsten Ebene wird ein idealer Autor als »Subjekt des Werkganzen«³³¹ und ein idealer Rezipient angesetzt, die das Niveau N3 etablieren.³³² Beide Niveaus und Kommunikationsebenen (N4 + N3) werden zum äußeren Kommunikationssystem gezählt. Das äußere Kommunikationssystem liegt im werkexternen Bereich, der im Falle fiktionaler Texte dem realen Bereich entspricht. Pfister wie Schmid betrachten N4 dabei als die reale und N3 als eine idealisierte Form des äußeren Kommunikationssystems bzw. der Autorkommunikation.³³³ Die nächste Ebene bei Pfister ist die Ebene des vermittelnden Kommunikationssystems und das semiotische Niveau N2. Diesem werden ein fiktiver Erzähler »als vermittelnde Erzählfunktion«³³⁴ auf der Senderseite und der fiktive Hörer als Adressat auf der Empfängerseite zugerechnet. Der fiktive Hörer muss jedoch nicht immer durch den Leser wahrnehmbar sein. In manchen Fällen ist ein fiktiver Hörer durch direkte Ansprachen des Erzählers besonders stark gekennzeichnet, in manchen Fällen ahnt man, dass eine bestimmte Person angesprochen wird. In vielen Fällen tritt diese Instanz jedoch eher in den Hintergrund und man ist sich ihrer während des Lesens nicht bewusst, N2 ist im werkinternen Bereich angesiedelt und stellt die eingangs beschriebene kommunizierte Kommunikation auf der fiktiven Ebene dar. Sie ist in der von Schmid vorgeschlagenen Exegesis zu verorten. ›Vermittelnd‹ wird sie von Pfister genannt, da Niveau N2 als Mittlermedium zwischen dem folgenden Niveau N1 und dem äußeren Kommunikationssystem N3 + N4 fungiert und es als Nahtstelle über die vermittelnde Instanz (Erzähler, narrator) die Verbindung zum äußeren Kommunikationssystem herstellt. Diese Sicht lässt sich in Pfisters Modell aber nur dann annehmen, wenn der fiktive Adressat (der dem erzählt wird, narratee) auf N2 nicht beachtet wird.

Einbettungsverhältnisse.« Vgl. Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 26 f. 330 Pfister: Das Drama (2001), S. 20. 331 Pfister: Das Drama (2001), S. 21. 332 Nünning/Sommer wie auch schon Nünning sehen auf diesem Niveau keine Kommunikationsrollen eingesetzt. Vielmehr wird dieses Niveau als die Gesamtstruktur des Textes verstanden. Pfister spricht ähnlich abstrakt in Bezug auf den impliziten Autor auch vom Subjekt des Werkganzen. Vgl. Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 34 f.; vgl. Ansgar Nünning: Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literarturkritisches Phänomen? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des »implied author«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67.1 (1993), S. 1–25. 333 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 21. 334 Pfister: Das Drama (2001), S. 21.

122 | 3 Drama und Narratologie Der Erzähler, so ergibt es sich aus dem Modell, kommuniziert in einem solchen Fall direkt mit dem realen Rezipienten bzw. vermittelt direkt an ihn.³³⁵ Schließlich gibt es noch die im inneren Kommunikationssystem verortete Kommunikationsebene, auf der sich die über das vermittelnde Kommunikationssystem beschriebenen fiktiven Figuren befinden, die ein semiotisches Niveau N1 auf diegetischer Ebene bilden können. Mit N1 und N2 werden die Kommunikationsverhältnisse im werkinternen Bereich beschrieben. Es wird angenommen, dass dabei nur die Kommunikation, aus der sich Niveau N1 ergibt, eine symmetrische Kommunikationssituation darstellt, bei der der Sender und Empfänger wechseln können, was im Drama äußerst häufig passiert. Bei den Niveaus des äußeren Systems ist im Gegensatz dazu von einer asymmetrischen (einfach gerichteten) Kommunikation auszugehen. Der Rezipient – sei es ein realer oder idealer Rezipient bzw. ein fiktiver Adressat – kann sich nicht aktiv etwa durch Nachfragen, Berichtigungen oder gar durch die Übernahme der die Narration produzierenden Funktion beteiligen.³³⁶

3.5.3 Das Kommunikationsmodell bei Nünning Nünning stellt 1989 ein revisioniertes Modell Fieguths vor, welches er und Roy Sommer auch in ihrem 2002 erschienenen Aufsatz Drama und Narratologie³³⁷ verwenden. Auch hier werden vier Niveaus (N1 − N4) angenommen. Es unterscheidet sich von Pfisters Modell vor allem in der Einbettung des Niveaus N3.³³⁸ N3 wird im Gegensatz zu den Modellen von Pfister oder Schmid nicht über eine ideale Kommunikation zwischen einem impliziten Autor und einem impliziten Rezipient gebildet, sondern es wird als semiotische Ebene verstanden, die sich aus der Gesamtstruktur des Textes ergibt.

335 Eine Variante, die sich aus der Terminologie Schmids (vgl. Kapitel 3.3.2.2 auf Seite 88) ergibt ist, das vermittelnde Moment darin zu sehen, dass hier der Erzähler eine Brücke zwischen der Diegesis auf Niveau N1 und der Exegesis bzw. Niveau N2 schlägt, also eine Brücke zwischen der Welt, von der berichtet wird, und der Welt, in der berichtet wird. Besser ist es in diesem Fall, von einer Brücke zweier voneinander unterscheidbarer deiktischer Systeme zu sprechen. Bei einer Erzählung über das eigene Leben des Erzählers ändert sich ja nicht die Welt, sondern nur die deiktischen Bezüge – ausgedrückt etwa durch eine andere Zeitdeixis beim Berichten über Vergangenes oder durch eine andere Ortsdeixis beim Berichten über Gleichzeitiges. 336 Da für N2 davon ausgegangen wird, dass der fiktive Rezipient nur eine abstrakte Instanz darstellt, können hier Sender und Empfänger nicht wechseln. Angenommen es würde eine personifizierte fiktive Rezipienteninstanz über den Text entwickelt, die sogar Zwischenfragen stellt, gerät diese Vorannahme der asysmmetrischen Kommunikation schnell ins Wanken. Es drängt sich dabei die Frage auf, ob diese Kommunikation nicht mehr auf N2, sondern bereits auf N1 stattfindet. 337 Vgl. Nünning/Sommer: Drama und Narratologie (2002), S. 110. 338 Vgl. dazu auch Nünning: Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literarturkritisches Phänomen? (1993).

3.5 Das Kommunikationsmodell | 123

Auf der Ebene des äußeren Kommunikationssystems stellt neben dem Erzähler im vermittelnden Kommunikationssystem insbesondere im Drama der implizite Autor – bei Pfister der ideale Autor – die umstrittenste Instanz dar.³³⁹ Genau genommen wird das gesamte Niveau N3 in Frage gestellt. Das Konzept impliziter Autor geht unter dieser Bezeichnung auf Wayne Booth zurück, der damit für den durch den New Criticism problematisierten realen Autor einen alternativen Kristallisationspunkt von Intention und Sinn des Werkes liefern wollte, sozusagen eine ›Pufferinstanz‹ für die ansonsten ins Leere laufende Intentionszuschreibung.³⁴⁰ Die Intention wäre ohne impliziten Autor dem Text selbst zuzuschreiben, was insofern nicht sinnvoll sei, als Texte weder über ein Bewusstsein noch über die Fähigkeit zu propositionalen Einstellungen verfügen. Aus interpretationstheoretischer Sicht, hat die Diskussion um den impliziten Autor hohe Relevanz. Für das oben vorgestellte Kommunikationsmodell hat es nach Nünning eine Konsequenz, da es das Modell in einem Punkt grundlegend ändert: Niveau N3 kann nicht über ein zugehöriges Kommunikationssystem gebildet werden. Für die Narratologie und für das hier verfolgte Konzept der Episierung ist jedoch weniger die Diskussion um einen impliziten Autor von Bedeutung, als das Niveau N3 im Sinne einer Ebene der ›projizierten‹ Struktur des Werkganzen. Nünning bestimmt das Niveau N3 als ein hypothetisches Konstrukt, welches vom Rezipienten beim Lesen entwickelt wird oder sogar werden muss, um das vorliegende Werk als kohärentes und bedeutsames Artefakt aufzufassen und es in außerkünstlerische Kontexte einzuordnen. Nünning erklärt N3 »als die Summe aller strukturellen Kontrast- und Korrespondenzbezüge, die sich durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf N1 und N2 ergeben«.³⁴¹ N1, N2 und sogar N4 können als Niveaus verstanden werden, auf denen verschiedene reale bzw. fiktive Instanzen Äußerungsakte vollführen. Der Autor ›äußert‹ auf N4 das gesamte Werk,³⁴² der Erzähler äußert auf N2 die erzählte Welt und weitere erzählende Instanzen auf N1 äußern sich über die und in der erzählten Welt. Da nun auf N3 ein impliziter Autor als Äußerungsinstanz ausgeschlossen wird, äußert sich hier zwar niemand, aber diese Ebene bleibt offen, um die Lücken zu schließen und alle Äußerungen auf N2 und N1 in einen Gesamtzusammenhang zu setzen, der nicht abhängig vom real-werkexternen Niveau N4 sein muss. Während das gemeinsame Merkmal von N1 und N2 die Präsenz von Äußerungen ist, die textuellen Sprechern zugeschrieben werden können, wird N3 gerade durch die Differenzen zwischen

339 Für eine differenzierte wissenschaftshistorische Aufarbeitung und theoretisch-kritische Auseinandersetzung mit dem implied author-Konzept siehe einschlägig Tom Kindt/Hans-Harald Müller: The Implied Author. Concept and Controversy (Narratologia 9), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2006. 340 Vgl. Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction, Chicago und London: The University of Chicago Press, 2 1983. 341 Vgl. auch die oben bei Schmids Ereignisbegriff erwähnten Äquivalenzbeziehungen. Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 34. 342 Er ist in diesem Sinne also auch für die Strukturierung von N2 und N1 verantwortlich.

124 | 3 Drama und Narratologie

verschiedenen textuellen Elementen konstituiert; somit handelt es sich bei N3 um eine relationale und strukturelle Kategorie, die die Beziehungen zwischen den Elementen eines Textes, dessen Gesamtstruktur erfasst.³⁴³

Dies bedeutet nicht, dass aus dem Werk nur eine Struktur und dessen Relationen extrapoliert werden können. Gerade bei starken Differenzbeziehungen können die Füllung bzw. die Relationsbildungen – insbesondere im Sinne der Schematheorie – abhängig sein von der Disposition des jeweiligen Rezipienten oder sie können auch einfach ambivalent bleiben. Nünning bestimmt N3 ex negativo. Während N1, N2 und N4 sich aus Kommunikationssituationen ergeben, da hier sprachliche Äußerungen einem Redesubjekt zugeordnet werden können, fängt N3 diejenigen Strukturmerkmale und Relationen auf, die keiner Sprecherinstanz auf N1, N2 und N4 zugeordnet werden können. Für die Konstituierung von N3 ist nicht irgendein konkreter Bestandteil des Textes entscheidend, sondern die Form der Struktur selbst, d. h. das Gesamt aller Elemente und ihre potentiellen Relationen. [. . .] Die Form oder Struktur eines Romans läßt sich nicht in irgendeinem Teil des Textes lokalisieren, sondern allenfalls als abstrahierbare Induktion aus dem Text als ganzem modellieren.³⁴⁴

Nünning geht davon aus, dass Rezipienten aus einem Text eine Struktur abstrahieren, auf der und durch die sie Bedeutung aufbauen: »Die Konstituierung einer Textstruktur ließe sich demnach beschreiben als ein Ineinandergreifen von virtuell aufeinander beziehbaren strukturellen Merkmalen eines Textes und der strukturschaffenden Leistung individueller Rezipienten.«³⁴⁵ Dies ginge so weit, dass während des Rezeptionsvorganges die textinternen Stimuli aufeinander und in Bezug auf eine nach und nach generierte Gesamtstruktur des Werkganzen bezogen werden. Aufbauend auf N3 entwickelt der Rezipient im Zusammenschluss mit den Indizes des rezipierten Werks als Ganzem Bedeutung. Die Bedeutungsstiftung muss aber nicht allein vom Rezipienten ausgehen oder nur implizit über die Werkstruktur gegeben sein, sie kann auch über die Niveaus N1 und N2 gerichtet werden.³⁴⁶ Das Niveau N3 wird damit von Nünning beschrieben als »das virtuelle System aller übergeordneten Strukturrelationen eines Textes«.³⁴⁷

343 Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 34. 344 Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 35. 345 Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 37 f. 346 Vgl. Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 37. 347 Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 39.

3.5 Das Kommunikationsmodell | 125

Fotis Jannidis liefert eine ähnliche Beschreibung ineinandergreifender und sich gegenseitig verstärkender semiotischer Systeme, aus deren Zusammenspiel sich eine zusätzliche Sinndimension ergibt: The narrator is the source of the discourse, one of the meaningful structures of a narrative. He is also partly responsible for another meaningful structure, that of the story. Furthermore, he persues an objective when he narrates a story. This intentional element leaves its mark on the first two meaningful structures and creates a dimension of meaning of its own.³⁴⁸

Als sprachliche Elemente bzw. textuelle Strukturen, die für die Konstitution von N3 eine Rolle spielen, gibt Nünning an: Meta- bzw. paratextuelle Vorinformationen wie Buch- oder Kapitelüberschriften, die Reihenfolge der narrativen Aussagen, die daraus entstehende Spannung, die Zeitdarstellung, Komik und Ironie, die Figurenkonstellationen sowie die Kontrast- und Korrespondenzrelationen zwischen den Figuren. Wie sehr dabei der Rezipient auf seine Inferenzleistung angewiesen ist, hängt davon ab, ob Hinweise explizit im Text gegeben werden oder aber nur implizit erkennbar sind und unter Berücksichtung von werkexternen Kontexten und Weltwissen erschlossen werden müssen. Kapitelüberschriften und damit eine Möglichkeit der Strukturierung des narrativen Textes, können als Aussage weder der Figuren- noch der Erzählebene zugeordnet werden. Sie sind aber explizite Strukturmerkmale, die zur Konstitution des Niveaus N3 beitragen, von dem aus Kohärenz- und Verstehensleistungen des Rezipienten Wirkung zeigen und ansetzen. Die Strukturierung narrativer Aussagen und die Ordnung des fiktiven Geschehens spricht Nünning dem Niveau N3 als »Aspekt[e] des Werkganzen«³⁴⁹ zu.³⁵⁰ Diese Strukturierung kann zum Beispiel ebenso durch Kommentare des Erzählers herausgestellt werden. Gleiches gilt für die Spannung und die Zeitdarstellung.³⁵¹ Auf N3 sind die »spannungsfördernde Anordnung des Erzählten, die Unterbrechung eines Handlungsstranges an einer kritischen Stelle oder die Einfügung retardierender Elemente«³⁵² anzusiedeln. Diese Merkmale können vom Erzähler explizit gemacht werden. Zur Zeitbehandlung zählt Nünning sowohl »Differenzen zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit«,³⁵³ also Raffungen, Dehnungen usw., »als auch Eingriffe in

348 Jannidis: Narratology and the Narrative (2003), S. 49. 349 Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 37. 350 Vgl. zu den impliziten Hinweisen auf den Erzähler das Kapitel 3.6 auf Seite 147. 351 Nünning erwähnt in diesem Zusammenhang eine Ortsdarstellung nicht. 352 Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 37. 353 Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 37.

126 | 3 Drama und Narratologie den chronologischen Ablauf der erzählten Zeit«³⁵⁴ wie etwa Anachronien. Auch solche Elemente können vom Erzähler explizit pointiert werden. Für die Ortsdarstellung gilt meiner Einschätzung nach Dasselbe. Entweder Ortswechsel sind implizit über die Struktur des Textes gegeben oder sie werden vom Erzähler explizit gekennzeichnet. Bei der Figurenkonstellation und -relationierung kann abermals der Erzähler die Struktur zum Beispiel durch auktoriale Figurencharakterisierung und Relationierung durch Kommentare liefern oder sie kann auch hier aus der Struktur des Textes inferiert werden.³⁵⁵ Damit bildet Niveau N3 die Nahtstelle zwischen den Elementen des materialen Textes und dem Rezipienten, weil auf dieser Ebene das Potential aller formalen und strukturellen Relationen des Werkganzen theoretisch situiert werden kann, das im individuellen Rezeptionsprozeß variabel und immer nur partiell aktualisiert wird.³⁵⁶

Die Relationierung des Textes und seiner Teile kann implizit anhand der Struktur des Text selbst oder zusätzlich explizit durch einen Erzähler gestaltet und gesteuert werden. Für das Modell der Kommunikationssituation literarischer Texte und für den Fortgang dieser Arbeit bedeutet dies, dass ich N3 im eben beschriebenen Sinne übernehme. N3 erhält so sowohl zusätzliche Relevanz für die Reflexion der Bedeutung bestimmter Strukturen und Elemente im werkinternen Bereich als auch für die Reflexion der Bedeutung des Werks im werkexternen Bereich. Es ist damit insgesamt relevant für die Sinnkonstruktion, die Bedeutungszuschreibung und die Interpretation eines narrativen aber wohl auch generell eines fiktionalen Textes.

3.5.4 Die Implikationen des Modells Das Modell der Kommunikation in fiktionalen narrativen Texten hängt nun eng mit der Unterscheidung in Dramatik und Epik sowie mit dem Konzept der Episierung im Drama bei Pfister zusammen. Im Fall eines Erzähltextes sind bei Pfister in seinem Kommunikationsmodell alle potenziellen und relevanten Instanzen eingesetzt und Niveaus ausgebildet. Pfister weist darauf hin, dass bestimmte Konstellationen und spezielle Ausprägungen des Erzählers Ebenen und Niveaus miteinander verschmelzen lassen bzw. bestimmte Positionen unbesetzt bleiben können. Angelehnt an Stanzel

354 Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 37. 355 Vgl. Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 37 ff. 356 Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung (1989), S. 40.

3.5 Das Kommunikationsmodell | 127

würde demnach das Niveau N2 bei auktorialen Erzählungen mit »eigenständigen Figuren«³⁵⁷ besetzt sein – also sowohl mit einem explizit ausgestalteten Erzähler als auch mit einem ebenso konkreten fiktiven Adressaten. Im Falle der Stanzelschen Ich-Erzählung besetzt der Erzähler gleichzeitig die Niveaus N2 und N1, da die Exegesis und die Diegese³⁵⁸ miteinander verschmelzen bzw. nur durch eine unterschiedliche Deixis (erzählendes und erzähltes Ich) getrennt sind. Das Drama unterscheide sich ferner vom Erzähltext durch eine fehlende Besetzung des vermittelnden Niveaus N2: »[S]ieht sich der Rezipient eines dramatischen Textes unmittelbar mit den dargestellten Figuren konfrontiert, so werden sie ihm in narrativen Texten durch eine mehr oder weniger stark konkretisierte Erzählerfigur vermittelt.«³⁵⁹ Nünning/Sommer sprechen im Falle des Dramas von einer »unvermittelte[n] Überlagerung von innerem und äußerem Kommunikationssystem«,³⁶⁰ das als das bedeutendste Kriterium zur Unterscheidung von narrativen und dramatischen Texten³⁶¹ gilt. Im Falle personalen Erzählens³⁶² könne, so Pfister weiter, die vermittelnde Ebene und damit Niveau N2 auch in Erzähltexten unbesetzt bleiben: »Insofern bedeutet personales Erzählen eine asymptotische Annäherung an das dramatische Kommunikationsmodell.«³⁶³ Ist also ein Erzähler vorhanden und N2 besetzt, kann nach Pfister von Episierung gesprochen werden, wie auch das Gegenteil, eine Dramatisierung, im Falle der Nichtbesetzung von N2 (beispielsweise beim personalen bzw. homodiegetischen Erzählen) der Fall wäre. Da beim Drama Niveau N2 unbesetzt sei, konstatiert Pfister für Dramen einen »»Verlust« an kommunikative[m] Potential«,³⁶⁴ der im Aufführungstext durch die Hinzunahme außersprachlicher Zeichensysteme kompensiert werde.³⁶⁵ Episierung bei Pfister ist damit gleichzusetzen mit der Einführung eines Erzählers, der die Kommunikationsebene und das semiotische Niveau N2 etabliert. Dann allerdings ließe sich auch gleich von einer Narratisierung sprechen. Hier zeigt sich die terminologische Problematik, die in den Modellen des Narrativen und der Episierung wie auch bei den Kommunikationsmodellen häufig anzutreffen ist: Episch zu sein und damit einen Erzähler zu besitzen, eine vermittelnde Kommu-

357 Pfister: Das Drama (2001), S. 21. 358 Da alle als narrativ eingestuften Texte mindestens die vermittelte Geschichte gemeinsam haben, könnte darauf aufbauend N1 der Diegese zugeordnet werden, während N2 dann Teil der Exegesis wäre (vgl. Kapitel 3.3.2.2 auf Seite 88). 359 Pfister: Das Drama (2001), S. 20. 360 Nünning/Sommer: Drama und Narratologie (2002), S. 109. 361 Vgl. Nünning/Sommer: Drama und Narratologie (2002), S. 109. 362 In Fällen personalen Erzählens bzw. im Falle von homodiegetischen Erzählens gesteht sogar Stanzel die Möglichkeit einer offenbar ›erzählerlosen‹ Erzählkommunikation zu (vgl. Kapitel 3.6.2 auf Seite 139). 363 Pfister: Das Drama (2001), S. 21. 364 Pfister: Das Drama (2001), S. 21. 365 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 21.

128 | 3 Drama und Narratologie nikationsebene etabliert zu haben und narrativ zu sein, sind als Eigenschaften und Begriffe eng miteinander verwoben. Eine klare Zuordnung wird erschwert. Wird bei einer Etablierung des vermittelnden Kommunikationssystems ein Text episch oder narrativ? Nach Pfister wird er beides. In Pfisters Modell³⁶⁶ stellen der Aufführungstext wie auch der Erzähltext eine Geschichte dar. Dabei liegt der Unterschied in der Art der Darstellung. Pfister fasst hier ›episch‹ in dem Sinne auf, dass der Text einen Erzähler besitzt. Eine Geschichte in diesem Sinne episch darzustellen hieße, dass sie narrativ würde. Wenn das Drama also eine Geschichte darstellt und gleichzeitig das Niveau N2 besetzt wird, wäre dies nach Pfisters Terminologie ein narrativer Text,³⁶⁷ wenngleich er selbst eine solche Zuschreibung vermeidet. Besetzungen des vermittelnden Systems und damit Episierungen sieht er zum Beispiel beim »Chor antiker Tragödien, allegorische[n] Figuren in mittelalterlichen Moralitäten [. . .] [und bei] Regie- und Kommentatorfiguren in modernen ›epischen Dramen‹ «³⁶⁸ gegeben und zwar immer dann, wenn sich diese Instanzen direkt an das Publikum wenden. Irritierend ist allerdings, dass Pfister ebenso »kommentierende und interpretierende ›Nebentexte‹ in Form von Einleitungen, Vorwörtern oder ausgedehnten Bühnenanweisungen«³⁶⁹ hinzuzieht. Dies verwundert insbesondere deswegen, da er unter einem Drama die plurimediale Aufführung begreift. Dort sind dem Publikum die Nebentexte des Dramentextes – und auch die peritextuellen Paratexte, die Pfister hier zu den Nebentexten zählt – als solche ja gerade nicht mehr zugänglich. Zudem ist meines Erachtens eine den Nebentext äußernde Instanz, sei es nun eine Erzählinstanz oder der Autor, jedenfalls nicht auf derselben Ebene wie etwa eine Regiefigur anzusiedeln. Irritierend ist außerdem, dass er eine direkte Vermittlung in Richtung des Publikums annimmt, die von N2 ausgeht und Pfister deshalb in seiner Aufzählung beispielsweise den Botenbericht unerwähnt lässt. Zumindest stellen narrative Texte, in denen ein Erzähler ›direkt‹ (in etwa wie bei einer ›ständigen, markierten Metalepse‹) mit dem realen Rezipienten kommuniziert oder seine Präsenz und damit die der darstellenden Welt (Exegesis) in den Vordergrund stellt, nicht den Normalfall dar. Ich werde die Diskussion der Modelle hier nicht weiter verfolgen, sondern an dieser Stelle die im Weiteren verwendeten Begrifflichkeiten zusammenführen. Anschließend stelle ich das darauf aufbauende Modell der Kommunikation und der diegetischen Ebenen im Drama dar. Ich unterscheide vier semiotische Niveaus N1 − N4. Niveau N4 wird über das äußere Kommunikationssystem der Autorkommunikation gebildet, zu der der Dra-

366 Vgl. das Kapitel 3.1.1 auf Seite 38. 367 Ich hatte oben schon angemerkt, dass Eike Muny auch beim Dramentext von einem voll ausgestalteten Modell ausgeht und für den Dramentext einen obligatorischen Erzähler annimmt. 368 Pfister: Das Drama (2001), S. 21 f. 369 Pfister: Das Drama (2001), S. 22.

3.5 Das Kommunikationsmodell | 129

mentext zusammen mit autorisierten Paratexten gehört. Niveau N3 betrachte ich nicht als das Ergebnis einer idealisierten äußeren Kommunikationssituation, sondern im Sinne Nünnings als eine Bedeutungsebene des Werkganzen. Niveau N2 ist das Niveau der äußersten Erzählkommunikation und Niveau N1 steht als Platzhalter für weitere Niveaus der Figurenkommunikation. Als Instanzen der Kommunikation sind auf Niveau N4 realer Autor und realer Rezipient, auf Niveau N2 fiktiver Erzähler und fiktiver Rezipienten und auf Niveau N1 eine oder mehrere Figuren als Instanzen anzunehmen. N4 Autorkommunikation N3 Bedeutungsebene N2 Erzählkommunikation N1 Figurenkommunikation

Exegese Diegese

werkintern

werkextern Abb. 3.3: Kommunikationssystem allgemein

Ich unterscheide einen werkinternen und einen werkexternen Kontext. Diese korrespondieren zum einen mit der Kommunikation zwischen empirischem Autor und empirischem Rezipienten und zum anderen mit der Kommunikation zwischen dem Erzähler und dem Adressaten. Niveau N3 kann als Struktur des Werkganzen – dem Dramentext bestehend aus Spieltext und Paratexten – sowohl auf werkinterne als auch auf werkexterne Kontexte bezogen werden. Es wird gebildet aus der Struktur des Artefakts, also aus allen Elementen und deren Relationen. Auf diesem Niveau sehe ich keine Kommunikationsinstanzen verortet. Über die Konstruktion von N3 beim Rezeptionsprozess können das Werkganze sowie dessen einzelne Elemente interpretatorisch in Bezug zum werkexternen Bereich gesetzt werden. Zusätzlich können durch N3 das Werkganze und einzelne Elemente zum werkinternen Bereich und zueinander relationiert und interpretiert werden. Des Weiteren schließe ich mich Schmids Unterscheidung in dargestellte, oder besser: darstellende und erzählte Welt an. Die erzählte Welt ist diejenige, die von einem werkinternen Erzähler entworfen wird. Sie ist die Diegese. Die darstellende Welt

130 | 3 Drama und Narratologie (Exegesis) ist diejenige, die von Autor und Erzähler gleichermaßen entworfen wird und die sowohl die Welt des Erzählers, als auch die von ihm erzählte mit eventuell weiteren Welten beinhaltet.³⁷⁰ Diese Doppelung ist von mir bewusst hervorgehoben, da die Aussagen des Autors einerseits die darstellende Welt bilden, die Aussagen aber andererseits auch als die eines Erzählers betrachtet werden können und sie so ebenfalls die darstellende Welt konstituieren. Das innere Kommunikationssystem N1 stellt den Ort der durch den Erzählakt entwickelten Diegese dar, zu der sich das vermittelnde Kommunikationssystem der Exegesis extradiegetisch³⁷¹ verhält.³⁷² Das damit in Bezug zur Diegese extradiegetische Kommunikationssystem der Exegesis ist Ort des Erzählens.³⁷³ In diesem System kann erzähltheoretisch unabhängig von einer Zuschreibung zum Autor eine unabhängige Vermittlerinstanz (Erzähler) zusammen mit ihrem fiktiven Adressaten etabliert werden. Die Zeichenstruktur der Autor/Rezipient-Kommunikation bildet eine Exegesis und eine Diegese.³⁷⁴ Sie bildet außerdem die Repräsentation eines Erzählaktes und gegebenenfalls einer ebenfalls differenziert ausgestalteten Erzählwelt (Exegesis), in die dieser Akt eingebettet ist. Damit zusammenhängend ist die Repräsentation einer Welt, über die erzählt wird (Diegese). Die Erzähler/Adressat-Kommunikation ist in der Exegesis zu verorten und eine etwaige Figur/Figur-Kommunikation stellt einen Teil der Diegese dar. Beide zusammen gehören dem inneren Kommunikationssystem an (werkinterner Bereich).³⁷⁵ Die Repräsentation eines Geschehens über eine Erzählung hat immer exegetische und diegetische Anteile.³⁷⁶

370 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 41. 371 Die Begriffe ›extradiegetisch‹ und ›intradiegetisch‹ werden von mir relational gebraucht. So wie Exegesis und Diegese zueinander extra- bzw. intradiegetisch positioniert sind, kann dies auch für weitere Welten und Geschehen innerhalb der Diegese gelten. 372 Vgl. Genette: Die Erzählung (1998), S. 313. 373 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 27 f. 374 Im Falle von paratextuellen Zusätzen wie beispielsweise Vorwörtern bilden diese im Normalfall weder Exegesis noch Diegesis, können aber Einfluss auf die Bedeutungszuschreibung und Strukturierung beider übernehmen. 375 Die Zeichenstruktur die die Exegesis und Diegese im werkinternen Bereich (also das Werk selbst) bildet, kann auch werkextern auf den Autor und seine kulturellen Zusammenhänge bezogen werden. Dies entspricht aber normalerweise nicht der Intention, wenn ein Autor eine fiktionale narrative Zeichenstruktur gestaltet; gleichwohl er das emotive Potential seiner Aussagen, seien sie fiktional oder faktual, nicht gänzlich kontrollieren kann bzw. diese vom Rezipient so begriffen werden können. 376 Darstellende Welt und erzählte Welt können, müssen aber nicht ontologisch voneinander unterschieden sein. Beispielsweise ist in einer autobiographischen Narration (Erzähler und Protagonist sind dieselbe Person zu unterschiedlichen Zeiten) nicht die Welt, aus der heraus erzählt wird, von der Welt, die erzählt wird, zu unterscheiden. Hier ändert sich ›nur‹ die zeitliche und örtliche Deixis, was zur Unterscheidung in ein erzählendes Ich und ein erzähltes Ich führt. Ist die Diegese allerdings eine Märchenwelt, kann sie von der darstellenden Welt deutlich unterschieden sein. In der darstellenden Welt können dann zum Beispiel keine Drachen existieren, in der erzählten Welt sehr wohl. Beispiele sind auch die Geistererscheinungen in den Dramen Shakespeares oder des Barock.

3.5 Das Kommunikationsmodell | 131

3.5.5 Das Kommunikationsmodell und die diegetischen Ebenen im Drama (Bühnendiegese und freie Diegese) Für das Drama nehme ich fortan ebenfalls alle drei Kommunikationssysteme (äußeres, vermittelndes und inneres) an. Auch im Drama unterscheide ich eine Exegesis von einer Diegese. Jedoch konstatiere ich, dass im Falle eines Dramentextes genau genommen zwei diegetische Ebenen gebildet werden, die zueinander in einem engen Bezug stehen. Die mithilfe der Narration Drama über den Dramentext repräsentierte erzählte Welt ist durch das Aufführungskriterium an einen imaginären Theaterraum gekoppelt. Sie bildet einen Bühnenraum mit dort auftretenden Schauspielern und weiteren Theaterzeichen. In dieser Theaterfiktion stehen bzw. sitzen sich fiktive Schauspieler im Bühnenraum und fiktive Zuschauer im Zuschauerraum gegenüber.³⁷⁷ Ich bezeichne dies als die Bühnendiegese und die dort ablaufende Zustandssequenz entsprechend als Bühnengeschichte. In dieser Bühnendiegese sehe ich den wichtigsten Unterschied gegenüber einem Erzähltext, bei dem eine derartige Einschränkung nicht vorliegt und die den Dramentext als narratives Medium vom Erzähltext differenzierbar hält. Die Vorstellung einer Bühnendiegese und Bühnengeschichte ist es auch, die meine spezielle Sichtweise auf das narrative Potenzial des Dramentextes und auf dessen adäquate Analyse im Sinne von Jahns reading drama bestimmt. Auch für die Analyse des Dramas aus literaturwissenschaftlicher Sicht muss die Beziehung zwischen Textualität und Performativität des Dramas stets mitbedacht werden. Mit der Bühnendiegese ist meines Erachtens allerdings ein Ort im Modell der diegetischen Systeme und des Kommunikationsmodells fiktional narrativer Texte geschaffen, mit der die ›Aufführung im Kopf‹ einen genaueren Platz in der Terminologie findet. So kann die spezifische narrative Qualität des Dramas in der Analyse adäquat begriffen werden. Über den Dramentext wird eine weitere erzählte Welt bzw. Diegese gebildet, die von Bühnenbezügen vollkommen frei ist. Sie wird über die Bühnenfiktion in Relation zu einem fiktiven Publikum entwickelt. Sie ist dem lesenden Rezipienten gleichzeitig zur Bühnendiegese zugänglich und wird hier als freie Diegese bezeichnet. In dieser ebenfalls durch den Dramentext repräsentierten Diegese sind keine Schauspieler oder Theaterzeichen als solche wahrzunehmen, sondern die dramatis personae, die Figuren zusammen mit den dann in dieser erzählten Welt beispielsweise tatsächlich tödlichen Dolchen und Giften.³⁷⁸ Der fiktive Theaterraum der Bühnendiegese verhält sich zu der

377 Die hier angedeutete Guckkastenbühne ist nur zur Verdeutlichung eingesetzt. Selbstverständlich ist die Theaterfiktion die beim Rezeptionsakt über die Narration Drama inferiert wird, gegebenenfalls historisch zu kontextualisieren. Theaterraum, Schauspieltechnik usw. unterschiedlicher Epochen (Barock, Klassik, Postmoderne usw.) und Zeitalter (Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit usw.) unterscheiden sich grundsätzlich voneinander, wie sie sich auch jeweils in synchroner Hinsicht differenzieren können (Marktplatzbühne, Staatstheater, Hofbühne usw.). 378 Metadramen können aber durchaus in der freien Diegese Figuren eingesetzt haben, die dann abermals fiktive Schauspieler, Bühnentechniker, Dramaturgen, Regisseure oder Autoren spielen.

132 | 3 Drama und Narratologie durch den fiktiven Bühnenraum präsentierten Erzählung extradiegetisch. Der Theaterraum verhält sich wiederum intradiegetisch gegenüber der Exegesis der erzählenden Instanz. Der Dramentext repräsentiert also gleichzeitig eine Bühnendiegese und eine freie Diegese (vgl. Abbildung 3.4 auf Seite 132), wie über ihn eine Bühnenerzählung und eine ›freie‹ Erzählung präsentiert wird. Die Bühnendiegese bestimmt diese freie diegetische Ebene mit, wie diese aber unabhängig von ihr repräsentiert wird. Der Rezipient eines Dramentextes kann zwischen einer Leser- und einer Zuschauerrolle wechseln. Die erzählende Instanz vermittelt dem Rezipienten als Lesenden anhand des Dramentextes eine Bühnenerzählung, die eine Bühnendiegese und -geschichte repräsentiert³⁷⁹ und an den Rezipienten als ›Zuschauenden‹ mithilfe der in der Bühnendiegese etablierten fiktiven Theaterbühne³⁸⁰ aber auch gleichzeitig zu ihr durch die ›freie‹ Erzählung die Repräsentation einer Geschichte, die vom Bühnenbezug unabhängig ist. Diese Doppelung ist im Falle eines Dramas immer anzunehmen. Sie muss jedoch nicht ständig explizit gemacht werden oder besser: Sie muss nicht im Vordergrund stehen. Sie wird explizit gemacht durch Nebentexte wie tritt nach rechts ab oder durch explizite Aktund Szenenangaben. Anders ausgedrückt wird der Rezipient als Zuschauer mit der Repräsentation im Dramentext über die Bühnendiegese und im selben Augenblick über die freie Diegese ›angesprochen‹. Im einen Fall wird die Bühnenfiktion präsent gemacht, im anderen Fall steht eine davon freie erzählte Welt im Vordergrund. Dramentext

Bühnendiegese

freie Diegese

Abb. 3.4: Verhältnis der Diegesen im Drama

Bei Gryphius’ Catharina von Georgien richten sich zum Beispiel die Inhaltsangabe und die Leseransprache im Vorwort an den Rezipienten als Leser. Sie bauen keine Bühnendiegese auf, da die eigentliche Handlung auf der fiktiven Bühne nicht begonnen hat.

379 Dazu Monika Fludernik mit Blick auf die reale Aufführung: »By contrast, the visual qualities of the staging, the director’s choice of props and costumes, the inclusion of music and of superimposed visual elements as well as the actors’ interpretation of the characters and plot are equivalent to the narrational level, and this narrational level is in fact a performative level. If one reads playscripts, rather than seeing plays performed on stage, one only has access to the discourse level, i. e. the ›dramatic text‹. This serves as a model for its medial realization in what is then called the ›performance text‹ (which is accessible to study only if filmed).« Fludernik: Narrative and Drama (2008), S. 363. 380 Vgl. zur Frage von Fiktion und Fiktionalität bei Drama und Erzählung auch Frank Zipfel: Fiction across Media. Toward a Transmedial Concept of Fictionality, in: Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology, hrsg. v. Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon (Frontiers of Narrative), Lincoln und London: University of Nebraska Press, 2014, S. 103–125, insbesondere S. 111–114.

3.5 Das Kommunikationsmodell | 133

Explizit beginnt diese mit »Die erste Abhandelung«.³⁸¹ Die Prologfigur Ewigkeit spricht hier den Rezipienten als Zuschauer sowie als Leser direkt an (»Schaut den Kercker [. . .] Schaut das Erbschloß [. . .] Schaut den Pful«³⁸²). Der Rezipient ist dabei prinzipiell freigestellt, sich entweder auf der Ebene der Bühnendiegese eine Schauspielerin vorzustellen, die eine Prologfigur Namens Ewigkeit spielt oder sich aber auf Ebene der freien Diegese die Ewigkeit selbst in einer von Bühnenbezügen freien erzählten Welt zu imaginieren. Es ist beides gleichzeitig möglich. Sowohl auf der Ebene der Bühnenwelt als auch auf der Ebene der erzählten Welt und ihrer Repräsentation über Zeichenstrukturen handelt es sich immer um eine überlagerte Zuschreibung. Die Repräsentation der dargestellten Welt erfolgt anhand der Zeichen des Dramentextes, die sowohl als fiktionale Aussagen des Autors als auch als Aussagen einer erzählenden Instanz betrachtet werden können, die eine Bühnendiegese und parallel eine freie Diegese entwerfen. Passagenweise kann die Erzählung, präsentiert durch den Dramentext, sowohl als Aussage des Autors, des Erzählers, der Schauspieler der Bühnendiegese und der Figuren betrachtet werden. Beispielsweise kann der Redebeitrag phocas O Schmerz! O harter Fall! Der größte Mann verdirbt, Den jemals Rom gesehn! Das Ebenbild der Götter, Und hätten sie gewollt, des Vaterlandes Retter.³⁸³

aus Gottscheds Sterbender Cato als (fiktionsinterne) reale Aussage innerhalb der Diegese der Figur Phocas zugeordnet werden, gleichzeitig ist sie aber auch eine fiktionale Aussage des fiktiven Schauspielers im Bereich der Bühnendiegese, Aussage einer erzählenden Instanz auf der Ebene der Exegesis und fiktionale Aussage des Autors im werkexternen Kommunikationssystem. Die Aussagen konstituieren das jeweilige Niveau und sind immer gleichzeitig Teil des jeweiligen Niveaus. Wie der Bezug der Erzählinstanz zwischen Bühnendiegese und Diegese wechseln kann, so kann der Rezipient eines Dramentextes zwischen seiner Leserrolle und seiner Zuschauerrolle wechseln. Mit einer Übertragung des gängigen Kommunikationsmodells fiktionaler narrativer Texte auf den Dramentext wird die Möglichkeit geschaffen, die Bildungen der verschiedenen Kommunikationssysteme und Vermittlungsebenen des Dramentextes genauer zu differenzieren. Anstatt die Kommunikationsebenen zu reduzieren, bietet es sich sogar an ein zusätzliches diegetisches System einzuführen: die Bühnendiegese. Mit ihr wird es möglich, den Bezug des Dramentextes auf das Theater aufrechtzuerhalten und gleichzeitig das diffizile Wechselspiel zwischen der eigentlich dargestellten Geschichte und Diegese sowie ihrer Darstellung durch einen, im Falle des Dramentextes aller-

381 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 13. 382 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 16. 383 Gottsched: Sterbender Cato (2005), S. 84.

134 | 3 Drama und Narratologie dings fiktiven, Theaterapparats analytisch zu trennen. Es ergab sich noch eine weitere Implikation, die ich nun in den folgenden beiden Kapiteln diskutieren werde: die Möglichkeit, auch im Falle des Dramas eine erzählende Instanz zu beschreiben, die ähnlich einem Erzähler in Erzähltexten aus narratologischer Sicht vom Autor zu unterscheiden ist und die den Dramentext als solchen gestaltet und über ihn eine Geschichte erzählt. Dafür bespreche ich zuerst die Stellung der Eigenschaft der Mittelbarkeit innerhalb der postklassischen Narratologie und diskutiere anschließend, wie eine Erzählinstanz für eine Narratologie des Dramas beschrieben werden kann.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler Bis jetzt wurde das Kommunikationsmodell narrativer Texte und seine Implikationen für die obligatorische Trennung von Epik und Dramatik sowie von Autor und Erzähler, für die Episierung und für den Dramentext dargestellt. Des Weiteren wurden die narrativen Ebenen (Geschehen, Geschichte, Erzählung usw.) sowie die diegetischen Systeme (Diegese, Bühnendiegese, Exegesis) beschrieben und auf das Drama abgebildet. Jetzt werde ich das Kriterium der Mittelbarkeit als einen Spezialfall der Mediation in narrativen Texten und damit zusammenhängend noch einmal genauer die Kategorie des Erzählers diskutieren.

3.6.1 Die Problematik der Eigenschaft Mittelbarkeit Mittelbarkeit aufzuweisen und einen Erzähler zu besitzen – was offenbar in der klassischen Narratologie bezogen auf den engen Begriff ›narrativ‹ synonym verstanden wird –, wird als wichtigstes Kriterium des kommunikativen Aktes Erzählen beurteilt. Der bereits besprochene enge Begriff ›narrativ‹ ist bestimmt durch das Kriterium der Mittelbarkeit³⁸⁴ Franz K. Stanzels als notwendige und hinreichende Eigenschaft: Wo eine Nachricht übermittelt, wo berichtet oder erzählt wird, begegnen wir einem Mittler, wird die Stimme eines Erzählers hörbar. Das hat bereits die ältere Romantheorie als Gattungsmerkmal, das erzählende Dichtung vor allem von dramatischer unterscheidet, erkannt.³⁸⁵

Nach Stanzel ist Erzählen ein kommunikativer Akt der Informations- und Nachrichtenübermittlung. Für einen solchen Akt ist ein Sender oder Mittler nötig bzw. ›wird dessen Stimme hörbar‹.³⁸⁶

384 Mittelbarkeit wird im Englischen wahlweise als Aspekt oder als direkte Übersetzung zu mediacy gebraucht und von Hühn deshalb auch als Mediation bezeichnet. 385 Stanzel: Theorie des Erzählens (1982), S. 15. 386 Stanzel trennt hier aber nicht nur die Dramatik von der Epik, sondern schließt auch aus, dass das Drama eine Nachricht übermittelt. Damit wird Dramen aberkannt, kommunikative Akte zu sein. Er

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler | 135

Mit der ›hörbaren Stimme‹, wird ›narrativ‹ auf Verbalität und damit auf eine linguistische Präsentation festgelegt. Dieser enge Begriff ›narrativ‹ der klassischen Narratologie beschränkt dessen Anwendung auf schriftlich fixierte oder mündliche Narrationen (im Fall des Letzteren ohne Gestik, Mimik oder Ähnlichem, was eine mündliche Narration durchaus aufweisen kann). Erstere werden als literarische Narrationen unter der Gattung Epik eingeordnet. Zusätzlich weisen sie nach Stanzel und der klassischen Narratologie einen Mittler oder eben einen Erzähler als vermittelnde Instanz auf. Mit den Worten Schmids begrenzt die klassische Narratologie³⁸⁷ die Narrativität auf Verbalität, erfasst nur solche Werke, die eine vermittelnde Erzählinstanz enthalten, darunter auch rein beschreibende Reiseberichte und Skizzen, und schließt alle lyrischen, dramatischen und filmischen Texte aus dem Bereich des Narrativen aus.³⁸⁸

›Narrativ‹ in diesem engen Sinne lässt sich nach den bisherigen Überlegungen auch auf diese Weise bestimmen: (1) Narrativ wird eine Zeichenstruktur dann genannt, wenn sie sprachlich ist und darin ein vom Autor zu unterscheidender fiktiver Erzähler temporal und kausal verknüpfte Zustände und Ereignisse (Geschehen, Geschichte) einer erzählten Welt (Diegese) beschreibt, die auf anthropomorphe Wesen (Figuren) konzentriert ist und zum Erzählzeitpunkt abgeschlossen sind. Der Erzähler wird dabei als eine Instanz aufgefasst, die im Verhältnis zu den Zuständen und Ereignissen außerhalb steht sowie nicht-diegetisch ist und vom realen Autor unbedingt zu trennen ist. Es ist der Erzähler, der das Geschehen und die Geschichte im Akt des Erzählens (discourse oder bei Mieke Bal auch narrative text)³⁸⁹ beschreibt und letztlich die zugrundeliegende Zustandssequenz in der Erzählung aktualisiert. Ein ›greifbarer‹ Erzähler erzeugt mithilfe einer Zeichenstruktur eine Zustandssequenz im Erzählen als Erzählung. Damit ist ein narrativer Text im engen Sinne beschrieben.

spricht hier von ›dramatischer Dichtung‹ und nicht der Aufführung. Des Weiteren wird nicht klar, wie man einem Erzähler tatsächlich ›begegnen‹ kann und dessen Stimme im wörtlichen Sinne ›hörbar‹ wird. 387 Vgl. beispielsweise Richardson: Drama and Narrative (2007), S. 142; vgl. auch Abbott: The Cambridge Introduction to Narrative (2008), S. 15. 388 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 2. 389 Bal unterscheidet drei narrative Ebenen: die abstrakte, rekonstruierbare fabula und damit die Ereignisse, wie und in welcher Reihenfolge sie in der vorgestellten Welt auftauchen, die story, also die Art und Weise, wie die Ereignisfolge der fabula auf der Textebene wiedergegeben wird, und den narrative text. Bal teilt wie Genette die Todorovsche discours-Ebene begrifflich in story und narrative text auf. Vgl. Bal: Narratology (2009), S. 5 ff.; dazu Bal konkret: »The assertion that a narrative text is one in which a story is told implies that the text is not identical to the story.« Bal: Narratology (2009), S. 6.

136 | 3 Drama und Narratologie Narrativ zu sein wird dabei von zwei wesentlichen Eigenschaften bestimmt: Ein (a) Erzähler vermittelt sprachlich (b) eine Geschichte bzw. eine Zustandssequenz. Ein Geschehen oder eine Geschichte aufzuweisen, ist aber offenbar in der klassischen Narratologie für die Zuordnung eines Textes zur Gattung der Epik nicht die ausschlaggebende Eigenschaft. Nach Genette etwa liegt »das einzige Spezifikum des Narrativen in seinem Modus [. . .] und nicht in seinem Inhalt [also der Zustandssequenz, Diegese, Geschehen und Geschichte; A.W.], der ebenso gut dramatisch, zeichnerisch oder auf sonstige Weise ›dargestellt‹ werden kann«.³⁹⁰ Diese Eigenschaft von Narrativität als verbaler Vermittlung einer Geschichte ist der Fokus, den die klassische Narratologie setzt, während die postklassische eine Bestimmung des Narrativen über den Inhalt bzw. das Was (Narrativität als Repräsentation einer Geschichte) verfolgt. Da sich die postklassische Narratologie mit den Ausprägungen des Narrativen in anderen Genres als dem der Epik und in anderen Medien als dem der Literatur beschäftigt, ist die Bestimmung des Erzählers und vor allem die der Sprachlichkeit als konstitutive Eigenschaften, die bei Stanzel anhand der Mittelbarkeit, bei Genette mit dem narrativen Modus ausgedrückt wird, nicht brauchbar. Sie schränkt die Anwendung und den Bereich narratologischer Analyse für transgenerische und transmediale Zwecke ein. Damit fallen zum Beispiel Comics, Filme oder Theateraufführungen heraus, da hier entweder nur in Ausnahmen nicht-diegetische Erzähler gebildet werden, meist aber auch gar nicht gebildet werden können. Die Vermittlung der Zustandssequenz ist auf Schauspieler und gegebenenfalls zusätzlich auf Kameraführung oder auf Striche auf dem Papier angewiesen, die allesamt keine oder keine ausschließliche verbale Vermittlung der Zustände und Ereignisse leisten und vor allem keine Erzähler im narrativ engen Sinne sind. Im Falle der beiden letzteren (Kamera, Striche) kann noch nicht einmal implizit eine vom Autor zu unterscheidende antropomorphe Instanz inferiert werden, die eine zweite, fiktionale Kommunikationsebene einführt. Dieser Einschätzung folgend kann nur ein fiktiver und nicht-diegetischer Erzähler narrative Verfahren einsetzen und er kann dies nur über fixierte sprachliche Zeichen. Ohne linguistische Zeichenverwendung ist kein Erzähler möglich und ohne den Erzähler ist für die klassische Narratologie in dieser engen Definition keine Narration gegeben und damit das untersuchte Artefakt nicht narrativ. Dies entspricht in etwa der Sichtweise, wie sie im Fieguthschen Kommunikationsmodell dargestellt ist und von Pfister unter anderem für die Unterscheidung zwischen narrativ/episch und dramatisch eingesetzt wird.

390 Vgl. Genette: Die Erzählung (1998), S. 201. Nach Genette ist die Narratologie eine »Analyse der Erzählung als eines Modus der ›Darstellung‹ von Geschichten, in Abhebung von nicht-narrativen Modi wie etwa dem Dramatischen, ganz zu schweigen von solchen außerhalb des Feldes der Literatur«. Ebd. S. 200 f.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler | 137

Nun tauchen aber auch bei Texten, die zu den Erzähltexten gezählt werden, solche auf, die scheinbar nicht-erzählt³⁹¹ sind oder in abgeschwächter Form einen Erzähler nur implizit bilden, was bedeutet, dass hier durch die Zeichenstruktur keine ›greifbare‹ nicht-diegetische Mittlerinstanz gebildet wird.³⁹² Dies sind Texte, in denen vielmehr wie aus Sicht und Gestus einer Kamera (camera eye) erzählt wird. Ein Geschehen oder eine Geschichte ist immer noch repräsentiert. Ein Erzähler, der diese vermittelt, fehlt jedoch. Für Wolfgang Kayser stellten solche Konstellationen 1948 kein großes Problem dar: »Ihr Gegensatz [der Gegensatz der Ich-Erzählung, A.W.] ist die Er-Erzählung, in der der Autor oder ein fingierter Erzähler nicht auf der Ebene der Vorgänger [Figuren, A.W.] steht.«³⁹³ Kayser verwendet hier den Ausdruck ›Autor oder ein fingierter Erzähler‹. Eine unbedingte Trennung zwischen Erzähler und Autor wird jedoch im klassischen narratologischen Modell als grundlegend betrachtet und ist in das Kommunikationsmodell mit der Ebene der Erzählerkommunikation narrativer Texte eingeschrieben. Diese Trennung wird unter anderem auf Käte Friedemann,³⁹⁴ jedoch auch auf Wolfgang Kayser zurückgeführt. Dieser setzt seiner oben bereits zitierten Beschreibung der ›Ursituation‹ der Narration folgendes hinzu: »Durch einen technischen Kunstgriff kann diese Ursituation sichtbar gemacht und gesteigert werden: indem der Autor noch einen anderen Erzähler vorschickt, dem er die Erzählung in den Mund legt.«³⁹⁵ Offenbar lässt Kayser die Möglichkeit gelten, dass auch der Autor selbst das Erzählen als äußerster Erzähler übernimmt. Für ihn ergibt sich offenbar keine allzu große Schwierigkeit, bei einer fehlenden bzw. nicht eindeutig erkennbaren Erzählerfigur auch den Autor als die die Erzählung äußernde Instanz einzusetzen. Bei der Bestimmung eines äußeren Erzählers als konstitutive Eigenschaft und damit der Autor/Erzähler-Unterscheidung der klassischen Narratologie handelt es

391 Nicht-erzählt wird hier nur zur Verdeutlichung gebraucht. Nicht-erzählte Erzählungen bzw. nichterzählte plots können theoretisch als eine weitere Kategorie begriffen werden. Vgl. auch Chatman: Story and Discourse (1980), S. 196 f.; Chatman gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass die Wahrnehmung der Präsenz des Erzählers von der Menge an Stimuli abhängt, die in einem Text auftauchen. Jedoch, nur weil in einem bestimmten Text wenige Stimuli vorhanden sind, dies aber nicht bedeuten muss, dass deshalb auch kein Erzähler angenommen werden kann bzw. die Geschichte ›nicht-erzählt‹ ist: »It is less important to catogorize types of narrators than to identify the features that mark their degrees of audibility. A quantitative effect applies: the more identifying features, the stronger our sense of a narrator’s presence. The ›non‹- or minimally narrated story is simply one in which no or very few such features occur.« Vgl. Chatman: Story and Discourse (1980), S. 196. 392 Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass ›erzählen‹ nicht unbedingt mit ›vermitteln‹ gleichgesetzt werden sollte, sondern sich eine Unterscheidung zwischen ›diegetisch‹ (telling, berichtend, vermittelt) erzählt und ›mimetisch‹ (showing, zeigend, unvermittelt) erzählt anbietet (vgl. Kapitel 3.6.3 ab Seite 149). 393 Kayser: Das sprachliche Kunstwerk (1959), S. 203. 394 Käte Friedemann: Stellung des Erzählers in der epischen Dichtung, Inaugural-Dissertation, Stuttgart: Universität Bern, 1908. 395 Kayser: Das sprachliche Kunstwerk (1959), S. 201.

138 | 3 Drama und Narratologie sich um eine strikte Differenzierung auf Modellebene. Wenn man diese Eigenschaft als notwendig voraussetzt, kann es etwa bei Texten problematisch werden, die der älteren Kategorie der Er-Erzählung bzw. der Erzählung über dritte Personen zugeordnet werden können. Fehlen dabei explizite Hinweise auf die Gestalt der Erzählerfigur, bleibt offensichtlich nur der Rückgriff auf den realen Autor. In derartigen Texten ist zwar die ›Ursituation‹ gegeben – was leicht zu erreichen ist, da Texte immer Teil einer Kommunikationssituation sind –, sie ist jedoch nicht besonders betont oder, wie es Kayser ausdrückt, ›gesteigert‹. Auf die Doppelung der realen in der fiktionalen Kommunikation zu verzichten und hier den Autor einzusetzen, ist für die klassische Narratologie und Literaturtheorie vor allem wegen des Kriteriums der Fiktionalität und der Zuschreibung von Intentionen keine Option. Ich verdeutliche dies an einem kurzen Text aus der Sammlung Der Stimmenimitator (1978) von Thomas Bernhard: Die Bürgermeister von Pisa und von Venedig waren übereingekommen, die Besucher ihrer Städte, die jahrhundertelang von Pisa wie von Venedig in gleicher Weise entzückt gewesen waren, urplötzlich vor den Kopf zu stoßen, indem sie heimlich und über Nacht den Turm von Pisa nach Venedig und den Kampanile von Venedig nach Pisa schaffen und aufstellen lassen wollten. Sie hatten aber ihr Vorhaben nicht geheim halten können und waren, genau in der Nacht, in welcher sie den Turm von Pisa nach Venedig und den Kampanile von Venedig nach Pisa hatten transportieren lassen wollen, in das Irrenhaus eingeliefert worden, naturgemäß der Bürgermeister von Pisa in das Irrenhaus von Pisa und der Bürgermeister von Venedig in das Irrenhaus von Venedig. Die italienischen Behörden hatten ihre Sache vollkommen vertraulich behandeln können.³⁹⁶

In Texten dieser Art kann ein Erzähler auf äußerster Ebene und damit eine die Erzählung unabhängig vom Autor äußernde Instanz nicht festgestellt bzw. nicht überzeugend behauptet werden. Hier wird weder ›körperlich‹ ein Erzähler gebildet, noch wird der Akt des Erzählens explizit gemacht. Im Text wird nichts über seine Motivation des Erzählens oder seinen Standpunkt (auch im wörtlichen Sinne) im Verhältnis zu den repräsentieren Ereignissen angegeben. Die Aussagen des Textes beinhalten offenbar keine Wertungen, aufgrund derer wir zumindest auf eine Einstellung eines fiktiven Erzählers zum Erzählten schließen könnten und um damit einen Erzähler zu inferieren, anhand dessen wir Unterschiede zum realen Autor bestimmen könnten. Im obigen Text wird das qualifizierende Wort ›naturgemäß‹ gerade nicht für eine Versicherung oder Begründung der Verrücktheit der beiden Bürgermeister eingesetzt, also nicht als ein expliziter Kommentar zum Geschehen. Indessen ist es tautologisch für den nicht anders zu erwartenden Umstand in der fiktiven Welt gebraucht, dass beide in ein jeweils ›nächstgelegenes‹ Irrenhaus eingeliefert wurden. Ob die Bürgermeister nun verrückt sind oder nicht, kann der Rezipient aus impliziten Hinweisen zu schließen

396 Thomas Bernhard: Der Stimmenimitator (suhrkamp taschenbuch 1473), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, S. 17.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler | 139

versuchen. Im Text werden aber offenbar nur ›objektive‹ und allgemein wahrnehmbare Fakten vermittelt. Da der Stil des Textes, verstärkt durch den letzten Satz mit »die italienischen Behörden hatten ihre Sache vollkommen vertraulich behandeln können«, an einen Zeitungsbericht oder einen juristischen Text erinnert, wird der Fokus verstärkt von einer potenziell erzählenden Instanz weg auf die repräsentierten Ereignisse gelenkt. Der Stimme kann keine Figur zugeordnet werden. Anders ausgedrückt: Der fiktive Erzähler ist in diesen Fällen körper- und wertungsfrei. Er ist nicht vorhanden oder nur implizit nachweisbar und es bliebe für eine Zuschreibung nur der Autor. Den Erzähler als nicht vorhanden anzunehmen, kann jedoch nicht mit dem Kommunikationsmodell und der terminologischen Verankerung des Begriffs ›Erzähler‹ in Einklang gebracht werden, da der Gebrauch des Begriffs eine antropomorphe Wesenheit suggeriert und ein fiktional narrativer Text als doppelter kommunikativer Akt einen Kommunikator auf zweiter Ebene fordert. Für diese Art und Wirkung der Darstellung in Erzähltexten oder Erzählpassagen wird deshalb auch der Begriff ›dramatisch‹ bzw. ›dramatischer Modus‹ oder auch ›unvermittelt‹ verwendet.³⁹⁷ In dramatischen Darstellungen werde der Inhalt nicht durch eine zwischengeschaltete Instanz an den Rezipienten vermittelt und er scheint deshalb unvermittelt für sich selbst zu stehen. Darauf baut die Auffassung des speziell für das Drama als obligatorisch betrachteten Wegfalls des vermittelnden Kommunikationssystems und die damit verbundene Trennung von Drama und Erzähltext auf.³⁹⁸

3.6.2 Verborgene und offensichtliche Erzähler Da es aus der Sicht der klassischen Narratologie keine Option darstellt, auf den realen Autor Thomas Bernhard zurückzugreifen³⁹⁹ und dies nicht das Problem der subjektlosen, extrem distanziert gestalteten und scheinbar ›unmittelbaren‹ Erzählung löst, wurde die Unterscheidung in verborgene (covert) und offensichtliche (overt)⁴⁰⁰ Erzähler vorgeschlagen.⁴⁰¹ Mit dieser Unterscheidung kann die stets anzunehmende Präsenz eines fiktiven, nicht-diegetischen und vom Autor zu trennenden Erzählers aufrechter-

397 Der Begriff ›dramatisch‹ im Sinne von ›szenisch‹ wird auch verwendet, wenn die Darstellung sehr zeitsensitiv im Sinne von Gleichzeitigkeit der Erzählakts und des Erzählten gestaltet ist. 398 Allerdings steht die Geschichte auch in einer Aufführung nicht unvermittelt für sich selbst. Dort wird die Geschichte mit Hilfe des Theaterapparats, allen voran mit den Schauspielern als mittelnde Instanzen, repräsentiert. 399 Wenngleich der Ausdruck ›naturgemäß‹ den Text für jeden Bernhard-Kenner auf eben diesen Bezug nehmen lässt. 400 Lahn/Meister sprechen in diesem Fall von offenen Erzählern. Vgl. Lahn/Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse (2008), S. 63. 401 Vgl. Chatman: Story and Discourse (1980), S. 196, 196–262.

140 | 3 Drama und Narratologie halten werden. Als eine zweite Variante des engen strukturalen narrativ-Begriffs ergibt sich dann: (2) Narrativ wird eine Zeichenstruktur dann genannt, wenn sie sprachlich ist und chronologisch wie kausal verknüpfte Zustände und Ereignisse einer erzählten Welt repräsentiert werden, die auf anthropomorphe Wesen konzentriert und zum Erzählzeitpunkt abgeschlossen sind. Dies kann durch einen offensichtlichen Erzähler vermittelt oder von einem verborgenen/nicht-vorhandenen Erzähler vermittelt werden. Sicherlich ist die covert/overt-Unterscheidung eine hauptsächlich theoretische.⁴⁰² Der Einwand, ob eine Differenzierung zwischen offensichtlichem und verborgenem Erzähler für die Definition des Narrativen überhaupt benötigt wird, ist durchaus berechtigt. Ob von der in Erzähltexten immer gegebenen Stimme eine facettenreich gezeichnete Figur, eine Einstellung oder Ideologie eines vom Autor zu unterscheidenden äußeren Erzählers abgeleitet werden kann, mag beispielsweise für eine Analyse der Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit oder der Einstellung des Erzählers gegenüber der Geschichte oder seiner Intention bedeutend sein. Dass mit dem Text eine Diegese und Geschichte repräsentiert wird, ist davon aber nicht betroffen. Der Text bliebe aus postklassischer Sicht unabhängig davon narrativ, ob ein nicht-diegetischer Erzähler nun ausgearbeitet, verborgen oder nicht vorhanden ist. Die Erzählinstanz ist in erster Linie als eine theoretische Modellinstanz – als rein narratologischer Begriff – zu verstehen, auf die bestimmte Erzählfunktionen projiziert werden können. Auf der anderen Seite sollte der Umstand, nichts über eine gerade in schriftlichen Kunstwerken immer zu postulierende Aussageinstanz zu wissen, nicht ihre anzunehmende Präsenz in Frage stellen. Sie ist auch in solchen Fällen nicht ›verborgener‹, selbst wenn im obigen Beispiel der Name der erzählenden Instanz oder ein ›Ich‹ auftauchen würde. Verborgen sind in solchen Fällen Hinweise auf das Aussehen, die Herkunft, die Stellung der Instanz, ihre Intention, den Ort oder die Zeit, aus der heraus sie das Geschehen und die Diegese über die Erzählung repräsentiert. Ob der nicht-diegetische Erzähler in derartigen Fällen mit dem realen Autor gleichgesetzt werden kann oder nicht, ist eine Frage die außerhalb einer Bestimmung des Narrativen liegt, obgleich sie für bestimmte Fragen, die an narrative Texte herangetragen werden, relevant bleibt. Es sind Fragen einer Interpretationstheorie, einer Psychologie, einer Literatursoziologie oder der Philosophie, für die die Narratologie ein Handwerkszeug zur Analyse des Werks liefern kann.

402 »It is less important to catogorize types of narrators than to identify the features that mark their degrees of audibility. A quantitative effect applies: the more identifying features, the stronger our sense of a narrator’s presence. The ›non‹- or minimally narrated story is simply one in which no or very few such features occur.« Vgl. Chatman: Story and Discourse (1980), S. 196.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler |

141

Eine terminologische Lösung ergibt sich mit dem eher unpersönlichen Begriff ›Erzählinstanz‹ anstatt ›Erzähler‹. Letzterer ist in diesem Fall ein antropomorphisierter Spezialfall der Erzählinstanz. Zudem beschäftigt sich auch die klassische Narratologie im Zweifel nicht mit dem ontologischen Status eines Erzählers, sondern mit der Erzählfunktion und der Art und der Gestaltung des Erzählens, die diese Instanz übernimmt. Dies ist unabhängig davon, ob sie nun der Autor in der Rolle des Erzählers, die wahrgenommene Zeichenstruktur wegen ihrer Gestaltung, ein nicht-diegetischer fiktiver Erzähler oder eine fiktive Erzählerfigur auf weiteren Binnenebenen ist. Genau genommen ist das besprochene Kommunikationsmodell ein Modell, dass auch auf die literarische Kommunikationssituation im Allgemeinen beziehbar ist und nicht nur auf das spezielle Modell fiktional-narrativer Texte. Da ich dieses Modell beispielsweise auch der Lyrik zugrunde legen kann – denn auch dort lässt sich zwischen Autor und äußerndem Subjekt, etwa dem lyrischen Ich, unterscheiden und es kann eine kommunizierte Kommunikation etabliert sein –, wäre sogar der Vorschlag berechtigt, in einem Modell, das auf alle literarischen Texte anwendbar ist, die Erzählinstanz sogar mit einem noch neutraleren Begriff zu ersetzen (beispielsweise Vermittlungsinstanz oder wie bei Roland Weidle durch erzählendes System⁴⁰³). Die obligatorische Differenzierung zwischen Autor (narrative making) und Erzähler (narrative telling) wird aktuell von Gregory Currie, Tilmann Köppe und Jan Stühring sowie von Holger Korthals infrage gestellt.⁴⁰⁴ Currie lehnt die Unterscheidung aus kommunikationslogischen Erwägungen und Gründen der Intentionalität ab. Der Autor ist immer für das narrative making also die Produktion und Gestaltung der Narration verantwortlich. Warum der Autor dann aber grundsätzlich⁴⁰⁵ nicht auch das narrative telling speziell in fiktionalen Zusammenhängen übernehmen soll, steht für Currie, ähnlich zu Kayser, nicht zur Debatte. Currie unterscheidet bei narrativen Werken einen external author/narrator und einen internal author/narrator. Der Externe ist bei einem narrativen Text immer gegeben und er ist solange mit dem realen Autor des Werks gleichzusetzen, bis sich Hinweise darauf finden, dass die Stimme oder vielleicht besser: die raumzeitliche und mentale Perspektive dieser Instanz nicht mit der des realen Autors übereinstimmen kann. Erst dann kann von einer externen erzählenden Figur bzw. einem Erzähler gesprochen

403 Vgl. Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 228. 404 Vgl. Gregory Currie: Narratives and Narrators. A Philosophy of Stories, 2010 [Ndr. Oxford: Oxford University Press, 2012]; Tilmann Köppe/Jan Stühring: Against pan-narrator theories, in: Journal of Literary Semantics 40 (2011), S. 59–80; Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003). 405 Currie, Köppe/Stühring und Korthals schließen die mögliche Anwesenheit bzw. den möglichen Einsatz einer nicht-diegetischen Erzählerfigur nicht aus. Currie gibt lediglich zu bedenken, dass in den meisten Fällen kein Grund dafür besteht, einen solchen fiktiven Charakter als wesenhaft für narrative Texte und generell anzunehmen. Dies schon alleine deshalb, da wegen des vom Autor im Falle von Erzähltexten geleisteten Sprechakts im fiktionalen Modus sichergestellt ist, dass das Referierte nicht der Realität entsprechen muss. Der Autor gibt in diesem Fall nur vor, illokutionäre Akte zu vollführen, die aber keine perlokutionäre Kraft haben. Vgl. Currie: Narratives and Narrators (2012), S. 63–69.

142 | 3 Drama und Narratologie werden. Currie würde in diesem Fall jedoch zuerst noch prüfen, ob nicht noch ein second author vorhanden sei, also ein Autorbild oder ein Alter Ego, das vom realen Autor bewusst ironisiert eingesetzt wird.⁴⁰⁶ Interne Erzähler können vom externen Autor/Erzähler auf weiteren Erzählebenen gebildet werden. Es wird bei Curries Modell jedoch nicht ganz klar, ob erst ein internal narrator einem nicht-diegetisch-fiktiven Erzähler entsprechen würde, da er sein Modell nicht mit den vorwiegend in der Narratologie verwendeten Begrifflichkeiten abgleicht. Köppe/Stühring befassen sich ebenfalls mit der Behauptung der von ihnen so bezeichneten Pan-Narrator-Theorien, nach denen für jeden fiktional-narrativen Text immer ein vom Autor zu trennender, fiktiver Erzähler angenommen werden kann bzw. muss. Auf der anderen Seite stehen die Optional-Narrator-Theorien,⁴⁰⁷ die behaupten, dass nicht jeder fiktional-narrative Text einen vom Autor zu unterscheidenden Erzähler haben muss bzw. dass diese Modellierung nicht notwendig ist, um einen Text als narrativen Text zu verstehen oder um ihn adäquat unter narratologischen Gesichtspunkten untersuchen zu können. Bei einer faktualen Narration (zum Beispiel Geschichtsschreibung oder Alltagserzählung) ist es klar, dass erstens der gesamte Text vom Autor gestaltet ist und dass zweitens alle Aussagen vom Autor getroffen wurden und ihm zuzuschreiben sind. Er verfolgt mit seiner Erzählung erstens eine Intention und verbürgt die Wahrhaftigkeit seiner Aussagen. Dies ändert sich bei fiktionalen Texten zuerst nur in dem Punkt, dass die Aussagen des Autors nicht als wahr anzunehmen sind. Fiktionale Narrationen stellen in diesem Sinne immer schon eine Einladung dar: ›Stelle Dir vor, dass p.‹ Wird ein fiktiver Erzähler angenommen, ändert sich dies: ›Stelle Dir vor, dass ein Erzähler erzählt, dass p.‹⁴⁰⁸ In beiden Versionen wird der Rezipient eingeladen, sich etwas vorzustellen, und nur wenn es explizit gemacht wird, ist diese Einladung dahingehend zu verstehen, zusätzlich einen fiktiven Erzähler zu imaginieren. Dieser trifft von seinem Standpunkt aus gesehen in der Regel wahre Aussagen in Bezug auf die Exegesis und Diegese – abgesehen natürlich von unzuverlässigen Erzählern. Im Zusammenhang mit fiktionalen Narrationen bedeutet dies jedoch nicht, dass im ersten Fall der Autor als Garant für den Wahrheitsgehalt der Aussagen und für Bildung der bestmöglichen Inferenz herangezogen werden könnte. Bei einer fiktionalen Aussage kann es ein Rezipient nach Köppe/Stühring nie rechtfertigen, dass der Autor die Aussagen für wahr hält oder einer aus dem Text ableitbaren Intention folgt.⁴⁰⁹ Anders ausgedrückt handelt der Autor vielmehr in der Rolle und Funktion eines Vermittlers (Macher und Erzähler) einer fiktiven Welt oder eben mit der Funktion eines Erzählers. Der Autor übernimmt die Erzählfunktion (narrative teller) und gibt sie als

406 Currie: Narratives and Narrators (2012), S. 67, 69, 65–85. 407 Vgl. Köppe/Stühring: Against pan-narrator theories (2011), S. 59. 408 Vgl. Köppe/Stühring: Against pan-narrator theories (2011), S. 62; vgl. Köppe/Kindt: Erzähltheorie (2014), S. 75 f. 409 Vgl. Köppe/Stühring: Against pan-narrator theories (2011), S. 60 f.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler |

143

eine immer anzunehmende Instanz der narrativen Kommunikation nie aus der Hand. Der Einsatz einer zusätzlichen fiktiven Erzählinstanz – sei sie nun nicht-diegetisch oder diegetisch, homo- oder heterodiegetisch, intern, extern oder neutral – ist ein Aspekt dieser ausgeführten Erzählfunktion im Stanzelschen Sinne. Korthals macht sich ausgehend von der von Kayser gestellten Frage Wer erzählt den Roman?⁴¹⁰ bezogen auf die Diskussion einer Erzählinstanz im Drama daran, die zwischengeschalteten Instanzen wie die »Kommunikationsniveaus auf ihre Entbehrlichkeit zu prüfen«.⁴¹¹ So will er zu einem »gemeinsamen Modell[] für alle geschehensdarstellenden [bzw. narrativen] Texte«⁴¹² gelangen. Er bildet aber nicht ein Modell für alle geschehensdarstellenden/narrativen Texte, sondern zwei verkürzte Modelle: eines für die Dramatik (Dramentext) und eines für die Epik. Denn er legt für den Dramentext und den Erzähltext, im Hinblick auf die Kommunikationsinstanzen, letztlich zwei verschiedene Modelle zugrunde. Der Grund für seine Neumodellierung ist eine Asymmetrie, die sich aus zwei Annahmen ergibt: (1) Korthals selbst erkennt im Nebentext des Dramas die Aussage einer extradiegetischen bzw. nicht-diegetischen Erzählinstanz. (2) Die klassische Dramentheorie, die Theaterwissenschaft und auch die Genettesche Narratologie, die in einen narrativen und einen dramatischen Modus unterscheidet, behaupten hingegen, der Nebentext sei Aussage des realen Autors.⁴¹³ Dies ergibt sich beispielsweise mindestens implizit aus dem Kommunikationsmodell für dramatische Texte. Wenn das vermittelnde Niveau N2 wegfällt, bleibt als Aussage- bzw. Erzählinstanz nur der Autor übrig. Korthals bezieht sich bei seiner Überblendung des realen Autors und Erzählers auf Dietrich Weber⁴¹⁴ und Richard Walsh⁴¹⁵. Weber unterscheidet im Falle textlicher Kommunikation einen entweder im Ernst (faktuale Texte) oder im Spiel (fiktionale Texte) sprechenden Autor.⁴¹⁶ Korthals entwickelt daher konsequenterweise ein Kommunikationsmodell mit nur noch zwei Kommunikationssystemen. Zum einen nimmt er ein äußeres Kommunikationssystem zwischen Autor und Leser an, das er allerdings, wie mir scheint etwas vorschnell, auch ›extradiegetische Kommunikation‹ nennt und damit reale und fiktive Kommunikationssituation zusammenführt und so nur noch schwer zwischen werkexternen und werkinternen Kontexten unterscheiden kann. Zum anderen nimmt er die von diesem äußeren System gerahmte, innere oder intradiegetische Kommuni-

410 Vgl. Wolfgang Kayser: Wer erzählt den Roman?, in: Wolfgang Kayser: Die Vortragsreise. Studien zur Literatur, Bern: Francke, 1958, S. 82–101. 411 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 434. 412 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 434. 413 Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 427. 414 Vgl. Dietrich Weber: Skizze zum Erzähler, in: Wirkendes Wort 41.3 (1991), S. 471–487. 415 Vgl. Richard Walsh: Who Is the Narrator?, in: Poetics Today 18.4 (1997), S. 495–513. 416 Vgl. Weber: Skizze zum Erzähler (1991), S. 473.

144 | 3 Drama und Narratologie kation der Figuren bzw. Geschehensteilnehmer an.⁴¹⁷ Niveau N3 wird von Korthals getilgt. Die Ebene der vermittelnden Kommunikation und damit das Niveau N2 bzw. die Erzählerkommunikation fällt bei ihm mit der äußeren Ebene N4 zusammen. Bei narrativ-faktualen Texten ist der Autor tatsächlich die einzige vermittelnde Instanz. In narrativ-fiktionalen Texten entwirft und ordnet der Autor das Geschehen sowie die Handlungen und Erlebnisse der Figuren und vermittelt dies über den Text bzw. die Gestaltung der Zeichenstruktur an den Leser.⁴¹⁸ Auf Korthals’ extradiegetischer Kommunikationsebene (N4 + N2) kann der Autor funktional verschiedene Vermittlungsinstanzen bilden. Im Falle eines narrativ-fiktionalen Textes kann der Autor nach Korthals die Folgenden ›extradiegetischen‹ Instanzen bilden: sich selbst als einen (heterodiegetischen) Autor im Spiel, einen neutralen heterodiegetischen Erzähler oder einen homodiegetischen Erzähler.⁴¹⁹ Ein homodiegetischer Erzähler könne zwar »eine Position zwischen dem Autor und dem [zu] vermittelnden Geschehen einnehmen«⁴²⁰ und damit eine weitere zwischengeschaltete Ebene bilden. Korthals erachtet eine homodiegetische Instanz an dieser extradiegetischen Stelle aber dennoch als angemessen verortet, da auf Rezipientenseite »sein Adressat selten ein anderer ist als der reale Leser«.⁴²¹ Sind, wie in obigen Bernhard-Beispiel, auf extradiegetischer Ebene weder ein neutral heterodiegetischer noch ein homodiegetischer Erzähler zu identifizieren, ist nach Korthals an dieser vermittelnden Stelle auf den Autor im Spiel zurückzugreifen. Die Wahl und Identifizierung der drei Möglichkeiten ist jedoch nicht als absolut und distinkt zu verstehen. Vielmehr stellen der Autor im Spiel (A) auf der einen und der homodiegetischer Geschehensvermittler (E homodiegetisch ) auf der anderen Seite zwei Extrempunkte einer Skala dar. Ein neutral heterodiegetischer Geschehensvermittler (E neutral−heterodiegetisch ) bildet den mittleren Wert.⁴²² Die Erzählinstanz eines konkreten Textes bewegt sich zwischen diesen Punkten (vgl. Abbildung 3.5). A – E neutral−heterodiegetisch – E homodiegetisch Abb. 3.5: Korthals’ Skala in genuinen Erzähltexten

Im Falle der Kommunikationssituation im Dramentext ändert Korthals nur die Reichweite der Skala. Dem realen Autor bleibt hier nur noch die Wahl einer Abstufung zwischen

417 Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 443. 418 Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 443. 419 Korthals verwendet den Ausdruck ›Geschehensvermittler‹ anstatt ›Erzähler‹. Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 443. 420 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 443. 421 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 443. 422 Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 443.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler | 145

einem Autor im Spiel bis zu einem neutral heterodiegetischen Geschehensvermittler (vgl. Abbildung 3.6). A – E neutral−heterodiegetisch Abb. 3.6: Korthals’ Skala in Dramentexten

Für das Drama als narrativen Text hat Korthals das Kommunikationssystem deshalb auf diese Weise gestaltet, da erstens die vermittelnde Instanz im Drama an den Nebentext gebunden ist und zweitens der Dramentext mit seiner oftmals pragmatischen Ausrichtung auf eine Aufführung keine Möglichkeit bietet, auf der äußersten Ebene eine homodiegetische vermittelnde Instanz einzuführen.⁴²³ Korthals sieht in seiner Modellierung klare Vorteile: Über die bessere Vergleichbarkeit hinaus zeigen sich die Vorteile der solchermaßen vereinfachten Kommunikationssysteme von Erzählung und Drama unter anderem dann, wenn man neben der Funktion des Autors als Produzent und Arrangeur des geschehensdarstellenden Textes – Entwurf eines fiktionalen Geschehens, ›Vermittlung‹ dieses Geschehens, Ergänzung des Geschehens um Deskriptionen und Kommentierungen durch Argumentationen – auch sein Wirken als Urheber der Gliederung solcher Texte in Kapitel, Akte oder sonstige kleinere Einheiten und seine Bemühungen um die Vereinheitlichung der Sprache von Geschehensteilnehmern und Geschehensvermittler, z. B. deren gemeinsame Poetisierung in Versepen oder Versdramen, unter die Lupe nimmt.⁴²⁴

Über eine Skalierung von ähnlicher Beschaffenheit macht sich auch Ansgar Nünning Gedanken. Er legt allerdings die Extrempunkte anders fest und entwirft seine Skala mit einem subjektlosen Erzählmedium auf der einen und einem hervorgehobenen heterodiegetischen Erzähler auf extradiegetischer Ebene bzw. einer homodiegetischen erzählenden Figur auf der anderen Seite. Nünning greift also im Falle einer nicht genau bestimmbaren Erzählinstanz nicht auf den Autor oder den Autor im Spiel zurück. Was bei ihm bei einer nicht mehr bestimmbaren Stimme für die narratologische Untersuchung bleibt, ist eine reine Erzählfunktion, die sich im Erzählmedium über die Zeichenstruktur konkretisiert (vgl. Kapitel 3.5.3 ab Seite 123). Im obigen Bernhard-Beispiel kann nur sehr wenig über den nicht-diegetischen Erzähler gesagt werden. Das Phänomen Erzähler als Analysandum sperrt sich aus oben genannten Gründen einer genaueren Analyse. Jedoch ist selbst eine extrem distanzierte Perspektive nach wie vor eine Perspektive; die Erzählung muss von jemanden geäußert

423 Eine Möglichkeit wäre im Dramentext eine Figur mit dem Namen ›Ich‹ einzusetzen und gleichzeitig den Nebentext in der ersten Person und aus der Deixis der Ich-Figur heraus zu gestalten. Dies ist theoretisch möglich, würde aber in letzter Konsequenz einen Bruch mit dem Aufführungskriterium darstellen. Ein solcher Text wäre dann nur noch über typographische Merkmale im Druck der Gattung Drama zuzuordnen. 424 Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 446.

146 | 3 Drama und Narratologie und gestaltet sein. Ich behaupte allerdings, dass es nicht ausreichend begründbar ist, an dieser Stelle den Autor oder eine verborgene und vom Autor zu unterscheidende Erzählinstanz anzunehmen, die sich nur noch über die von ihr übernommene Erzählfunktion bemerkbar macht. Außer, dass der Text von Bernhard geschrieben und gestaltet wurde, gibt es keine Hinweise darauf, dass die äußernde Instanz er selbst sein soll (ob nun im Spiel oder nicht). Ebenso wie es keine Hinweise darauf gibt, dass es eine von Bernhard zu unterscheidende fiktive Erzählinstanz ist. Wird der Text erst einmal als eine Narration verstanden, ist jedoch immer eine Erzählfunktion verwirklicht, die in ihrer Art und Weise untersucht werden kann. Ich behaupte, dass die Aufmerksamkeit des Rezipienten bei einem verborgenen oder einem nicht-vorhandenen Erzähler auf die, über die Erzählung repräsentierten, Zustände und Ereignisse und die erzählte Welt gelenkt wird. Es ist um eine Zeichenstruktur als narrativ zu begreifen, in letzter Konsequenz nicht von Bedeutung, ob nun der Autor oder ein ausgestalteter Erzähler erzählt, sondern dass etwas (Repräsentation einer Ereignissequenz) und wie (Art und Weise der Präsentation) es erzählt wird. Werden die narrativen Ebenen Präsentation der Erzählung, Erzählung und Geschichte idealgenetisch ›rückwärts‹ gedacht, liegt der Fokus zunächst auf dem, was überhaupt erzählt wird. Je nach Gestaltung der Repräsentation, in der auch die Exegesis oder Bezüge zur realen Welt in den Vordergrund gestellt sein können, kann die Aufmerksamkeit speziell auf das Wie des Erzählens (die Erzählung, ihr Aufbau, die Präsentation der Erzählung und die Exegesis), auf das Was des Erzählens (Diegese, Zustände und Ereignisse) oder eben auch auf den Mittler (die Erzählinstanz) gelenkt werden – je nachdem wie stark die Strukturen des Wie, des Was oder eben die Hinweise auf das Wer akzentuiert werden. Mittelbarkeit aufzuweisen, so setze ich fortan voraus, trifft auf jedweden sprachlich kommunikativen Akt zu. Jede Verwendung von Sprache setzt einen Mittler oder Urheber voraus und die Zeichen garantieren diese Vermittlung. Ohne Mittelbarkeit wäre ein Text nicht nur kein narrativer Text, sondern auch kein kommunikativer Akt mehr. Sie ist keine differentia specifica, die erzählend von beschreibend oder argumentierend trennt. Davon abgesehen, gibt es mehr semiotische Systeme als Sprache, die zur Vermittlung einer Nachricht eingesetzt werden können und auch mehr Medien als das der Literatur, um eine Nachricht oder eben auch eine Erzählung zu übermitteln. Einen Erzähler zu haben, Mittelbarkeit aufzuweisen und narrativ zu sein sind nicht ohne Weiteres gleichzusetzen. Denn ob von den Zuständen, Ereignissen und der erzählten Welt durch die Worte eines Erzählers, einem Panel im Comic, die Interaktion mit einem Spiel oder durch die Handlungen von Schauspielern auf einer Bühne Kenntnis erlangt wird, ändert nichts daran, dass dabei etwas mittelbar vermittelt wird.⁴²⁵ Es ändert auch nichts daran, dass der Rezipient ein Geschehen inferieren kann. Kurz: Mittelbarkeit im Sinne

425 In diesem Sinne unmittelbar präsentiert wäre der Tod von Emilia in Lessings Emilia Galotti (1771) nur, wenn tatsächlich eine reale Emilia vor den Augen der Zuschauer erstochen würde.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler |

147

eines konstitutiven Merkmals mindestens sprachlich kommunikativer Akte kann kein bestimmendes Merkmal von Narration sein, da sie ein notwendiges Merkmal jedweder Kommunikation ist.⁴²⁶ Besser ist, wie oben bereits angedeutet Mittelbarkeit als einen Spezialfall von narrativer Mediation zu begreifen. Mittelbarkeit ist damit insbesondere kein Unterscheidungskriterium, um Dramentexte aus der Gattung narrativer Texte auszuschließen. Es können jedoch hierzu die Überlegungen in Beziehung gesetzt werden, die bei Erzähltexten von einer immer präsenten erzählenden Instanz ausgehen. Nach Lahn/Meister und, wie oben angesprochen, auch nach Zipfel⁴²⁷ weisen »[a]lle Erzähltexte einen Erzähler auf«,⁴²⁸ da dieser schon alleine mit der Kommunikationssituation fiktional-narrativer Texte implizit erzeugt werde: Die implizite Darstellung des Erzählers ist für jeden Erzähltext obligatorisch. Hierzu gehören alle Verfahren, die das Erzählen konstituieren – wie die Komposition des Erzähltextes in einer bestimmten Ordnung, die Art der sprachlich-stilistischen Präsentation sowie die Auswahl von Personen, Situationen und Redehandlungen.⁴²⁹

Dabei lehnen sich Lahn/Meister an Schmid an, der dem Erzähler ähnliche Funktionen zuordnet. Für Schmid kann der latente bzw. ubiquitäre Erzähler über die nachstehenden Merkmale oder Indizes abgeleitet werden.⁴³⁰ – Implizite Hinweise sind – die Auswahl von Momenten (Personen, Situationen, Handlungen, auch Rede-, Gedanken- und Bewusstseinshandlungen) aus der Diegese (Selektion), – die Komposition des Erzähltextes, also das Arrangement der gewählten Momente (Arrangierung), – die Konkretisierung und Detaillierung der Auswahl durch bestimmte Eigenschaften (Qualifizierung) – und die Präsentation der Erzählung in einer lexikalisch, syntaktisch und grammatisch mehr oder weniger markierten Sprache (Stilisierung). – Explizite Hinweise sind – die Bewertung der ausgewählten Momente (Bewertung) – sowie Einmischungen des Erzählers, d. h. Reflexionen, Kommentare, Generalisierungen, die auf die erzählte Geschichte, das Erzählen oder die eigene Person bezogen sind (Kommentierung).

426 Vgl. Martínez: Erzählen (2011), S. 11; vgl. Aumüller: Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe (2012), S. 146. 427 Vgl. auch Zipfel (Hrsg.): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001), S. 115–122. 428 Lahn/Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse (2008), S. 63. 429 Lahn/Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse (2008), S. 63. 430 Vgl. im Folgenden Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 73.

148 | 3 Drama und Narratologie Kritisch anmerken lässt sich hinsichtlich Schmids Erzählerfunktionen, dass ohne Selektion, Arrangierung, Qualifizierung und Stilisierung schlechterdings kein Text vorhanden sein würde. Bei expliziten Hinweisen ist der Einfachheit halber davon auszugehen, dass dabei offensichtlich ein Erzähler eingesetzt ist. Es bleiben die impliziten Symptome übrig, die bis auf die Qualifizierung auch von Lahn/Meister genannt werden. So betrachtet kann ein Autor unabhängig vom Mittelbarkeitskriterium, sollte er sich dafür entschieden haben, einen fiktionalen Erzähltext zu schreiben, salopp ausgedrückt, machen, was er will: er wird implizit und unausweichlich stets eine Erzählinstanz generieren.⁴³¹ Diese Instanz ergibt sich aus den impliziten Gestaltungsverfahren, wie sie ihr entsprechend zugeordnet werden können. Die impliziten Verfahren weisen jedoch auf beides hin: auf einen realen Autor, der diese Verfahren eingesetzt hat, um den Erzähltext zu bilden, und gleichzeitig auf eine von ihm funktional und im Sinne der Narratologie analytisch unterschiedene Erzählinstanz, die diese Verfahren im Akt des Erzählens einsetzt. Es kann also in Bezug auf dieselbe Narration gefragt werden ›Warum hat sie der Autor auf diese Weise gestaltet?‹ oder ›Warum gestaltet sie die Erzählinstanz auf diese Weise?‹. Es ist festzuhalten, dass die Instanz, die die erzählende Funktion übernimmt, offenbar im Hintergrund bleiben kann, wenn auf explizite Verfahren verzichtet wird oder medienbedingt verzichtet werden muss und dass als ›erzählerlos‹ verstandene narrative Kunstwerke des Theaters, des Dramas, des Films, der interaktiven Medien oder des Comics intuitiv oder in der postklassischen Narratologie theoretisch reflektiert der Menge an narrativen Artefakten zugeordnet werden können. Spätestens in diesen Fällen kann ein Erzähler nur noch metaphorisch oder aus pragmatischen Gründen behaupten werden. Denn die Argumentationen, mit denen Chatman, Bal, Richardson und andere davon überzeugen wollen, auch für den Film oder das Theater einen Erzähler anzunehmen, täuschen darüber hinweg, dass bei einem Film oder einer Theateraufführung ein ebensolcher auf äußerster Ebene, wenn dann nur implizit ausbildet ist. Eine Lösung, um solcherart erzählerlose Zeichenstrukturen ebenso als narrative Werke zu verstehen, ist: Ein Erzähler in Verbindung mit der Stanzelschen Mittelbarkeit als einem speziellen Fall der Mediation wird nicht mehr als konstitutives Merkmal des Narrativen geführt. Als die eigentlich im Vordergrund stehenden Gemeinsamkeiten können das Repräsentierte (Zustände, Ereignisse, Diegese) sowie die Ebene der Erzählung (mit einer Erzählfunktion) gelten. Das vom verwendeten Medium in hohem Maße abhängige Konzept ist die Art und Weise der Repräsentation einer Geschichte in der Erzählung. Auf der narrativen Ebene der Präsentation der Erzählung schließlich kann ein Erzähler gebildet sein oder die medial gebildete Zeichensequenz und -struktur selbst enthält erzählende Funktion. Im Falle von fiktional-narrativen und schriftsprach-

431 An anderer Stelle gestehen Lahn/Meister Chatmans Konzept des nonnarrators zu, »plausibel« zu sein, obwohl sie kurz zuvor explizit darauf aufmerksam machen, dass »alle Erzähltexte einen Erzähler aufweisen« und eine implizite Darstellung desselben unweigerlich gebildet wird. Vgl. Lahn/Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse (2008), S. 64.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler |

149

lich fixierten Texten wie es Erzähltexte und Dramentexte sind, gehe ich allerdings von einem Erzähler als erzähl- und fiktionslogischem Modellpunkt der Narratologie aus.

3.6.3 Diegetische und mimetische Narrationen Gewiss haben die sich etwa seit den 1980er Jahren herausbildenden postklassischen Formen der Narratologie diesen Begründungszwang des offensichtlichen Erzählers mit der Zeit abgelegt, ebenso wie sich narratologische Analysen anderer Medien ohne die Annahme eines obligatorischen Erzählers als durchaus fruchtbar erweisen. Genau genommen stellt sich die Frage, warum ein enger narrativ-Begriff – (1) und (2) – überhaupt beibehalten werden muss, wenn offensichtlich kein Einwand mehr dagegen besteht, andere Medien als die der Erzähltexte als narrativ zu verstehen und wenn selbst bei Erzähltexten argumentiert werden kann, dass zwar der Gestaltung der Zeichenstruktur immer eine erzählende Funktion zugrunde liegt, aber nicht immer explizit eine Erzählerfigur gebildet wird (≈ Mittelbarkeit) bzw. sich eine solche explizit bemerkbar macht. Denn es ist gerade der Erzähler, der aus der Beschreibung eines weiten Begriffs des Erzählens ausgeschlossen wird. Beispielhaft verdeutlicht dies Werner Wolfs oben bereits angeführte Minimaldefinition, die hier zur Erinnerung noch einmal zitiert wird: Erzählen wäre damit [. . .] die Darstellung wenigstens von Rudimenten einer vorstell- und miterlebbaren Welt, in der mindestens zwei verschiedene Handlungen oder Zustände auf dieselben anthropomorphen Gestalten zentriert sind und durch mehr als bloße Chronologie miteinander in einem potentiell sinnvollen, aber nicht notwendigen Zusammenhang stehen.⁴³²

Der Erzähler ist herausgelöst und der Fokus der Explikation des Erzählens liegt hier auf der Erzählfunktion, dem Repräsentierten und der Art und Weise des Erzählens. So unterscheidet beispielsweise Schmid narrative Texte »die die Veränderung [bezogen auf die Zustands- und Ereignissequenz, A.W.] ohne ›Vermittlung‹ durch einen ›Erzähler‹ darstellen: das Drama, der Film, der Comic, das narrative Ballett, die Pantomime, das erzählende Bild etc.«⁴³³ Diese nennt er mimetische Texte bzw. genauer mimetisch-narrative Texte und verortet sie als eine Teilmenge der narrativen Texte im weiten Gebrauch des Begriffs. Mit der Unterscheidung eines engen und eines weiten narrativ-Begriffs anhand des Merkmals der Mittelbarkeit als einem speziellen Fall narrativer Mediation hängen wiederum die Begriffe ›diegetisch‹ (narrativeng , telling) und ›mimetisch‹ (narrativweit , showing) zusammen. Sie werden im Allgemeinen vom antiken Redekriterium abgeleitet. Ich möchte diese Unterscheidung in diegetische und mimeti-

432 Hervorhebungen im Original. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 51. 433 Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 9.

150 | 3 Drama und Narratologie sche Narration hier diskutieren und beschreibe dafür zunächst das Redekriterium, wie es sich bei Platon und Aristoteles darstellt. Platon lässt in seiner Politeia Sokrates sagen, daß von der gesamten Dichtung und Fabel einiges ganz in Darstellung besteht, wie du sagst die Tragödie und Komödie, anderes aber in dem Bericht des Dichters selbst, welches du vorzüglich in den Dithyramben finden kannst, noch anderes aus beiden verbunden, wie in der epischen Dichtkunst [. . .]⁴³⁴

Der Dichter spreche in der Dichtung entweder selbst durch einfaches Berichten (»haplé diegései«⁴³⁵) und ohne dass er nachahmt (»áneu miméseos«⁴³⁶) oder aber er spricht als sei er ein anderer. Dabei imitiere der Dichter die Rede, er berichtet indem er nachahmt (»diégesis diá miméseos«⁴³⁷).⁴³⁸ Sokrates unterscheidet also diegetische Darstellungen (Bericht) mit und ohne Nachahmung (vgl. Abbildung 3.7 auf Seite 151). Für ihn ist es die Chorlyrik, genau genommen eine bestimmte Art derselben: der Hymnus⁴³⁹, die aus einfachem ›Bericht‹ ohne Nachahmung bestehe. Die ›reine‹ Nachahmung finde sich in der Dramatik. Beides miteinander verbunden finde sich aber im Epos. So erscheint es als möglich, die mimésis auf ein schriftliches bzw. auf ein rein sprachliches Medium abzubilden. Platons Skepsis an der Dichtung kulminiert in seinem Nachahmungsbegriff. Er versteht unter mimésis ein sich hineinversetzendes, performatives Nachahmen.⁴⁴⁰ Dichtung mithilfe von Nachahmung ist bei ihm bekanntlich negativ behaftet. In der Dichtung können auch schlechte Dinge bzw. niedere Moralvorstellungen zur Nachahmung gelangen. Dabei sind weder der Dichter noch die Schauspieler noch die Rezipienten bei ihrer Identifikation mit verschiedenen Rollen davor gefeit, dieses ›Schlechte‹ zu internalisieren. Nach Platons politischen Idealen passt deshalb eine auf Nachahmung aufgebaute Dichtung nicht in seine Vorstellung einer »gereinigte[n], gesinnungsertüchtigende[n] Zweckpoesie«.⁴⁴¹ Er schließt damit Epos und Drama als lautere Dichtungsweisen aus und lässt nur noch die Dithyramben gelten.

434 Platon: Menon, Kratylos, Euthydemos, Hippias Maior, griechisch und deutsch, in: Karlheinz Hülser (Hrsg.): Sämtliche Werke, Bd. 3: Sämtliche Werke, übers. v. Friedrich Schleiermacher/Franz Susemihl/und andere, Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag, 1991, 394c. 435 Platon: Menon, Kratylos, Euthydemos, Hippias Maior (1991), 392d. 436 Platon: Menon, Kratylos, Euthydemos, Hippias Maior (1991), 393c. 437 Platon: Menon, Kratylos, Euthydemos, Hippias Maior (1991), 393c. 438 Vgl. dazu auch Klaus Weimar: Art. ›Diegesis‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Klaus Weimar u. a., Bd. 1, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 1997, S. 360–363, hier S. 360 f. 439 Vgl. Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ›Longin‹. Eine Einführung (Die Literaturwissenschaft), Darmstadt: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2 1992, S. 92. 440 Vgl. Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike (1992), S. 92; vgl. Weimar: Diegesis (1997), S. 362. 441 Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike (1992), S. 92.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler | 151 diegetisch

mimetisch Dramatik

nicht-mimetisch Epik

Dythirambik

Abb. 3.7: Einteilung nach dem Redekriterium bei Platon

Aristoteles rehabilitiert die Nachahmung, indem er sie zu einem anthropologischen Prinzip erklärt und dabei gleichzeitig als Grundlage aller Dichtung ansieht. War bei Platon die von ihm performativ verstandene Mimesis der Diegesis eher untergeordnet, stellt bei Aristoteles eine eher referentiell verstandene Mimesis den Oberbegriff dar, innerhalb der eine Nachahmung durch Diegesis geschehen kann.⁴⁴² Diese Mimesis werde in der Dichtung mithilfe der Sprache geleistet:⁴⁴³ Denn es ist möglich, mithilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten – in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht – oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen.⁴⁴⁴

Nach Aristoteles ist sowohl das Performative⁴⁴⁵ als auch das indirekt Sprachliche (Bericht) Nachahmung im Sinne der Mimesis. Wenn er die Nachahmung durch Bericht nochmals unterteilt, in Bericht durch eine vom Dichter eingesetzte Figur und Bericht durch den Dichter selbst, ist die Möglichkeit der Installierung einer vermittelnden Erzählinstanz angedeutet. Was die Tragödie betrifft, so sei sie vom Epos neben einer unterschiedlichen Versform dadurch zu unterscheiden, dass das Epos »aus Bericht besteht«,⁴⁴⁶ die Tragödie hingegen »nicht durch Bericht«⁴⁴⁷ nachahme (vgl. Abbildung 3.8 auf Seite 152). Aristoteles verwendet offenbar die Begriffe ›diegetisch‹ und ›mimetisch‹ nicht mehr im Sinne Platons und Platon verwendet die Begriffe nicht im Sinne ›entweder diegetisch oder mimetisch‹. Die von Platon vorgenommene und von Aristoteles unter anderen Prämissen weitergeführte Unterscheidung zweier Vermittlungsarten innerhalb der Dichtung, die man auch als Redekriterium bezeichnet, wird in der Erzähltheorie und auch der Gattungstheorie wieder aufgegriffen. Dort führt es zur Unterscheidung mittelbarer, diegetischer, indirekter, narrativer oder auch epischer Präsentation und unmittelbarer, mimetischer, 442 Vgl. Weimar: Diegesis (1997), S. 362. 443 Vgl. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 5. 444 Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 9. 445 Vgl. dazu auch das Modell Zeichen von Zeichen bei Fischer-Lichte sowie ihre Darlegungen zur Performativität. Fischer-Lichte: Das System der theatralischen Zeichen (2007), S. 19; Erika FischerLichte: Performativität. Eine Einführung (Edition Kulturwissenschaft 10), Bielefeld: transcript, 2 2013. 446 Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 17. 447 Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 19.

152 | 3 Drama und Narratologie mimetisch

performativ

berichtend

Figur

Dichter Dramatik

Epik

Abb. 3.8: Einteilung nach dem Redekriterium bei Aristoteles

performativer direkter oder auch dramatischer Präsentation.⁴⁴⁸ Allerdings werden die Platonische und Aristotelische Gliederung diffus gebraucht. Aristoteles verwendet diegetisch nicht im Zusammenhang mit dem Erzählerbericht und Platon stellt nicht diegetisch neben mimetisch, sondern mimetisch neben nicht-mimetisch. Diese Einteilung taucht unter anderem Namen in der Gattungstheorie von Klaus W. Hempfer auf. Er unterscheidet eine performative von einer berichtenden Sprechsituation und ordnet diesen jeweils eine sogenannte dramatische und eine narrative Schreibweise zu. Er bezeichnet diese Schreibweisen als primäre Schreibweisen. Schreibweisen können als invariante Verfahren literarischer Produktion verstanden werden. Er bezeichnet die dramatische und die narrative Schreibweise deshalb als primäre, da sie auf zwei Sprechsituationen aufbauen, die nicht mehr weiter reduzierbar sind. Es handelt sich um grundsätzliche Gestaltungsarten künstlerischer Werke. Die performative Sprechsituation zeichne sich dabei durch einen möglichen Wechsel der Stellung von Sprecher und Hörer aus und der Inhalt wird unvermittelt dargestellt. Die berichtende Sprechsituation hingegen wird von Hempfer als eine beschrieben, die, um beim Beispiel zu bleiben, eine solche performative Sprechsituation zum Inhalt hat. Es besteht dann eine deiktische Differenz zwischen dem Sprecher und dem beschriebenen gegebenenfalls performativen Inhalt. Letztlich kann diese Unterscheidung Hempfers auf die Trennung der Gattungen übertragen werden. Er unterscheidet damit das Drama als Aufführungstext bzw. als direkte performative Sprechsituation vom Erzähltext, der zum Beispiel eine performative Sprechsituation berichtend darstellt bzw. ein zusätzliches deiktisches System aufbaut. Eine dramatische Schreibweise bei Hempfer ist eine direkte, performative Darstellung ohne Erzähler, während eine narrative Schreibweise bei Hempfer eine indirekte, berichtende Darstellung mit Erzähler beschreibt. Werke mit einem explizit dargestellten Erzähler nach dem Redekriterium der Narratologie sind dementsprechend diegetische Werke bzw. genauer: diegetisch-narrative Werke. Diese sind als eine Teilmenge von narrativen Texten im weiten Sinne zu begreifen und stellen narrative Texte im engen Sinne dar. Schmid schlägt als Vereinfachung vor, narrativweit durch narrativ und narrativeng durch erzählend zu ersetzen, da Dar448 Vgl. Weimar: Diegesis (1997), S. 362 f.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler | 153

stellungen letzteren Typs immer einen Erzähler haben.⁴⁴⁹ Dies ist vergleichbar mit Chatman, der es für die Zuordnung eines Werks zur Gattung Narration als wichtiger erachtet, ob zum Beispiel Charaktere eingesetzt sind, eine Zeitdarstellung erfolgt und das Ganze in bestimmten räumlichen oder anderen Kontexten situiert wird, als die Frage wie diese Dinge vermittelt werden.⁴⁵⁰ Analog zu Chatman, Schmid und Hempfer unterscheidet auch Pfister dramatisch oder szenisch präsentiert (≈ mimetisch) von narrativ vermittelt (≈ diegetisch).⁴⁵¹ Er tut dies, da er das konstitutive Element des Narrativen – im Gegensatz zur postklassischen Narratologie – nicht im Repräsentierten, also im Geschehen und der Diegese erkennt, sondern in einem bestimmten Moment bzw. im Modus der Repräsentation. Das Repräsentierte wird sprachlich mithilfe einer Figur oder einer Erzählinstanz dargestellt. Hinzu kommt, dass Pfister keine transmediale Narratologie des Dramas verfolgt, sondern von der Gattungsdifferenz auf der Makroebene zwischen narrativer und dramatischer Präsentation und damit der Gattungseinteilung in Drama und Epik/Narration ausgeht. Der Unterschied zwischen szenischer Präsentation und narrativer Vermittlung, zwischen »offener« und »verdeckter Handlung«, ist ein doppelter: die Präsentation in offener Handlung ist plurimedial und a-perspektivisch, die narrative Präsentation in verdeckter Handlung rein verbal und figurenperspektivisch. Wird im ersten Fall der Rezipient zum unmittelbaren Zeugen eines mit konkreter Anschaulichkeit dargestellten Geschehens, von dem er sich selbstständig ein Bild machen kann, so ist er im zweiten Fall auf einen figurenperspektivisch gebrochenen und in seiner Sprachlichkeit weniger konkret-anschaulichen Bericht angewiesen, bezieht er seine Information also »aus zweiter Hand«.⁴⁵²

Pfister verweist allerdings weder auf Platon noch auf Aristoteles, sondern auf Horaz’ »aut agitur res in scaenis aut acta refertur«⁴⁵³ und folgt Hempfers Einteilung in dramatische und narrative Schreibweisen. Damit beschreibt seine Gegenüberstellung von dramatisch und narrativ letztlich die Differenzierung zwischen performativ-zeigend und berichtend. Gerade in Bezug auf den Aufführungstext wird im Zuge der Ausweitung der Narratologie die Unterscheidung zwischen diegetischer und mimetischer Narration beispiels-

449 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 9. 450 Vgl. Chatman: Story and Discourse (1980), S. 196; vgl. auch Roland Weidle in Bezug auf eine mögliche nicht-diegetische Erzählinstanz im Drama. Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 240. 451 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 276. 452 Pfister: Das Drama (2001), S. 276. 453 »Etwas wird auf der Bühne entweder vollbracht oder wird als Vollbrachtes berichtet.« Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst, Lateinisch und Deutsch, aus dem Lateinischen übers. und mit einem Nachw. vers. v. Eckart Schäfer (RUB 9421), Stuttgart: Reclam, 1972, V. 179.

154 | 3 Drama und Narratologie weise in zwei Aufsätzen von Nünning/Sommer⁴⁵⁴ als Unterscheidungs- bzw. Graduierungsmerkmal narrativer Texte vorgeschlagen.⁴⁵⁵ 2011 unterscheiden sie im Rahmen der postklassischen Narratologie diegetische und mimetische Narration auf folgende Weise: Whereas diegetic narrativity presupposes the presence of a speaker or, more precisely, storyteller, a proposition, a communicative situation, and an adressee or a recipient role, mimetic narrativity does not. Similarly, while diegetic narrativity presupposes an underlying ›communicational paradigm‹ [. . .], mimetic narrativity does not.⁴⁵⁶

Nünning/Sommer gebrauchen das Begriffspaar ›diegetisch/mimetisch‹ zum einen wie auch Pfister und Hempfer als konkretes Unterscheidungsmerkmal zwischen Dramatik im Sinne von Aufführungen und Epik im Sinne von gedruckten und damit fixierten Narrationen⁴⁵⁷ und zum anderen metaphorisch bzw. als abstraktes Merkmal auf Ebene schriftlich fixierter Narrationen. Konkret verwenden sie die Begriffe, wenn sie beim aufgeführten Drama von einer direkten, performativen Präsentation der Erzählung ausgehen (ohne Mittelbarkeit) und bei der Epik eine indirekte, berichtende bzw. vermittelte Präsentation der Erzählung erkennen (mit Mittelbarkeit). Abstrakt verwenden sie die Begriffe, wenn innerhalb der Epik, also innerhalb mittelbarer Narration, ebenfalls mimetische Narration (eine QuasiNicht-Mittelbarkeit) von einer diegetischen Narration (mit Mittelbarkeit) unterschieden werden kann. Auf der anderen Seite gestehen sie auch dem aufgeführten Drama zu, über extradiegetische (Regiefigur, Chor) oder intradiegetische (zum Beispiel Boten) Instanzen diegetische Narration innerhalb einer mimetischen Narration zu leisten.⁴⁵⁸ Damit lösen sie allerdings nicht das Problem, welcher von beiden Arten der Nebentext im Drama zuzuordnen ist. Dass Regiefiguren, Chöre, Boten usw. innerhalb ihrer Re-

454 Vgl. Nünning/Sommer: Diegetic and Mimetic Narrativity (2008); Nünning/Sommer: The Performative Power of Narrative in Drama (2011). 455 Nünning/Sommer bauen diese Unterscheidung unter anderem auf Wolfs Differenzierung ästhetischer Illusion in Handlungsillusion bzw. illusion of action und Charakterillusion bzw. illusion of characters sowie Fluderniks Differenzierung von story frame und telling frame auf. Vgl. Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology (1996), S. 341; vgl. Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf illusionsstörendem englischen Erzählen (Buchreihe der Anglia 32), Tübingen: Niemeyer, 1993, S. 97; vgl. Nünning/Sommer: Diegetic and Mimetic Narrativity (2008), S. 339. 456 Nünning/Sommer: The Performative Power of Narrative in Drama (2011), S. 206 f. 457 Walter Grünzweig und Andreas Solbach geben zu bedenken, dass sich die Trennung der Gattungen über Diegesis und Mimesis gerade im Zusammenhang mit der Ausweitung der postklassichen Narratologie nur schwer halten lässt: »Diegesis und Mimesis sind Darstellungsformen [. . .], die ungeeignet sind, Gattungen zu definieren.« Walter Grünzweig/Andreas Solbach: Einführung. Narratologie und interdisziplinäre Forschung, in: Grenzüberschreitungen. Narratologie im Kontext, hrsg. v. Walter Grünzweig/Andreas Solbach, Narr Francke Attempto, 1999, S. 1–15, hier S. 6. 458 Vgl. Nünning/Sommer: Diegetic and Mimetic Narrativity (2008), S. 340.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler | 155

debeiträge (Haupttext) Mittelbarkeit aufweisen können und als diegetisch-narrative Elemente im obigen Sinne verstanden werden können, stellt keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn dar, da dies auch bereits von der klassischen Narratologie vertreten wurde bzw. vertreten werden kann. Der Botenbericht eines Gesandten in einem Drama, sei dieses aufgeführt oder nicht, ist eine mittelbar-erzählende Darstellung eines Sachverhalts. Wie es also bei der Mediation einer Narration mit Mittelbarkeit möglich ist, den Fokus sowohl auf den Vermittlungsvorgang selbst als auch auf das Repräsentierte zu richten (vgl. dazu das Bernhard-Beispiel), gilt dasselbe offenbar für eine Mediation ohne Mittelbarkeit. Da Nünning/Sommer diegetisch/mimetisch für beide Differenzierungen verwenden – sowohl für die Unterscheidung zwischen Mediationen mit Mittelbarkeit (diegetisch1 ) und solchen ohne Mittelbarkeit (mimetisch1 ) als auch für die Trennung innerhalb von Mediationen mit Mittelbarkeit, an Stellen bei denen der Akt der Mediation offenliegt (diegetisch2 ) oder bei Passagen, die verstärkt das Repräsentierte in den Vordergrund stellen (mimetisch2 ) – werden die Begriffe unbrauchbar. Denn dann werden die Bezeichnungen ›diegetisch1 -diegetisch2 ‹, ›diegetisch1 -mimetisch2 ‹, ›mimetisch1 -diegetisch2 ‹ und ›mimetisch1 -mimetisch2 ‹ möglich. Für eine andere Möglichkeit der Unterscheidung beziehe ich mich hier auf Manfred Jahn, der zwischen geschriebenen bzw. gedruckten (written/printed) und aufgeführten (performed) Narrationen unterscheidet.⁴⁵⁹ Sowohl eine performativ vermittelte Aufführung als auch der über sprachliche Zeichen vermittelte Dramentext stellen eine narrative, semiotische Struktur dar, mit dem Unterschied, dass der Dramentext eine fixierte Zeichenstruktur, eine Aufführung hingegen eine nicht-fixierte, vielmehr eine im Herstellungsprozess befindliche Zeichenstruktur ist. Bei einer performativen Narration (bspw. eine Aufführung, ein Stegreifspiel, eine Performance) ist eine Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption gegeben. Bei einer nicht-performativen oder fixierten Narration (bspw. ein Dramentext, ein Film oder auch eine aufgezeichnete Aufführung) ist eine Ungleichzeitigkeit von Produktionsakt und Rezeptionsakt gegeben. Dementsprechend erlauben und bedürfen performative und fixierte Narrationen unterschiedlicher analytischer und interpretativer Zugänge. Im Gegensatz zu Nünning/Sommer halte ich allerdings beide Varianten in Kommunikationssituationen eingebunden, mit der Differenz, dass bei performativen Narrationen nicht nur die narrative Zeichenstruktur erst im jeweiligen Hier-und-Jetzt von Produzent und Rezipient entsteht, sondern auch von beiden Kommunikationspartnern währenddessen potentiell verändert oder angepasst werden kann. Eine fixierte Narration erlaubt hingegen weder dem Produzenten noch dem Rezipienten in die narrative Struktur einzugreifen. Dafür kann der Rezipient beim Rezeptionsakt bspw. vor- und zurückblättern. Ersetzt man die Art der medialen Vermittlung mit diesem Differenzierungs-Vorschlag written/printed bzw. fixierte narrative Zeichenstrukturen und Ungleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption

459 Vgl. Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 675.

156 | 3 Drama und Narratologie und performed bzw. nicht fixierte Zeichenstrukturen und Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption, können folgende Paare gebildet werden: ›fixiert-diegetisch‹, ›fixiert-mimetisch‹, ›performativ-diegetisch‹ und ›performativ-mimetisch‹. Von diegetischer Narration werde ich aufbauend auf diesen Überlegungen dann sprechen, wenn das Repräsentierte über eine Mittlerinstanz (Erzähler) wahrnehmbar gemacht wird (im Dramentext oder im Aufführungstext beispielsweise ein Botenbericht). Als mimetisch erachte ich eine Narration dann, wenn das Repräsentierte ohne oder scheinbar ohne Mittlerinstanz direkt zeigend wahrnehmbar gemacht wird. Während die diegetische Narration beispielsweise den Akt des Erzählens in den Vordergrund stellen kann, fokussiert die mimetische Narration das Repräsentierte bzw. Erzählte. Dies lässt sich am obigen Bernhard-Beispiel beobachten. Durch die dortige ›unmittelbare‹, scheinbar objektive oder erzählerlose Präsentation liegt der Fokus der Aufmerksamkeit auf der repräsentierten Handlung. Mediation weisen aber diegetische sowie mimetische Narrationen in Abhängigkeit vom jeweiligen Medium gleichermaßen auf. Es gibt in diesem Sinne keine Nicht-Mediation, wohl aber verschiedene Arten der Mediation. Die Mediation kann bspw. fixiert sein, wie in gedruckten Texten (Drama, Erzähltext), Comics, Filmen usw., sie kann direkt ›performiert‹ sein, wie in Lesungen, Aufführungen, Happenings usw. oder sie kann interaktiv gestaltet sein, wie bspw. bei Computerspielen. Es kann dabei mit Mittelbarkeit gearbeitet werden oder ohne sie. Eine weite Definition von narrativ behält damit alle Eigenschaften des engen Begriffs bei und schließt die sprachliche Präsentation, eine vermittelnde Erzählinstanz⁴⁶⁰ und die Vermittlung über eine Erzählerfigur (es wird nur noch eine Erzählfunktion angenommen) als konstitutive Merkmale aus. Angepasst an meine bisherige Beschreibung, lässt sich ›narrativ‹ nun so bestimmen: (3) Narrativ wird eine Zeichenstruktur dann genannt, wenn sie sinnvoll ist, sie auf anthropomorphe Wesen konzentriert ist und wenn darin temporal verknüpfte Zustände und Ereignisse sowie die Diegese indirekt berichtend bzw. diegetisch vermittelt oder aber direkt zeigend bzw. mimetisch und scheinbar unvermittelt repräsentiert sind. Zustands- und Ereignissequenz, Diegese und Exegesis können durch eine bestimmte Gestaltung des narrativen Werks scheinbar unvermittelt repräsentiert sein und es muss sich nicht mehr um einen Text, im Sinne einer fixierten, linguistischen Zeichenstruktur, handeln. So können auch künstlerische Artefakte unter narrativen Gesichtspunkten untersucht werden, die nicht oder nicht nur aus sprachlichen Zeichen aufgebaut sind,

460 Gerade in diesen Punkten sieht Marie-Laure Ryan die wichtigste Voraussetzung, um beispielsweise auch das aufgeführte Drama oder den Film als narrative Werke verstehen zu können. Dafür müsste aus der Beschreibung »the occurrence of the speech act of telling a story by an agent called a narrator« herausgenommen werden. Vgl. Ryan: On the Theoretical Foundations of Transmedial Narratology (2005), S. 2.

3.6 Mittelbarkeit und Erzähler | 157

die nicht fixiert sind und die nur in Teilen oder überhaupt keine ausgezeichnete, Erzählinstanz im Sinne einer anthropomorphisierten Figur auf exegetischer Ebene (Erzähler) aufweisen. In solchen Fällen ergeben sich erzählende Funktion aus der Zeichenstruktur selbst. So lässt sich zum Beispiel die Wahrnehmung der Narration beim Comic so erklären: Der Autor entwirft mithilfe ikonischer Zeichenträger die Präsentation. Hierbei übernimmt die Zeichenstruktur im übertragenen Sinne die Darstellung der Erzählung und damit auch die erzählende Funktion.

3.6.4 Zusammenfassung Eine mögliche Lösung des Mittelbarkeits- und Darstellungsproblems für narrative Texte gestaltet sich nun so, dass immer eine Erzählfunktion auf äußerster Ebene angenommen wird, über die die gesamte Repräsentation (Erzählung und die Präsentation der Erzählung) und das Repräsentierte – das Wie und das Was – sowie der Einsatz weiterer Instanzen strukturiert wird. Diese geht wie der gesamte Text vom Autor aus und impliziert gleichzeitig eine Erzählinstanz. Frank Zipfel formuliert dies so: Fiktionale Erzähl-Texte sind grundsätzlich durch eine Verdoppelung der Sprachhandlungssituation [kommunizierte Kommunikation; A.W.] gekennzeichnet [. . .] Diese Verdoppelung schlägt sich auf der Produktionsseite in der Dissoziation von Autor und Erzähler nieder. Nicht der Autor, sondern der Erzähler wird als unmittelbarer sprachhandlungslogischer Produzent des Erzähl-Textes (Erzähl-Text2 ) angesehen [. . .] Man könnte sagen: der Autor erzählt nicht, er läßt erzählen.⁴⁶¹

Richard Aczel erkennt im Erzähler eine Art Sammelbegriff der Narratologie unter der verschiedene notwendige und fakultative Erzählfunktionen gebündelt werden (vgl. Kapitel 3.6 ab Seite 147).⁴⁶² Auch nach Uri Margolin besitzt ein narrativer Text immer einen inner-textuellen, exegetischen Erzähler, der auch im Sinne von Chatman durch und durch covert ist und aus narratologischer Sicht nicht mit dem Autor gleichgesetzt werden muss oder soll. Er geht aber sogar noch über Zipfel hinaus, insofern er auch im Zusammenhang mit faktualen Erzähltexten von einem Erzähler spricht: »An innertextual narrator can in principle be assigned to any narrative text, not just a fictional one, and such ascription does not require any knowledge about the actual world producer of the words of the text, be it a human being or a computer program.«⁴⁶³ Roland Weidle bildet daraus ein »[s]uperordinate narrative system«,⁴⁶⁴ welches gleichsam 461 Zipfel (Hrsg.): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001), S. 182. 462 Nach Aczel ist das Konzept ›Erzähler‹ zu verstehen »as an umbrella term for a cluster of possible functions, of which some are necessary (the selection, organization, and presentation of narrative elements) and others optional (such as self-personification as teller, comment, and direct reader/narratee address)«. Aczel: Hearing Voices in Narrative Texts (1998), S. 492. 463 Uri Margolin: Narrator, in: Handbook of Narratology, hrsg. und mit einem Vorw. vers. v. Peter Hühn u. a. (Narratologia 19), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2009, S. 351–369, hier S. 351. 464 Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 228.

158 | 3 Drama und Narratologie einen narrativen Text umfasst und sich in einem »superordinate agent«⁴⁶⁵ und damit einer immer anwesenden nicht-diegetischen Erzählinstanz manifestierten kann. Gerade im schriftsprachlichen Medium bringt es das Zeichensystem Sprache mit sich, dass bei der Rezeption stets ein Sprecher oder Schreiber der Worte inferiert werden kann, selbst dann, wenn kein Hinweis auf irgendeine Charaktereigenschaft oder den deiktischen Ursprung dieser Instanz im Text gefunden wird. Sie wird inferiert und vorausgesetzt, einfach weil ein Text da ist bzw. sie generiert sich durch die Anwesenheit einer Zeichensequenz. Für das Modell narrativer Texte im Gegensatz zu allgemein narrativen Artefakten nehme ich also weiterhin eine Erzählinstanz an, die die erzählende Funktion übernimmt. Es ist aber nicht die Frage, wie viel vom Autor in diese Erzählinstanz eingegangen ist. Sie ist vielmehr von Bedeutung als Fixpunkt des Modells. Die Frage, wie sehr oder ob sich darin der Stil des Autors oder Wesenszüge desselben zeigen, wird erst bei einer Interpretation von Belang, die genau diese Relationen untersucht, oder wenn sich die Interpretation Fragen der Zuverlässigkeit bzw. der dem Erzählakt zugrundeliegenden Intention widmet. Ich ziehe zur Illustration abermals den Redebeitrag von Phocas heran: phocas O Schmerz! O harter Fall! Der größte Mann verdirbt, Den jemals Rom gesehn! Das Ebenbild der Götter, Und hätten sie gewollt, des Vaterlandes Retter.⁴⁶⁶

Der Ausschnitt ist eine fiktionale Aussage des Autors, weil hier nicht behauptet wird, dass es Phocas gegeben hat, dass dieser das Obige tatsächlich geäußert hat oder dass der Autor derselben Ansicht wie Phocas ist. Gleichzeitig kann der Ausschnitt nach dem Modell der doppelten Kommunikation als die Aussage einer erzählenden Instanz begriffen werden, die exegetisch einen Teil (Zustände und Ereignisse) der erzählten Welt vermittelt, die sich, wie der Autor, nur über die Selektion, Arrangierung, Qualifizierung und Stilisierung der Zeichenträger bemerkbar macht. Und ebenso gleichzeitig ist der Ausschnitt ab ›O Schmerz!‹ eine Aussage der Figur Phocas, die mir als Rezipienten einen Einblick in die von ihr wahrgenommene Welt bietet. Als Rezipient kann ich Obiges im Druck materiell als Text wahrnehmen, als Beschreibung eines Ereignisses bzw. eines Zustandes einer erzählten Welt oder als Aussage Phocas’ in einer erzählten Welt. Es wurde gezeigt, wie sich die Diskussion um Mittelbarkeit und die Erzählinstanz sowie die um diegetische und die mimetische Narration innerhalb narratologischer Theorie vereinen lassen. Es wurde hierfür genauer auf die Etablierung einer generellen Erzählfunktion für narrative Texte eingegangen. Weiter oben wurde bereits angedeutet,

465 Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 230. 466 Gottsched: Sterbender Cato (2005), S. 84.

3.7 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz) | 159

wie eine exegetische Erzählinstanz im Drama angelegt sein kann, dies wird jetzt im folgenden Kapitel noch einmal genauer herausgearbeitet.

3.7 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz) Die Einführung einer erzählenden Instanz für das Drama hat sich mit Vorannahmen und diffizilen Zuständigkeits- und Begriffsverschränkungen verschiedener Wissensbzw. Forschungsgebiete auseinanderzusetzen, wie ich in Kapitel 1 und im vorangegangenen Kapitel 3.6 dargestellt habe. Eike Muny habe ich bereits als einen Vertreter einer transgenerischen Narratologie des Dramas angeführt, der die Auffassung vertritt, auch für das Drama eine stets präsente exegetische Erzählinstanz anzunehmen, die vom Autor analytisch getrennt aufgefasst werden kann und der für das Drama Erzählfunktionen zugeschrieben werden.

3.7.1 Grundlegende Überlegungen zur Einführung einer Erzählinstanz im Drama Das Drama wird von mir als ein fiktional-narratives Medium verstanden. Dementsprechend sollte für den Dramentext, dasselbe Kommunikationsmodell wie für Erzähltexte angenommen werden können. Als Konsequenz ergibt sich dann für den Dramentext eine obligatorisch vermittelnde Kommunikationsebene, auf der für das Drama eine exegetisch-erzählende Instanz etabliert werden kann. Worin besteht die Problematik einer transgenerischen Ausweitung der Narratologie auf das Drama im Falle der Erzählinstanz, wenn sogar innerhalb der klassischen Narratologie unter Aufrechterhaltung des Stanzelschen Mittelbarkeit-Kriteriums alle fiktional-narrativen Texte als kommunikative Akte werkintern einen Mittler bzw. Erzähler implizieren? Gehe ich davon aus, dass Dramentexte wie Texte der Epik kommunikative Akte darstellen und Mittelbarkeit in Form von fixierter Verbalität besitzen, dann ist es wohl eine bestimmte Form von Mittelbarkeit, die Texten der Epik zugesprochen, anderen Medien und Gattungen aber eher abgesprochen wird. Es geht nicht darum, ob ein oder mehrere Mittler vorhanden sind oder nicht. Zumindest ist ein Autor des Textes immer anzunehmen und im Falle des Dramas scheint selbst die Literaturwissenschaft keine Probleme darin zu sehen, diesem die Aussagen des Dramentextes in Bezug auf die erzählte Welt realiter zuzuschreiben.⁴⁶⁷ Diskussions-

467 Diese Zuschreibung ist insbesondere beim Textsegment Nebentext eines Dramas auffällig. Frank Zipfel verwendet beispielsweise die Bezeichnungen ›Nebentext‹ und ›Haupttext‹ parallel zu den Bezeichnungen ›Autortext‹ und ›Sprechertext‹. Er deutet damit die Zugehörigkeit des Nebentextes zum Autor an. Vgl. Zipfel (Hrsg.): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001), S. 310 f.; Bei Anke Detken ist zu lesen: »Während die impliziten Regiebemerkungen [Haupttext mit der Funktion eines Nebentextes, A.W.], da sie in die Figurenrede integriert sind, nur schwer bestimmt und vom übrigen Text abgegrenzt

160 | 3 Drama und Narratologie würdig bleibt, ob erstens ein spezieller Mittler, nämlich eine exegetische Erzählinstanz, die Mittelbarkeit stiftet und zweitens ob mit ihr ein sowohl vom Autor und Rezipienten als auch von den dargestellten Ereignissen analytisch und deiktisch unterschiedenes Kommunikationssystem eingeführt wird. In fiktional-narrativen Texten wird neben dem realen Kommunikationssystem Autor/Leser ein zweites, vermittelndes Kommunikationssystem eingesetzt, das durch die Erzählfunktionen entsteht und in dem die Erzählinstanz als vermittelnde Instanz generiert werden kann.⁴⁶⁸ Schmid und Lahn/Meister argumentieren beispielsweise damit, dass eine vermittelnde Ebene mit einer Erzählinstanz in Texten bereits implizit durch Selektion, Arrangierung, Qualifizierung und Stilisierung erzeugt wird. Da nicht bestritten werden kann, dass auch im Dramentext Selektion, Arrangierung, Qualifizierung und Stilisierung bei der Produktion und während der Wahrnehmung der Präsentation erkannt wird, spricht nichts dagegen, auch im Dramentext die obligatorische Generierung einer Erzählinstanz zusammen mit dem semiotischen System N2 anzunehmen. Dass sich diese Ansicht in der Narratologie erst jetzt nach und nach durchsetzt, liegt unter anderem an der bisherigen Konzentration auf das Drama als Aufführungstext. Beispielsweise gehen selbst postklassische Ansätze wie die von Peter Hühn und Roy Sommer zwar von einem transgenerisch literaturwissenschaftlichen Modell der Narratologie aus, um einen Überblick über die Potenziale und Ansätze einer Narratologie des Dramas und der Lyrik zu ermöglichen. Auffällig ist jedoch, dass sie sich im Falle des Dramas doch wieder auf den Aufführungstext beziehen und das Narrative mit Blick auf eine performative Umsetzung betrachten: In dramatic texts in performance, on the other hand, the sequence of happenings is presented directly, corporeally, in the form of live characters interacting and communicating on stage, without an overt mediator (such as a narrator) and seemingly without any mediation whatsoever.⁴⁶⁹

Peter Hühn und Roy Sommer schreiben zwar »seemingly without any mediation«, machen sich aber in Narration in Poetry and Drama dennoch nicht für ein Modell mit exegetischer Erzählinstanz zumindest für die Analyse des nicht-aufgeführten Dramas stark. Die Annahme einer dem Erzähler ähnlichen Instanz im Drama wird erschwert durch die Annahmen der verschiedenen Forschungsgebiete der Dramentheorie, der Gattungstheorie, der Narratologie und der narratologischen Dramentheorie bezüglich

werden können, werden die expliziten Regiebemerkungen und die Sprecherbezeichnungen meist fraglos dem Autor zugeordnet, der sich damit direkt an Regisseur und Schauspieler richte [. . .]. Zwar gibt es durchaus kritische Stimmen, die sich gegen eine einfache Gleichsetzung von Autoräußerungen und Regiebemerkungen wenden, diese blieben aber bisher ohne weitere Konsequenzen und haben kaum zur vertieften Erforschung des Textstatus geführt.« Detken: Im Nebenraum des Textes (2009), S. 16 ff. 468 Vgl. Muny: Erzählperspektive im Drama (2008), S. 60. 469 Hühn/Sommer: Narration in Poetry and Drama (2009), S. 229.

3.7 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz) |

161

des Dramas und deren Stellung im gattungstheoretischen Gefüge der Literaturwissenschaft. Die ›klassischen‹ Dramen-, Gattungs- und Erzähltheorien auf der einen Seite schließen eine erzählende Instanz, nicht nur aus Gründen des Kommunikationsmodells literarischer Werke und/oder der Frage ob ein Drama aufgeführt oder nur gelesen werden muss, aus. Sie tun dies auch aus dem pragmatischen Grund, um ihre jeweiligen Untersuchungsobjekte möglichst klar abtrennen zu können. Gleichzeitig bestand für die klassische Erzähltheorie offenbar kein Problem, Gemeinsamkeiten zwischen Dramen- und Erzähltexten auf der Ebene der histoire bzw. der Ebene des Repräsentierten anzunehmen.⁴⁷⁰ Auf der anderen Seite formiert sich eine neue, transmediale und transgenerische postklassische Narratologie, die es ihrerseits nicht als problematisch erachtet, ob das von ihr als narratives Medium zu untersuchende Artefakt eine Erzählinstanz besitzt oder nicht. Diese ›Indifferenz‹ entsteht nicht deswegen, weil sich die postklassische Narratologie mit einem bloßen Vergleich bzw. einer Analyse der Repräsentations-Ebenen begnügt. Sie entsteht vielmehr deshalb, weil mit der Narrativität eines Artefakts auch weitergehende Fragen der sinnstiftenden, repräsentierenden und allgemein kommunikativen wie kognitiven Funktionen und Voraussetzungen aus kultursoziologischer Sicht verbunden sind. So eröffnen sich Forschungsinteressen jenseits der Präsentationsebene, der Frage nach dem ontologischen Status eines Erzählers und damit zusammenhängenden theoretischen Überlegungen. Es fehlt damit auch den transgenerischen Ansätzen die Begründung dafür, warum das Modell übernommen bzw. verworfen wird. Als Leser des Dramas Wallensteins Tod von Friedrich Schiller (1800) etwa komme ich bei der Lektüre der Nebentextpassage »Max, der bisher in einem schmerzvollen Kampfe gestanden, geht schnell ab.«⁴⁷¹ nicht umhin anzunehmen, dass dieser von irgendjemanden ›geäußert‹ werden muss bzw. musste. Aus der Titelei des Textes könnte gefolgert werden, dass diese Aussage dem dort genannten Autor, in diesem Fall Schiller, zuzuordnen ist. Dem steht entgegen, dass aus literaturwissenschaftlicher Sicht das Aussagesubjekt und der Produzent eines literarischen Textes nicht in eins gesetzt werden sollten. Unter diesen Voraussetzungen ist die Aussageinstanz eines Erzähltextes nicht der Autor, er ist lediglich dessen Produzent. Auch die Intention dieser Aussageinstanz, darf nicht mit der des Autors verwechselt werden. Bei Erzähltexten ist in diesen Fällen das vermittelnde Kommunikationssystem vorgesehen, anhand dessen die durch den fiktionalen Aussageakt des Autors hervorgerufene, scheinbare Doppelung der Kommunikation erklärt wird. Für das Drama wird angenommen, dass eine den Text vermittelnde fiktive Instanz sowie ein zugehöriges vermittelndes Kommunikationssystem realiter und auf Modellebene nicht existieren. Dem Rezipienten bleibt unter diesen Prämissen nur, dem Autor Schiller den Nebentext als Aussage zuzuordnen.

470 Beispielsweis kommt es nach Genette für ein narratives Werk nicht auf das Repräsentierte, sondern auf den Modus der Repräsentation an, worauf ich oben bereits verwiesen habe. 471 Friedrich Schiller: Wallensteins Tod. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen (RUB 42), Stuttgart: Reclam, 1966, S. 31.

162 | 3 Drama und Narratologie Vergleicht man die Analyse des obigen Beispiels aus einem Drama mit einer Analyse zu einem analogen Beispiel aus einem Erzähltext – hier Thomas Manns Das Wunderkind –, fällt auf, dass hier anders argumentiert werden würde: »Das Wunderkind kommt hinter einem prachtvollen Wandschirm hervor [. . .]«⁴⁷² Hier scheint es innerhalb der Literaturwissenschaft keinerlei Diskussionsbedarf darüber zu geben, dass diese Aussage nicht Thomas Mann, sondern vielmehr einer, von diesem getrennt zu betrachtender, Erzählinstanz zugeordnet wird. Die analog gebildete Aussage ›Max geht schnell ab.‹ wirft plötzlich Schwierigkeiten auf. Es ist meines Erachtens nicht nachvollziehbar, worin genau der Unterschied liegt, wenn davon ausgegangen wird, dass beide Gattungen der Literatur zugeordnet werden, beide Aussagen als fiktional zu verstehen sind und beide auf fiktionale Weise nicht-wirkliche Sachverhalte beschreiben.⁴⁷³ So wie der ganze Erzähltext und damit alle Aussagen von einem Autor produziert wurden, so ist dies auch beim Dramentext der Fall. Die Aussagen verweisen aber gleichzeitig auf beides, werkextern auf den Autor als Urheber des Textes und werkintern auf eine Erzählinstanz als analytisch fassbare Aussageinstanz. Fiktionsintern spricht auf der äußersten diegetischen Ebene (Exegesis), erzähltheoretisch ausgedrückt, nicht mehr der Autor. Im Falle eines Erzähltextes ist dies offenbar mit der Zuordnung zu einer covert oder auch overt Instanz nicht weiter problematisch. Nach klassisch narratologischer Auffassung wird dem Drama allerdings ein Erzähler-Adressaten-Diskurs weder in seiner Form als Aufführungstext noch in seiner Form als Dramentext zugesprochen.⁴⁷⁴ Dahinter steht ein diskurs- bzw. kommunikationsorientiertes, enges Verständnis von Narrativität, als »eine erzählervermittelte Präsentation von Geschichten«.⁴⁷⁵ Ein Vorteil ist sicherlich, dass so gattungstheoretisch eine klare Abgrenzung der Gattung Drama zur Gattung der Erzähltexte geleistet werden kann; so scheint es zumindest. Denn wie im obigen Vergleich zwischen Wallensteins Tod und Das Wunderkind angedeutet ist, ist auf Textebene kein Unterschied festzustellen. Zusätzlich kann auch in Erzähltexten der als obligatorisch angenommene Erzähler besonders in einer heteround exegetischen Form mit Nullfokalisierung (auktorial) in einem Briefroman oder bei einer personalen Erzählsituation äußerst nebulös bleiben und letztlich nur implizit greifbar sein.⁴⁷⁶ Von der anderen Seite betrachtet, sieht zum Beispiel Pfisters Theorie

472 Thomas Mann: Das Wunderkind, in: Thomas Mann: Die Erzählungen, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1986, S. 390–400, hier S. 390. 473 Vgl. zu dieser Einschätzung, dass keine prinzipiellen Unterschiede zwischen dem Drama als Lesetext und dem Erzähltext in Bezug auf den Autor aber auch in Bezug auf den fiktionalen Status bestehen Zipfel (Hrsg.): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001), S. 307 f., 312 f. 474 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 1 f. 475 Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2002, S. 6. 476 Vgl. Kapitel 3.6 ab Seite 147 und vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 88.

3.7 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz) |

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der Episierung im Drama vor, dass das Drama in Ausnahmefällen einen Erzähler bzw. ein vermittelndes Kommunikationssystem (N2) besitzt. Der postklassisch transmediale Ansatz Werner Wolfs macht es möglich, den Dramentext als narratives Medium und narrativen Text zu begreifen. Bei einem solchen Verständnis der Narrativität, das von einer strukturalistischen Narratologie abgeleitet ist,⁴⁷⁷ wird zwar ein vermittelnder Erzähler nicht mehr als konstitutiv für die Wahrnehmung eines Textes oder Mediums als narrativ angenommen. Aber ausgehend von einer derartigen Minimaldefinition des Narrativen muss immer noch eine Sinnhaftigkeit von im Text ablaufenden Ereignissen und Zuständen gegeben sein, damit von einer Erzählung gesprochen werden kann. Deshalb muss auch bei der Vermittlung einer Geschichte über ein ›direktes‹, performatives Medium ein wenn auch asymmetrisch kommunizierender Produzent angenommen werden, der die repräsentierende Zeichenstruktur intentional gesetzt hat.⁴⁷⁸ Im Falle des Dramas hat dieser Produzent eine indirekte, fixierte Präsentation gewählt (Dramentext), um mithilfe dieser auf eine direkte Präsentation (Bühnendiegese) zu verweisen. Weiter oben wurde schon besprochen, dass die Aussagen eines literarisch-narrativen Textes immer auf zwei Weisen ausgelegt werden können. Sie können erstens als fiktionale Aussagen eines Autors gelesen werden. Sie können zweitens als Aussagen und Hinweise auf eine vom Autor zu unterscheidende erzählende Instanz verstanden werden.

3.7.2 Verschiedene Konzeptionen eines Erzählers im Drama Manfred Jahn verweist in diesem Zusammenhang auf eine in Erzähltexten anzutreffende und sich nur funktionell über die Struktur bzw. über die Auswahl und Anordnung des zu erzählenden Stoffes bemerkbar machende funktionelle Erzählinstanz. Diese sei auch bei Dramen immer vorhanden.⁴⁷⁹ Rainer Hannes bezeichnet in Bezug auf Hörspiele dieses Konzept eines immer auf einer äußersten Ebene stehenden erzählenden Instanz bzw. einer immer gegebenen erzählenden Funktion als eine mediale erzählende Instanz.⁴⁸⁰ Gerhard Tschauder schlägt für den Dramentext einen fiktiven Protokollanten vor.⁴⁸¹ Dieser wird von ihm als eine vom Autor zu unterscheidende und analog zum

477 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2008), S. 2. 478 Es geht im Speziellen nicht darum, was für eine Intention genau vorliegt, sondern dass eine Intention vorliegt. 479 Vgl. Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 670; vgl. auch Nünning/Sommer: Drama und Narratologie (2002), S. 118 f. 480 Vgl. seine Gegenüberstellung von Erzähler und medialer erzählender Instanz bei Hörspielen. Rainer Hannes: Erzählen und Erzähler im Hörspiel. Ein linguistischer Beschreibungsansatz, hrsg. v. Wolfgang Brandt/Rudolf Freudenberg (Marburger Studien zur Germanistik 15), Marburg: Hitzeroth, 1990, S. 59. 481 Vgl. Tschauder: Wer »erzählt« das Drama? (1991), S. 58.

164 | 3 Drama und Narratologie Konzept Erzähler der klassischen Narratologie gebildete Instanz angenommen. Roland Weidle spricht von einem superordinate narrative system.⁴⁸² Ich stelle diese Konzeptionen einer erzählenden Instanz des Dramas jeweils kurz vor.⁴⁸³ Gerhard Tschauder unterscheidet in seinem Artikel Wer »erzählt« das Drama?⁴⁸⁴ zwischen einer Innen- und einer Außenperspektive bezüglich der mithilfe des Dramentextes dargestellten Bühnendiegese.⁴⁸⁵ Tschauder trennt zwischen empirischem Autor, dessen Alter Ego und einem fiktiven Protokollanten.⁴⁸⁶ Der empirische Autor habe bezüglich des Dramentextes eine absolute Außenperspektive. Dessen Alter Ego oder besser der implizite Autor hat dagegen nur eine relative Außenperspektive. Den fiktiven Protokollanten verankert er im inneren Kommunikationssystem. Man habe sich vorzustellen, dass dieser von dort die Bühnenhandlung (Teil der Bühnendiegese) als Beobachter akribisch aufzeichnet.⁴⁸⁷ Sein Transkript ist dann Teil des Dramas. Tschauder trennt des Weiteren zwischen einem inner- und außerperspektivischen Protokollanten.⁴⁸⁸ Der innerperspektivische Protokollant zeichnet Ereignisse einer Welt auf, zu der er sich selbst homodiegetisch verhält. In der Terminologie dieser Studie beschreibt er die freie Diegese ohne Bühnenbezüge. Der außenperspektivische Protokollant ist sich der Fiktivität des von ihm protokollierten Geschehens bewusst. Er zeichnet nach der Terminologie dieser Arbeit die Bühnendiegese auf.⁴⁸⁹ In manchen Nebentextpassagen erkennt Tschauder einen Wechsel von der Innen- zur Außenperspektive und damit einen Wechsel der Protokollanten-Position in Bezug auf die Diegese. Er gibt dafür ein Beispiel aus Max Frischs Biedermann und die Brandstifter (1953/58): »Die Bühne ist finster, dann leuchtet ein Streichholz auf; man sieht das Gesicht von Herrn Biedermann«.⁴⁹⁰ Die Referenz auf die Bühne sei einem außenperspektivischen Protokollanten, der Bezug auf Biedermann als Figur der freien Diegese einem innerperspektivischen Protokollanten zuzuschreiben. Ansonsten müsste dort stehen: »man

482 Vgl. Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 225. 483 Für eine intensive Diskussion anhand verschiedener Ansätze zum Konzept einer erzählenden Instanz im Drama und der Rolle des Nebentextes vgl. Hauthal: Metadrama und Theatralität (2009), S. 110–128. 484 Tschauder: Wer »erzählt« das Drama? (1991). 485 Tschauder spricht nicht speziell von einer Bühnendiegese. Vgl. Tschauder: Wer »erzählt« das Drama? (1991), S. 50 f. 486 Vgl. Tschauder: Wer »erzählt« das Drama? (1991), S. 58. 487 Vgl. Tschauder: Wer »erzählt« das Drama? (1991), S. 59. 488 1978 argumentiert bereits Patrice Pavis in ähnlicher Weise und schlägt einen vom Autor zu unterscheidenden ›externen Beobachter‹ vor, der wie ein Erzähler berichtet, was passiert. Vgl. Patrice Pavis: Remarques sur le discours thêatrale, in: Dégres 13 (1978), S. 1–13, hier S. 2. 489 Vgl. Tschauder: Wer »erzählt« das Drama? (1991), S. 59. 490 Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter. Ein Lehrstück ohne Lehre, in: Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. 1957–1963, Bd. 4, hrsg. v. Hans Mayer, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, S. 325–389, hier S. 327.

3.7 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz) |

165

sieht das Gesicht des Schauspielers, der (einen) Herrn Biedermann verkörpert«.⁴⁹¹ Der Protokollant kann also entweder die Bühnenwelt (Bühnendiegese) und -handlung beschreiben oder sich direkt auf die über die Bühnenwelt und gleichzeitig über den Dramentext dargestellte freie Diegese des Dramas beziehen. Im einen Fall wird die Bühnenhandlung als real begriffen, im anderen Fall die Handlung der Diegese. Bei Akt- und Szenengliederungen sowie Genreangaben sieht Tschauder keine fiktive Instanz beteiligt. Er führt diese auf das äußere Kommunikationssystem zurück und erachtet den Autor als einzig möglichen Urheber.⁴⁹² Warum aber der fiktive Protokollant zwar Sprecherangaben akribisch protokolliert, aber nicht die Szenen und Aktangaben setzt, ist nicht nachvollziehbar. Wenn schon von einem Protokollanten ausgegangen wird, dann sollte dieser doch auch die Einteilungen des Stücks ebenso wie die Bühnenbeschreibungen mit aufzeichnen. Auch würde ich auf eine weitere Unterscheidung in einen außen- und einen innerperspektivischen Protokollanten verzichten. Es ließe sich vielmehr annehmen, dass ein solcher Protokollant sich entscheiden kann, ob er die Handlung einer Figur oder ein Geschehnis in Beziehung zur Bühnendiegese setzen oder ob er sich direkt auf die freie Diegese beziehen will. Ich möchte Tschauders Terminologie nicht folgen, allerdings sehe ich in seiner metaphorischen Umschreibung einer vom Autor zu unterscheidenden Instanz unterstützendes Potenzial für die Etablierung einer das Drama erzählenden Instanz. Tschauder unterscheidet jedenfalls in Abbildung auf die Terminologie dieser Arbeit – einen empirisch-realen Autor mit einer absoluten Außenperspektive zu Bühnendiegese und Diegese, – einen impliziten Autor (Alter Ego des Autors) mit einer relativen Außenperspektive zu Bühnendiegese und Diegese – und eine Instanz (Protokollant) auf fiktionsinterner exegetischer Ebene, die zu den diegetischen Ebenen entweder eine Außenperspektive oder eine Innenperspektive einnehmen kann. Eine ähnliche Position nimmt Manfred Jahn ein. Er schlägt vor,⁴⁹³ sich dem Drama als gedrucktem Text unter der Prämisse zu nähern, dass der Dramentext für eine potenzielle Aufführung geschrieben ist. Er setzt hinzu: »The playscript itself can no longer be treated as a past or future projection of a theatrical performance; rather, it must be accepted as a ›readable‹ medium sui generis.«⁴⁹⁴ Damit rückt er den Dramentext als literarisches Kunstwerk in den Vordergrund, ohne dessen gattungstypische Elemente aufzugeben (Aufführungskriterium). Er spricht im Falle des Dramentextes auch von einem »recognizable narrative mode called a playscript mode«:⁴⁹⁵

491 492 493 494 495

Tschauder: Wer »erzählt« das Drama? (1991), S. 65. Vgl. Tschauder: Wer »erzählt« das Drama? (1991), S. 59. Vgl. Kapitel 2.2 ab Seite 23. Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 674 f. Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 673.

166 | 3 Drama und Narratologie

While the term playscript, along with ready-made analogues such as filmscript, radioscript, and so forth, can be used to explicitly seperate the performance genres from their printed (readable) versions, the term playscript mode usefully identifies a more general style that one also encounters in, for example, transcripts of interviews, panel discussions, meetings, and trials.⁴⁹⁶

Dieser playscript mode kann in Erzähltexten oder generell in jedweder literarischen Gattung eingesetzt sein. Als ein Beispiel mag hier das Gedicht Auff Abscheiden zweyer Vertrauten von Paul Fleming aus dem Jahr 1636 dienen. Hier wird innerhalb eines Textes der Lyrik mit Sprecherangaben gearbeitet. Es finden sich abgesehen von dieser typographischen Okkurenz keine Verweise auf die Gattung Drama oder das Medium Theater: [. . .] Sie.

Ach Thyrsi/ nun so sey gegrüßt von deiner Amaryllen. Er. Und Amarylli/ du geküßt/ von Thyrsi/ deinem Willen. Das wiederkommen machet/ daß man deß scheidens lachet. Sie. Auff tausent tausent Leyden kömmt tausent tausent Freuden. Gott schütz dich in Gefahren. Er. Der woll auch dich bewahren. [. . .]⁴⁹⁷

Der playscript mode Jahns ist vergleichbar mit dem dramatischen Modus, den Korthals als ›Montage‹ der Rede eines Geschehensvermittlers mit der Rede der Geschehensteilnehmer vorschlägt⁴⁹⁸ und der weiterhin als ein mögliches Differenzkriterium zwischen Texten der Gattung Dramatik und der Gattung Epik bestehen bleibt. Jahn beschreibt den playscript mode auch als »the formal combination of stage directions, speech prefixes, and speeches«.⁴⁹⁹ Dies wurde oben als die gestalterische Verbindung von Haupttext und Nebentext als konstitutives Element eines Textes der Gattung Drama eingeführt (typographisches Kriterium).⁵⁰⁰ Jahn bezieht sich auf Überlegungen Chatmans zum covert narrator und nonnarrator⁵⁰¹ sowie auf Richard Aczels Beobachtung⁵⁰² einer jedem narrativen Text eingeschriebenen Erzählfunktion, die unter dem umbrella term ›Erzähler‹ gefasst wird.

496 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 673 f. 497 Paul Fleming: Deutsche Gedichte (RUB 2455), Stuttgart: Reclam, 2008, S. 69. 498 Vgl. Kapitel 2.3.3 ab Seite 35. 499 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 673. 500 Vgl. dazu die Explikation der Gattung Drama in Kapitel 2.3 ab Seite 35. 501 Vgl. Kapitel 3.6.2 ab Seite 139 502 Dies habe ich oben an der Diskussion von Lahn/Meisters und Schmids Überlegungen zu zeigen versucht. Vgl. Kapitel 3.6 ab Seite 147.

3.7 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz) |

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Darauf und auf Überlegungen der kognitiven Narratologie aufbauend schlägt Jahn einen »dramatic narrator«⁵⁰³ vor. Dieser sei ein »superordinate narrative agent«,⁵⁰⁴ also eine Erzählinstanz ersten und äußersten Grades: [A]ll narrative genres are structurally mediated by a first-degree narrative agency which, in a performance, may either take the totally unmetaphorical shape of a vocally and bodily present narrator figure (a scenario that is unavailable in written epic narrative), or be a disembodied »voice« in a printed text, or remain an anonymous and impersonal narrative function in charge of selection, arrangement, and focalization.⁵⁰⁵

Eine jede narrative Gattung bzw. jeder Text, der als narrativ rezipiert wird⁵⁰⁶ hat nach Jahn entweder 1. einen tatsächlich präsenten sicht- und/oder fassbaren Erzähler (beispielsweise möglich im Aufführungstext), 2. eine körperlose Stimme in einem gedruckten Text (zum Beispiel möglich im Erzähltext oder im Dramentext), 3. eine unpersönliche narrative Funktion, eine Erzählfunktion die verantwortlich ist für Selektion, Arrangierung und Fokalisation. Jahn macht diese Überlegungen an einem Beispiel fest: der Prologfigur Gower in William Shakespeares Pericles (um 1607). Gower ist in diesem Fall als ein »first-degree narrator«⁵⁰⁷ des Stücks zu begreifen. Wird das Stück aufgeführt, ist Gower der Erzähler des gesamten Stücks (1.). Allerdings ist er selbst wiederum eine durch einen »superordinate narrative agent«⁵⁰⁸ eingesetzte Erzählinstanz. Diese ist im Falle des nicht aufgeführten Dramas verantwortlich für die Nebentexte bzw. ist sie nach meinen bisherigen Ausführungen im aufgeführten sowie im gedruckten Drama zuständig für Arrangierung, Selektion, Qualifizierung und Stilisierung (2. und 3.). Jahn gibt in diesem Zusammenhang zu verstehen, dass für ein Modell der erzählenden Instanz bestimmte Phänomene erfassbar sein müssen: [O]ur model must provide a systemic slot not only for Gower as the first-degree narrator of the play’s story, but for the quotationally superordinate narrative agent of the stage directions who shadows Gower’s first-degree narrative with a first-degree narrative of his/her/its own.⁵⁰⁹

503 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 676. 504 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 672. 505 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 674. 506 Vgl. »the reader treats the text [Dramentext, A.W.] as if it were narrative fiction.« Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory (1991), S. 87. 507 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 672. 508 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 672. 509 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 672.

168 | 3 Drama und Narratologie Da Jahn hier die Bühnenanweisungen hinzunimmt, ist davon auszugehen, dass er im Falle des Dramas von einer rahmenden Erzählfunktion ausgeht, die eine Prologfigur wie etwa Gower einsetzt. Im Falle einer Aufführung des Dramas ist Gower der Erzähler oder zumindest ein Erzähler der Aufführung. Bei einem aufgeführten Drama gesteht Jahn offenbar die Möglichkeit zu, dass die rahmende Erzählfunktion verschwindet. In diesem Fall übernimmt die Zeichenstruktur Kraft ihrer Gestaltung als Erzählmedium narrative Funktion. Dieser Vorschlag Jahns wird von Werner Wolf wieder aufgenommen.⁵¹⁰ In Der Prolog als traditionelle Form dramatischer Anfangsrahmung behandelt Wolf die Differenzierung von Prolog, Nebentext und Haupttext. In diesem Zusammenhang stellt er Überlegungen zu einer Erzählinstanz des Dramas an: Um die theoretischen Komplikationen einer Hierarchie unterschiedlicher Erzähler zumindest weitgehend zu vermeiden, würde ich hier jedoch – in Anlehnung an Chatmans Unterscheidung von ›overt‹ und ›covert narrators‹ sowie an eine Andeutung von Jahn selbst – von zwei Manifestationen ein und derselben dramatischen Erzähl- bzw. Vermittlungsinstanz sprechen: im Fall des Nebentextes (zumal unter dem Aspekt des aufgeführten Dramas, in dem der Nebentext unhörbar ist) von einer ›verdeckten‹ Erzählermanifestation, und im Fall des (hörbaren) Außenprologs (wie auch eines Epilogs und einer Chor- oder presenter-Figur) von einer ›offensichtlichen‹ Erzählermanifestation. Aus erzähltheoretischer Sicht kann somit zugleich der Funktionsanalogie des Prologs zum Diskurs einer (›offenen‹) Erzählinstanz wie auch der Unterscheidung des Prologs vom Nebentext Rechnung getragen werden.⁵¹¹

Wolf schlägt vor, anstatt von einem first-degree narrator (Gower) und einem superordinate narrative agent zu sprechen, dies als verschiedene Ausformungen einer einzigen Erzählinstanz zu begreifen. Sie ist eine Art ›Gestaltwandler‹, der mit seiner Stellung zur erzählten und darstellenden Welt zusätzlich seine Perspektive auf die Welt der Bühnendiegese und die der Diegese wechselt. Wolfs Erzählinstanz des Dramas manifestiert sich im Fall Gowers in einer Figur des Textes bzw. der Aufführung und stellt einen overt narrator dar. Im übrigen Text ›manifestiert‹ sie sich als covert bzw. als bloße erzählende Funktion der Zeichenstruktur. Dies würde bedeuten, dass Gower im Falle des Dramas ebenfalls für die, seinen eigenen Prolog rahmenden und folgenden, Nebentexte verantwortlich ist und im Falle der Aufführung dieselbe ›kontrolliert‹. Damit mögen zwar Erzählerhierarchien vermieden werden, die Lösung erscheint aber wenig befriedigend. Die Bildung einer Erzählerhierachie könnte gelingen, wenn tatsächlich eine und nur eine Außenebene gebildet wird und alle weiteren erzählenden Figuren eines Dramas immer von einer übergeordneten Instanz eingesetzte, von ihr jedoch unterschiedene, Erzählinstanzen (Prologfiguren, Regiefiguren, Boten) sind. 2009 konstatiert Roland Weidle, dass man sich bis jetzt in narratologischer Perspektive auf das Drama nur mit Erzählinstanzen auf diegetischer bzw. intradiegetischer

510 Vgl. Wolf: Der Prolog als traditionelle Form dramatischer Anfangsrahmung (2006), S. 88 f. 511 Wolf: Der Prolog als traditionelle Form dramatischer Anfangsrahmung (2006), S. 88.

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Ebene des Dramas auseinandergesetzt hat (Regiefiguren, Erzählerfiguren, Boten etc.), während sich nur wenige Wissenschaftler um die Modellierung einer exegetischen bzw. nicht-diegetischen Erzählinstanz bemühen.⁵¹² In the following however, I would like to persue a somewhat different line of inquiry which so far has only attracted the interest of a limited number of critics. These scholars promote the investigation of »extradiegetic« narration of drama (as opposed to the focus on intradiegetic narration in drama).⁵¹³

Weidle verweist hier vor allem auf Richardson, Jahn, Aczel und Korthals, die den Fokus auf eine ›extradiegetische Narration‹ im Drama gelegt haben.⁵¹⁴ In leichter Abwandlung zu Jahns Modell arbeitet er mit einem ›übergeordneten erzählenden System‹ (superordinate narrative system) anstatt mit dem Konzept einer ›übergeordneten erzählenden Instanz‹ (superordinate narrative agent).⁵¹⁵ Es wird bei Weidle nicht ganz klar, inwiefern er eine Modifikation an Jahns Modell vornimmt, da er erstens dessen eigene Worte verwendet und Jahn diese nicht als Modifikation, sondern bereits als dritte Möglichkeit einer Erzählinstanz des Dramas beschreibt (vgl. oben ab Seite 166).⁵¹⁶ Er will sich jedenfalls vordringlich mit dem Dramentext auseinandersetzen, ohne einen zu engen Fokus auf den Aufführungstext (playtext) zu legen.⁵¹⁷ Er folgt Jahns Herangehensweise des reading dramas bzw. des playscript modes und kritisiert in diesem Zusammenhang Korthals’ Absetzungsbemühungen gegenüber einer Fokussierung auf die Plurimedialität und irreversible linearity des aufgeführten Dramas, wie sie sich stellvertretend für die klassische Dramen-, Gattungs- und Erzähltheorie beispielsweise bei Pfister findet.⁵¹⁸ Korthals vernachlässige zugunsten einer genaueren Betrachtung des Dramas unter literaturwissenschaftlichen Ansätzen und Bedingungen sowie der besseren Vergleichbarkeit des Spieltextes mit anderen geschehensdarstellenden Textgattungen seinerseits wiederum die Aufführbarkeit des

512 »Epic elements in drama and theater have been the subject of wide interest in the last decades and especially in the last few years. Particular attention has been paid to so-called narrator figures who present the audience with embedded narratives. These teller-figures have been compared to intra-, meta-, homo-, hetero or even ›privileged intradiegetic‹ (Korthals 2003: 310) narrators in narrative fiction. Approaches like these have opened up a new branch of academic interest ›toward a narratology of drama‹ (Sommer 2005: 123).« Vgl. Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 221. 513 Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 221. 514 Vgl. Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 221. 515 »I would therefore like to postulate—in slight modification of Jahn’s concept of a ›superordinate narrative agent‹ (Jahn 2001: 672)—the existence and working of a ›superordinate narrative system‹ in drama with ›an anonymous and impersonal narrative function controlling the selection, arrangement, and focalization‹ (674) of the story-data.« Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 225. 516 Jahn hat zusätzlich diese Möglichkeit meines Erachtens weder verworfen noch ausgeschlossen. 517 Vgl. Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 225. 518 Vgl. Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 225.

170 | 3 Drama und Narratologie Dramas.⁵¹⁹ »As practical as such a comparison of dramatic and narrative texts may be, it neglects the essential and defining feature of drama: namely, that it is written to be performed.«⁵²⁰ Weidle stützt sich auf Jahn⁵²¹ wenn er feststellt: [T]he playtext [Spieltext A.W.] has to be understood as the playwright’s instruction of how to present or envision things on the stage. The written text, be it secondary or primary text [Nebenoder Haupttext, A.W.], does not only narrate (as Holger Korthals argues) but it also has a clear referential and sometimes even imperative function in providing the recipient of the dramatic text (reader or production collective) with the minimum information necessary to visualize or to enact the textual data.⁵²²

Weidle schlägt in Bezug auf eine erzählende ›Stimme‹ des Dramas ein superordinate narrative system vor. Damit zusammenhängend weist er darauf hin, dass auf diese Weise auch beim Drama mehr die Art und Weise des Erzählens in den Vordergrund gerückt werden kann, als die Frage, wer denn nun genau das Drama erzählt: As for the extradiegetic narrative voice of drama, the superordinate narrative system, I hope to have shown that a transgeneric and transmedial application of a broader conception of narration lays open the narrative planes and channels of drama and directs more attention to the how of dramatic mediation than to the question, who narrates drama.⁵²³

Spätestens seit Tschauder gibt es also Konzeptionen, für das Drama gerade auch in seiner Form als literarischen Text eine immer präsente Instanz anzunehmen, die analog zur Erzählinstanz in Erzähltexten ist.⁵²⁴

3.7.3 Die dramatische Instanz Ich möchte die Überlegungen des superordinate narrative systems bzw. die des superordinate narrative agents aufnehmen und in das bisherige Modell einbinden. Oben wurde beschrieben, wie die Aussagen eines fiktional-narrativen Textes gleichzeitig als fiktionale Aussagen eines Autors und als Aussagen einer Erzählinstanz begriffen

519 Beim von mir auch eingesetzten Begriff des ›Aufführungskriteriums‹ beziehe ich mich auf Korthals. Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung (2003), S. 58 ff., 446; vgl. Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 225 f. 520 Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 225. 521 Vgl. Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 663–669. 522 Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 227. 523 Vgl. auch Kapitel 3.6.3 ab Seite 152 Weidle: Organizing the Perspectives (2009), S. 240. 524 Vgl. dazu auch einen neueren Ansatz von Patrick Colm Hogan. Patrick Colm Hogan: Emplotting a Storyworld in Drama. Selection, Time, and Construal in the Discourse of Hamlet, in: Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology, hrsg. v. Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon (Frontiers of Narrative), Lincoln und London: University of Nebraska Press, 2014, S. 50–66.

3.7 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz) | 171

werden können. Ein narrativer Text hat dann immer eine Erzählinstanz als analytischen Punkt des Modells der Narration sowie des Kommunikationsmodells narrativer Texte. Es wird zusätzlich davon ausgegangen, dass eine den Spieltext vermittelnde Instanz sich immer exegetisch und damit heterodeiktisch zur repräsentierten Diegese und Bühnendiegese verhält. Diese das Drama erzählende Instanz entwickelt mittels des Dramentextes gleichzeitig eine Theaterfiktion sowie die Fiktion einer davon zu unterscheidenden, jedoch gleichzeitig durch sie gestalteten Diegese. Ich nehme für das Drama eine ständig präsente, wenn auch nicht ständig wahrnehmbare Instanz an, der die erzählenden Funktionen des Dramentextes zugeschrieben werden können und die auf die Schmidsche Ebene der Exegesis abgebildet wird. Diese Exegesis verhält sich sowohl zur Bühnendiegese als auch zur Diegese extradiegetisch. Die erzählenden Funktionen erzeugen im Falle des Dramas gleichzeitig zwei Diegesen: eine Bühnendiegese und eine freie Diegese. Die Bühnendiegese zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen fiktiven Theaterraum darstellt – mit fiktiver Bühne, fiktiven Schauspielern und fiktivem Publikum. Durch die Bühnendiegese und gleichzeitig im Verhältnis zu ihr wird die freie Diegese gebildet. In der Bühnendiegese gibt es, von der Position des Autors oder Lesers aus gesehen, fiktive Requisiten und fiktive Schauspieler. Innerhalb der freien Diegese werden sie zu ›realen‹ Entitäten derselben. Die fiktive Schauspielerin der Emilia Galotti auf bühnendiegetischer Ebene wird und ist gleichzeitig Emilia Galotti auf diegetischer Ebene. Die Requisite des Dolchs der Bühnendiegese wird zu einem tödlichen Dolch auf diegetischer Ebene (vgl. Abbildung 3.9 auf Seite 171). In Johann Jakob Bodmers Metadrama Odoardo Galotti, Vater der Emilia (1778) tritt am Ende des Stücks die Figur Schauspielerin der Emilia auf die Bühne. In diesem Fall spielt eine fiktive Schauspielerin in der Bühnendiegese, eine für sie wiederum fiktive Schauspielerin (freie Diegese erster Ordnung), die die Emilia (freie Diegese zweiter Ordnung) gespielt hat. Im Falle von Shakespears Gower-Figur haben wir einen fiktiven Schauspieler, der Gower spielt und der sich selbst nochmals in einem weiter geschachtelten diegetischem Raum verkörpert. werkextern Autor Exegesis

werkintern

Erzählinstanz Bühnendiegese

freie Diegese

Dolchrequisite

tödlicher Dolch

Schauspielerin der Emilia

Emilia

Abb. 3.9: Bühnendiegese und freie Diegese

172 | 3 Drama und Narratologie Wegen der besonderen medialen Eigenschaften des Dramas und in Analogie zu den Konzepten lyrisches Ich und narrative Instanz⁵²⁵ sowie Jahns Vorschlag eines »dramatic narrator[s]«⁵²⁶ bezeichne ich diese äußerste Instanz des Dramas als dramatische Erzählinstanz oder kurz als dramatische Instanz. Sie ist die erzählende bzw. vermittelnde Instanz des Dramas (vgl. Abbildung 3.10 auf Seite 172). Damit wird das wichtigste Differenzierungskriterium⁵²⁷ zwischen narrativen und dramatischen Texten negiert.⁵²⁸ Der Dramentext wird als primäre Diskursebene dieser Instanz betrachtet, über den sie sich an einen lesenden Rezipienten richtet. Diese Instanz kann, muss aber keine Sinnzusammenhänge der Bühnendiegese oder der Diegese erläutern. Sie muss auch nicht direkt aus dem Text ableitbar sein, sondern ich begreife sie als eine verdeckt (covert) erzählende Instanz. Sie ist in diesem Sinne vielmehr ein Garant für den Leser im Sinne des Narrativen als kognitivem Schema, auf Grund dessen es ihm möglich ist, das über den Spieltext vermittelte Geschehen in Bezug auf eine Bühnenfiktion als eine Erzählung und den Text insgesamt als einen narrativen Text zu begreifen. Noch allgemeiner ausgedrückt ist die dramatische Instanz – wie der Erzähler, die Erzählinstanz – als eine Beschreibungskategorie des narratologischen Modells zu verstehen, mit deren Hilfe Phänomene einer bestimmten Komplexität so betrachtet werden, als ob sie ein Erzähler seien bzw. auf einen solchen rückführbar seien. Sie ist auf Modellebene ein pragmatisches Konzept, an dem die in der Zeichenstruktur angelegten oder vom Rezipienten ergänzten Erzählfunktionen fest gemacht werden können.⁵²⁹ Das bedeutet nicht, dass die dramatische Instanz ausschließlich erzählende Funktionen übernehmen muss. Autor

werkextern

dramatische Erzählinstanz

Exegesis werkintern

Bühnendiegese (freie) Diegese

Abb. 3.10: Autor, dramatische Erzählinstanz (dI), Exegesis, Bühnendiegese und (freie) Diegese

525 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 88. 526 Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 676. 527 »In der Tat gilt in der Erzähl- wie in der Dramentheorie die Mittelbarkeit des Erzählens, d. h. die Anwesenheit einer vermittelnden Erzählinstanz, als konstitutives Merkmal narrativer Texte, das diese von nicht-narrativer Literatur, also z. B. dem Drama und der Lyrik, grundlegend unterscheidet.« (Nünning/Sommer: Drama und Narratologie [2002], S. 105) 528 Vgl. Nünning/Sommer: Drama und Narratologie (2002), S. 109. 529 So betrachtet hat kein Text einen Erzähler in einem naiven Sinne, sondern nur unter narratologischen Gesichtspunkten in einem theoretischen oder modellhaften Sinne.

3.7 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz) | 173

Der Spieltext mit all seinen Ausdrucksmöglichkeiten und -ebenen ist ›Aussage‹ der dramatischen Instanz. Dieses Modell einer literaturwissenschaftlichen Narratologie des Dramas baut darauf auf, dass das Drama als ein literarischer Text begriffen wird, der in erster Linie für eine lesende Rezeption gestaltet ist. Diese Ebene des Erzählens auf der die dramatische Instanz verortet wird, ist immer als nicht-diegetisch bzw. exegetisch zu den diegetischen Systemen Bühnendiegese und Diegese anzunehmen. Zu diesen verhält sich die Instanz heterodiegetisch. Sie erfüllt alle Kriterien eines auktorialen Erzählers (extra- und heterodiegetisch mit Nullfokalisation).⁵³⁰ Ihr stehen mindestens zwei Ausdrucksebenen offen: eine funktionale Ebene und eine verbale Ebene. Zur verbalen Ebene gehört mindestens der Spieltext, den sie mit Stilisierungen ausgestaltet. Auf der funktionalen Ebene bestimmt die Instanz zum einen die Auswahl des Stoffes der zugrundeliegenden Geschichte, zum anderen strukturiert und ordnet sie diesen Stoff, beispielsweise durch Akt- und Szeneneinteilungen, aber auch durch die Bestimmung der raum-zeitlichen Deixis. Zusätzlich setzt sie weitere Instanzen, in der Hauptsache Schauspieler der Bühnendiegese und Figuren der freien Diegese, ein. Diesen Schauspielern und Figuren kann sie Funktionen und Aufgaben übertragen, die einer geschachtelten Erzählerfigur nahekommen, wie das etwa bei Regiefiguren oder Boten der Fall sein kann. Sie bevölkert und bestückt die erzählte Welt und qualifiziert Personal und Objekte (vgl. die Ausführungen zu impliziten und expliziten Erzählfunktionen in Kapitel 3.6 ab Seite 147). Diese internen dramatischen Erzählinstanzen in den diegetischen Systemen der Bühnendiegese oder der Diegese betreiben außer in Monologen oder in besonderen Situationen, in denen sie alleine agieren, ›multiperspektivisches‹ Erzählen.⁵³¹ Sie erschaffen gemeinsam die freie Diegese und sind Teil derselben. Natürlich sind ihre Aussagen und Handlungen auf die dramatische Instanz zurückzuführen. Wird von dieser auf die internen Instanzen mit ihrem Figurennamen referiert, ist davon auszugehen, dass auf ihre Funktion in der freien Diegese verwiesen ist. Bezieht sich die dramatische Instanz in ihrer Funktion als Schauspieler auf sie, werden sie als extradiegetische Instanzen relativ zur freien Diegese betrachtet.

3.7.4 Dramatische Instanzen anhand von drei Beispielen An drei kurzen Beispielen verdeutliche ich die obigen Überlegungen. Das erste Beispiel stammt aus Hugo von Hofmannsthals Der Kaiser und die Hexe (1897):

530 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 67, 93. 531 Zymner bezeichnet so versuchsweise Erzählweisen, in denen mehr als ein Erzähler zur Konstituierung einer Diegese beiträgt. Motivation dafür ist die Beschäftigung mit sogenannten Rollenspielen. Vgl. Rüdiger Zymner: Phantastische Sozialisation, in: Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film, hrsg. v. Christine Ivanović/Jürgen Lehmann/Markus May, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2003, S. 299–314, hier S. 306.

174 | 3 Drama und Narratologie

Eine Lichtung inmitten der Kaiserlichen Jagdwälder. Links eine Quelle. Rechts dichter Wald, ein Abhang, eine Höhle, deren Eingang Schlingpflanzen verhängen. Im Hintergrund das goldene Gitter des Fasanengeheges, dahinter ein Durchschlag, der hügelan führt. der kaiser (tritt auf, einen grünen, goldgestickten Mantel um, den Jagdspieß in der Hand, den goldenen Reif im Haar). Wohl, ich jage! ja, ich jage! Dort der Eber, aufgewühlt Schaukelt noch das Unterholz, Hier der Speer! und hier der Jäger! (Er schaudert, läßt den Speer fallen.) [. . .]⁵³²

Die dramatische Instanz beschreibt hier mithilfe des kursiv gesetzten Nebentextes das Bühnenbild und gleichzeitig die Welt der freien Diegese. Sie bezieht sich mit der Sprecherzuweisung der kaiser auf eine Figur der Ebene der freien Diegese. Im darauf folgenden, in Klammern gesetzten Nebentext beschreibt sie das Aussehen der Figur genauer. Sie bezieht sich gleichzeitig speziell auf die Bühnendiegese und beschreibt mit ›tritt auf ‹ die Proxemik des fiktiven Schauspielers der die Figur Der Kaiser spielt. Das zweite Beispiel stammt aus Hofmannsthals Fragment Der Tod des Tizian (1892):⁵³³ prolog. (Der Prolog, ein Page, tritt zwischen dem Vorhang hervor, grüßt artig, setzt sich auf die Rampe und läßt die Beine – er trägt rosa Seidenstrümpfe und mattgelbe Schuhe – ins Orchester hängen.) Das Stück, ihr klugen Herrn und hübschen Damen, Das sie heut abend vor euch spielen wollen, Hab ich gelesen. Mein Freund, der Dichter, hat mir’s selbst gegeben. Ich stieg einmal die große Treppe nieder In unserm Schloß, da hängen alte Bilder Mit schönen Wappen, klingende Devisen, Bei denen mir so viel Gedanken kommen Und eine Trunkenheit von fremden Dingen, Daß mir zuweilen ist, als müßt ich weinen . . . ⁵³⁴

Anhand des Nebentextes wird dem Leser die Bühnensituation dieser Zeilen bewusst gemacht: ›Vorhang‹, ›Rampe‹, ›Orchester‹. Es wird eine Bühnendiegese gebildet. Der Leser kann sich eine fiktive Aufführung und damit einen fiktiven Theaterraum vorstellen. Neben Vorhang, Rampe usw. befindet sich ein fiktiver Schauspieler auf der Bühne. Mindestens mit rosa Seidenstrümpfen und mattgelben Schuhen bekleidet (mehr wird

532 Hugo von Hofmannsthal: Der Kaiser und die Hexe, in: Hugo von Hofmannsthal: Lyrische Dramen, hrsg. v. Andreas Thomasberger (RUB 18038), Stuttgart: Reclam, 2000, S. 153–186, hier S. 155. 533 Vgl. Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 670 f. 534 Hofmannsthal: Der Tod des Tizian (2000), S. 43.

3.7 Erzählinstanz und Dramentext (dramatische Erzählinstanz) | 175

über seine Kleidung nicht ausgesagt) verkörpert er den Prolog. Gleichzeitig wird die freie Diegese gebildet, in der eine Figur Prolog in einem Theater auftritt. Der Page, namenlos und hier in seiner Funktion als Prolog bezeichnet, stellt sich als außerhalb einer weiter geschachtelten erzählten Welt des Stücks vor. Er hat es als Text vom Dichter bekommen und sogar selbst gelesen. Es lässt sich hier und in Bezug auf die noch folgende geschachtelte Diegese des Stücks als eine extradiegetische Figur begreifen. Im zweiten Absatz ihrer Rede setzt die Figur, selbst nach klassischem Verständnis, zu erzählen an: Sie rekapituliert eine Szene aus ihrer nahen Vergangenheit. Über diese Prologpassage⁵³⁵ wird, wie schon beim Beispiel Catharina von Georgien angemerkt wurde, eine noch folgende ›Binnenhandlung‹ gerahmt.⁵³⁶ Da die Prologfigur zu Beginn jemanden grüßt und sich mit ihren Beinen im Orchester an die Rampe setzt, ist anzunehmen, dass ihre Aussagen an ein Publikum gerichtet sind. Es lässt sich weiter postulieren, dass sie nicht nur in die Richtung des Publikums, sondern mit dem Publikum spricht. Nach dem Kommunikationsmodell wird hier ein vermittelndes Kommunikationssystem bzw. eine Erzählerkommunikation gebildet. Dabei kann auch von einer bereits über die Bühnendiegese dargestellten Diegese ausgegangen werden, die wie diese abermals einen Bühnenraum enthält. Die Hier-Jetzt Deixis des Prologs ist dieselbe wie auch die des von ihm adressierten Publikums.⁵³⁷ So gibt es der Prolog zumindest vor. Die Prologfigur ist damit die äußerste potenzielle Erzählinstanz auf diegetischer Ebene, die von der dramatischen Erzählinstanz eingesetzt ist. Als ein letztes Beispiel betrachte ich die Eingangsszene aus Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan (1943): Vorspiel Eine Straße in der Hauptstadt von Sezuan Es ist Abend. Wang, der Wasserverkäufer, stellt sich dem Publikum vor. Wang Ich bin Wasserverkäufer hier in der Hauptstadt von Sezuan. Mein Geschäft ist mühselig. Wenn es wenig Wasser gibt, muß ich weit danach laufen. Und gibt es viel, bin ich ohne Verdienst. Aber in unserer Provinz herrscht überhaupt große Armut. Es heißt allgemein, daß uns nur noch die Götter helfen können. Zu meiner unaussprechlichen Freude erfahre ich von einem Vieheinkäufer, der viel herumkommt, daß einige der höchsten Götter schon unterwegs sind und auch hier in Sezuan erwartet werden dürfen.⁵³⁸

535 Vgl. zu einer Typologie von Prologen auch den oben bereits erwähnten Beitrag Wolf: Der Prolog als traditionelle Form dramatischer Anfangsrahmung (2006). 536 Richardson spricht im Falle von Prologfiguren auch von frame narrators. Vgl. Richardson: Point of View in Drama (1988), S. 211. 537 Später im Dramentext erscheint die Figur noch einmal als Page und damit als diegetische bzw. intradiegetische Figur. Vgl. Hofmannsthal: Der Tod des Tizian (2000), S. 46. 538 Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan. Parabelstück (edition suhrkamp 73), Berlin: Suhrkamp, 1998, S. 7.

176 | 3 Drama und Narratologie Hier übernimmt die Figur Wang eine erzählende Funktion. Sie beschreibt die diegetische Situation und etabliert damit die Diegese. Ihre Aussagen sind aber an niemanden innerhalb der Diegese gerichtet, sondern, so wird es im Nebentext von der dramatischen Instanz deutlich gemacht, an das Publikum. Nach dem Kommunikationsmodell fiktional-narrativer Artefakte wird hier ein vermittelndes Kommunikationssystem bzw. eine Erzählerkommunikation zwischen einem diegetischen Erzähler und einem diesen beobachtenden nicht-diegetischen Rezipienten-Kollektiv etabliert. Die Hier-Jetzt-Deixis Wangs ist damit eine andere als die der von ihm adressierten Zuschauer. Es liegt an dieser Stelle eine Metalepse bzw. spezieller eine Durchbrechung der vierten Wand zwischen Publikum und der erzählten Welt auf der Bühne vor. Wang ist also bezogen auf die fiktive Aufführung die äußerste Erzählinstanz auf diegetischer Ebene. Die Erzählerfigur Wang ist letztendlich von der dramatischen Instanz eingesetzt.

3.8 Funktionen von Haupt-, Neben- und Paratext Unter diesen Voraussetzungen des Dramas als narratives Medium mit verankerter exegetischer Erzählinstanz werfe ich jetzt einen Blick auf die verschiedenen Textsegmente eines gedruckten Dramas. Es geht an dieser Stelle um Einteilungsmöglichkeiten von Para-, Haupt- und Nebentext⁵³⁹ und um die Funktionen, die diese Textsegmente vor allem in Bezug auf das erzählende Potential eines Dramas übernehmen können.⁵⁴⁰ Ausgangspunkt für die folgenden Differenzierungen bilden dabei Jörg Krämers Überlegungen zu Dramen- und Librettodrucken der Frühen Neuzeit. Dabei stellt er fest: Bei einem zur dramatischen Aufführung bestimmten Text handelt es sich in Wirklichkeit nicht um einen Text, sondern um ein ganzes Geflecht von Texten und Paratexten unterschiedlicher Art. Diese bilden einen intern sehr flexiblen Verbund, der historisch jeweils charakteristische

539 Anke Detken beschäftigt sich in ihrer Monographie Im Nebenraum des Textes speziell mit Regiebemerkungen, die für sie offenbar eine Unterkategorie des Nebentextes bilden, gleichwohl sie bemerkt, dass Regiebemerkung und Nebentext in der Forschung synonym gebraucht sein kann. Sie schreibt dem Begriff ›Regiebemerkung‹ ein »erhebliches begriffliches Potential« zu, insofern als »der Begriff Regiebemerkung disparate, jedoch demselben funktionalen Zusammenhang zuzuordnende Phänomene zu bezeichnen« vermag. Vgl. Detken: Im Nebenraum des Textes (2009), S. 9; vgl. auch Detken: Art. ›Nebentext‹ (2007); Andrea Heinz: Art. ›Bühnenanweisung‹, in: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, hrsg. v. Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff, 3. völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2007, S. 108; Marx: Regieanweisung/Szenenanweisung (2012). 540 Vgl. Patricia A. Suchy: When Worlds Collide. The Stage Direction as Utterance, in: Journal of Dramatic Theory and Criticism 6.1 (1991), S. 69–82; Marvin Carlson: The status of stage directions, in: Studies in the Literary Imagination 24 (1991), S. 37–48; Ottmers: Drama (1997); Linda McJannet: The Voice of Elizabethan Stage Directions. The Evolution of a Theatrical Code, Newark: University of Delaware Press, 1999; Detken: Im Nebenraum des Textes (2009).

3.8 Funktionen von Haupt-, Neben- und Paratext | 177

Konventionen gerade auch paratextueller Art ausprägt, wobei manche Teile dieses Verbundes zudem zwischen textuellen und paratextuellen Funktionen wechseln können.⁵⁴¹

Von der Aufführung ausgehend sieht Krämer den gedruckten Text, also den Dramentext, als einen ›Paratext zur Aufführung‹ an, genauer: als einen Paratext erster Ordnung. Der Dramentext kann seinerseits Paratexte bezogen auf den Spieltext aufweisen, die von Krämer als Paratexte zweiter Ordnung bezeichnet werden. In Bezug auf das Libretto beschreibt er diese wie folgt: »[S]o könnte man dem ›Text‹ einer Aufführung zwei Stufen von Paratexten zuordnen: zunächst das gedruckte Libretto und (sofern vorhanden) den Partiturdruck als ›Paratexte erster Ordnung‹, dann als ›Paratexte zweiter Ordnung‹ wiederum deren Paratexte.«⁵⁴² Da im Weiteren nur der Dramentext und nicht die reale Aufführung interessiert, wird eine derartige Aufteilung in Paratexte erster und zweiter Ordnung nicht weiter verfolgt. Krämer bildet für Libretti und Dramentexte des 17. und 18. Jahrhunderts die gängige Reihenfolge der peritextuellen Paratexte ab.⁵⁴³ Hier ist Krämers Aufstellung für Dramentexte:⁵⁴⁴ – Titel (mit Angabe des Autors) – Motto – Widmung – Vorrede – (allographe Zuschrift oder Lobgedicht) – Inhalt – Personenverzeichnis (ohne Benennung der Schauspieler)⁵⁴⁵ – selten ein Bühnenbildverzeichnis Gerade gedruckten Dramen des 17. und 18. Jahrhunderts könne nach Krämer im Vergleich zu zeitgenössischen Librettodrucken ein »in der Regel [. . .] erheblich höherer ›Werk‹-Status«⁵⁴⁶ zugeschrieben werden. Dies sei insbesondere auffällig anhand von

541 Jörg Krämer: Text und Paratext im Musiktheater, in: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen, hrsg. und mit einem Vorw. vers. v. Frieder von Ammon/ Herfried Vögel (Pluralisierung & Autorität 15), Berlin: Lit Verlag, 2008, S. 45–78, hier S. 45. 542 Krämer: Text und Paratext im Musiktheater (2008), S. 46. 543 Im Weiteren wird der Begriff ›Paratext‹ synonym zu ›Peritext‹ gebraucht. Epitexte sind nicht materiell in den Dramendruck integriert und werden deshalb hier vorerst vernachlässigt. 544 Vgl. dazu im Folgenden Krämer: Text und Paratext im Musiktheater (2008), S. 50. 545 In Gottscheds Sterbender Cato wird beispielsweise die Besetzung im Personenverzeichnis angegeben. Es handelt sich um die seinerzeit bekannte und mit Gottsched eng zusammenarbeitende Schauspielertruppe Friederike Caroline Neubers (auch die Neuberin). In der Vorrede betont Gottsched gleich zu Beginn dennoch den Druckcharakter: »Ich unterstehe mich, eine Tragödie in Versen drucken zu lassen«. Es erscheint kurios, dass Gottsched bei einer zum Druck vorgesehenen Version im Personenverzeichnis die Besetzung mit angibt. Vgl. Gottsched: Sterbender Cato (2005), S. 5, 19. 546 Krämer: Text und Paratext im Musiktheater (2008), S. 52.

178 | 3 Drama und Narratologie Paratexten, die beim Libretto im Normalfall nicht vorhanden sind: »Das Motto [. . .] und die Vorrede betonen oft literarische Traditionen, rufen Autoritäten auf oder weisen kritische Reaktionen auf eine Aufführung des Werks zurück.«⁵⁴⁷ Mit Anke Detken kann aber noch weiter gegangen werden, insofern sich innerhalb der Gattung Drama im 18. Jahrhundert eine Tradition eines ›imaginären Theaters‹ herausbildet, die die Gestaltung des Dramentextes speziell als Lesetext, also literarischen Text bedingt. Sie macht dies speziell an Denis Diderot fest:⁵⁴⁸ Diderot setzt den Text absolut und arbeitet für ein imaginäres Theater, wobei er dem Leser Regiebemerkungen zur umfassenden Imaginierung von Situationen und Figuren bereitstellt und dem Zuschauer diese als Kontrollmittel nach dem Besuch einer Aufführung an die Hand gibt.⁵⁴⁹

3.8.1 Haupt- und Nebentext Das von den Paratexten gerahmte oder eingeleitete Textsegment⁵⁵⁰ Spieltext wird im Falle des Dramas aufgeteilt in den Haupttext und den Nebentext. Der Haupttext bildet die direkten Reden der Dramenfiguren ab. Der Nebentext⁵⁵¹ ist nach Elke Platz-Waury alles, was »außerhalb des Sprechtextes«⁵⁵² liegt und was nicht als Beitrag einer Dramenfigur anzunehmen ist.⁵⁵³ Der Nebentext scheint also aufgrund dessen, dass er nicht auf eine einzige Funktion zu reduzieren ist, im Vergleich zum Haupttext weitaus differenziertere Funktionen übernehmen zu können. Die Bestimmung ›alles außerhalb der Redebeiträge‹ lässt bei dieser Explikation den Nebentext eines Dramas zusätzlich in die Bereiche des Paratextes ausgreifen. Offenbar ist eine genaue Abgrenzung schwierig, aber gerade deswegen notwendig. Dies zeigt sich in den sich widersprechenden Artikeln zu Nebentext und Paratext im Reallexikon 547 Diese Regel gelte aber vor allem für den deutschsprachigen Bereich. Krämer: Text und Paratext im Musiktheater (2008), S. 52. 548 Nach Peter W. Marx lässt sich für »das gesamte europäische Drama [. . .] um 1800 im Kontext der Romantik eine solche Wende zum imaginären Theater feststellen«. Vgl. Marx: Regieanweisung/Szenenanweisung (2012), S. 145. 549 Detken: Im Nebenraum des Textes (2009), S. 392. 550 Es können Anhänge mit Hinweisen auf Druckfehler, Kommentare sowie selbstverständlich Nachwörter folgen, die ebenfalls zum Paratext eines Dramentextes zu zählen sind. 551 Anke Detken gibt zu bedenken, dass neben der Bezeichnung ›Nebentext‹ noch andere Ausdrücke Verwendung finden. »Schon die Uneinigkeit in der Begrifflichkeit zeigt, dass diese Textsegmente bisher zwar unzureichend erforscht sind, gleichzeitig aber zur Begriffsbildung anregen, da man sie unter so verschiedenen Bezeichnungen wie Bühnenanweisung, Regieanweisung, Nebentext, Szenenangabe, Didaskalie oder Begleitangabe zu fassen sucht. Dies kann zugleich als Indiz dafür gelten, dass diese Textsegmente unterschiedlichen Funktionen und Adressaten zugeordnet werden.« Vgl. Detken: Im Nebenraum des Textes (2009), S. 7. 552 Elke Platz-Waury: Art. ›Nebentext‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Harald Fricke, Bd. 2, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2000, S. 693–695, hier S. 693. 553 Vgl. auch Pfister: Das Drama (2001), S. 35.

3.8 Funktionen von Haupt-, Neben- und Paratext | 179

der deutschen Literaturwissenschaft. Platz-Waury versteht den Begriff ›Nebentext‹ sehr weit: [Der Nebentext] umfaßt [. . .] die Paratexte des verschrifteten Theaterstücks: Titel (im Untertitel häufig mit Angabe des Genres), gegebenenfalls Widmung und Motto, die Dramatis personae [. . .], häufig Angaben zu Ort und Zeit des Geschehens, zuweilen Vorrede oder Nachwort des Autors⁵⁵⁴

Ein gegenläufiger Standpunkt, zumal er sich nicht auf eine Literaturgattung im Speziellen bezieht, wird von Burkhard Moennighoff in seinem Artikel zum Paratext vertreten: Die ›paratextuelle‹ Umgebung eines Textes, die nicht (wie im Drama der Nebentext) [!] zu ihm selbst gehört, aber einen deutlichen Bezug zu ihm herstellt, wird durch die Texte gebildet, die ihn innerhalb eines Buches oder sonstigen Veröffentlichungs-Kontext begleiten.⁵⁵⁵

Daraufhin zählt er ähnliche Beispiele wie Plautz-Waury auf, darunter Titel, Autorname, Klappentexte oder Widmungen. Auch Zwischenüberschriften gehören für ihn dazu. Dieser Auffassung zufolge müssten dann Akt- oder Szenenangaben sowie Überschriften von Einzelepisoden, wie sie beispielsweise bei Arthur Schnitzlers Reigen⁵⁵⁶, Peter Weisses Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats⁵⁵⁷ oder Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil⁵⁵⁸ zu finden sind, als Paratexte aufgefasst werden. Daneben gibt es noch weitere Positionen zur Bestimmung und Differenzierung des Nebentextes. Bernhard Jahn arbeitet in Grundkurs Drama mit einer offenen Liste in Bezug auf den Nebentext: »etwa die Beschreibung des Bühnenbildes, der Kostüme, des Aussehens der Figuren, deren Gestik, Mimik und Proxemik, mindestens aber die Zuordnung von Figurennamen zur Figurenrede«.⁵⁵⁹ Werner Wolf fasst unter ›Nebentext‹ die Bühnenanweisungen und Sprechermarkierungen auf. Nicht an Figuren gebundene

554 Platz-Waury: Nebentext (2000), S. 694. 555 Burkhard Moennighoff: Art. ›Paratext‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Jan-Dirk Müller, Bd. 3, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2003, S. 22–23, S. 22. Hv. A.W. 556 Arthur Schnitzler: Reigen (RUB 18158), Stuttgart: Reclam, 2002. 557 Peter Weiss: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Drama in zwei Akten (edition suhrkamp 68), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965. 558 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 7.1: Faust. Texte, hrsg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1994. 559 Jahn: Grundkurs Drama (2009), S. 9.

180 | 3 Drama und Narratologie Prologe (d. h. Prologe ohne Sprecherangabe),⁵⁶⁰ ordnet er wie die Figurenreden dem Haupttext zu.⁵⁶¹ Anke Detken wiederum versteht unter ›Nebentext‹ alle im gedruckten Dramentext enthaltenen Textsegmente außer der Figurenrede als dem Haupttext, d. h. diejenigen Textteile, die bei der theatralischen Umsetzung auf der Bühne nicht gesprochen werden. Er umfasst neben Titel, gegebenenfalls Motto, Personenverzeichnis, Markierungen von Akt und Szene und den Sprecherbezeichnungen die Regiebemerkungen (auch: Regie-, Szenen oder Bühnenanweisungen) zu Requisiten, Bühnenbild, Kostüm, Gestik und Mimik.⁵⁶²

Para-, Haupt- und Nebentexte sollen hier kategorisch voneinander getrennt werden. Dabei kann der Nebentext angelehnt an Ottmers in verschiedene funktionale Kategorien eingeteilt werden. Ottmers trennt den Spieltext grob in die fiktiven direkten Reden (Figurenrede, Redebeiträge bzw. Haupttext) und die sogenannten nicht-narrativen Passagen (Regieanweisungen bzw. Nebentext).⁵⁶³ Sie »arrangieren, situieren [und] kommentieren«⁵⁶⁴ die Figurenreden.⁵⁶⁵ Dies sind drei Funktionen, die beispielsweise mit Blick auf die erzählende Instanz oder das erzählende Medium als erzählende Funktionen begriffen werden können (vgl. Kapitel 3.6 ab Seite 147). Sie tragen unter anderem dazu bei, dass über einen narrativen Text die für den narrativen Charakter essentielle erzählte Welt aufbaut wird, in der die Zustandssequenzen verortet sind. Textpassagen im Dramentext, die sich weder direkt noch indirekt auf die Bühnendiegese oder Diegese beziehen bzw. auf den Spieltext verweisen, nicht zu deren Aufbau beitragen oder auf eine Verlegerfunktion rückführbar sind,⁵⁶⁶ sollen als Paratexte bezeichnet werden. Sie gehören entgegen der Einteilung Platz-Waurys nicht

560 »Die Zuordnung des Prologs zum dramatischen Haupttext im Gegensatz zum Nebentext verdeckt [. . .] eine wichtige funktionale Ähnlichkeit: Prologe ähneln dem Nebentext insofern, als beide ›auktoriale‹ Manifestationen sind, denen in der Erzählkunst weitgehend die Erzählerrede entspricht.« Vgl. Wolf: Introduction (2006), S. 87. 561 Werner Wolfs eigenes Beispiel ist die mit ›Prolog‹ überschriebene Passage im 1612/16 erschienen Drama The Alchimist von Ben Jonson, die keine Sprecherangabe hat. Vgl. Wolf: Introduction (2006), S. 82 ff. 562 Detken: Art. ›Nebentext‹ (2007), S. 536. 563 Vgl. Ottmers: Drama (1997), S. 392. 564 Ottmers: Drama (1997), S. 392. 565 Marvin Carlson, der anstatt Nebentext wahlweise den Begriff Didaskalie oder Bühnenanweisung (stage direction) verwendet, schlägt ebenfalls eine »brief topology of different types of didascalia« vor: Carlson differenziert in attribution didascalia, structural didascalia, locational didascalia, character description didascalia, performance didascalia. Vgl. Carlson: The status of stage directions (1991), S. 37 ff. 566 In diesem Fall wären sie als verlegerische Peritexte zu bezeichnen. Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, aus dem Französischen übers. v. Dieter Hornig, mit einem Vorw. v. Harald Weinrich (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1510), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, S. 22.

3.8 Funktionen von Haupt-, Neben- und Paratext | 181

zum Nebentext des Dramas.⁵⁶⁷ Moenninghoff folgend werden unter Paratexten Textabschnitte wie zum Beispiel Autorname, Erscheinungsort bzw. -zeit und Widmung verstanden, da sie nur in sehr speziellen Fällen zum Aufbau der Diegesen beitragen oder auf diese verweisen mögen. Sie beziehen sich zum Beispiel vielmehr auf kulturelle, gesellschaftliche, literarische, intertextuelle Zusammenhänge, die außerhalb von Bühnendiegese wie Diegese liegen. Ebenfalls zum Paratext zählen nachträglich durch Verleger oder Editor dem Druck beigefügte Angaben, wie sie sich in Form von erklärenden Fußnoten etwa in Die Pietisterei im Fischbein-Rocke⁵⁶⁸ (1736) von Luise Adelgunde Victorie Gottsched oder in Andreas Gryphius’ Catharina von Georgien⁵⁶⁹ finden. Andererseits werden von mir einige Textabschnitte, die Platz-Waury und teilweise auch Moenninghoff den Paratexten zurechnen, ihrer Funktion nach als Nebentexte aufgefasst.

3.8.2 Paratext und nebentextueller Paratext Als eine erste Kategorie bespreche ich deshalb eine Kategorie von Paratexten, die Funktionen eines Nebentextes übernehmen können: nebentextuelle Paratexte. Die hier angestrebte Trennung zwischen Paratext und nebentextuellen Paratext hat stipulativen Charakter und muss womöglich im konkreten Ausnahmefall angepasst werden. Im Folgenden handelt es sich deshalb nicht um allgemeingültige Zuordnungen. Unter einem nebentextuellen Paratext wird ein Textsegment verstanden, das direkt auf die Bühnendiegese oder die Diegese verweist oder indirekt zu ihrem Aufbau beiträgt, aber nicht zum Spieltext zu rechnen ist, der im Normalfall nach dem Personenverzeichnis einsetzt. Das Personenverzeichnis ist zum Beispiel ein solcher nebentextueller Paratext. Es bezieht sich mithilfe von Namen oder Bezeichnungen auf die dramatis personae, die in der Diegese auftauchen und es verweist anhand der Personenzahl auf einen mit der Bühnendiegese zusammenhängenden, theaterpraktischen Aspekt, da sich aus dem Verzeichnis auf die angedachte Zahl der Schauspieler schließen lässt. Anhand des Personenverzeichnisses können die Beziehungen oder Hierarchien zwischen den einzelnen Figuren innerhalb der Repräsentation durch Gruppierungen von Namen oder anhand von Zusatzinformationen zu den Namen beschrieben werden. Bei Catharina von Georgien werden die beiden Hauptakteure Catharina und Chach Abas typographisch durch Kapitälchen von den restlichen Figuren abgesetzt. Zusätzlich sind die beiden Parteien und das ihnen zugeordnete Personal durch die Anordnung

567 Das würde ansonsten bedeuten, bei ähnlichen Textpassagen in Romanen, Lyrikanthologien u. Ä. ebenfalls von Nebentexten zu sprechen. 568 Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, hrsg. v. Wolfgang Martens (RUB 8579), Stuttgart: Reclam, 2003. 569 Gryphius: Catharina von Georgien (2006).

182 | 3 Drama und Narratologie der Namen voneinander getrennt und durch geschweifte Klammern ausgezeichnet.⁵⁷⁰ Funktional und über die typographische Gestaltung semiotisch verstärkt wird hier bereits die grundlegende Konfrontationssituation zweier gegnerischer Parteien der erzählten Welt impliziert. Ferner wird der Dramentitel dem nebentextuellen Paratext zugerechnet, da er sich auf die Diegesen beziehen kann, und das Thema (Die Pietsterey im Fischbein-Rocke), die Haupthandlung (Warten auf Godot) oder die vermeintliche Hauptfigur (Emilia Galotti, Catharina von Georgien) der Geschichte benennen kann.⁵⁷¹ Wichtiges Unterscheidungsmerkmal des nebentextuellen Paratextes ist, dass er sich zwar direkt auf die Bühnendiegese oder die Diegese bezieht, beide aber auch ohne ihn aufgebaut werden können bzw. verständlich bleiben. So kann ein Theaterzuschauer im Normalfall selbst ohne Kenntnis des Personenverzeichnisses oder des Titels der dargestellten Handlung folgen. Zudem werden beide innerhalb des Spieltextes nicht noch einmal explizit erwähnt. Ein Paratext mit nebentextueller Funktion kann auch ein Hinweis auf die vordergründige Ausrichtung eines Dramas als Lesetext sein. Beispielweise ist in Die Pietisterey im Fischbein-Rocke eine Fußnote welche darüber aufklärt, dass »Lestadie« eine »übel berüchtigte Vorstadt in Königsberg«⁵⁷² sei, als ein nebentextueller Paratext zu verstehen, der mit seiner typographischen Verortung insbesondere an einen lesenden Rezipienten gerichtet ist. Zwei spezielle bzw. nicht eindeutige Beispiele seien erwähnt: Gerade bei Dramen des Barocks tauchen häufig Inhaltsangaben auf. Noch vor den Angaben zum Dramenpersonal sind in Catharina von Georgien der »Inhalt deß Traur-Spiels«⁵⁷³ und der »Inhalt der Abhandelungen«⁵⁷⁴ eingesetzt, die aus zeitgenössischen Periochen der Stücke übernommen sein können. In Regier-Kunst-Schatten (1658) von Anton Ulrich findet sich ein Motto, das explizit auf das Stück verweist.⁵⁷⁵ Dass sich die angeführten Beispiele direkt auf die Diegese und/oder die Bühnendiegese beziehen, kann nicht bestritten werden; dass ohne sie die Diegesen trotzdem allein durch den Spieltext aufgebaut und im besten Fall nachvollzogen werden können, ist ebenso evident. Erzähltheoretisch betrachtet, stellen die Inhaltsangaben bezogen auf die Darstellungsmittel des Dramas einen anderen Modus dar. Sie repräsentieren die Geschichte bezogen auf den fiktiven Bühnenraum eher berichtend (diegetisch) anstatt zeigend (mimetisch). In diesem Zusammenhang seien sogenannten Klappentexte erwähnt, die oftmals ebenfalls einen kurzen Überblick über ein Drama liefern. Wenn auch nicht verneint werden kann, dass

570 Vgl. Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 10. 571 Pfister erkennt in Titel und Genreangaben Möglichkeiten der Vorinformation des Zuschauers. Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 69 f. 572 Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (2003), S. 21. 573 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 7. 574 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 8 f. 575 Vgl. Anton Ulrich: Regier – Kunst – Schatten, in: Anton Ulrich: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 1: Bühnendichtungen, hrsg. v. Rolf Tarot (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 303), Stuttgart: Anton Hiersemann, 1982, S. 83–165, hier S. 86.

3.8 Funktionen von Haupt-, Neben- und Paratext | 183

auch sie, zählt man die Inhaltsangaben hinzu, unter dem nebentextuellen Paratext zu subsumieren wären, ist ihre Zielrichtung eher ökonomischer Natur. Als Inhaltsangaben auf dem Buchrücken sind sie in erster Linie als Kurzinformation vor dem Kauf gedacht. Da Verleger, Herausgeber, Autor und Erzähler eine Person sein können, ist besser nach der übernommenen Funktion zu unterscheiden. Während Inhaltsangaben, wie in Ausgaben von Barockdramen, eher einer Erzählfunktion zugerechnet werden können und damit als nebentextueller Paratext einzustufen sind, sind die moderneren Klappentexte eher auf eine Verlegerfunktion zurückzuführen und damit den Paratexten zuzuordnen. Ein weiterer spezieller Fall sind die oft als Untertitel erscheinenden Gattungs- oder Genreangaben. Mit ihnen kann bereits auf einige genretypische Konstituenten verwiesen werden, die innerhalb der Diegesen zu erwarten sind.⁵⁷⁶ So lässt sich beispielsweise die Frage, warum Emilia Galotti sterben muss, mit dem Hinweis auf die Gattungsangabe »Trauerspiel«⁵⁷⁷ beantworten. Gleichzeitig verweist die Gattungsbezeichnung typologisch auf die Beziehung des Gesamttextes zu anderen Texten innerhalb der Gattung Drama, gibt aber auch dem potentiellen Käufer einen wichtigen Orientierungspunkt womit sie ähnlich den Klappentexten auch den ›reinen‹ Paratexten zuzurechnen ist. Zusammenfassend ordne ich dem Paratext beim Drama tendenziell Autorname, Klappentexte und Widmungen zu. Der nebentextuelle Paratext umfasst das Personenverzeichnis und die Inhaltsangaben. Zusätzlich können von Fall zu Fall Titel, Genreangaben, Fußnoten, Vorworte usw. dazu gezählt werden. Die dem Paratext zugeordneten Textpassagen können zum nebentextuellen Paratext tendieren. Über den Paratext mit nebentextueller Funktion kann der Leser direkt angesprochen werden und es kann eine Art Rahmung bzw. eine Rezeptionslenkung für den Spieltext aufgebaut werden.⁵⁷⁸ Die Bezeichnung nebentextueller Paratext soll zudem verdeutlichen, dass es sich hierbei um Aussagen handelt, die ggf. der dramatischen Instanz zugerechnet werden können, insofern die Paratexte funktional als Nebentexte eingesetzt sind, die in dieser Form Erzählfunktionen übernehmen.

3.8.3 Funktionen des Nebentextes Als eine erste funktionale Kategorie des Nebentextes nehme ich den strukturierenden Nebentext an. Dazu gehören die im obigen Zusammenhang angesprochenen Akt- und Szenenbegrenzungen, die die größeren Strukturen im Dramentext bilden. Szenenbegrenzungen und Binneneinteilungen können auch nur über Personenangaben geleistet werden. Bei Catharina von Georgien finden sich als Binneneinteilungen nur die Namen

576 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 69 f. 577 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen (RUB 45), Stuttgart: Reclam, 1985, S. 1. 578 Vgl. beispielsweise die Leseransprache in Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 5 f.

184 | 3 Drama und Narratologie der gerade auf der Bühne befindlichen Personen, die als strukturierender Nebentext aufgefasst werden können.⁵⁷⁹ Diese Binnen- oder Szenenbegrenzungen können auch einfach durch Angaben von Auf- und Abtritten von Figuren angedeutet sein, ohne dass ausdrücklich Nebentext wie Szene 3 oder Zweiter Auftritt zu finden ist. Daneben zähle ich die Sprecherzuweisungen bzw. die sonstigen für die Anzeige des Sprecherwechsels verwendeten Zeichen oder Formulierungen zum strukturierenden Nebentext. Ebenso ordne ich alle Angaben, die explizit oder implizit einen Wechsel in Raumoder Zeitstrukturen innerhalb der Diegesen anzeigen, dieser Kategorie zu; also sowohl Strukturierungen auf Text wie Erzählungsebene. Die Angabe der auftretenden Personen kann zusätzlich die Funktion der Situierung, übernehmen. Wenn in Catharina von Georgien die »Reyen der Tugenden/ deß Todes und der Libe«⁵⁸⁰ auftreten, ist die thematische Richtung der folgenden Szene bereits mit angezeigt.⁵⁸¹ Neben einer Strukturierung wird indirekt die Thematik angeben, in der sich die folgende Szene bewegen wird. Dies setzt voraus, dass das Drama gelesen wird. Die zweite von mir vorgeschlagene Kategorie ist damit der situierende Nebentext. Während der Haupttext mit den ›zitierten‹ Redebeiträgen des Dramenpersonals das Was der Äußerungen abdeckt, übernimmt der situierende Nebentext alles Weitere, was mit den Aussagen der Personen zusammenhängt bzw. für eine adäquate Rezeption wichtig ist. Dazu gehört Paralinguistisches wie der Tonfall, Proxemisches wie die Bewegungen der Figuren im Bühnenraum bzw. innerhalb der Bühnendiegese, Gestik, Mimik, Kostümierung und Verwendung von Requisiten. Ebenfalls dem situierenden Nebentext zuzurechnen sind die Beschreibungen des Bühnenbilds, der Bühnentechnik und Hinweise auf den Ort bzw. die Zeit der Aussage. Der situierende Nebentext beschreibt alles Audiovisuelle, was nicht mit dem Haupttext abgedeckt wird. Deswegen werden auch Beschreibungen von Handlungsabläufen, die ohne Rede auskommen, zum situierenden Nebentext gezählt, selbst wenn diese Abläufe wiederum einer Situierung bedürften. Ebenfalls zum situierenden Nebentext zähle ich Passagen, die die Figuren charakterisieren. Ottmers zufolge kann der Nebentext noch eine kommentierende Funktion übernehmen. Mit seiner Hilfe können Figuren und deren Handlungen reflektiert oder gar in Frage gestellt werden. Er kann also konträr zum Haupttext gestaltet sein.⁵⁸² Es können verschiedene Möglichkeiten einer Bühnenrealisation oder des Handlungsverlaufes diskutiert oder wertende Äußerungen getätigt werden. Diese Art des Nebentextes bezeichne ich als kommentierenden Nebentext. So wird eine von Asmuth vorgeschlagene Begriffszuweisung vermieden. Dieser »spezifisch epische, d. h. auktoriale Text ist vom normalen dramatischen Haupttext (Figurenrede) ebenso zu unterscheiden wie vom normalen Nebentext, der dem Zuschauer ja nicht als Text dargeboten wird. Als Bezeich579 Vgl. Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 12, 17, 20. 580 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 100. 581 ›Liebe‹ bezieht sich im barocken Kontext dieser Märtyrertragödie auf die Liebe zu Gott. 582 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 77 f.

3.8 Funktionen von Haupt-, Neben- und Paratext | 185

nung empfehle ich Übertext.«⁵⁸³ Damit sind speziell beim epischen Drama nach Asmuth drei Textarten auseinanderzuhalten: Haupttext, Nebentext und Übertext. Da meiner Einschätzung nach nicht auszuschließen ist, dass derlei auktoriale Tendenzen erstens auch in anderen Dramengenres auftauchen können und einzelne Textabschnitte zweitens mehrere Funktionen übernehmen können, erscheint mir Asmuths Vorschlag nicht als sinnvoll. Denn natürlich kann eine Nebentextstelle mehrere Funktionen gleichzeitig ausfüllen und ist dementsprechend mehreren funktionalen Kategorien zuzuordnen. Überschneidungen bei der Funktionalität gibt es nicht nur beim Nebentext. Auch der Haupttext kann über seine ›Zitier-Funktion‹ hinaus als sogenannter impliziter Nebentext alle Funktionen übernehmen, die gerade dem expliziten Nebentext zugerechnet wurden.⁵⁸⁴ Bei deutschsprachigen Dramen bis circa 1750 sind gerade explizite situierende Nebentexte nur spärlich vorhanden, wenngleich Ausnahmen existieren. Dies kann auf die Form eines auf antike Traditionen zurückgreifenden, rhetorisch ausgerichteten Rededramas dieser Zeit zurückgeführt werden, was allerdings von Asmuth einem Verlust während der Tradierung zugeschrieben wird.⁵⁸⁵ Anke Detken schreibt dazu: Während im Anschluss an die Antike und die französische Klassik das implizite Anmerkungssystem eine tragende Rolle spielt, nimmt im 18. Jahrhundert der Anteil an expliziten Regiebemerkungen deutlich zu, so dass Übergänge von dem einen zum anderen Anmerkungssystem zu verfolgen sind.⁵⁸⁶

Als ein konkretes Beispiel für die Möglichkeiten aber auch die Schwierigkeiten einer Zuordnung betrachte ich eine Passage aus Brechts Mutter Courage und ihre Kinder einmal genauer: 5 zwei jahre sind vergangen. der krieg überzieht immer weitere gebiete. auf rastlosen fahrten durchquert der kleine wagen der courage polen, mähren, bayern, italien und wieder bayern. 1631 tillys sieg bei magdeburg kostet mutter courage vier offiziershemden. Mutter Courages Wagen steht in einem zerschossenen Dorf. Von weit her dünne Militärmusik. Zwei Soldaten am Schanktisch, von Kattrin und Mutter Courage bedient. Der eine hat einen Damenpeltzmantel umgehängt. mutter courage Was, zahlen kannst du nicht? Kein Geld, kein Schnaps. Siegesmärsche spielen sie auf, aber den Sold zahlen sie nicht aus.⁵⁸⁷

583 Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 57. 584 Detken weist darauf hin, dass »es sich als schwierig [erweist], implizite Regiebemerkungen in der Figurenrede nachzuweisen«, obwohl dies »wegen der Verzahnung zwischen dem Text der Handlung und paratextuellen Komponenten unerlässlich« ist. Vgl. Detken: Im Nebenraum des Textes (2009), S. 11. 585 Vgl. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 51. 586 Detken: Im Nebenraum des Textes (2009), S. 11. 587 Brecht: Mutter Courage (1963), S. 51.

186 | 3 Drama und Narratologie Die Zahl fünf hat strukturierende Funktion. Beim Abschnitt »zwei jahre sind vergangen. . . «⁵⁸⁸ ist die Zuweisung zu einer der drei Textsegmente (Para-, Neben- und Haupttext) schwierig. Vom Schriftbild her setzt sich dieser Textabschnitt sowohl vom Haupttext als auch vom auf diesen Abschnitt folgenden Nebentext ab. Es gibt keine Sprecherzuweisung, die diesen Text eindeutig als Haupttext identifizierbar machen würde. Die Szenenbeschreibung kann aber nur bedingt, wenn auch am ehesten, dem Nebentext zugeschrieben werden. Durch eine Markierung als Requisit wie: ›. . . auf einem Schild steht zu lesen. . . ‹, könnte der Text eindeutig der Bühnenbildbeschreibung und damit dem situierenden Nebentext zugewiesen werden. Mit einer Figurenrede verbindet ihn die Unvermitteltheit, insofern er ›so wie er ist‹ nach den Konventionen des epischen Theaters innerhalb der Bühnendiegese repräsentiert wird. Als eine audiovisuelle Komponente der Diegesen, welche nicht über den Haupttext als solchen vermittelt wird, ist diese Passage ihrer Funktion nach einem expliziten situierenden Nebentext mit zusätzlicher kommentierender Funktion zuzuordnen. Dafür spricht auch die Verwendung des Präteritums. Allerdings könnte er mit gleicher Funktionskombination ebenso zum Haupttext gezählt werden, da er nicht auf ein zu Repräsentierendes verweist (wie es beispielsweise derartige Passagen aus Emilia Galotti tun: »an einem Arbeitstische voller Briefschaften«⁵⁸⁹ oder »Sie stirbt, und er legt sie sanft auf den Boden.«⁵⁹⁰), sondern selbst das zu Repräsentierende als zitierter Text ist. Die darauf folgenden, formal als Nebentext zu bezeichnenden Passagen haben situierenden Charakter. Beschrieben wird das Bühnenbild und gleichzeitig der Raum der Diegese: der Wagen von Mutter Courage inmitten eines zerschossenen Dorfes. Darüber hinaus sei ein Tisch zu sehen sowie vier Personen, die sich daran und in dessen Nähe aufhalten (Kattrin, Mutter Courage, zwei Soldaten). Zu einer dieser Personen wird eine Angabe bezüglich des Kostüms geleistet (»Damenpelzmantel«⁵⁹¹). Auch Auditives wird beschrieben. Schwach zu hören sei eine »dünne Militärmusik«.⁵⁹² Den zwei Textpassagen folgt ein den Haupttext einleitender und damit hauptsächlich strukturierender Nebentext als verkürzte inquit-Formel: »mutter courage«.⁵⁹³ Die Person Mutter Courage charakterisiert sich über den Haupttext indirekt selbst als kompromisslose Geschäftsfrau und erwähnt explizit die hörbaren Siegesmärsche. Der Haupttext nimmt hier das im Nebentext Referenzierte wieder als impliziten Nebentext auf. An diesem Beispiel wird klar, dass die Zuordnung zu bestimmten Textsegmenten und die Bestimmung ihrer Funktionen neben der Analyse bereits die Interpretation des Textes und die Bezugnahme auf poetologische Kontexte erfordert.

588 Brecht: Mutter Courage (1963), S. 51. 589 Lessing: Emilia Galotti (1985), S. 5. 590 Lessing: Emilia Galotti (1985), S. 79. 591 Brecht: Mutter Courage (1963), S. 51. 592 Brecht: Mutter Courage (1963), S. 51. 593 Brecht: Mutter Courage (1963), S. 51.

3.9 Zusammenfassung des Kapitels | 187

Ich postuliere somit drei Funktionen, die der explizite und implizite Nebentext sowie der nebentextuelle Paratext in Hinblick auf die Diegesen sowie in Bezug auf die Konstitution des Dramentextes als Ganzem erfüllen kann: eine strukturierende, eine situierende und eine kommentierende Funktion. Diese Funktionen des Nebentextes decken sich zum Teil mit denjenigen impliziten und expliziten Hinweisen und Funktionen (Selektion, Arrangierung, Qualifizierung, Stilisierung, Bewertung, Kommentierung), die beispielsweise nach Wolf Schmid auf eine erzählende Instanz eines narrativen Textes schließen lassen (vgl. Kapitel 3.6 ab Seite 147). Sie sind dementsprechend als Erzählfunktionen zu verstehen.

3.9 Zusammenfassung des Kapitels Es wurde dargestellt, wie eine strukturalistische Terminologie und Theorie der Erzähltexte mit der kognitiven Narratologie kombiniert werden kann. Damit ist ein Erzählbegriff gebildet, der sowohl die Einbindung von qualitativen und graduellen Eigenschaften erlaubt, dabei die terminologische Systematik der strukturellen Narratologie beibehält und mit Hilfe der Schematheorie sowohl die Rolle des Produzenten als auch des Rezipienten bei der Generierung und Evaluierung eines narrativen Artefakts einbindet. Erzählen wird als ein kognitives Schema begriffen, das bei einem narrativen Kommunikationsakt aktiviert wird. Am kommunikativen Akt beteiligt sind ein Autor oder Produzent, dessen Text oder Artefakt und ein Rezipient. Diese Kommunikationssituation wird im Falle fiktional-narrativer Texte narratologisch-analytisch durch eine Kommunikation zwischen einem Erzähler und dessen Adressaten ergänzt. Als Narration bzw. narrativ wird ein Text dann bezeichnet, wenn mit ihm eine Geschichte repräsentiert wird. Eine Geschichte ist eine temporal verknüpfte Sequenz von Zuständen, die durch weitere Relationen (wie Kausalität oder Teleologie) gestaltet ist. Von einem narrativen Text ist dann zu sprechen, wenn darüber eine Ereignissequenz repräsentiert wird, die auf bestimmte Figuren konzentriert ist. Damit ein Rezipient einen narrativen Text als solchen wahrnehmen sowie auf ihn das kognitive Schema des Narrativen anwenden und entsprechend verstehen kann, müssen vom Produzenten des Textes bestimmte narrative Stimuli in den Text eingearbeitet sein, die es erlauben, ihn als eine Narration zu rezipieren. Derartige Stimuli werden auf textinterner Seite als Narreme bezeichnet. Dazu zählen qualitative Narreme wie die Darstellung einer Sinndimension oder Erlebnisqualität, inhaltliche Narreme wie die Bezüge auf Ereignisse, Zeiten, Orte, Figuren und syntaktische Narreme wie die Selektion, Verknüpfung, Präsentation und die formale Einheitsbildung durch beispielsweise Chronologie, Teleologie und Wiederholung. In Drama finden sich gerade auf textueller Ebene eine Vielzahl derartiger Stimuli. Ein Drama lässt sich deshalb ebenfalls als ein narratives Erzählmedium begreifen. Darin wird wie auch im Falle von Erzähltexten eine Exegesis und eine Diegese

188 | 3 Drama und Narratologie etabliert und eine Ereignissequenz über eine Erzählung repräsentiert. Im Unterschied zu Erzähltexten werden jedoch immer mindestens zwei erzählte Welten gebildet: die Bühnendiegese als Theaterfiktion und die freie Diegese, die in der Regel keinen Bezug zur Bühne mehr hat. Der Spieltext stellt dabei eine fixierte und mit Hilfe überwiegend linguistischer Zeichen eine indirekte Präsentation einer Erzählung dar. Wie oben herausgearbeitet wurde, kann eine erzählende Instanz als eine omnipräsente Instanz des Dramas in Betracht gezogen werden. So kann im Folgenden eine Theorie der Episierung besser in eine narratologische Dramentheorie integriert und die Dramentheorie generell mit narratologischen Methoden und Begriffen ausgeweitet werden. Sie wird als dramatische Erzählinstanz respektive dramatische Instanz bezeichnet. Anhand der Kombination von Funktionen des Haupt- und Nebentextes werden die beiden Diegesen (Bühnendiegese und freie Diegese) entwickelt. Die Bühnendiegese ist dabei eine mimetische, wenngleich imaginäre Präsentationsweise. Der Leser eines Dramas kann zwischen einer Leser- und einer Zuschauerrolle wechseln und von der dramatischen Instanz explizit als Leser oder als Zuschauer adressiert werden. Die dramatische Instanz kann wahlweise explizit auf die Bühnendiegese oder die Diegese referieren und damit die Bühnengeschichte oder die Geschichte repräsentieren. Sie kann aber auch gleichzeitig auf beide Bezug nehmen. Sie baut mit Haupt- und Nebentext in struktureller, situierender und teilweise in kommentierender Funktion einen direkten Bezug auf. Es kann auf die Diegesen indirekt im Sinne einer puren Erzählfunktion verwiesen werden, wenn beispielsweise Vorreden, Inhaltsangaben oder Fußnoten, also Paratexte mit nebentextueller Funktion entsprechend eingesetzt sind. Beispielsweise ist der Hinweis in der Leseransprache auf den schon länger vorliegenden »entwurff«⁵⁹⁴ des Stückes in Catharina von Georgien eher auf die Bühnendiegese, der Verweis auf die in dieser Bühnenwelt gezeigte Beständigkeit⁵⁹⁵ der Catharina eher auf die freie Diegese und deren Inhalt bezogen. In beiden Fällen erfolgt eine Rezeptionslenkung in Bezug auf die über den Spieltext repräsentierte Geschichte. Ich komme unter Hinzunahme der Überlegungen des vorangegangenen Kapitels an dieser Stelle noch einmal auf die Unterscheidung in mimetische (zeigende) und diegetische (berichtende) Darstellung zurück, die jetzt genauer bestimmt werden kann, und möchte diese hier an einigen Beispielen als Abschluss dieses Kapitels darstellen. Wird das Drama in der medialen Umsetzung auf der realen Bühne von einem realen Zuschauer betrachtet, so lassen sich dort auditive oder visuelle Ereignisse wesentlich leichter umsetzen, als dies im Medium Schrift möglich ist. Beispielsweise wird sich ein zu einem Geschehen gehörendes Geräusch wie etwa ein Schuss in einem realen Theaterraum immer direkt ›zeigender‹, ›unmittelbarer‹ bzw. mimetischer präsentieren lassen, als in einem verbalen Medium, welches nur auf den Schuss verweisen kann. Die

594 Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 5. 595 Vgl. Gryphius: Catharina von Georgien (2006), S. 5.

3.9 Zusammenfassung des Kapitels | 189

dramatische Instanz greift für die Präsentation der Ereignissequenz im fiktiven Theaterraum der Bühnendiegese auf Zeichen aus unterschiedlichen Zeichensystemen zurück: sprachliche Zeichen in den Figurenreden, theaterpraktische Zeichen bei der Bühnenbeschreibung oder linguistische, paralinguistische, gestische und mimische Zeichen. Diese Zeichen werden im Drama in der Hauptsache allerdings nur mit sprachlichen Zeichenträgern fixiert und bis auf die linguistischen Zeichen nur indirekt abgebildet.⁵⁹⁶ Aus der Perspektive des Lesers betrachtet stellt der gesamte Dramentext eine direkte Ansprache an ihn dar. Deshalb muss aber nicht das gesamte Drama als diegetisch bzw. berichtend erzählt verstanden werden. Der Leser kann hauptsächlich in seiner Rolle als Zuschauer der Bühnenfiktion angesprochen sein. Für ihn sind die über den Dramentext referenzierten Ereignisse ›unmittelbar‹ im Theaterraum der Bühnendiegese wahrzunehmen, wie sie gleichzeitig den eigentlichen Raum der Diegese bestimmen; die Ereignisse und Objekte können durchaus auf gewisse Weise direkt gezeigt werden. Die Koppelung des Dramentextes über das Aufführungskriterium an den fiktiven Theaterraum der Bühnendiegese ermöglicht eine Unterscheidung, die jeweilige Zeichenkombination von sprachlichen Zeichenträgern auf der Ebene des Dramentextes als eine unvermittelte Umsetzung im fiktiven Theaterraum und damit als eine quasi mimetische Darstellung oder aber als eine diegetische Darstellung zu verstehen. Mindestens bei der Präsentation von Sprache kann die dramatische Instanz auf eine weitgehend anerkannte Konvention zurückgreifen, die innerhalb des Erzählmediums Dramentext als absolut mimetisch betrachtet werden kann: die direkte Rede einer Figur bzw. eines fiktiven Schauspielers, der diese Figur verkörpert, angezeigt über eine Sprecherzuweisung ohne inquit-Formel (beispielsweise in Goethes Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand »sievers. Hänsel, noch ein Glas Branntwein, und mess christlich.«⁵⁹⁷). Über den Nebentext bleiben Deskription oder Referenzierung als Möglichkeiten einer möglichst mimetischen Vermittlung erhalten, wie ich hier an einem Beispiel aus Die Familie Selicke (1890) von Arno Holz und Johannes Schlaf zeigen kann: »Die Rückwand nimmt ein altes, schwerfälliges, großgeblumtes Sofa ein, über welchem zwischen zwei kleinen, vergilbten Gipsstatuetten »Schiller und Goethe« der bekannte Kaulbachsche Stahlstich »Lotte, Brot schneidend« hängt.«⁵⁹⁸ Die Beschreibung des Sofas durch den situierenden Nebentext bleibt neutral, es ist dabei keine Wertung zu erkennen. Auch die Beschreibung der Gipsstatuetten gibt nur wieder, was tatsächlich im fiktiven Bühnenraum wahrzunehmen ist. Das an der Wand hängende Bild wird sogar durch

596 Ich sehe in dieser Arbeit von der Besprechung speziell des semiotischen Potentials typographischer Gestaltung des Drucks und dem Einsatz von Abbildungen innerhalb des Dramentextes bis auf gelegentliche Beispiele ab. Gleichwohl, wird das Drama als literarische Gattung und in seiner Materialität im Druck ernst genommen, leisten auch Typographie und Ikonographie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu dessen narrativen, ästhetischen und allgemein semantischen Gehalt. 597 Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 5. 598 Arno Holz/Johannes Schlaf: Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen, mit einem Nachw. v. Fritz Martini (RUB 8987), Stuttgart: Reclam, 2004, S. 5.

190 | 3 Drama und Narratologie eine Referenz beschrieben (»der bekannte Kaulbachsche Stahlstich »Lotte, Brot schneidend« «) und ist als eine rein mimetische Darstellung zu verstehen. Darüber hinaus ist bei diesem Nebentext davon auszugehen, dass er einen länger anhaltenden Zustand beschreibt bzw. ein Ereignis mit statischer Funktion ist,⁵⁹⁹ insofern dieses Bühnenbild bis zum Ende der imaginären Aufführung bestehen bleibt. Bei einem Drama wird damit der situierende und der strukturierende Nebentext als Möglichkeit einer mimetischen Darstellung angesehen, der Geschehen, Zustände, Personen, Bühnenbild und Gleichzeitigkeiten auf der imaginären Bühne abbildet, die nicht vom Haupttext abgedeckt werden. Der Nebentext bildet das über einen längeren Zeitraum Sichtbare oder Hörbare beschreibend-referenzierend ab. Im fiktiven Bühnenraum der Bühnendiegese sollen die referenzierten Gegenständlichkeiten bzw. Zeichen zum größten Teil unvermittelt für sich selbst sinnstiftend stehen, sich sozusagen selbst erzählen. Diese Unvermitteltheit ist selbstverständlich eine imaginierte, wie es auch Martínez/Scheffel in Bezug auf ihre Unterscheidung in einen narrativen (diegetisch) und einen dramatischen (mimetisch) Modus anmerken. Von einem ›dramatischen Modus‹ [d. i. mimetischen Modus, A.W.] und dementsprechend von ›Unmittelbarkeit‹ oder ›mimetischer Illusion‹ kann immer nur mit Einschränkungen die Rede sein. Gleichwohl [. . .] sich auch hier Unterschiede in der Distanz zum Erzählten beobachten [lassen].⁶⁰⁰

Im Drama kann die mimetische Illusion plausibilisiert werden durch den Hinweis auf das Aufführungskriterium und damit auf das intendierte Endmedium Bühne, welches mit gleichzeitigen und unvermittelt für sich stehenden Zeichen vom Zeichen⁶⁰¹ arbeitet und im Dramentext als Bühnendiegese entwickelt wird. Ich ziehe noch ein Beispiel einer Szenenbeschreibung aus dem in dieser Hinsicht häufig als episch – verstanden als narrativ im engen Sinne – bezeichnetem Naturalismus heran: Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889).⁶⁰² erster akt Das Zimmer ist niedrig; der Fußboden mit guten Teppichen belegt. Moderner Luxus auf bäuerische Dürftigkeit gepropft. An der Wand hinter dem Eßtisch ein Gemälde, darstellend einen vierspännigen Frachtwagen, von einem Fuhrknecht in blauer Bluse geleitet. Miele, eine robuste Bauernmagd mit rotem, etwas stumpfsinnigen Gesicht; sie öffnet die Mitteltür und läßt Alfred Loth eintreten. Loth ist mittelgroß, breitschultrig, untersetzt, in seinen Bewegungen bestimmt, doch ein wenig ungelenk; er hat blondes Haar, blaue Augen und ein dünnes, lichtblondes Schnurrbärtchen, sein ganzes Gesicht ist knochig und hat einen gleichmäßigen ernsten Ausdruck. Er ist ordentlich, jedoch nichts weniger als modern gekleidet. Sommerpaletot, Umhängetäschchen, Stock.⁶⁰³

599 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 112. 600 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 51. 601 Vgl. Fischer-Lichte: Das System der theatralischen Zeichen (2007), S. 19. 602 Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama, Berlin: Ullstein, 38 2005. 603 Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (2005), S. 7.

3.9 Zusammenfassung des Kapitels | 191

Die Angabe »erster akt«⁶⁰⁴ erfüllt eine strukturierende Funktion. Einerseits wird mit der Bezeichnung ›Akt‹ auf eine textinterne Strukturierung und andererseits auf den fiktiven Theaterraum verwiesen. Die durch den Text aufgebaute Diegese wird damit an einen Theaterraum gebunden und der Nebentext verweist indirekt auf einen Bühnenraum. Deshalb kann diese Passage als ineinander verschränkte Beschreibung eines Bühnenbilds, der darin auftretenden und bereits auf der Bühne befindlichen Personen und deren Handlungen gelesen und interpretiert werden. Die Gegenstände und Ereignisse sind nicht weiter kommentiert und werden vielmehr nacheinander beschrieben und mimetisch abgebildet. Besonders auffällig wird dies, wenn die Beschreibung elliptische Passagen aufweist. (»Miele, eine robuste Bauernmagd mit rotem, etwas stumpfsinnigen Gesicht [. . .] Sommerpaletot, Umhängetäschchen, Stock.«⁶⁰⁵) Dies ist ein Anzeichen, dass hier – trotz des ausufernden Nebentextes – nicht das Ziel einer diegetischen Vermittlung verfolgt wird. Auf Diskursebene ist der Text damit als Manifestation einer mimetischen Schreibweise zu verstehen. Dabei übernimmt der Nebentext situierende Funktionen, wenn Zimmerausstattung, Aussehen, Kleidung, Verhalten und Proxemik der Personen beschrieben werden. Der Eintritt Loths kann auch als strukturierende Funktion verstanden werden, insofern die Situation der sich alleine auf der Bühne befindlichen Magd in eine neue Situation mit zwei Personen überführt wird und damit bei einer strengen Szenenauslegung bereits in die zweite Szene. Der Text übernimmt jedoch auch kommentierende bzw. wertende Funktionen, die als Effekte einer gleichzeitigen Anwendung mimetischer und diegetischer Darstellung gelesen werden können. Zumindest eine Formulierung ist besonders auffällig: »Moderner Luxus auf bäuerische Dürftigkeit gepfropft«.⁶⁰⁶ Wäre ausschließlich mit einer mimetischen also rein zeigenden Darstellung gearbeitet worden, hätte der Raum sogar noch detaillierter beschrieben werden müssen, damit der Rezipient bestenfalls selbst zu dieser Wertung gelangen könnte. Mit der diegetischen Darstellung wird jedoch eine bestimmte Perspektive vorgeschlagen. Während beim diegetischen Erzählen im Drama gleichsam Wertung, Kommentar und Perspektive durch einen Vermittler dem Rezipienten eher vorgegeben scheinen, ist der Rezipient, konfrontiert mit einer mimetischen Darstellung, in seiner Perspektive und vor allem in der Wertung eher frei. Da hier scheinbar eine wertende Perspektive vorliegt, ist diese Passage als Nebentext mit kommentierender Funktion zu bezeichnen und letztlich eine diegetische Darstellung. Allerdings gilt dies nur für die auffällige Formulierung. Bei dieser längeren sequentiellen Beschreibung ist ferner gut zu erkennen, dass auch bei Deskriptionen immer eine Perspektivenführung vorliegt, die auf den subjektiven Blickwinkel einer mittelnden dramatischen Instanz zurückzuführen ist. An dieser Stelle, da zuerst die Teppiche und das Gemälde Erwähnung finden und erst

604 Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (2005), S. 7. 605 Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (2005), S. 7. 606 Hervorhebung von A.W. Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (2005), S. 7.

192 | 3 Drama und Narratologie dann die Bauernmagd, welche zudem mit deutlich weniger Worten beschrieben wird als der eintretende Loth, wird dies besonders deutlich. Diese Perspektivenführung ist aber in weiten Teilen auf das indirekte Vermittlungsmedium Sprache zurückzuführen, bildet gleichzeitig den Ereignisverlauf ab und läuft vom Hintergrund zum Vordergrund. Zuerst wird anhand des Nebentextes das Bühnenbild beschrieben, danach setzt die Ereigniskette ein: Miele öffnet die Mitteltür. Loth betritt den Raum.⁶⁰⁷ Bei einem Satz wie »An der Wand hinter dem Eßtisch [hängt] ein Gemälde, darstellend einen vierspännigen Frachtwagen, von einem Fuhrknecht in blauer Bluse geleitet.«⁶⁰⁸ kann eine mimetische Darstellung angenommen werden. Die sprachlichen Zeichen verweisen auf das im Bühnenraum hängende Gemälde, welches eine ländliche Szene zeigt. So kann ein im Präsens gehaltener Nebentext, der situierende Funktion übernimmt, als die ›mimetischste‹ Möglichkeit innerhalb eines Dramas angesehen werden, um auf das Bühnenbild der Bühnendiegese und damit aber gleichzeitig auch auf den Raum in der freien Diegese unmittelbar zu verweisen. Wichtig ist, dass auch bei einer anzunehmenden Wertung bzw. generell einer diegetischen Darstellung im Dramentext das Objekt, auf das referiert wird, unmittelbar bleibt. Dies ist bezogen auf den fiktiven Theaterraum dergestalt zu begreifen, dass das Objekt dort als ›Zeichen vom Zeichen‹ fungiert und gleichzeitig Zeichen (in der Bühnendiegese) aber auch Referenzobjekt (in der freien Diegese) ist. Sicherlich hat der lesende Rezipient, der durch die dramatische Instanz über den Dramentext mit einer mimetischen Darstellung auch als Zuschauer angesprochen wird, einen klaren Vorteil gegenüber einem realen Theaterbesucher. Angaben wie »Alter: Anfang Vierzig«⁶⁰⁹ oder der Hinweis auf Loths »blaue Augen«⁶¹⁰ erreichen mit ihrem vollen Informationsgehalt unter Umständen den Besucher einer realen Aufführung nicht. Das bedeutet aber nicht, dass der Nebentext deshalb schon als diegetisch anzunehmen wäre, denn die Angaben gelangen bezogen auf die fiktive Aufführung bzw. die Bühnendiegese zu einer mimetischen Umsetzung. Insbesondere aber die diegetische Passage erreicht wohl nur bei einer äußerst werkgetreuen und gleichzeitig dem eigenen Zeitgeist bewussten Inszenierung und Aufführung den realen Zuschauer. Speziell über den Paratext mit nebentextueller Funktion wird es möglich, den Rezipienten in seiner Leserrolle mit einer diegetischen Darstellung zu erreichen. Zu den bereits angesprochenen kommentierenden Nebentexten treten beispielsweise Leseransprachen und Inhaltsangaben hinzu. Bei Christian Weises Von Tobias und der

607 Selbstverständlich ist die gesamte, hauptsächlich mimetische Szenenbeschreibung nicht nur auf einer räumlichen und zeitlichen sondern auch auf einer kulturell-gesellschaftlichen Ebene perspektiviert. Das Bühnenbild und die Auswahl der Referenzen soll ja gerade auf dasselbe verweisen wie die abschließende, eher diegetische Kommentierung. 608 Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (2005), S. 7. 609 Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (2005), S. 7. 610 Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (2005), S. 7.

3.9 Zusammenfassung des Kapitels | 193

Schwalbe (1682) findet sich – für ein Drama aus der Frühen Neuzeit nicht ungewöhnlich – vor dem Personenverzeichnis eine Inhaltsangabe des folgenden Stücks. innhalt des lustigen nachspiels. EIn vornehmer Graff begehet seinen Geburts-Tag/ so wil dessen Hoff-Rath eine Lust machen/ und lässet allenthalben den Befehl ausgehen/ wer etwan eine Comœdie fertig hätte/ der möte sich einstellen. Aber zu allem Unglück kommen ihrer zwölffe/ und wollen ihre Kunst anbringen. Wiewol einer/ der die Invention von dem alten Tobias und der Schwalbe ausgearbeitet hat/ wird am meisten beliebt; Und ob er wol seine Comœdie ziemlich schlecht ausführet/ so hat er dennoch so viel darvon/ daß ihm die Mühe belohnet wird.⁶¹¹

Der Abschnitt gibt im Präsens den Inhalt der Komödie wieder. Da er sich dadurch zwar auf die Diegese bezieht, jedoch nicht zu deren Aufbau oder zu dem der Bühnendiegese beiträgt, wird er dem nebentextuellen Paratext zugeordnet. Darüber hinaus enthält er mit den Formulierungen »zu allem Unglück«⁶¹² und »ob er wol seine Comœdie ziemlich schlecht ausführet«⁶¹³ wertende Passagen. Zudem ist das raffende und damit zwangsläufig fokussierende und strukturierende Moment der Inhaltsangabe ein Hinweis auf eine diegetische Darstellung. Gerade für einen lesenden Rezipienten⁶¹⁴ werden in dieser Inhaltsangabe die in den beiden Diegesen folgenden Ereignisse bereits in ihrem übergeordneten Sinnzusammenhang vorgestellt. Dadurch kann die Aufmerksamkeit auf bestimmte Inhalte sowie erwartbare und erklärende Ereignisse gelenkt werden: Warum ist es ein Unglück, dass zwölf Anwärter auftauchen? Warum ist das für die Feierlichkeiten angenommene Stück der Handwerker schlecht? Und warum wird deren ›schlechte‹ Komödie am Ende noch belohnt? Zusammengefasst stellt die dramatische Instanz bzw. die Erzählfunktion der Textstruktur auf der Ebene des Dramentextes dann diegetisch dar, wenn sie sich indirekt auf die Diegesen bezieht bzw. Informationen vermittelt, die nicht innerhalb derselben erscheinen oder umgesetzt werden oder dann, wenn sie kommentierend und wertend tätig wird. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sie den Paratext mit Nebentextfunktion oder den kommentierenden Nebentext verwendet. Damit setzt sie unter Umständen die gleichzeitig dargestellten Ereignisse und Strukturen in einen höheren Sinnzusammenhang. Bei einer mimetischen Darstellung setzt sie vor allem den situierenden und strukturierenden Nebentext ein und bildet eine potenziell sinnvolle Zeichenstruktur, die in der Bühnendiegese für sich selbst unvermittelt steht.

611 Christian Weise: Von Tobias und der Schwalbe, in: Christian Weise: Sämtliche Werke, Bd. 11: Lustspiele II, hrsg. v. John D. Lindberg, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 1976, S. 246–379, hier S. 252. 612 Weise: Von Tobias und der Schwalbe (1976), S. 252. 613 Weise: Von Tobias und der Schwalbe (1976), S. 252. 614 Ich sehe hier von einer Übernahme der Periochen als Paratexte in den Dramendruck ab und gehe davon aus, dass die Inhaltsangaben einem Zuschauer in den meisten Fällen nicht zur Verfügung stehen.

4 Episierung im Drama 4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung Mit einem Überblick zur bisherigen Forschung zur Episierung aus Sicht der Dramentheorie werden jetzt insbesondere die unterschiedlichen Dimensionen und Implikationen des Begriffes ›Episierung‹ und des Begriffes ›episch‹ anhand der Forschung zum epischen Theater und anhand dreier Ansätze nachvollziehbar gemacht. Ich werde erstens die Verbindungen und Zuschreibungen von ›episch‹ und ›Episierung‹ mit dem epischen Theater diskutieren (vgl. Kapitel 4.1.1). Zweitens stelle ich mit Peter Szondi, Bernhard Asmuth und Manfred Pfister drei Episierungsmodelle vor (vgl. die Kapitel 4.1.2, 4.1.3 und 4.1.4). Des Weiteren erkläre ich drittens die Problemlage, die sich aus diesen Ansätzen ergibt (vgl. Kapitel 4.2). Anschließend stelle ich viertens ein Modell der Episierung und damit eine Lösungsstrategie vor, die auf den Ergebnissen zur Narratologie des Dramas aufbaut (vgl. Kapitel 4.3). Nach Martínez ist unter dem Begriff ›Episierung‹ Folgendes zu verstehen: »Durch den Vorgang der ›Episierung‹ erhält ein Text Merkmale des Epischen«.¹ Gemeinsam ist dabei allen bisherigen Ansätzen, dass Episierung von Gegensätzen der Begriffe ›episch‹ und ›dramatisch‹ aus gedacht wird. Sie stehen dabei immer in engem Zusammenhang zu einer Gattungstheorie wie auch zum Begriff des Narrativen. Nähert man sich dem theoretischen Komplex der Episierung im Drama, so stellt man schnell fest, dass dazu verschiedene Ansätze in der Forschung existieren: Neben einer speziell aus dem epischen Theater entwickelten Theorie der Episierung, stehen solche, mit denen versucht wird, die Anwendung des Konzepts der Episierung und die damit verbundenen Verfahren, auf die gesamte Gattung Drama anwendbar zu machen und nicht nur in der Hauptsache auf das Genre des epischen Theaters. Als eine Grundannahme dieser Ansätze gilt, dass das epische Theater nur eine Sonderform episierter Dramen darstellt und die Möglichkeit sowie die konkrete Anwendung epischer Verfahren in Dramentexten generell gegeben ist.² In diesem Zusammenhang wird versucht, das Epische bezogen auf das Drama bzw. das Theater von Funktionen freizustellen, die ihm durch die Engführung mit dem epischen Theater zugeschrieben wurden. Die Episierung wird dabei als ein generell mögliches künstlerisches Verfahren in Dramen betrachtet. Da allerdings auch bei diesen Ansätzen zuerst vom epischen Theater ausgegangen wird, bleiben die Phänomene, wenn auch nicht mehr mit einer didaktischen und verfremdenden, so immer noch mit einer, im ästhetisch positiven Sinne, ›störenden‹ Funktion verbunden. Denn bei der Episierung wird eine Normalität des Dramas durchbrochen, nach der im Drama gemeinhin nicht erzählt wird. Dies hängt

1 Matías Martínez: Art. ›Episch‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Klaus Weimar u. a., Bd. 1, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 1997, S. 465–468, hier S. 466. 2 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 103 f. DOI 10.1515/9783110488159-004

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 195

mit einem weiteren Nachteil dieser Ansätze zusammen: Es werden teilweise Formen und Funktionen des Epischen mit Formen und Funktionen des Narrativen gleichgesetzt. Sie sind deshalb nicht immer eindeutig voneinander zu trennen. Letzteres ist gerade dem narratologischen und gattungstheoretischen Umfeld geschuldet, in denen diese Ansätze entstanden sind. Es wird noch von einer klaren Trennung zwischen Epik bzw. Erzähltexten und dem Drama, das dann vor allem als Aufführung verstanden ist, ausgegangen und schon deshalb Erzählendes im Drama als Besonderheit betrachtet, die mit ›episch‹ zwar einen passenden aber aus Sicht der postklassischen Narratologie einen heiklen Begriff gefunden hat. Denn erstens ist ›narrativ‹ (im engen Sinne) offenbar ein Synonym und zweitens wird jetzt das Drama generell als narrativ (im weiten Sinne) betrachtet. Im alleinigen Bezug auf ›episch‹ lassen sich von Anfang an zu differenzierende Verwendungsweisen angeben.³ Zum einen ist da der klassifikatorisch-disjunkte Gebrauch, um einen Text neben Lyrik und Dramatik der dritten grundlegenden Gattung der Epik zuzuordnen. Die Aussage ›Thomas Manns Zauberberg ist episch‹ wird demnach im Sinne von ›Thomas Manns Zauberberg gehört zur Gattung Epik‹ verstanden. Eine andere klassifikatorische Variante ist die damit geleistete Zuordnung zum speziellen Genre Epos.⁴ Zum anderen gibt es die typologisch-komparative Verwendung des Begriffs zur Bezeichnung, Markierung und Unterscheidung stilistischer Elemente in Texten. Die Aussagen ›Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang ist episch‹, oder ›Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang enthält epische Verfahren‹, weisen darauf hin, dass gewisse Stilmittel oder stilistische Auffälligkeiten dieses Textes im Hinblick auf ihre Form oder ihre Funktion der Epik zugeordnet werden können. Als stilistische Phänomene werden im Allgemeinen epische Breite bzw. eine große Ausführlichkeit und Selbstständigkeit von einzelnen Teilen angegeben.⁵ ›Dramatisch‹ hingegen ist nach Ottmers eine »Bezeichnung für zur Gattung Drama zählender Werke oder allgemeiner für ein (Spannung hervorrufendes) Stilmerkmal mancher literarischer Texte.«⁶ Mit dem klassifikatorischen Gebrauch werden Texte der Gattung Drama zugeordnet. Als typologisch gebrauchter Begriff beziehe sich ›dramatisch‹ abgeleitet von der als unmittelbar verstandenen Rede im Drama auf unmittelbare, lebhafte und spannungserzeugende Charakteristika von Texten.⁷ Damit rekurriert der Terminus in seiner literaturwissenschaftlichen Begriffsgeschichte lange Zeit auf bestimmte poetische Verfahren, zum Beispiel die Verwendung von direkter Rede in Erzähltexten oder die Deckung von Erzählzeit und erzählter Zeit, wodurch Texte ihre

3 Vgl. im Folgenden auch Martínez: Episch (1997), S. 465. 4 Vgl. Rainer Schönhaar: Art. ›Episch‹, in: Metzler-Literatur-Lexikon, hrsg. v. Günther u. Irmgard Schweikle, Stuttgart: J. B. Metzler, 2 1990, S. 130, hier S. 130. 5 Vgl. Martínez: Episch (1997), S. 465; vgl. Schönhaar: Episch (1990), S. 130. 6 Martin Ottmers: Art. ›Dramatisch‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Klaus Weimar u. a., Bd. 1, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 1997, S. 397–399, hier S. 397. 7 Vgl. Ottmers: Dramatisch (1997), S. 397.

196 | 4 Episierung im Drama dramatische Wirkung erhalten.⁸ Noch genauer wird unter einem dramatischen Stil Konfliktgebundenheit, innere Stimmigkeit, Funktionalität der Einzelteile und Finalität des Gesamtzusammenhangs verstanden.⁹ Es ergeben sich durch die verschiedenen Extensionen, die die Begriffe ›episch‹ und ›dramatisch‹ über ihre Begriffsgeschichte hinweg besitzen, mehrere Oppositionspaare und daraus abgeleitet wiederum unterschiedliche Episierungstendenzen und Funktionen. Gängige und auch hier besprochene Gegensatzpaare sind breit vs. konzentriert, offen vs. geschlossen, teleologisch vs. final, überblickend vs. spannend, erzählend vs. darstellend, berichtend vs. zeigend oder mittelbar vs. unmittelbar. Diese Merkmale und Eigenschaften des Epischen, die in der älteren Forschung als Teil der Beschreibungssprache verwendet wurden, zeigen bis heute normative Kraft. Am auffälligsten zeigen sie sich in der strikten Trennung von darstellender und erzählender Kunst und im Begründungszwang, der sich eine Narratologie des Dramas gegenübersieht. Zu epischen Anteilen und vermittelnden Kommunikationsinstanzen in Dramen werden allgemein beispielsweise Regie- oder Erzählerfiguren, Botenberichte, Chöre, Songs im epischen Theater, Publikumsanreden (ad spectatores), Beiseite-Sprechen, Prologe, Epiloge oder Rahmenhandlungen, Verfremdungen, der Aufbau aus Episoden oder Ähnliches gezählt. Weisen Dramen derartige Phänomene auf, werden sie als episiert betrachtet. Die Episierung kann sich aber nicht nur über konkret in der Zeichenstruktur verankerte Anteile wie eben den Einbau vermittelnder Kommunikationsinstanzen zeigen, sondern auch durch bestimmte Tendenzen oder Funktionen, für die die Episierung eingesetzt werde. Demnach zeigt sich Episierung nach Martínez beispielsweise »durch die Aufhebung eines finalen Spannungsbogens [. . .] durch die Vermeidung dramatischer Konzentration [. . .] oder durch den Einbau vermittelnder Kommunikationsinstanzen«.¹⁰

4.1.1 Episierung und episches Theater Das Dramengenre episches Theater ist als ›Allgemeinplatz‹ des Phänomens Episierung zu begreifen. Wird von Episierung im Zusammenhang mit dem Drama gesprochen, werden normalerweise reflexartig das epische Theater und die poetologischen Überlegungen Brechts assoziiert, wie sie in die literaturwissenschaftlichen Dramentheorien seit Brecht Eingang gefunden haben. Die Beziehungen zwischen einer Episierung im Drama, den epischen Verfahren auf der einen Seite und dem epischen Theater Brechts auf der anderen Seite liegen auf der Begriffsebene und aufgrund der Assoziation sicherlich nahe. Wo bestehen aber auf theoretischer und analytischer Ebene die Verbindungen zwischen dem Phänomen

8 Vgl. Ottmers: Dramatisch (1997), S. 398. 9 Vgl. Ottmers: Dramatisch (1997), S. 398. 10 Martínez: Episch (1997), S. 466.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 197

der Episierung im Allgemeinen und dem epischen Theater Brechts im Besonderen? Welcher Art sind die eingesetzten Verfahren? Ist es für ein übergeordnetes Modell der Episierung zielführend, diese Verfahren in Brechts epischem Theater auch mit Blick auf eine um Konsistenz bemühte Revision erzähl- und dramentheoretischer Modelle unter dem Begriff ›episch‹ zu subsumieren? Und ist eine Unterscheidung zwischen dem epischen Theater als Dramengenre und dem epischen Theater als dramentheoretischem Modell nötig? Um Fragen wie diese angemessen beantworten zu können, gilt es zu untersuchen, welches Ziel Brecht mit seinem Theater und Dramen verfolgt, was zentrale Thesen und Modelle Brechts sind und wie diese in allgemein dramentheoretische Begrifflichkeiten durch die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem epischen Theater übernommen wurden. Brecht verfolgt mit seiner Theaterpraxis sowie mit seiner zugrunde gelegten Poetologie, verschiedene Ziele: Er macht auf die Notwendigkeit der Didaxe bzw. des prodesse in der Kunst aufmerksam und verweist dabei gleichzeitig auf einen, damit zusammenhängenden, notwendig heteronomen Charakter der Kunst, den diese wieder einnehmen sollte.¹¹ Brecht arbeitet auf eine Neukonstituierung der Kunst und vor allem des Theaters als heteronomen und damit gesellschaftlich relevanten Teil in einem wissenschaftlichen Zeitalter hin. Zugrunde liegt eine dezidierte Wirkungsästhetik.¹²

11 Vgl. dazu die Folgenden Zitate Brechts, die dessen Einschätzung des Kunst- und Theaterbetriebs illustrieren: »Sie [die Stücke von Georg Kaiser, A.W.] regen den Nachahmungstrieb an oder vermitteln gewisse (oder vielmehr ungewisse) Kenntnisse praktischer Art oder Erkenntnisse. Handelt es sich um das letztere, dann sind diese Erkenntnisse nur lohnend, wenn sie dem Zuschauer eingeimpft werden.« Bertolt Brecht: Über das Unterhaltungsdrama, in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Schriften 1, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 47–48, hier S. 47 f.; bei der epischen Form würden die »Empfindungen [. . .] bis zu Erkenntnissen getrieben«. Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«. [1930], in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 24: Schriften 4, Texte zu Stücken, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 74–86, hier S. 78; »Der Trennung von Vernunft und Gefühl macht sich das durchschnittliche Theater schuldig, indem es die Vernunft praktisch ausmerzt. Seine Verfechter schreien beim geringsten Versuch, etwas Vernunft in die Theaterpraxis zu bringen, man wolle die Gefühle ausrotten.« Bertolt Brecht: Kleine Liste der beliebtesten, landläufigsten und banalsten Irrtümer über das epische Theater, in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.1: Schriften 2, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 315–316, hier S. 315 f.; »Wenn wir nun das Theater unserer Zeit betrachten, so werden wir finden, daß die beiden konstituierenden Elemente des Dramas und des Theaters, Unterhaltung und Belehrung, mehr und mehr in einen scharfen Konflikt geraten sind. Es besteht heute da ein Gegensatz.« Bertolt Brecht: Über experimentelles Theater, in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.1: Schriften 2, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 540–557, hier S. 546. 12 Dies soll nicht Brechts Syntheseversuche des prodesse und delectare vernachlässigen, die sich in seinen Schriften ab Vergnügungstheater oder Lehrtheater erkennen lassen Vgl. Jörg Wilhelm Joost: Zum Theater, in: Brecht Handbuch. Schriften, Journale, Briefe, hrsg. v. Jan Knopf, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2003, S. 172–188, hier S. 175; vgl. auch Joost: Zum Theater (2003), S. 181; und vgl. Brecht selbst in Brecht: Über experimentelles Theater (1993).

198 | 4 Episierung im Drama Dieser wird ein gesellschaftlicher Nutzen des Theaters zugeschrieben, der für Brecht in der deutschen Theaterlandschaft des 19. Jahrhunderts und der zeitgenössischen Theaterproduktion nicht erfüllt wird. In Über die Zukunft des Theaters sieht er die Theaterstätten zu »einem Puff für die Befriedigung von Huren«¹³ verkommen und spielt zum einen auf die Anbiederung der Kunst an die Bedürfnisse und Erwartungen des Publikums sowie zum anderen auf die gleichzeitig stattfindende ökonomische Vereinnahmung des Theaterbetriebs an.¹⁴ Diese Theaterproduktion, die ihren Fokus auf Illusion, Suggestion, Erlebnischarakter und Emotionen legt, lasse einen reflektierenden, rationalistischen und bildenden Charakter von Kunst, Literatur und Theater im wissenschaftlichen Zeitalter um und ab 1900 vermissen.¹⁵ Die Zielsetzung Brechts, die Verhältnisse im Theater zu ändern, unterstreicht Klaus-Dieter Krabiel im Brecht Handbuch: Mit seiner Kritik [am zeitgenössischen Theater] stand [Brecht] nicht allein, die Krisenhaftigkeit des Theaterbetriebs war ein Lieblingsthema des Feuilletons. Doch die Vorschläge, die er seit 1925/26 zu entwickeln begann, zeigen eine durchaus persönliche Handschrift.¹⁶

In diesem nicht mehr zu ignorierenden Missverhältnis zwischen Kunst und gesellschaftlicher Wirklichkeit zeigen sich die negativen Veränderungen der Funktion des Theaters im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und darin lässt sich auch der Antrieb für Brechts Reformarbeit erkennen. Von einem aus der Aufklärung stammenden didaktischen und ästhetischen Impetus hat sich das Theater jener Zeit nicht nur historisch

13 Bertolt Brecht: Über die Zukunft des Theaters, in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Schriften 1, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 98–99, hier S. 99. 14 Vgl. Joost: Zum Theater (2003), S. 19 f.; vgl. Brecht: Über die Zukunft des Theaters (1992). 15 Brecht findet auch für diese Zusammenhänge deutliche Worte. Vgl. dazu beispielsweise »Es gibt kein Großstadttheater. Alle Aufführungen haben den Charakter von Provinztheateraufführungen. Man kann die neuen Sachen nicht spielen, wie man Shakespeare spielt und nicht spielen kann. Man hat uns oft genug gesagt, daß den Leuten die Aufführungen nicht gefallen haben. Man hat uns aber nicht sagen hören, daß sie uns auch nicht gefallen haben. Das Theater hat die große Chance, die es gehabt hat, aus unseren Stücken einen neuen Stil für ihr gewohntes klassisches Repertoire zu finden, nicht benutzt.« Bertolt Brecht: [Es gibt kein Großstadttheater], in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Schriften 1, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 134–135, hier S. 134 f.; »Man sieht, wie hartnäckig das bürgerliche Publikum auf der prompten Befriedigung ideologischer und nervenmäßiger Bedürfnisse im Theater besteht. Kommt das Theater seiner festgelegten Funktion nicht oder mangelhaft nach, dann hat es eben versagt, ist zu dürftig, ist primitiv.« Bertolt Brecht: Zu »Die Mutter«, in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 24: Schriften 4, Texte zu Stücken, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 110–200, hier S. 125; Vgl. dazu auch Klaus-Dieter Krabiel: Zum Theater, in: Brecht Handbuch. Schriften, Journale, Briefe, hrsg. v. Jan Knopf, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2003, S. 34–46, hier S. 34, 37–40. 16 Krabiel: Zum Theater (2003), S. 35.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 199

weit entfernt. Brecht führt diesen Zustand gerade auch auf wirtschaftliche Erwägungen und Notwendigkeiten der Theater zurück.¹⁷ Er erkennt in der Glättung der Realität auf dem Theater und dessen gleichzeitiger Illusionsbildung, die auf Einfühlung beruht, den unbedingt zu ändernden Nukleus bzw. das Ziel seiner Theaterreform. Steve Giles leitet aus Brechts Dialog über die Schauspielkunst vom 17. Februar 1929 dessen These ab, dass in »einem wissenschaftlichen Zeitalter [. . .] Einfühlung durch auf empirischer Beobachtung beruhendes objektives Verstehen ersetzt werden«¹⁸ müsse. Brechts Reformarbeit zielte darauf ab, mit neuen, besser vielleicht ungewohnten Verfahren und Techniken, den von ihm diagnostizierten Wandel der Gesellschaft zu begleiten und gleichzeitig voranzutreiben. Die Zusammenhänge dieser Zielsetzung mit dem Epischen als literarischem Verfahren lassen sich ausgehend von Brechts Begriffsbildung näher beschreiben. 1930 formulierte Brecht in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny: »»Mahagonny« ist nichts anderes als eine Oper. – Aber Neuerungen! Die Oper war auf den technischen Standard des modernen Theaters zu bringen. Das moderne Theater ist das epische Theater.«¹⁹ Den Begriff ›episches Theater‹ bzw. ›episches Drama‹ verwendet Brecht schon relativ früh. In einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1926 führt Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann eine Verwendung des Begriffes ›episches Drama‹ im Zusammenhang mit dessen Arbeiten zu Joe Fleischhacker an.²⁰ Ebenfalls 1926 äußerte Brecht in einem Interview mit Bernard Guillemin für die Literarische Welt: »Ich bin für das epische Theater!«²¹ In seinen Schriften taucht die Bezeichnung erstmals in Tendenz der Volksbühne: Reine Kunst von 1927 in Bezug auf Erwin Piscators Form des politischen Theaters auf. Wenn auch nicht davon auszugehen ist, dass Brecht den Begriff erfunden hat – der Begriff selbst wird als Genrebezeichnung bereits vor Brecht in Untertiteln verschiedener Stücke verwendet²² – so nutzte er die Bezeichnung ›episches Theater‹ als ›Produktname‹ und Genrename für die sich von ihm vorgestellte Form eines Theaters des ›wissenschaftlichen Zeitalters‹. Brechts vehemente Positionierung gegen ein aus seiner Sicht marodes Theater sowie seine ›marketingtechnisch‹ ausgereifte, Besserung versprechende Produktsetzung wirken sich in der Folge offenbar auf dramentheoretische Arbeiten der Literaturwis17 Vgl. Joost: Zum Theater (2003), S. 184. 18 Steve Giles: Dialog über Schauspielkunst, in: Brecht Handbuch. Schriften, Journale, Briefe, hrsg. v. Jan Knopf, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2003, S. 46–48, hier S. 47. 19 Auf das obige Zitat folgt Brechts berühmte Gegenüberstellung der dramatischen und epischen Form des Theaters. Brecht: Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (1991), S. 78. 20 Vgl. Werner Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater. Beitrag zur Entwicklung des epischen Theaters. 1918 bis 1933, Berlin: Henschelverlag, 1962, S. 56, 77; vgl. Klaus-Detlef Müller: Art. ›Episches Theater‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Klaus Weimar u. a., Bd. 1, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 1997, S. 468–471, hier S. 469. 21 zitiert nach Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater (1962), S. 56. 22 Vgl. Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater (1962), S. 56 f.

200 | 4 Episierung im Drama senschaft aus, die Brechts durchaus strategischem Schreiben scheinbar unkritisch folgen. Werner Hecht beispielsweise konstatiert, dass »eine Gattungsbezeichnung [. . .] verwendet [wurde], um ein in Form und Inhalt neues literarisches Produkt zu benennen«.²³ Mit episches Theater hat Brecht ein auffallendes Etikett entworfen, das später auch als Fachterminus für ein historisches Dramengenre übernommen wird. Brechts Theater wird als eine grundlegende Neuerung innerhalb der dramatischen Literatur betrachtet. Hecht schreibt auch vom »neue[n] Drama«,²⁴ dass sich mit seinen Inhalten und insbesondere seiner Form gegen das ›klassische Drama‹ stellte.²⁵ Angeblich schuf Lion Feuchtwanger 1926 den modernen Mythos, Brecht sei der Erfinder des epischen Theaters.²⁶ Dass dieser Mythos der Erfindung sowie die meisterhafte Produktsetzung den Effekt haben, epische Verfahren und Techniken im Drama als Novum erscheinen zu lassen und sich auf die wissenschaftliche Behandlung des epischen Theaters auswirken, kann in dem die Diskussion bis 1966 zusammenfassenden Sammelband Episches Theater²⁷ von Reinhold Grimm beobachtet werden. Andrzej Wirth kategorisiert das epische Theater als eine »szenische Erzählung«²⁸ und ist sogar versucht, es als eine vierte literarische Textklasse neben Epik, Lyrik und Drama zu setzen.²⁹ Wenn Hecht im Bezug auf das epische Theater vom »neue[n] Drama«³⁰ spricht, scheint er im Sinne Szondis³¹ eine Kehrtwende in der Dramengeschichte markieren zu wollen: Der Moment, in dem sich nicht einfach ein neues Dramengenre neben vielen entwickelt hat – immerhin war Brechts Theaterkonzept nur ein Teil einer Avantgardebewegung um die Jahrhundertwende und in der klassischen Moderne –, sondern das moderne Drama als eine neue Gattung. Diese findet gleichberechtigt und als Negation des ›klassischen Dramas‹ neben Epik, Lyrik und Dramatik ihren Platz und lässt die ›alte‹ Dramatik hinter sich. Darin werden für das Theater und für das Drama neue Darstellungsverfahren aufgegriffen, entwickelt und inkorporiert. Joachim Müller erkennt dementsprechend im Brecht’schen Drama eine »dialektische Verbindung«³²

23 Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater (1962), S. 97. 24 Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater (1962), S. 95. 25 Vgl. Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater (1962), S. 95. 26 Ulrich Weisstein: Vom dramatischen Roman zum epischen Theater. Eine Untersuchung der zeitgenössischen Voraussetzungen für Brechts Theorie und Praxis, in: Episches Theater, hrsg. v. Reinhold Grimm (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 15), Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1966, S. 36–49, hier S. 46. 27 Hier hatte auch der oben zitierte Werner Hecht seine Monographie von 1962 in gekürzter Form als Aufsatz neu eingebracht. Grimm (Hrsg.): Episches Theater (1966). 28 Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 222. 29 Vgl. Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 222. 30 Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater (1962), S. 95. 31 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), vgl. auch Kapitel 4.1.2 ab Seite 214. 32 Joachim Müller: Dramatisches, episches und dialektisches Theater, in: Episches Theater, hrsg. v. Reinhold Grimm (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 15), Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1966, S. 154–196, hier S. 189.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung |

201

des »dramatisch agierende[n]«³³ und des »episch referierend-demonstrierende[n]«³⁴ Theaters. Die vermeintlich epische Komponente führt ihn sogar zur Frage, »wieweit [Brechts] episches Theater dennoch dramatische Dichtung ist«.³⁵ Ein Grund für diese Einschätzung wird noch im 2006 erschienenen Brecht Lexikon angeführt: Episches Theater ist gemäß »der klassischen Unterscheidung der drei »Naturformen« der Dichtung eine contradictio in adiecto, da das Theater bereits nach Aristoteles nicht erzählend (episch), sondern Handlung vorführend (dramatisch) zu sein hat«.³⁶ Dies ist eine Distinktion, die die Begriffe in die Nähe einer ›neo-platonischen‹ Diskussion der Narratologie um den Gegensatz von mimetisch und diegetisch rückt (vgl. Kapitel 3.6.3 ab Seite 149) und episch als synonym zu erzählend/narrativ betrachtet. Der Brecht’sche Mythos vom grundlegend Anderen und Neuen sowie von der Auflösung einer scheinbar absolut verstandenen dramatischen Form des Dramas ist im Sammelband Episches Theater von 1966 präsent und mag nicht weiter verwunderlich sein. Er wird allerdings noch 2006 im Brecht Lexikon weiterhin vertreten.³⁷ Naturalistische Dramen mit ihren ebenfalls dem Epischen zugeordneten Phänomenen verschwanden sogar für die Literaturwissenschaft im Schatten des epischen Theaters. Dem Epischen, das in diesem Zusammenhang hauptsächlich etwa über eine epische Breite und Erzählerbericht definiert wurde, wurde eine neue Wirkungsabsicht und eine Vielzahl neuer Verfahren zugeordnet. Brecht selbst leistete dazu indirekt seinen Beitrag, wenn er Arbeiten der Naturalisten, gerade auch in Bezug auf die Wirkungsabsicht, abwertete und als nicht zielführend für eine zeitgenössische Theaterästhetik einstufte.³⁸ Der Naturalismus offenbart schon in seinem Namen seine naiven, verbrecherischen Instinkte. Das Wort Naturalismus ist selber schon ein Verbrechen, die bei uns bestehenden Verhältnisse zwischen den Menschen als natürliche hinzustellen, wobei der Mensch ein Stück Natur, also als unfähig, diese Verhältnisse zu ändern, betrachtet wird, ist eben verbrecherisch.³⁹

Gleichwohl sah er den Naturalismus wie auch das Theater Piscators anfangs noch als die Wegbereiter und Vorreiter für seine neue, epische Theaterform an.⁴⁰ Auch sie

33 Müller: Dramatisches, episches und dialektisches Theater (1966), S. 189. 34 Müller: Dramatisches, episches und dialektisches Theater (1966), S. 189. 35 Müller: Dramatisches, episches und dialektisches Theater (1966), S. 176. 36 Anya Feddersen: Art. ›Episches Theater‹, in: Brecht Lexikon, hrsg. v. Ana Kugli/Michael Opitz, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2006, S. 102–104, hier S. 102. 37 Vgl. Kugli/Opitz (Hrsg.): Brecht Lexikon (2006), S. 102. 38 Vgl. Joost: Zum Theater (2003), S. 176 f. 39 Bertolt Brecht: Über die Verwertung der theatralischen Grundelemente, in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Schriften 1, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 232, hier S. 232. 40 Vgl. Bertolt Brecht: [Neue Dramatik], in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Schriften 1, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 270–277; vgl. Krabiel: Zum Theater (2003), S. 39, 43.

202 | 4 Episierung im Drama stellten sich ebenso gegen die zeitgenössische Dramenproduktion und waren wie Brechts Dramen aus dem Rationalismus des empiristisch-positivistischen Zeitalters entstanden. Gleichzeitig wurde implizit von der Literaturwissenschaft die Tatsache marginalisiert, dass in Dramen schon immer solcherlei epische Verfahren zum Einsatz kommen. So und mit der Einschätzung von Brechts Theater- bzw. Dramentechnik als nie dagewesener Neuerung lässt sich erklären, dass bis heute diese Beobachtung besonders betont wird.⁴¹ Unstrittig scheint mir in diesen Zusammenhängen die Einschätzung, dass sich die Funktion der epischen Elemente im epischen Theater grundlegend von der als illusionsfördernd eingestuften Funktion im Naturalismus und anderen historischen Manifestationen unterscheidet. Bei alledem stellt sich für eine literaturwissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung meines Erachtens jedoch ein Problem: Brecht räumt später ein, dass er mit dem Begriff ›episches Theater‹ eher unzufrieden ist. Seine mit der Zeit immer stärker hervortretende Skepsis gegenüber seiner Namenswahl mag darauf hinweisen, dass Brecht primär den gesellschaftsverändernden Zweck bzw. das Ziel seiner Dramatik sowie mithilfe der Aufmerksamkeitskomponente die Positionierung auf dem künstlerischen Markt im Blick hatte, als eine literatur- oder auch theatertheoretisch adäquate Bezeichnung seiner Verfahren mit dem Begriff ›episch‹ zu liefern: Wenn jetzt der Begriff »episches Theater« aufgegeben wird, so nicht der Schritt zum bewußten Erleben, den es nach wie vor ermöglicht. Sondern es ist der Begriff nur zu ärmlich und vage für das gemeinte Theater; es braucht genauere Bestimmungen und muß mehr leisten. Außerdem stand es zu unbewegt gegen den Begriff des Dramatischen, setzte ihn oft allzu naiv einfach voraus, etwa in dem Sinn: »selbstverständlich« handelt es sich immer auch um direkt sich abspielende Vorgänge mit allen Merkmalen oder vielen Merkmalen des Momentanen!⁴²

Skeptisch äußert sich Brecht⁴³ zudem in den Schriften Notizen über die Dialektik im Theater und Vom epischen zum dialektischen Theater von 1954/55. Dort nennt er seine Theater- und Dramenform jetzt ›dialektisches Theater‹, »das zumindest dadurch neu ist, daß es Züge bisherigen Theaters – die dialektischen – bewußt ausbildet und vergnüglich macht. Von dieser Besonderheit her erscheint die Bezeichnung »episches Theater« als ganz allgemein und unbestimmt, fast formal.«⁴⁴

41 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 103 f.; vgl. Feddersen: Art. ›Episches Theater‹ (2006), S. 104. 42 Bertolt Brecht: [Nachträge zum »Kleinen Organon« ], in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23: Schriften 3, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 289–291, hier S. 289. 43 Vgl. auch Siegfried Mews: Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, in: Brecht Handbuch. Schriften, Journale, Briefe, hrsg. v. Jan Knopf, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2003, S. 48–57, hier S. 56. 44 Bertolt Brecht: [Vom epischen zum dialektischen Theater 2], in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23: Schriften 3, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 300–302, hier S. 301.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung |

203

Neben »allgemein« und »unbestimmt« gibt der Zusatz »fast formal« nochmals den Hinweis auf eine Zielrichtung bzw. Produktsetzung und Wirkungsästhetik aber weniger auf eine epische Verfahrensgebundenheit, die mit der Begrifflichkeit ausgedrückt werden sollte. Damit wird die prinzipielle Anwendung epischer Verfahren nicht negiert.⁴⁵ Der Zweck des Brecht’schen Theaters liegt jedoch im Aufzeigen und Darstellen von Widersprüchen, mit einer intendierten Veränderung der Haltung des Zuschauers zum dargestellten Stoff – bestenfalls wird dies auch im eigenen Leben umgesetzt – sowie in einer didaktisch-marxistischen Zielrichtung.⁴⁶ Dies kann mit dem Begriff ›dialektisch‹ im weiten Sinne Hegels, Marx’ und Engels’ weit besser ausgedrückt werden und Brecht verweist mithin auch auf diese dialektische Form seines Theaters bereits 1930 in Die dialektische Dramatik.⁴⁷ Während seine Begriffsfindung für eine deskriptive literaturgeschichtliche Darstellung kein Problem darstellt, ist es für die Bildung einer um Konsistenz bemühten Literatur-, Dramen- und Erzähltheorie äußerst problematisch. Die obigen Überlegungen zur dezidierten Produktsetzung, Funktion und Wirkung des Theaters nach Brecht lässt den Schluss zu, dass nicht nur epische Verfahren zum Einsatz kommen, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen, sondern auch und gerade diejenigen Verfahren, die eine Reflexionshaltung beim Rezipienten befördern und eine dialektische Form zu generieren helfen. Um eine bestimmte Wirkung zu erreichen, werden eben nicht nur solche Verfahren eingesetzt, die auch Brecht selbst als episch bezeichnen würde. Sie sind, wie auch die dramatischen, lyrischen und theaterpraktischen Verfahren – wenn man an die Verwendung von Songs, Projektionen oder die spezielle Schauspieltechnik denkt – nur Vehikel und Werkzeuge für die eigentlich intendierte Wirkungsweise der Stücke. Es ist nicht das Ziel, das Theater episch, sondern dialektisch zu gestalten: Wenn wir dies festhalten [dass das Publikum selbst zum Erzähler wird, A.W.] und nachdrücklich hinzufügen, daß das Publikum in seinem Ko-Fabulieren den Standpunkt des produktivsten, ungeduldigsten, am meisten auf glückliche Veränderungen dringenden Teils der Gesellschaft muß einnehmen können, dürfen wir nunmehr die Bezeichnung episches Theater als Bezeichnung für das gemeinte Theater aufgeben. Sie hat ihre Schuldigkeit getan, wenn das erzählerische Element, das in allem Theater steckt, gestärkt und bereichert worden ist.⁴⁸

Nicht nur distanziert sich Brecht von der Genauigkeit der Begriffsbildung, er weist überdies direkt darauf hin, dass nur bereits vorhandene dialektische und erzählerische Eigenschaften des Theaters intensiviert und hervorgehoben wurden. Mit diesem Ver-

45 Vgl. Roland Jost: Die Dialektik auf dem Theater, in: Brecht Handbuch. Schriften, Journale, Briefe, hrsg. v. Jan Knopf, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2003, S. 362–366, hier S. 362 f. 46 Vgl. Mews: Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (2003), 51, Spalte 1 f. 47 Vgl. Bertolt Brecht: Die dialektische Dramatik, in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Schriften 1, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 431–443. 48 Brecht: [Vom epischen zum dialektischen Theater 2] (1993), S. 301.

204 | 4 Episierung im Drama weis wird außer mit Bezug auf einen gattungshistorischen Gesichtspunkt die Aussage problematisch, bei Brechts Dramen handle es sich um ›Neuerungen‹.⁴⁹ Wenn ich jetzt die zur Anwendung kommenden Methoden mit Brechts Tabellen und theoretischen Überlegungen kurz nachzeichne, soll damit klar werden, dass diese Methoden nicht immer den epischem Verfahren zugeordnet werden können oder müssen. Es ist vielmehr Vorsicht angebracht, die Techniken Brechts mit der Episierung und dem Epischen als gattungsübergreifendem Konzept zu verbinden. Denn sie wurden von der Literaturwissenschaft einerseits aufgrund ihres Auftretens im Brecht’schen epischen Theater sowie andererseits anhand Brechts poetologischen und ästhetischen Schriften, die die Darstellungsweise unter der Überschrift episch verhandelten, als Ausprägungen des Epischen eingeordnet. In seinen vielfach zitierten Tabellen stellt Brecht eine epische Form einer dramatischen Form des Theaters gegenüber. Er versteht diese tabellarischen Darstellungen nicht als die Konfrontation disjunkt gedachter Gegensätze, sondern als Akzentverschiebungen in jeweils beiden Theaterformen.⁵⁰ Er wehrt sich sogar mit einer später hinzu gesetzten Erklärung, in der er seine Sicht nochmals erklärt, gegen eine Rezeption, bei der das Epische seines Theaters als Gegensatz zum Dramatischen betrachtet wurde.⁵¹ Seine Erklärung unterstreicht auch seine spätere These von der Intensivierung bereits vorhandener Verfahren bzw. Methoden im Drama sowie die Behauptung, dass nicht alle Phänomene und Verfahren im epischen Theater dem Epischen als gattungsübergreifendem Konzept zugeordnet werden können. Eine erste Fassung findet sich in den Anmerkungen zum Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von 1930:⁵² Tab. 4.1: Erste Gegenüberstellung der epischen und dramatischen Form von 1930. Dramatische Form des Theaters

Epische Form des Theaters

handelnd

erzählend

verwickelt den Zuschauer in einer Bühnenaktion

macht den Zuschauer zum Betrachter, aber

verbraucht seine Aktivität

weckt seine Aktivität

ermöglicht ihm Gefühle

erzwingt von ihm Entscheidungen

Erlebnis

Weltbild

49 Im Überblicksband Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung aus dem Jahr 1985 wird dem Umstand dieser »begrifflich-sprachlichen Schwierigkeiten [. . .] dadurch Rechnung getragen, dass konsequent von einem ›episch-dialektischen Theater‹ gesprochen wird«. Vgl. Joost/Müller/Voges: Bertolt Brecht (1985), S. 202. 50 Vgl. Fußnote 5 in Brecht: Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (1991), S. 78. 51 Vgl. Mews: Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (2003), S. 49. 52 Vgl. Brecht: Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (1991), S. 78 f.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung |

205

Tabelle 4.1 fortgesetzt Dramatische Form des Theaters

Epische Form des Theaters

Der Zuschauer wird in etwas hineinversetzt

er wird gegenübergesetzt

Suggestion

Argument

Die Empfindungen werden konserviert

bis zu Erkenntnissen getrieben

Der Zuschauer steht mittendrin, miterlebt

Der Zuschauer steht gegenüber, studiert

Der Mensch als bekannt vorausgesetzt

Der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung

Der unveränderliche Mensch

Der veränderliche und verändernde Mensch

Spannung auf den Ausgang

Spannung auf den Gang

Eine Szene für die andere

Jede Szene für sich

Wachstum

Montage

Geschehen linear

in Kurven

evolutionäre Zwangsläufigkeit

Sprünge

Der Mensch als Fixum

Der Mensch als Prozeß

Das Denken bestimmt das Sein

Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Denken

Gefühl

Ratio

Die obige Tabelle hat Brecht in seiner Abhandlung Vergnügungstheater oder Lehrtheater von 1936 modifiziert übernommen:⁵³ Tab. 4.2: Zweite Gegenüberstellung der epischen und dramatischen Form von 1936. Dramatische Form

Epische Form

Die Bühne »verkörpert« einen Vorgang

Sie erzählt ihn

verwickelt den Zuschauer in eine Aktion

macht ihn zum Betrachter, aber

verbraucht seine Aktivität

weckt seine Aktivität

ermöglicht seine Gefühle

erzwingt von ihm Entscheidungen

vermittelt ihm Erlebnisse

vermittelt ihm Kenntnisse

Der Zuschauer wird in eine Handlung hineinversetzt

er wird ihr gegenübergesetzt

es wird mit Suggestion gearbeitet

es wird mit Argumenten gearbeitet

Die Empfindungen werden konserviert

bis zu Erkenntnissen getrieben

Der Mensch wird als bekannt vorausgesetzt

Der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung

der unveränderliche Mensch

der veränderliche und verändernde Mensch

53 Vgl. Bertolt Brecht: Vergnügungstheater oder Lehrtheater? [Februar/März 1935], in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.1: Schriften 2, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 106–116, hier S. 109 f.

206 | 4 Episierung im Drama

Tabelle 4.2 fortgesetzt Dramatische Form

Epische Form

seine Triebe

seine Beweggründe

Die Geschehnisse verlaufen linear

in »unregelmäßigen« Kurven

natura non facit saltus

facit saltus

die Welt wie sie ist

die Welt wie sie wird

Gegenüber der ersten Version seiner tabellarischen Aufstellung ist die zweite Tabelle deutlich verkürzt und mehrere Zeilen wurden zu einer zusammengefasst. Entscheidend ist, dass jetzt die in der ersten Fassung noch deutlicher hervortretenden formalen und methodischen Aspekte bis auf die unterschiedliche Präsentation der Geschehnisse getilgt sind. Übrig bleiben Funktion und Wirkung des Dargestellten und der eingesetzten Verfahren. Brechts Augenmerk liegt hier offenbar weniger auf den vermeintlich epischen Methoden und Verfahren, als vielmehr auf der Wirkung und der Funktion die das Theater bzw. das Drama als Ganzes beim Rezipienten entfalten sollte. Genauer betrachtet lassen sich Dispositionen des Darstellungsverfahrens bzw. der Darstellung (macht den Zuschauer zum Betrachter, weckt seine Aktivität, erzwingt von ihm Entscheidungen, vermittelt ihm Kenntnisse), Wirkungen des Sujets bzw. des dargestellten Inhalts (Der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung) und schließlich tatsächliche Verfahren unterscheiden. Zu diesen Verfahren können auf Seiten der ›Epischen Form des Theaters‹ vor allem die Punkte Jede Szene für sich, Montage, Geschehen in Kurven und Sprünge gezählt werden.⁵⁴ Es ist wohl auf ihre formale Nähe zurückzuführen, dass Brecht diese vier Beschreibungen in seiner neuen Tabelle auf die zwei Punkte Geschehnisse verlaufen in ›unregelmäßigen‹ Kurven und facit saltus verkürzte. Soll jede Szene für sich stehen, ist es nicht zu weit gegriffen, dies als Montagetechnik zu bezeichnen. Ebenso nahe stehen sich der Aufbau nichtlinearer Geschehensfolgen und Sprünge in der Handlung anstatt linear aufgebauter Geschehen bzw. ›evolutionärer Zwangsläufigkeiten‹. Aus den direkten Hinweisen in der Tabelle kann ein episodenhafter Handlungsverlauf als ein vermeintlich episches Verfahren der Brecht’schen Dramatik bestimmt werden. Die Einzelszenen müssen nicht, wie noch bei der engen Szenenverbindung des ›klassischen Dramas‹, kausal- und temporal aufeinanderfolgen, sondern es können durchaus Sprünge im räumlichen, zeitlichen und perspektivischen Gefüge auftreten. Ich möchte hier keine Begriffsverkürzung vornehmen. Leben des Galilei (1943) und Mutter Courage und ihre Kinder sind beispielsweise Stücke, in denen durchaus linear-

54 Einen Erzähler einzusetzen ist beispielsweise ein Verfahren. Dass die Bühne einen Vorgang erzählt, wäre eine mögliche Wirkung dieses Verfahrens und es könnten noch weitere Wirkungen daraus resultieren.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung |

207

temporale Ereignissequenzen – was nach Brechts Tabellen eher dramatisch ist – erst durch konsequent vorwärts gerichtete Zeitsprünge bzw. narratologisch gesprochen durch Ellipsen in Episoden aufgeteilt werden. Dies sind zudem Formen, die im Sinne des offenen Dramas auch in Dramen vor dem epischen Theater nicht ungewöhnlich sind. Die weitaus präsenteren Wirkungen des Darstellungsverfahrens in Brechts Tabellen können unter einer den Rezipienten vom eigentlichen Dramengeschehen distanzierenden Wirkung zusammengefasst werden. Hierin sieht auch Joachim Müller den eigentlichen Charakter des epischen Theaters: Episierung des Theaters heißt also in erste Linie Distanzierung. Anstelle einer vorwiegend emotionalen Unmittelbarkeit fordert Brecht die epische Mittelbarkeit der kritischen Distanz. Das Gebot der Distanzierung gilt für den Zuschauer ebenso wie für den Schauspieler.⁵⁵

Diese Distanzierung muss sowohl auf Seiten des Rezipienten als auch auf Seiten der Schauspieler vom eigentlichen Hauptspiel gedacht werden. Um dem Rezipienten allerdings das eigene Reflektieren zu ermöglichen, muss auch auf der zur Reflexion eingezogenen Ebene Distanz gehalten werden: also nur ein neutrales Denken Sie darüber nach! Dies ließe sich nur schwer mit einer didaktischen Zielrichtung in Einklang bringen, die auf Vermittlung von ›richtigem‹ Wissen und Verhalten ausgerichtet ist und eben nur bedingt eine individuelle Interpretation zulässt. Brecht geht es letztlich um eine Anleitung zur Veränderung des Bewusstseins des Rezipienten bezogen auf dessen soziale und gesellschaftliche Realität. Die dialektische Dramatik, die Brecht vor Augen hatte, sollte »betont episch, die Zustände in Prozesse«⁵⁶ auflösen bzw. die veränderbare Situation, den veränderbaren Menschen erkennbar machen.⁵⁷ Dies sollte vor allen Dingen durch eine Verhinderung des Einfühlens des Zuschauers gelingen. Zwar wehrt sich Brecht dagegen, das Gefühl gegen die Ratio ausspielen zu wollen,⁵⁸ jedoch steht letztere immer im Vordergrund, um gewissermaßen ›reflektierte Gefühle‹ möglich zu machen.⁵⁹ Die wichtigste Wirkung, die über ein bestimmtes Verfahren erzielt werden soll, um diese reflektierte Haltung beim Rezipienten zu ermöglichen und dialektisch betriebene Erkenntnis zu erlangen, bezeichnet Brecht als den bekannten ›V-Effekt‹ (Verfremdungseffekt). Das Dargestellte wird nicht in seinem üblichen Kontext gezeigt und erscheint so anders als gewohnt.

55 Müller: Dramatisches, episches und dialektisches Theater (1966), S. 162. 56 Brecht: Die dialektische Dramatik (1992), S. 439. 57 Vgl. Krabiel: Zum Theater (2003), S. 44 f.; vgl. Joost: Zum Theater (2003), S. 177. 58 »Der Trennung von Vernunft und Gefühl macht sich das durchschnittliche Theater schuldig, indem es die Vernunft praktisch ausmerzt. Seine Verfechter schreien beim geringsten Versuch, etwas Vernunft in die Theaterpraxis zu bringen, man wolle die Gefühle ausrotten.« Brecht: Kleine Liste der beliebtesten, landläufigsten und banalsten Irrtümer über das epische Theater (1993), S. 315 f.; vgl. Joost: Zum Theater (2003), S. 177. 59 Vgl. Mews: Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (2003), S. 56.

208 | 4 Episierung im Drama Mit Verfremdung kommt in Brechts ästhetisch poetologischen Theoriebildungen ab 1936 ein aus dem dialektischen Charakter und der Förderung einer Reflexionshaltung entstandenes weiteres Element hinzu. In Vergnügungstheater oder Lehrtheater nennt er diese Technik noch ›Entfremdung‹.⁶⁰ Von keiner Seite wurde es dem Zuschauer weiterhin ermöglicht, durch einfache Einfühlung in dramatische Personen sich kritiklos (und praktisch folgenlos) Erlebnissen hinzugeben. Die Darstellung setzte die Stoffe und Vorgänge einem Entfremdungsprozeß aus. Es war die Entfremdung, welche nötig ist, damit verstanden werden kann.⁶¹

Denn: »Bei allem »Selbstverständlichen« wird auf das Verstehen einfach verzichtet.«⁶² Das Dargestellte muss also soweit verfremdet werden, dass es nicht mehr ohne Reflexion konsumiert werden kann. Die Zuschauer sollen zum Denken angeregt werden. In Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst⁶³ beschreibt Brecht diverse Techniken des Schauspielers, die diese Effekte herbeizuführen helfen. Mit der Verfremdungstechnik und der Distanzierung geht ein besonderes Rezipientenbild einher. An den idealen Zuschauern werden erhebliche Anforderungen und Annahmen gestellt. Der moderne Zuschauer, so wurde vorausgesetzt, wünscht nicht, irgendeiner Suggestion willenlos zu erliegen und, indem er in alle möglichen Affektzustände hineingerissen wird, seinen Verstand zu verlieren. [. . .] Die Gesamtheit des Theaters muß umgestaltet werden [. . .] auch der Zuschauer wird einbezogen, seine Haltung muß geändert werden. [. . .] Jetzt kann die Forderung erhoben werden, daß der Zuschauer (als Masse) literarisiert wird, d. h., daß er eigens für den Theater»besuch« ausgebildet, informiert wird.⁶⁴

Der Verfremdungseffekt kann dabei in verschiedensten Bereichen mit unterschiedlichsten Techniken verwirklicht werden: im schauspielerischen Bereich, im Bereich des Inhalts, der Form und allgemein in der Theaterpraxis. Im Bereich der Schauspieler steht unter anderem ein betont deiktisches Spiel und ein Bruch, der durch die Distanz des Schauspielers zur dargestellten Figur erzeugt werden soll, als mögliches Verfahren im Vordergrund. Der Inhalt bzw. der dargestellte Stoff, wird durch ›Sprünge‹ und ›Kurven‹ in seinem linear aufbauenden Fluss gestört und damit verfremdet. Dies hängt eng zusammen mit den Verfahren, die sich auf der Formebene bieten: eingeschobene Songs, Zeit- und Ortssprünge oder generell ein Aufbau aus Episoden. Im Grunde sind dies alles Verfahren, die einer ideal homogenen, klassischen Dramenform entgegenstehen,

60 Vgl. Brecht: Vergnügungstheater oder Lehrtheater? (1993), S. 109. 61 Brecht: Vergnügungstheater oder Lehrtheater? (1993), S. 108 f. 62 Brecht: Vergnügungstheater oder Lehrtheater? (1993), S. 109. 63 Bertolt Brecht: Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst, in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.1: Schriften 2, hrsg. v. Werner Hecht u. a., Halbjahr 1936 [Ndr. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993], S. 200–210. 64 Brecht: Die dialektische Dramatik (1992), S. 440 f.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung |

209

die aber in anderen Genres (Epik) und Medien (Film) nur selten als Verfremdungstechnik eingesetzt werden. Wiederum ist der Übergang fließend hin zur Theaterästhetik bzw. Theaterpraxis. So kann der kontrapunktische Einsatz verschiedener Medien, wie etwa der besondere Einsatz von Projektionen, Licht, Ton, Bühnenbild oder Kostüm die jeweils notwendige Distanz und damit gegebenenfalls den Effekt Verfremdung erzeugen. Zwei prominente Verfahren, die diese verfremdende Distanzierung bewirken, sind die Verwendung von Songs und die Einbindung einer erzählerähnlichen, das Geschehen überblickenden Figur. Mit einer erzählerähnlichen Figur lässt sich auch das oben schon genannte episodenhafte Verfahren mit Vor- und Rückblicken sowie Sprüngen durch den Erzähler motiviert umsetzen. Wirth erkennt gerade in der damit geschaffenen Möglichkeit der Rückblende und Vorschau einen »weiteren Schritt auf dem Wege zur Überwindung der Begrenztheiten der Erzähltechnik des Theaters«.⁶⁵ Der Schluss, dass eine epische Mittelbarkeit – was nach meinen obigen Ausführungen besser als eine diegetische Darstellung zu begreifen ist – mit einer kritischen Distanz und damit mit einer Argumentstruktur einhergehen muss und diese unbedingt etwas mit ›Unemotionalität‹ zu tun habe, ist nicht nachvollziehbar. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass Brecht diese Ansicht selbst nicht unterstützt. Er betont, das Gefühl gerade nicht aus dem Theater verbannen zu wollen. Die Einführung einer Vermittlungsebene oder einer vermittelnden Instanz wird, versteht man es als episches Verfahren, bei Brecht häufig zu Zwecken der kritischen Distanzierung und Verhinderung emotionaler Vereinnahmung eingesetzt. Allerdings gibt es in Texten der literarischen Gattung Epik die verschiedensten Einsatzmöglichkeiten der vermittelnden Instanz Erzähler und mit diesen wird bei weitem nicht immer Distanz geschaffen. Wenn also Verfahren zur Erzeugung eines Verfremdungseffektes und Distanz das Wesen des epischen Theaters bilden, dann würden sich die epischen Verfahren und damit das Epische durch die Gegenüberstellung von Gegensätzen mit dazwischen liegenden Brüchen auszeichnen (Tilgung der Einheit von Schauspieler und Figur, zeitliche und/oder kausale Brüche zwischen den Episoden, formale Brüche zwischen gesprochenen und gesungenen Passagen usw.). Ich halte es allerdings für verfehlt, episch mit Distanzierung, Verfremdung und Bruch in Verbindung zu bringen. Gerade bei einer mit dem Epischen oft in Verbindung gebrachten Mittelbarkeit der Darstellung von Ereignissen durch eine erzählerähnliche Instanz scheint im Gegenteil gerade der Ausgleich sowie die Verhinderung von Brüchen und die Erklärung von Zusammenhängen vorherrschend. Auf der anderen Seite werden zum Erzielen eines Verfremdungseffekts einzelne Dramenelemente wie die Songs abgeschlossen und unkommentiert nebeneinander gesetzt bzw. sie stehen absolut. Dies ist einem unmittelbaren (mimetischen), zeigenden Modus äquivalent. Es scheint mir Vorsicht geboten, den vermeintlich epischen und anderen Verfahren, die dem

65 Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 219.

210 | 4 Episierung im Drama Brecht’schen Drama zugeschrieben werden können, einen Neuheitsfaktor und eine gewisse Exklusivität im deutschen und europäischen Drama zu unterstellen und sie undifferenziert mit der Episierung selbst in Verbindung zu bringen.⁶⁶ Zwar wird der Song als ein prominentes Element des epischen Theaters entgegen aller Erwartung sowohl von Wirth als auch von Erich Franzen nicht als episches Verfahren, sondern vielmehr als ein lyrischer Einschub erkannt. Dennoch überrascht Franzen, dass »die Verwendung der Lyrik als retardierendes und zugleich verdichtendes Moment der Handlung das wichtigste Kennzeichen des epischen Theaters, wie Brecht es geschaffen hat«⁶⁷ sei. Wirth sieht die »ästhetische Wirkung des Songs«⁶⁸ darin, »daß die ›dramatische Zeit‹ stillsteht«.⁶⁹ Es ergebe sich zudem »die Möglichkeit, in der ›lyrischen Ebene‹ Inhalte auszusagen, die in den Grenzen des gewöhnlichen Dialogs niemals hätten geboten werden können«.⁷⁰ Und schließlich sei es zudem eine »beliebte Methode Brechts«⁷¹ Distanzierung zu erreichen, indem er die Figuren selbst über ihr Schicksal in Monologen und Songs abgetrennt von der »dramatischen Zeit«⁷² resümieren lässt.⁷³ Meines Erachtens zeigen sich hier noch einmal konzentriert die sehr unterschiedlichen Auslegungen, die aber alle als Verfahren des epischen Theaters erkannt und in einem zweiten Schritt dem Epischen im Allgemeinen zugeschrieben werden. Auf der einen Seite gibt es Verfremdungs- und Distanzierungsverfahren, die mit diegetischmittelbaren Darstellung operieren (beispielsweise Einführung einer erzählerähnlichen Instanz), auf der anderen Seite solche, die mit einer mimetisch-unmittelbaren Darstellung (zum Beispiel Songs, Zeitsprüngen, Episoden) arbeiten. Als das Epische am epischen Theater werden damit sowohl mittelbare als auch unmittelbare Darstellungen betrachtet. Allerdings lassen sich Monologe von Figuren, in denen Sie ihr eigenes Schicksal kritisch betrachten, in zahlreichen barocken Dramen etwa in Form von Sterbemonologen finden, die schon ihrer Länge wegen unbedingt losgelöst von der ›dramatischen‹ Zeit

66 Vgl. auch Margret Dietrich: Episches Theater? Beitrag zur Dramaturgie des 20. Jahrhunderts, in: Episches Theater, hrsg. v. Reinhold Grimm (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 15), Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1966, S. 94–153, hier S. 94; vgl. Weisstein: Vom dramatischen Roman zum epischen Theater (1966), S. 36; vgl. Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 226; vgl. Kaspar Königshof: Über den Einfluß des Epischen in der Dramatik, in: Episches Theater, hrsg. v. Reinhold Grimm (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 15), Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1966, S. 279–289, hier S. 279. 67 Erich Franzen: Das epische Theater, in: Episches Theater, hrsg. v. Reinhold Grimm (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 15), Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1966, S. 231–245, hier S. 241. 68 Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 200. 69 Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 200. 70 Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 200. 71 Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 201. 72 Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 201. 73 Vgl. Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 201.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 211

der Szene bzw. dem Hier und Jetzt der Aufführung sind und in denen die Figur ebenfalls weit über den ihr zugestandenen Handlungs- und Wissensrahmen hinausgeht. In der gleichen Weise schaffen die Reyen bzw. Chöre und Personifikationen beispielsweise der Ewigkeit in Catharina von Georgien von Gryphius reflektierende Ebenen und verdichten, wenn man so will, die Dramenhandlung. Blicken wir zeitlich noch weiter zurück, finden wir kommentierende und reflektierende Chöre in der antiken Tragödie. Um die Jahrhundertwende kann an das dramatische Schaffen Hugo von Hoffmannsthal gedacht werden, wenngleich er unter anderem gerade mittelalterliche und barocke Formprinzipien einsetzt. Stellvertretend für diese Beobachtung versucht Kaspar Königshof in seinem Beitrag Über den Einfluß des Epischen in der Dramatik nachzuweisen, »daß in der dramatischen Literatur von Anfang an epische Elemente vorhanden waren«.⁷⁴ Er sucht diese Tendenzen in den europäischen Traditionen. Dabei beschreibt er beispielsweise die Form mittelalterlicher Passionsspiele und Bibelstücke. Als deren Grundaufbau erkennt er die diegetische Präsentation der Erzählung durch eine erzählerähnliche Figur, während die Darsteller simultan und größtenteils pantomimisch – aber hin und wieder auch durch Rezitation der direkten Reden dargestellter Figuren – die Erzählung performativ präsentieren.⁷⁵ Diesen formalen Grundaufbau erkennt er in vielen Stücken Brechts, allen voran im Kaukasischen Kreidekreis und dort verwirklicht in der Darstellung des Sängers. Im weiteren Verlauf der deutschsprachigen Dramengeschichte findet er solchermaßen epische Verfahren in den Fastnachtspielen Niclas Manuels oder auch Hans Sachs’ wieder.⁷⁶ Daneben werden die antike Tragödie und hier vor allem der reflektierende Chor, das elisabethanische Theater Englands, allen voran die Dramen Shakespeares, das Drama des Barocks sowie die japanischen und chinesischen Dramenformen, auf die sich Brecht selbst bezog,⁷⁷ als Quellen der Verfahren angegeben. Nicht immer muss dabei die Funktion und Wirkung der epischen Verfahren mit der bei Brecht intendierten übereinstimmen und nicht immer muss es sich um epische Verfahren handeln, was beispielsweise der Einsatz der Songs, eines eher dem Lyrischen zuzuschreibenden Verfahren, nahelegt. Mit dem Nachweis bereits vorhandener Variationen Brecht’scher Verfahren in der Dramengeschichte vor Brecht spreche ich dem epischen Theater nicht seinen Wert als spezielles Dramengenre ab, jedoch erwähne ich einschränkend, dass Brecht hier nur die schon immer vorhandenen epischen Tendenzen in einem neuen Genre – keinesfalls in einer neuen Gattung neben Dramatik, Epik, Lyrik – vereinigt und sie explizit zweckgebunden einsetzt.

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Königshof: Über den Einfluß des Epischen in der Dramatik (1966), S. 279. Vgl. Königshof: Über den Einfluß des Epischen in der Dramatik (1966), S. 281 f. Vgl. Königshof: Über den Einfluß des Epischen in der Dramatik (1966), S. 281 ff. Vgl. Brecht: Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst (1993).

212 | 4 Episierung im Drama Ulrich Weisstein hingegen hält es für paradox, daß es nur wenige Forscher gibt, die darauf verzichten, mehr oder weniger entlegene historische Parallelen im westlichen oder fernöstlichen Drama aufzuspüren, während kein einziger sich [. . .] der Mühe unterzogen hat, [. . .] sich zu fragen, wie stark wohl gewisse literarische Strömungen, die in den frühen zwanziger Jahren [des 20. Jahrhunderts, A.W.] aufkamen, auf den jungen Dramatiker gewirkt haben.⁷⁸

Dass Brecht sein episches Theater später gerne in dialektisches Theater umbenannt hätte, wurde oben schon erwähnt. Die Entwicklung einer neuen Dramenform bzw. einem speziellen Dramengenre hing eng zusammen mit einem veränderten Zweck, den sein Drama erfüllen sollte. Der Zuschauer sollte eine andere Haltung gegenüber dem ihm präsentierten Theater einnehmen können, als ihm das beim zeitgenössischen ›dramatischen‹ Theater möglich war. Nach Wirth war der sich dabei zeigende und in den Tabellen eingetragene »programmatische Anti-Emotionalismus Brechts [. . .] eine Reaktion auf die Entartung des Emotionellen im bürgerlichen Theater«.⁷⁹ Brecht habe sich »vor allem gegen die Theorie und Praxis des »Einfühlens« und der »Kontemplation« «⁸⁰ gerichtet. Sein neues Theater »wandte sich [. . .] vorwiegend an den Verstand der Zuschauer«.⁸¹ Ich habe oben bereits erwähnt, dass Brecht jedoch betonte, Emotionen nicht aus dem Theater verbannen zu wollen, wenngleich er eine didaktische Zielrichtung mit dem Theater verfolgte. Der Brecht’sche Gestus, ein didaktisches, den Verstand beschäftigendes und den Menschen moralisch schulendes Theater zu schaffen, ist ebenfalls nicht neu. Solche Zielsetzungen finden sich bereits bei Lessing, wenn er die durch Mitleid und Furcht zu erzeugende Katharsis als Katalysator für eine moralische Besserung des Menschen erachtet.⁸² Auch die Überlegungen Schillers setzen bei dieser Intention eines nur Vergnügen und Ablenkung bereitenden zeitgenössischen Theaters an. Auch für Schiller stehen die Didaxe, das Aufrütteln und nicht die bloße Illusion im Vordergrund. Zudem durchzieht eine solche didaktische Zielsetzung der Kunst seit der Antike die Diskussion. Brecht selbst stellt sich gegen die dauerhafte Erscheinung von Unterhaltungskunst, aber auch gegen avantgardistisch autonome Kunst und platziert dabei geschickt sein episches Theater im Bereich der ernsten Kunst. Ähnlich handeln auch schon Opitz, der sich gegen die seiner Zeit angeblich verbesserungswürdige Literatur stellt, und Gottsched, der sich wiederum gegen die ›schwulstige‹ Literatur und ›Hanswurstiaden‹ der barocken Epoche absetzt. Gottsched und Lessing versuchen zudem, mit ›dramatischen

78 Weisstein: Vom dramatischen Roman zum epischen Theater (1966), S. 36. 79 Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 205. 80 Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke (1966), S. 205. 81 Werner Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater. Abschnitte aus einem Beitrag zur Entwicklung des epischen Theaters 1918 bis 1933, in: Episches Theater, hrsg. v. Reinhold Grimm (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 15), Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1966, S. 50–87, hier S. 58. 82 Vgl. Müller: Dramatisches, episches und dialektisches Theater (1966), S. 155.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 213

Dramen‹ eine didaktisch-aufklärerische Wirkung zu erzielen. Die alleinige Verbindung des epischen Theaters und daraus folgend auch der epischen Verfahren mit einem kritisch-didaktischen Zweck ist so betrachtet verfehlt. Rücken wir aber Brechts Zielsetzung und Methode wieder ins rechte Licht. Nach Hecht spielten neben dem »bürgerliche[n] Durchschnittstheater«⁸³ die sich Anfang des 20. Jahrhunderts verändernden Inhalte der Literatur und damit auch des Dramas für eine Änderung der Dramenform eine Rolle: »Die Dramen Brechts, die auf wesentliche »dramatische« Merkmale verzichten mußten, weil diese für die Wiedergabe der Stoffe und ihrer Eigenarten unzureichend waren, fanden in epischen Formen eigentliche Gestaltungsmittel.«⁸⁴ Brecht stellte sich gegen das Illusionstheater und gleichzeitig gegen das aristotelische Theater. In der Theorie geht mit der Gleichsetzung von Episierung mit dem epischen Theater einher, dass epische Einlagen nur dann analytisch wahrgenommen werden, wenn sie im Brecht’schen Sinne illusionsbrechend, kritisch und didaktisch eingesetzt werden, womit die Funktion der Episierung auf die Illusionsbrechung und die Didaxe beschränkt bleibt und ›episch‹ mit ›illusionsbrechend‹, ›kritisch‹ und ›didaktisch‹ konnotiert wird. Der Gedanke des epischen Theaters als eine Sonderform⁸⁵ des Dramas hat sich bis heute in Einführungen und Überblicksdarstellungen zum Drama erhalten. Bei Manfred Jahn wird ihm 2009 ein eigenes Kapitel gewidmet,⁸⁶ obwohl bereits Pfister in seiner Monographie Das Drama das epische Theater nicht mehr als eine besondere Form, sondern davon unabhängig die Anwendung epischer Verfahren als nur eine Möglichkeit der Gestaltung des Dramentextes beschrieb.⁸⁷ Allerdings schränkt auch Jahn die Sonderstellung des epischen Theaters ein, wenn er explizit darauf hinweist, dass epische Verfahren schon immer in Dramen auftauchen.⁸⁸ Meiner Ansicht nach können und müssen Episierung und epische Verfahren unabhängig von der Brecht’schen Poetologie untersuchbar gemacht und vor allem von ihrer einseitigen Wirkung losgelöst betrachtet werden. Nach dieser Auseinandersetzung mit dem epischen Theater wende ich mich jetzt den theoretischen Betrachtungen zur Episierung und Epischem im Drama zu und beginne mit dem gattungshistorischen Modell Peter Szondis.

83 Müller: Dramatisches, episches und dialektisches Theater (1966), S. 157. 84 Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater (1966), S. 57. 85 Zum Beispiel Ulrich Kittstein sieht in Brechts epischem Theater eine einzigartige und auch ausschließlich auf Brecht beziehbare Form der Gattung: »Brechts groß angelegtes Modell, gegründet auf marxistische Überzeugungen, aufklärerische Zuversicht und ein umfangreiches Instrumentarium künstlerischer Verfremdungstechniken, ist in seiner Gesamtheit eine singuläre Erscheinung geblieben.« Kittstein: Episches Theater (2012), S. 302. 86 Vgl. Jahn: Grundkurs Drama (2009), S. 114–124. 87 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 103 f. 88 Vgl. Jahn: Grundkurs Drama (2009), S. 114.

214 | 4 Episierung im Drama 4.1.2 Episierung bei Peter Szondi Nach Aristoteles hat der zugrundeliegende Mythos einer guten Tragödie, dessen Attribute die Form und den Stil von Dramen bis heute beeinflussen, unabhängig von einer tragischen Wirkungsdisposition ganz bestimmte Merkmale: eine geschlossene und ganze Handlung⁸⁹, Übersichtlichkeit⁹⁰ und Konzentriertheit⁹¹. Episodische Erzählformen, starke Dehnungen der Handlung und Handlungsgefüge mit mehreren Ebenen betrachtet Aristoteles speziell für die Erzählung in der Tragödie kritisch. Er mahnt sogar an, es sei ein Zeichen schlechter Dichtung, wenn derartige Merkmale in einer Tragödie auftreten. Solche Handlungen werden von den schlechten Dichtern aus eigenem Unvermögen gedichtet, von den guten aber durch Anforderungen der Schauspieler. Denn wenn sie Deklamationen dichten und die Fabel über ihre Wirkungsmöglichkeiten hinaus in die Länge ziehen, dann sind sie oft gezwungen, den Zusammenhang zu zerreißen.⁹²

Aus diesem später als Einheit der Handlung bezeichneten Konzept lässt sich zusammen mit dem Hinweis, dass sich die Tragödie »nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten«⁹³ habe, die Einheit der Zeit ableiten. Ergänzend kam im Zuge der Renaissance noch eine Einheit des Orts hinzu.⁹⁴ Von Aristoteles selbst wird dies aber nicht ausdrücklich gefordert. Nochmals bestätigt und verankert wurde dieses Konzept etwas später im französischen Klassizismus. Aus diesen drei Einheiten und den typologischen Implikationen des Epischen und Dramatischen wurde noch 1966 die Vorstellung einer als aristotelisch bezeichneten Dramenform abgeleitet, die hier stellvertretend zur Gegenüberstellung von ›Normalform‹ (aristotelisch) und ›kontaminierter Form‹ (nicht-aristotelisch) zitiert wird:

89 Vgl. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 25. 90 Vgl. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 27. 91 Vgl. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 97. 92 Hinzugefügt werden könnte, dass die Dichter alternativ, um den Zusammenhang dennoch zu bewahren, explizite Hinweise auf die kausalen und finalen Relationen bieten müssten. Dies kann mit Kommentaren oder mit Relationsbildungen in Figurenreden gestaltet werden, um so verschiedene Handlungsstränge zusammenzuführen und trotzdem nur eine Haupthandlung auf der Bühne darzustellen. Beispielsweise wirkt die Figur des Sehers in Sophokles’ König Ödipus als eine Art Katalysator für eine aktive Erinnerungs- und Aufdeckungsarbeit des Ödipus über ein vergangenes Geschehen, das sich als äußerst relevant für die gegenwärtigen Ereignisse erweist. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 33. 93 Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 17. 94 Die Diskussion von Aristoteles’ Poetik bei Lodovico Castelvetro von 1570 ist hierzu die meist genannte Quelle für die von Aristoteles nicht explizit gemachte Lehre von den Drei Einheiten. Vgl. Lodovico Castelvetro: Poetica d’Aristotele vulgarizzata, et sposta (Poetiken des Cinquecento 1), Vienna 1570 [Ndr. München: Fink, 1968].

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 215

Wir möchten also als aristotelisch eine Dramaturgie bezeichnen, die mehr oder weniger den Forderungen nach den berühmten Einheiten, nach Kausalität der Handlungsfolge, Verflochtenheit der Szenentechnik, nach Konflikt und Auslösung der Katastrophe nachzukommen sucht, als nichtaristotelisch aber eine Dramaturgie, die all diese Anweisungen außer acht läßt, d. h., die Handlung dehnt sich frei aus in Raum und Zeit, sie folgt nicht den Gesetzen der Handlungskausalität; die Szenentechnik unterliegt dem Prinzip der Reihung und der Selbständigkeit der einzelnen Teile; das Drama kann eine umfassendere Sicht, eine höhere Objektivität annehmen, wie sie, nach der Schiller-Goetheschen Formulierung allgemein dem Epos eigen ist.⁹⁵

Es finden sich insbesondere bei Theorien die sich auf Aristoteles stützen bestimmte Zuschreibungen, die sowohl Texten der Gattung Drama als auch solchen der Gattung Epik gemacht werden. Unter direkter aber auch indirekter Berufung auf Aristoteles wurden ›episch‹ und ›dramatisch‹ über die Zeiten hinweg als ein Gegensatzpaar begriffen. Während dabei das Epische als offen, episodenhaft und detailreich verstanden wird, erscheinen der ›aristotelischen Norm‹ folgende, dramatische Texte geschlossen, übersichtlich und konzentriert. Mit dem starken Hervortreten so bezeichneter epischer Mittel in Dramen des ausgehenden 19. Jahrhunderts (wozu detailreiche Nebentexte, der Einsatz von Regiefiguren, der Einsatz von erklärenden Projektionen und Spruchbändern zählen) und der theoretisch-ideologischen Verortung des epischen Theaters durch Brecht war ein bis dato hermetisch aristotelisches Dramenkonzept gerade in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht mehr haltbar. Um der großen Zahl an Dramen, die den Anspruch der aristotelischen Dramenform nicht mehr erfüllten, systematisch und historisch beizukommen, nutzt Peter Szondi in seiner Monographie Theorie des modernen Dramas⁹⁶ die aristotelische und von ihm als absolut bezeichnete Form als Kontrastfolie zur genaueren Beschreibung dieser neuen Entwicklung des Dramas in Folge der Dramenproduktion des Naturalismus und vor allem in Folge der Dramenproduktion Brechts und der Avantgarde der Jahrhundertwende. Über einen dialektischen Dreischritt synthetisiert Szondi zwei Dramenformen (Renaissance-Drama und Episches Drama) zu einer neuen Form: das moderne bzw. ›nicht-mehr-nur-aristotelische‹ Drama. Was Szondi unter dem Begriff ›RenaissanceDrama‹ zusammenfasst, ist eine historische Idealform. Szondi beschreibt das Renaissance-Drama – von ihm auch klassisches oder absolutes Drama genannt –, als eine rein dramatische Form von Dramen vor Brechts und Piscators Experimenten mit der Gattung.⁹⁷ Mit dieser Überspitzung, die dem aristotelischen Drama entspricht, kann er den scheinbaren Konventionsbruch und den literaturhistorischen Grenzverlauf zwischen einem ehemals absoluten Drama und einem das Epische bereits inkorporierenden, modernen Drama seinem gattungshistorischen Impetus nach genau markieren. Szondi scheint sogar das moderne Drama als ›Nicht-Drama‹ bzw. als eine gänzlich neue Litera-

95 Kesting: Das epische Theater (1989), S. 10 f. 96 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963). 97 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 15 ff.

216 | 4 Episierung im Drama turform zu verstehen:⁹⁸ »Die letzten deutschen Dramen, die noch Dramen sind, schrieb Gerhart Hauptmann [. . .]«⁹⁹ Hier erkenne ich die oben erwähnte und den epischen Anteilen im Drama zugeschriebene Eigenschaft der Auflösung der Gattungsgrenzen wieder. Bemerkenswert ist bei Szondi sicherlich, dass er gerade die dem Naturalismus zugerechneten Dramen, die wegen ihrer detailreichen und an Erzählerkommentare erinnernden Nebentexte häufig als episch bezeichnet werden,¹⁰⁰ als letzte Vertreter des absoluten Dramas heranzieht. Damit scheint er detailreich als Eigenschaft des Epischen auszuschließen (vgl. dazu auch Kapitel 4.1.4 ab Seite 229). Szondi beschreibt das Renaissance-Drama paradigmatisch als ›dramatischste‹ Form. Entlang dieser Kontrastlinie arbeitet er epische Phänomene heraus, die diese Idealform in der sogenannten Krise des Dramas zwischen 1880–1950 konsequent durchbrechen. Für Szondi ist diese Dramenform die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschende. Dies erinnert an Hans Thies-Lehmanns Dreiteilung in Prä-Dramatik, Dramatik (Renaissance-Drama) und Postdramatik (gemeint ist hier allerdings das Drama ab etwa 1980).¹⁰¹ Konstitutiv für diese Dramenform sei die primäre Stellung des Dialogs. »Darin unterscheidet sich das klassische Drama sowohl von der antiken Tragödie wie vom mittelalterlichen geistlichen Spiel, vom barocken Welttheater wie vom Historienstück Shakespeares.«¹⁰² Es weichen offenbar bereits jene historischen Spielarten bzw. Genres der Gattung Drama von der Szondischen Idealform ab. Das Renaissance-Drama setze sich aus sich selbst heraus, wie es Szondi schreibt, ›absolut‹ und zeige dies in allen Belangen. Wenn er im Folgenden von dem Drama spricht, referiert er auf eben dieses Renaissance-Drama als die klassische Form. »Das Drama ist absolut. Um reiner Bezug, das heißt um wesenhaft dramatisch sein zu können, muß es von allem ihm Äußerlichen abgelöst sein. Es kennt nichts außer sich.«¹⁰³ Der Autor des Dramas, von Szondi auch als Dramatiker bezeichnet, erfüllt diesen Anspruch, indem er Aussprache gestiftet hat. »Das Drama wird nicht geschrieben, sondern gesetzt. [. . .] Das Drama ist lediglich als ein Ganzes zum Autor gehörend, und dieser Bezug gehört nicht wesenhaft zu seinem Werksein.«¹⁰⁴ Gleiches könnte Szondi jedoch für jede Art von Literatur vorschlagen. Warum sich gerade das Drama, nicht aber die Lyrik oder Epik, als absolut bzw. offenbar autonom erweisen soll, ist nicht ganz einsichtig. Es ist sogar vergleichbar mit oben dargestellten Sicht auf die Kommunikationssituation

98 Vgl. auch Hecht: Brechts Weg zum epischen Theater (1966), S. 56. 99 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 83. 100 Vgl. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 53. 101 Vgl. beispielsweise Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 6 1999, S. 30; vgl. auch Michael Hofmann: Drama. Grundlagen – Gattungsgeschichte – Perspektiven (UTB 3864), Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2013, S. 25–28. 102 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 15. 103 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 15. 104 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 15.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 217

fiktionaler Erzähltexte, in denen der Autor ebenfalls nur noch Urheber aber nicht Vermittler ist. So wenig ein Autor oder überhaupt eine dem Rezipienten vermittelnde Instanz im absoluten oder Renaissance-Drama anwesend seien, so wenig sei dieses Drama an einen Rezipienten gerichtet. Dieser wird als eine Art passiver Beobachter und in einer etwas metaphorischen Beschreibungssprache als »schweigend, mit zurückgebundenen Händen, gelähmt vom Eindruck einer zweiten Welt«¹⁰⁵ von Szondi betrachtet und beschrieben. Seine totale Passivität hat aber (darauf beruht das dramatische Erlebnis) in eine irrationale Aktivität umzuschlagen: der Zuschauer war, wird in das dramatische Spiel gerissen, wird selber Sprechender (wohlverstanden durch den Mund aller Personen). Das Verhältnis Zuschauer – Drama kennt nur vollkommene Trennung und vollkommene Identität, nicht aber Eindringen des Zuschauers ins Drama oder Angesprochenwerden des Zuschauers durch das Drama.¹⁰⁶

Szondi führt diese paradoxe Rezipientendisposition allerdings nicht weiter aus.¹⁰⁷ Die Guckkastenbühne sei die einzig mögliche und gleichzeitig perfekte sowie konsequente Bühnenform für eine derartige Absolutheit.¹⁰⁸ Gerade die Guckkastenbühne stellt eine Raumkonzeption dar, in der Zuschauer und Schauspieler voneinander getrennt und sich gegenübergestellt werden. Sie setzt sich allerdings erst Mitte des 18. Jahrhunderts durch¹⁰⁹ und lässt sich zudem als nur eine Möglichkeit der Aktualisierung bzw. Interpretation eines Dramas in der Aufführungssituation sehen. Ausgebildet ist die Extremform der Guckkastenbühne erst im 19. und 20. Jahrhundert, da das Hoftheater des 17. Jahrhunderts beispielsweise noch eine Vorbühne kannte.¹¹⁰ Der Schauspieler muss zur Wahrung der Absolutheit in seiner Rolle aufgehen bzw. hinter seiner Rolle verschwinden und zum »dramatischen Menschen«¹¹¹ werden. Das erscheint nur konsequent, wenn man im Falle der Aufführung des Dramas den Theaterapparat und damit unter anderem die Schauspieler als Autorenkollektiv betrachtet. Daran zeigt sich meines Erachtens sehr gut, dass Szondi das Gegenteil der Brecht’schen Poetologie beschreibt. In dieser wird die unbedingte Trennung von

105 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 15 f. 106 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 16. 107 Lutz Ellrich erklärt sich Szondis Formulierung auf diese Weise: »Man kann nur darüber spekulieren, wie die ›irrationale Aktivität‹, die sich Bahn bricht, gleichsam ›para-dramatisch‹ zu bearbeiten ist: nämlich einzig und allein in den konflikt-affinen Aussprachen, die nun nach dem Verlassen des Theaters auf dem Boden der ›ersten‹ realen Welt stattfinden müssen.« Lutz Ellrich: Das Drama als Form. Anschauung, Dialog, Performance, in: Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. Oliver Kohns/ Claudia Liebrand (Literalität und Liminalität 14), Bielefeld: transcript, 2012, S. 39–55, hier S. 46. 108 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 16. 109 Vgl. Jahn: Grundkurs Drama (2009), S. 50. 110 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 42 ff. 111 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 16.

218 | 4 Episierung im Drama Schauspieler und Rolle sowie die Kenntlichmachung derselben für das epische Theater gefordert, um die Einfühlung des Zuschauers zu verhindern.¹¹² Rolf Tarot beschreibt dies in seinem 1970 zur Diskussion um Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung erschienen Aufsatz Mimesis und Imitatio. Darin trennt er abhängig von der »Darstellungsweise des Schauspielers«¹¹³ Mimesis von Imitatio: »Identifiziert sich der Schauspieler mit der dargestellten Gestalt, dann ist die Darstellung Mimesis; ist der reale Schauspieler der Erzähler (Demonstrant) seiner Figur, dann ist die Vor-Stellung Imitatio.«¹¹⁴ Beziehe ich Szondis Formulierung auf die Aussagen Brechts und Tarots handelt es sich beim absoluten Drama um Illusionstheater, während die Dramenform bei Brecht und in seiner Nachfolge als Anti-Illusionstheater begriffen werden kann. Die Unterscheidung von illusionistischer und anti-illusionistischer Form wird im Folgenden bei Szondis Einteilung in Primäres und Sekundäres erkennbar. Das Drama der Renaissance sei deswegen als absolut anzunehmen, da es »nicht die (sekundäre) Darstellung von etwas (Primären) [sei]«,¹¹⁵ sondern sich selbst darstelle, es selbst sei und damit auch selbst das Primäre sei.¹¹⁶ Selbstverständlich können bei der zeichenhaften Darstellung eines Gegenstandes (Figuren, Geschichte usw.) diese Zeichen nie zum von ihnen referenzierten Objekt werden, wie es sich Szondi vorstellt. Man kann es sicherlich aber als die Illusion begreifen, die der Zuschauer beim Rezeptionsvorgang erleben kann. Szondis Aussage ist aber noch weit radikaler gedacht, als man annehmen könnte. Ihm geht es dabei nicht nur darum auszudrücken, dass diese Dramenform ausschließlich aus primärer Darstellung besteht und also als rein zeigend, unmittelbar bzw. mimetisch gedacht sei, sondern auch, dass sich diese Darstellung auf nichts außer sich selbst beziehe. Das Drama kennt das Zitat sowenig wie die Variation. Das Zitat würde das Drama aufs Zitierte beziehen, die Variation seine Eigenschaft, primär, das heißt »wahr« zu sein, in Frage stellen und (als Variation von etwas und unter anderen Variationen) sich zugleich sekundär geben. Zudem würde ein Zitierender oder Variierender vorausgesetzt und das Drama auf ihn bezogen.¹¹⁷

112 »Kurz gesagt: der Schauspieler muß Demonstrant bleiben; er muß den Demonstrierten als eine fremde Person wiedergeben, er darf bei seiner Darstellung nicht das ›er tat das, er sagte das‹ auslöschen. Er darf es nicht zur restlosen Verwandlung in die Demonstrierte Person kommen lassen.« (Brecht: Die Straßenszene [1993], S. 376) 113 Rolf Tarot: Mimesis und Imitatio. Grundlagen einer neuen Gattungspoetik, in: Euphorion 64 (1970), S. 125–142, hier S. 130. 114 Tarot: Mimesis und Imitatio (1970), S. 130. 115 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 16. 116 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 16 f. 117 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 16 f.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 219

Diesen Zitierenden und Variierenden bezeichnet Szondi als episches Ich.¹¹⁸ Das eher kritisch als parodistisch angelegte Drama Odoardo Galotti, Vater der Emilia¹¹⁹ (1778) Bodmers, der mit direkten Bezügen auf Lessings Emilia Galotti¹²⁰ (1772) reagierte, würde nach Szondis Annahme damit bereits mit untypischen bzw. sekundären Elementen arbeiten und wäre damit kein absolutes Drama mehr.¹²¹ Als Beispiel zieht Szondi die Unmöglichkeit eines Dramas über die historische Person Martin Luther heran. Schon allein der Bezug auf historische Tatsachen mache das Drama im obigen Sinne undramatisch. Die Handlungsfolge des Dramas dürfe sich, solle es absolut bleiben, nur aus sich selbst heraus entwickeln.¹²² Dies ist eine besonders strikte Auslegung der Einheit der Handlung und das wird besonders dann evident, wenn Szondi beim absoluten Drama auch jegliche Zufälligkeit ausgeschlossen sieht und die Geschichte des Dramas vielmehr aus sich heraus motiviert sein müsse. Die Handlung und die Geschichte des dramatischen Textes entstünde ganz und gar aus sich selbst heraus, aus der dem Dialog innewohnenden Dialektik. Die Ganzheit des Dramas schließlich ist dialektischen Ursprungs. Sie entsteht nicht dank dem ins Werk hineinragenden epischen Ich, sondern durch die je und je geleistete und wieder ihrerseits zerstörte Aufhebung der zwischenmenschlichen Dialektik, die im Dialog Sprache wird. Auch in dieser Hinsicht also ist der Dialog Träger des Dramas. Von der Möglichkeit des Dialogs hängt die Möglichkeit des Dramas ab.¹²³

Selbstverständlich muss dann auch der »Zeitablauf des Dramas [. . .] eine absolute Gegenwartsfolge [sein]. Das Drama steht als Absolutes selbst dafür ein, es stiftet seine Zeit selbst. Deshalb muß jeder Moment den Keim der Zukunft in sich enthalten, ›zukunftsträchtig‹ sein.«¹²⁴ Eine Durchbrechung der von Szondi beschworenen Absolutheit des Dramas hat in letzter Konsequenz immer die Einführung einer vermittelnden Instanz zur Folge. Beispielsweise wäre die zeitliche Zerrissenheit der Szenen [. . .] gegen das Prinzip der absoluten Gegenwartsfolge gerichtet, weil jede Szene ihre Vorgeschichte und Folge (Vergangenheit und Zukunft) außerhalb des Spieles hat. So werden die einzelnen Szenen relativiert. Dazu kommt, daß die Szenenfolge, in der jede Szene die nächste hervorbringt (also die hier für das Drama geforderte), als einzige das Vorhan-

118 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 13, 18. 119 Johann Jakob Bodmer: Odoardo Galotti, Vater der Emilia. Ein Pendant zu Emilia. In einem Aufzuge und Epilogus zur Emilia Galotti. Von einem längst bekannten Verfasser, Augsburg 1778. 120 Lessing: Emilia Galotti (1985). 121 Diese Darstellung und Konsequenz erscheint beinahe als eine Art Vorurteil der Moderne, mit dem Autoren und Zuschauern vor der Jahrhundertwende anhand der ihnen postulierten Hauptform des absoluten Dramas Reflexionsmöglichkeit und -bedürfnis abgesprochen wird. 122 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 17. 123 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 18 f. 124 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 17.

220 | 4 Episierung im Drama

densein des Monteurs nicht impliziert. Das (gesagte oder ungesagte) »Nun lassen wir drei Jahre verstreichen« setzt das epische Ich voraus.¹²⁵

Und genau dieser Umstand würde die Illusionswirkung, die das absolute Drama auszeichnet, zerstören. Ähnliches ist auch beim Raum zu konstatieren. Bei allzu großen und nicht aus der Handlungsfolge selbst motivierten, eben ›unmotivierten‹, Ortswechseln würde sich abermals ein ›episches Ich‹ in den dramatischen Text einschleichen. Die räumliche Umgebung muß (wie die zeitliche) aus dem Bewußtsein des Zuschauers ausgeschieden werden. Nur so entsteht eine absolute, das ist dramatische Szene. Je häufiger der Szenenwechsel, desto schwieriger diese Arbeit. Zudem setzt die räumliche Zerrissenheit (wie die zeitliche) das epische Ich voraus. (Klischee: »Nun lassen wir die Verschwörer im Wald zurück und suchen den nichtsahnenden König in seinem Palaste auf.«)¹²⁶

Der postulierte Widerspruch des zwischen Renaissance-Drama und modernem Drama als Zwischenstufe gesetzten Epischen Drama liege, wie Szondi anmerkt, in der versuchten Kombination aus »epischer Thematik und dramatischer Form«.¹²⁷ Gelöst wird er im modernen Drama »durch die Formwerdung der inneren Epik«.¹²⁸ Allerdings hätte dies bezogen auf das dadurch wegfallende differenzierende Prinzip episch vs. dramatisch genau genommen die Auflösung des Dramas als Gattung zur Folge.¹²⁹ Dementsprechend und im Sinne Hegelscher Dialektik sieht Szondi das moderne Drama aus dem folgenden Dreischritt entstanden: These Das Drama der Renaissance besitzt ein striktes Stilprinzip, welches über die drei Einheiten die Absolutheit des dramatischen Textes und dessen Form konstatiert. Antithese Das Drama der Übergangszeit am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts stößt mit neuen Konflikten und Inhalten an die Grenzen dieses Stilprinzips und schafft es nur mit der Einführung des Epischen, Platz für seine neuen Inhalte zu schaffen. Synthese Die alte Form wird aufgebrochen und es wird ein neues Formprinzip etabliert, das Episches und Dramatisches zusammenführt. Das bedeutet, dass beim modernen Drama Szondis nicht mehr von Episierung in seiner auch von Pfister festgestellten auflösenden Tendenz gesprochen werden kann, da die epischen Elemente bereits zur Form des neuen, modernen Dramas gehören.

125 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 292. 126 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 292. 127 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 296. 128 Szondi: Theorie des modernen Dramas (1963), S. 296. 129 Hier verweise ich darauf, dass gerade Volker Klotz mit seiner Typologie des offenen und geschlossenen Dramas derartige und hier und da als episch bezeichnete Merkmale nicht als Abweichungen von einer Ideal- oder absoluten Form des Dramas verstanden wissen will, sondern dies in der Gattung Drama als mögliche ›Formtendenzen‹ versteht, ohne dass dadurch die Gattung als solche in Gefahr gerät. Vgl. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama (Literatur als Kunst), München: Carl Hanser Verlag, 10 1980, S. 11.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 221

Epische Elemente sind im modernen Drama weder Auffälligkeiten noch per se antithetisch, wie auch beispielsweise der Gesang innerhalb der Oper kein Aufbrechen einer Idealform verursacht, sondern ein Teil ihres erwartbaren Formkonzeptes ist. Aus dieser Sicht bildet auch das moderne Drama wieder eine illusionistische Form, da die epischen Elemente in diesem Fall nicht mehr, ähnlich dem Gesang in der Oper, als illusionsbrechend im Brecht’schen Sinne angesehen werden können. Sie sind ästhetische und kompositorische Formkonventionen, die zudem eher erwartbar als störend sind. Fasst man Szondis Überlegungen kurz zusammen, dann ergibt sich dieses Bild: In jeder der drei Dimensionen – absolute Handlung, absolute Zeit und absoluter Ort – taucht im Falle einer Episierung bei Szondi das epische Ich auf, das die Absolutheit des Dramas verhindert. Episierung bei Szondi ist damit die Störung einer ansonsten strikten Einhaltung der Drei Einheiten und letztlich eine daraus mögliche Ableitung eines vermittelnden und von außen die Geschichte motivierenden epischen Ichs, das es im ausschließlich dramatischen bzw. absoluten Drama, in dem jedes Ereignis das nächste aus sich heraus bzw. aus einer inneren Logik der Ereignissequenz der diegetischen Ebene hervorbringt, nicht gäbe.

4.1.3 Episierung bei Bernhard Asmuth Bernhard Asmuth versucht über Analogien zu Erzähltexten die Episierungstendenzen in Dramen zu erklären. Seine Betrachtung der Episierung findet sich als ein Unterkapitel innerhalb des Abschnitts Nebentext, Episches und die Kommunikation mit dem Publikum in seiner Einführung in die Dramenanalyse¹³⁰. Neben dem obligatorischen Erzähler stellt er drei Bereiche heraus, die in Erzähltexten in Bezug auf die vermittelnde Instanz relevant werden und die er auf das Drama abbildet: das von der Erzählinstanz betriebene eigentliche Erzählen, dessen steuernde und urteilende Äußerungen und die von ihm zitierten Figurenreden. Den direkten Reden ist im Drama sogar ein eigenes Textsegment zugeordnet: der Haupttext. Im Haupttext kommt Episches nach Asmuth ferner durch die Rede über verdeckte Handlung zum Ausdruck.¹³¹ Dies ist beispielsweise der Fall beim Lebensbericht der Catharina von Georgien oder allgemein in Botenberichten, bei denen die Bühnenhandlung aussetzt. Berücksichtigt werden müssen aber auch Teichoskopien. Diese Möglichkeit habe ich oben bereits als die des Einsetzens weiterer vermittelnder Instanzen durch die dramatische Instanz beschrieben. Die beiden anderen Bereiche des eigentlichen Erzählens, sowie steuernde und urteilende Aussagen einer Erzählinstanz des Dramas deckt der Nebentext ab. Asmuth schildert, wie sich vor allem der die Bühnensituation beschreibende explizite Nebentext historisch entwickelt hat. Fehlt er in den Dramen des Barock beinahe völlig bzw. ist er dort noch hauptsächlich als impliziter Nebentext in die Figurenrede 130 Vgl. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 51–61. 131 Vgl. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 53.

222 | 4 Episierung im Drama eingeschrieben, so tritt er im 18. und 19. Jahrhundert immer häufiger auf; nicht nur quantitativ, sondern auch in einer gesteigerten Relevanz für den Ausdruck der Figurenrede über deren Inhalt hinaus. Dies mündet gerade im 20. Jahrhundert darin, dass der Nebentext zunehme und den Dramentext dominiere.¹³² Diese Entwicklung sei teils durch bessere Bühnentechnik und teils »aus dem Bewußtsein, daß das damals [im 18. Jahrhundert, A.W.] neu entdeckte und von der Vorherrschaft der Vernunft befreite Gefühlsleben mit Worten letztlich nicht zu fassen sei«,¹³³ möglich geworden. Diese Tendenz hängt auch mit einer gesteigerten Favorisierung des von Lessing so bezeichneten ›natürlichen Spiel‹ zusammen, welches eine höhere Spezifik situierender Nebentexte erfordert. Ausladenden Regieanweisungen kann dann insofern vermittelnder und in Asmuths Sinne epischer Charakter zugesprochen werden, als sie das dem prinzipiellen Aufbau von Erzähltexten extrahierte »eigentliche Erzählen, d. h. die Wiedergabe der Handlung und ihrer Begleitumstände«,¹³⁴ abdecken. Wenn Asmuth in Bezug auf das Epische im Drama erklärt, dass je »umfangreicher die Bühnenanweisungen geraten, [diese sich] umso mehr [. . .] der Erzählliteratur«¹³⁵ nähern, dann kann mit Bezug auf den historischen Abriss der Entwicklung gefolgert werden, dass das, was jetzt das Epische im expliziten Nebentext ausmacht, sich vorher – wenn auch nur teilweise und sicherlich unter anderen Prämissen – im impliziten Nebentext findet. In den situierenden, steuernden und urteilenden Aussagen, mit denen ein Erzähler die Geschichte bildet, nutzt er seine vollen auktorialen Optionen aus. Vor allem das epische Theater versuche genau dieses Manko der fehlenden Kommentierungsmöglichkeiten innerhalb des Dramas mit der Einführung einer kommentierenden Ebene zu kompensieren, wobei Asmuth hier plötzlich von der »Abwesenheit des Autors«¹³⁶ spricht. Um aber von einem epischen Theater im Sinne Brechts sprechen zu können, müssten neben den steuernden und urteilenden Kommentaren einer Vermittlerinstanz noch distanzschaffende bzw. illusionsbrechende Mittel hinzukommen.¹³⁷ Asmuth weist damit beispielsweise auf die von Brecht geforderte Distanznahme des Schauspielers gegenüber seiner Rolle hin. Mithilfe der Kommentierung und mittels der eben angesprochenen Verfahren kann beim Publikum eine Distanz zum Dramengeschehen erzielt werden. Damit ist das epische Theater eine kulturell-historische Erscheinung der speziellen theatralischen Vermittlung epischer Elemente.

132 133 134 135 136 137

Vgl. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 51 ff. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 52. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 53. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 53. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 54. Vgl. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 54.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 223

Eine »atektonische Handlungsstruktur,¹³⁸ also die offene Form [. . .], vor allem im Sinne eines räumlich und zeitlich breit gestreuten Stationendramas,«¹³⁹ erachtet Asmuth hinsichtlich eines epischen Charakters als problematisch. Das Epische in einem solchen Fall hat mit dem bereits bei Schiller und Goethe¹⁴⁰ diskutierten Epischen gemein, dass die hier wie dort zugeschriebenen Stilmerkmale der Weitläufigkeit und der Episodenhaftigkeit auf die Sinnverbindung von episch und Epos zurückgehen. Bezogen auf die Episierung ändert sich mit jeder neuen Episode die raum-zeitliche Deixis und impliziert, wie oben auch von Szondi angedeutet wurde, eine auktoriale Instanz.¹⁴¹ Zusammengefasst schränkt Asmuth die Eingriffsmöglichkeit und damit auch die Episierungsmöglichkeiten im Drama auf Textsegmente ein, die explizit auf eine vermittelnde Instanz hinweisen, die sich hetero- und extradiegetisch zum Dargestellten verhalte. Nur derartige Äußerungen seien »im eigentlichen Sinne episch«¹⁴² zu nennen. Genau deshalb sieht Asmuth, anders als Szondi, das Episodische nicht per se als episch an. Er wird noch genauer: Von epischem Theater im eigentlichen, nicht nur metaphorischen Sinn sollte man nur dann sprechen, wenn solchermaßen außerhalb der Handlung ein »Erzähler« zu Wort kommt. Im markantesten Fall ist er für den Zuschauer sichtbar. Aber auch – aus dem Stummfilm übernommene – Spruchbänder oder, wie häufig in Tonfilm und Fernsehen, die Stimme eines unsichtbaren Erzählers können diese Aufgabe erfüllen.¹⁴³

Episch nach Asmuth ist damit wie bei Szondi und dessen epischem Ich der Einsatz eines Erzählers im Drama, wobei dessen Präsenz nachweisbar sein muss. Als problematisch gelten dabei die nur indirekt auf Erzählerinstanzen zurückzuführenden Episodenstrukturen bzw. die Komposition eines Dramas. In solchen Fällen kann eine Erzählinstanz auch in Erzähltexten nur implizit nachgewiesen werden, was, wie oben

138 »Wenn das Theater den Ausschnitt der Schaustellung vergrößert, indem es den Fahrer in noch mehr Situationen zeigt, als der Unfallsituation, geht es über sein Modell keineswegs hinaus. Es schafft nur eine weitere Situation mit Modellcharakter.« (Brecht: Die Straßenszene [1993], S. 376) 139 Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 55. 140 Johann Wolfgang Goethe/Friedrich Schiller: Über epische und dramatische Dichtung, in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Wirkungen der Französischen Revolution, hrsg. v. Klaus H. Hiefer u. a., Bd. 4.2, München: btb, 1 2006, Kap. Schriften zu Literatur und Kunst, S. 126–128. 141 So »setzt die räumliche Zerrissenheit (wie die zeitliche) das epische Ich voraus«. (Szondi: Theorie des modernen Dramas [1963], S. 292) Um wahrhaft dramatisch bleiben zu können, muss die »räumliche Umgebung [. . .] (wie die zeitliche) aus dem Bewußtsein des Zuschauers ausgeschieden werden. Nur so entsteht eine absolute, das ist dramatische Szene. Je häufiger der Szenenwechsel, desto schwieriger diese Arbeit.« (Szondi: Theorie des modernen Dramas [1963], S. 292) 142 Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 55. 143 Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 56.

224 | 4 Episierung im Drama dargestellt wurde, bereits in der klassischen Theorie und mit Blick auf die Trennung von Autor und Erzähler zu Problemen führte.¹⁴⁴

4.1.4 Episierung bei Manfred Pfister Die Episierung im Drama wird bei Szondi sowie bei Asmuth mit einer vermittelnden Instanz in Verbindung gebracht, die sich für bestimmte Phänomene verantwortlich zeigt oder auf deren Präsenz diese Phänomene zurückgeführt werden können. Asmuth möchte allerdings nur bei offensichtlichen dramatischen Instanzen von Episierung sprechen und implizite Hinweise auf eine solche Instanz wie beispielsweise durch die Komposition oder durch die Struktur der Erzählung ausschließen. Für Szondi ergibt sich eine binäre Entscheidungsstruktur: Entweder ist das Drama derart gestaltet, dass außer seiner Existenz nichts auf einen Urheber hindeutet, oder aber bereits ein impliziter Hinweis über beispielsweise eine elliptische Gestaltung der Erzählung genügt, um für das gesamte Drama eine vermittelnde Instanz anzunehmen. Die Ausführungen Szondis werden von Manfred Pfister als eine von drei grundlegenden Tendenzen betrachtet, die er mit der Episierung im Drama in Verbindung bringt und die ich bereits mit Martínez angesprochen habe.¹⁴⁵ Pfister bezeichnet diese Tendenz als die Aufhebung der Absolutheit. Als weitere Tendenzen beschreibt er die Aufhebung der Finalität und die Aufhebung der Konzentration, auf die ich weiter unten eingehe.¹⁴⁶ 4.1.4.1 Aufhebung der Absolutheit Pfister setzt strukturierter und konkreter als Szondi und Asmuth an einer im episierten Drama seiner Ansicht nach eingesetzten Vermittlerinstanz an. Er führt diese zurück auf die Etablierung des vermittelnden Kommunikationssystems N2, welches die Absolutheit des Dramas aufhebt. Während beim Erzähltext das vermittelnde Kommunikationssystem besetzt sei, bleibe dieses System beim Drama in seiner ›dramatischsten‹ bzw. absoluten Form, unbesetzt.¹⁴⁷ Damit trägt Pfister der ›klassischen‹ Auffassung der Unterscheidung von Dramen- und Erzähltexten Rechnung, wonach Dramen »keine Kommunikationsebene der erzählerischen Vermittlung und keine Erzählinstanzen aufweisen«.¹⁴⁸

144 Vgl. die impliziten Hinweise auf eine Erzählinstanz und die Erzählfunktionen in Kapitel 3.6 ab Seite 147. 145 Vgl. Martínez: Doppelte Welten (1996), S. 466; vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 104. 146 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 104 ff. 147 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 21. 148 Nünning/Sommer: Drama und Narratologie (2002), S. 106.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 225

Eine Kompensation sei im Drama¹⁴⁹ aber durch die Nutzung anderer, dem Drama eigener Kommunikationsmittel möglich, sowie durch eine Verlagerung der Vermittlung in das innere Kommunikationssystem.¹⁵⁰ Das lässt sich beispielsweise in expositorischen Passagen finden, die, mal mehr mal weniger versteckt, als Informationsquelle für den Rezipienten erachtet werden können. Bei Pfister ist unter der Episierung die Etablierung eines vermittelndes Kommunikationssystem zu verstehen, über das die unvermittelt bzw. mimetisch dargestellte Diegese, ihre Entitäten und Zustände, verbal an einen Rezipienten vermittelt wird. Beliebte Mittel dafür sind das Beiseite-Sprechen, das ad spectatores, ein kommentierender Chor, Prologfiguren oder auch metadramatische Elemente; Merkmale, die sich in Dramen jedes Jahrhunderts finden. Die innere Spielebene wird überlagert durch eine kommentierende bzw. reflektierende Ebene, welche sich ihrerseits als ein vermittelndes Kommunikationssystem herausstellen kann. Dessen Funktion sei es, eine identifikatorische Einfühlung des Zuschauers in die Figuren zu verhindern. So würde die Wahrung einer kritischen Distanz begünstigt.¹⁵¹ Diese Distanz biete eine Möglichkeit zur »Steuerung des Rezipienten, die der kritisch-didaktischen Intention entgegenkommt«.¹⁵² Allerdings wird dabei stark mit Brecht’scher Intention argumentiert. Denn so würde umgekehrt auch Erzählern in Erzähltexten eine kritisch-didaktische Intention unterstellt. Ferner geht es nicht immer auf Kosten der Einfühlung, wenn eine vermittelnde Ebene etabliert ist. Zum Beispiel wendet sich die Figur Johann Bouset in der Eingangsszene des Stückes Von einem Wirthe oder Gastgeber¹⁵³ von Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg (ca. 1594) mit folgenden Worten an die Zuschauer der Bühnendiegese: Johann Bouset. Gott gebe euch einen guten Tag. Sagt mir doch, wo mag mein Herr sein? Ich habe ihn in der ganzen Stadt gesucht und kann ihn nicht finden. Habt ihr ihn nicht gesehen? Ach, sagt es mir doch, ich würde sonst bei ihm Unwillen erregen. (Schweigt ein wenig still.) Seid ihr denn taub? Daß ihr nicht hört, was ich sage?¹⁵⁴

Die Figur Johann befindet sich in dieser Eröffnungsszene allein auf der Bühne. Ihr Beitrag kann damit als ein deutliches ad spectatores begriffen werden, das die ima-

149 Wenn Pfister vom Drama spricht, dann meint er im besonderen den Aufführungstext. Pfister: Das Drama (2001). 150 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 21. 151 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 105 f. 152 Pfister: Das Drama (2001), S. 106. 153 Heinrich Julius [von Braunschweig-Lüneburg]: Von einem Wirthe oder Gastgeber, hrsg., übers. und mit einem Nachw. vers. v. Herbert Blume, Braunschweig 1996. 154 Original: »Johann Bouset. Godt geffe aw einen guden dach, Secht mey doch, wormach min Here sin. Ick sal hem gsocht hebben dorch dat gansse Stadt, vnd sal hem niet finden können. Hebbe ghy hem niet gesien? Och secht myt doch, Ick soude süst vndanck by hem verdienen, (Schweiget ein wenig stille.) Syt gy denn doeff? Dat ghy niet höret, wat ick segge.« Heinrich Julius: Von einem Wirthe (1996), S. 10.

226 | 4 Episierung im Drama ginäre vierte Wand gleich zu Beginn der Dramenhandlung durchbricht.¹⁵⁵ Mit Pfister gesprochen wird hier die innere Spiel- bzw. Kommunikationsebene von einer kommentierenden bzw. reflektierenden Ebene überlagert. Es bildet sich ein vermittelndes Kommunikationssystem. Nach Pfister stellt dies einen Bruch mit der Normalform¹⁵⁶ eines Dramas dar. Diese zeichne sich dadurch aus, dass kein vermittelndes Kommunikationssystem existiere.¹⁵⁷ Mit der Etablierung einer vermittelnden Ebene erhält das Drama ein erzähltextspezifisches Merkmal – eben Mittelbarkeit. Episierung sowie eine analog dazu anzunehmende Dramatisierung werden beide an der Normalform der jeweils zugeordneten Gattung Epik (Erzähltexte) bzw. Dramatik gemessen. In diesem Sinne wäre es sinnlos von einer Dramatisierung im Drama wie von einer Episierung in der Epik zu sprechen. Als Ausnahmeerscheinungen lassen sich diese Phänomene nur deshalb fassen, weil von Normalformen epischer wie dramatischer Texte ausgegangen wird und in eben diesem Sinne ist obiger Dramenausschnitt als ein Beispiel zu begreifen, das vom Normalfall eines typischen Dramas abweicht. Nun ist die Methode, prototypische Vertreter einer Gattung heranzuziehen, um von diesen die konstitutiven Form- und Inhaltskriterien für eine Klassifikation abzuleiten, ein gängiges Prinzip der Begriffsbildung. Allerdings könnte historisch betrachtet auch die antike Tragödie mit kommentierenden und reflektierenden Chorpassagen als Normalform und prototypischer Vertreter des Dramas herangezogen werden. Bei Pfister sind epische Verfahren im Drama zu jeder Zeit Ausnahmen von einer postulierten Regel. Szondi hingegen beschreibt das moderne Drama, in dem Episches nicht mehr eine Ausnahme, sondern im Gegenteil vielmehr die Regel darstellt. Er setzt es in Kontrast zu einer idealisierten, historisch vorgängigen Form, in der das Gegenteil der Fall ist. Er kontrastiert es aber gerade nicht mit einer ahistorischen Idealform RenaissanceDrama – was auch nicht möglich wäre, insofern ja das moderne Drama, wenn dann die neue Idealform ist. Szondi beschreibt im Grunde drei Genres der Gattung Drama (Renaissance-Drama, Episches Drama, Modernes Drama). Zusätzlich wählt er für seine Darstellung den Begriff ›absolut‹ und nicht den ebenso passenden Begriff ›dramatisch‹. Diesen setzt Hans-Thies Lehmann ein, wenn er vom ›dramatischen Drama‹ spricht. Dieses kann wiederum mit Szondis absolutem Drama analog verstanden werden. Absolutheit bezeichnet bei Szondi die Eigenschaft einer besonderen, historischen Form von Dramen und somit keine ahistorische Eigenschaft. Diese Annahme wird durch seinen Begriff ›modernes Drama‹ gestützt, bei dem die Absolutheit nicht mehr konstitutiv für Werke der Dramatik sein kann. Szondi stellt drei historische Genres der

155 Ich setzte an dieser Stelle eine Guckkastenbühne voraus. Aber unabhängig davon, welche Bühnenform sich voraussetzen ließe (etwa eine offene Marktplatzbühne), gehe ich davon aus, dass stets eine prinzipielle Trennung zwischen dem repräsentierenden (Bühnenraum) und dem rezipierenden System (Zuschauerraum) besteht. 156 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 22. 157 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 20 ff.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 227

Dramatik in ihrer Folge nacheinander, während Pfister die absolute Form zur idealtypischen erhebt und sie in seinem Modell als Kontrastfolie für die gesamte Gattung des Dramas heranzieht. Das moderne Drama Szondis hingegen hat epische Elemente in seine Form aufgenommen und diese stellen hier keine Fremdkörper mehr dar. Szondis Ansatz erlaubt es, Episches von Dramatischem zu unterscheiden, ohne dass dabei für die Gattung inadäquate Strukturen und Phänomene auftauchen. Mit der Festlegung des Dramas auf eine bestimmte Form wird indirekt auch die Epik auf eine Normalform festgelegt. Diese Bestimmung über eine Normalform des Dramas impliziert zudem, dass alle eingesetzten Verfahren im Drama dramatisch sind und umgekehrt alle verwendeten Verfahren in Erzähltexten episch, insofern episch mit narrativ (im engen Sinne) gleichgesetzt wird. Episierung ist in diesem Sinne dann nur in Werken möglich, die keine Erzähltexte sind und stellt dort immer eine Auffälligkeit dar. Dramatisch wie episch werden hier jedoch wechselseitig von Normalformen abstrahiert, denen in der jeweiligen Gattung nur ein Teil der Textmenge entspricht. Gleichzeitig ist sich Pfister über die beiderseits vorhandenen Ausnahmeerscheinungen (wozu er beispielsweise personales Erzählen in Erzähltexten¹⁵⁸ und vermittelnde an das Publikum gewandte Figuren in Dramen zählt) bewusst.¹⁵⁹ Wenn aber Texte beider Gattungen dieselben Phänomene aufweisen können, dann ist es möglich, dramatische wie epische Verfahren als gattungsindifferente Verfahren zu abstrahieren.¹⁶⁰ Die Etablierung des vermittelnden Kommunikationssystems, das Pfister als die wichtigste Eigenschaft und Voraussetzung der Episierung im Drama beschreibt, geht mit einem offenbaren Ebenenbruch einher und erhält von ihm zudem in seiner Beschreibung der Aufhebung der Absolutheit eine »[r]ezeptionsästhetisch gesehen [. . .] anti-illusionistische Funktion«.¹⁶¹ Diese ›epischen‹ Mittel (anti-illusionistisch, verfremdend usw.), die allesamt vom epischen Theater abstrahiert werden, sind jedoch in Texten der Epik ebenso auffällig. Zwar zieht Pfister ein vermeintlich exklusives Verfahren und konstitutives Element von Erzähltexten für sein Modell der Episierung heran, verbindet dieses dann jedoch einseitig mit seiner Funktion im epischen Theater. Angenommen obiges Beispiel wäre nicht als Redebeitrag einer Figur zu Beginn eines Dramas, sondern als Diskurs eines homodiegetisch personalen Erzählers am Anfang eines Erzähltextes zu verstehen. Die Funktion des Erzählers ginge über die bloße Vermittlung hinaus. Zusätzlich findet in diesem Gedankenexperiment eine scheinbare Durchbrechung der Illusionsgrenze statt. Erzählendes und erzähltes Ich fallen zusam-

158 Vgl. Karin Kress: Narratologie, in: Methodengeschichte der Germanistik, hrsg. v. Jost Schneider (De Gruyter Lexikon), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2009, S. 507–528, hier S. 510. 159 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 21 f. 160 Zudem ist es trivial, bei zwei unterschiedlichen Gattungen oder Genres darauf hinzuweisen, dass bestimmte Phänomene des einen in der anderen Gattung seltener sind (auch Verfahren des Kriminalromans wären im Liebesroman ›Fremdkörper‹). 161 Pfister: Das Drama (2001), S. 106.

228 | 4 Episierung im Drama men und der Erzähler Bouset ›spricht‹ den Rezipienten aus seiner Jetzt-Deixis heraus direkt an. Er geht in diesem Fall offenbar davon aus, der Rezipient befinde sich im selben deiktischen Bezugssystem. Diese logische Unmöglichkeit wird in der Narratologie als Metalepse bezeichnet. Gerade die Metalepse ist aber in Erzähltexten kein allzu häufiges Phänomen einer vorausgesetzten Normalform der Epik¹⁶² und schon gar nicht die gängige Funktion des Erzählerdiskurses. Man könnte diese Thematik auch umgekehrt begreifen und die Behauptung aufstellen, ein ad spectatores in Dramentexten sei mit dem Konzept der Metalepse der Narratologie vergleichbar und das Auftreten einer Ebenendurchbrechung über ein ad spectatores sei in Dramen häufiger als eine Metalepse in Erzähltexten. Ein Indiz dafür wäre, dass die Dramentheorie sowie die Dramenproduktion dafür schon früh den speziellen Begriff ›ad spectatores‹ gebildet haben. Es lässt sich schließen, dass damit das Konzept der Ebenendurchbrechung vornehmlich im Drama Einsatz findet und es daher nicht als ein episches, sondern als ein dramatisches Element verstanden werden muss. Problematisch ist beides: So müssen die Konzepte des vermittelnden Kommunikationssystems und des Ebenenbruchs differenziert werden und man wäre zusätzlich auf empirische Daten zur Häufigkeit von Metalepsen in Dramatik und Epik angewiesen. Beide, die Etablierung eines vermittelnden Kommunikationssystems sowie die speziellere Form der Metalepse, sind weder exklusiv für das Drama wie für die Epik zu verstehen. Vielmehr stellt sich die Frage, warum die gleiche Konstellation nur für eine Gattung als einschlägiges Phänomen veranschlagt wird? Denn es ließe sich einerseits postulieren, dass der Erzähler in den meisten Fällen mit einem Adressaten auf derselben werkinternen Kommunikationsebene zu verorten ist und deswegen nie direkt mit dem realen Rezipienten kommuniziert – Metalepsen in diesem Sinne also gar nicht auftreten können. Andererseits könnte man insbesondere im Hinblick auf den mangelnden Informationsstand bezüglich des Adressaten die Frage stellen, ob nicht immer davon auszugehen wäre, dass der Erzähler mit dem realen Rezipienten spricht? Sollte man Currie folgend, der von der Gleichheit Autor/Erzähler ausgeht, also nicht zusätzlich mit der Gleichheit Rezipient/Adressat rechnen, solange nicht explizit etwas anderes gesagt wird? Hier könnte sich das Problem ergeben, dass in diesem Fall alle Erzähltexte Beispiele für Metalepsen darstellen. Zudem lässt sich thematisieren, ob die Frage nach einem Illusionsbruch nicht eher als eine der Rezeptionsästhetik als eine der analytischen Begrifflichkeit bzw. des Modells gelten könne. Und schließlich lässt sich davon ausgehen, dass die vermittelnde Ebene im Drama, auch wenn sie seltener erzeugt wird, dennoch erstens ohne Mühe generiert und zweitens nicht nur in einer Funktion (Illusionsbruch) zum Einsatz kommen kann. Davon abgesehen stellt Mittelbarkeit ein konstitutives Merkmal jeder Kommunikation dar, ohne die die Kommunikation von vornherein keine mehr wäre. Stellt sie jedoch ein generelles Merkmal

162 Vgl. Rajewsky: Von Erzählern, die (nichts) vermitteln (2007), S. 49.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 229

auch der fiktionalen Kommunikation dar, so ist zu problematisieren, warum sie dann lediglich auf Erzähltexte fixiert ist. Beim obigen Beispiel ist die Ansprache des Rezipienten eher in einer zeitgenössischen Marktplatzaufführung zu suchen. Hier soll keine Distanz geschaffen, dem Rezipienten die Theaterapparatur offengelegt oder ihm der Hinweis auf den fiktionalen Status der Aufführung gegeben werden. Im Gegenteil dient diese vermittelnde Kommunikationsebene gerade der Vorbereitung und dem Einbezug der Zuschauer in die Fiktion und ist selbst schon Teil derselben. Johann macht das Publikum mit seiner Situation vertraut. Entgegen der Auffassung Pfisters wird hier aber keine Distanz geschaffen, sondern es wird versucht, die Zuschauer in die Problematik der Handlung zu integrieren. Es stellt ein Verfahren dar, das auch in Puppentheatern für Kinder gängige Praxis und offensichtlich der Anteilnahme und Illusionsförderung zuträglich ist. ›Episch‹ wird im Zusammenhang mit der Aufhebung der Absolutheit als Begriff für die erzählende Literatur verwendet und steht wie ›narrativ‹ für ›erzählend‹. Mediation oder spezieller die schon problematisierte Mittelbarkeit sind hier konstitutive Merkmale des Epischen im Drama. 4.1.4.2 Aufhebung der Konzentration Die Aufhebung der Konzentration äußert sich über das Phänomen einer dem Epischen zugeschriebenen Breite und Detailfülle im Drama. Diesem wird in seiner Normalform eben eine breite und/oder detailreiche Präsentation als Möglichkeit der Gestaltung abgesprochen. Ein Drama, welches diese Tendenz aber dennoch aufweist, verliert dabei an Konzentration und versucht die »Wirklichkeit in ihrer Totalität und in all ihren individuellen Details auf der Bühne«¹⁶³ zu inszenieren. Pfister rekurriert für die Beschreibung und Grundlage dieser Tendenz und der epischen Breite insbesondere auf Hegel.¹⁶⁴ Die Engführung des Phänomens einer breiten Darstellung lässt sich aber bis zu Aristoteles zurückverfolgen. Dieser umschreibt, als einen Unterschied des Epos zur Tragödie im 17. Kapitel¹⁶⁵ der Poetik die Vorstellung einer ›Ausdehnung‹ der zugrundeliegenden Geschichte durch eine intensivere, besser, detailliertere oder weitläufigere Ausgestaltung derselben über die Erzählung bzw. Ebene der Präsentation. Fuhrmann überträgt die oben erwähnte Stelle tatsächlich mit »Breite«¹⁶⁶ im Gegensatz zur neueren Übersetzung Arbogast Schmitts, der sie mit ›großer Umfang‹ übersetzt. Schmitt erläutert diesen Teil der Poetik:¹⁶⁷

163 Pfister: Das Drama (2001), S. 105. 164 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 105. 165 Vgl. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 56. 166 Vgl. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Fuhrmann) (2008), S. 57. 167 Vgl. Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 5: Poetik, aus dem Griechischen übers. und erläut. v. Arbogast Schmitt, Darmstadt: Akademie Verlag, 2008, S. 24.

230 | 4 Episierung im Drama

Diese [Gattungs-]Differenz [zwischen Drama und Epos, A.W.] liege nicht in dem Rohentwurf der Gesamthandlung, dieser sei z. B. in der Odyssee auch nicht besonders lang, sie liegt vielmehr in der unterschiedlich möglichen Ausarbeitung des Handlungskonzepts. Sie ergebe sich aus der Möglichkeit, die Einzelszenen im Diskurs des Epos auszuweiten, während diese auf Diskursebene des Dramas kurz, wörtlich: ›zusammengeschnitten‹, auf das Wesentliche beschränkt sein müssen.¹⁶⁸

Der ›Umfang‹ eines Epos ist, gerade wenn man auf Epen wie die Ilias oder die Odyssee blickt, ›groß‹ eben durch die Mittel und vor allem die formalen Möglichkeiten der Ausgestaltung, die sich im Genre Epos bieten. Aristoteles sieht in der epischen Breite bzw. im großen Umfang offenbar eine gestalterische Entscheidung bzw. eine Pragmatik der Ästhetik. Mit modernem Vokabular ausgedrückt könnte man diese Verbindung von ästhetischem Anspruch und pragmatischer Ausrichtung als ›Design‹ bezeichnen. Seine Ausführungen beziehen sich auf die zeitlichen Ausdehnungen der vollendeten Tragödie bzw. des Epos, genauer: auf Aufführungszeit bzw. Erzählzeit. An anderer Stelle argumentiert er mit Blick auf das Rezeptionsvermögen der Leser bzw. Zuschauer und bezogen auf die unterschiedlichen Vermittlungs- und Rezeptionsarten von Tragödie und Epos.¹⁶⁹ Auf erzähltheoretische Begriffe abgebildet, handelt es sich bei Aristoteles’ Gedanken um einen rein quantitativen Aspekt zur Unterscheidung der Präsentation bei Tragödie und Epos, der von formalen Möglichkeiten und im Hinblick auf die Aufführung eines Dramas von pragmatischen Überlegungen abhängt. Dies lässt sich im fünften Kapitel der Poetik erkennen. Denn es bringt nach Schmitt der narrative Darstellungsmodus mit sich, dass er keine feste Zeitgrenze hat: weder in der Erzählzeit [. . .] noch in der erzählten Zeit – man kann von einer Handlung mit beliebig langer Dauer erzählen und den Umfang der in die Handlung durch Rückverweise, Nacherzählungen, Vorausdeutungen aufgenommenen Informationen erweitern und so den Zusammenhang immer gegenwärtig halten. Bei einer direkten¹⁷⁰ Handlungsdarstellung wäre eine zu lange oder komplexe Handlung nicht mehr als eine Handlung erkennbar und festhaltbar: Sie wäre, wie Aristoteles sagt, nicht mehr eumn¯emóneutos, nicht mehr gut im Gedächtnis zu behalten (1451a5f.).¹⁷¹

Schmitt verwendet hier nicht nur ›narrativ‹ als Synonym für ›episch‹, er zielt damit auch auf eine mögliche Unterscheidung von narrativ zu dramatisch über Breite bzw. Umfang ab. Erstens lässt sich diese bei einem Verständnis des Dramas wie der Epik als gleichsam narrative Gattungen nicht mehr halten und zweitens zieht Aristoteles als ein prominentes Beispiel seiner Poetik Sophokles’ Stück König Ödipus heran. Als analytisches Drama lebt dieses, speziell über die Person des Sehers als ›Katalysator‹, von Rückverweisen, Nacherzählungen und Vorausdeutungen. Offenbar wird verkannt, dass das Drama gerade auch in der Antike über Botenberichte, integrierte Erzählungen über

168 Aristoteles: Poetik (übersetzt von Schmitt) (2008), S. 549. 169 Vgl. Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike (1992), S. 54. 170 Schmitt bezieht sich hier auf die Aufführung des Dramas. 171 Aristoteles: Poetik (übersetzt von Schmitt) (2008), S. 304.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 231

die Figuren und kommentierende Chorpassagen seine scheinbare Beschränkung auf eine ausschließlich ›präsentische‹, also mimetische Handlungsdarstellung überwinden konnte, der große Umfang auch nicht zur Gattungsdifferenzierung herangezogen wurde und dies darüber hinaus für Aristoteles offenbar nicht zur Debatte stand. Die tendenziell größere Ausdehnung der Erzählung und damit der Erzählzeit des Epos kommt über gestalterische Möglichkeiten zu Stande, die das Epos im Medium des Vortrages und der Schrift gegenüber der Tragödie im Medium des Theaters bzw. der Darstellung eröffnet.¹⁷² Es handelt sich hier also um medientypische Bedingtheiten. Aristoteles beschreibt lediglich pragmatische und produktions- wie rezeptionslogische Gründe, die die Konzentration der Tragödie bzw. die konzentriertere Darstellung bedingen.¹⁷³ Dazu gehören aber auch gerade die Möglichkeiten, die sich durch integrierte Erzählungen eröffnen (zum Beispiel Botenberichte oder Teichoskopien). Die für Aristoteles höhere Stellung der Tragödie gegenüber dem Epos lässt sich aus diesen Überlegungen zusammen mit der Empfehlung einer Einheit des Mythos erkennen.¹⁷⁴ Eine höhere Komplexität der Handlung oder einer Umsetzung derselben mit einer umfangreicheren Ausgestaltung ist damit jedoch nicht prinzipiell konstitutiv für das Epische als das Wesen der Epik. Genauso ist eine Konzentriertheit der Handlung nicht ausschlaggebend für das Wesen der Tragödie und damit des Dramas. Der Mythos stellt bei Aristoteles eine analytisch-narrative Ebene dar. Er nimmt sie sowohl für die Tragödie als auch für das Epos an, die beide im seinen Sinne als mimetische Texte verstanden werden. Ob Details oder ausladende Beschreibungen im Epos oder im Drama umgesetzt werden, liegt zuerst in der Entscheidung des Produzenten. Eine detailreiche oder konzentrierte Darstellung eines bestimmten Stoffes ist nicht gleichzusetzen mit epischen bzw. dramatischen Verfahren oder deren Verwendung innerhalb dieser Darstellung und sie ist in beiden Genres (Epos und Tragödie) nicht auszuschließen. Anders ausgedrückt gehört es weder zum Wesen der Tragödie noch zum Wesen des Epos, da es sich dabei um eine Entscheidung beim Produktionsprozess handelt und diese allgemein die künstlerische Darstellung in unterschiedlichen Medien, Gattungen und Genres betrifft. Da Pfister explizit auf Hegel und im Besonderen auf dessen Ästhetik Bezug nimmt,¹⁷⁵ bietet es sich an, hier noch Hegels Modellvorstellungen zu diesem Aspekt zu reflektieren. Hegel setzt in seiner Ästhetik eine Gattungstrias von Epik, Lyrik und

172 Schmitts Begriff des Narrativen ist in obigen Zitat und unter Berücksichtigung der transgenerischen wie transmedialen Narratologie mit Vorsicht zu verwenden. 173 Vgl. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Schmitt) (2008), S. 8 f., 322 ff.; vgl. Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike (1992), S. 53 f. 174 Vgl. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Schmitt) (2008), S. 304; vgl. Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike (1992), S. 6. 175 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 105.

232 | 4 Episierung im Drama Dramatik voraus. Im dritten Teil seiner Ästhetik bestimmt Hegel diese drei Dichtarten, jede gesondert für sich und in jeweils eigenen, größeren Abschnitten.¹⁷⁶ Speziell in seinem historischen Abriss zum Epos¹⁷⁷ kommt er zwar auch auf ›moderne‹ Formen der Epik zu sprechen, arbeitet diese aber nicht weiter aus. Vielmehr begründet er die Kürze: Für die sonstigen Kreise des gegenwärtigen nationalen und sozialen Lebens endlich hat sich im Felde der epischen Poesie ein unbeschränkter Raum für den Roman, die Erzählung und Novelle aufgetan, deren breite Entwicklungsgeschichte von ihrem Ursprunge ab bis in unsere Gegenwart hinein ich hier jedoch selbst in den allgemeinsten Umrissen nicht weiter zu verfolgen imstande bin.¹⁷⁸

Hegel ordnet der epischen Poesie als Gattung bzw. der Epik zwar sowohl Epen als auch generell Erzähltexte zu, beschreibt das Epische dann aber ausschließlich anhand seiner ›Urform‹, dem homerischen Epos (bzw. dem Nationalepos). Alle typologischen Aspekte des Begriffs ›episch‹, die für eine Analyse derartiger Phänomene relevant werden, bleiben damit auf das Epos bezogen bzw. sind von diesem Genre abgeleitet, da Hegel die anderen Genres wie Roman oder Erzählung ausdrücklich nicht näher betrachtet. Das ›eposhafte‹ und mit ihm in Verbindung gebrachte Strukturen sind in diesem Zusammenhang sekundäre Strukturen der Epik bzw. können zumindest nicht eindeutig als primäre und als der Gattung der Epik und dem Epischen zuzuordnende Strukturen identifiziert werden. Hegel weist dem Epischen bzw. genauer dem Eposhaften einen objektiven Charakter in dem Sinne zu, dass der Produzent bzw. Dichter vom vermittelten Stoff und dessen Darstellung als produzierendes Subjekt abgespalten sei. Denn was [der Rhapsode, A.W.] erzählt, soll als eine dem Inhalte wie der Darstellung nach von ihm als Subjekt entfernte und für sich abgeschlossene Wirklichkeit erscheinen, mit welcher er weder in bezug auf die Sache selbst noch in Rücksicht des Vortrags in eine vollständig subjektive Einigung getreten sein darf.¹⁷⁹

Das Lyrische wird als subjektiver Ausdruck eines produzierenden Subjekts verstanden (die innere Welt, Empfindung und Reflexion desselben). Hegel sieht dementsprechend in der Lyrik und nicht in der Dramatik den Gegenpol zur Epik: Die andere umgekehrte Seite [. . .] zur epischen Poesie bildet die Lyrik. Ihr Inhalt ist das Subjektive, die innere Welt, das betrachtende, empfindende Gemüt, das, statt zu Handlungen fortzugehen,

176 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970, S. 321–324. 177 Vgl. Hegel: Ästhetik III (1970), S. 393–415. 178 Hegel: Ästhetik III (1970), S. 415. 179 Hegel: Ästhetik III (1970), S. 322.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 233

vielmehr bei sich als Innerlichkeit stehenbleibt und sich deshalb auch das Sichaussprechen des Subjekts zur einzigen Form und zum letzten Ziel nehmen kann.¹⁸⁰

Dabei scheint Hegel eine Trennung von Autor und aussagendem Subjekt im Bezug auf die Lyrik in den Hintergrund zu rücken. Das Dramatische schließlich bildet die Synthese zwischen episch und lyrisch. Von Hegel historisch bewertet, bildet das Dramatische auch den Endpunkt und die höchste Form poetischer Umsetzung der Wirklichkeit. Das Dramatische vereint in sich den objektiven Charakter des Epischen und den subjektiven des Lyrischen: »Die dritte Darstellungsweise endlich verknüpft die beiden früheren zu einer neuen Totalität, in welcher wir ebensosehr eine objektive Entfaltung als auch deren Ursprung aus dem Inneren von Individuen vor uns sehen [. . .]«¹⁸¹ Hegel erwähnt in Bezug auf das Epische den Rhapsoden.¹⁸² Davon kann theoretisch eine bestimmte Funktion der vermittelnden Instanz abgeleitet werden; zumindest eine von der vom Autor unterschiedene, formal erkennbare Perspektivensetzung auf den dargestellten Inhalt. Vom Stoff selbst ist der Autor abgelöst, da sich das Epische dadurch auszeichnet, dass »die Abrundung und Ausgestaltung des Epos nicht nur in dem besonderen Inhalt der bestimmten Handlung [liegt], sondern ebensosehr in der Totalität der Weltanschauung, deren objektive Wirklichkeit sie zu schildern unternimmt«.¹⁸³ Die Darstellung einer Totalität bedingt in letzter Konsequenz die Ablösung des produzierenden Subjekts vom dargestellten, ›totalen‹ Inhalt. Der allgemeine Welthintergrund bildet zusammen mit einer individuellen Begebenheit eine Einheit im Epos.¹⁸⁴ »Der Inhalt eines Epos ist [. . .] das Ganze einer Welt, in der eine individuelle Handlung geschieht.«¹⁸⁵ Im Epos findet eine »breite Veranschaulichung der äußeren Realität«¹⁸⁶ statt. Um diese Einheit als Totalität erscheinen zu lassen, müssen »die Empfindungen und Reflexionen [. . .], wie das Äußere, gleichfalls als etwas Geschehenes, Gesagtes, Gedachtes berichtet werden und den ruhig fortschreitenden epischen Ton nicht unterbrechen«.¹⁸⁷ Das Ganze noch einmal anders ausgedrückt: Der Autor eines Epos ist unterscheidbar von der Erzählerrede bzw. dem Bericht oder der Beschreibung der Umstände und der Handlung. Diese Erzählerrede wiederum differenziert sich von der beschriebenen Handlung bzw. den beschriebenen Figuren der Handlung selbst, die in einer Art Überund Nachsicht poetisch umgesetzt sind. Die Trennung des poetischen und produzierenden Subjekts von der beschriebenen Welt samt der individuellen Handlung lässt das

180 Hegel: Ästhetik III (1970), S. 322. 181 Hegel: Ästhetik III (1970), S. 323. 182 Vgl. Hegel: Ästhetik III (1970), S. 322. 183 Hegel: Ästhetik III (1970), S. 390. 184 Vgl. Hegel: Ästhetik III (1970), S. 373. 185 Hegel: Ästhetik III (1970), S. 373. 186 Hegel: Ästhetik III (1970), S. 374. 187 Hegel: Ästhetik III (1970), S. 375.

234 | 4 Episierung im Drama Epos als eine objektive Darstellung erscheinen und kann so den Eindruck von Totalität vermitteln. Der deiktische Abstand der Zeit des Autors, des Erzählers und der Handlung macht neben einem objektiven Charakter die Totalität der Beschreibung auf Ebene des Erzählers möglich.¹⁸⁸ Hinzu kommt, dass Hegel damit gleichzeitig dem Epischen einen eher ›ruhigen Ton‹ zuschreibt, was umgekehrt dem Lyrischen wie Dramatischen einen eher ›aufgeregten Ton‹ zuweist. Er macht sich des Weiteren Gedanken über den Umfang eines Epos und dessen Breite der Darstellung: Wir haben gleich anfangs gesehen, dass sich in dem wahrhaft epischen Begebnis nicht eine einzelne willkürliche Tat vollbringe und somit ein bloß zufälliges Geschehen erzählt werde, sondern eine in die Totalität ihrer Zeit und nationalen Zuständen verzweigte Handlung, welche deshalb nun auch nur innerhalb einer ausgebreiteten Welt zur Anschauung gelangen kann und die Darstellung dieser gesamten Wirklichkeit fordert.¹⁸⁹

Dies scheint mir, wie auch die Einteilung in Epik, Dramatik und Lyrik, die Hegel auf Basis der Dichotomie von Innerem und Äußerem, Subjektivität und Objektivität unternimmt, idealistisch in dem Sinne gedacht, dass sich diese strikte Trennung nicht immer in konkreten Texten finden lassen wird und wohl keine ›gesamte Wirklichkeit‹ darstellbar ist. Hegel ist sich zudem des Charakters einer sprachlichen Darstellung bewusst, die die Beschreibung einer eventuell ganzheitlich in der Anschauung überblickbaren, objektiven Realität nur sukzessive leisten kann und eine absolute Abbildung dieser Totalität in all ihren Details tendenziell nicht zu leisten imstande ist. Was allerdings in dieser idealistischen Vorstellung möglich scheint, ist die objektive Darstellung bzw. die Vernachlässigung einer durch die Perspektive eines Subjekts geleiteten Beschreibung, die eigentlich nie einer objektiven entsprechen kann. In Zusammenhang mit einem Vergleich der Malerei mit der Poesie beschreibt Hegel ähnlich den Ausführungen Lessings in Laokoon (1767) den Makel der Sukzessivität der sprachlichen Darstellung so: Bei diesem Nachteil [die Malerei kann im Gegensatz zur Dichtung nicht die Entwicklung einer Situation oder Handlung zeigen, A.W.] gegen den Dichter hat nun aber der Maler den Vorteil voraus, daß er die bestimmte Szene, indem er sie sinnlich vor die Anschauung im Scheine ihrer wirklichen Realität bringt, in der vollkommensten Einzelheit ausmalen kann. [. . .] Die Beschreibung [. . .] in Worten ist einerseits sehr trocken und tädiös und kann dennoch, wenn sie aufs einzelne eingehen will, niemals fertig werden; andererseits bleibt sie verwirrt, weil sie das als ein Nacheinander der Vorstellung geben muß, was in der Malerei auf einmal vor der Anschauung steht, so daß wir das Vorhergehende immer vergessen [!] und aus der Vorstellung heraushaben, während

188 Vgl. Thomas Steinfeld: Symbolik – Klassik – Romantik. Versuch einer formanalytischen Kritik der Literaturphilosophie Hegels (Hochschulschriften. Literaturwissenschaft 63), Königstein im Taunus: Forum Academicum in der Verlagsgruppe Athenäum, Hain, Hanstein, 1984, S. 371. 189 Hegel: Ästhetik III (1970), S. 339.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 235

es doch wesentlich mit dem anderen, was folgt, in Zusammenhang sein soll, da es im Raum zusammengehört und nur in dieser Verknüpfung und diesem Zugleich einen Wert hat.¹⁹⁰

Hegel verweist darauf, dass die Beschreibung der Umstände und der Figuren von außen aus einer totalen Perspektive im Epischen tendenziell das Gros der Präsentation bzw. der Aufmerksamkeit der Erzählerrede ausmacht.¹⁹¹ Zusammenfassend lassen sich anhand der Ausführungen Hegels zum Epos (bzw. Eposhaften) drei wesentliche Aspekte des Epischen abstrahieren: Erstens die Ideen der erklärenden und kommentierenden Funktion des Epischen, worauf sich gerade die Theorien zum epischen Theater beziehen, zweitens der dem Epischen zugeschriebene Detailreichtum bzw. die epische Breite (Totalität) und als Disposition drittens eine gewisse ›Ruhe‹. Hegel verwendet auch den Ausdruck ›epische Breite‹: »Das Nächste, was in Ansehung hierauf zu berücksichtigen ist, betrifft die Breite, zu welcher das Epos auseinandergeht. Sie findet ihren Grund sowohl im Inhalte desselben als auch in der Form.«¹⁹² Er führt dies zurück auf die Notwendigkeit einer überblickenden, objektiven Darstellung und auf eine geschichtlich verankerte nationale Identität, die über den Inhalt des Epos ausgedrückt wird.¹⁹³ Ähnliche Gedanken, nur ohne die Zuschreibung zum Epischen, finden sich auch bei Aristoteles.¹⁹⁴ Die ›Breite‹ des Epos im Gegensatz zum konzentrierten Drama ist bei Hegel allerdings nicht wie bei Aristoteles auf Pragmatik und Design der Produktion, sondern vielmehr auf idealistisch-ästhetische Voraussetzungen gegründet. Nach Hegel ist damit die epische Breite im dem Epos zugeschriebenen Inhalt begründet. Aus der in diesem Sinne epischen Darstellung einer Historie und Kultur einer ganzen Nation, die eine nationale Vergewisserung über eben diese zusammenhängende Geschichte leistet, leitet sich der Umstand einer umfangreichen Darstellung ab. Für Aristoteles zeigt sich die epische Breite vor allem von in den Darstellungsmöglichkeiten des Mediums Epos. Bei beiden findet sich aber ein ähnlicher Gedanke. Bei Aristoteles stellt ein Mythos etwas dar, dass Anfang, Mitte und Schluss besitzt. Der Mythos kann also als ein vom Dichter komponiertes, abgeschlossenes Ganzes betrachtet werden. An Hegels Begriff der Totalität bezüglich des Epos zeigt sich Ähnliches. Es wird nicht eine einzelne willkürliche Tat oder nur ein zufälliges Geschehen dargestellt, sondern eine Handlung, die in die Totalität ihrer Zeit und nationalen Zustände eingebunden ist. Wird die epische Breite noch in Aristoteles’ und Hegels Überlegungen direkt benannt, so ist der damit oft verquickte epische Detailreichtum bei keinem der beiden

190 Hegel: Ästhetik III (1970), S. 89 f. 191 Vgl. Steinfeld: Symbolik – Klassik – Romantik (1984), S. 373. 192 Hervorhebung im Original. Hegel: Ästhetik III (1970), S. 378. 193 Vgl. Hegel: Ästhetik III (1970), 363 f., 373, 378 f., u.a. 194 vgl. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Schmitt) (2008), 9.11 f., 18.12 f., 24.4–24.7 und 26.13.

236 | 4 Episierung im Drama explizit zu finden und nur indirekt ableitbar. Insbesondere im Realismus und Naturalismus ist die Epik und damit das Epische in seiner vornehmlich zeitgenössischen Form als Roman ideen- und ästhetikgeschichtlich mit einem höheren Detailreichtum verbunden. Genau dieser angenommene genuin epische Detailreichtum tritt denn auch zur Zeit des Naturalismus besonders prominent in Dramen hervor. Damit spiegelt das naturalistische Drama die positivistische Empirie der Naturwissenschaften geistesgeschichtlich im künstlerischen Medium wieder. So stark das epische Theater mit dem Begriff ›Episierung‹ verbunden ist, so eng wird die Dichtung des Naturalismus und darin speziell das naturalistische Drama auf die Aspekte der Aufhebung der Konzentration (Breite bzw. Umfang und Detailreichtum) bezogen. Dies zeige sich in »breite[n] [oder detailreichen, A.W.] Orts-, Personen- und Verhaltensbeschreibungen«.¹⁹⁵ Teilweise redundante oder aber für den Aufführungstext scheinbar unnötig detailreiche und lange Nebentextpassagen sowie deren äußerst genauen Figurenzeichnungen bis hin zu charaktertypischen Gesten und Verhaltensweisen deuteten beispielsweise für Friedrich Spielhagen¹⁹⁶ auf einen epischen Stil im naturalistischen Drama hin,¹⁹⁷ den dieses vom Roman übernommen habe. Pfister nennt es einen »normativen Gattungspurismus«,¹⁹⁸ der Spielhagen zu der Überzeugung gelangen ließ, dass naturalistische Dramen episiert seien. Sie würden wie der Roman versuchen, möglichst jedes Detail, das das menschliche Leben beeinflusst, aufzuzeigen.¹⁹⁹ Diesem Purismus könnte es zu verdanken sein, dieses als Gattungsmischung bezeichnete Phänomen eher negativ und damit eigentlich als Fehler einer poetischen Konzeption zu betrachten. Spielhagen kritisiert insbesondere das Schwelgen in »epischen Details«,²⁰⁰ worin sich Hegels Begriff der Totalität der epischen Ausdrucksform andeutet. Andere Genres der Gattung Epik wie Tierfabeln, Parabeln oder Kurzgeschichten zeichnen sich im Gegensatz zum Genre des Epos gerade durch relative Kürze und Abstraktheit aus.²⁰¹ Bernhard Asmuth schränkt schon deshalb die Verknüpfung von episch mit Breite und Detailfülle explizit ein, wenn er für das Drama im »eigentlichen Sinne episch [. . .] nur die ausdrücklichen Äußerungen eines über dem Geschehen oder abseits von ihm stehenden »Erzählers« «²⁰² gelten lässt und er ›episch‹ damit als Synonym des engen narrativ-Begriffs versteht. Episches als etwas Erzähltexthaftes muss nicht an Detailreichtum und großen Umfang gebunden sein. Allerdings kann gerade

195 Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 53. 196 Vgl. Friedrich Spielhagen: Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik. Faksimiledruck nach der 1. Auflage von 1883, Leipzig: Verlag von L. Staackmann, 1898, S. 232 f. 197 Vgl. Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 53. 198 Pfister: Das Drama (2001), S. 105. 199 Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 105; vgl. Spielhagen: Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik (1898), S. 232 f. 200 Spielhagen: Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik (1898), S. 233. 201 Vgl. auch Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 55. 202 Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (1997), S. 55.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 237

letzteres Kriterium als konstituierend für die Gattung Epos verstanden werden. Es ist mit Asmuth zu kurz gegriffen, Breite und Detail als hinreichend oder gar notwendig für das Epische zu bestimmen. Damit schließt Asmuth zumindest beide Kriterien der epische Breite und Detailfülle aus dem Begriffsfeld der Episierung kategorisch aus. Wenn, dann ist episch nur im Sinne von eposhaft an das Kriterium des großen Umfanges gebunden. Ein eposhafter Detailreichtum ist insbesondere ein Merkmal des realistischen und naturalistischen Romans oder der Genres des Romans und des Epos überhaupt. Bezogen auf die von Pfister herausgestellte Tendenz der Aufhebung der Konzentration bedeutet dies Folgendes: Während dem Dramatischen eine eher der potenziellen Aufführung in räumlicher sowie in zeitlicher Hinsicht geschuldete Konzentration der dargestellten Handlung und ihre Abbildung im Dramentext zugeschrieben wird, eröffnet sich dem Epischen auf der anderen Seite die Möglichkeit einer weitaus größeren Beschreibungs- bzw. Darstellungsbreite. Wenn also in der Epik Handlungen und ihre Umstände nahezu in all ihren Details abbildbar seien, wäre der Produzent bei der Dramatik gezwungen, sich in einem gewissen Sinne auf das Wesentliche zu konzentrieren. Im Umkehrschluss tendiert ein Text dann dazu ›dramatisch‹ zu sein, wenn er sich auf eine (Haupt-)Handlung konzentriert und ›unnötigen Ballast‹ an Details, Beschreibungen von Umständen, Zwischen-, Nebenhandlungen und Anachronien vernachlässigt. Das Epos nimmt diese Neben- und Zwischenhandlungen sowie ausführliche Beschreibungen der Umstände hinzu, auf die im Drama zugunsten der konzisen Haupthandlung verzichtet wird. Es scheinen allerdings pragmatisch formale bzw. medienspezifische Bedingtheiten zu sein, die das Drama und damit das Dramatische in seiner Gattungsgeschichte konzentrierter wirken lassen. Davon abgesehen lassen sich, eposhafte Breite bei Dramentexten auf Diskursebene betreffend, mit Goethes Faust, Schillers Wilhelm Tell, Kleists Käthchen von Heilbronn, Merlin oder Das wüste Land von Tankred Dorst oder Auf der Greifswalder Straße von Roland Schimmelpfennig weitaus bessere Beispiele für großen Umfang und Detailreichtum finden, als bei den Dramen des Naturalismus. Pfister umschreibt die Funktion dieser Tendenz der Episierung damit, dass durch sie »psychologische, soziale und über Persönliches und Zwischenmenschliches hinausgehende Kausalzusammenhänge transparent [gemacht] und die Wirklichkeit in ihrem konkreten Sosein«²⁰³ kritisiert werden. Ich kann hier nicht entscheiden, ob ein detailreich anmutender Text vordergründig Kritik im Sinne hat. Detailreichtum in eine direkte Verbindung mit besserer Verständlichkeit kausaler Zusammenhänge und einem kritischen Impetus zu setzen, wie es Pfister vorschlägt, scheint aber nicht vertretbar, weil in vielen Fällen eine starke Abstraktion oder Vereinfachung von detailreichen Kontexten und Ereignisabläufen die Verständlichkeit fördern oder eine Kritik dadurch erst treffend machen können. Nicht

203 Pfister: Das Drama (2001), S. 105.

238 | 4 Episierung im Drama zuletzt deswegen ist an dieser der Episierung zugeordneten Tendenz eine kritische Reflexion angebracht. Wird episch mit der detailreichen oder breiten Repräsentation einer Geschichte über die Erzählung gleichgesetzt, sind Dramen dann als episiert anzusehen, wenn sie wie beispielsweise im Naturalismus eine besonders genaue Zeichnung des Bühnengeschehens und/oder des Bühnenbildes liefern oder aber wie bei Goethes Faust oder Götz von Berlichingen die zugrundeliegende Geschichte in einem ausdifferenzierten Handlungsnetz (Haupt- und Nebenhandlungen) und über detailreich ausgearbeitet Einzelszenen in all seinen Facetten darstellen oder aber, wie bei Dorsts Merlin oder das wüste Land bzw. abermals Faust, eine für die Gattung Drama überdurchschnittliche Länge annehmen. Die drei Phänomene sind indes nicht ineins zu setzen. Sie sind auf verschiedene Bereiche zu beziehen (Geschichte oder Gegenstände) und sind teils qualitativ (Handlungsstruktur), teils quantitativ (bloße Länge) geprägt. Wenn etwa das Genre der Novelle von Theodor Storm einmal als ›Schwester des Dramas‹ bezeichnet wurde, scheint sie dem Dramatischen oder Nicht-Epischen nahe. Allerdings wird dies in der Hauptsache auf den mitunter konzise strukturierten und dem Drama ähnlichen Aufbau (qualitativ) und weniger auf die Länge oder detaillierte Darstellung der behandelten Gegenstände bezogen. Sie wird nicht deshalb in die Nähe des Dramas gerückt, weil sie wenig Detailreichtum oder eine geringe Breite besitzt, sondern weil sie einen Dramen zugeschriebenen Aufbau bzw. ein bestimmtes Handlungsschema aufweist. Die epische Breite ist letztlich sowohl bei Aristoteles als auch bei Hegel allein von einem Genre der Epik, dem Epos, abgeleitet und erstreckt sich im Laufe der Literaturgeschichte auch auf das Genre Roman. Sie ist zudem nur auf die Länge der Präsentation bzw. auf den Umfang und Detailreichtum der Erzählung bezogen. Zwar lässt sich der epische Detailreichtum aus der größeren Handlungsausdehnung ableiten, jedoch sind Details selbst bei Epen nicht immer gegeben. Figuren, Orte und Zeitspannen können durchaus nur sehr holzschnittartig wiedergegeben, beschrieben bzw. erzählt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Detailfülle als episches (und nicht mehr nur eposhaftes) Verfahren von poetologischen Überlegungen zum modernen Roman und hier unter anderem von Spielhagen zum realistischen und naturalistischen Roman herrührt. Dies nehme ich auch für die Überlegungen an, nach der Detailgenauigkeit den Schein von Objektivität fördern kann. Wobei dies allerdings meiner Meinung nach in einem Kurzschluss als Eigenschaft des Epischen betrachtet wird. Aus alledem folgt, dass je eine Tendenz der Episierung angenommen wird, die sich von den Charakteristika des Epos ableitet und eine die sich vom naturalistischen Roman herleitet. Der Bedeutungsgehalt von ›episch‹ ist damit in der Tendenz der Auflösung der Konzentration abgeleitet von Zuschreibungen aus der Differenz von Epos und Roman zur prototypischen Vorstellung des Dramas und wird dann zum generellen Unterscheidungskriterium zwischen Epik und Dramatik.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung | 239

Nimmt man aber gerade die dem Epischen zugeschrieben Breite ernst, könnte Kurzgeschichten, Fabeln, Novellen und ähnlich ›kurzen‹ Erzähltexten ein epischer Charakter und damit auch die Zuordnung zur Gattung Epik abgesprochen werden. Eine ›breite Darstellung‹ ist sicherlich häufiger bei Epen anzutreffen. Sie ist allerdings kein Merkmal, dass auf Epen beschränkt ist. Breit und detailreich darstellen lässt sich vieles, sei es nun in Gedichten, Bildern, Dramen oder Filmen. Sicherlich wird bei einem langem Film wie Ben-Hur (1959) unter der Regie von William Wyler oder einem besonders langen Roman wie Krieg und Frieden (1868) von Leo Tolstoi dann auch gerne von einem Epos gesprochen. Aber es ließe sich nicht ohne Weiteres begründen, dass Ben-Hur deshalb besonders erzähltexthaft sei. Dass der Film nun besonders eposhaft sei, erscheint hingegen weniger erklärungsbedürftig. Auch zur Zeit des naturalistischen Dramas stellte sich das nur scheinbare Problem Texte aus der Gattung Drama mit Schreibweisen vermischt zu sehen, die in diesen Texten eher selten auftraten. Auf literaturtheoretischer Ebene stellt sich das Problem, dass hier die Analyse dieser Texte schon allein durch die rigide Zuschreibung bestimmter ›erlaubter‹ oder erwarteter Mittel erschwert wird, insofern diese Mittel einer klassischen und klassifikatorischen Definition der Gattung nach gar nicht auftreten dürfen. Einen weiteren Punkt wurde oben schon in ähnlicher Weise beim epischen Theater herausgearbeitet: Dem Epischen bzw. genauer dem epischen Verfahren werden, abgeleitet von der Gattung der Epik, bestimmte Eigenarten, hier das der Detailfülle zugeschrieben, die in der Form womöglich nicht in Dramentexten auftrat, die aber deswegen nicht dem Epischen als solchem eigen sein müssen. Detailreichtum und Breite bzw. großer Umfang stellen sich somit nicht als konstitutive Kriterien für Erzähltexte heraus. Eher sind sie genretypische Phänomene des Epos und sind besser mit ›eposhaft‹ als mit ›episch‹ zu benennen. Sie können auch nicht dazu dienen, das Drama vom Epos oder von der Epik zu unterscheiden, da sie fakultative Verfahren der Epik ebenso wie der Dramatik darstellen und eher Designentscheidungen des Produktionsprozesses von Artefakten jedweden Genres oder Mediums darstellen. 4.1.4.3 Aufhebung der Finalität Bei der Tendenz Aufhebung der Finalität äußert sich das Epische eines Werks in der Selbstständigkeit seiner Teile, während sich das Dramatische in seiner vorwärts auf das Ende drängenden Machart bzw. in der »Finalität der vorwärtsdrängenden Endbezogenheit der Teile«²⁰⁴ zeigt. In einem Drama mit episodischer Struktur – einem für die Aufhebung der Finalität epischen Ausdruck – finden sich in Bezug auf den Handlungsausgang des Dramas unabhängige Einzelszenen oder Abschnitte, wobei die Relationen zwischen diesen wichtiger seien, als ihr jeweiliger Bezug auf den Handlungsausgang

204 Pfister: Das Drama (2001), S. 104.

240 | 4 Episierung im Drama des Dramas.²⁰⁵ Episch ist hier offenbar mit einer ursächlichen bzw. kausalen Relation von Ereignissen konnotiert; im Gegensatz zu einer zweckhaften bzw. finalen Beziehung der Einzelszenen. In einem Drama mit episodischer Struktur finden sich demnach relativ selbstständige Einzelszenen. Die Einzelszenen bilden pointierte Kontraste und unterstützen eine wechselseitige Relativierung und Verfremdung. Die Spannung liegt dann auf dem Gang der Handlung und nicht auf dem Ausgang, was, so Pfister, zu einer ›Ent-Spannung‹ des Zuschauers führe und ihn zu einer kritischen Betrachtung und einer fruchtbaren Reflexion befähigen solle.²⁰⁶ Implizit könne damit das Konzept einer variablen und veränderbaren Wirklichkeit repräsentiert werden.²⁰⁷ Der Finalität des Dramatischen steht das Episodische im Sinne einer relativ unmotivierten, also nicht direkt auf ein Ziel gerichteten Gesamtkonzeption der Erzählung entgegen. Episodisch als hier ins Feld geführte Bedeutung von ›episch‹ ist in diesem Zusammenhang als das Gegenteil von final motiviert zu begreifen. Epische Darstellung bedeutet hier anti-finale Darstellung. Zum Aufbau von Erzählung und Geschichte finden sich Überlegungen bei Aristoteles. Unter anderem anhand des Kriteriums der Handlung bzw. des Mythos differenziert er die gute und die schlechte Tragödie. Nach Aristoteles ist die Tragödie die Nachahmung einer vollständigen und ganzen Handlung [gemeint ist Mythos, A.W.] [. . .], | die einen gewissen Umfang hat. [. . .] Ein Ganzes aber ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. [. . .] Wer also eine Handlung gut zusammenstellen will, darf nicht von irgendwoher, wie es sich gerade trifft, anfangen, noch, wie es sich gerade ergibt, irgendwo enden [. . .]²⁰⁸

Episodisch gebaute Mythen seien generell die schlechter gestalteten und gerade für die Tragödie ungeeignet. »Episodisch nenne ich einen Mythos, in dem | das Nacheinander der Szenen weder wahrscheinlich noch notwendig ist.«²⁰⁹ Aristoteles betrachtet den Mythos zunächst als eine abstrakte Handlungsgrundlage bzw. als eine Geschichte, die mit der Anwendung unterschiedlicher Darstellungsverfahren zu einer Erzählung in der Gattung der Tragödie oder der des Epos umgesetzt werden kann. Episodisch ist damit nicht aus einem Charakteristikum der Gattung Epos abgeleitet, sondern es verkörpert eine Eigenschaft die der Mythos bzw. in narratologischer Terminologie eine Geschichte als repräsentierter Inhalt des Erzählens aufweisen kann. Episodisch und nicht-episodisch dient bei Aristoteles zwar zur Unterscheidung von guten und schlechten Tragödien, jedoch abermals und wie schon bei Breite und Detailreichtum nicht als Differenzkriterium zwischen Epos und Tragödie und der daraus abgeleiteten Gattungsdifferenzierung in Epik und Dramatik. Diese Bedeutung findet sich laut Fuhrmann im 9. Kapitel der Poetik:

205 206 207 208 209

Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 104. Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 104. Vgl. Pfister: Das Drama (2001), S. 104. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Schmitt) (2008), S. 12. Aristoteles: Poetik (übersetzt von Schmitt) (2008), S. 14 f.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung |

241

Aristoteles verwirft dort tragische Handlungen, deren Teile nur zeitlich und nicht auch notwendiger- oder wahrscheinlicherweise (also kausal) miteinander verbunden seien; er bezeichnet eine derartige Reihung als ›episodisch‹. Das Adjektiv läßt vermuten, daß ›Epeisodion‹ schon in aristotelischer Zeit nicht nur den in das Ganze der Handlung integrierten, sondern auch den verselbstständigten, den mehr oder minder isolierten Teil der tragischen Fabel (oder der Fabel überhaupt), also die ›Episode‹ bezeichnen konnte; diese Bedeutung hat sich später allgemein durchgesetzt.²¹⁰

Während ›Epeisodion‹ streng genommen »die durch Chorlieder eingerahmten dialogischen Partien«²¹¹ in Dramen bezeichnet, verwendet Aristoteles den Begriff zusätzlich in einer abstrakteren Bedeutung: »Anderswo steht ›Epeisodion‹ nicht nur für bestimmte Partien der Tragödie, sondern allgemein für jedweden, sei es epischen, sei es dramatischen Handlungsabschnitt.«²¹² Es wird bei Fuhrmann nicht ganz klar, ob er in seiner Gegenüberstellung von ›episch/dramatisch‹ dies im Sinne von ›Epos/Tragödie‹ oder ›narrativ/dramatisch‹ versteht. Aristoteles verwendet episodisch jedenfalls in dieser Auslegung als mögliche Einteilung eines zusammenhängenden sowie kausal, teleologisch oder final ausgerichteten Mythos. Anders ausgedrückt: Auch ein final motivierter Mythos kann in Episoden oder Sinnabschnitte eingeteilt werden. Dazu muss die Bedeutung von ›Mythos‹ in Betracht gezogen werden. Bei Aristoteles sind die Ereignisse, die einem guten Mythos zugrunde liegen, nicht nur untereinander kausal, sondern auch übergreifend final relationiert. Handlung im eigentlichen Sinn ist [. . .] für Aristoteles sýstasis ton pragmáton, eine ›systemisch‹einheitliche Ordnung der Handlungsschritte auf die Einheit einer im Erreichen oder Verfehlen des erstrebten Guts abgeschlossenen Handlungsganzheit. Eine solche Handlungskomposition nennt Aristoteles Mythos (1450a4f.). Mythos bezeichnet in der Poetik also nicht eine überlieferte, sagenhafte Geschichte, sondern den funktionalen Zusammenhang mehrerer Handlungsschritte zu einer Einheit.²¹³

Nun leitet Pfister diese Bedeutung von ›episch‹ allerdings abermals nicht von Aristoteles ab, was durchaus verwundert, insofern Aristoteles ja mit seinen Überlegungen zum gut und schlecht gestalteten Mythos durchaus Ansatzpunkte bietet. Pfister nimmt vielmehr Bezug auf die Ausführungen Goethes und Schillers in Über epische und dramatische Dichtung.²¹⁴ Jedoch finden sich auch dort ähnliche Überlegungen und Zuschreibungen. Es werden fünf Motive erwähnt, die sowohl in epischer als auch in dramatischer Dichtung auftauchen können: vorwärtsschreitende, rückwärtsschreitende, retardierende, zurückgreifende und vorgreifende Motive.²¹⁵ Als relevant für die Aufhebung der Fina-

210 Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike (1992), S. 54. 211 Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike (1992), S. 54. 212 Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike (1992), S. 54. 213 Aristoteles: Poetik (übersetzt von Schmitt) (2008), S. 119 f. 214 Vgl. Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung (2006). 215 Vgl. Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung (2006), S. 126 f.

242 | 4 Episierung im Drama lität sind die ersten beiden einzuschätzen: Vorwärtsschreitende Motive fänden sich dabei häufiger im Drama. Diese Motive »fördern«,²¹⁶ also bringen die Handlung voran. In der epischen Dichtung tauchen vornehmlich die rückwärtsschreitenden Motive auf, »welche die Handlung von ihrem Ziele entfernen«.²¹⁷ Goethe und Schiller sehen trotzdem keine unbedingte Zuordnung der ›Motive‹ zu Epik oder Dramatik gegeben: »Das epische Gedicht stellt [. . .] den außer sich wirkenden Menschen: Schlachten, Reisen, jede Art von Unternehmung, die eine gewisse sinnliche Breite fordert«²¹⁸ vor. Der Erzähler bzw. »der Rhapsode wird nach Belieben rückwärts und vorwärts greifen und wandeln«.²¹⁹ Vorwärtsschreitende Motive können, wenn auch seltener, in der Epik auftauchen wie gleichfalls rückwärtsschreitende in der Dramatik eher spärlich verwendet werden. In Bezug auf die bildhafte Sprache wird bei Goethe und Schiller nicht ganz klar, ob hier die handlungsfördernden und vorwärtsschreitenden Motive ausschließlich zeitlich gedacht sind oder im spezieller behandelten ›finalen‹ Sinn. Goethe und Schiller sehen diese Motive nicht der einen oder anderen Gattung zugeordnet. Auch sie scheinen von einer abstrahierbaren Form der zugrundeliegenden Geschichte auszugehen, die mithilfe von darstellenden Verfahren in einer Erzählung umgesetzt wird. Sie gestehen lediglich zu, dass das eine oder andere ›Motiv‹ häufiger in der einen oder anderen Gattung angewendet wird. Ausgehend von der aufgeführten Form des Dramas liegt der Unterschied der Gattungen damit in der intendierten Darstellungsweise begründet, nicht aber in verschiedenen »poetischen Gesetzen«²²⁰ oder ableitbaren Verfahren: Der Epiker und der Dramatiker sind beide den allgemeinen poetischen Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände, und können beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr großer wesentlicher Unterschied beruht aber darin, daß der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt, und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt.²²¹

Letzteres bedeutet aber, dass die Unterschiede weniger in den generellen, sondern vielmehr in denjenigen Möglichkeiten liegen, die ein Genre, eine Gattung oder ein Medium gegenüber anderen bieten kann. Das Bisherige lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Für Aristoteles fehlen episodisch aufgebauten Mythen sowohl der aus der Darstellung selbst folgende kausale als auch der finale Bezug zwischen den Einzelepisoden. Damit kommt es zu einer Überlagerung von zwei Bedeutungen von ›episodisch‹: einmal als Bezeichnung für

216 Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung (2006), S. 126. 217 Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung (2006), S. 127. 218 Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung (2006), S. 126. 219 Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung (2006), S. 126 f. 220 Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung (2006), S. 126. 221 Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung (2006), S. 126.

4.1 Die bisherigen Modelle der Episierung |

243

die generell mögliche Aufteilung einer Geschichte über die Erzählung in Handlungsabschnitte und ein andermal als eine Bezeichnung für Erzählungen, bei denen die Ordnung der Episoden nicht derart gestaltet ist, dass aus der Reihung selbst heraus erkannt werden kann, ob die Einzelepisoden in einer notwendigen und wahrscheinlichen kausalen oder finalen Anordnung stehen. Hier bietet sich meines Erachtens eine Unterscheidung an: In dramatischen Mythen sind die Einzelepisoden so aufgebaut und geordnet, dass die kausale und finale Kohärenz aus der Sequenz selbst offensichtlich wird. In episch gebauten Mythen wird die kausale und finale Kohärenz nicht oder nicht nur durch die Reihung als notwendig und wahrscheinlich rezipiert, sondern sie wird auch durch die Zuhilfenahme kommentierender und verknüpfender Strukturen explizit hergestellt. ›Episodisch‹ steht in diesem Fall nicht im Zusammenhang mit einer Eigenart des Epos oder der Tragödie, sondern ist eine generelle Eigenschaft der narrativen Ebenen Geschichte und Erzählung. Als episodisch können damit Repräsentationen von Geschichten in Erzählungen bezeichnet werden, deren kausale und finale Kohärenz sich nicht allein aus der Ordnung der Einzelabschnitte ergibt. Wird ›episch‹ mit ›anti-final‹ konnotiert, sind alle Dramen episiert, die nicht dem Freytagschen Schema folgen. Dies sind beispielsweise Dramen, die vielmehr den Schwerpunkt auf die teleologische Darstellung eines Themas zur conditio humana legen, wie es beispielsweise in barocken Märtyrerdramen der Fall ist. Das Ziel der Darstellung liegt nicht im synthetischen Aufbau hin zu einem ›Finale‹ – dass der Märtyrer unverdient sterben wird, ist von Anfang an klar –, sondern vielmehr in der Darstellung der Umstände bzw. der Grundlagen seines Martyriums, wie es beispielsweise bei Gryphius’ Catharina von Georgien der Fall ist. Die ideologische Prämisse findet sich hier bereits im Untertitel: Bewährte Beständigkeit. Die Rechtfertigung des qualvollen Tods wird durch die Figur Ewigkeit im Prolog des Dramas gegeben, die die diesseitige Welt als ein ›Jammertal‹ beschreibt. Ein anders geartetes Beispiel eines nicht final aufgebauten Dramas liefert Arthur Schnitzlers Stück Reigen (1903), worin er mit Einzelepisoden arbeitet, die nicht durch einen finalen Handlungsstrang, sondern lediglich durch eine jeweils in die nächste Szene übernommene Figur verbunden sind. Die übergreifende Handlung, wenn von einer solchen in einem Episodenstück überhaupt gesprochen werden kann, ist in diesem Fall als Kreislauf bzw. als die Wiederkehr des ewig Gleichen dargestellt. Im Fall von Schnitzlers Stück liegt der Fokus weniger auf einer stringenten Handlung hin zu einem Finale, als auf der Darstellung eines einzigen Motivs (Liebe) in verschiedenen Facetten und anhand mehrerer Einzelepisoden. Wird aber das Stück dadurch epischer oder muss der Begriff auch in diesem Kontext aufgegeben werden, zumal sich abermals Texte der Epik nicht generell durch einen episodenhaften Aufbau auszeichnen? Anhand einer episodenhaften und aus in sich abgeschlossenen Teilen aufgebauten Erzählung kann beispielsweise nur dann mühelos eine kohärente und sinnvolle Geschichte abgeleitet werden, wenn sich ein Erzähler einschaltet, der die Einzelepisoden

244 | 4 Episierung im Drama zueinander relationiert und der etwa die kausalen oder kompositorischen Verbindungen zwischen den Einzelepisoden offenlegt, um ein kohärentes Bild zu gestalten. Pfister hingegen bringt ›episodisch‹ insofern mit einer anti-finalen Darstellung in Verbindung, als die Einzelepisoden, aus denen das Gesamtwerk besteht, zwar in sich abgeschlossen sind, aber in der Summe nicht auf ein finales Ereignis des Gesamtwerks hinauslaufen. Die Ereignisse der Episoden und die daraus resultierende Ereignissequenz läuft nicht auf ein Finale hinaus und die Ereignisse bedingen sich an den Übergangsstellen zwischen den jeweiligen Episoden kaum gegenseitig. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass in final gestalteten Texten scheinbar jedes Ereignis zielführend auf das Ende hin ausgerichtet ist. Jedes Ereignis ist notwendig für den Fortund Ausgang der Erzählung. Bei einem in diesem Sinne ideal gebauten Drama seien nach Pfister die Ereignisse so gesetzt, dass über sie hinaus keinerlei weitere Vermittlung durch eine erzählende Instanz nötig würde. Episch zu sein bedeutet dieser Auffassung zufolge, dass die textuelle Struktur ein solches Verfahren nötig macht. Entsprechend ließe sich behaupten, dass ein Text genau dann als dramatisch zu bezeichnen ist, wenn die Handlungsführung aus der der Ereignissequenz innewohnenden kausalen Logik heraus funktioniert.

4.2 Kritik an bisherigen Modellen 4.2.1 Der Begriff ›episch‹ Pfister selbst weist im Zusammenhang mit dem Modell der Episierung im Drama auf die Schwierigkeit einer fruchtbaren Diskussion, mit einem derart äquivoken Begriff wie ›episch‹ hin. »Die Mehrdeutigkeit ist dabei begriffsgeschichtlich zu erklären, da die Opposition ›episch‹ vs. ›dramatisch‹, die sich bis Aristoteles und Platon zurückverfolgen läßt, von unterschiedlichen Aspekten her definiert wurde.«²²² Oben habe ich beschrieben, dass Platon und Aristoteles jedoch lediglich von mittelbar-berichtender (diegetischer) und unmittelbar-zeigender (mimetischer) Präsentation sprechen. Da ›episch‹ und ›dramatisch‹ offensichtlich als ein Oppositionspaar gedacht werden kann, ist es schwer, beide Phänomene nicht als voneinander unabhängige, literarische oder gar mediale Verfahren zu betrachten. Denn immer wenn der eine Begriff mit einer weiteren Bedeutung versehen wurde, wurde der andere Begriff mit einer dazu konträren Bedeutung verbunden und somit ebenfalls im Begriffsumfang erweitert. Gegen einen pragmatischen Umgang mit Begriffen ist nichts einzuwenden. Und selbstverständlich muss bei beiden Termini die Möglichkeit einer porösen oder familienähnlichen Begriffsstruktur eingeräumt werden, wie sie auch bei anderen literaturwissenschaftlichen Fachbegriffen wie ›lyrisch‹, ›tragisch‹, ›Novelle‹ usw. vorzufinden

222 Pfister: Das Drama (2001), S. 104.

4.2 Kritik an bisherigen Modellen | 245

ist.²²³ Sollen die Begriffe jedoch innerhalb eines abgeschlossenen Modells Verwendung finden, ist eine derartige Bedeutungsüberladung nicht zielführend. Für eine genaue analytische Arbeit am Text sind Mehrdeutigkeiten eher hinderlich, da eine wissenschaftlich angestrebte intersubjektive Kommunikation über bestimmte Phänomene nur schwer geleistet werden kann. Schon alleine wegen dieser Bedeutungsvielfalt kommt es in den vorgestellten Theorien zur Episierung zur Vermischung von Stilmerkmalen des Epos (Weitläufigkeit, Episodenhaftigkeit), Merkmalen des epischen Theaters (Störung der Illusion, dialektischer, verfremdender und didaktischer Charakter) und Analogien zu Erzähltexten (vermittelndes Kommunikationssystem, Mittelbarkeit und erzählende Instanz). Damit ist Episierung im Drama alles, was nicht der Idealform eines Dramas entspricht. Betrachten wir zur Verdeutlichung folgende Argumentation von Martínez.²²⁴ Er führt an, dass der Satz ›Die Buddenbrooks von Thomas Mann ist episch.‹ in mehrere Bedeutungen differenziert werden kann: (a) Die Buddenbrooks ist ein herausragendes Werk. (b) Die Buddenbrooks gehört der Gattung Epik an. (c) Die Buddenbrooks stehen einem epischen Typ von Texten nahe. Sie verfügen über einen episodenhaften Aufbau, eine Erzählinstanz sowie über Breite und Detailreichtum in der Darstellung. Sie sind mittelbar präsentiert, anti-illusorisch usw. (a) stellt eine kritisch-wertende Aussage dar. ›Episch‹ ist hier als ästhetisch-evaluativer Begriff gebraucht und umfasst Gebrauchsweisen wie ›herausragend‹, ›einzigartig‹, ›epochal‹, ›großartig‹ usw. In (b) hat er eine klassifikatorische Funktion. Mit ›episch‹ können Texte einer bestimmten Menge von Texten und somit einer Gattung oder genauer: einer Klasse, zugeordnet werden. In diesem Fall wird damit ausgedrückt, dass der Text zur Klasse Epik bzw. eindeutig zur Gattung Epik gehört. Diese Zuordnung kann aufgrund einer Menge von Kriterien entschieden werden, die Die Buddenbrooks erfüllt. In (c) wird darauf verwiesen, dass bestimmte Eigenschaften oder Strukturen des Textes relativ zu einem Prototypen episch sind. Dies geschieht im Rückgriff auf die Elemente, die in diesem Fall unter einem Prototyp des Epischen subsumiert werden. Dabei soll keine exklusive Zuordnung zu einer bestimmten Gattung geleistet werden, vielmehr erfüllt der Begriff hier eine typologische und damit vergleichende oder relationierende Funktion. Typologische Begriffe erlauben es, Texte zueinander in Beziehung zu setzen oder sie einzeln in Relation zu einem Prototyp zu evaluieren. Episch sind somit in einem typologischen Sinne nicht nur Texte der Gattung Epik. In den Aussagen ›Goethes

223 Vgl. im Zusammenhang mit diesen Begriffen und einem Überblick zu Möglichkeiten der Begriffsbildung in der Literaturwissenschaft Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung (Explicatio. Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft), Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh, 1993, passim. 224 Vgl. Martínez: Episch (1997).

246 | 4 Episierung im Drama Faust ist episch.‹ oder ›Manns Die Buddenbrooks ist epischer als Goethes Faust.‹ ist die Verwendung gleichbedeutend mit (c). Wie Pfister betrachtet auch Martínez die Verwendung des Begriffs ›episch‹ kritisch: »Weil Homers ›Ilias‹ und ›Odysee‹ als paradigmatisch gelten, besteht eine gewisse Verbindung zwischen dem Stilbegriff ›episch‹ und den typischen Merkmalen der historischen Gattung des Epos.«²²⁵ Er schlägt gerade aufgrund dieser Nähe vor, auf die typologische Verwendung von ›episch‹ als Stilbegriff zu verzichten. Dieser solle stattdessen nur noch in einer klassifizierenden Funktion für die Zuweisung eines Textes zur Gattung Epos verwendet werden.²²⁶ Gleichwohl können die typologische und die klassifizierende Funktion, hin und wieder gleichzeitig auftreten. Mit der Aussage, dass ein bestimmter Text der Klasse Epik zugeordnet wird, kann denn auch darauf verwiesen werden, dass er bestimmte typologische Merkmale verstärkt ausgebildet hat, die nur dieser Gattung von Texten eigen sind und dass er deshalb auch dieser Gattung zugeordnet wird. Episch in typologischer Verwendung ist allerdings, das haben die obigen Ausführungen zu den Tendenzen und zum epischen Theater gezeigt, überaus mehrdeutig. Darunter werden verschiedene Phänomene, Eigenschaften, Verfahren und Funktionen verstanden, die sich nicht immer gegenseitig bedingen oder einschließen. Ein Text kann also im typologischen Sinne epischer als ein anderer sein. Allerdings ist die vergleichende typologische Funktion zusammen mit einigen Bedeutungszuschreibungen offenbar nicht erfüllbar. Es finden sich Eigenschaften die für diese Kategorie von Begriffen unangemessen erscheinen: Die Darstellung der Geschichte in der Erzählung kann im Vergleich mit anderen Texten umfangreicher oder weniger umfangreich ausfallen. Ein Text kann im Brecht’schen Sinne des Wortes ›episch‹ auch illusionshemmender oder -fördernder sein. Texte können jedoch nicht ein Mehr oder Weniger an Erzähler aufweisen, denn entweder es wird mit einer solchen Instanz gearbeitet oder nicht. Dies ist nicht mit der Frage zu verwechseln, wie auffällig die Erzählinstanz ausgearbeitet ist. Aber es scheint auch der Begriffsumfang von ›episch‹ zu schwanken. Die Eigenschaft eine Erzählinstanz zu besitzen, setzt keinen episodischen Aufbau oder eine umfassende bzw. breite Vermittlung einer Geschichte und ihrer Umstände voraus und es muss auch das Gegenteil nicht der Fall sein. Überdies lässt sich keine Abstraktionsebene bilden, die erklärt, warum eine Erzählinstanz aufzuweisen ein vermittelndes Kommunikationssystem zu besitzen oder episodisch aufgebaut zu sein auf demselben Verfahren basieren oder gar dieselben Phänomene darstellen und sie somit folglich mit dem selben Begriff bezeichnet werden sollten. Zumindest weisen auch nicht alle Erzähltexte diese Eigenschaften auf. So ist aus der obigen Einschätzung, dass Goethes Faust episch ist, nicht zu entnehmen, ob es sich um ein anormales Drama handelt,

225 Martínez: Episch (1997), S. 465. 226 Vgl. Martínez: Episch (1997), S. 465 f.

4.2 Kritik an bisherigen Modellen |

247

ob es eine äußere oder innere Erzählinstanz besitzt, ob es anti-illusionistisch oder dialektisch ist, den Umfang für eine breite Darstellung besitzt oder ob es alle diese Eigenschaften gleichzeitig aufweist. In obigen Beispiel habe ich nur dem Epischen zugeschriebene Eigenschaften aufgeführt, die ich im Wesentlichen im Zusammenhang mit dem bisherigen Modell der Episierung diskutiert habe. Ferner lässt sich nicht ausschließen, dass neue Vertreter von Erzähltexten entwickelt werden, die neue Strukturen und Phänomene entwickeln und damit das terminologische Instrumentarium vor neue Herausforderungen stellen. Es scheint daher nicht zielführend, das Epische mit der Beschaffenheit von Erzähltexten und des Dialektischen-Theaters zu erklären und es daraus abzuleiten. Nimmt man für die Betrachtung des Phänomens noch andere Möglichkeiten hinzu, das Epische über eine philosophisch anthropologische Idee zu beschreiben, wie es beispielsweise von Emil Staiger vorgeschlagen wird, oder es als Synonym zu ›narrativ‹ zu gebrauchen, wird der Begriff für die Analyse undurchsichtig. Gerade in Bezug auf den letzten Vorschlag ließe sich ›Epik‹ nicht mehr halten und wäre durch ›Narrativik‹ zu ersetzen. Aus dieser nicht immer vollzogenen Trennung zwischen einem typologischen und einem klassifikatorischen Gebrauch der Begriffe sowie aus einem besonders von zwei Bedeutungsdimensionen geprägten Verständnis von Epen (stellvertretend sind hier Homers Schriften) und Erzähltexten (Romane, Novellen, Kurzgeschichten usw.) als Beispiele ausschließlich epischer Texte leitet sich eine weit verbreitet Grundannahme ab: Wie das Dramatisch für das Drama, so ist auch das Epische für die Epik eine intrinsische Eigenschaft. Episch und dramatisch werden zudem als Mischung eines typologischen und eines konstitutive Eigenschaften der Epik bzw. der Dramatik beschreibenden Begriffs verwendet. Da ›episch‹ innerhalb der Dramentheorie und -geschichte auch speziell mit dem Genre des epischen Theaters besprochen wird, kommt noch hinzu, dass ›episch‹ mit weiteren und sehr speziellen Stilmerkmalen verbunden bleibt.

4.2.2 Das Brecht’sche ›Paradigma‹ Historisch betrachtet führt der starke Bezug auf Brechts episches Theater und generell auf die als neu verstandenen Dramenformen um 1900 zu einer Erschwerung der Begriffsklärung von ›episch‹ und somit ›Episierung‹ innerhalb der Dramen- und Gattungstheorie. Bei epischen Verfahren im Drama vor 1900 wird von einem geringeren Vorkommen bzw. sogar einer Abwesenheit solcher Phänomene ausgegangen.²²⁷ Szondis Beitrag steht hier exemplarisch für die Vorstellung einer geringeren Relevanz epischer Verfahren und Strukturen in Dramen im Allgemeinen, aber auch besonders in solchen

227 Diese Beobachtung ist allerdings nicht überraschend, da Dramen vor Brecht sicherlich nur zufällig Episierung mit gleicher Funktion wie im epischen Theater eingesetzt haben.

248 | 4 Episierung im Drama Dramen, die in der sogenannten ›dramatischen Phase‹²²⁸ vor 1900 entstanden sind. Jedoch müssten dann, wenn das ›dramatische Drama‹ keine Tautologie bleiben soll, dramatische Phänomene als gattungs- und medienunabhängig verstanden werden.²²⁹ Auch Pfister weist mehrmals implizit wie explizit darauf hin, dass es gerade das epische Theater sei, an dem er seine Einschätzungen überprüft, obwohl er betont, dass auch außerhalb des epischen Theaters epische Verfahren Anwendung fänden. In Bezug auf seinen unvollständigen Katalog an Techniken und Phänomenen der Episierung formuliert er: Zusammengenommen stellen sie [die epischen Kommunikationsstrukturen, A.W.] das Repertoire formaler Techniken der Episierung der Kommunikationsabläufe dar; als solches decken sie nur einen Aspekt des »epischen Theaters« ab, da die Episierung im Sinn der Aufhebung der Finalität und der Tendenz zur Totalität in diesem Zusammenhang nicht behandelt werden konnte.²³⁰

Rahmungen, Prologe, Epiloge, Durchbrechungen der vierten Wand, Erzähler- bzw. Regiefiguren, Monologe, Botenberichte, Teichoskopien, kommentierende Chöre, detailreiche Nebentexte – diese epischen Kommunikationstrukturen bzw. diese bevorzugt mit der Episierung in Dramen in Verbindung gebrachten Verfahren werden auch schon zur Zeit des Renaissance-Dramas oder des dramatischen Dramas angewandt. Hier wurden sie aber zu anderen Zwecken eingesetzt und lösten andere Effekte aus. Problematisch an dieser Fixierung des Epischen auf das epische Theater ist also zweierlei: Erstens werden die Tendenzen und Verfahren der Episierung im Drama dann allein vom epischen Theater abgeleitet und gleichzeitig mit denselben Funktionen wie im epischen Theater versehen. Zweitens werden alle Phänomene als episch bezeichnet, die diese Funktionen erfüllen, sobald die anti-illusionistische und dialektische Funktion des Epischen im Drama festgestellt wird, wie dies beispielsweise bei eingearbeiteten Songs geschieht. Meiner Einschätzung nach ist die Gleichsetzung von ›episch‹ mit ›verfremdend‹ oder mit ›einen Song beinhaltend‹ nicht weiter zu verfolgen, da der Song besser entweder als lyrischer Einschub oder aber als eine mögliche Manifestation eines verfremdenden Verfahrens betrachtet werden kann. Mir erscheint eine transhistorische sowie auf einen systematischen Anspruch zielende Erweiterung der bisherigen Modelle der Episierung nötig, die nicht unter dem

228 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart: J. B. Metzler, 1991, S. 2; vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater (1999), S. 28. 229 Dies erinnert an die Begriffsbildung und Verwendung bezüglich der Lyrik bei Dieter Lamping. Auch dort ist das ›lyrische Gedicht‹ eine besondere Form der Gattung Gedicht bzw. der Lyrik. Vgl. Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2 1993. 230 Pfister wird Episierung im Sinne der Aufhebung der Finalität und Totalität in späteren Kapiteln seiner Monographie besprechen. Die Hervorhebungen im Zitat stammen von A.W. Pfister: Das Drama (2001), S. 122.

4.2 Kritik an bisherigen Modellen |

249

Eindruck eines, wenn man so will, durch das epische Theater ausgelösten ›Paradigmenwechsel‹ entstanden sind. Eine historische Perspektive muss dabei nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Sie kann dann wieder sinnvoll eingenommen werden, wenn für die Begriffsbestimmung zuerst von historischen Belangen und speziellen Funktionen des epischen Theaters abstrahiert wurde. Es ist darüber hinaus anzunehmen, dass bestimmte Verfahren schlicht einer konventionalisierten Theater- oder Dramenform geschuldet sind und dementsprechend gerade keine Ausnahmen sondern vielmehr die Regel darstellen – zumindest ist es keine Auffälligkeit für die gesamte Gattung Drama, sondern nur für eine bestimmte Zeit bzw. ein bestimmtes Genre. Gerade um von Ausnahmen in der Funktionalisierung zu sprechen, muss erst das Phänomen als solches über seine historischen Ausprägungen und Entwicklungen hinaus bestimmt sein. Anders betrachtet: Werden epische Verfahren und die sich daraus ergebenden Phänomene und Funktionen als erstmals um 1900 auftretende Phänomene verstanden, ist es auf einer solchen Basis nicht möglich, diese Erscheinungen in Dramen auch vor 1900 anzunehmen und zu analysieren. Nicht weil es die Phänomene nicht gab, sondern weil sie nicht oder nicht nur die Funktion besaßen, mit der sie im epischdialektischen Theater verbunden werden. Ohne Brechts Theorie und den kulturellen Kontext der Jahrhundertwende sind epische Anteile in diesem Sinne nicht möglich. ›Episch‹ mit Blick auf eine Narratologie des Dramas von der Indizierung ›vergleiche das epische Theater (Brechts)‹ zu lösen, stellt ein Ziel dieser Neubetrachtung des Episierungsmodells dar. Episches im Drama und damit die Episierung wird in einen engen und teilweise ausschließlichen Bezug zu Brechts Theorie und Praxis des epischen Theaters gesetzt. Bei der Anwendung dieser, anhand von Werken des dialektischen Theaters entwickelten Episierungstheorien auf Dramentexte, die vor Piscator und Brecht entstanden sind, müssen die Analyse und die Interpretation zwangsläufig an ihre Grenzen stoßen. In diesen Fällen kann nicht von einer Episierung bzw. von einem epischen Theater im Sinne Brechts gesprochen werden. Ebenso evident ist das Fehlen einer Alternative zur Analyse und Interpretation von derartigen Phänomenen, die wiederum das epische Theater als eine von vielen literatur- und kulturhistorisch verankerten Spielarten des Epischen im Drama abdecken könnte, um damit auch im Brecht’schen Sinne das Epische vom Dialektischen abzugrenzen.

4.2.3 Inkommensurabilität der bisherigen Theorie im Umfeld einer postklassischen Narratologie Als hauptsächliche Eigenschaft des Epischen wird ein erzählender (narrativer) Gestus angenommen. Dem Drama wird allerdings in der klassischen Narratologie und Gattungstheorie eine für diesen Status ausschlaggebende Instanz abgesprochen: der Erzähler.

250 | 4 Episierung im Drama Im literaturwissenschaftlichen Diskurs insbesondere der Germanistik scheint es gemeinhin anerkannt zu sein, dass bei epischen Komponenten eine erzählerähnliche Instanz im Drama auftaucht und dass der restliche Dramentext keine solche Instanz aufweist. Aber verhält es sich nicht ähnlich mit den Erzählern im Rahmen von Erzähltexten? Auch in der Epik kann der obligatorische Erzähler – wenn er nicht als eine Erzählerfigur herausgearbeitet ist – nicht selten nur implizit nachweisbar sein.²³¹ Dies führt in der aktuellen Diskussion sogar so weit, dass eine generelle Trennbarkeit von Autor und Erzähler in Zweifel gezogen wird. Die Frage, die im Rahmen solcher Überlegungen häufig gestellt wird, betrifft den Vorschlag, die Erzählinstanz im Sinne von Pan-Narrator-Modellen zugunsten einer Erzählfunktion in den Hintergrund zu rücken, damit von einem narrativen Text die Rede sein kann. Nun hängt die Annahme einer scheinbar fehlenden Vermittlungsebene im Drama aber auch mit dem vielen Dramentheorien eigenen Bezug auf eine konkrete Aufführung des Textes zusammen. Epische Anteile als subjektive Vermittlungsarbeit von einer exegetischen oder diegetischen Instanz werden als Ausnahmen in einer sonst ausschließlich dramatisch (a-perspektivisch objektive Darstellung ohne erzählende Instanz) angelegten nur noch ›semi-literarischen‹ Gattung verstanden.²³² Das Drama in seiner aufgeführten Form kommt demnach ohne eine klammernde Vermittlungsebene aus bzw. besitzt eine solche nicht. Dies wird festgestellt, während gleichzeitig zugestanden wird, dass eine solche rein ›dramatische‹ Form des Dramas »eine idealisierte Norm darstellt«²³³ und Ausnahmen zweifellos existieren. Wie das Beispiel Catharina von Georgien gezeigt hat, ist es allerdings dem Produzenten möglich, auch auf der Ebene des Dramentextes eine kommentierende bzw. erzählende Ebene einzufügen. Durch die vorangestellte Leseransprache wird die noch zu entwickelnde Bühnendiegese ebenso wie die Diegese bereits für den Leser mit einem Sinnzusammenhang versehen. Die knappe Wiedergabe der vom Dramentext repräsentierten Geschichte in den Inhaltsangaben hilft dem Leser, die Verknüpfungen der Ereignisse später auch als imaginierter Zuschauer der Bühnenwelt besser einzuordnen. Das Stück zeigt aber auch die Möglichkeit, dies auf der Ebene der freien Diegese zu erreichen. Die Prologfigur der Ewigkeit, gibt dabei die nötigen expositorischen Hinweise, um den Rezipienten schon vor Beginn der eigentlichen Handlung auf einen höheren Informationsstand zu bringen und es ihm so zu erleichtern, die Ereignisse in einen Sinnzusammenhang zu setzen. Bestimmte Funktionen des Erzählens werden also auch explizit eingesetzt.

231 Für Jahn stellt sich hier keine Frage. »Evidently, too, there are ways and means, both in dramatic and in epic narrative, of letting the narrative agency stand back, cover its traces, and refine itself out of existence.« Vgl. Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama (2001), S. 675. 232 Einen Ansatz, um auch beim Drama nicht nur auf der Figurenebene von einer differenzierten Perspektivenführung ausgehen zu müssen, bietet Eike Muny. Vgl. Muny: Erzählperspektive im Drama (2008). 233 Pfister: Das Drama (2001), S. 103.

4.2 Kritik an bisherigen Modellen | 251

Das Narrative ist jedoch nicht an eine solche offensichtliche Mittelbarkeit gebunden. Die Ereignisse können auch ohne explizite Eingriffe zur Darstellung gelangen. In diesem Fall müssen sich der Sinnzusammenhang bzw. die Strukturierung und Qualifizierung aus dem Aufbau der Ereignissequenz und der Repräsentation in der Erzählung selbst ergeben. Ein anderes Beispiel ist die Strukturierung und Qualifizierung anhand des Personenverzeichnisses im System der Exegesis. Hier kann die Zusammengehörigkeit oder Stellung der Figuren im gesellschaftlichen Gefüge mit Mitteln der Typographie dargestellt sein. Dies steht übrigens im Einklang mit dem aristotelischen bzw. absoluten Drama nach Szondi. Das bedeutet, dass narrative Techniken eingesetzt werden können, ohne eine idealtypische Form des Dramas zu stören. Wenn es aber möglich ist, dass sich der Produzent ebenso wie die dramatische Instanz auf der Dramentextebene weitestgehend herausnehmen kann, muss auf bestimmte Arten der Vermittlung von Ereignissen zurückgegriffen werden können, mit denen der Rezipienten nicht in seiner Rolle als Leser, sondern als Zuschauer ›angesprochen‹ wird. Es muss auf der Diskursebene des Dramentextes zu differenzieren sein, wann von einer rein darstellenden Erzählhandlung des Produzenten gesprochen werden kann und wann dieser explizit vermittelnd bzw. sinnstiftend tätig wird. Dafür wurde oben die Unterscheidung diegetisch (berichtend, telling) und mimetisch (zeigend, showing) diskutiert und die beiden diegetischen Systeme (Bühnendiegese, freie Diegese) des Dramas angeführt. Abgesehen davon sind es in Analogie zum realen Autor bei einer Aufführung die realen Schauspieler, Beleuchter, Bühnenbildner usw., die als Produzenten und Vermittler einer konkreten Zeichenstruktur fungieren und die im Theater eine Repräsentation von fiktiven Ereignissen als ›Autorenkollektiv‹ ähnlich dem Autor des Erzähltextes erschaffen. So gesehen ist auch bei einer realen Aufführungssituation sehr wohl eine Vermittlungsebene zu bestimmen. Sie besteht aus mehreren Vermittlungsinstanzen (siehe oben), die über Figuren, Licht, Kostüme usw. gemeinsam eine Erzählung entwerfen und darüber eine Diegese und Geschichte repräsentieren. Hier wird zur besseren Unterscheidung zweier Kunstformen der Modus der Darstellung in Dramen dem Modus der Erzählung in Erzähltexten gegenübergestellt. ›Episch‹ wird dabei als Bezeichnung für eine Eigenschaft der Gattung der Erzähltexte (Epik) gebraucht und mit der Eigenschaft narrativ und diese wiederum mit diegetisch gleichgesetzt. Diese spezielle Eigenschaft wird abhängig von der theoretischen Ausrichtung als die Vermittlung eines Objekts, eines Gedankenkomplexes oder Ähnlichem über eine Instanz bzw. einen Sender (Erzähler) beschrieben, der dies mit sprachlichen Zeichenträgern bewerkstelligt und von einem Geschehen berichtet. Um episch zu sein, so lässt sich das Verständnis der Literaturwissenschaft bis circa 1990 zusammenfassen, muss eine erzählende Instanz die Vermittlung zwischen der abstrakten Geschichte und dem Rezipienten auf Diskursebene leisten. Die Instanz wird über die konstitutive Bestimmung eines Kriteriums der Gattung Epik gefordert. Dabei werden mitunter Typologie und Klassifikation vermengt: Die Epik ist episch. Sie ist dies, da ein Erzähler die Geschichte an den Rezipienten vermittelt. Fehlt dieser Erzähler, gehört der Text

252 | 4 Episierung im Drama erstens nicht der Gattung Epik an (klassifikatorisch) und ist zweitens nicht episch (typologisch). Gerade der Erzähler fehle der dramatischen Dichtung oder wird ihr abgesprochen, wie es Pfister und andere anhand des Kommunikationsmodells von Fieguth dargestellt haben. Kurz: Das Drama erzählt nicht, es präsentiert und hat daher eigentlich weder eine begriffliche Reichweite für das Epische noch kann Episches in ihm verwirklicht werden. Daraus ergibt sich jedoch folgendes Problem: Mit der Gattungszuordnung von Texten zu den Hauptgattungen Dramatik und Epik ergeben sich bestimmte Vorannahmen, die bei der Analyse beachtet und problematisiert werden müssen. So ist in der gängigen Dramentheorie die Auffassung nach wie vor weit verbreitet, dass dem Drama eine Erzählinstanz fehlt. Dies wiederum führt zu umständlichen Formulierungen, die sowohl eine erzählende/vermittelnde Instanz bzw. zumindest eine vermittelnde Ebene bei Dramen rechtfertigen bzw. einführen müssen. Die eigentlich nicht vorhandene, zwischen innerer und äußerer Kommunikation vermittelnde, Ebene muss dann als Ausnahme wieder in die Dramentheorie eingeführt werden, sofern man in einigen Dramentexten Episches erkennen und beschreiben möchte. Dieser Umstand lässt die Theorien inkonsistent erscheinen. Abgesehen davon gibt es genügend Gegenbeispiele von Dramen mit erzählerähnlichen Instanzen (Regiefiguren, Prologfiguren, Boten, Chöre usw.) nicht nur des epischen Theaters. Geht man davon aus, dass bei der Analyse der Epik und der Lyrik die Kategorien Erzähler und lyrisches Ich jeweils der Beschreibung vermittelnder Stellen vorbehalten sind, kann der einzige für eine Untersuchung von Episierung interessante Teil in einem Drama eigentlich nur solche Stellen bezeichnen, die ebenfalls vermittelnd gestaltet sind. Bis heute finden sich in Einführungen zur Dramenanalyse und -theorie gesonderte Kapitel zum Epischen im Drama bzw. zum epischen Theater.²³⁴ Die oben vorgestellten bisherigen Episierungsmodelle des Dramas arbeiten noch mit klassischen narratologischen Modellen und können die Episierung unter anderem wegen des Erzählerproblems und der fehlenden Relevanz der Narratologie für das Drama nur schwer konsistent erklären. Durch die Korrelation des Begriffs ›episch‹ mit dem Begriff ›narrativ‹, ›erzählend‹ bzw. ›diegetisch‹ wird zudem im Hinblick auf einem historischen Zugriff durch die Narratologie die Diskussion erschwert. Episierung wird dadurch zum Ausnahmefall der Gattung Drama. Sowohl die hier eingehender besprochenen als auch andere einschlägige Werke der Dramentheorie setzen sich auf sehr unterschiedliche Weise mit Normvorstellungen von Dramen und der Epik auseinander, kommen jedoch meist zu demselben Ergebnis: Die Abweichungen

234 ›Episches Theater‹ führt in die Irre, wenn man sich vergegenwärtigt, dass innerhalb epischer Dramen bzw. dem epischen Theater, Episches im oben verstandenen Sinne nur marginal integriert ist und die eigentlich vorherrschenden und intendierten Elemente dieser Theaterform damit gerade nicht erfasst werden können. Es ist ein Unterschied Verfremdung über ein episches Verfahren erzeugt zu sehen oder dem epischen Verfahren generell eine verfremdende Funktion zuzuweisen.

4.2 Kritik an bisherigen Modellen | 253

von diesen Normvorstellungen lassen sich durch deren Festlegung als Ausnahmeerscheinungen erklären. Entweder wird an diesen Stellen eine erzählende Instanz eingeführt (Asmuth, Pfister) oder sie wird mit dem realen Autor gleichgesetzt, der sich aber nur über Nebentexte (Korthals) und Paratexte episch bemerkbar machen kann und das Drama episiert. Es scheint so, als würde das Epische in dieser Form mit einer sprachlichen Vermittlung über eine Instanz gleichgesetzt. Literatur und generell Kunst braucht immer ein Vermittlungsmedium und damit auch eine Vermittlungsebene. Im Falle der Literatur kommt der Produzent zudem nicht um den Einsatz von sprachlichen Zeichen umhin und bei fiktional-narrativen Texten um eine Vermittlung im ›doppelten‹ Sinne nicht herum.

4.2.4 Lösungsansatz und weiteres Vorgehen Der Lösungsansatz besteht nun darin, Episierung im Folgenden nicht mehr als einen Spezialfall in Werken der Dramatik aufzufassen und den Begriff bezogen auf die Narratologie von seiner Mehrdeutigkeit zu befreien. Ihn damit letztlich als ›neuen‹ Begriff in die Narratologie einzuführen, insofern ›episch‹ innerhalb der narratologischen Terminologie nicht fest verankert ist und eine geringe Rolle spielt. Als eine Voraussetzung dafür erachte ich, Werke der Dramatik der übergreifenden Klasse narrativer Artefakte zuzuordnen. Hierfür scheint der Forschungsansatz postklassischer Narratologie geeignet, die die Gemeinsamkeit von Artefakten der Dramatik sowie der Epik in der Repräsentation von Ereignis- bzw. Zustandssequenzen sieht. Damit kann eine strikte Trennung der analytischen Grundlagen in Dramen- und Erzähltheorie überwunden werden. Episierung wird als eine besondere Möglichkeit der Gestaltung von Narrationen bestimmt. Sie stellt in diesem Sinne ein bestimmtes Verfahren dar, wie Ereignissequenzen und das Repräsentierte im Allgemeinen beim Erzählen vermittelt werden. Sollen narratologische Analysekonzepte in die Dramentheorie übernommen und für ein Episierungsmodell herangezogen werden, muss, um Episches wie Dramatisches in Erzähltexten und im Drama transgenerisch vergleichbar werden zu lassen, zum einen ein eindeutiger Abstand zu Konzepten einer klassischen Narratologie (etwa wie denen von Stanzel oder Genette) genommen werden, da diese klassische Variante, die episch mit narrativ gleichsetzt und einen Erzähler fordert, andere Gattungen – und auch Medien – als die der Erzähltexte ausschließt. Zum anderen erscheint es günstig, wie ich es oben mit der dramatischen Instanz bereits vorgeschlagen habe, eine potenzielle implizite Erzählinstanz, also eine immer präsente, vermittelnde Instanz, des Dramas annehmen, um ein Modell der Episierung besser in die Dramentheorie zu integrieren, sie mit narratologischen Methoden und Begriffen auszuweiten und diesen selbst zu mehr Konsistenz zu verhelfen. In den Tendenzen der Aufhebung der Absolutheit sowie der Aufhebung der Finalität erkenne ich nützliche Hinweise auf eine mögliche Abstraktion dessen, was

254 | 4 Episierung im Drama unter dem Epischen verstanden werden kann. Bei beiden Aspekten der bisherigen Episierung spielt eine Beobachtung eine besonders wichtige Rolle: Das Drama verstanden als eine Repräsentation von Ereignissen und Entitäten zweier Diegesen ist in seiner absoluten Form so gestaltet, dass die dargestellte Ereignissequenz aus sich selbst heraus verstanden werden kann. Nach Szondi ist dies die Form, die als einzige kein ›episches Ich‹²³⁵ voraussetzt, das für die sinnvolle Anordnung bürgt. Für den Rezipienten erscheint ein solcher Text in der Regel aus sich heraus kohärent. Wenn diese absolute Form jedoch nicht eingehalten wird, das heißt, wenn Konzentration, Finalität und sinnvoller Zusammenhang gestört oder aufgelöst werden, deutet dies auf das ›epische Ich‹ hin. Das ›epische Ich‹ als eine Ordnungs- oder Kompositionsinstanz macht sich besonders dann bemerkbar, wenn Sprünge und Brüche in der Ereignisbzw. Zustandssequenz vorhanden sind, die nicht explizit im Text erläutert werden – sei es auf exegetischer Ebene durch die dramatische Instanz, sei es auf diegetischen Ebenen durch imaginierte Schauspieler (Bühnendiegese) oder Figuren (Diegese). Das bedeutet, dass der Rezipient auf ein anderes Sinnstiftungsniveau ausweichen muss bzw. ein solches zu den Diegesen oder zum gesamten Text außerhalb stehendes Niveau aufbauen muss. Für den Rezipienten wird es jedenfalls deutlich schwerer, eine Struktur des Werkganzen auf der Ebene N3 zu erzeugen. Zumindest muss er in solchen Fällen eine höhere Inferenzleistung aufbringen, um sich beispielsweise Brüche oder Sprünge zu erklären. Die dramatische Instanz als ›episches Ich‹ und als eine Garantin für die Sinnhaftigkeit der Repräsentation im Dramentext wurde oben bereits eingeführt. Sie kann einen Text generieren, der so gestaltet ist, dass keine Sprünge oder Brüche auftauchen und es dem Rezipienten relativ leicht fällt, sich die Zusammenhänge der repräsentierten Ereignissequenz zu erklären. Sie kann aber auch einen Text gestalten, der vom Rezipienten eine deutlich höhere Inferenzleistung erfordert, um die Kohärenz und Sinnhaftigkeit der Ereignissequenz aufrecht zu erhalten. Bei letzterer Möglichkeit fehlen die nötigen direkten oder angedeuteten Relationen an bestimmten Stellen der narrativen Zeichenstruktur. Auf dieser Argumentation aufbauend bestimme ich Episierung auf folgende Weise: Bei einer Episierung werden von der dramatischen Instanz auf der Textebene explizite Relationen erzeugt. Sie macht deutlich, wie bestimmte Strukturen der Narration zusammenhängen und gibt dem Rezipienten Relationen innerhalb der narrativen Zeichenstruktur vor. In diesem Fall wendet sie eine epische Schreibweise an. Das Gegenteil ist eine Dramatisierung, bei der Relationen nicht explizit gemacht werden und damit eine dramatische Schreibweise angewandt wird. Wenn ein Drama also nicht absolut ist, bedeutet dies nicht zwangsläufig wie im bisherigen Modell, dass es dann auch episiert ist. Episiert ist es erst dann, wenn die dramatische Instanz Zusammenhänge und

235 Szondi spricht, wie in Kapitel 4.1.2 dargestellt ist, im Falle von erzählenden Strukturen im Drama davon, dass dann ein ›episches Ich‹ bemerkbar werde.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 255

Relationen explizit setzt. Daraus folgt auch, dass mit diesem Modell sowohl absolute oder aristotelische wie nicht-absolute oder nicht-aristotelische Dramen episiert sein können.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung Um diesen eben knapp beschriebenen Ansatz der Episierung noch genauer zu bestimmen, ziehe ich das Konzept der Schreibweisen Klaus W. Hempfers und das von Matías Martínez vorgeschlagene Konzept der Motivation in Narrationen heran. Hempfers Schreibweisen verwende ich deshalb, um das der Episierung zugrunde liegende Verfahren besser einordnen zu können. Ich werde Episierung und die epische Schreibweise unter Bezugnahme auf das narratologische Konzept der Motivation beschreiben. Dafür beschäftige ich mich mit Ansätzen von Martínez, Martínez/Scheffel, James A. Schultz und Gregory Currie zur Motivation bzw. narrativen Explanation²³⁶ sowie mit Ansätzen Abel/Blödorn/Scheffels, Müller/Meisters und Michael Toolan zur narrativen Kohärenz.²³⁷

4.3.1 Schreibweisen und Verfahren Hempfer fasste in seiner Monographie Gattungstheorie philosophische, linguistische, poetologische und literaturwissenschaftliche Tendenzen, Einteilungskriterien und theoretische Grundlagen einer Gattungstheorie bis 1972 zusammen und hatte neben einer Bestimmung von ›Invarianten‹ der Textproduktion wie -rezeption eine adäquate Abbildung auf eine literaturwissenschaftliche Terminologie im Sinn. Er schuf durch ein eigenes, auf diesen Untersuchungen aufbauendes Modell eine heute noch diskutierte Terminologie der Gattungstheorie. Das Modell selbst sowie dessen Begrifflichkeiten

236 Vgl. James A. Schultz: Why Do Tristan and Isolde Leave for the Woods? Narrative Motivation and Narrative Coherence in Eilhart von Oberg and Gottfried von Straßburg, in: Modern Language Notes 102.3 (1987), S. 586–607; James A. Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? An Essay on Narrative Motivation, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61.2 (1987), S. 206–222; Martínez: Doppelte Welten (1996); Matías Martínez: Art. ›Motivierung‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Harald Fricke, Bd. 2, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2000, S. 643–646; Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012); Gregory Currie: Both sides of the story. Explaining events in a narrative, in: Philosophical Studies. An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition 135.1 (Proceedings of the Thirty-Seventh Oberlin Colloquium in Philosophy: Aesthetics 2007), S. 49–63. 237 Vgl. Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009); Müller/Meister: Narrative Kohärenz oder: Kontingenz ist auch kein Zufall (2009); Michael Toolan: Coherence, in: Handbook of Narratology, hrsg. und mit einem Vorw. vers. v. Peter Hühn u. a. (Narratologia 19), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2009, S. 44–62.

256 | 4 Episierung im Drama und Grundlagen wurden teilweise scharf angegriffen.²³⁸ Die Idee mit Kommunikationsmodellen, der Sprechsituation und dem Redekriterium sowie mit der Unterscheidung historischer und ahistorischer Bezüge eine ›Metatheorie‹ der Gattungstheorie zu entwerfen, die historischen sowie systematischen Anforderungen gleichermaßen gerecht wird, wird aber auch heute noch verfolgt. Aufbauend auf dem Strukturbegriff Piagets schlägt Hempfer ›Gattung‹, ›Untergattung‹, ›Typ‹ und ›Schreibweise‹ als generische Konzepte und Begriffe vor.²³⁹ Diese Konzepte lassen sich einteilen in transhistorische Tiefenstrukturen (Schreibweise, Typ) und historische Oberflächenstrukturen (Gattung, Untergattung).²⁴⁰ Hierzu zählt Hempfer Gattungen wie das Heroisches Trauerspiel, das Petrarkistisches Sonett und ähnliche. Daneben unterscheidet er auf der einen Seite zwischen Sprechsituation, Schreibweise, Typus, Gattung, Untergattung und auf der anderen Seite Sammelbegriffen. Die Sammelbegriffe oder Zweckformen wären demnach Epik, Dramatik, Lyrik.²⁴¹ Diese sind Klassenbildungen innerhalb einer Menge von literarischen Texten (zum Beispiel die Zuordnung von Texten zur Epik, Dramatik, Lyrik oder die Unterscheidung in didaktische Texte, narrative Texte, satirische Texte usw.). Unter Schreibweisen versteht Hempfer ahistorische Konstanten bzw. transhistorische Invarianten der Literatur, die in Texten aktualisiert, d. h. verwendet werden.²⁴² Sie lassen sich »als Relationen von Elementen [einer Struktur; A.W.] beschreiben, die über bestimmte Transformationen einerseits die überzeitlichen Typen und andererseits die konkreten historischen Gattungen ergeben«.²⁴³ Von Hempfer konstruktivistischstrukturalistisch gedacht, zeigen sie sich in einem konkreten Text an einem Phänomen bzw. der ganze Text kann als Realisation gelten, was bei Hempfer zur Bestimmung des Begriffs ›Gattung‹ einerseits und dem des ›Typs‹ andererseits führt. Gattungen sind die historisch konkreten Umsetzungen der abstrakt gedachten Schreibweisen, die sich in Form eines Textes manifestieren. Darunter versteht Hempfer historisch bedingte und eigenschaftskombinatorische Gruppenbildungen wie beispiels-

238 Vgl. Dieter Lamping/Dietrich Weber (Hrsg. und Vorw.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion (Wuppertaler Broschüren zur Allgemeinen Literaturwissenschaft 4), Wuppertal: Bergische Universität – Gesamthochschule Wuppertal, 1990. 239 Vgl. Hempfer: Gattungstheorie (1973), S. 27 ff. 240 Vgl. Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn: mentis, 2003, S. 143. 241 Vgl. Hempfer: Gattungstheorie (1973), S. 26 ff. 242 Vgl. Hempfer: Gattungstheorie (1973), S. 27; vgl. Klaus W. Hempfer: Art. ›Gattung‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Klaus Weimar u. a., Bd. 1, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 1997, S. 651–655, hier S. 651; vgl. Klaus W. Hempfer: Art. ›Schreibweise2 ‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Jan-Dirk Müller, Bd. 3, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2003, S. 391–393; vgl. Klaus W. Hempfer: Generische Allgemeinheitsgrade, in: Handbuch Gattungstheorie, Handbuch Gattungstheorie, hrsg. v. Rüdiger Zymner, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler, 2010, S. 15–19, hier S. 16. 243 Hempfer: Gattungstheorie (1973), S. 27.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 257

weise Verssatiren, Romane, Novellen, Epen.²⁴⁴ Systematisch bzw. ahistorisch gehen Schreibweisen in den Typen auf. Die Unterscheidungs- und Einteilungskriterien für Romane im Gegensatz zu Kriterien für Narrationen würden sich dann deutlich unterscheiden. Bei der Narration als Typ im beschriebenen Sinne wird von einem zwar immer wieder anders explizierten Phänomen, aber dennoch von einer Universalie der Kommunikation ausgegangen. Diese kann rein systematisch beschrieben werden, wohingegen der Roman nur eine und wahrscheinlich auch historisch stark zu differenzierende Ausformung des narrativen Typs darstellt und noch nicht einmal ausschließlich aus Narration bestehen muss. Dramatik, Epik und Lyrik bezeichnet Hempfer in seinem Modell als Klassen.²⁴⁵ Er schreibt ihnen dadurch ein deutlich höheres Abstraktionsniveau zu als Gattungen in seinem Verständnis. Wenn Hempfer Gattungen als Ergebnisse der Transformationen von Schreibweisen begreift, dann eröffnet er hier Bezüge zu Saussures Konzept der langue und der parole. Die Struktur der langue wird über Transformationen in der parole bzw. in einem konkreten Text aktualisiert. Dabei stellt Hempfer jedoch weder klar heraus, wo diese Schreibweisen genau verortet sein sollen, noch macht er deutlich, ob darunter die Möglichkeiten bei der Produktion eines Textes verstanden werden, was die Schreibweisen als die möglichen Transformationsprozesse auszeichnen würde, oder ob die Schreibweisen als derart abstrakt begriffen sind, dass sie nur indirekt über Phänomene in Texten und damit nach den Transformationsprozessen erkennbar werden. Dann sind die Schreibweisen nicht selbst die Transformationsprozesse, sondern werden über diese nur (mit-)bestimmt. Klar ist, dass sich Hempfer auf Piaget bezieht. Unklar bleibt allerdings, wie er dessen strukturalistischen Ansatz genau umsetzen will. Von dieser Unzulänglichkeit abgesehen, können in einem Text immer auch mehrere Schreibweisen gleichzeitig oder in Folge eingesetzt sein. Sowohl eine einzelne Gattung als auch ein einzelner Texttyp können sich anhand mehrerer Schreibweisen konstituieren oder einfach mehrere Schreibweisen beinhalten.²⁴⁶ Die historisch und teilweise zusätzlich inhaltlich bestimmten Gattungen müssen aber bis zu einem gewissen Grad als willkürliche und unnormierte Einteilung verstanden werden. Denn Hempfer geht bei Schreibweisen und Typen von grundsätzlich möglichen Transformationen und generischen Strukturen aus, die in jedwedem Text aus jedweder Zeit auftauchen können, während die Zuordnung zu einer Gattung über zeitgebundene und dann gegebenenfalls tradierte oder wiederaufgenommene und letztlich im positiven Sinne willkürlich historisch-sozial normierte Kriterien erfolgt.²⁴⁷

244 Hempfer: Gattungstheorie (1973), S. 27. 245 Vgl. Hempfer: Gattungstheorie (1973), S. 27. 246 Zusätzlich wird bei Hempfers Konzept nicht ganz deutlich, ob seine primären Schreibweisen universeller Natur sind oder ob er sie nur in der Literatur bzw. bei ihrer Produktion verortet sieht. 247 Vgl. Gérard Genette: Einführung in den Architext, übers. v. J.-P. Dubost u. a., Stuttgart: Legueil, 1990, S. 82 ff.

258 | 4 Episierung im Drama Zudem lässt sich die Gattungszugehörigkeit auch nicht immer allein über die verwendeten Schreibweisen erklären. So kann demnach der Roman als Gattung verstanden werden, wird aber wie die Gattung Epos ebenfalls von einer narrativen Schreibweise bestimmt und muss damit zu einem Typ von Texten gezählt werden, die über das theoretisch systematische Kriterium der narrativen Schreibweisen bestimmt werden können, das seinerseits von historischen und inhaltlichen Belangen abstrahiert.²⁴⁸ Hempfer teilt Schreibweisen ein in primäre Schreibweisen wie das Dramatische und das Narrative und in sekundäre Schreibweisen wie das Komische, das Satirische, das Tragische usw. Die von ihm differenzierten primären Schreibweisen leitet er, sich an das Redekriterium anlehnend, von zwei möglichen Sprechsitutationen ab, einer mittelbaren (bei ihm narrativ) und einer unmittelbaren (bei ihm dramatisch);²⁴⁹ letztlich also die Unterscheidung in diegetisch und mimetisch. Während die primären »unmittelbar auf spezifischen Typen von Sprech- und Kommunikations-Situationen«²⁵⁰ beruhen, können die davon unabhängigen sekundären Schreibweisen »primäre überlagern«²⁵¹ und auch inhaltlich oder formal bestimmt sein. Zymner rückt die Hempfersche Kategorie der Schreibweise in die Nähe der »Staigerschen Qualitäten oder Goethes Naturformen«²⁵² und führt gleichzeitig ein neues Konzept der poetogenen Strukturen ein, die hierarchisch aber auch generisch gesehen noch vor den Schreibweisen anzusetzen sind.²⁵³ Bestimmte Formen der Kommunikation bzw. von »ästhetisch-sozialen Handlungsfeldern«²⁵⁴ wie »Erzählen, ›dramatisches‹ Spiel und ›lyrische‹ Einzelrede«²⁵⁵ bereiten »das Drama, die Epik und die Lyrik als Kunst und als Inbegriffe der jeweiligen ›Familien‹, die zu Lyrik, Epik und Drama als Kunst gehören, vor«.²⁵⁶ Hier wird aus anthropologischer und biologischer Perspektive von bestimmten protopoetischen Handlungen des Menschen ausgegangen, die sich in der Kunst ›professionalisieren‹. Es werden mit anderen Worten bestimmte Strukturen und Verfahren, wie sie in der Kunst und insbesondere der Literatur auftauchen, auf allgemeine menschliche Kommunikations- und Handlungsverfahren zurückgeführt, die teils biologisch teils durch Entwicklung vorgegeben sind und in die Literatur einwirken. Sie haben dort unter Umständen andere oder erweiterte Funktionen. Dieses Konzept ist nicht all zu weit von Hempfers abstrakten transhistorischen Invarianten entfernt und deckt sich mit einigen kognitiven Ansätzen der Narratologie.

248 Vgl. Hempfer: Generische Allgemeinheitsgrade (2010), S. 16. 249 Vgl. Hempfer: Gattungstheorie (1973), S. 160–164. 250 Hempfer: Schreibweise2 (2003), S. 391. 251 Hempfer: Schreibweise2 (2003), S. 391. 252 Zymner: Gattungstheorie (2003), S. 165. 253 Vgl. Zymner: Gattungstheorie (2003), 168, 172 und 189. 254 Zymner: Gattungstheorie (2003), S. 169. 255 Zymner: Gattungstheorie (2003), S. 169. 256 Zymner: Gattungstheorie (2003), S. 169.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 259

Genettes Kritik am Schreibweisenkonzept »richtet sich ausschließlich gegen die taxonomische Inkohärenz einer Klasse, die als »Schreibweise« bezeichnet wird und in die man in Wahrheit nur allzugern alle möglichen »Konstanten« (jedwelcher Ordnung) steckt«.²⁵⁷ Darüber hinaus erkennt er in dem Begriff ›Schreibweise‹ nur eine andere Umschreibung und Bezeichnung des Konzepts des Modus²⁵⁸ aus der Erzähltheorie (dramatischer Modus, narrativer Modus). Genette nimmt zwar das Dramatische und Narrative und damit Hempfers primäre Schreibweisen als solche bzw. als Modi an. Er erachtet jedoch beispielsweise eine satirische Schreibweise als problematisch. Diese sei eher inhaltlich als formal bestimmt und stände damit einer aristotelischen Kategorie des Gegenstandes²⁵⁹ näher als derjenigen der Modi.²⁶⁰ Allerdings unterscheidet Hempfer erstens zwischen primären (selbstständigen), auf kommunikativen Strukturen aufbauenden Schreibweisen und sekundären (abhängigen) Schreibweisen,²⁶¹ die zusätzlich bereits stärker funktions- und inhaltsbestimmt sind. Genette entfernt sich damit nicht allzu weit von Hempfers primären (Modi) und sekundären (Gegenstände) Schreibweisenkonzept. Die Erzählmodi narrativ und dramatisch, auf die sich Genette bezieht und die zudem nur die Ebene der sprachlichen Darstellung von Rede betreffen, verstehe ich bereits als Effekte von Schreibweisen. Eine parodistische Schreibweise nach Hempfer wäre so zu begreifen, dass es sich dabei gerade um die Art der Behandlung bzw. um die Art der Darstellung eines Gegenstandes bzw. eines Inhalts handelt und nicht um den jeweils parodistisch überformten Inhalt bzw. Gegenstand selbst, der von der Schreibweise unabhängig ist. Ein parodistischer oder ein narrativer Texttyp hat nicht Parodie oder Narration zum Inhalt, sondern in ihm kommt eine parodistische oder narrative Schreibweise zur Anwendung, die zu bestimmten Manifestationen auf der Textebene führt, die als parodierend oder erzählend erkannt werden können. Als Manifestationen beispielsweise einer parodistischen Schreibweise bezeichne ich die von einem parodistischen Verfahren herrührenden Strukturen innerhalb eines konkreten Textes. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass Texte mit der Unterstellung einer Schreibweise nicht klassifiziert bzw. kategorisiert werden. Ob ein Text einer bestimmten Gattung oder einem bestimmten Typ zugehörig ist, lässt sich nicht oder nicht nur aus den in ihm verwendeten Schreibweisen erklären, insbesondere da die Möglichkeit unterstellt wird, innerhalb eines Textes verschiedene Schreibweisen zu verwenden; hinzu kommen soziale, kulturelle und historische Aspekte. Anders ausgedrückt macht der Nachweis einer parodistischen Schreibweise noch keinen Text per se zu einer Parodie im Sinne einer Zuordnung zur Gattung oder zum Typ Parodie. Jedoch muss, wenn ein Text diesem Typ zugeordnet sein will, in ihm mit diesen Verfahren gear-

257 Genette: Einführung in den Architext (1990), S. 93. 258 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 51. 259 Vgl. Genette: Einführung in den Architext (1990), S. 91 ff. 260 Vgl. Genette: Einführung in den Architext (1990), S. 93. 261 Vgl. Hempfer: Gattungstheorie (1973), S. 163.

260 | 4 Episierung im Drama beitet werden bzw. diese Verfahren nachweisbar sein. Mit Gunther Wittings Worten²⁶² über die parodistische Schreibweise aus seinem Aufsatz Über einige Schwierigkeiten beim Isolieren einer Schreibweise, stellt sich diese Feststellung so dar: Mit dem Versuch, die Anwendungsbedingungen für bestimmte Termini festzulegen, soll weder das »zarte und vielgestaltige Leben« der Texte »vergewaltigt werden«– die Notzuchtmetaphorik ist in derartigen Gegenargumenten nahezu topisch –, noch wird damit ein Algorithmus geliefert, der die zweifelsfreie Etikettierung des jeweiligen Textes erlaubt. Denn werden damit weder komplexere Realisierungen, also Mischformen, ausgeschlossen, noch läßt sich so die Urteilskraft des Interpreten dispensieren. Der Gewinn liegt also lediglich darin, daß man weiß, wofür man sich entscheidet, wenn man sich entscheidet. (Wobei mit der Entscheidung, daß einem bestimmten Text beispielsweise das Parodie-Verfahren zugrunde liegt, keineswegs dessen spezifische Kontexte eliminiert werden sollen – auch wenn man die Parodie im eben erwähnten Sinne als ahistorische Konstante bestimmt.)²⁶³

Dieser Gedanke wird sinngemäß von Klaus-Detlef Müller in seinem Artikel Episches Theater geteilt.²⁶⁴ Für eine traditionsorientierte poetologische Einschätzung ist das Epische Theater eine Mischgattung. Die Tendenz zur Mischung dramatischer und epischer Darstellungsweisen wurde schon von Goethe und Schiller in ihrem Briefwechsel reflektiert und als Konsequenz dem modernen Wirklichkeitsverständnis zugeordnet. [. . .] Die Praxis der Genremischung und eine Reihe von Verfahrensweisen des späteren Epischen Theaters sind in der offenen Form des Dramas seit dem Sturm und Drang geläufig, ohne daß sich die Notwendigkeit einer Begriffsbildung oder Programmatik ergeben hätte.²⁶⁵

Müller stimme ich insofern zu, da es sich beim epischen Theater um eine Mischung verschiedener Verfahren handelt. In Über epische und dramatische Dichtung verstehen Goethe und Schiller allerdings das Epische eher in einer typologischen Verwendung als zum Epos gehörend.²⁶⁶ Die Idee einer transhistorischen Anwendung von bestimmten Prinzipien über Gattungsgrenzen hinweg findet sich genau genommen explizit erst bei Goethe, wenn er über Naturformen und Dichtweisen schreibt: »Es giebt nur drey ächte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und

262 Vgl. auch Verweyen/Witting: Die Parodie in der Neueren Deutschen Literatur (1979), S. 111. 263 Gunther Witting: Über einige Schwierigkeiten beim Isolieren einer Schreibweise, in: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, hrsg. v. Christian Wagenknecht (Germanistische Symposien – Berichtsbände 9), Stuttgart: J. B. Metzler, 1988, S. 274–288, hier S. 275. 264 Müller: Episches Theater (1997). 265 Müller: Episches Theater (1997), S. 469. 266 Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung (2006), S. 126.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung |

261

die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drey Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken.«²⁶⁷ Bezogen auf Hempfers Gattungstheorie bedeutet dies, dass ich im gleichen Maße die Gattungen als ›Basen‹ verstehe, die hauptsächlich formal zu bestimmen sind, wie es in dieser Arbeit mit der Explikation des Dramas vorgeschlagen ist. Innerhalb eines Vertreters einer bestimmten Gattung können verschiedene Schreibweisen angewandt sein. Diese können in ihren Manifestationen und Dispositionen analysiert werden. Auf der Seite des Rezipienten können dann die Dispositionen mit den rezipientenseitigen Effekten abgeglichen werden. Allerdings sollen die Schreibweisen nicht nur transhistorisch und gattungsübergreifend aufgefasst werden. Sie sind zudem auch unabhängig vom verwendeten Vermittlungsmedium. Schreibweisen werden von mir als Abbildungsprozesse verstanden. Für die Narration bedeutet dies, dass die zugrundeliegende, nur abstrakt vorhandene Zustandssequenz und die zugehörige Diegese auf eine schreibweisenspezifische Weise zur Erzählung geformt wird. Schreibweisen sind abstrakt beschreibbare Verfahren, deren Umsetzung über konkrete Handlungen bzw. Methoden geschieht. Theodor Verweyen und Gunther Witting ersetzen den Begriff der Schreibweise durch den des Verfahrens, um so sowohl auf die mögliche medienübergreifende Anwendung und Erscheinung solcher Konzepte hinzuweisen, als auch um die Anwendbarkeit des Begriffsinstrumentariums über die Literaturwissenschaft hinaus möglich zu machen. Der von Hempfer eingeführte Begriff der Schreibweise wird unter Bezug auf den von Verweyen/Witting diskutierten Begriff des ›Verfahrens‹ dahingehend erweitert, dass ich davon ausgehe, dass diese Schreibweisen transmedial eingesetzt werden können. Beim Abbildungsprozess werden Zeichen aus einem Zeichenvorrat des Produzenten zu einem Zeichenkomplex angeordnet und über Zeichenträger in einem Medium dargestellt. Diese Zeichenkomplexe stellen die Produkte der Verfahren dar. Epische, satirische, narrative, dramatische oder parodistische Verfahren können in Filmen, Computerspielen, Sachtexten, wissenschaftlichen Abhandlungen, bildender Kunst, Malerei, im Theater und in der gesprochenen Sprache angewendet werden. Die durch eine Schreibweise entstehenden Produkte oder Manifestationen aus Zeichenträgern innerhalb eines Mediums besitzen eine Wirkungsdisposition. Der auf der Rezeptionsseite entstehende Effekt ist bis zu einem gewissen Grad abhängig von der Einstellung und dem Kontext des Rezipienten. Es gilt zwischen produktionsseitig intendierter Funktion (Disposition), textseitiger Manifestation und rezeptionsseitigen Effekt sowie Interpretation zu unterscheiden. Funktionen sind dabei abhängig von der jeweiligen Wirkungsästhetik eines Textes und ergeben sich meist aus einer komple-

267 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 3: Westöstlicher Divan. Teil 1, hrsg. v. Hendrik Birus, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1994, S. 206.

262 | 4 Episierung im Drama xen Mischung poetologischer, kultureller, gesellschaftlicher, historischer und anderer Kontexte sowie den eröffneten und gesetzten Referenzen. Episierung ist die Anwendung einer epischen Schreibweise. Um jetzt zu einer Explikation dieser epischen Schreibweise und mit ihr zu der einer dramatischen Schreibweise zu gelangen, ziehe ich im nächsten Kapitel die Konzepte der narrativen Kohärenz und Motivation heran. Die epische und dramatische Schreibweise verstehe ich als ästhetische Verfahren, die bei der Textproduktion angewandt werden und die sich dann als analysierbare Manifestationen im Text zeigen können.

4.3.2 Narrative Motivation Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft beschreibt Martínez Motivation²⁶⁸ als Ursache oder Begründung für das in einem narrativen (dramatischen oder im engeren Sinne erzählenden) Text dargestellte Geschehen. [. . .] Die Motivierung (Motivation) eines dargestellten Ereignisses ordnet dieses in einen Erklärungszusammenhang ein und trägt so zur Kohärenz narrativer und anderer Texte bei. Die erzählten Ereignisse folgen dann nicht nur chronologisch aufeinander, sondern nach Regeln oder Gesetzen auseinander.²⁶⁹

Narrative Motivation trägt zu einer erklärenden Funktion bei, die Narrationen zugesprochen wird.²⁷⁰ Sie tritt auf in ›dramatischen‹ Texten und in solchen, die ›im engeren Sinne‹ narrativ sind. Martínez rechnet hier scheinbar die Dramatik zu den narrativen Texten. Narrationen stellen Zustands- bzw. Ereignissequenzen dar, in denen die Zustände bzw. Ereignisse mindestens in einer chronologischen Beziehung zueinander repräsentiert werden. Die narrative Motivation trägt über die Ergänzung weiterer Relationsarten dazu bei, dass die Ereignis- und Zustandssequenz nicht einfach kontingent oder sinnlos wirkt und der narrative Text so kohärent erscheint. Nach Abel/Blödorn/Scheffel werden Narrationen

268 Martínez und Martínez/Scheffel beziehen sich dabei in der Hauptsache auf Arbeiten Propps, Lugowskis, Šklovskijs, Tomaševskijs, Todorovs, Genettes, Dantos und Adams. Adams: Narrative Explanation (1996). 269 Martínez: Motivierung (2000), S. 643. 270 Vgl. beispielsweise Arthur Coleman Danto: Narration and Knowledge. (including the integral text of Analytical Philosophy of History), eingel. v. Lydia Goehr, mit einem Nachw. v. Frank Ankersmit (Columbia Classics in Philosophy), 1985 [Ndr. New York: Columbia University Press, 2007]; Martínez: Doppelte Welten (1996); Adams: Narrative Explanation (1996); J. David Velleman: Narrative Explanation, in: The Philosophical Review 112 (2003), S. 1–25; Peter Abell: Narrative Explanation. An Alternative to Variable-Centered Explanation?, in: Annual Review of Sociology 30 (2004), S. 287–310; Currie: Both sides of the story (2007).

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung |

263

in der aktuellen, kulturwissenschaftlich akzentuierten Forschung in der Regel als ›Darstellung einer nicht-zufälligen Ereignisfolge‹ bestimmt. So verstanden verbindet sich mit jeder Form von Erzählung eine (Re)Konstruktion von Kausalzusammenhängen zwischen Ereignissen in der Zeit, d. h. Ereignisse folgen in ihrem Rahmen nicht bloß aufeinander, sondern auch auseinander.²⁷¹

Man erkennt am Ende des Zitats die Nähe in die Motivation und Kohärenz zueinander im Zusammenhang mit der Narration gerückt werden. Narrationen allerdings »als eine Art Statthalter der ›Kohärenz‹ inmitten einer als kontingent zu betrachtenden Wirklichkeit des Lebens zu begreifen«,²⁷² sehen die Autoren als problematisch an. Sie tun dies vor allem angesichts literarischer Narrationen, die gerade keine kohärenten Strukturen aufweisen und eine Kohärenzbildung unter poetologischen Prämissen im Gegenteil sogar behindern.²⁷³ Tatsächlich fehlen in Erzählungen oftmals explizite kausale Verknüpfungen, und zumal literarische Erzählungen zeichnen sich geradezu dadurch aus, dass sie Kohärenzbildung auf verschiedene Weise, etwa durch Mehrdeutigkeiten, Brüche, Leerstellen und Widersprüche, unterlaufen.²⁷⁴

Narrationen können also sowohl Kohärenz stiften als auch diese aktiv verhindern. In diesem Fall sprechen Abel/Blödorn/Scheffel von Ambivalenz²⁷⁵ und meinen damit Stellen, die keine eindeutige Auslegung zulassen. Mit der Bildung von Kohärenz²⁷⁶ in narrativen Texten hängt die Kategorie des Sinns eng zusammen, was vom alltagssprachlichen Verständnis von Kohärenz herzuleiten ist. »Wenn wir [. . .] einem Artefakt Kohärenz zuschreiben, dann meinen wir damit im alltagssprachlichen Zusammenhang, dass sie in sich geschlossen und widerspruchsfrei sind und damit zugleich auch einen Sinn ergeben.«²⁷⁷ Abel/Blödorn/Scheffel unterscheiden dabei Sinnbildung auf verschiedenen Ebenen. Diese ist kein rein textuelles Phänomen, »sondern das Verhältnis zwischen der narrativen Struktur eines Textes, seiner Gesamtbedeutung (›Sinn1 ‹) und – mit Blick auf literarische Wissenskonstruktionen – seiner sinnstiftenden Funktion in außerliterari-

271 Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 1. 272 Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 2. 273 Vgl. Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 2 f. 274 Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 2. 275 Vgl. Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 5. 276 Zu den Schwierigkeiten mit und bei dem Konzept Kohärenz in linguistischen und narratologischen Zusammenhängen vgl. Toolan: Coherence (2009). 277 Müller/Meister: Narrative Kohärenz oder: Kontingenz ist auch kein Zufall (2009), S. 31.

264 | 4 Episierung im Drama schen Kontexten (›Sinn2 ‹)«.²⁷⁸ Bei narrativer Sinnbildung kann zum einen unterschieden werden, wie mithilfe narrativer Strukturen Bedeutung erzeugt oder unterbunden wird, und zum anderen, wie Narrationen für den Rezipienten eine sinnstiftende Funktion »und zwar mit Blick auf außerliterarische Kontexte und Wissensbestände, erfüllen können – und was sie [die narrativen Texte, A.W.] dazu in die Lage versetzt«.²⁷⁹ Zur Bestimmung der Kohärenz einer Narration kann ebenfalls auf zwei Ebenen Bezug genommen werden: Erstens auf die Kohärenz auf der Mikroebene bzw. in Bezug auf die narrative Detailstruktur oder auf die Kohärenz auf der Makroebene und damit in Bezug auf die Gesamtbedeutung der Erzählung.²⁸⁰ Hier setzen die Autoren an und bestimmen die narrative Kohärenz eines Textes als »Kategorie, welche die Verknüpfungen, d. h. Relationen zwischen narrativen Elementen beschreibt«.²⁸¹ Narrative Kohärenz ist jedoch weder auf der Ebene des Repräsentierten noch auf der Ebene der Repräsentation zu verorten. Die narrative Kohärenz betrifft vielmehr Elemente beider Ebenen sowie deren Verhältnis zueinander. Angesprochen ist damit primär die narrative Herstellung von temporalen und kausalen Zusammenhang zwischen Ereignissen im Zusammenwirken von discours [Ebene der Repräsentation, A.W.] und histoire [Ebene des Repräsentierten, A.W.].²⁸²

Sinn1 wird hingegen »verstanden als [. . .] mehr oder weniger kohärente, interpretativ zu erschließende Gesamtbedeutung«²⁸³ des Textes. Daraus folgt, dass eine Narration inkohärent sein kann, dies aber unabhängig davon ist, ob sie auf höherer Ebene des Werkganzen in Bezug auf Sinn2 trotzdem als sinnvoll angesehen wird, da hier weitere textexterne Kontexte mit hinzugezogen werden können (vgl. auch die Ebene des Werkganzen N3 in Nünnings Diskussion des Kommunikationsmodells narrativer Texte auf Seite 123).²⁸⁴ Postmoderne Texte etwa spielen gerade mit der dem Narrativen zugeschriebenen Kohärenzleistung und unterlaufen diese konsequent. Im Kontext

278 Julia Abel/Andreas Blödorn/Michael Scheffel (Hrsg. und Einl.): Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2009, S. 3. 279 Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 3. 280 Vgl. Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 3. 281 Hervorhebungen im Original. Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 4. 282 Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 4. 283 Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 4. 284 Vgl. Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 4; vgl. Müller/Meister: Narrative Kohärenz oder: Kontingenz ist auch kein Zufall (2009), S. 35.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung |

265

bestimmter poetologischer Prämissen ergeben sie jedoch durchaus Sinn. Es kann sein, dass ein Text nur deshalb inkohärent wirkt, da der historische Abstand der Vorstellungen die im Text verhandelt werden, zu den Vorstellungen, die der Rezipient mitbringt, so groß oder disparat sind, dass er als inkohärent betrachtet wird.²⁸⁵ In Bezugnahme auf kognitionslinguistische Überlegungen, nach denen Kohärenz »nicht mehr als textinhärente Eigenschaft betrachtet«²⁸⁶ werde und wonach Texte weniger als »Repräsentation[en] eines kohärenten Sachverhalts«,²⁸⁷ sondern als »Anweisung«²⁸⁸ zur Sinnkonstruktion verstanden werden, wäre auch narrative Kohärenz nicht allein auf Textstrukturen zurückzuführen, sondern müsste als Wechselspiel von narrativen Strukturen, der in ihnen angelegten (und nachweisbaren) Lektüremöglichkeiten und im Rezeptionsprozess aktualisiertem Rezipientenwissen analysiert werden.²⁸⁹

So gebe es keine zugrunde liegende ›kohärente‹ Geschichte einer Erzählung [. . .], sondern [. . .] die Konstruktion einer solchen Geschichte [ist] immer schon das Ergebnis eines komplexen Interpretationsprozesses [. . .], bei dem ›Sinn1 ‹ im Rahmen einer Modellbildung auf Probe erzeugt und durch den Blick auf Kontextfaktoren und Wissensbestände bestätigt oder falsifiziert werden kann.²⁹⁰

So gesehen ist also die narrative Kohärenz zu Teilen über die Textstruktur analysierbar und zu Teilen abhängig von der Interpretation.²⁹¹ Michael Toolan unterscheidet hauptsächlich Subtypen von Kohärenz, »such as temporal, causal, and thematic coherence as well as topic-maintance and -furtherance«.²⁹² Der Rezipient tritt an einen Text mit bestimmten Erwartungen zur Einheitlichkeit (unity), Fortführung (continuity) und Aufrechterhaltung (perseveration) des Repräsentierten

285 Vgl. Martin Dillmann: Musils Narratologie der Inkohärenz, in: Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. Julia Abel/Andreas Blödorn/ Michael Scheffel (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2009, S. 193–208; Sascha Michel: Ambivalente Teleologie. Christoph Martin Wieland und die Ironie der Aufklärung, in: Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung, hrsg. und mit einer Einl. vers. v. Julia Abel/Andreas Blödorn/Michael Scheffel (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81), Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2009, S. 179–192. 286 Abel/Blödorn/Scheffel (Hrsg.): Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 5. 287 Hadumod Bussmann (Hrsg. und Vorw.): Lexikon der Sprachwissenschaft, Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 2002, S. 351. 288 Bussmann (Hrsg.): Lexikon der Sprachwissenschaft (2002), S. 351. 289 Abel/Blödorn/Scheffel (Hrsg.): Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 5. 290 Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 9 f. 291 Vgl. Abel/Blödorn/Scheffel: Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz (2009), S. 3,10. 292 Toolan: Coherence (2009), S. 45.

266 | 4 Episierung im Drama heran, die dessen Kohärenz auf den verschiedenen Ebenen der Temporalität, Kausalität und Thematik garantieren können.²⁹³ Von der Produktionsseite her kann dies etwa durch Wiederholungen von bestimmten Strukturen des Textes unterstützt werden. Toolan gibt zu bedenken, dass die Kohärenz von verschiedenen Faktoren innerhalb aber auch außerhalb des Textes (Disposition des Rezipienten, Kontexte usw.) abhinge und es deshalb gerade bei literarischen Narrationen ein kompliziertes Unterfangen sei, Kohärenz und dessen Abhängigkeiten zu bestimmen.²⁹⁴ It is perfectly true that stories that defy normal expectations about time, intention, goal, causality, or closure may fail to elict interest and be judged incoherent or incomplete by some readers; but these departures from the norm, singly or jointly, do not invariably lead to incoherence.²⁹⁵

Es bleibt festzuhalten: Eine Narration kann kohärent sein, muss es aber nicht. Über die Gestaltung der Zeichenstruktur kann Kohärenz aktiv gestiftet, aber auch aktiv gestört werden. Kohärenz sowie Inkohärenz bzw. Ambivalenz sind Effekte des Zusammenwirkens von Stimuli im Text und Inferenzen des Rezipienten. Motivation ist also als eine weitestgehend aktive und explizite Relationsbildung zwischen Ereignissen und Textstrukturen aufzufassen, die kohärent oder inkohärent sein können. 4.3.2.1 Motivation und Unterscheidung von Geschehen, Geschichte usw. Im Zusammenhang mit der Motivation begegnet erneut die Unterscheidung von Geschehen (chronologische Ereignis- bzw. Zustandsfolge) und Geschichte (kausale Verbindung der Ereignisse und Zustände), die ich hier noch einmal genauer an Edward Morgan Forsters bekannter und häufig zur Erklärung herangezogener Beschreibung darstelle: We have defined a story [Geschehen] as a narrative of events arranged in their time-sequence. A plot [Geschichte] is also a narrative of events, the emphasis falling on causality. ›The king died and then the queen died‹, is a story. ›The king died, and then the queen died of grief‹, is a plot. The time-sequence is preserved, but the sense of causality overshadows it. [. . .] If it is in a story we say ›and then?‹ If it is in a plot we ask ›why?‹.²⁹⁶

Forster verwendet diese, von mir schon im Ereigniskapitel angesprochenen, Minimalbeispiele: (a) Der König starb und dann starb die Königin. (b) Der König starb und dann starb die Königin voll Trauer.

293 294 295 296

Vgl. Toolan: Coherence (2009), S. 45. Vgl. Toolan: Coherence (2009), S. 45 f., 49 f. Toolan: Coherence (2009), S. 45. Edward Morgan Forster: Aspects of the Novel, London: Mariner Books, 1974, S. 93.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung |

267

Forster gibt an, dass im Fall (a) in dem ›wir‹ eine Erzählung vorliegen haben, die ein Geschehen abbildet, unsere natürliche Frage wäre: ›Und? Was passierte dann?‹ Wenn wir wie im Fall (b) eine über die Erzählung repräsentierte Geschichte vorliegen haben, würde die Frage lauten: ›Und warum ist das passiert?‹ Dies scheinen mir allerdings weniger die Fragen zu sein, die sich der Rezipient stellt, sondern vielmehr die Fragen, die sich der Produzent gestellt haben könnte. Im Fall (b), in dem angegeben ist, dass die Königin voll Trauer starb, scheint die Frage ›Warum?‹ unangemessen. Im Gegenteil, da ich mich mit der Antwort ›Die Königin starb aufgrund von Trauer‹ zufriedengeben kann, wäre die Bildung der Frage ›Und was passierte dann?‹ plausibler. Im Fall (a) ist die Anschlussfrage ›Warum?‹ hingegen nachvollziehbar, da hier zwei Ereignisse referenziert werden, die lediglich temporal auf diegetischer Ebene relationiert sind. Zur Repräsentation einfacher Geschehen reicht es, wenn sich der Produzent über die bloße temporale Folge im Klaren ist und Fragen wie ›Was passierte nacheinander?‹ oder ›Was passierte danach?‹ im Blick hat. Der Rezipient, der bei einer Erzählung mit einer bloßen Geschehensdarstellung konfrontiert wird, kann sich bezüglich der Kohärenz- und Sinnbildung die Frage stellen, warum die Ereignisse passiert sind, ob und wie sie zusammenhängen oder sogar, was die Erzählung als Ganzes für eine Bedeutung hat. Für die Bildung einer Geschichte und deren Repräsentation reicht die Überlegung, was nacheinander passierte, und die Darstellung dieser rein temporalen Folge unter Umständen nicht aus. Dafür muss sich der Produzent zusätzlich überlegt haben, warum die Ereignisse eingetreten sind und dies in den Text einschreiben. Dies kann beispielsweise mit weiteren Ereignissen geschehen, die die Relation auf diegetischer, exegetischer oder Präsentationsebene liefern. Es kann dabei angegeben sein, in welcher Relation die Ereignisse zueinander, zur Ereignissequenz insgesamt oder zur ästhetischen Gestaltung des Textganzen stehen. Der Rezipient ist bei einer über die Zeichenstruktur präsentierten Ereignissequenz mit ihren Relationen vom Inferieren beispielsweise eines kausalen Zusammenhangs gänzlich befreit oder zumindest genauer geleitet, da ihm eine bereits anhand der Erzählung präsentierte Geschichte solche Zusammenhänge über Stimuli bereits mitliefert. Er kann sich in diesem Fall auf die Frage konzentrieren: ›Was passierte dann?‹ Die dramatische Instanz oder allgemein eine Erzählinstanz kann sich entscheiden, mit Hilfe der Erzählung eher ein Geschehen oder eine Geschichte abzubilden. Im ersten Fall ist der Rezipient aufgefordert, sich bestimmte Zusammenhänge der diegetischen Ereignisse, die über ihre bloße zeitliche Relationierung hinausreichen, selbst zu erschließen.²⁹⁷ Diese Art der Repräsentation möchte ich als eine dramatische Repräsentation begreifen, mit der nur ein Geschehen generiert wird. Im zweiten Fall liefert der

297 Bei der im Drama üblichen Darstellung in Dialogen können beispielsweise die einzelnen Redebeiträge als Ereignisse verstanden werden. Die Reaktionen der Gesprächspartner und insbesondere deren Qualität werden dabei selten explizit motiviert.

268 | 4 Episierung im Drama Produzent beispielsweise kausale Zusammenhänge zwischen den Einzelereignissen und Zuständen. In (b) gibt Forster an, dass die Königin nicht grundlos, sondern an Trauer starb. Sicherlich ist nicht klar, woran der König starb bzw. wodurch dessen Tod motiviert wurde und es ist ebenfalls nicht genau bestimmt, ob die Königin Trauer aufgrund des Todes des Königs verspürte oder wegen des womöglich nicht erwähnten Todes eines ihrer Kinder. Allerdings existiert eine explizit gesetzte Motivation für ein Ereignis des Minimaltextes, in diesem Fall für das Ereignis, das den Tod der Königin anzeigt. Diese Motivation leitet die Inferenzbildung und begrenzt ihre Möglichkeiten durch stimulierte Schemata. In Fall (a), muss der Rezipient einen Zusammenhang selbst inferieren, in Fall (b) wird ihm der Zusammenhang klarer über den Text mitgegeben. In solchen Fällen expliziter Motivation spreche ich von einer Manifestation eines epischen Verfahrens. Kurz gefasst werden bei der Manifestation eines dramatischen Verfahrens innerhalb einer Narration die Motivationen bzw. Begründungszusammenhänge weggelassen. Bei der Manifestation eines epischen Verfahrens werden neben referenzierten Ereignissen und Entitäten der Diegese zusätzlich die Motivationen bzw. die Relationen zwischen diesen explizit gemacht. Episch gestaltete Repräsentationen geben also Informationen über die Relationen und/oder grenzen die heranzuziehenden Schemata ein, während in dramatisch gestalteten Repräsentationen nur die Ereignisse und Entitäten referenziert werden und ›nur‹ temporale Relationen angedeutet oder expliziert werden. Bei beiden, dies sei schon hier angemerkt, müssen aber weder die Motivationen wie die Reihung der Ereignisse den Erwartungen des Rezipienten oder gar dessen Weltwissen entsprechen. Es können Relationen zwischen Ereignissen erstellt werden, aufgrund derer nicht auf das Weltwissen des Rezipienten hätte zurückgegriffen werden müssen oder solche, die dem Weltwissen des Rezipienten derart widersprechen, dass sie sogar verfremdend wirken. Dies kann beispielsweise entweder durch die Bildung neuer Frames und Scripts bzw. neuer zulässiger Relationen zwischen Zuständen oder Ereignissen kompensiert werden (vgl. das Konzept des Diskursereignisses bei Meister im Kapitel 3.4) oder der Text wird vom Rezipienten in der Folge als nicht kohärent oder ambivalent begriffen. 4.3.2.2 Motivation, Narration und Explanation Martínez und Martínez/Scheffel bringen die Motivation nun unter anderem in Verbindung mit einer anhand von Narrationen erzielten Erklärungsleistung,²⁹⁸ die mit der Struktur von Geschehen und Geschichte beschrieben werden kann. Die grundlegende Struktur eines Geschehens besteht nach Martínez aus einer zeitlichen Sequenz von Ereignissen oder Zuständen in deren Verlauf einem Gegenstand zum Zeitpunkt t1 ein Prädikat F zugeschrieben wird (Ereignis1 ) und zu einem Zeitpunkt t2 ein zu F konträres

298 Vgl. Martínez: Motivierung (2000), S. 643.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung |

269

Prädikat G (Ereignis2 ).²⁹⁹ Die Beschreibung eines Geschehens nach Martínez ließe sich auf diese Weise formalisieren: (a)

x ist F zu t1

(b)

x ist G zu t2

Damit bezieht sich Martínez offenbar auf Arthur Dantos Beschreibung einer Struktur von Narrationen. Jon-K Adams begreift Dantos Vorschlag so: »The logic of narrative explanation lies in the assumption that a sequence of events explain a single event by leading up to it.«³⁰⁰ Demnach werde eine Narration als eine Form der Erklärung eines Ereignisses oder eines Zustandes eingesetzt:³⁰¹ Since a narrative seems not merely to explain an occurence, but to tell what happened over a stretch of time, there is again an inclination to say that telling what happened and explaining what happened are jobs which are done simultaneously, that in so far as a narrative explains, it also tells precisely what happened, and that in so far as it tells precisely what happened, it also, and at the same time, explains.³⁰²

Diese Verschränkung von Narration und Explikation ist der zwischen Narration und Deskription ähnlich, da nicht erzählt werden kann, ohne dabei gleichzeitig zumindest im Ansatz auf Elemente einer erzählten Welt zu verweisen; diese also letztlich zu beschreiben. Ein Ereignis oder ein Zustand wird in Narrationen also durch das Erzählen von einem oder mehreren weiteren Ereignissen, die dazu geführt haben, dass das Ereignis eintrat, erklärt. Danto will allerdings eine Methodik der Historiographie beschreiben und entwickelt sein Modell genau genommen nicht für die Analyse literarischer Erzählungen. Bemerkenswerterweise zieht er Shakespeares Macbeth heran, um über die Möglichkeiten des Erzählens in anderen Zusammenhängen als dem der Historiographie zu reflektieren.³⁰³ Im Vordergrund steht, wie eine historiographische Methode des Erzählens als wissenschaftliche Methode mit Erkenntnisanspruch gerechtfertigt und beschrieben werden kann. Die narrative Explanation eines geschichtlichen Ereignisses funktioniere so: ein zu Erklärendes (Explanandum) ist durch ein Ereignis, die Zustandsveränderung zwischen (a) und (b), gegeben. Dieses zu erklärende Ereignis wird in seinem Zustandekommen verständlich durch eine den Zustand (b) kausal bedingende Begebenheit, die zeitlich zwischen den beiden Zuständen liegt: das Explanans.

299 Vgl. Martínez: Doppelte Welten (1996), S. 22. 300 Vgl. Adams: Narrative Explanation (1996), S. 110. 301 Vgl. Martínez: Erzählen (2011), S. 4; vgl. Danto: Narration and Knowledge (2007), S. 236. 302 Danto: Narration and Knowledge (2007), S. 201. 303 Bemerkenswert erscheint mir im Zusammenhang mit der Diskussion um die Narrativität des Dramas innerhalb der Narratologie und Literturwissenschaft, dass Danto wie selbstverständlich narrative unity unter Bezug auf Shakespeares Drama Macbeth herleitet. Vgl. Danto: Narration and Knowledge (2007), S. 249–251.

270 | 4 Episierung im Drama Die Ereignisse, die den Endzustand des Ereignisses erklären, gehen diesem voraus, während die Perspektive des erklärenden Historikers sowohl zeitlich nach dem Explanandum wie dem Explanans situiert ist. Der Historiker als Erzähler steht zu den Ereignissen immer in einem äußeren, heterodeiktischen Verhältnis. Dantos narratives Explanationsmodell lässt sich mit diesem Schema veranschaulichen: (a)

x ist F zu t1

(b)

H widerfährt x zu t2

(c)

x ist G zu t3

Das zu erklärende Ereignis (eigentlich der zu erklärende Zustand) ist in (c) abgebildet. (a) und (b) bilden eine Ereignis- bzw. Zustandssequenz, die den Zustand von x in (c) erklärt. Es lässt sich hier allerdings erkennen, dass sich im Gegensatz zur schematischen Darstellung des Geschehens nur eine Sache verändert hat: Hinzu gekommen ist (b). Hier wird auf ein Ereignis verwiesen, das dazu führt, dass der Gegenstand x zum Zeitpunkt t3 im Zustand Z3 ist. Der erklärende Charakter ergibt sich in dem Sinne, dass die Ordnung der Ereignissequenz den kausalen Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen oder Zuständen und das Zustandekommen des Explanandums begreifbar macht. Danto unterscheidet zusätzlich atomare und molekulare Narrationen. Bei atomaren Narrationen werde das Explanans wie oben durch nur eine Ursache H gebildet. Bei molekularen Narrationen bestehe das Explanans aus mehreren, in ihrer Folge, voneinander abhängigen Ursachen.³⁰⁴ Zusammengenommen seien Geschehen damit im Grunde mit Prädikationen in einer zeitlichen Folge zu vergleichen. Als Geschichte werden bloße Zustandsveränderungen oder Ereignisreihungen (Geschehen) erst dann verstanden, wenn diese Zustände nicht einfach wahllos aufeinander folgen, sondern eine gewisse Gesetzmäßigkeit vorliegt, die die Zustände zueinander in Verbindung treten lässt.³⁰⁵ Martínez spricht in diesem Fall von einem »Verursachungszusammenhang zwischen Anfangs- und Endzustand«.³⁰⁶ Im Idealfall folgen Ereignisse oder Zustände bei ihrer Darstellung in einer Erzählung also nicht einfach nur zeitlich aufeinander, sondern ihr Zustandekommen wie auch ihre Abfolge wird motiviert und sie folgen auseinander. »Unter Motivierung verstehen wir den Inbegriff der Beweggründe für das in einem erzählenden oder dramatischen Text dargestellte Geschehen. Das Geschehen wird zu einer Geschichte, wenn die dargestellten Veränderungen motiviert sind.«³⁰⁷ Dabei bleibt eine Schwierigkeit: Von Martínez/Scheffel sowie von Schmid werden Geschehen und Geschichte als das Repräsentierte bzw. als das von der Erzählung zu

304 305 306 307

Vgl. Danto: Narration and Knowledge (2007), S. 252. Vgl. Martínez: Doppelte Welten (1996), S. 22. Martínez: Doppelte Welten (1996), S. 22. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 113.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 271

Repräsentierende beschrieben. Wenn also Martínez/Scheffel von Geschehen und Geschichte als temporale und gegebenenfalls kausale Sequenz von Ereignissen sprechen, referieren sie auf eine analytische Ebene, die in einem narrativen Text nicht direkt präsent sind. Was der Rezipient wahrnimmt, ist die Erzählung, aus der ein Geschehen oder eine Geschichte abgeleitet werden kann. Das Erzählen einer Geschichte kann unter diesen Gesichtspunkten nur dann angenommen werden, wenn die Repräsentation von Ereignissen und Zuständen eines Geschehens zusammen mit Motivationen zwischen den Einzelereignissen und -zuständen in der Erzählung erfolgt. Die Erzählung muss dann die Ereignisse und Zustände auch nicht mehr in chronologischer Folge darstellen. 4.3.2.3 Motivation, Narration und Kohärenz Die kausale Verknüpfung von Ereignissen und Zuständen als ein konstitutives Kriterium von Geschichten wird in vielen Definitionen des Begriffs ›narrativ‹ reflektiert. Damit ein Text als narrativ bezeichnet werden kann, müssen die Ereignisse nicht nur chronologisch aufeinanderfolgen, sondern auch kausal zusammenhängen. Wenn die Kausalität fehlt, kann bei der repräsentierten Ereignissequenz in der Erzählung nicht mehr von einer Geschichte, sondern allein von einem Geschehen gesprochen werden. In diesem Fall ist der Text nicht mehr bzw. nur noch wenig narrativ. In dieser Art beschreiben es auch Martínez/Scheffel in ihrer Einführung in die Erzähltheorie: »Die durch narrative Motivierung hergestellte Kohärenz von Erzählungen kann [. . .] verschiedener Art sein. Nicht dass auf eine bestimmte Weise motiviert, sondern dass überhaupt motiviert wird, ist eine notwendige Eigenschaft wohlgestalteter narrativer Texte.«³⁰⁸ Damit scheinen sie sich jedoch selbst innerhalb weniger Seiten ihrer Einführung zu widersprechen, denn kurz zuvor betonen sie, dass Motivationen in narrativen Texten selten explizit gemacht werden: Die Motivation der Ereignisse wird im Text selten explizit ausgesprochen. Ausdrückliche Begründungen des Geschehens erfolgen meist nur dann, wenn eine Wendung des Geschehens überraschend und deswegen besonders erklärungsbedürftig ist. Im Regelfall unterstellt der Leser einfach die Existenz bestimmter Motivationen.³⁰⁹

Zum einen wird davon gesprochen, dass die Motivation in die Erzählung eingeschrieben sein muss, um von einer ästhetischen Narration sprechen zu können, zum anderen reicht es offenbar aus, wenn der Rezipient dies eigenständig ergänzt. Im Handbuch Erzählliteratur relativiert Martínez die Forderung nach einer Geschichte sowie eine davon abhängige Güte der Erzählung und des Erzählens: Erzählungen stellen Geschichten dar. Eine Geschichte besteht aus einer chronologisch geordneten Sequenz von konkreten Zuständen und/oder Ereignissen, die kausal miteinander vernetzt sind

308 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 122. 309 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 115.

272 | 4 Episierung im Drama

und tendenziell in Handlungsschemata gefasst werden können. Doch auch diese Kriterien haben keinen strikten definitorischen Status, sondern erfassen eher prototypische Eigenschaften von Erzählungen. Sie können erst recht nicht als Wertungskriterien für ›besseres‹ oder ›schlechteres‹ Erzählen dienen.³¹⁰

Es kann zwar davon gesprochen werden, dass ein Text nur dann eine Narration ist, wenn er eine Geschichte vermittelt, die sich von einer bloßen Geschehensdarstellung dadurch unterscheidet, dass die Ereignisse kausal verknüpft sind. Diese klare Unterscheidung liegt aber nicht immer in Texten vor. Zusätzlich wird meines Erachtens die Leistung des Rezipienten, aus bloßen Geschehen Geschichten zu bilden, unterschätzt. In den meisten Fällen wird zwar eine Ereignisfolge und damit ein Geschehen abgebildet, aber dabei werden die kausalen Zusammenhänge vom Produzenten durch Strukturierung, Ausnutzung von Möglichkeiten des verwendeten Mediums sowie durch arbiträre, wenngleich oftmals konventionalisierte, Narreme und Handlungsschemata nur impliziert. Diese Annahme wird von Einsichten der kognitiven Narratologie gestützt, derzufolge der Rezipient in einem eben so hohem Maße an der Konstituierung einer Narration beteiligt ist, wie der Produzent. Auch Wolf hatte es in seiner Minimaldefinition des Erzählens vermieden, sich darauf festzulegen, wodurch genau der postulierte Zusammenhang zwischen den Komponenten der Ereignisfolge hergestellt wird, wenngleich auch er einen solchen Zusammenhang voraussetzt.³¹¹ Er nimmt an, dass nicht nur der Produzent zum Gelingen eines narrativen Kommunikationsaktes durch das Arrangement von Narremen beiträgt, sondern dass der Rezipient ebenfalls in hohem Maße daran beteiligt ist und dementsprechend Narreme ergänzt. Er wird, um sein narratives Schema durch die nötige Kohärenzbildung aufrechtzuerhalten, einen gewissen kognitiven Aufwand betreiben. Generiert werden gerade kausale Zusammenhänge bzw. die Vorstellung der Kausalität vom Rezipienten im Interpretationsakt. In den seltensten Fällen finden sich explizite Hinweise auf den kausalen Zusammenhang der Ereignisse. Hinzu kommt, dass eine Zustands- oder Ereignissequenz nur selten, außer in sehr kurzen Narrationen, eine lückenlose Kausalkette bildet. Im Standardfall einer längeren Narration finden sich aber ebenso viele unabhängige Ereignisse oder nebenläufige Kausalketten. Varianten wie diese wurden seit Aristoteles kritisiert. So sollten im besten Falle überhaupt keine Nebenhandlungen gebildet werden und alle Ereignisse der zugrundeliegenden Geschichte sollten positiv auf Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit im Gesamtzusammenhang des Handlungsschemas prüfbar sein.

310 Martínez: Erzählen (2011), S. 11. Die Darstellung eines motivierten Geschehens, also einer Geschichte, als Eigenschaft eines narrativen Textes wird von Martínez damit analog zu den Kriterien der Mittelbarkeit, Erzählwürdigkeit, Ereignishaftigkeit, Fiktionalität usw. als ein graduelles Kriterium verstanden. 311 Vgl. Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik (2002), S. 51.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 273

Dies bedeutet, dass der Rezipient bei einer fehlenden kausalen Verknüpfung der narrativen Sequenz eine solche entweder kognitiv ergänzt oder auf andere Erklärungszusammenhänge ausweicht (zum Beispiel durch Erklärungen über die ästhetische Form und dem vorausgesetzten genrespezifischen Handlungsschema). Das bedeutet auch, dass zwar in einem narrativen Text ›nur‹ ein Geschehen abgebildet sein kann, daraus aber nicht zwangsläufig folgen muss, dass ein solcher Text vom Rezipienten als eine Nicht-Narration verstanden wird, zumindest solange nicht, da er sich die Sequenz von Ereignissen und Zuständen erklären bzw. die Zusammenhänge inferieren kann. Dass ein Text nur dann ein narrativer Text ist, wenn seine Ereignisse nicht nur temporal, sondern auch kausal verbunden sind, hängt nicht nur von expliziten Gegebenheiten ab, sondern ebenso von Inferenzen, die der Rezipient tätigt – also von dessen Disposition und Inferenzleistung. Martínez/Scheffel halten fest, dass die Motivation entweder explizit durch Erzähler oder Figuren gegeben werden kann oder nur implizit in die Ereignissequenz durch das ästhetische Arrangement eingeschrieben wurde. Als dritte Möglichkeit bleibt die vollkommene Absenz von Motivation oder Erklärung. In den häufigsten Fällen verhält es sich so, dass eine Vielzahl der Motivationen vom Rezipienten inferiert werden, explizite Motivationen durch Erzähler oder Figuren eher selten sind und darüber hinaus abhängig sind von Gattung und Epoche. Ähnliches beschreiben Müller/Meister auch für die narrative Kohärenz: Kohärenz verstehen wir [. . .] nicht als ein ontologisches Merkmal der Gegenstandsdomäne, sondern als eine semiotische Funktion ihrer Repräsentation – wobei Repräsentation nicht erst das fertige bedeutungstragende Artefakt meint, sondern den Konstitutionsprozess des Repräsentierens wie dessen imaginären Nachvollzug im Akt der Rezeption einschließt.³¹²

Dessen ungeachtet ›kennen‹ Rezipienten viele Kausalzusammenhänge oder leiten sie nach Maßgaben von Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit aus ihrem Weltwissen oder ihrem spezifisch literarischen Wissen her. Stimuli reichen aus, um beim Rezipienten bestimmte scripts und frames zu aktivieren. Der Erzähler oder der Autor muss nicht explizit darauf hinweisen, dass in Lessings Emilia Galotti Odoardos Dolchstoß Emilia eine tödliche Wunde verursacht. Der Rezipient könnte sich im Gegenteil sogar darüber wundern, sollte Emilia überleben. Dies mag dann daran liegen, dass er die Verknüpfung aus seinem Weltwissen über Waffengewalt oder aber über das typische Handlungsschema eines Trauerspiels inferiert. Dementsprechend muss jedoch, außer im Fall einer Ereignis- oder Zustandssetzung – Odoardo sticht zu und Emilia sinkt nieder –, weder explizit gesagt werden, dass Emilia als Folge des Dolchstoßes zu Boden sinkt und es muss auch nicht explizit erwähnt werden, dass der Dolchstoß tödlich ausgeht; der Rezipient ›vermutet‹ diese Motivation. Im Text muss es nicht explizit gemacht werden und es könnte sogar konstruiert

312 Müller/Meister: Narrative Kohärenz oder: Kontingenz ist auch kein Zufall (2009), S. 35.

274 | 4 Episierung im Drama wirken. Ein Grund dafür liegt sicherlich darin, dass explizite Motivationen oder auch der Einsatz erzählender diegetischer Instanzen besonders im Drama auffällig werden. Gerade in der Aufführungssituation bleibt dem Rezipienten eine ›natürliche‹, beobachtende Wahrnehmung von Geschehnissen und Handlungen. Er ist es ›gewohnt‹, Zusammenhänge zu erschließen, und erwartet keine Erklärung dessen, was ohnehin wahrgenommen werden kann. Die Nachfrage des Prinzen im Beispiel Emilia Galotti »(im Hereintreten). Was ist das? – Ist Emilien nicht wohl?«³¹³ kann in diesem Fall aus der Perspektive des Rezipienten durchaus komisch wirken. Gregory Currie vertritt eine ähnliche Sichtweise auf narrative Texte. Auch er will zeigen, wie und ob kausale Relationen zwischen Ereignissen der Diegese dazu beitragen, andere Ereignisse zu erklären. Er bezieht sich unter Anderem auf David K. Lewis und versteht Erklärungen als die Bereitstellung von Information über die kausale Geschichte (causal history) eines Ereignisses. Diese kausale Geschichte bestehe beispielsweise aus einer kausalen Kette, die zu einem Ereignis führe und dessen Zustandekommen erkläre.³¹⁴ Currie unterscheidet interne und externe Erklärungen (internal und external explanations).³¹⁵ Er geht davon aus, dass der zentrale Aspekt für die internen Erklärungen die »causal relatedness [. . .] of its events«³¹⁶ sei – etwas das jede Erzählung beinhalte.³¹⁷ Die Einschätzung (judgement) eines Rezipienten darüber, was als relevante Möglichkeit eines Ereigniseintritts innerhalb der Diegese betrachtet werden kann, hängt von seiner Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten dieser Eintritte ab. Diese Einschätzungen der Wahrscheinlichkeiten hängen aber ihrerseits wiederum von Faktoren ab, die außerhalb der über die Erzählung repräsentierten Welt liegen können.³¹⁸ Currie geht soweit zu sagen, dass diese »cannot be explained in terms of causal relations available within the story«.³¹⁹ Und er geht sogar noch weiter: »[w]e need the external, author-centered perspective at this point«.³²⁰ Anders ausgedrückt können die kausalen Zusammenhänge einer Ereignissequenz nur über die Hinzunahme externer Kontexte erklärt werden. »The causal richness that the narrative form demands cannot all be provided explicitly, and must depend on massive imports from the real world.«³²¹ Die Bildung interner Erklärungen hängt damit letztlich von externen Erklärungen ab. Jens Eder drückt dies in Narratology and Cognitive Reception Theories so aus: Furthermore, the explicit statements made by narrative texts about their narrated worlds are almost always incomplete. The majority of what the narrative suggests to be the case is derived

313 Lessing: Emilia Galotti (1985), S. 78. 314 Vgl. Currie: Both sides of the story (2007), S. 51. 315 Vgl. Currie: Both sides of the story (2007), S. 49. 316 Currie: Both sides of the story (2007), S. 50. 317 Currie: Both sides of the story (2007), S. 50. 318 Vgl. Currie: Both sides of the story (2007), S. 50. 319 Currie: Both sides of the story (2007), S. 50. 320 Currie: Both sides of the story (2007), S. 50. 321 Currie: Both sides of the story (2007), S. 51.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 275

from implicit statements and has to be deduced by the recipient by means of inference. This is particularly well illustrated by the example of montage in films: [. . .] an event that is never explicitly shown, only suggested. If narratology is to develop general models of possible narrative elements and structures, it must have access to criteria for determining and identifying those elements and structures and locating them in the system. Narratology should be able to answer the question ›how do we determine the objects in (fictional) narratives, and what is their ontological status?‹³²²

Argumentationen wie diese erinnern an Roman Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstellen. Um die Vorstellung einer geschlossenen erzählten Welt und damit zusammenhängend einer scheinbar geschlossenen Ereignissequenz zu erreichen, brauchen nicht alle Details bzw. alle Zusammenhänge erläutert und ausformuliert zu werden. Die teilweise auch unvermeidlichen Unbestimmtheitsstellen – besser wäre es, von ›Unterbestimmtheit‹ zu sprechen – werden und müssen bis zu einem gewissen Grad vom Rezipienten konkretisiert werden. Dies muss kein bewusster Vorgang sein. Bewusst wird dieser Vorgang erst und vor allem dann, wenn die Ereignisstruktur für den Rezipienten tatsächliche oder scheinbare Brüche aufweist, wenn er nicht einfach aus seinem literarischen oder Weltwissen oder dem bisherigen Kontext der Erzählung Zusammenhänge inferieren kann. Ob in solchen Fällen der Rezipient versucht, die Kohärenz der Struktur aufrechtzuerhalten und neue Zusammenhangsmuster und Abbildungsregeln entwickelt oder aus seinem Wissen über ähnliche Situationen ableitet, hängt ebenfalls von seiner Disposition ab. Ob er darüber hinaus Verbindungen herstellt, wo tatsächlich keine sind, unzureichende, gar falsche oder unpassende Relationen inferiert, ist dabei naturgemäß nicht ausgeschlossen, wie wir am Prinzen sehen, der Emilias Zusammenbruch zunächst auf ein Unwohlsein zurückführt. 4.3.2.4 Drei Arten der Motivation nach Martínez/Scheffel Wie bereits erwähnt, lassen Martínez/Scheffel oder auch Wolf die genaue Art bzw. den genauen Typ der Relation offen. Ereignisse müssen in irgendeiner Weise, die über eine bloße Temporalität hinausweist, motiviert oder relationiert sein, damit von einer Geschichte gesprochen werden kann. Ebenso trägt eine hohe Quantität relationierter Zustände und Ereignisse einer Erzählung höchstens zum Grad an Narrativität bei. Es kann aber kein Kriterium angegeben werden, ab dem nicht mehr von einem narrativen Text gesprochen werden kann, solange über die Zeichenstruktur ein Geschehen aufrechterhalten wird. Motivation wird von Martínez/Scheffel in einem weiten Verständnis verwendet. Zu Motivationen zählen nicht nur empirische Beweggründe einer Zustandssequenz (Emilia stirbt, weil sie durch einen Dolch verletzt wurde), sondern auch psychologische

322 Jens Eder: Narratology and Cognitive Reception Theories, in: What Is Narratology? Questions and Answers. Regarding the Status of a Theory, hrsg. v. Tom Kindt/Hans-Harald Müller (Narratologia 1), Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2003, S. 277–301, hier S. 288.

276 | 4 Episierung im Drama Beweggründe oder Absichten handelnder Figuren (Emilia will sich umbringen, weil sie ihre Unschuld bewahren will) oder ästhetische bzw. kompositorische Zusammenhänge (Emilia stirbt, weil sie die Protagonistin eines Trauerspiels ist).³²³ Dementsprechend ist ein Ereignis nicht nur gegeben, wenn zwei Zustände aufeinanderfolgen. Nach Martínez/Scheffel lassen sich Ereignisse aufteilen in statische (Zustände und Eigenschaften) und dynamische Ereignisse (Geschehnisse und Handlungen). Genauer gesagt lassen sie sich als Propositionen verstehen, die auf der Ebene des Repräsentierten bestimmte Funktionen erfüllen und Motivation stellt dabei eine dieser Funktionen dar. Zu Ereignissen und damit auch möglichen Quellen von Motivationen werden beispielsweise neben (mentalen) Handlungen oder Geschehnissen auch (mentale) Eigenschaften von Figuren und Zustände gezählt (vgl. Kapitel 3.4.3).³²⁴ Narrative Motivation kommt nach Martínez/Scheffel in zwei Dimensionen vor.³²⁵ Zur ersten Dimension werden Fälle finaler und kausaler Motivation gezählt. Zur zweiten Dimension gehören kompositorische bzw. ästhetische Motivation von Ereignissen. Die Motivation ist im ersten Fall Bestandteil der Welt, in der auch die motivierten Ereignisse verortet werden können. Im zweiten Fall werden die Ereignisse durch Gesetzmäßigkeiten motiviert, die außerhalb der erzählten Welt liegen. Die Motivation ergibt sich dann nicht aus empirisch nachweisbaren Gegebenheiten, sondern aus Bedingungen der künstlerischen Gesamtkomposition bzw. aus ästhetischen Kriterien, die beispielsweise durch das Genre des narrativen Textes gegeben sind. In einer Tragödie muss der Tod des Protagonisten nicht nur über eine Ereignisfolge hin zum Ereignis Tod motiviert sein, sondern der Tod ist zusätzlich ein handlungs- aber auch gattungstragendes Merkmal der Tragödie, die den Tod des Helden voraussetzt. Dies lässt den Tod einer Figur gleichzeitig zu kausalen Relationen aus ästhetischer Sicht sehr wahrscheinlich werden und damit motiviert erscheinen. Welcher empirische Grund Emilia auch veranlasst haben mag, sich umbringen zu wollen, so ist doch ihr Tod ästhetisch-kompositorisch motiviert. Die Motivationsarten können deshalb auch unterschieden werden in sogenannte Motivationen ›von vorne‹ (kausale) und Motivationen ›von hinten‹ oder ›von außen‹ (finale, kompositorische).³²⁶ Damit sind drei grundlegende Arten von Motivationen bestimmt:³²⁷ kausale, finale und kompositorisch-ästhetische Motivation. Mit einer kausalen Motivation wird ein Ereignis in einen Ursache-WirkungsZusammenhang gesetzt, »der als empirisch wahrscheinlich oder zumindest möglich

323 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), 113, FN 2. 324 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 112. 325 Vgl. Martínez: Motivierung (2000), S. 643; vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 117. 326 Vgl. Martínez: Doppelte Welten (1996), S. 20 f., 27. 327 Vgl. Martínez: Doppelte Welten (1996), S. 27 f.; vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 114–122.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 277

gilt«.³²⁸ Aber auch dabei gehen Martínez/Scheffel von einer offenen Variante des Kausal-Begriffs aus. Zu kausalen Zusammenhängen können zählen: intentionale und nicht-intentionale Handlungen und Geschehnisse wie auch intendierte und nichtintendierte Handlungen. Dazu zählen physikalische Geschehnisse wie ›die Sonne scheint, deshalb wird das Gras trocken‹, mentale Zustände wie ›er war enttäuscht, deshalb kündigte er seinen Job‹ und letztlich können auch mehrere Ereignisse, Zustände und Bedingungen ein Ereignis oder eine Ereignissequenz motivieren.³²⁹ Von finalen Motivationen ist zu sprechen, wenn der Ereignisverlauf der erzählten Welt vorherbestimmt ist. Die Handlung final motivierter Texte findet vor dem mythischen Sinnhorizont einer Welt statt, die von einer numinosen Instanz beherrscht wird. Der Handlungsverlauf ist hier von Beginn an festgelegt, selbst scheinbare Zufälle enthüllen sich als Fügungen göttlicher Allmacht.³³⁰

Finale Motivationen sind, wie auch die kausalen, aus der erzählten Welt heraus begründet. Gesetzmäßigkeiten können mit Bezug auf das Schicksal oder auf eine göttliche Vorsehung nicht nur erklärt, sondern auch begründet werden. Es mag sich für den Rezipienten die Frage stellen, worin der Beweggrund eines jungen Menschen im Ödipus-Mythos besteht, einen Reisenden und seine Begleiter kurzerhand zu töten, weil diese von ihm fordern – zugegebenermaßen etwas schroff –, für ihr Fuhrwerk Platz zu machen. Final motiviert ist seine Handlung, wenn die erzählte Welt mythisch oder generell durch Schicksal bestimmt ist. Immerhin wurde in Sophokles’ König Ödipus dem Vater des späteren Königs von Theben das Orakel verkündet, sein Sohn würde ihn töten und seine Frau heiraten. Der Ausgang des Zusammentreffens von Laios und Ödipus als jungem Mann war also von Anfang an vorherbestimmt. Martínez/Scheffel und auch Martínez in seiner Monographie Doppelte Welten sind der Ansicht, dass finale und kausale Motivationen, die sie auf der diegetischen Ebene verorten, miteinander inkompatibel sind bzw. sich gegenseitig ausschließen. Vielmehr führe ihr gleichzeitiges Vorhandensein zu zwei miteinander inkompatiblen Erklärungssträngen für die Ereignissequenz. Jedoch sei bei einem gleichzeitigen Auftauchen finaler und kausaler Motivation, die kausale der finalen Motivation untergeordnet.³³¹

328 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 114. 329 Zusätzlich zählen Martínez/Scheffel auch den Zufall als mögliche kausale Motivation eines Ereignisses oder einer Ereignissequenz auf. Es scheint mir allerdings etwas irreführend, den Zufall als mögliche Motivation wie auch als Besonderheit zu erwähnen. Denn ob das motivierende Ereignis selbst zufällig zustande kam, ist für eine darüber hinaus gehende Zuordnung – kausal, final, kompositorisch – nebensächlich. Insbesondere Emilia Galotti ist reich an vermeintlichen Zufällen, die sich aber alle entweder durch Intrigen der beteiligten Figuren oder aber durch die ästhetische Komposition erklären lassen. 330 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 115. 331 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 115.

278 | 4 Episierung im Drama Das in König Ödipus nicht mimetisch, sondern nur diegetisch repräsentierte Ereignis des Todes von König Laos ist somit als zumindest final motiviert zu bestimmen. Ödipus muss seinen Vater töten, weil es sein Schicksal ist. Dass Ödipus darüber hinaus die Charaktereigenschaft des Jähzorns zugeschrieben werden kann, mit der seine Tat auch kausal motiviert erscheint, tut der finalen Motivation keinen Abbruch. Ich teile die Auffassung von Martínez/Scheffel nicht, dass finale und kausale Motivation ein und desselben Ereignisses unvereinbar sind. Unvereinbar wäre vielmehr, dass ein Ereignis gleichzeitig Zufall und Schicksal ist. Letzteres wäre tatsächlich ein Widerspruch. Ich schlage allerdings vor, final durch teleologisch zu ersetzen. Eine teleologische Motivation oder Ursache eines Ereignisses erklärt diese über eine Final- oder Zweckursache bzw. sie ist aufgrund ihres Telos motiviert. Dies ist im Gegensatz zur kausalen Motivation zu verstehen, bei der ein Ereignis durch eine Wirkursache motiviert ist. Teleologische Motivationen können intrinsisch oder extrinsisch sein. Das soll bedeuten, dass das Ergebnis entweder durch Eigenschaften oder Intentionen eines Objekts (Ödipus beschließt, weil er sich schuldig fühlt, sich zu blenden) oder von außen bestimmt ist (Ödipus blendet sich, weil es sein Schicksal ist).³³² Letzteres kann die Finalität im Sinne von Martínez einschließen. Kompositorische oder ästhetische Motivation³³³ »umfasst die Funktion der Ereignisse und Details im Rahmen der durch das Handlungsschema gegebenen Gesamtkomposition und folgt nicht empirischen, sondern künstlerischen Kriterien«.³³⁴ Martínez/Scheffel unterscheiden freie und gebundene (verknüpfte) Ereignisse.³³⁵ Während gebundene Ereignisse sich dadurch auszeichnen, dass sie für die Struktur des Textes handlungsfunktional sind, gilt dies für freie bzw. ungebundene Ereignisse nicht. Freie Ereignisse können aber anstatt in einer direkten, in einer semantischen Verbindung zur Gesamtstruktur der Handlung stehen und damit auch kompositorisch motiviert sein oder zur Motivation anderer Ereignisse beitragen.³³⁶ Ich stimme dieser Möglichkeit durchaus zu, möchte aber betonen, dass deswegen nicht ausgeschlossen ist, dass auch die gebundenen Ereignisse zusätzlich im obigen Sinne semantisch bzw. kompositorisch motiviert sein können. Die dafür notwendigen semantischen Relationen können entweder metonymisch oder metaphorisch geprägt sein.³³⁷

332 Ähnlich verhält es sich auch mit Catharina von Georgien: Weil Catharina aus Beweggründen, die sie selbst bestimmt, die Intention hat, ihrem Glauben nicht abzuschwören, wird sie sterben (intrinsisch). Die extrinsische Möglichkeit ist: Weil die personifizierte Ewigkeit sagt, dass Catharina ein Beispiel für das höhere Gut der Beständigkeit abgeben soll, muss sie gefoltert werden und sterben. Im letzten Fall ist es Catharinas Schicksal und also von außen begründet. 333 Vgl. auch Martínez: Doppelte Welten (1996), S. 27. 334 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 117. 335 Ich verwende im Folgenden anstatt der Bezeichnung ›verknüpft‹ die Bezeichnung ›gebunden‹, da sich ansonsten eine Doppelung mit meiner Fassung der Episierung als Verknüpfungsleistung ergeben könnte. 336 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 117. 337 Martínez/Scheffel beziehen sich mit ihrer Terminologie auf Roman Jakobson.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 279

Metaphorisch relationierte ungebundene Ereignisse stehen mit dem Gesamtzusammenhang in einer Ähnlichkeitsbeziehung. Als Beispiel führen Martínez/Scheffel das Schaukeln Effis in Theodor Fontanes Effi Briest (1894/95) an. Effis Schaukeln hat mit ihrer Lebensführung das Merkmal ›risikoreich‹ gemeinsam. Auf ihr unglückliches Schicksal bezogen, wird das Schaukelmotiv zum Zeichen für das Risiko, das sie in der Affäre mit dem Offizier Crampas eingegangen ist. Es ist in der erzählten Welt nicht kausal oder final, aber metaphorisch mit der Handlung verbunden.³³⁸

Bei einem metonymisch mit den restlichen Ereignissen verbundenen, freien Ereignis zeichnet sich die Relation durch Kontiguität aus: entweder durch kausale, spatiale oder temporale Nähe oder aber durch synekdochische pars pro toto-Beziehungen.³³⁹ Solche Motivationsereignisse sind wesentlich schwerer als ungebundene zu begründen. Sie stehen immerhin in einer, wenn auch recht schwachen, Beziehung zur Gesamthandlung. Martínez/Scheffel führen eine These Anton Čechovs an, nach der an einem am Anfang einer Narration erwähnten Nagel an einer Wand, sich am Ende auch jemand erhängen muss. Spielt dieses Ereignis Nagel (letztlich handelt es sich um den Zustand einer Wand und eines Nagels) im Laufe der Narration eine Rolle, wird aus dem in der Rückschau und bei seinem Auftreten in der Zeichensequenz nur schwach mit der Handlung verbundenen, freien Ereignis, jetzt ein gebundenes.³⁴⁰ Hier treten meiner Ansicht nach allerdings Probleme auf. Denn es muss unterschieden werden zwischen einer nachträglichen, überblickenden Sicht auf die Erzählung, die den Nagel als gebundenes Ereignis erkennt, und einer der Zeichensequenz der Repräsentation folgenden Perspektive des erstmaligen Rezeptionsakts, in dessen Rahmen der Nagel zuerst als freies Motiv und eigentlich überflüssiges Detail wahrgenommen werden kann. Der Rezipient kann den Nagel erst später als gebundenes Ereignis einordnen. Dies ist nämlich dann der Fall, wenn der Selbstmord des Protagonisten beschrieben wird. Aus der ersten Perspektive ist der Nagel eindeutig ein gebundenes Ereignis, aus der anderen Perspektive ist er, im Nachvollzug eines erstmaligen Rezeptionsprozesses, zuerst frei und erst später gebunden. Natürlich können freie Ereignisse oder Motive auch einfach nur ein red herring bleiben und in keinster Weise metonymisch oder metaphorisch eingebunden sein. Dass etwa Miele in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang »Anfang Vierzig«³⁴¹ ist, spielt für die Handlung eine nebensächliche Rolle und kann wohl nur mit Mühe als

338 Diese Aussage von Martínez/Scheffel ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass die Motivationen, die ein bloßes Geschehen zu einer Geschichte machen, auch erst beim Rezeptionsvorgang hinzugesetzt werden. In Effi Briest wird diese kompositorische Motivation bzw. Relation nie explizit gemacht. Martínez/ Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 118. 339 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 118. 340 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 118 f. 341 Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (2005), S. 7.

280 | 4 Episierung im Drama metonymisches oder metaphorisches Motiv oder Ereignis inferiert werden.³⁴² Explizit motiviert wird es im Text jedenfalls nicht. Einen letzten Aspekt möchte ich bei der narrativen Motivation von Martínez in Betracht ziehen: die Unterscheidung in die Diegese und die Exegesis, also die Ebene der Geschehensteilnehmer und die des Geschehensvermittlers. Nach Schmid laufen dabei zwei Ereignissequenzen ab: Dies sind die Ereignisse der erzählten Geschichte und die Ereignisse der Erzählgeschichte bzw. die Ereignisse der Erzählhandlung: Erzähltexte vereinigen so zwei verschiedene epistemische Perspektiven, die lebensweltlichpraktische der Protagonisten und die analytisch-retrospektive des Erzählers. Einen narrativen Text zu verstehen bedeutet für den Leser, beide Perspektiven wahrzunehmen.³⁴³

Nach Martínez/Scheffel ist anzunehmen, dass die Wahrnehmung des Rezipienten zwischen den Ereignissen als gerade stattfindenden auf Figurenebene und der Perspektive der erzählenden Instanz, für die die Ereignisse als abgeschlossen gelten, oszilliert.³⁴⁴ Ich bin darauf bereits bei der Unterscheidung diegetischer (berichtender) und mimetischer (zeigender) Narration eingegangen (vgl. Kapitel 3.6.3). Zudem kann die Erzählinstanz auch nur aus dieser Position heraus kommentierende und motivierende Aussagen über das Geschehen treffen. Aus der Perspektive der Aktanten ist die Zukunft und der Ausgang der Handlung offen, für die Erzählinstanz ist er beim Akt des Erzählens in der Regel abgeschlossen. 4.3.2.5 Vier Ebenen der Motivation nach Schultz James A. Schultz³⁴⁵ differenziert ebenfalls »various kinds of narrative motivation«.³⁴⁶ Er unterscheidet story motivation, narrator motivation, recipient motivation und actional motivation. Sie sind allerdings nicht zu verwechseln mit der Einteilung von Martínez/Scheffel, da Schulz keine verschiedenen Motivationsarten unterscheidet, sondern differenziert, auf welcher und von welcher Ebene aus die Motivation eingesetzt wird. Demnach gibt es Motivationen auf diegetischer wie exegetischer Ebene: diegetische Motivationen, die auf Ebene der Geschichte liegen (story motivation), und exegetische Motivationen, die von der Ebene des Erzählers (narrator motivation) ausgehen. Zusätzlich wird bei ihm aber auch die Unterscheidung in werkinterne und werkexterne Motivationen vorgenommen, die vom Rezipienten inferiert werden oder die aufgrund von Erwartungshaltungen des Rezipienten abgeleitet werden können

342 Vgl. auch Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 119 f. 343 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 125. 344 Vgl. Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 123. 345 Vgl. Schultz: Why Do Tristan and Isolde Leave for the Woods? (1987); Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987). 346 Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987), S. 208.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 281

(recipient motivation). Ebenfalls werkextern sieht Schultz Motivationen, die sich aus der Handlungsstruktur ergeben (actional motivation). Von story motivation spricht Schultz dann, wenn die motivierenden Elemente Teil der narrativen Struktur der Erzählung sind.³⁴⁷ Motivation auf diegetischer Ebene beeinflusst nicht nur einzelne Elemente und hilft damit eine Geschichte zu bilden, sondern trägt gleichzeitig zur Konstitution und Kohärenz der Narration selbst bei.³⁴⁸ Bei der narrator motivation bezieht sich Schultz auf eine Feststellung Genettes, wonach die Motivation auch Teil des Erzählerdiskurses sein kann. Wenn beispielsweise der Erzähler mit Kommentaren oder Ähnlichem die Beweggründe der Ereignisse erläutert: »Because this motivation is not actually part of the story but is added by the narrator in telling it, I will distinguish it from story motivation by calling it narrator motivation.«³⁴⁹ Story motivation wie narrator motivation »are both expressed in the words of the text«,³⁵⁰ weswegen sie auch durch direkte Textzitate bei der Analyse repräsentiert werden können.³⁵¹ Es gibt aber noch andere Formen der Motivation, die extratextuell gelagert sind und die eher auf Inferenzen basieren, was im Analyseakt zwangsläufig zu Paraphrasierung wie Ergänzungen führt. Derartige Motivationen lassen sich nicht mit den Worten des Textes selbst beschreiben. Die dargestellte Ereignissequenz muss dafür interpretiert werden und die Motivationen inferiert und deshalb paraphrasiert werden. Dazu gehört etwa die recipient motivation. Hierbei verweist Schultz darauf, dass Motivation nicht immer explizit dem Text beigegeben bzw. in die Repräsentation eingeschrieben sind. Auch ohne direkte Bezugnahme bezieht er sich hier wie auch Martínez/Scheffel auf Ingardens Unbestimmtheitsstellen, die vom Rezipient konkretisiert werden können oder in Fällen, in denen die narrative Kohärenz gefährdet ist, dies auch müssen:³⁵² At some point all narratives rely on common knowledge about the world, on shared assumptions about what acts are natural in a given situation, and on our ability to supply the »obvious« reasons for those »natural« actions that are not explicitly motivated. Since all recipients must be potential motivators of the story in order to understand it at all, I will call their (potential) activity recipient motivation.³⁵³

347 Vgl. Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987), S. 208. 348 Vgl. Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987), S. 208. 349 Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987), S. 209. 350 Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987), S. 210. 351 Vgl. Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987), S. 208. 352 Vgl. auch Currie: Both sides of the story (2007). 353 Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987), S. 211.

282 | 4 Episierung im Drama In Bezug auf Peter Brooks und aufbauend auf Todorov führt Schultz noch eine weitere Ebene der Motivation ein.³⁵⁴ Demnach würden Narrationen durch die Einführung eines Ungleichgewichts (Disequilibrium) aus sich heraus vorangetrieben und dadurch motiviert. Solange diese Spannung, die durch ein solches eingeführtes Ungleichgewicht entstanden ist, aufrechterhalten wird, ist die weitere Ereignissequenz dadurch motiviert. As long as the state of tension is maintained, however, the story must continue. In other words, an action that generates disequilibrium, narrative tension, must be followed by another, it is not so important precisely which other, until some sort of equilibrium has been attained.³⁵⁵

Dies erinnert naturgemäß auch an die Lotmansche Theorie der Grenzüberschreitung. Diese Motivationsart »inheres in actions as such«,³⁵⁶ weswegen Schultz sie auch actional motivation nennt. Letztlich also eine Motivationsart, die von der Ebene des Handlungsschemas ihren Ausgang nimmt. Zu den beiden letzteren merkt Schultz an: »Both recipient and actional motivation engage us in a kind of complicity with the narrative, for in both cases we supply reasons or assume connections where the text is silent. We motivate it where it does not motivate itself.«³⁵⁷ Natürlich motiviert sich der Text nie selbst, aber Schultz zielt hier wie auch Martínez/Scheffel und die kognitive Narratologie darauf ab, dass der Rezipient einen Beitrag leistet, um die Kohärenz der Handlungselemente aufrechtzuerhalten und um gleichzeitig den Text als narrativen Text zu stabilisieren, indem er über die eigenständige Bildung von Motivationen aus dem bloßen Geschehen eine Geschichte generiert. 4.3.2.6 Zusammenfassung Für Martínez/Scheffel stellt Motivation eine Möglichkeit narrativer Kohärenzbildung dar, die die einzelnen Ereignisse des Geschehens zueinander in Relation setzen, so dass daraus ein kohärentes Ganzes, also eine Geschichte entsteht. Dabei ist es letztlich unwichtig, ob die Relationen nun kausaler, teleologischer oder kompositorischer Natur sind. Wichtig sei nur, dass Motivationen entweder explizit gemacht werden oder aber inferiert werden können. Hinzu kommt, dass diese Motivationen erst über die Repräsentationsebenen ableitbar sind. Das bedeutet, dass die Erzählung die Motivationen

354 »An »ideal« narrative begins with a stable situation which is disturbed by some power or force. There results a state of disequilibrium; by the action of a force directed in the opposite direction, the equilibrium is re-established; the second equilibrium is similar to the first, but the two are never identical.« Tzvetan Todorov: The Poetics of Prose, aus dem Französischen übers. v. Richard Howard (Cornell paperbacks 165), 6 1971 [Ndr. Ithaca und New York: Cornell University Press, 1977], S. 111. 355 Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987), S. 212. 356 Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987), S. 212. 357 Schultz: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? (1987), S. 213 f.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 283

repräsentiert, von der aus die abstrakte Kategorie der Geschichte, die ja auf Handlungsbzw. Inhaltsebene (Ebene des Repräsentierten) liegt, abstrahiert bzw. von der aus auf sie geschlossen werden kann. Was die Ansätze der Motivation in narrativen Texten verbindet ist, die Möglichkeit zur Unterscheidung, ob die Motivation der Ereignisse explizit über die Repräsentation gegeben ist, nur implizit aufscheint oder inferiert werden kann. Im ersten Fall kann man sich überlegen, ob die Motivation als Teil der Handlungsstruktur auf diegetischer Ebene bestimmbar ist bzw. gegeben wird oder ob sie auf exegetischer Ebene von außen hinzugesetzt wird. Hinzu kommt jedoch, dass dort die Erzählinstanz nicht nur die Relationen bzw. Motivationen der Ereignisse auf diegetischer Ebene liefert, sondern auch die Erzählereignisse auf exegetischer Ebene motivieren kann. Im zweiten Fall ist es der Rezipient, der die nicht explizit gemachten Motivationen und Relationen der handlungsrelevanten Elemente selbst vornimmt. Hier kann unterschieden werden, ob die Relation deswegen nicht explizit ausgedrückt sind, weil sie aus der Ereigniskombination heraus über das vorausgesetzte Welt- oder Literaturwissen des Rezipienten mehr als evident sind, oder ob der Rezipient mit Absicht darüber im Dunkeln gelassen wird, wie die Ereignisse miteinander zu verknüpfen sind. Relevant in Hinblick auf die Episierung wird allerdings nur die explizite Variante von Motivationen durch einen eventuellen Erzähler oder im Falle des Dramas durch die dramatische Instanz. Hinzu kommen Figuren auf diegetischer Ebene, die Motivationen für ihr Handeln, Geschehnisse, Zustände oder Eigenschaften äußern. Im Drama sind es beispielsweise auf diegetischer Ebene vor allem Monologe der Figuren oder Botenberichte. Auch Chöre und deren Kommentare und Vorausweisungen liefern oft über die bloße kausale Motivation der Ereignissequenz hinausgehende teleologische oder ästhetisch-kompositorische Motivationen. Chöre sind zudem meist auf einer zu den eigentlichen Ereignissen verschiedenen, aber immer noch diegetischen Ebene angesiedelt, von wo aus sie das Geschehen kommentieren und eben gegebenenfalls motivieren. Neben der dramatischen Instanz oder den Figuren kann natürlich auch der Autor oder gar der Herausgeber Motivationen über Paratexte wie Titel, Vor- und Nachwörter liefern. Auch hier ist es eine Frage der Auslegung, ob wir uns nur für die Erzählfunktion interessieren oder uns auch damit beschäftigen, wer genau spricht: der Autor oder eine von ihm unterschiedene erzählende Instanz. Ich habe dies mit der dramatischen Instanz gelöst, die Erzählfunktion übernimmt und den Spieltext sowie Paratexte mit hauptsächlich nebentextueller Funktion als Erzählmedium ausgestaltet. Ob die dramatische Instanz mit dem Autor oder dem Erzähler gleichgesetzt wird, ist nicht relevant. Relevant ist vielmehr, dass die dramatische Instanz dem Modell nach außerhalb der Diegese lokalisiert ist und den äußersten Kommunikationspartner im textinternen Bereich darstellt. Mit der dramatischen Instanz, der Unterscheidung in Bühnendiegese und Diegese eines Dramas, der Differenzierung von Diegese und Exegesis, der Bestimmung des

284 | 4 Episierung im Drama Narrativen als kognitives Schema, dabei gleichzeitig des Erzählens als Kommunikationsakt und ebenfalls kognitivem Schema sowie der Differenzierung von Ereignis- und Motivationsarten kann jetzt die Episierung im Drama neu bestimmt werden.

4.3.3 Episierung im Drama Dramen als fiktional-narrative Texte besitzen analytisch betrachtet eine dramatische Instanz, die für die Vermittlung und Komposition des Textes und insbesondere der Narration verantwortlich ist. Wie ich dargestellt habe, lässt sich der über die Erzählung dargestellte Inhalt eines narrativen Textes neben dem diegetischen und exegetischen Raum nochmals in ein Geschehen und eine Geschichte differenzieren. Über einen narrativen Text wird in Abgrenzung zu einem deskriptiven Text, in dem beispielsweise nur spatial relationierte Zustände repräsentiert werden, eine temporal strukturierte und relationierte Struktur aus Zuständen dargestellt. Beide analytischen Ebenen des Geschehens und der Geschichte werden repräsentiert anhand einzelner Ereignisse mit statischer und/oder dynamischer Funktion in einer Erzählung. Wenn also von Ereignissen gesprochen wird, ist damit immer auch ihre Funktionalität als Zustände, Handlungen, Eigenschaften und Geschehnisse angesprochen. Sind diese Ereignisfolge und die darüber abgebildeten Zustände, Handlungen, Eigenschaften usw. nur temporal relationiert, spreche ich von einem Geschehen. Treten noch weitere Relationierungen in Form der oben beschrieben Motivationen hinzu, wird von einer Geschichte gesprochen. In einem narrativen Text werden mindestens zwei Ereignisse (statische oder dynamische) im erzähltheoretischen Sinn durch eine Relation aufeinander bezogen. Dabei ist als einfachste und für einen narrativen Text notwendige Relation die der Temporalität anzunehmen. Dies wird in der Narratologie aber noch nicht als Geschichte, sondern als Geschehen bezeichnet. Um von einer Geschichte zu sprechen, soll nach dem Gros der Forschungsmeinungen noch mehr hinzukommen: eine kausale aber auch eine teleologische oder eine ästhetische bzw. kompositorische Relation, die sich auch als Motivation bezeichnen lässt. Diese Motivationen bilden als Relationen verschiedener Elemente und Elementgruppen der Narration ein dichtes Netz, das der Narration mithilfe einer dadurch etablierten Geschichte eine gewisse Geschlossenheit und Sinnhaftigkeit verleiht. Dramentexte repräsentieren dabei mindestens drei zu unterscheidende diegetische Systeme: die Exegesis, die freie Diegese und die Bühnendiegese. Ich werde im Weiteren für die beiden Diegesen in der Einzahl von der ›Diegese‹ sprechen und dort differenzieren, wo es nötig wird. Geschehen und Geschichten können auf jeder dieser Ebenen abstrahiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Es lassen sich also neben dem Geschehen und der Geschichte noch eine Erzählgeschichte und ein Erzählgeschehen sowie ein Bühnengeschehen und eine Bühnengeschichte abgrenzen. Der Fokus der Darstellung eines Dramentextes liegt aber auf den diegetischen Systemen der Diegese. Wird nur

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 285

ein Erzählgeschehen oder eine Erzählgeschichte dargestellt, spreche ich nicht mehr von einem narrativen Text. Ich nehme nun zwei generelle Möglichkeiten für die Darstellung der Diegese und der Ereignissequenz an: Ereignisse und Entitäten können entweder ohne oder zusammen mit expliziten Motivationen repräsentiert werden. Wenn diese Motivationen explizit sind, wird eine epische Schreibweise eingesetzt. Sind die Motivationen hingegen gar nicht oder nur implizit nachweisbar, liegt eine dramatische Schreibweise vor. Dabei werden die Übergänge zwischen der Manifestationen einer epischen Schreibweise und der Manifestationen einer dramatischen Schreibweise von mir als fließend gedacht. Zudem können ein episches und ein dramatisches Verfahren auch miteinander kombiniert werden. In der hier beschriebenen Form stellen sie zwei Extrempunkte einer Skala dar. Die einfachste und minimale Relation für einen narrativen Text wäre ein impliziertes und dann, die nächst komplexere ein und dann weil oder einfach nur weil. Die Motivationen begreife ich im Vergleich zu temporalen und spatialen als komplexe Relationen. Sie sind selbst Ereignisse, die eben eine motivierende Funktion im Netz der Ereignisse eines narrativen Textes erfüllen. Ich erweitere also die Ereignisfunktionen von Martínez/Scheffel (Statik und Dynamik) um das der Motivation. Als Ereignisse können die Motivationen dementsprechend auch Geschehnisse, Handlungen, Zustände oder Eigenschaften sein und ihre Funktion auf diegetischer wie exegetischer Ebene erfüllen. Zusätzlich können sie als Präsentationsereignisse zur Motivation der Darstellung oder des Aufbaus des Textes eingesetzt werden. Als bisher, bereits in Kapitel 4.3.2 besprochene Typen, unterscheide ich vier mögliche Motivationstypen: 1. kausale Motivation 2. intrinsisch teleologische Motivation 3. extrinsisch teleologische (finale) Motivation 4. ästhetisch-kompositorische Motivation Mit kausalen Motivationen werden Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge der Ereignisfolge der Diegese bestimmt. Intrinsisch teleologische Motivationen können Pläne, Ziele, Einstellungen, Zustände und Eigenschaften von Entitäten der Diegese sein, die die Ereignisfolge über ein zu erreichendes Ziel oder eine generelle Vorgabe bestimmen. Extrinsisch teleologische Motivationen können von einem höheren bzw. anderen diegetischen System aus die Ereignisse im niederen oder anderen System bedingen, wenn also beispielsweise die dramatische Instanz oder eine Regiefigur die Ereignisse der Diegese bestimmend lenkt, zu der sie sich heterodiegetisch und extradiegetisch verhalten. Sie können aber auch in Form von Schicksal oder einer göttlichen Instanz, die zur selben erzählten Welt wie auch die motivierten Ereignisse gehören, gestaltet sein oder vorliegen. Ästhetisch-kompositorische Motivationen ähneln dem extrinsisch teleologischen Typ. Sie motivieren Ereignisse durch Vorgaben von außen. Ästhetischkompositorische Motivationen ergeben sich aus der bestimmten Handlungsstruktur des Textes, poetologischen Prämissen, Gattungskonventionen und Ähnlichem. Diese

286 | 4 Episierung im Drama können textextern und kulturell-sozial bedingt sein oder aber auch textintern adhoc bzw. unabhängig von außertextlichen Vorgaben gebildet werden. Episierung bzw. die Anwendung einer epischen Schreibweise nehme ich genauer gefasst dann an, wenn die Ereignisse und Entitäten einer narrativen Struktur über ihre bloße temporale oder sequentielle Folge und Situierung hinaus explizit motiviert verknüpft werden. Sie folgen also auseinander oder stehen in einer motivierten Relation, die ihnen Sinn und Bedeutung zuweist, die über ihre bloße Anwesenheit hinausgeht. Es reicht also nicht aus, dass poetologische Vorgaben für beispielsweise das epische Theater dem Leser einfach bekannt sind und er deshalb bestimmte Phänomene des Textes als ästhetisch motiviert betrachtet. Damit von einer ästhetisch-kompositorischen Episierung gesprochen werden kann, muss dies im Text explizit eingeschrieben sein, nur dann ist eine epische Schreibweise angewandt. Anders ausgedrückt gestaltet eine epische Schreibweise das bloße zugrundeliegende Geschehen auf der Ebene Erzählung zur Geschichte, die sich dadurch gegenüber dem Geschehen auszeichnet, dass deren Ereignissequenz und -struktur explizit motiviert ist. In der Regel wird dabei aus einem Geschehen eine kohärente und sinnvolle Geschichte gebildet. Eine epische Schreibweise kann jedoch auch zur Störung von Kohärenz und Sinnzuschreibungen eingesetzt werden. Es ist nur von Belang, dass die Ereignisse explizit motiviert werden. Sie müssen nicht in Relation zum Welt- oder Literaturwissen des Lesers und auch nicht zum Weltgefüge der erzählten Welt sinnvoll motiviert sein. Als Dramatisierung bzw. als das Verwenden einer dramatischen Schreibweise bezeichne ich das Vorkommen mindestens zweier Ereignisse in Narrationen, für die keinerlei komplexe Relation in Form einer Motivierung angegeben wird. Das dramatische Verfahren ist gekennzeichnet durch eine nicht weiter motivierte Reihung einzelner Ereignisse zu einer temporalen Sequenz, die außer temporalen und gegebenenfalls spatialen Verknüpfungen keine weiteren komplexen Relationen bzw. eben Motivationen der Einzelereignisse aufweist. Bei der ausschließlichen Verwendung einer dramatischen Schreibweise wird über die Erzählung nur ein Geschehen abgebildet. Um daraus eine sinnvolle und zusammenhängende Geschichte zu bilden, muss der Rezipient selbst fehlende oder nicht explizit gemachte komplexe Relationen bzw. Motivationen inferieren; beispielsweise bei Sprüngen und Ellipsen. Der Unterschied einer in diesem Sinne episch und dramatisch gestalteten Narration besteht nach meinem Modell jetzt nicht mehr darin, dass die erste ein vermittelndes Kommunikationssystem besitzt und die letzte nicht. Es besteht im Besonderen auch nicht darin, dass die erste eine Geschichte darstellt und die zweite ein bloßes Geschehen. Der Rezipient wird, erkennt er einen Text als einen (literarisch) narrativen, Kohärenz- und Sinnstiftung leisten, Narreme und Motivationen ergänzen usw., um eine Geschichte zu bilden. Für den Rezipienten bilden sowohl dramatische als auch epische Narrationen eine Geschichte, da er eine solche in beiden Fällen inferiert. Im Falle der Episierung ist er dabei ›angeleitet‹, im Falle der Dramatisierung muss er sich auf sein Welt- und Literaturwissen verlassen.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 287

Im Falle einer epischen Narration werden Motivationen, die das bloße Geschehen zu einer Geschichte erheben, durch die Erzählung und ihre Präsentation im Erzählen thematisiert und explizit gemacht, im Falle einer dramatischen Narration werden die Motivationen nicht explizit beschrieben. Die dramatische Instanz kann sich entscheiden, ob sie Motivationen selbst über die exegetische Ebene explizit einsetzt (im Nebentext oder im nebentextuellen Paratext), diese Aufgabe an verschiedene von ihr eingesetzte Instanzen bzw. Figuren vergibt (Haupttext oder auch über den Nebentext beschriebene Handlungen der Figuren) oder mit bestimmten Strukturen arbeitet (beispielsweise mithilfe der sogenannten Spruchbänder im epischen Theater); dann verwendet sie eine epische Schreibweise. Die dramatische Instanz kann sich aber auch entscheiden, die Einzelelemente einfach ohne genauere Motivationen aneinanderzureihen oder nebeneinanderzustellen. Dann verwendet sie eine dramatische Schreibweise. Beim Einsatz einer epischen Schreibweise ist wegen der explizit gesetzten Motivation die Instanz des Textes, die die motivierenden Informationen vermittelt, mitunter stärker zu bemerken. Die Wahrnehmung der Produktionsinstanz oder eines Erzählers bzw. die diegetische Darstellung ist jetzt also auch unter anderem als eine Konsequenz des epischen Verfahrens zu betrachten. Die bloße Hervorkehrung eines vermittelnden Kommunikationssystems ist damit nicht mehr als eine Episierung zu begreifen und wird mit dem Konzept der diegetischen Narration abgedeckt. Von diegetischer oder berichtender Narration wird gesprochen werden, wenn Ereignisse oder Motivationen mittelbar rezipierbar gemacht werden (auf diegetischer Ebene beispielsweise durch einen Botenbericht). Die von der dramatischen Instanz gelieferte Präsentation von Diegese und Ereignissen durch den schriftlich fixierten Dramentext ist prinzipiell diegetisch. Sie kann aber wegen des Aufführungskriteriums eine mimetische Darstellung simulieren. Mimetisch sei eine Darstellung dann, wenn Ereignisse oder Motivationen scheinbar unmittelbar rezipierbar gemacht werden. Die dramatische Instanz erschafft gleichzeitig zur freien Diegese die Bühnendiegese, die eine imaginierte Aufführungssituation in einem imaginierten Theaterraum abbildet. Bezogen auf diese können die diegetisch vermittelten Inhalte indirekt mimetisch präsentiert sein. Die so gleichzeitig zur Bühnendiegese entwickelte freie Diegese ist von diesen Relationen wiederum frei. Zu beachten ist in beiden Fällen, dass Ereignisse abstrakte Konstrukte sind und je nach analytischem Abstand auch mehrere Ereignisse und Zustände – zudem ganze Makrostrukturen des Textes – ineins gefasst werden können. Es können auch größere Substrukturen (etwa Episoden, Szenen, Figuren usw.) untereinander und zum Textganzen relationiert bzw. motiviert werden. Beispielsweise können sowohl die blauen Augen Loths in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang als Ereignis verstanden werden, ebenso wie auch die ganze Figur Loth (bei der noch die blonden Haare, sein spezifisches Alter und weitere Charakterisierungen hinzukommen), je nachdem auf welcher Textebene oder Abstraktionsstufe angesetzt wird. Ebenso können ganze Szenen oder Akte zueinander relationiert sein.

288 | 4 Episierung im Drama Gerade aus den älteren Modellen ergab sich, dass Episierung stets angenommen wurde, wenn vermittelnde Kommunikationsebenen etabliert werden, die sich aber speziell dadurch auszeichnen, dass der Rezipient zum direkten Adressaten einer vermittelnden Instanz wird. Dies hatte ich als nicht zielführend erachtet. Ich gehe davon aus, dass Literatur ebenso wie Kunstwerke im Allgemeinen immer einen Produzenten voraussetzen und immer für eine Rezeption vorgesehen sind. Unvermittelte sprachliche Kunstwerke kann es nicht geben. Nach den neueren postklassischen Ansätzen der Narratologie und mithilfe der Unterscheidung in die Bühnendiegese und die freie Diegese ergibt sich die Möglichkeit diegetische neben mimetischen Strukturen in Dramen nachzuweisen. Diese Ansätze schließen die ›klassische‹ Episierung teilweise ein und eröffnen gleichzeitig die Möglichkeit einer Episierung des Dramas, bei der nicht nach außen vermittelt wird, sondern sich vielmehr im Inneren des Dramentextes eine ›epische Kapselung‹ bzw. eine interne Episierung ergibt. Ausgehend vom Rezipienten in seiner Rolle als Leser oder als Zuschauer unterscheide ich drei Typen von Episierung: 1. direkte Episierung 2. indirekte Episierung 3. interne Episierung Diese Typen ergeben sich in Relation zum Standpunkt der jeweiligen Rezeptionsinstanz. Bei der direkten Episierung wird mithilfe einer epischen Schreibweise direkt an den Rezipienten vermittelt. Bei der indirekten Episierung kann der Rezipient nur als ein indirekter Adressat des epischen Verfahrens gesehen werden. Bei einer internen Episierung schließlich ist der Rezipient im gewissen Sinne außen vor, da er bei dieser Form einen höheren Informationsgrad besitzt und die Motivationen bzw. Relationierungen für ihn also bereits aus früheren Handlungsabschnitten hervorgehen. Direkte Episierung Der Rezipient ist direkter Adressat einer Instanz, die eine epische Schreibweise einsetzt. Eine dramatische Instanz in ihrer Funktion als Informationsvermittler muss, einen direkten Adressaten aufweisen können. Dies deckt die klassische Episierung notwendigerweise ab und es können damit viele von Pfister beschriebene und von anderen vermutete Episierungstechniken als solche bestimmt werden. Dazu gehören Erzählerund oder Kommentatorstimmen, kommentierende Nebentexte, Widmungen, Inhaltsangaben, ad spectatores, bestimmte Ausprägungen von Chören, aber auch Spruchbänder und Regiefiguren und Ähnliches. Ich illustriere dies an Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan (1943/53): Vorspiel Eine Straße in der Hauptstadt von Sezuan Es ist Abend. Wang, der Wasserverkäufer, stellt sich dem Publikum vor. Wang Ich bin Wasserverkäufer hier in der Hauptstadt von Sezuan. Mein Geschäft ist mühselig. Wenn es wenig Wasser gibt, muß ich weit danach laufen. Und gibt es viel, bin ich ohne Verdienst.

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Aber in unserer Provinz herrscht überhaupt große Armut. Es heißt allgemein, daß uns nur noch die Götter helfen können. Zu meiner unaussprechlichen Freude erfahre ich von einem Vieheinkäufer, der viel herumkommt, daß einige der höchsten Götter schon unterwegs sind und auch hier in Sezuan erwartet werden dürfen.³⁵⁸

In dieser Szene wird ein direktes episches Verfahren angewandt. Hier werden hauptsächlich teleologische bzw. auf einen zukünftigen Verlauf der Ereignisse gerichtete Motivationen expliziert. So kann sich der Rezipient darauf einstellen, im Verlauf der Narration arme Leute zu sehen, da Wang auf den Zustand der Provinz verweist (große Armut). Er kann ebenfalls davon ausgehen, dass später einmal Götter die Hauptstadt von Sezuan besuchen werden. Beim Eintritt des Ereignisses der Ankunft der Götter ist die Vorausdeutung des Viehhändlers als teleologisch episches Verfahren innerhalb der Diegese Motivation und Verknüpfung genug, um von einem motivierten Ereignis sprechen zu können. Episierung liegt in diesem Fall vor, da hier epische Verfahren durch eine Figur des Dramas eingesetzt werden und direkt an den Rezipienten gerichtet sind: Wang [. . . ] stellt sich dem Publikum vor. Dies ist ein Beispiel für eine direkte teleologische Episierung. Nicht alle Episierungen sind aber mit dem Typ der direkten Episierung beschreibbar: Damit können scheinbar ungerichtete Reden von Figuren, wie das BeiseiteSprechen,³⁵⁹ über mehrere Seiten gehende Redebeiträge oder Monologe noch nicht erfasst werden. Denn in diesem Fall gibt es keinen direkten Adressaten. Aber auch diese Phänomene machen unter Umständen Handlungszusammenhänge explizit und bilden aus bloßen temporalen Ereignissequenzen (Geschehen) Geschichten. Die beiden Kriterien Rezipient ist direkter Adressat und die dramatische Instanz verwendet die epische Schreibweise sind dafür noch nicht hinreichend. Das erste Kriterium muss dafür modifiziert werden. Der Rezipient kann auch indirekter Adressat einer dramatischen Instanz sein. Indirekte Episierung Der Rezipient ist indirekter Adressat einer Instanz, die eine epische Schreibweise einsetzt. Diese Möglichkeit ist immer dann anzunehmen, wenn eine Instanz eine für ihren direkten Adressaten redundante Information über eine epische Schreibweise vermittelt. Damit können Beiseite-Sprechen oder auch Monologe als eine indirekte Episierung durch Redundanz verstanden werden. Direkter Adressat wäre in diesen Fällen die jeweilige Instanz selbst, da sie sich selbst im Normalfall nur redundante Information

358 Brecht: Der gute Mensch von Sezuan (1998), S. 7. 359 Ich unterscheide das Beiseite-Sprechen von einem ad spectatores. Während ein ad spectatores den Zuschauer als Adressaten hat, verstehe ich unter einem Beiseite-Sprechen ein ungerichtetes Äußern ohne Adressaten.

290 | 4 Episierung im Drama geben kann, ist der immer präsente fiktive Rezipient zumindest als einer der indirekt angesprochenen Adressaten anzunehmen. Bei diesem Episierungs-Typ kommentiert und reflektiert beispielsweise eine bühnendiegetische oder diegetische Erzählinstanz die Handlung und dies ohne dass eine wirkliche Brechung der Illusion der Diegese der inneren Spielebene erfolgt. Anders ausgedrückt bleibt die Figur im inneren Kommunikationssystem der Diegese, reagiert und verhält sich auch weiterhin als diejenige Figur, die sie im inneren System darstellt. Die etablierte raum-zeitliche Deixis bleibt bestehen. Durch die Redundanz der Aussage wird jedoch im inneren Kommunikationssystem eine indirekt vermittelnde Kommunikationsebene geschaffen. Gerade bei Monologen kann die dramatische Instanz so Einblick gewähren in ›innere‹ Handlungen bzw. in das Gefühlsleben und die Motivation der Figuren. Ist allerdings auf der Bühne ein direkter Adressat im Falle der Anwendung einer epischen Schreibweise vorhanden, bezeichne ich dies als eine interne Episierung. Interne Episierung Eine Figur ist Adressat einer anderen Figur, die eine epische Schreibweise einsetzt. Hierunter zählen beispielsweise Botenberichte oder Expositionen. Es kann allerdings nicht immer von einer ›perfekten‹ internen Episierung ausgegangen werden. Abhängig vom Informationsgrad des Rezipienten in Bezug auf den der internen Instanzen bzw. Figuren wird dessen Wahrnehmungsfokus verändert. Pfister folgend wird daher immer die »Divergenz des Informationswerts einer Nachricht«³⁶⁰ in verschiedenen Kommunikationssystemen und diegetischen Ebenen mitbedacht. Generell kann ein niedrigerer, höherer oder annähernd gleicher Informationsstand beim Rezipienten und bei der dramatischen Instanz und bei verschiedenen Figuren beachtet werden. Beispielsweise befindet sich der Rezipient oftmals zu Beginn eines Spieltextes im Informationsrückstand gegenüber den Figuren. So dient eine Exposition unter Anderem dazu, ihn auf einen ähnlichen oder höheren Stand gegenüber den Figuren zu bringen – bezogen auf die Relationen und Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Ereignissen und Entitäten. Bei einem niedrigeren Stand liegt der Fokus des Rezipienten stärker auf der Information (Wahrnehmung als indirekte Episierung), während er bei einem höheren Stand stärker auf der Darstellung derselben liegt (Wahrnehmung als interne Episierung). Eine interne Episierung (bzw. gekapselte Episierung) ist also nur dann gegeben, wenn der fiktive Rezipient in Bezug auf die über den Dramentext zur Verfügung gestellten Informationen einen höheren Informationsstand als die Figuren aufweist und die durch das epische Verfahren explizit gebildete Motivation für ihn bereits redundant ist. Mit einer internen Episierung, die beispielsweise im Erkennen bestimmter Zusammenhänge durch Figuren besteht, über die der Rezipient längst

360 Pfister: Das Drama (2001), S. 68.

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informiert ist, kann beispielsweise dramatische Ironie erzeugt werden. Für Pfister tritt dramatische Ironie immer dann auf, »wenn die sprachliche Äußerung oder das außersprachliche Verhalten einer Figur für den Rezipienten aufgrund seiner überlegenen Informiertheit eine der Intention der Figur widersprechende Zusatzbedeutung erhält«.³⁶¹ Besitzt der Rezipient hingegen einen ähnlich niedrigen Informationsstand wie die adressierte Figur im Falle einer internen Episierung, kann damit eine indirekte Episierung durch Substitution etabliert werden. Der Umstand, einen ähnlich geringen Informationsstand wie die direkt angesprochene Figur zu besitzen, kann den Rezipienten dazu verleiten, sich mit dieser gegenüber der episierenden Instanz auf diegetischer Ebene schlecht informierten Figur gleichzusetzen. Das folgende Beispiel aus Goethes Götz von Berlichingen (1773) soll die Form einer indirekten und einer internen Episierung auf Ebene der Diegese veranschaulichen: Schwarzenberg in Franken. Herberge. Metzler, Sievers, Bauern am Tische. Zwei Reutersknechte beim Feuer. Wirt. Sievers. Hänsel noch ein Glas Branntewein und mess christlich. Wirt. Du bist der Nimmersatt. Metzler (leise). Erzähl das noch einmal, vom Berlichingen, die Bamberger dort ärgern sich sie möchten schwarz werden. Sievers. Bamberger? Was tun die hier? Metzler. Der Weislingen ist oben auf’m Schloss beim Herrn Grafen schon zwei Tage, dem haben sie das Gleit geben, ich weiß nicht wo er herkommt, sie warten auf ihn, er geht zurück nach Bamberg. Sievers. Wer ist der Weislingen? Metzler. Des Bischofs rechte Hand, ein gewaltiger Herr, der dem Götz auch auf’n Dienst lauert. Sievers. Er mag sich in Acht nehmen. Metzler. Ich bitt dich erzähl’s doch noch einmal! (Laut.) Seit wann hat denn der Götz wieder Händel mit dem Bischof von Bamberg? Es hieß ja, alles wäre vertragen und geschlichtet. Sievers. Ja, vertrag du mit den Pfaffen. Wie der Bischof sah, er richt nichts aus, und zieht immer den Kürzern, kroch er zum Kreuz, und war geschäftig, dass der Vergleich zu Stand käm. Und der getreuherzige Berlichingen gab unerhört nach, wie er immer tut, wenn er im Vorteil ist.³⁶²

Der lesende Rezipient kann erstens anhand der typographischen Gestalt des Textes erkennen, dass es sich wohl um ein Drama handelt. Er kann also annehmen, dass er sich die beschriebenen Ereignisse neben der freien Diegese auch auf einer Bühne vorzustellen hat. In diesem Fall wird über den Dramentext eine Bühnendiegese entwickelt, die dem Leser in seiner Rolle als Zuschauer das Bühnenbild eines Raumes in

361 Pfister: Das Drama (2001), S. 88. 362 Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 5 f.

292 | 4 Episierung im Drama einer Herberge zeigt. In der freien Diegese halten sich in der Herberge Metzler, Sievers, verschiedene Bauern an Tischen, zwei Reutersknechte an einer Feuerstelle und ein Wirt auf. In der Bühnendiegese sind es die die Figuren verkörpernden Schauspieler. Der Rezipient kann also von Fall zu Fall zur erzählten Bühnenwelt als schauender Rezipient wechseln. Zweitens ist zu bemerken, dass der Dramentext eine unterbestimmte Beschreibung der Bühnendiegese liefert. Es wird zum Beispiel nichts über die Kostümierung ausgesagt. Ob die Schauspieler von Metzler und Sievers und damit auch diese an einem Tisch sitzen ist nicht angegeben ebenso wie der genaue Ort der Feuerstelle. Diese Sachverhalte muss der lesende Rezipient aus den gegebenen Ereignissen, aus seinem historischen und seinem Weltwissen inferieren und sich die Bühnendiegese und die freie Diegese entsprechend vorstellen. Wir können aber davon ausgehen, dass alle notwendigen Ereignisse und Informationen von der dramatischen Instanz in den Text eingeschrieben sind. So werden in dieser expositorischen Szene Informationen für das Verständnis der weiteren repräsentierten Geschichte bereitgestellt. Sowohl Sievers als auch Metzler liefern diese Informationen und motivieren dadurch die kommenden Ereignisse. Diese expositorischen Informationen werden allerdings nicht unmittelbar wie beim obigen Brecht-Beispiel durch die dramatische Instanz an den lesenden bzw. an den schauenden Rezipienten gegeben. Vielmehr nutzt die dramatische Instanz die Möglichkeit des Informationsgefälles zwischen dem Rezipienten und der Diegese aus, um ihm so als Zuschauer diese ›epischen‹ Informationen indirekt zukommen zu lassen. Dazu wird die Figur Sievers genutzt, dessen Informationsstand über die Zusammenhänge der Ereignisse mit dem des Zuschauers gleichzusetzen ist. Dies drückt sich aus durch seine Fragen: »Bamberger? Was tun die hier?«³⁶³ »Wer ist der Weislingen?«³⁶⁴ Die kausale Motivation des Ereignisses der anwesenden Bamberger mit den Ereignissen der weiteren Geschichte wird durch Metzler geliefert. Diese Figur hat ihrerseits, zumindest in diesem Teil der Szene, einen Informationsüberschuss gegenüber Sievers und gegenüber dem Rezipienten. Die durch die dramatische Instanz eingesetzte Figur Metzler liefert durch seine Replik bzw. seinen Dialogbeitrag die Motivationen der Ereignisse: »Der Weislingen ist oben auf’m Schloss beim Herrn Grafen schon zwei Tage, dem haben sie das Geleit geben, ich weiß nicht wo er herkommt, sie warten auf ihn, er geht zurück nach Bamberg.«³⁶⁵ Allerdings gibt die Figur diese Information nicht direkt an den Zuschauer bzw. den lesenden Rezipienten. Sie gibt sie an eine weitere Figur der Szene, Sievers, die allerdings mit dem Zuschauer auf dem gleichen niedrigen Informationsstand zu Beginn der Dramengeschichte steht.

363 Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 5. 364 Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 5 f. 365 Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 5 f.

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Die motivierenden Ereignisse werden vielmehr mithilfe einer epischen Schreibweise, die in einer dramatischen Schreibweise ›gekapselt‹ ist und also in einem internen Verhältnis zu ihr steht, (die Situation und der Dialog zwischen Sievers und Metzler) auf der Ebene der Diegese ausgetauscht. In diesem Fall könnte zwar innerhalb der Diegese aus der Sicht Sievers’ von einer direkten Episierung gesprochen werden. Auf Ebene des schauenden Rezipienten liegt aber eine interne Episierung vor, die sich schließlich als eine indirekte Episierung durch Substitution erweist. Dies kann wegen desselben Informationsstands des Rezipienten und der direkt adressierten Figur auf der Ebene der Diegese des Dramentextes angenommen werden. Jedoch schon zu Beginn und schließlich zum Ende der Szene möchte Metzler die an der Feuerstelle sitzenden Bamberger reizen: »Ich bitt dich erzähl’s doch noch einmal! (Laut.) Seit wann hat denn der Götz wieder Händel mit dem Bischof von Bamberg? Es hieß ja, alles wäre vertragen und geschlichtet.«³⁶⁶ An dieser Stelle ist davon auszugehen, dass Metzler von Sievers Information einholt, die ihm bereits bekannt ist. Hier wechselt die Art der Episierung zu einer eindeutig indirekten Episierung, über die motivierende Relationen an den Zuschauer vermittelt werden, sobald Sievers seine Antwort gibt. Daneben lässt sich die Episierung noch abhängig von ihrer Ursprungsebene einteilen. Sie kann auf der diegetischen Ebene stattfinden oder von der exegetischen Ebene ausgehen. Im ersten Fall ist es eine Figur, die eine epische Schreibweise einsetzt. Im zweiten Fall ist es die dramatische Instanz. Ich schlage daher eine weitere Differenzierung vor: (1) Episierung auf Ebene der Diegese (2) Episierung auf Ebene der Exegesis Ich habe außerdem beschrieben, dass ausschließliche dramatische Passagen sowie auch reine epische Passagen äußerst selten sind. Ich verdeutliche dies und die Möglichkeit einer Episierung auf exegetischer Ebene am folgenden Beispiel eines Nebentextes aus Peter Weiss’ Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats³⁶⁷ (1964): »Ausrufer gibt mit seinem Stab dem Orchester ein Zeichen. Feierlicher Musikeinsatz.«³⁶⁸ Auf den ersten Blick werden hier zwei dynamische Einzelereignisse (in beiden Fällen können sie als Handlung interpretiert werden) ohne eine direkte Verknüpfung hintereinan-

366 Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (2006), S. 5 f. 367 Weiss: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1965). 368 Weiss: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1965), S. 13.

294 | 4 Episierung im Drama dergesetzt.³⁶⁹ Zuerst gibt der Ausrufer mit seinem Stock ein Signal. Danach setzt das Orchester ein. Für den Rezipienten in seiner Rolle als Zuschauer ergibt sich dieser Ereigniszusammenhang wie auch die chronologisch-temporale Folge zum einen aus den sequenziell hintereinander aufgeführten Ereignissen, die dieser Nebentext andeutet. Zum anderen stellt aber bereits die Repräsentation des ersten Ereignisses eine Motivation dar. Es geht daraus hervor, dass der Ausrufer nicht einfach nur ein ungerichtetes Zeichen, sondern an das Orchester ein Signal gibt. Allerdings stellt dies alleine noch keine kausale Relation dar. Diese kann erst unmissverständlich vom Rezipienten hergestellt werden, wenn das zweite Ereignis, der Musikeinsatz, folgt. Den kausalen Zusammenhang zwischen dem Wink mit dem Stab und dem Spielbeginn des Orchesters muss er selbst herstellen. Um in dem Sinne episch zu sein, wie er hier erarbeitet wurde, müsste die Textstelle lauten: ›Ausrufer gibt mit seinem Stab dem Orchester ein Zeichen, worauf dieses mit einem feierlichen Musikeinsatz zu spielen beginnt.‹ Aber selbst so ist diesem eher als episch zu bezeichnenden Nebentext immer noch die mimetische und dort in jedem Fall dramatische Darstellung der erzählten Bühnenwelt mit eingeschrieben (Signal – Musikeinsatz). Denn der Rezipient in seiner Rolle als Zuschauer sieht das Signal des Ausrufers und hört dann das Orchester zu spielen beginnen. Die kausale Relation bzw. Motivierung durch das Signal inferiert er selbst. In seiner Rolle als Leser wird ihm die Motivierung für den Einsatz des Orchesters aber explizit gegeben. Dieser Nebentext würde nun sowohl diegetisch-kommentierende, als auch mimetisch-situierende Funktion übernehmen, während im ersteren Fall von einer ausschließlichen Situierung auszugehen ist. Die mimetische Darstellung auf der Textebene ist und bleibt dabei natürlich ein Konstrukt, da ein Text immer verbal vermittelt wird und damit zusätzlich bereits die Perspektive des Textproduzenten eingeschrieben ist.³⁷⁰ Der Haupttext des Dramas, also die Redebeiträge der Figuren, stellen damit die dramatischste Möglichkeit dar, die sich der dramatischen Instanz bietet, Einzelereignisse nicht-relationiert in Form von einzelnen Redebeiträgen zu setzen. Will die dramatische Instanz auf der Ebene der Bühnendiegese und der Diegese episierend tätig werden, hat sie grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Sie kann über Ma-

369 Es lassen sich, genauer differenziert, folgende Ereignisse in diesem Nebentext unterscheiden, die ich hier nur der Illustration wegen anführen möchte: Ausrufer (statisches Ereignis, Zustand der Bühnendiegese (Schauspieler der Figur Ausrufer) und der Diegese (Figur Ausrufer), Stab (statisches Ereignis, Zustand der Bühnendiegese (Requisit für einen Stab) und der Diegese (ein Stab)), Orchester (statisches Ereignis, Zustand der Bühnendiegese (Schauspieler/Musiker des Figurenkollektivs Orchester) und der Diegese (Figurenkollektiv Orchester)), Ausrufer gibt mit seinem Stab dem Orchester ein Zeichen (motivierendes, dynamisches Ereignis, Handlung auf Ebene der Bühnendiegese (Signal) und der Diegese (Signal)), Feierlicher Musikeinsatz (statisch/dynamisches Ereignis, Eigenschaft/Geschehnis in der Bühnendiegese und der Diegese) usw. 370 Vgl. auch Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 50–53.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 295

krostrukturen Rahmungen setzen bzw. kommentierende Ebenen einbauen. Damit sind Strukturen wie Rahmenhandlungen oder die ›Kapselung‹ einer inneren Ebene durch Prologe und Epiloge angesprochen. Ein Beispiel hierfür ist die Struktur des Stücks Regier-Kunst-Schatten von Anton Ulrich. In diesem Stück werden fünf voneinander unabhängige Episoden durch eine Rahmung zusammengehalten. In dieser Rahmenhandlung werden die Episoden von einem Hofmeister als lehrreiche Einheiten für einen jungen Prinzen vorgestellt. »Aber weil mein Vorhaben ist/ euch heute zu unterweisen/ so will ich [. . .] euch zeigen/ wie ihr euch verhalten müsset.«³⁷¹ Er will dem Prinzen »gleichsam als in einem Gemälde tugendhafte Fürsten vorstellen,«³⁷² an denen er sich ein Beispiel nehmen solle. Die nun folgenden Episodenstücke werden immer wieder durch die Rahmenhandlung unterbrochen und ihre jeweils transportierte Moral kurz in einem Gespräch zwischen Hofmeister und Prinzen kommentiert. Der Sinnzusammenhang der einzelnen Episoden wird in der Rahmenhandlung geleistet, ohne die der Rezipient selbst die Verknüpfung der Episoden inferieren müsste. Eine zweite Möglichkeit der Episierung innerhalb der Diegesen stellt der Einsatz von Figuren, Regiefiguren und ggf. fiktiven Schauspielern dar. Diese übernehmen stellvertretend die Erzählfunktion der dramatischen Instanz. Neben Botenfiguren oder expositorischen Passagen, die eher innerhalb der Diegesen eingebunden sind und interne Episierungen darstellen, sind hier insbesondere Episierungen auffällig, bei denen eine Figur episierend in die Richtung des Rezipienten tätig wird und die Absolutheit des Dramas auflöst. Beispielhaft sei noch einmal die Eingangsszene des Stückes Von einem Wirthe oder Gastgeber betrachtet. Der Text ist in der Titelei als Tragica Comœdia bezeichnet. Wird dies als nebentextueller Paratext verstanden, ist der Rezipient als Leser direkt von der dramatischen Instanz angesprochen. DES ERSTEN AKTES erste Szene

Johann Bouset. Gott gebe euch einen guten Tag. Sagt mir doch, wo mag mein Herr sein? Ich habe ihn in der ganzen Stadt gesucht und kann ihn nicht finden. Habt ihr ihn nicht gesehen? Ach, sagt es mir doch, ich würde sonst bei ihm Unwillen erregen. (Schweigt ein wenig still.) Seid ihr denn taub? Daß ihr nicht hört, was ich sage? [. . .]³⁷³ Johann ist als homodiegetische Figur der freien Diegese anzunehmen. Dies ergibt sich aus seinem Redebeitrag, da er sich auf die für ihn abgeschlossene, vergeblich

371 Ulrich: Regier – Kunst – Schatten (1982), S. 91. 372 Ulrich: Regier – Kunst – Schatten (1982), S. 91. 373 Heinrich Julius: Von einem Wirthe (1996), S. 11.

296 | 4 Episierung im Drama verlaufende Suche nach seinem Arbeitgeber bezieht; eine verdeckte Handlung, die sich innerhalb der freien Diegese abgespielt hat. Die Figur liefert expositorische Information und hebt den Informationsstand des Rezipienten. Sie erklärt, was sie gerade macht und was der Ausgangszustand der Geschichte ist, sie sucht nach ihrem Herrn. Sie spricht in ihrer Rede mehrmals eine Adressatengruppe an (»Habt ihr ihn nicht gesehen? [. . .] Seid ihr denn taub?«³⁷⁴). Da sich außer Johann aber keine weiteren Figuren auf der Bühne befinden, bleibt als direkt Angesprochener nur noch der Rezipient in seiner Rolle als Zuschauer übrig. Die Figur baut ein vermittelndes Kommunikationssystem zwischen sich und dem Zuschauerraum auf. Allerdings verweist seine eindringliche Nachfrage »Seid ihr denn taub?«³⁷⁵ mit dominant phatischer Funktion auf einen gestörten Kanal zu den Rezipienten. Er erkundigt sich, ob seine Äußerungen denn auch gehört wurden. Die Figur Johann wendet hier also eine direkte, kausale Episierung an, um mit den fiktiven Zuschauern in Kontakt zu treten und ihm gleichzeitig motivierende Informationen zum folgenden Ereignisverlauf zu geben. Eingebettet in den Redebeitrag ist ein situierender Nebentext, dem keine kommentierende Funktion nachgewiesen werden kann. Die Information, dass die Figur kurz schweigt, wird nicht explizit motiviert bzw. wird nicht weitergehend erläutert und stellt selbst kein explizit motivierendes Ereignis dar.³⁷⁶ Dieser Nebentext wird der dramatischen Schreibweise zugeordnet, bei der unter anderem die Konstellation der gesetzten Ereignisse für das Inferenz-Ergebnis des Rezipienten entscheidend ist. Episierung wiederum erfolgt in diesem Fall durch eine eingesetzte Figur über den Haupttext direkt an den fiktiven Rezipienten in einem ansonsten als rein dramatisch anzunehmenden Szenenausschnitt. Nochmals rekapituliert, wird von Episierung genau dann gesprochen, wenn in einer Narration bestimmte Strukturen explizit motiviert werden. Ich gehe davon aus, dass die Motivation ähnlich einem Vorgang der Explanation ist. Ich stehe allerdings dem Gedanken skeptisch gegenüber, dass diese Motivationen als Erklärungen erstens logisch richtig sein müssen und dass zweitens durch eine explizite Motivation oder Erklärung die Zeichenstruktur oder die repräsentierte Ereignissequenz Kohärenz erhalten muss. Explizite Motivationen können auch kontraintuitiv gestaltet sein. Anders ausgedrückt kann das ästhetische Verfahren der Episierung eingesetzt werden, um naive Erklärungen aus dem allgemeinen Welt- oder Literaturwissen zu konterkarieren. Das epische Theater Brechts ist, so folgt aus diesen Überlegungen, nur an solchen Stellen als episch einzustufen, an denen Ereignisse und Entitäten der Diegese oder Bühnendiegese nicht einfach nur aneinandergereiht oder nebeneinander gestellt, sondern explizit motiviert werden. Sind diese Motivationen kontraintuitiv gestaltet, kann dies zur Verfremdung des Repräsentierten führen. Wie ich oben im Kapitel zum epischen 374 Hervorhebungen von A.W. Heinrich Julius: Von einem Wirthe (1996), S. 11. 375 Hervorhebung von A.W. Heinrich Julius: Von einem Wirthe (1996), S. 11. 376 Sicherlich ist Johanns Schweigen durch die fehlende Antwort des Publikums kausal motiviert. Dieses Ereignis wird jedoch nicht mit angegeben und muss, was leicht möglich ist, inferiert werden.

4.3 Das revisionierte Modell der Episierung | 297

Theater besprochen habe, kann Verfremdung auch durch andere Verfahren als das der Episierung erreicht werden; beispielsweise durch die unvermittelte Setzung von Songs, was jedoch eher eine Manifestation eines dramatischen Verfahrens darstellt. Ich nehme die Verwendung einer epischen Schreibweise an, wenn die nacheinander folgenden Ereignisse eines bloßen Geschehens explizit kausal, teleologisch oder kompositorisch motiviert werden. Eine dramatische Schreibweise ist gekennzeichnet durch die Reihung oder Stellung von Einzelereignissen, die nicht motiviert werden und somit nur ein Geschehen abbilden, das erst im Rezeptionsakt zu einer Geschichte ausgebaut wird. Eine epische Schreibweise wird eingesetzt, um zwei Ereignisse oder Entitäten zueinander in komplexe Relation zu setzten. Eine dramatische Schreibweise verzichtet auf eine über Temporalität hinausgehende Relationierung. Zur Geschichte müssen die Ereignisse und Entitäten vom Rezipienten hierbei gegebenenfalls selbst verbunden werden.

5 Zusammenfassung Es hat sich gezeigt, dass das Drama als eigenständiges Schriftkunstwerk unabhängig von seiner Aufführung begriffen und untersucht werden kann. Indem dezidiert zwischen Dramentext, Inszenierungstext und Aufführungstext unterschieden und die Relevanz sowie der semiotische Mehrwert des Dramentextes gesondert herausgestellt wurde, konnte die weit verbreitete Annahme relativiert werden, es handle sich beim Drama erst in seiner aufgeführten Form um ein vollwertiges Kunstwerk. So wird es zudem möglich, auch die spezielle typographische Gestaltung des Dramas stärker in den Blick zu nehmen. Das Drama als gedruckter Text kann so als Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft wesentlich gestärkt werden. In Bezug auf die These des Dramas als erzählendes Medium hat sich die Übertragung narratologischer Modelle und Terminologien auf das Drama als fruchtbar erwiesen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht kann damit der Dramentext verstanden als ein narratives Medium in seiner Eigenheit der Darstellung von Geschichten genauer analysiert werden. In diesem Zuge hat sich eine präzise Diskussion repräsentativer theoretischer Ansätze aus der klassischen und der postklassischen Narratologie sowie der Dramentheorie insofern als sinnvoll herausgestellt, als zum einen das große Hindernis der Inkommensurabilität in den Theorien dieser verschiedenen Forschungsrichtungen überwunden werden konnte und zum anderen einige problematische Termini und Konzepte, die im Rahmen dieser Forschungen gehandelt werden, präzisiert und sinnvoll neu bestimmt werden konnten, darunter vor allem die Begriffe des Ereignisses, des nebentextuellen Paratextes, der Exegesis/Diegese, des Kommunikationsmodells und der Motivation. Dieses zum Teil stipulative Vorgehen hat es ermöglicht, einige neue, methodische und konzeptuelle Prämissen zu erarbeiten. So wurde im Bereich des Kommunikationsmodells narrativer Texte die dramatische Instanz eingeführt, die eine Analysekategorie für Dramen in Analogie zur Erzählinstanz in Erzähltexten bietet. Sie zeichnet sich durch eine ständige extradiegetische Stellung zur erzählten Welt des Dramentextes aus und ermöglicht es, das gesamte Drama als komponiertes Ganzes zu betrachten. So wird die Inkonsistenz klassischer Theorien des Erzählens im Drama überwunden, die eine solche erzählende Instanz immer nur für bestimmte Bereiche des Textes annehmen und es auf diese Weise dazu kommen kann, dass ein Erzähler lediglich dann als Analyseinstrument herangezogen wird, wenn es der Argumentation zuträglich ist. Der in der bisherigen Erzähltheorie weit verbreiteten aber inkonsistenten Annahme, dass bestimmte Textteile bisweilen unvermittelt erzählt werden, kann die Kategorie der dramatischen Instanz beikommen. Damit wurde zusätzlich die kaum einleuchtende Ungleichbehandlung der Erzählsituation in Dramen und in Erzähltexten überwunden. Für das Drama ist jetzt auch von einer ständigen, vom Autor in Hinblick auf die erzählende Funktion zu trennende Instanz auszugehen.

DOI 10.1515/9783110488159-005

5 Zusammenfassung | 299

Auch die Bühnendiegese stellt eine wesentliche Neuerung für die Dramen- und Erzähltheorie dar. Es ließ sich zeigen, dass eine Besonderheit des Dramas auch für seine textliche Form weiterbesteht: die enge Verbindung zwischen Drama und Theater. Die Überlegungen zu narrativen Ebenen und zum Kommunikationsmodell haben ergeben, dass sich das Drama in einem Punkt deutlich vom Erzähltext unterscheidet. Durch den Dramentext werden gleichzeitig und in Relation zueinander zwei Diegesen entwickelt: die Bühnendiegese und die freie Diegese, die wie in einem Erzähltext frei von Aufführungsbezügen ist. Mit dieser Unterscheidung wird es möglich, die genauen semiotischen Beziehungen zwischen imaginärer Aufführungssituation und freier Diegese abzubilden und zu analysieren. Zusätzlich ergibt sich hier auch ein möglicher Anknüpfungspunkt für theaterwissenschaftliche Forschungen, die wegen fehlender Aufführungszeugen auf den Dramentext angewiesen sind. Daneben bietet sich hier aber auch eine Schnittstelle speziell für Modelle und Analyseverfahren der Theaterwissenschaft. Zusätzlich zu den Analysekategorien der dramatischen Instanz und der Bühnendiegese wurden in dieser Arbeit das Modell der Episierung grundlegend neu bestimmt. Episierung liegt dann vor, wenn in einer Narration bestimmte Strukturen in ihrer Folge und in ihrem Auftreten explizit motiviert werden. Damit wird der Begriff und das Konzept von seinem durch Brecht geprägten und in der Forschung stark darauf fixierten Gebrauch gelöst und gezeigt, dass die Verfahren des epischen Theaters nicht ausschließlich mit dieser besonderen Theaterform in Verbindung zu bringen sind. Episierung wird stattdessen aufgefasst als die Anwendung einer epischen Schreibweise, mit deren Hilfe Ereignisse eines narrativen Textes über ihre bloße temporale Verknüpfung hinaus explizit kausal, teleologisch oder ästhetisch-kompositorisch motiviert und damit komplex zueinander oder auch zum Textganzen relationiert werden. Zusätzlich wurde das Konzept der dramatischen Schreibweise entwickelt. Diese manifestiert sich durch eine nicht explizit motivierte Reihung von Ereignissen. Eine dramatische Schreibweise verzichtet auf eine über Temporalität hinausgehende Relationierung. Die epische und auch die dramatische Schreibweise bezeichnen literarische Gestaltungs- und Erzählverfahren. Im Sinne des Verfahrensbegriffs Verweyen/Wittings werden sie aber auch als medienunabhängige Phänomene künstlerischer Gestaltung betrachtet. Episierung und Dramatisierung kann also neben der Literatur ebenso transmedial im Film, in Computerspielen, in Comics usw. eingesetzt sein und in ihren Funktionen und semiotischen Potenzialen untersucht werden. Im Laufe der Studie konnte an verschiedenen Beispielen von Dramen gezeigt werden, dass die Überlegungen zur Narratologie des Dramas und zur Episierung nicht nur modellhaft bleiben müssen, sondern dass sie sich in der Anwendung als konsistent am konkreten Beispiel erweisen. Episierung in diesem neuen Verständnis schließt Phänomene des bisherigen Modells zum Teil ein, eröffnet aber auch neue Untersuchungsräume für den Vergleich von Dramen- und Erzähltexten und dem historischen Wandel der Funktionen, die diese Verfahren im Drama und in verschiedenen anderen Medien besitzen.

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Stichwortverzeichnis Die im Folgenden fett gesetzten Seitenangaben verweisen auf die Stellen im Text, an denen der jeweilige Eintrag genauer erklärt oder definiert wird. Abbildungsregel 98 Aufführung siehe Aufführungstext Aufführungskriterium 30, 32, 131, 145, 165, 189, 190 Aufführungstext 19, 23, 23, 23–33, 127, 128, 153, 174, 177, 298 Diegese 10, 39, 44, 79, 82, 89, 91–93, 102–104, 116, 119, 127, 129–131, 135, 148, 274, 280, 285, 298 – Bühnendiegese 131, 132–134, 163–165, 168, 171–175, 180–182, 184, 186, 188–190, 192, 193, 225, 250, 251, 254, 284, 287, 288, 291, 292, 294, 296, 299 – freie Diegese 131, 132–134, 164, 165, 168, 171–176, 180–182, 186, 188, 189, 192, 193, 250, 251, 254, 284, 287–296, 299 diegetisch 6, 137, 149–155, 156, 156, 158, 182, 188–193, 201, 209, 211, 244, 251, 252, 258, 278, 280, 287, 288, 294 dramatisch 1–4, 10–13, 43, 44, 136, 139, 153, 194–196, 201, 207, 215, 216, 226, 230, 237, 241, 244, 247, 250, 258 dramatische (Erzähl)Instanz 9, 10, 116, 172, 172–174, 176, 183, 188, 189, 191–193, 221, 224, 251, 253, 254, 267, 283–285, 287–290, 292–295, 298, 299 dramatischer Modus 9, 75, 139, 143, 190, 259 dramatischer Modus (Korthals) 35, 42, 166 Dramatisierung 127, 226, 254, 286, 286, 299 Dramentext 9, 15, 17, 19, 23, 23, 23–30, 32–37, 39, 42, 43, 59, 69, 72, 77, 81, 84, 89, 118, 119, 129, 131–134, 143–145, 149, 159, 160, 162, 163, 165, 171, 177, 178, 180, 189, 192, 284, 292, 298, 299 episch 1–4, 6, 10–13, 40, 42, 45, 48, 49, 128, 136, 184, 190, 194–197, 201–204, 207, 209, 213, 215, 216, 220, 223, 227, 230, 232, 233, 236–241, 243–249, 251–253, 294, 296 Episierung 15, 37, 38, 41, 42, 48, 49, 59, 119, 123, 126–128, 163, 188, 194, 196, 197, 204, 207,

210, 213, 220, 221, 223–227, 236–238, 244, 245, 247–249, 252–255, 262, 283, 286, 287, 288, 293, 296, 297, 299 – diegetische 293, 295 – direkte 288–289, 293, 296 – exegetische 293 – indirekte 288, 289–290, 291, 293 – interne 288, 290–291, 293, 295 Ereignis 13, 39, 44, 49, 55, 57, 60, 73, 76, 78–80, 82, 83, 85–87, 89–101, 103–115, 116, 120, 163, 164, 187–189, 191, 193, 209, 221, 240, 241, 244, 250, 251, 254, 262, 264, 266–280, 283–287, 289–294, 296–299 – mediation event 115 – presentation event 115 – story event 115 – diegetisches 116 – Diskursereignis 102–104, 108, 109, 113–115, 268 – antithetisches 102, 109 – thetisches 102–103 – unbestimmtes 102 – dynamisches 112, 293 – effektives 95 – Eigenschaft 112 – exegetisches 116 – freies 112 – Geschehnis 96, 112 – Handlung 96, 112 – kausales 95 – klassenheterogenes 99, 100–101, 102 – klassenhomogenes 99, 100, 102 – materiell 96 – Mediationsereignis 115 – mental 96 – Objektereignis 101–104, 108, 109, 113, 114 – unbestimmtes 102 – Präsentationsereignis 115, 116, 285 – reception event 115 – Rezeptionsereignis 115 – statisches 112, 190 – unbestimmtes 98 – verknüpftes 112 – Zustand 112 Ereignisfokus 97, 98, 102, 103, 109

318 | Stichwortverzeichnis Ereignishaftigkeit 53, 57–59, 94, 95, 105, 106, 109–111, 114 Ereignisobjekt 97, 98, 102, 103, 109, 115 Ereignissequenz 57, 80, 86, 87, 89, 90, 92, 111, 187, 189, 207, 221, 244, 251, 253, 254, 262, 266–268, 270–275, 277, 280–282, 285, 286, 289, 296 Erzählen 1, 14, 44, 47, 49–51, 54–56, 61, 66, 73, 77, 78, 82, 90, 93, 116, 120, 127, 130, 134, 135, 137, 138, 141, 147, 148, 156, 170, 240, 250, 253, 269, 271, 280, 287, 298 – eng 46–48, 58, 134, 221, 222, 227, 272 – kognitives Schema 61, 62, 67, 68, 73, 73, 74, 77, 187 – kommunikativer Akt 56, 57, 60, 61, 62, 68, 74 – multiperspektivisches 173 – weit 46–48, 149 Erzähler 1, 4, 5, 47–49, 51, 56, 59, 89, 117, 118, 120–123, 126, 127, 129, 130, 134–149, 152, 153, 156, 157, 159, 162, 166, 167, 173, 222–224, 227, 228, 252, 283 Erzählfunktion 121, 141–143, 145, 146, 148, 149, 156–160, 166, 167, 172, 173, 183, 187, 188, 193, 250, 283, 295 Erzählgeschehen 88–89, 92 Erzählgeschichte 88–89 Erzählinstanz 9, 35, 58, 94, 128, 133–135, 141, 143–146, 148, 151, 153, 156–163, 167–172, 175, 176, 221, 223, 224, 245–247, 250, 267, 280, 290, 298 Erzählung 39, 51, 57–59, 69, 79, 82, 83, 86, 87, 90–93, 103, 109, 116, 122, 127, 130, 132, 135, 137–139, 142, 145, 146, 148, 154, 157, 163, 172, 188, 200, 211, 214, 224, 229–231, 238, 240, 242–244, 246, 251, 262, 264, 265, 267, 269–271, 274, 275, 281, 282, 286, 287 – literarische Gattung 34, 39, 42, 43, 69 Erzählwürdigkeit 52, 53, 57–59, 76, 105, 110, 114 Exegesis 15, 88–89, 91–93, 104, 115, 116, 119, 121, 122, 127, 128, 130–133, 146, 162, 171, 251, 280, 284, 298 Geschehen 35, 44, 60, 79, 82, 83, 85, 86, 89–93, 104, 112–114, 120, 130, 135, 136, 144–146, 153, 164, 172, 188, 190, 236, 251, 262, 266–273, 275, 279, 280, 282–284, 286, 287, 289, 297 Geschichte 1, 8, 13, 35, 38, 39, 43–45, 51, 57, 60, 61, 74, 79, 83–87, 89–93, 101, 103, 104,

108, 109, 111, 112, 114, 127, 128, 132–137, 146–148, 162, 163, 173, 182, 187, 188, 218, 219, 221, 229, 235, 238, 240–243, 246, 251, 265–268, 270–272, 275, 279, 280, 282, 284, 286, 287, 289, 292, 296–298 Haupttext 15, 28–30, 33–37, 85, 86, 88, 155, 159, 166, 168, 176, 178, 178, 180, 184–186, 188, 190, 221, 287, 294, 296 Inszenierung siehe Inszenierungstext Inszenierungstext 23, 23, 24, 32 Kausalität 39, 57, 60, 60, 61, 67, 76, 90, 187, 215, 266, 271, 272 Kommunikationsmodell 57, 116–120, 123, 126, 127, 128–130, 131, 133, 136, 137, 139, 141, 143, 159, 161, 171, 175, 176, 252, 256, 264, 298, 299 Mediation 44, 47, 47, 48, 51, 56, 58, 91, 115, 116, 134, 148, 155, 156 Mediationsereignis 115 mimetisch 137, 149–155, 156, 156, 158, 182, 188–193, 201, 209, 218, 225, 231, 244, 251, 258, 278, 280, 287, 287, 288, 294 Mittelbarkeit 11, 14, 44, 47, 48, 57–60, 116, 134, 136, 146, 148, 149, 154, 155, 157–160, 172, 207, 209, 226, 228, 229, 245, 251 Motivation 13, 104, 255, 262–266, 268, 271, 273–276, 280–290, 292, 294, 296, 298 – actional motivation 280, 281, 281–282 – narrator motivation 280, 281, 281 – recipient motivation 280, 281, 281 – story motivation 280, 281, 281 – finale 276, 277, 277, 278 – kausale 276, 276–277, 277, 278, 283, 285, 292 – kompositorische 276, 278–280, 283, 285 – teleologische 278, 283, 285, 289 – extrinsisch 278, 285 – intrinsisch 278, 285 narrativ 2–4, 6, 10–12, 14, 40, 42–45, 48–52, 54, 58, 61, 66, 71, 96, 103, 105, 128, 135, 136, 140, 146, 149, 153, 156, 201, 229, 230, 241, 247, 251–253, 258, 271 – eng 47, 71, 134–136, 149, 152, 153, 190, 195, 227, 236 – weit 46–48, 68, 77, 140, 146, 149, 152, 156, 187, 195

Stichwortverzeichnis | 319

narrative Ebene 39, 78, 79, 81, 82, 85, 87, 91, 93, 146, 148, 243, 299 Narrative, das 10, 12–14, 42, 43, 45–57, 60–62, 66–72, 74, 77, 77, 78, 127, 135, 136, 140, 148, 153, 160, 163, 172, 187, 194, 195, 231, 251, 258, 259, 264 narrativer Modus 9, 136, 143, 190, 259 narrativer Modus (Korthals) 35, 42 Narrativität 14, 45, 52–54, 60, 61, 67, 71, 72, 75, 77, 78, 104, 105, 110, 114, 135, 136, 161–163, 269, 275 Narrem 14, 71–74, 78, 92, 104, 187, 272, 286 – inhaltliches 73, 74, 75–76, 78, 187 – qualitatives 73, 74–75, 78, 187 – syntaktisches 73, 76–77, 187 Nebentext 4, 15, 27–30, 32–37, 76, 83, 86–88, 128, 132, 143, 145, 154, 159, 161, 164, 166–168, 174, 176, 178, 178–181, 181, 183, 186–192, 215, 216, 221, 222, 236, 248, 253, 287, 293, 294, 296 – impliziter 185, 186, 187, 221, 222 – kommentierender 184–185, 186, 191–193, 288, 294 – situierender 184, 186, 189–193, 222, 294, 296 – strukturierender 183–184, 186, 190, 191, 193 Paratext 30, 31, 34, 37, 59, 72, 75, 76, 129, 177–179, 180–181, 253, 283 – nebentextueller 181–183, 187, 188, 192, 193, 283, 287, 295, 298 Prädikatklasse 98, 101–104 Präsentation der Erzählung 47, 68, 69, 73, 76, 78–80, 82, 87–93, 146–148, 154, 157, 160, 162, 163, 187, 188, 229, 287 Repräsentation 10, 12, 13, 25, 43, 44, 50, 51, 56–58, 60, 78, 81, 82, 90, 91, 91, 93, 95, 96, 98, 101, 102, 104, 108, 112–115, 120, 130, 133, 146, 157, 181, 253, 254, 264, 267, 268, 271, 279, 281–283 Repräsentiertes 40, 91, 91, 93, 148, 153, 155–157, 161, 253, 264, 265, 270, 276, 283, 296

Schema 65, 65–67, 268 – frame 63, 63, 64, 65, 96, 99, 268, 273 – script 63, 63, 64, 65, 96, 99, 268, 273 – kognitives 14, 50, 61, 62, 64–66, 68, 74, 77, 187, 268 – narratives 14, 62, 66–68, 70, 72, 73, 77, 172, 272 – Plan 65, 99 Schematheorie 8, 13, 63–69, 71, 87, 98, 109, 124, 187 Schreibweise 15, 152, 153, 239, 255–259, 261, 261–262 – dramatische 9, 254, 262, 285–287, 293, 296, 297, 299 – dramatische (Hempfer) 152, 152 – epische 9, 254, 255, 262, 285–290, 293, 297, 299 – mimetisch 191 – narrative 152 – narrative (Hempfer) 152, 152, 258 – parodistische 259 – primäre 152, 258, 258, 259 – satirische 259 – sekundäre 258, 258, 259 Sequenzialität 44, 44, 48, 55, 57, 60 Spieltext 30, 31, 34, 34, 35, 36, 59, 75–77, 88, 90, 118, 129, 169–173, 177, 178, 180–183, 188, 283, 290 Temporalität 57, 60, 60, 74, 92, 266, 275, 284, 297, 299 Zustandsveränderung 44, 57, 60, 94, 95, 97, 100, 101, 105, 105, 106, 110–115, 117, 269, 270 – ereignishafte 106, 106, 110, 113, 114 – Imprädiktabilität 107 – Irreversibilität 108 – Konsekutivität 107–108 – Non-Iterativität 108 – Realität 105 – Relevanz 106–107 – Resultativität 105

Autorenverzeichnis Abbott, H. Porter 46, 135, 302 Abel, Julia 13, 255, 263–265, 302 Abell, Peter 262, 302 Abelson, Robert Paul 63, 64, 109, 313 Aczel, Richard 41, 157, 302 Adams, Jon K. 55, 262, 269, 302 Aristoteles 18, 151, 214, 229–231, 235, 240, 241, 302 Asmuth, Bernhard 4, 17, 185, 216, 221–223, 236, 302 Aumüller, Matthias 45–47, 52, 57, 60, 64, 147, 302 Backe, Hans-Joachim 2, 302 Bal, Mieke 46, 78, 135, 303 Balme, Christopher 31, 303 Barthes, Roland 45, 303 Bartlett, Frederic 63, 303 Bernhard, Thomas 138, 301 Blödorn, Andreas 13, 255, 263–265, 302 Bodmer, Johann Jakob 219, 301 Boenisch, Peter M. 29, 30, 303 Booth, Wayne C. 123, 303 Bortolussi, Marisa 55, 303 Brecht, Bertolt 11, 29, 175, 185, 186, 197–199, 201–205, 207, 208, 211, 218, 223, 289, 301, 303, 304 Bruner, Jerome Seymour 62, 304 Bußmann, Hadumod 265, 304 Carlson, Marvin 176, 180, 304 Castelvetro, Lodovico 214, 304 Chatman, Seymour 43, 45, 46, 79–81, 137, 139, 140, 153, 304 Cook, Guy 110, 304 Crumbach, Franz Hubert 6, 304 Currie, Gregory 141, 142, 255, 262, 274, 281, 304 Danto, Arthur Coleman 262, 269, 270, 304 Detken, Anke 18, 21, 34, 36, 160, 176, 178, 180, 185, 304, 305 Dietrich, Margret 210, 305 Dillmann, Martin 265, 305 Dixon, Peter 55, 303 Drewes, Miriam 49, 53, 54, 305 Eder, Jens 275, 305

Ellrich, Lutz 217, 305 Falk, Rainer 21, 36, 305 Feddersen, Anya 201, 202, 305 Fieguth, Rolf 118, 305 Fischer-Lichte, Erika 19, 23, 24, 27, 31, 33, 151, 190, 305 Fix, Ulla 22, 31, 36, 305 Fleming, Paul 166, 305 Flemming, Willi 19, 305 Fludernik, Monika 8, 46, 53, 69, 132, 154, 305, 306 Forster, Edward Morgan 266, 306 Franzen, Erich 210, 306 Fricke, Harald 306 Friedemann, Käte 137, 306 Frisch, Max 164, 301 Fuhrmann, Manfred 150, 230, 231, 241, 306 Genette, Gérard 45, 60, 79, 80, 130, 136, 180, 257, 259, 306 Gerrig, Richard J. 55, 306 Giles, Steve 199, 306 Goethe, Johann Wolfgang 83, 85–87, 179, 189, 223, 241, 242, 260, 261, 291–293, 301, 306 Goffman, Erving 62, 109, 306 Gottsched, Johann Christoph 106, 133, 158, 177, 301 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 181, 182, 301 Grünzweig, Walter 154, 306 Grimm, Reinhold 3, 6, 19, 200, 306 Gryphius, Andreas 27, 75–77, 133, 181–184, 188, 301 Höfele, Andreas 30, 307 Hühn, Peter 8, 21, 39, 44, 52, 94, 97, 105, 109–111, 115, 160, 307, 308 Hallenberger, Gerd 17, 306 Hamburger, Käte 19, 20, 306 Hannes, Rainer 163, 306 Hauptmann, Gerhart 190–192, 279, 301 Hauthal, Janine 21, 23, 31, 49, 164, 306 Hecht, Werner 199, 200, 212, 213, 216, 306, 307 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 232–235, 307 Heinrich Julius 225, 295, 296, 301 Heinz, Andrea 176, 307

322 | Autorenverzeichnis Hempfer, Klaus W. 14, 256–259, 307 Herman, David 8, 46, 52, 62, 95, 96, 110, 307 Hinck, Walter 6, 307 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 40, 301 Hofmann, Michael 216, 307 Hofmannsthal, Hugo von 27, 174, 175, 301 Hogan, Patrick Colm 170, 307 Holz, Arno 189, 301 Hulfeld, Stefan 19, 308 Ingarden, Roman 35, 308 Issacharoff, Michael 30, 308 Jahn, Bernhard 23, 31, 179, 213, 217, 308 Jahn, Manfred 7, 8, 23, 24, 26, 28, 29, 41, 55, 62, 64, 110, 155, 163, 165–167, 170, 172, 174, 250, 307, 308 Janik, Dieter 117, 308 Jannidis, Fotis 50, 51, 125, 308, 315 Jenkins, Henry 85, 308 Joost, Jörg Wilhelm 197–199, 201, 207, 308 Joost, Jörg-Wilhelm 7, 204, 308 Jost, Roland 203, 308 Jung, Sandro 21, 308 Königshof, Kaspar 210, 211, 309 Köppe, Tilmann 50–52, 58, 71, 78, 91, 141, 142, 309 Kühnel, Jürgen 20, 32, 309 Kayser, Wolfgang 51, 137, 143, 309 Kesting, Marianne 6, 215, 309 Kiefer, Jens 109, 308 Kindt, Tom 50–52, 58, 71, 78, 91, 123, 142, 309 Kittstein, Ulrich 10, 213, 309 Klopstock, Friedrich Gottlob 36, 301 Klotz, Volker 20, 34, 220, 309 Knopf, Jan 7, 309 Košenina, Alexander 21, 309 Korthals, Holger 4, 5, 7, 17, 32, 35, 36, 41–43, 141, 143–145, 170, 309 Krämer, Jörg 177, 178, 309 Krabiel, Klaus-Dieter 198, 201, 207, 309 Kress, Karin 227, 309 Kugli, Ana 7, 201, 309 Lahn, Silke 20, 79, 91, 139, 147, 148, 309 Lamping, Dieter 20, 248, 256, 309 Landa, José Ángel Garcia 312 Lauer, Gerhard 315

Lehmann, Hans-Thies 216, 248, 310 Lessing, Gotthold Ephraim 183, 186, 219, 274, 301 Lotman, Jurij Michajlovič 109, 310 Müller, Hans-Harald 13, 123, 255, 263, 264, 273, 309, 310 Müller, Joachim 200, 201, 207, 212, 213, 311 Müller, Klaus-Detlef 7, 199, 204, 260, 308, 311 Mann, Thomas 162, 302 Margolin, Uri 157, 310 Martínez, Matías 13, 33, 53, 56–60, 62, 79, 80, 89, 90, 92, 111, 113, 116, 130, 147, 162, 172, 173, 190, 194–196, 224, 245, 246, 255, 259, 262, 268–272, 276–280, 294, 310 Marx, Peter W. 5, 18–21, 23, 25, 26, 28, 36, 49, 176, 178, 310 McJannet, Linda 176, 310 Meister, Jan Christoph 13, 20, 79, 91, 97, 99–101, 103, 139, 147, 148, 255, 263, 264, 273, 309, 310 Mews, Siegfried 202–204, 207, 310 Michel, Sascha 265, 310 Minsky, Marvin 63, 310 Moennighoff, Burkhard 179, 310 Muny, Eike 7, 41, 117, 118, 160, 250, 311 Nünning, Ansgar 1, 7, 12, 14, 26, 41, 48, 52, 74, 91, 120–127, 154, 162, 163, 172, 224, 311 Nünning, Vera 14, 48, 162, 311 Nørgaard, Nina 21, 311 Niefanger, Dirk 21, 28, 311 Opitz, Michael 7, 201, 309 Ottmers, Martin 32, 34, 35, 176, 180, 195, 196, 311 Pavis, Patrice 164, 311 Peters, Julie Stone 21, 36, 312 Pfister, Manfred 3, 4, 15, 17, 20, 22, 25, 30, 32, 33, 39, 40, 43, 120, 121, 127, 128, 153, 178, 182–184, 194, 202, 213, 217, 224–227, 229, 231, 236, 237, 239, 240, 244, 248, 250, 290, 291, 312 Piaget, Jean 63, 312 Pier, John 55, 80–82, 89, 312 Platon 150, 312 Platz-Waury, Elke 178, 179, 312 Poschmann, Gerda 23, 312

Autorenverzeichnis | 323

Prince, Gerald 52, 53, 55, 56, 60, 71, 312

Szondi, Peter 4, 6, 200, 215–220, 223, 314

Quintus Horatius Flaccus 153, 312

Taroff, Kurt 49, 314 Tarot, Rolf 218, 314 Thon, Jan-Noël 2, 84, 85, 313, 314 Todorov, Tzvetan 46, 82, 282, 314 Toolan, Michael 255, 263, 265, 266, 314 Totzeva, Sophia 26, 314 Tschauder, Gerhard 41, 163–165, 314 Turk, Horst 30, 315

Rahn, Thomas 21, 305 Rajewsky, Irina O. 6, 7, 26, 31, 41, 46, 228, 312 Rautenberg, Ursula 21, 312 Ricœur, Paul 62, 313 Richardson, Brian 7, 39, 41, 135, 175, 312 Ryan, Marie-Laure 8, 53, 54, 62, 73, 74, 84, 85, 112, 156, 167, 307, 313 Schönert, Jörg 109, 308 Schönhaar, Rainer 195, 313 Schank, Roger C. 63, 64, 109, 313 Scheffel, Michael 13, 33, 62, 79, 80, 89, 90, 92, 111, 113, 116, 130, 162, 172, 173, 190, 255, 259, 263–265, 270, 271, 276–280, 294, 302, 310 Schenk-Haupt, Stefan 7, 313 Schiller, Friedrich 161, 223, 241, 242, 260, 302, 306 Schlaf, Johannes 189, 301 Schmid, Wolf 45, 47, 53, 60, 78, 81, 82, 85–88, 97, 105–109, 111, 119, 130, 135, 147, 149, 153, 162, 163, 313 Schneider, Rebecca 26, 313 Schnitzler, Arthur 179, 302 Schultz, James A. 255, 280–282, 313, 314 Solbach, Andreas 154, 306 Sommer, Roy 1, 7, 8, 12, 26, 39, 41, 52, 74, 91, 115, 120, 122, 127, 154, 160, 163, 172, 224, 308, 311, 314 Spielhagen, Friedrich 236, 314 Spittler, Horst 41, 314 Stühring, Jan 141, 142, 309 Stanitzek, Georg 21, 314 Stanzel, Franz Karl 48, 134, 314 Steinfeld, Thomas 234, 235, 314 Stierle, Karlheinz 61, 314 Strube, Werner 245, 314 Suchy, Patricia A. 176, 314

Ulrich, Anton 182, 295, 302 Velleman, J. David 262, 315 Veltruský, Jiří 26, 315 Verweyen, Theodor 15, 260, 315 Voges, Michael 7, 204, 308 Walsh, Richard 143, 315 Weber, Dietrich 143, 256, 309, 315 Wehde, Susanne 31, 36, 315 Weidle, Roland 41, 141, 153, 157, 158, 164, 169, 170, 315 Weimar, Klaus 35, 150–152, 315 Weise, Christian 193, 302 Weiss, Peter 179, 293, 302 Weisstein, Ulrich 200, 210, 212, 315 Winko, Simone 315 Wirth, Andrzej 6, 200, 209, 210, 212, 315 Witting, Gunther 15, 260, 315 Wolf, Werner 8, 14, 34, 45, 48, 52, 56, 61, 62, 67–76, 80, 81, 149, 154, 168, 175, 180, 272, 315, 316 Worthen, Wiliam B. 21, 316 Worthen, William B. 26, 316 Zerweck, Bruno 69, 316 Ziem, Alexander 63, 65, 66, 316 Zipfel, Frank 72, 117, 118, 132, 147, 157, 159, 162, 316 Zymner, Rüdiger 5, 173, 256, 258, 316