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German Pages 278 [279] Year 2022
Schriften zum Steuerrecht Band 173
Widersprüchliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Umsatzsteuerrecht
Von
Franziska Pingel
Duncker & Humblot · Berlin
FRANZISKA PINGEL
Widersprüchliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Umsatzsteuerrecht
S c h r i f t e n z u m St e u e r r e c ht Band 173
Widersprüchliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Umsatzsteuerrecht
Von
Franziska Pingel
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.
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© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 978-3-428-18480-4 (Print) ISBN 978-3-428-58480-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2021 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Eingereicht wurde die Dissertation im März 2021. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur wurden bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt.1 Mein besonderer Dank gebührt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Markus Heintzen, insbesondere für seine wertvollen Denkanstöße und zahlreichen Hinweise sowie für die äußerst zügige Erstellung des Erstgutachtens. Für Fragen stand er mir jederzeit und kurzfristig hilfreich zur Seite. Prof. Dr. Andreas Musil danke ich vielmals für die sehr rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Danken möchte ich ferner Adriaan Thurn, der mich während meiner gesamten Promotionszeit durch seine Bereitschaft zu Diskussionen über einzelne Themenbereiche unterstützt hat. Kraft gegeben haben mir der starke Rückhalt und die vielfältige Unterstützung meiner Eltern, Petra und Sebastian Pingel, und meiner Schwester, Amelie Pingel. Dafür, dass ich in jeder Lebensphase auf euch zählen kann, danke ich euch zutiefst. Euch ist diese Arbeit gewidmet. Für seinen stetigen Zuspruch in schwierigen Phasen, sein Verständnis und seine liebevolle Rücksichtnahme danke ich schließlich von ganzen Herzen Léon Chambers. Berlin, im September 2021
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Franziska Pingel
Die auf dem 4. Berliner Umsatzsteuertag am 16. 4. 2021 gemachten Reformvorschläge für das Umsatzsteuerverfahrensrecht konnten nicht mehr berücksichtigt werden. Gleiches gilt für die Reformvorschläge der Bundesteuerberaterkammer v. 15. 6. 2021. Vgl. https://www.bstbk.de/down loads/bstbk/presse-und-kommunikation/stellungnahmen/BStBK_2021-025_2021-06-15_Eingabe_ BMF_USt_Verfahrensrecht.pdf [Zugriffsdatum: 15.9.2021] u. DStR 2021, 1792 (1792. ff.).
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I. Problemaufriss und Zielsetzung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Erster Teil Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers
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§ 1 Umsatzsteuerrechtlicher Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . 27 I. Zustandekommen des Vier-Parteien-Verhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 II. Rechtsbeziehungen im Vier-Parteien-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 III. Begriff des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Divergenz zwischen verschiedenen Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Divergenz innerhalb einer Finanzbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Beispiele widersprüchlicher Behandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 IV. Problematik aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis . . . . . . . . 35 1. Problematik für den Leistenden und den Leistungsempfänger . . . . . . . . . . . . 35 2. Keine Problematik bei widerspruchsfreier Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Problematische Divergenz für die Unternehmer und für den Fiskus . . . . . . . 38 § 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? . . . 39 I. Umsatzsteuerrechtliche Lage für den Leistenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Steuerbarkeit und Steuerpflicht eines Umsatzes sowie Steuerschuldnerschaft 40 2. Entstehung der Umsatzsteuerschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 a) Bedeutung der Soll-Besteuerung für das vorliegende Problem . . . . . . . . . 41 aa) Entstehen der Steuerschuld trotz Möglichkeit eines Widerstreits . . . . 41 bb) Höhe der abzuführenden Umsatzsteuer bei Widerstreit . . . . . . . . . . . 42 cc) Bedeutung der Regelung der Uneinbringlichkeit für das vorliegende Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 dd) Risiko einer Effektivbelastung aufgrund eines Widerstreits . . . . . . . . 47 b) Bedeutung der Ist-Besteuerung für das vorliegende Problem . . . . . . . . . . 48 3. Selbstveranlagung und Kontrolle durch den Fiskus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
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Inhaltsverzeichnis II. Umsatzsteuerrechtliche Lage für den Leistungsempfänger . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1. Vorsteuerabzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 a) Gesetzlich geschuldete Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 b) Bindungswirkung der Steuerfestsetzung beim Leistenden? . . . . . . . . . . . . 54 aa) Rechtsprechung zur fehlenden Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . 54 bb) Rechtsprechung zur fehlenden Bindungswirkung überholt? . . . . . . . . 55 cc) Bindungswirkung denkbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Bedeutung der Regelung des § 17 Abs. 1 Satz 2 UStG für das vorliegende Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3. Bedeutung der Regelung des § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG für das vorliegende Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen?
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I. Verbindliche Auskunft, § 89 Abs. 2 Satz 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Verbindliche Auskunft gegenüber einem Unternehmer, § 89 Abs. 2 Satz 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 b) Zuständigkeit und Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 c) Noch nicht verwirklichter Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 d) Keine Bindungswirkung für das andere Steuerschuldverhältnis . . . . . . . . 69 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Einheitlich zu erteilende Auskunft, § 89 Abs. 2 Satz 6 AO, § 1 Abs. 2 und Abs. 3 StAuskV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 aa) Organschaftsfall, § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Nr. 3 oder Nr. 4 StAuskV
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bb) Sachverhalt, der mehreren Personen i. S. v. § 179 Abs. 2 Satz 2 AO steuerlich zuzurechnen ist, § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StAuskV . . . . . . . 72 cc) Keine Möglichkeit einer einheitlich zu erteilenden Auskunft in nicht geregelten Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Pflicht von Finanzbehörden zur Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 II. Verbindliche Zusage, §§ 204 – 207 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 III. Tatsächliche Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 IV. Bindender Grundlagenbescheid, § 171 Abs. 10 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 V. Widerstreitende Steuerfestsetzung, § 174 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Mehrfachberücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts, § 174 Abs. 1 und 2 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Wirkung der Rechtsmittelentscheidung gegenüber einem Dritten, § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Inhaltsverzeichnis
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VI. Beteiligung der anderen Finanzbehörde im Einspruchs- oder Klageverfahren
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1. Notwendige Beiladung, § 60 Abs. 3 FGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Einfache Beiladung, § 60 Abs. 1 FGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3. Bindungswirkung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Keine Bindung der anderen Finanzbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Bindung an das Urteil bei Zuständigkeit derselben Finanzbehörde und Beiladung des anderen Unternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 aa) Streitgegenstand – Entscheidungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 bb) Entscheidung über die Steuerbarkeit und Steuerpflicht eines Umsatzes bindend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 cc) Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 c) Bindung der Finanzbehörde bei Zuständigkeit von Finanzbehörden derselben öffentlich-rechtlichen Körperschaft, § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO . . . 89 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 VII. Interne Abstimmung der Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 VIII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 § 4 Gesamtergebnis erster Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Zweiter Teil Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien Verhältnis
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§ 1 Zivilrechtliche Aspekte für den Leistenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 I. Mögliche zivilrechtliche Konstellationen im Rahmen eines Widerstreits . . . . . 96 II. Netto- oder Bruttopreisabrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Nettopreisabrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Bruttopreisabrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 III. Geltendmachung des Anspruchs auf Zahlung der Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . 100 1. Klage vor dem Zivilgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Bindung der Zivilgerichte an Rechtsaufassungen der Finanzbehörden . . . . . 101 a) Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 aa) Erste Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 bb) Zweite Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 cc) Streitentscheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Bedeutung für das vorliegende Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 § 2 Zivilrechtliche Aspekte für den Leistungsempfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I. Keine Zahlung des Leistungsempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 II. Zahlung des Leistungsempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 1. Rückzahlungsanspruch, § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB . . . . . . . . . . . . . . . 106
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Inhaltsverzeichnis 2. Entreicherung des Leistenden, § 818 Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
§ 3 Direkter Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 I. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 II. Reemtsma-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Geltendmachung eines Reemtsma-Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Bedeutung der Reemtsma-Ansprüche für das vorliegende Problem . . . . . . . . 112 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 § 4 Gesamtergebnis zweiter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Dritter Teil Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich und Reformansätze 115 § 1 Allphasen-Netto-Umsatzsteuersystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 § 2 Kritik am Allphasen-Umsatzsteuersystem und Reformvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . 117 I. Reformvorschlag: Grundsätzliche Abschaffung des Auseinanderfallens von Umsatzsteuer und Vorsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Reformansatz von Paul Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Auswirkungen auf das vorliegende Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2. Mittler-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 b) Auswirkungen auf das vorliegende Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Generelles Reverse-Charge-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Auswirkungen auf das vorliegende Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 aa) Vorteile für den Leistenden und den Leistungsempfänger . . . . . . . . . 123 bb) Nachteile für den Leistenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 (1) Normierter Vertrauensschutz in § 13b Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . 124 (2) Verfassungsrechtlich gebotener Vertrauensschutz in anderen Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 (3) Risiko einer Nachforderung der Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . 126 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 II. Generelle Ist-Besteuerung mit Cross-Check . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Auswirkungen auf das vorliegende Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 § 3 Gesamtergebnis dritter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Inhaltsverzeichnis
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Vierter Teil Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers als europarechtliche Pflicht?
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§ 1 Möglichkeit der Herleitung einer Pflicht aus dem europäischen Recht . . . . . . . . . . . . 134 I. Rechtlicher Zusammenhang zwischen europäischem Mehrwertsteuerrecht und nationalem Umsatzsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Umsetzung der Richtlinien zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Umsatzsteuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 § 2 Fehlende ausdrückliche Bestimmung in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie – Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I. Vorlagefrage des FG Hamburgs in der Rs. ADV Allround . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Begriff des Steuerverfahrensrechts i. S. d. Vorlagefrage . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Begriff des Steuerverfahrensrechts i. S. d. vorliegenden Untersuchung . . . . . 139 II. Keine ausdrücklichen Vorgaben der Mehrwertsteuersystemrichtlinie . . . . . . . . 140 III. Rechtsfolge: Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten als unionsrechtlicher Terminus . . 142 2. Europarechtliche Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung ausgeschlossen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 a) Grenzen durch die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts . . . . . . . . . 144 aa) Grenzen durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . 145 bb) Grenzen durch den Äquivalenzgrundsatz und den Effektivitätsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 cc) Grenzen durch den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer . . . 147 b) Beachtung von Grundfreiheiten und europäischen Grundrechten . . . . . . . 148 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 § 3 Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung aufgrund von europarechtlichen Grundsätzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 I. Effektivitätsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1. Recht auf widerspruchsfreie Behandlung aufgrund des Genius Holding-Urteils? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 a) Ansicht des FG Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b) Ansicht des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Rechtsschutz hat korrekte und einheitliche Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie sicherzustellen . . . . . . . 153 a) Möglichkeit der Überprüfung von Entscheidungen auf dem Rechtsweg 154
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Inhaltsverzeichnis b) Generelles zum Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV . . . . . . . . 155 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 II. Grundsatz des Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Vertrauensschutz als Unterprinzip des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Vertrauensschutz aufgrund von Verwaltungshandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 a) Bestimmte Zusicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 aa) Aktives Verhalten der Finanzbehörde erforderlich – vorliegend jedoch Anmeldesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 bb) Bestimmte Zusicherungen bei Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (1) Entscheidung gegenüber dem Leistenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (2) Entscheidung gegenüber dem Leistungsempfänger . . . . . . . . . . . . 161 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b) Begründete Erwartungen und berechtigte Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . 161 c) Zuständige Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 III. Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Ursprung in der 1. EG-Richtlinie – Grundlegendes Prinzip des Mehrwertsteuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Neutralitätsgrundsatz auf Ausgangsseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Neutralitätsgrundsatz auf Eingangsseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Rs. ADV Allround . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 aa) Feststellungen des EuGH zum Neutralitätsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . 170 bb) Analyse des ADV Allround-Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (1) Kein Eingriff in das nationale Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . 172 (2) Einfluss durch den Neutralitätsgrundsatz auf das nationale Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (3) Ausreichende Instrumentarien für eine widerspruchsfreie Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (4) Verfahrensrechtliches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (5) Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 b) Verfahrensrechtliche Vorkehrungen erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 c) Rs. KrakVet Marek Batko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 aa) Vorlagefragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 bb) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 cc) Entscheidung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 dd) Bedeutung für die vorliegende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 d) Rs. Stoy trans und LVK-56 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
§ 4 Gesamtergebnis vierter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Inhaltsverzeichnis
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Fünfter Teil Bestehende Lösungsvorschläge
187
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers . . . . . . . . 187 I. Begriff des Gutglaubensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 II. Analyse von Stadies Lösungsvorschlag unter Einbeziehung der Rechtsprechung des EuGH und des BFH zum Gutglaubensschutz der Unternehmer . . . . . . . . . . 189 1. Spannungsverhältnis zwischen Sicherung des Steueraufkommens und Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Widersprüchliche Entscheidungen zur Steuerbarkeit oder zur Steuerpflicht einer Leistung oder zum Steuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 b) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 c) Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Kein normierter genereller Gutglaubensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. Rechtsprechung des EuGH zum Gutglaubensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 a) Tatbestandsersetzender Gutglaubensschutz des Leistenden auf die vorliegende Problematik übertragbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 aa) Rs. Teleos und Netto Supermarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 bb) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik . . . . . . . . . . . . . 197 b) Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers bei betrugsbehafteten Umsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 aa) Rs. Kittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 bb) Zusätzliche Voraussetzung für den Vorsteuerabzug: Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 cc) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik . . . . . . . . . . . . . 200 c) Unbeachtlichkeit formeller Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 d) Tatbestandsersetzende Wirkung des guten Glaubens hinsichtlich der materiellen Voraussetzung des Vorsteuerabzugs der „gesetzlich geschuldeten Steuer“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 aa) Rs. PPUH Stehcemp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 (1) Keine Erweiterung des Vorsteuerabzugsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 203 (2) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik . . . . . . . . . . 205 bb) Rs. Litdana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 (1) Gutglaubensschutz bei der Differenzbesteuerung . . . . . . . . . . . . . 205 (2) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik . . . . . . . . . . 205 cc) Rs. SGI und Valériane SNC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 (1) Kein Gutglaubensschutz im Fall des § 14c Abs. 2 Satz 2 2. Alt. UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 (2) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik . . . . . . . . . . 206 dd) Rs. Kollroß und Wirtl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (1) Beurteilung der Leistung aus Empfängersicht . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (2) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik . . . . . . . . . . 209
14
Inhaltsverzeichnis ee) Rs. Kreuzmayr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (1) Kein Gutglaubensschutz im Fall des § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG
210
(2) Übertragung auf die vorliegende Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . 212 ff) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 4. Rechtsprechung des BFH zum Gutglaubensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a) Gutglaubensschutzerwägungen im Billigkeitsverfahren, §§ 163, 227 AO 214 b) Der gute Glaube an ordnungsgemäße Rechnungsangaben . . . . . . . . . . . . . 215 c) Kein Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz im Fall des § 14c UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5. Literaturansichten zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers im Fall des § 14c UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 a) Verfassungs- und unionsrechtskonforme Auslegung des Tatbestandsmerkmals „gesetzlich geschuldet“ i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG 217 b) Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 c) Kein Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz . . . . . . . . . . . . . . . 219 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 III. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 a) Verweisung auf den Zivilrechtsweg konsequent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 b) Auflösung des Widerstreits durch einen Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 aa) Auflösung mit der Folge: Steuer gesetzlich nicht geschuldet . . . . . . . 223 bb) Auflösung mit der Folge: Steuer gesetzlich geschuldet . . . . . . . . . . . 224 c) Zumutbare Risikoverteilung bei Insolvenz des Leistenden . . . . . . . . . . . . 225 aa) Umsatzsteuer bereits abgeführt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 bb) Umsatzsteuer noch nicht abgeführt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 d) Interessen des Leistungsempfängers und des Fiskus in gerechtem Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 e) Beweisschwierigkeiten des Leistungsempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 f) Verbleibende Problematik bei übereinstimmender umsatzsteuerrechtlicher Qualifizierung des Umsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 g) Gewährung von Gutglaubensschutz keine Lösung des vorliegenden Problems für den Leistenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 2. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 § 2 Verfahrensrechtliche Lösungen im Einspruchs- und Klageverfahren . . . . . . . . . . . . . 231 I. Beteiligung der anderen Finanzbehörde im Einspruchs- oder Klageverfahren 231 II. Dritteinspruch, §§ 347 ff. AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 III. Feststellungsklage, § 41 FGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 IV. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Inhaltsverzeichnis
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§ 3 Verfahrensrechtliche Lösungen im Festsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 I. Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung – Abstimmung der Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 1. Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 II. Automatische Bindungswirkung bei rechtskräftiger abändernder Beurteilung für das andere Steuerschuldverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 1. Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 § 4 Zivilrechtliche Lösung: Streitverkündung, §§ 72 ff. ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 I. Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 II. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
Sechster Teil Gesetzesvorschlag für eine verbindliche Kooperationsentscheidung
241
§ 1 Gesetzliche Verortung des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 § 2 Vorschlag eines Gesetzestextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 § 3 Erläuterungen zum Gesetzesvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 I. Rechtsanspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung, § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 II. Antragsbefugnis, § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 III. Zuständige Finanzbehörde(n), § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 IV. Inhalt der Kooperationsentscheidung, § 27c Abs. 1 Satz 1 und 2 UStG . . . . . . . 245 V. Alleinentscheidungsbefugnis bei mangelnder Einigung, § 27c Abs. 1 Satz 3 und 4 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 VI. Rechtliche Qualifizierung der Kooperationsentscheidung und Erteilung der Kooperationsentscheidung gegenüber beiden Unternehmern, § 27c Abs. 4 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 VII. Bindungswirkung der Kooperationsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 VIII. Form des Antrags und Antragsfrist, § 27c Abs. 2 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 IX. Änderungsnormen nach Auflösung des Widerstreits – § 164 Abs. 2 AO und § 27c Abs. 3 UStG i. V. m. § 175a AO entsprechend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 1. Änderung der Steueranmeldung des leistenden Unternehmers, § 164 Abs. 2 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 2. Änderung des Änderungsbescheids beim leistenden Unternehmer oder beim Leistungsempfänger, § 164 Abs. 2 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3. Materielle Bestandskraft eingetreten – Durchbrechung der Bestandskraft nach § 27c Abs. 3 UStG i. V. m. § 175a Satz 1 AO entsprechend . . . . . . . . . . 251
16
Inhaltsverzeichnis X. Ablaufhemmung, § 27c Abs. 3 UStG i. V. m. § 175a Satz 2 AO . . . . . . . . . . . . . 254 XI. Einspruch gegen die Kooperationsentscheidung möglich, § 27c Abs. 4 UStG
254
XII. Keine Gebührenpflicht für die Kooperationsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 XIII. Bindung der Zivilgerichte an die Kooperationsentscheidung und Insolvenzrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Abkürzungsverzeichnis a. A. Abl. Abs. AEAO AEUV Allg. Alt. Ändg. Anm. AO Art. Aufl. BB BBP BC BeckRS BFH BFH/NV BFH/PR BGB BGH BMF BSG BStBl. BStGB BR-Drs. BT-Drs. Buchst. BVerfG bzgl. BZSt bzw. d. h. DB Diss. DStR DStRE DStRK DStR-KR DVBl
andere Ansicht Amtsblatt Absatz Anwendungserlass zur Abgabenordnung Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Allgemeines Alternative Änderung Anmerkung Abgabenordnung Artikel Auflage Betriebs-Berater (Zeitschrift) Betriebswirtschaft im Blickpunkt (Zeitschrift) Zeitschrift für Bilanzierung, Rechnungswesen und Controlling (Zeitschrift) beck-online.RECHTSPRECHUNG Bundesfinanzhof Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH Entscheidungen des Bundesfinanzhofs für die Praxis der Steuerberatung (Zeitschrift) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Bundesministerium der Finanzen Bundessozialgericht Bundessteuerblatt Bundessteuergesetzbuch Bundesrat-Drucksache Bundestag-Drucksache Buchstabe Bundesverfassungsgericht bezüglich Bundeszentralamt für Steuern beziehungsweise das heißt Der Betrieb (Zeitschrift) Dissertation Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst (Zeitschrift) Deutsches Steuerrecht kurzgefasst (Zeitschrift) Deutsches Steuerrecht Kammer-Report (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift)
18 ECOFIN-Rat EFG EG-Richtlinie EGV Einf. EU EuG EuGH EU-Kommission EuR EuR-Beiheft EU-UStB EUV EuZW EWGV FA FAe ff. FG FGO Fn. FR FVG GG ggf. GRCh GRUR GStB GVG HFR i. d. F. i. E. i. S. d. i. S. v. i. V. m. IBRRS Ident-Nr. insbes. IStR jurisPR-SteuerR JuS kösdi krit. LFD LSG m. Anm. MBP MMR
Abkürzungsverzeichnis Rat der Europäischen Union für Wirtschaft und Finanzen Entscheidungen der Finanzgerichte (Zeitschrift) Richtlinie der Europäischen Gemeinschaften Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einführung Europäische Union Gericht erster Instanz der Europäischen Union Europäischer Gerichtshof Europäische Kommission Europarecht (Zeitschrift) Europarecht Beiheft (Zeitschrift) EU-Umsatzsteuer-Berater (Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Finanzamt Finanzämter folgende (Seiten) Finanzgericht Finanzgerichtsordnung Fußnote Finanzrundschau (Zeitschrift) Gesetz über die Finanzverwaltung Grundgesetz gegebenenfalls Charta der Grundrechte der Europäischen Union Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Gestaltende Steuerberatung (Zeitschrift) Gerichtsverfassungsgesetz Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung (HFR) (Zeitschrift) in der Fassung im Ergebnis im Sinne der/des im Sinne von in Verbindung mit Immobilien- und Baurecht, Rechtsprechung (Zeitschrift) Identifikationsnummer insbesondere Internationales Steuerrecht (Zeitschrift) juris Praxisreport-Steuerrecht (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Kölner Steuerdialog (Zeitschrift) kritisch Landesfinanzdirektion Landessozialgericht mit Anmerkung Mandant im Blickpunkt (Zeitschrift) Multimedia und Recht
Abkürzungsverzeichnis MwSt MwStR MwStSystRL NJOZ NJW NJW-RR o. g. OECD OFD Rs. Rz. Slg. sog. StAuskV StB StEd SteuK StuW u. u. a. Unterabs. UR USt UStAE UStB UStG USt-Schuld UStZustV UVR v. VAT/GST vgl. VO vs. z. B. ZfBR zit. zul. geändert zzgl.
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Mehrwertsteuer Mehrwertsteuerrecht (Zeitschrift) Mehrwertsteuersystemrichtlinie Neue Juristische Online-Zeitschrift (Zeitschrift) Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report oben genannt Organization for Economic Cooperation and Development Oberfinanzdirektion Rechtssache Randziffer Sammlung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz sogenannt(e) Steuer-Auskunftsverordnung Der Steuerberater (Zeitschrift) Steuer-Eildienst (Zeitschrift) Steuerrecht kurzgefasst (Zeitschrift) Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) und und andere Unterabsatz Umsatzsteuer-Rundschau (Zeitschrift) Umsatzsteuer Umsatzsteuer-Anwendungserlass Umsatzsteuer-Berater (Zeitschrift) Umsatzsteuergesetz Umsatzsteuerschuld Verordnung über die örtliche Zuständigkeit für die Umsatzsteuer im Ausland ansässiger Unternehmer Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht (Zeitschrift) vom Value-added tax/Goods and Services Tax vergleiche Verordnung versus zum Beispiel Zeitschrift für deutsches und internationales Bau- und Vergaberecht (Zeitschrift) zitiert zuletzt geändert zuzüglich
Einleitung I. Problemaufriss und Zielsetzung der Arbeit Im Umsatzsteuerrecht ergibt sich im unternehmerischen Bereich, das heißt bei Umsätzen zwischen zwei Unternehmern i. S. d. §§ 2, 2a UStG1, in der Regel ein VierParteien-Verhältnis zwischen dem leistenden Unternehmer, dem Leistungsempfänger und den für sie jeweils zuständigen Finanzbehörden.2 Für den Leistungsempfänger besteht in diesem Vier-Parteien-Verhältnis eine Zwangslage. Er muss darauf vertrauen, dass die Rechtsauffassung des Leistenden über die Steuerpflicht einer Leistung richtig ist.3 Stellt sich heraus, dass die für den Leistungsempfänger zuständige Finanzbehörde hinsichtlich der Steuerpflicht eines Umsatzes gegenteiliger Auffassung ist, entsteht ein Konfliktfall.4 Dieser folgt daraus, dass die Finanzbehörde des Leistungsempfängers das Recht hat darüber zu entscheiden, ob ein Umsatz der Umsatzsteuer unterliegt und ob der Leistungsempfänger den spiegelbildlichen Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG geltend machen kann.5 Der Leistende kann hingegen die Erstattung der vom Leistungsempfänger bereits an ihn gezahlten Umsatzsteuer mit dem Argument verweigern, dass die für ihn zuständige Finanzbehörde den Umsatz als steuerpflichtig behandelt hat.6 Für den Leistungsempfänger wird die Gefahr der Versagung des Vorsteuerabzugs aufgrund uneinheitlicher Rechtsauslegungen der zuständigen Finanzbehörden dadurch verstärkt, dass ein Steuerausweis allein nicht mehr7 zum Vorsteuerabzug berechtigt.8
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Wünsch, in: Koenig, AO, § 21 Rz. 13. Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 3 Brill, kösdi 2018, 21034 (21041); Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176); Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153; Weinschütz, DB 2010, 20 (20); zum Vertrauen in die Angaben des Vertragspartners generell siehe auch von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 45. 4 Schmittmann, NZI 2015, 951 (954); Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 949; Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 5 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 948. 6 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 969. 7 Rechtsprechungsänderung des BFH. Vgl. BFH v. 2. 4. 1998 – V R 34/97, BStBl. II 1998, 695. Hintergrund dieser Rechtsprechungsänderung ist die Entscheidung Genius Holding des EuGH. Vgl. EuGH v. 13. 12. 1989 – C-342/87 – Genius Holding, NJW 1991, 632. Siehe auch BFH v. 22. 8. 2019 – V R 50/16, DStR 2019, 2528 Rz. 17. 8 Vgl. den Wortlaut des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG: „die gesetzlich geschuldete Steuer“ u. Weimann, UStB 2010, 350; Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 2
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Einleitung
Uneinheitlich kann mithin beurteilt werden, ob ein zutreffender oder ein unzutreffender Steuerausweis vorliegt.9 Darüber hinaus kann eine divergierende Beurteilung ein und desselben Umsatzes auch für den leistenden Unternehmer nachteilig sein.10 Ein Konfliktfall kann für ihn beispielsweise in folgender Situation entstehen: Der leistende Unternehmer stellt Rechnungen ohne Umsatzsteuer aus, da er davon ausgeht, dass die Umsätze nicht der deutschen Umsatzsteuer unterliegen. Das für ihn zuständige Finanzamt ist hingegen der Auffassung, dass die Leistungen in Deutschland steuerpflichtig sind und setzt die Umsatzsteuer fest, woraufhin der leistende Unternehmer diese nachzahlt. Verweigern die im Ausland ansässigen Leistungsempfänger indes die nachträgliche Zahlung der Umsatzsteuer an den Leistenden und führen an, die für sie zuständige Finanzbehörde habe die Erstattung der Vorsteuer versagt, besteht für den leistenden Unternehmer die Gefahr, in Liquiditätsschwierigkeiten zu geraten und letztendlich im Fall einer geringen Gewinnmarge seines Unternehmens in Insolvenz zu verfallen.11 Die Problematik einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers kann dementsprechend zum Beispiel aufkommen, wenn für den leistenden Unternehmer ein deutsches Finanzamt zuständig ist, für den im Ausland ansässigen und im Inland nicht registrierungspflichtigen Leistungsempfänger hingegen das Bundeszentralamt für Steuern für die Vergütung der Vorsteuer zuständig ist.12 Divergierende Auffassungen können in dieser Situation beispielsweise über den im Inland oder im Ausland liegenden Leistungsort bestehen.13 Die für die Unternehmer bestehenden Konfliktfälle können darüber hinaus in weiteren zahlreichen Konstellationen auftreten,14 da divergierende Antworten auf die verschiedensten Abgrenzungsfragen denkbar sind15. Unterschiedliche Auffassungen können die beteiligten Finanzbehörden beispielsweise über das Bestehen eines
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Weimann, UStB 2010, 350 (350). von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 11 Diese Problematik bestand in der Rechtssache ADV Allround. Vgl. EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219. 12 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (cc)); Weinschütz, DB 2010, 20 (20); zur Zuständigkeit des Bundeszentralamts für Steuern vgl. Langer/Zugmaier, DStR 2007, 983 (985); Montag, MwStR 2014, 643 (643). Ob ein Vorsteuervergütungsverfahren durchzuführen ist, richtet sich nach § 18 Abs. 9 UStG i. V. m. §§ 59 ff. UStDV. Vgl. hierzu BFH v. 10. 1. 2019 – V R 66/16, BeckRS 2019, 6450 Rz. 17. 13 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (cc)); Weimann, UStB 2010, 350 (350). Die Entscheidung darüber, ob ein Umsatz im Inland oder im Ausland ausgeführt wurde, ist deshalb relevant, weil die Umsätze i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1, Nr. 4 und 5 UStG nur dann steuerbar sind, wenn sie im Inland ausgeführt wurden. Siehe Robisch, in: Bunjes, UStG, § 1 Rz. 145. 14 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 949; Weimann, UStB 2010, 350 (350). 15 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 10
Einleitung
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steuerbaren Leistungsaustausches oder eines nicht steuerbaren Schadensersatzes16, über das Bestehen einer nicht steuerbaren Geschäftsveräußerung im Ganzen oder einer steuerbaren Veräußerung separater Wirtschaftsgüter17 sowie über das Vorliegen des ermäßigten Steuersatzes haben18. Zudem besteht das Risiko divergierender Entscheidungen stets, da zwischen den beteiligten Finanzbehörden innerhalb des Vier-Parteien-Verhältnisses keine Rechtsbeziehung vorhanden ist.19 Die für den Leistenden und den Leistungsempfänger bestehenden Zwangslagen verdeutlichen die Wichtigkeit der Untersuchung des Problems. Denn sowohl dem Leistenden als auch dem Leistungsempfänger droht die Gefahr, dass sie die Umsatzsteuer aufgrund sich widersprechender Beurteilungen desselben Sachverhalts selbst tragen müssen und somit das „Nullsummenspiel misslingt“.20 Folge ist mithin eine vom Gesetz nicht gewollte Mehrbelastung der Unternehmer.21 Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zum Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer.22 Der Neutralitätsgrundsatz verkörpert ein grundlegendes Prinzip des Mehrwertsteuerrechts.23 Nach ihm muss eine vollständige Entlastung der Unternehmer „von der im Rahmen [ihrer] gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer“24 erfolgen. Es darf demnach keine endgültige Belastung der Unternehmer mit der Mehrwertsteuer entstehen.25 Demzufolge besteht ein Widerspruch zum Neutralitätsgrundsatz, sofern die Umsatzsteuer für einen der am umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer aufgrund widersprüchlicher Entscheidungen der Finanzbehörden im Ergebnis zu einer effektiven Belastung wird.26
16 Echte Entschädigungsleistungen sowie Schadensersatzleistungen stellen kein Entgelt i. S. d. UStG dar. Vgl. BFH v. 30. 6. 2010 – XI R 22/08, DStR 2010, 2184 Rz. 14. 17 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 18 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 949; siehe auch Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 19 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 20 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 21 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (cc)). 22 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218). 23 Generalanwältin Kokott, Schlussantrag v. 30. 11. 2017 – C-8/17 – Biosafe, MwStR 2018, 130 Rz. 42. 24 EuGH v. 12. 4. 2018 – C-8/17 – Biosafe, DStR 2018, 787 Rz. 28 u. 43; siehe auch EuGH v. 6. 9. 2012 – C-324/1 – Gabor Tóth, UR 2012, 851 Rz. 25; Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 8 Rz. 494; Reiß, UR 2002, 561 (570). 25 Generalanwältin Kokott, Schlussantrag v. 30. 11. 2017 – C-8/17 – Biosafe, MwStR 2018, 130 Rz. 43. 26 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218).
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Einleitung
Kern dieser Arbeit ist es, das Problem27 der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Umsatzsteuerrecht durch ihre Finanzbehörden zu untersuchen. Die übergeordnete Forschungsfrage ist, wie sich der Konfliktfall widersprüchlicher Entscheidungen im Rahmen des gegenwärtigen Allphasen-Netto-Umsatzsteuersystems lösen lässt.
II. Gang der Untersuchung Um die übergeordnete Frage, wie das Problem der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Umsatzsteuerrecht zu lösen ist, beantworten zu können, wird die Arbeit in fünf Teile aufgeteilt. Im ersten Teil dieser Arbeit wird das Problem der widersprüchlichen umsatzsteuerrechtlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers analysiert. Der zweite Teil wird aufzeigen, welche zivilrechtlichen Aspekte bei Bestehen der Problematik widersprüchlicher Behandlungen zu berücksichtigen sind und welche Auswirkungen eine widersprüchliche Behandlung der Unternehmer auf das zwischen ihnen bestehende zivilrechtliche Rechtsverhältnis hat. Aufgrund des für die Unternehmer bestehenden Risikos, mit der Umsatzsteuer belastet zu werden, wird im dritten Teil erläutert, warum im unternehmerischen Bereich überhaupt eine Umsatzbesteuerung erfolgt und welche alternativen Umsatzsteuersysteme denkbar wären.28
27 Zum Problem siehe bereits EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 – 222 (m. Anm. Weinschütz); Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/ 10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 – 1123; OFD Hannover v. 9. 10. 2009 – S 7500-466-StO 171, UR 2010, 188; Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1175 ff.); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 – 18; Burgmaier/ Sterzinger, UR 2012, 175 (179 ff.); Dodos, MwStR 2015, 329 (333); Gerhards, DStZ 2010, 774 – 775; Heinrichshofen, EU-UStB 2010, 68 – 70; Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 – 9; Heinrichshofen, UStB 2013, 36 – 38; Klenk, HFR 2012, 343 (345); Liebgott, UR 2017, 49 (56 f.); Martin, BFH/PR 2012, 203; Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (216 ff.); Nieskens, MwStR 2015, 243 (244); Prätzler, jurisPR-SteuerR 32/2010 Anm. 5; Stadie, in: Rau/ Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 449 – 451; Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 219 – 230; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (49); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815 ff.); Weimann, StB 2014, 398 – 400; Weimann, UStB 2010, 350 (350 f.); Weinschütz, DB 2010, 20 (20); siehe auch Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen, BR-Drs. 310/18, S. 8 Nr. 4. 28 Diese Frage stellt sich auch hinsichtlich Steuerausfällen des Fiskus. Siehe hierzu Reiß, UR 2002, 561 (564); siehe auch Stadie, UStG, Einf. Rz. 12. Befürworter einer prinzipiellen Abschaffung der Steuerbarkeit zwischenunternehmerischer Umsätzen ist Paul Kirchhof. Siehe hierzu Kirchhof, DStR 2008, 1 (1).
Einleitung
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Im vierten Teil gilt es zu klären, ob sich aus dem Unionsrecht die Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers ergibt.29 Anschließend wird im fünften Teil aufgezeigt, welche Lösungsvorschläge für das Problem widersprüchlicher Entscheidungen bereits bestehen. So ist Stadie zunächst der Ansicht, dass dem Leistungsempfänger bei Vorliegen der Problematik im Festsetzungsverfahren Gutglaubensschutz und damit der Vorsteuerabzug gewährt werden müsse.30 Bisher wurde hauptsächlich dargelegt, wie das Problem im Rahmen eines Einspruchs- oder Klageverfahrens zu lösen ist. So schlägt Weinschütz eine „unionsrechtlich fundierte“ „Beiladung sui generis“ der jeweils anderen Behörde im Klageverfahren mit Wirkung einer notwendigen Beiladung vor.31 Darüber hinaus wird in der Literatur ein Dritteinspruch des Leistungsempfängers gegen die Steuerfestsetzung beim Leistenden sowie eine nicht subsidiäre Feststellungsklage32 vorgeschlagen.33 Um im Ergebnis eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers erstreiten zu können, müsse eine notwendige Hinzuziehung nach § 360 Abs. 3 AO beziehungsweise eine notwendige Beiladung nach § 60 Abs. 3 FGO der für den Leistungsempfänger zuständigen Finanzbehörde möglich sein.34 Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob dem Neutralitätsprinzip allein durch prozessrechtliche Lösungen Genüge getan werden kann. In manchen Fällen kann das Einspruchs- oder Klageverfahren über mehrere Jahre hinweg andauern und der Betroffene zum Zeitpunkt einer Entscheidung bereits insolvent sein.35 So wird in der Literatur ein Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung vorgeschlagen.36 Es wird vorgeschlagen, dass eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers dadurch gewährleistet werden könnte, dass eine rechtskräftige abändernde Beurteilung durch die Finanzbehörde von einem der Unternehmer auch gleichzeitig Bindungswirkung für das andere Steuerschuldverhältnis entfalte.37 Auch wird vorgeschlagen, dass die Finanzbehörden sich ver-
29 Siehe dazu EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 – 222 (m. Anm. Weinschütz); Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 – 1123. 30 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 451. 31 Weinschütz, EuZW 2012, 221 (222); zustimmend Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 32 Siehe hierzu auch Lohse, UR 2000, 320 (321). 33 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15 – 17). 34 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15 – 17). 35 So für den Weg bis zum EuGH von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 36 Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816 – 817); Weimann, UStB 2010, 350 (350 f.); siehe auch bereits FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 37 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816).
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Einleitung
bindlich abstimmen könnten.38 Überdies werden zivilrechtliche Lösungen in Betracht gezogen.39 Nach Vorstellung und Bewertung der bestehenden Lösungsvorschläge erfolgt im sechsten Teil abschließend ein Gesetzesvorschlag für einen gesetzlichen Anspruch des Leistenden und des Leistungsempfängers gegen die für sie zuständigen Finanzbehörden auf die Erteilung einer verbindlichen Kooperationsentscheidung, welcher neben den bereits bestehenden Vorschlägen zur Problemlösung beitragen soll. Ein diesbezüglicher Gesetzesvorschlag ist, soweit ersichtlich, noch nicht erfolgt.
38
Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (9); Heinrichshofen, UStB 2013, 36 (37); für den Fall der Frage des Vorliegens der Steuerfreiheit aufgrund einer innergemeinschaftlichen Lieferung oder Ausfuhrlieferung vgl. Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218 f.); die Möglichkeit einer Zusammenarbeit aufwerfend auch Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222. 39 Dodos, MwStR 2015, 329 (333).
Erster Teil
Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers Die Unternehmer40 haben im Rahmen des umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustausches „nur die Funktion zwangsverpflichteter Gehilfen des Staates bei der Besteuerung der Verbraucher. [Sie] werden […] lediglich als „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates tätig“41, indem sie „öffentliche Gelder“ vereinnahmen, so dass sie die Steuer auch nicht zeitweilig belasten darf, weil sie nur verpflichtet sind, „die Steuer für Rechnung der Steuerverwaltung einzuziehen und sodann [..] an diese abzuführen“42.43 Hinsichtlich der für den Fiskus treuhänderisch eingenommenen Umsatzsteuerbeträge haben die Unternehmer allein eine Abführungs- beziehungsweise Weiterleitungsschuld.44 Trotz ihrer Funktion als bloße Steuereinnehmer45 besteht für die Unternehmer jedoch das Risiko, dass sie die Umsatzsteuer infolge widersprüchlicher Entscheidungen der für sie zuständigen Finanzbehörden selbst tragen müssen.46 Wieso dieses Risiko besteht, wird im Folgenden analysiert (dazu § 1 bis § 3).
§ 1 Umsatzsteuerrechtlicher Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis Um die Frage zu beantworten, weshalb für die Unternehmer das Risiko besteht, die Umsatzsteuer aufgrund widersprüchlicher Entscheidungen selbst tragen zu
40
Legaldefinition in §§ 2, 2a UStG; siehe hierzu Wünsch, in: Koenig, AO, § 21 Rz. 13. Wortzitat aus EuGH v. 20. 10. 1993 – C-10/92 – Balocchi, BeckRS 2004, 74023 Rz. 25; so auch EuGH v. 21. 2. 2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, EuZW 2008, 286 Rz. 21. 42 EuGH v. 24. 10. 1996 – C-317/94 – Elida Gibbs, BeckRS 2004, 76308 Rz. 22. 43 Stadie, MwStR 2018, 904 (907). 44 Frye, UR 2013, 561 (604). 45 EuGH v. 20. 10. 1993 – C-10/92 – Balocchi, Slg. 1993, I-5105 Rz. 25; Frye, UR 2013, 561 (561); Ismer/Artinger, MwStR 2018, 12 (14); Stadie, MwStR 2018, 904 (907); Wäger, UR 2013, 673 (674). 46 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 41
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
müssen, wird zunächst der umsatzsteuerrechtliche Widerstreit47 im Vier-ParteienVerhältnis dargestellt. Es wird vorerst das Zustandekommen des Vier-ParteienVerhältnisses erläutert (dazu I.), und es werden die Rechtsbeziehungen im VierParteien-Verhältnis dargelegt (dazu II.). Außerdem wird erläutert, was unter dem Begriff des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis zu verstehen ist (dazu III.). Schließlich wird die für die Unternehmer bestehende Problematik infolge eines Widerstreits anhand des ADV Allround-Urteils48 aufgezeigt (dazu IV.).
I. Zustandekommen des Vier-Parteien-Verhältnisses Im Umsatzsteuerrecht entsteht gewöhnlich ein Vier-Parteien-Verhältnis, bestehend aus dem leistenden Unternehmer, dem Leistungsempfänger und den für sie zuständigen, in der Regel unterschiedlichen Finanzbehörden.49 Leistender ist grundsätzlich derjenige Unternehmer, der die Leistungen „im eigenen Namen gegenüber einem anderen selbst ausführt oder durch einen Beauftragten ausführen lässt“.50 Leistungsempfänger ist derjenige Unternehmer, der die Leistung für sein Unternehmen bezieht und dem grundsätzlich ein Recht auf Abzug der Vorsteuer zusteht.51 Weshalb sich die Konstellation eines Vier-Parteien-Verhältnisses im Umsatzsteuerrecht grundsätzlich ergibt, wird im Folgenden dargelegt. Hierfür wird aufgezeigt, woraus sich rechtlich ergibt, welche Finanzbehörden am umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustausch beteiligt zu sein haben. Die örtliche Zuständigkeit der Finanzbehörden für die Unternehmer i. S. v. § 2 UStG beziehungsweise § 2a UStG ergibt sich, soweit nichts anderes bestimmt ist (vgl. § 17 AO), aus § 21 AO.52 Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 AO ist für den Unternehmer das Finanzamt zuständig, von dessen Bezirk aus dieser sein Unternehmen im Geltungsbereich des Gesetzes ganz oder vorwiegend betreibt. § 21 Abs. 1 Satz 1 AO regelt demnach die örtliche Zuständigkeit der Finanzämter für Unternehmer, die ihr Unternehmen im Inland betreiben, wobei sich der Inlandsbegriff hier, im Unterschied zum UStG, auf den Geltungsbereich der AO bezieht.53 Das Unternehmen wird von dem Ort betrieben, „von wo aus der Unternehmer seine Tätigkeit anbietet, wo er 47
Zum „Widerstreit in der Umsatzsteuer“ vgl. Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 – 18. 48 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 – 222 (m. Anm. Weinschütz). 49 Liebgott, UR 2017, 49 (56); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 50 BFH v. 10. 9. 2015 – V R 17/14, BeckRS 2015, 95894 Rz. 32. 51 Looks, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 15 Rz. 42. 52 Rätke, in: Klein, AO, § 21 Rz. 1 u. 2. 53 Dies hat zur Folge, dass insbesondere auch die Freihäfen und die Insel Helgoland zum Geltungsbereich i. S. v. § 21 Abs. 1 Satz 1 AO zählen. Wünsch, in: Koenig, AO, § 21 Rz. 14.
§ 1 Umsatzsteuerrechtlicher Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis
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Aufträge entgegennimmt, ihre Ausführung vorbereitet und die Zahlungen an ihn geleistet werden“.54 In der Regel ist dies der Ort, wo sich die Geschäftsleitung befindet.55 § 21 Abs. 1 Satz 2 AO beinhaltet eine Verordnungsermächtigung.56 Infolge dieser Verordnungsermächtigung wurde die Verordnung über die örtliche Zuständigkeit für die Umsatzsteuer im Ausland57 ansässiger Unternehmer (Umsatzsteuerzuständigkeitsverordnung (UStZustV)) erlassen.58Gemäß § 21 Abs. 1 Satz 2 AO i. V. m. der UStZustV gilt für die im Ausland ansässigen Unternehmer eine zentrale Zuständigkeit.59 Für im Ausland ansässige Unternehmer, die zwar im Inland tätig werden, für die allerdings keine Registrierungspflicht besteht, gilt die zentrale Zuständigkeitsregelung des § 21 Abs. 1 Satz 2 AO i. V. m. der UStZustV hinsichtlich der Geltendmachung ihrer Vorsteuererstattungsansprüche nicht.60 Die Erstattung der von einem nicht im Inland registrierungspflichtigen Unternehmer gezahlten Umsatzsteuer hat, anstatt im Veranlagungsverfahren61, im Vorsteuervergütungsverfahren62 zu erfolgen. Das Vergütungsverfahren ist infolge der Verordnungsermächtigung des § 18 Abs. 9 Satz 1 UStG in den §§ 59 ff. UStDV geregelt worden.63 Beantragt64 ein im Ausland65 ansässiger Unternehmer, für welchen umsatzsteuerrechtlich im Inland keine Registrierungspflicht besteht, die Vergütung der Vorsteuer, ist grundsätzlich das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) nach den §§ 61 Abs. 1 Satz 1, 61a Abs. 1 Satz 1 UStDV66 für die Vergütung der Vorsteuer zuständig.67
54
Rz. 2. 55
BFH v. 18. 3. 1971 – V R 101/67, BeckRS 1971, 22000972; Rätke, in: Klein, AO, § 21
BFH v. 22. 12. 1998 – VII B 157/98, BeckRS 1998, 30040360 (unter 1., b)); Wünsch, in: Koenig, AO, § 21 Rz. 14. 56 Rätke, in: Klein, AO, § 21 Rz. 3. 57 Zum Begriff des im Ausland ansässigen Unternehmers vgl. § 13b Abs. 7 Satz 1 UStG. 58 FG Köln v. 12. 10. 2017 – 10 K 2487/16, BeckRS 2017, 138729 Rz. 36; Rätke, in: Klein, AO, § 21 Rz. 3. 59 FG Saarland v. 15. 2. 2017 – 2 K 1149/14, BeckRS 2017, 94602 Rz. 2.2.1.; Wünsch, in: Koenig, AO, § 21 Rz. 21. 60 So etwa Langer/Zugmaier, DStR 2007, 983 (983). 61 von Streit, DStR 2011, 2233 (2233). 62 Langer/Zugmaier, DStR 2007, 983 (983). 63 BFH v. 10. 1. 2019 – V R 66/16, BeckRS 2019, 6450 Rz. 18 u. 19. 64 Zum Vergütungsantrag siehe § 18 Abs. 9 Satz 2 Nr. 2 UStG. 65 Zum Begriff des im Ausland ansässigen Unternehmers i. S. d. UStDV siehe § 59 S. 2 UStDV. 66 § 61 UStDV regelt das Vorsteuervergütungsverfahren für im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässige Unternehmer. § 61a UStDV regelt das Vorsteuervergütungsverfahren für nicht im Gemeinschaftsgebiet ansässige Unternehmer. 67 Langer/Zugmaier, DStR 2007, 983 (983).
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
In häufigen Fällen können für den Leistenden und den Leistungsempfänger unterschiedliche Finanzbehörden zuständig sein.68 Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer ihre Unternehmen in verschiedenen Finanzamtsbezirken betreiben (vgl. § 21 Abs. 1 Satz 1 AO). Für den Leistenden und den Leistungsempfänger sind stets unterschiedliche Finanzbehörden zuständig, wenn der im Ausland ansässige Leistungsempfänger im Inland nicht registrierungspflichtig ist. Denn dann ist für den im Inland ansässigen Leistenden grundsätzlich ein deutsches Finanzamt zuständig69, für den Leistungsempfänger ist hingegen das Bundeszentralamt für Steuern für die Vergütung der Vorsteuer zuständig70 (vgl. § 18 Abs. 9 Satz 1 UStG und §§ 61 Abs. 1 Satz 1, 61a Abs. 1 Satz 1 UStDV). Möglich ist jedoch auch, dass für den Leistenden und den Leistungsempfänger dasselbe Finanzamt zuständig ist.71 Die örtliche Zuständigkeit desselben Finanzamts kommt zum Beispiel in Betracht, wenn der Leistende und der Leistungsempfänger ihr Unternehmen ganz oder vorwiegend von demselben Finanzamtsbezirk aus betreiben (vgl. § 21 Abs. 1 Satz 1 AO).
II. Rechtsbeziehungen im Vier-Parteien-Verhältnis Innerhalb des Vier-Parteien-Verhältnisses entstehen drei Rechtsbeziehungen.72 Zwischen den beteiligten Unternehmern liegt ein zivilrechtliches Rechtsverhältnis vor und zwischen jedem der beiden Unternehmer und der jeweils für ihn zuständigen Finanzbehörde eine steuerrechtliche Rechtsbeziehung.73 Die Finanzbehörden stehen rechtlich unabhängig voneinander.74 Das Steuerschuldverhältnis zwischen den Unternehmern und dem Steuergläubiger (der sog. Fiskus)75 ist ein öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis.76 Die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis werden in § 37 Abs. 1 AO abschließend genannt.77 Betreffend die Umsatzsteuer sind Steuergläubiger nach Art. 106 Abs. 3 68
Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). Vgl. § 21 Abs. 1 Satz 1 AO. 70 Siehe dazu Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 71 OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 – S 7100b-1-St 171, UR 2016, 293 (294); OFD Niedersachsen v. 19. 9. 2017 – S 7100b-1-St 171, DStR 2017, 2285 (2285); Sterzinger, UR 2012, 175 (184). 72 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (1), (a), (cc)); Rohde/Knobbe, NJW 2012, 2156 (2156); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 73 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (1), (a), (cc)); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 74 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (216); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 75 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 13 Rz. 21. 76 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 13 Rz. 20. 77 Ratschow, in: Klein, AO, § 37 Rz. 3. 69
§ 1 Umsatzsteuerrechtlicher Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis
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und Abs. 5a GG der Bund, die Länder und die Gemeinden (steuererhebungsberechtigte Gebietskörperschaften78).79 Sie sind Gemeinschaftsgläubiger und werden durch die zuständigen Behörden tätig.80 Die Verwaltung der Umsatzsteuer erfolgt durch die Landesfinanzbehörden (vgl. Art. 108 Abs. 2 und Abs. 3 GG), die die Rechte und Pflichten aus dem Schuldverhältnis zwischen dem Steuerschuldner der Umsatzsteuer und dem Steuergläubiger ausüben.81 Welche Landesfinanzbehörde im konkreten Fall zuständig ist, ergibt sich, wie bereits erörtert, für die Umsatzsteuer aus § 21 AO.82
III. Begriff des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis 1. Divergenz zwischen verschiedenen Finanzbehörden Infolge der Möglichkeit der unterschiedlichen örtlichen Zuständigkeiten der am Leistungsaustauch beteiligten Finanzbehörden sowie deren rechtlicher Unabhängigkeit voneinander ist es möglich, dass diese Finanzbehörden trotz Vorliegens ein und desselben Sachverhalts diesen umsatzsteuerrechtlich divergierend voneinander beurteilen.83 Ein umsatzsteuerrechtlicher Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis liegt demgemäß zunächst vor, wenn die für den leistenden Unternehmer und die für den Leistungsempfänger zuständigen unterschiedlichen Finanzbehörden widersprüchliche Rechtsauffassungen hinsichtlich desselben umsatzsteuerrechtlichen Sachverhalts vertreten.84 Zu beachten gilt es hierbei, dass die für die Unternehmer zuständigen Finanzbehörden entweder derselben öffentlich-rechtlichen Körperschaft oder unterschiedlichen öffentlich-rechtlichen Körperschaften angehören.85 Bei der öffentlichrechtlichen Körperschaft der zuständigen Finanzbehörde handelt es sich entweder 78
Arndt/Jenzen/Fetzer, Allgemeines Steuerrecht, S. 143. Drüen, FR 2008, 295 (295). 80 Arndt/Jenzen/Fetzer, Allgemeines Steuerrecht, S. 143. 81 Es liegt eine Bundesauftragsverwaltung vor (Art. 108 Abs. 3 GG). Siehe Drüen, FR 2008, 295 (295). 82 Rätke, in: Klein, AO, § 21 Rz. 1 u. 2. 83 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221); zur Möglichkeit der divergierenden Beurteilung auch siehe OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (cc)); Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (14); Lang-Horgan, MwStR 2013, 394 (395); Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 84 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 59; Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (14); Meyer-Burow/ Connemann, UStB 2016, 214 (216); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 969. 85 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 79
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
um den Bund oder um das Bundesland, welchem die Finanzbehörde angehört.86 Das Bundeszentralamt für Steuern (Bundesbehörde i. S. v. § 1 Nr. 2 FVG)87 gehört dem Bund als öffentlich-rechtliche Körperschaft an.88 Die Finanzämter (Landesfinanzbehörden i. S. v. § 2 Abs. 1 Nr. 4 FVG)89 gehören dem jeweiligen Bundesland als öffentlich-rechtliche Körperschaft an.90 Bei dem Bund sowie den Bundesländern handelt es sich um Gebietskörperschaften, die zu dem Oberbegriff der juristischen Personen des öffentlichen Rechts gehören.91 Finanzbehörden sind Organe der juristischen Personen des öffentlichen Rechts.92 Bund und Länder sind zudem sog. „Verbände“.93 Welcher Verband zuständig ist, wird von der verbandsmäßigen Zuständigkeit (sog. Verbandskompetenz) geregelt.94 Die Frage der verbandsmäßigen Zuständigkeit tritt gedanklich gesehen vor die Frage der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit.95 Strittig ist, ob zusätzlich zur örtlichen und sachlichen Zuständigkeit der Landesfinanzbehörden auch eine verbandsmäßige Zuständigkeit der einzelnen Landesfinanzbehörden existiert.96 Eine gesetzliche Regelung hierzu besteht, insbesondere in der AO, nicht.97 Nähme man eine verbandsmäßige Zuständigkeit der Landesfinanzbehörden an, bestünde eine ausschließliche Zuständigkeit der Landesfinanzbehörden im zugehörigen Bundesland.98 Eine über die Landesgrenzen hinausgehende Zuständigkeit der Landesfinanzbehörden wäre dementsprechend abzulehnen.99 Gegen die Annahme einer Verbandskompetenz der Landesfinanzbehörden spricht indes zunächst, dass die von einem Bundesland erlassenen Verwaltungsakte auch in 86
Jesse, BB 2020, 87 (88). Jesse, BB 2020, 87 (88). 88 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 89 Jesse, BB 2020, 87 (88). 90 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 91 Korn, in: Bunjes, UStG, § 2b Rz. 16; Wünsch, in: Koenig, AO, § 6 Rz. 5. 92 Wünsch, in: Koenig, AO, § 6 Rz. 5. 93 BVerfG v. 19. 8. 2011 – 2 BvG 1/10, BeckRS 2011, 54186 Rz. 55; Steinke, in: BeckOK AO, § 16 Rz. 31; Wünsch, in: Koenig, AO, § 16 Rz. 11. 94 Steinke, in: BeckOK AO, § 16 Rz. 31. 95 BFH v. 23. 11. 1972 – VIII R 42/67, BeckRS 1972, 22001882 (unter II., 1.); Loose, in: Boruttau, GrEStG, § 17 Rz. 11. 96 BFH v. 23. 11. 1972 – VIII R 42/67, BeckRS 1972, 22001882 (unter II., 1.); BFH v. 29. 10. 1979 – IV R 247/69, NJW 1971, 1335 (1335 f.); Rätke, in: Klein, AO, § 17 Rz. 5; Wünsch, in: Koenig, AO, § 16 Rz. 12. 97 BT-Drs. VI/1982, 196; Steinke, in: BeckOK AO, § 16 Rz. 30; Wünsch, in: Koenig, AO, § 16 Rz. 11. 98 Rätke, in: Klein, AO, § 17 Rz. 5. 99 BFH v. 16. 3. 2005 – VIII B 87/03, DStRE 2005, 977 (unter 1., a.); FG Saarland v. 15. 2. 2017 – 2 K 1149/14, BeckRS 2017, 94602 (unter 2.2.2); Rätke, in: Klein, AO, § 17 Rz. 5. 87
§ 1 Umsatzsteuerrechtlicher Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis
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jedem anderen Bundesland gelten.100 Würde man eine Verbandskompetenz der Bundesländer bejahen, stünde die Verbandskompetenz dem Land zu, in welchem der Lebensvorgang stattgefunden hat, der zur Verwirklichung des Steuertatbestandes geführt hat.101 Eine Verbandskompetenz der Landesfinanzbehörden wäre demnach ausschließlich bei gebietsgebundenen Steuern102 zu berücksichtigen.103 Die Umsatzsteuer ist jedoch keine gebietsgebundene Steuer.104 Denn nach Art. 107 Abs. 1 Satz 4 GG wird der Länderanteil an der Umsatzteuer nicht gemäß dem „Prinzip des örtlichen Aufkommens“ verteilt, sondern hauptsächlich nach Maßgabe der Einwohnerzahl der Länder.105 Eine etwaige verbandsmäßige Zuständigkeit der Finanzbehörden der einzelnen Bundesländer ist im Bereich der Umsatzsteuern demnach irrelevant.106 Vorliegend, im Bereich der Umsatzsteuern, ist der Streit, ob eine Verbandskompetenz der Finanzbehörden der einzelnen Bundesländer anzunehmen ist, schon deshalb nicht zu entscheiden. Demnach ist es vorliegend irrelevant, ob die am Vier-Parteien-Verhältnis beteiligten Finanzbehörden demselben Bundesland oder verschiedenen Bundesländern angehören. Sofern im Folgenden nicht differenziert107 wird, ob die für die Unternehmer zuständigen Finanzbehörden derselben oder verschiedenen Gebietskörperschaften, also verschiedenen juristischen Personen des öffentlichen Rechts angehören, bestehen für diese beiden Möglichkeiten vorliegend auch keine rechtlichen Unterschiede.
2. Divergenz innerhalb einer Finanzbehörde Eine widersprüchliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers ist auch denkbar, wenn für den Leistenden und den Leistungsempfänger dasselbe Finanzamt zuständig ist.108 Die widersprüchlichen Entscheidungen gegenüber den Unternehmern basieren in diesem Fall auf der unterschiedlichen Verantwortlichkeit 100
So Rätke, in: Klein, AO, § 17 Rz. 5; siehe auch Wünsch, in: Koenig, AO, § 16 Rz. 11. BFH v. 23. 11. 1972 – VIII R 42/67, BeckRS 1972, 22001882 (unter II., 1.). 102 Gebietsgebundene Steuern stellen z. B. die Gewerbesteuer und die Grundsteuer dar. Vgl. Rätke, in: Klein, AO, § 17 Rz. 5. 103 Wünsch, in: Koenig, AO, § 16 Rz. 12. 104 Wünsch, in: Koenig, AO, § 16 Rz. 12. 105 Rätke, in: Klein, AO, § 17 Rz. 5; Wünsch, in: Koenig, AO, § 16 Rz. 12. 106 FG Saarland v. 15. 2. 2017 – 2 K 1149/14, BeckRS 2017, 94602 (unter 2.2.2.); Rätke, in: Klein, AO, § 17 Rz. 5; Steinke, in: BeckOK AO, § 16 Rz. 33; Wünsch, in: Koenig, AO, § 16 Rz. 12. 107 Eine Differenzierung erfolgt jedoch im Rahmen der Ausführungen zum Finanzrechtsstreit einer der beiden Unternehmer unten unter: Erster Teil, § 3, VI., 3., c). 108 OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 – S 7100b-1-St 171, UR 2016, 293 (294); OFD Niedersachsen v. 19. 9. 2017 – S 7100b-1-St 171, DStR 2017, 2285 (2285); Sterzinger, UR 2012, 175 (184); Trinks, nwb Experten-Blog 2015, https://www.nwb-experten-blog.de/muessen-leistender-und-em pfaenger-umsatzteuerlich-gleich-behandelt-werden/ [Zugriffsdatum: 16.3.2021]. 101
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
der Bearbeiter (Finanzbeamten).109 Ein Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis liegt demnach zudem vor, wenn für den Leistenden und den Leistungsempfänger zwar dasselbe Finanzamt zuständig ist, die Unternehmer jedoch aufgrund widersprüchlicher umsatzsteuerrechtlicher Beurteilungen verschiedener Bearbeiter dieses Finanzamts unterschiedlich behandelt werden.110 Denkbar ist ferner, dass die Ungleichbehandlung durch denselben Bearbeiter erfolgt, weil dieser denselben Sachverhalt gegenüber den Unternehmern widersprüchlich behandelt. Solange und soweit sich in den vorstehenden Fällen keine rechtlichen Unterschiede ergeben, wird im Folgenden zur Vereinfachung ausschließlich von zwei unterschiedlich zuständigen Finanzbehörden gesprochen.
3. Beispiele widersprüchlicher Behandlungen Uneinheitliche Entscheidungen der Finanzbehörden können sich zur Steuerbarkeit oder zur Steuerpflicht eines Umsatzes sowie zum Steuersatz ergeben.111 Beispielsweise kann die Auslegungsfrage, wo sich der Ort der Leistung befindet, divergierend beurteilt werden.112 Die Entscheidung darüber, ob ein Umsatz im Inland oder im Ausland ausgeführt wurde, ist deshalb relevant, weil die Umsätze i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1, Nr. 4 und 5 UStG nur dann steuerbar sind, wenn sie im Inland ausgeführt wurden.113 Zudem kann zum Beispiel unterschiedlich beurteilt werden, ob es sich bei dem Leistenden um einen Unternehmer handelt.114 Diese Beurteilung ist wiederum deshalb relevant, weil gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG nur diejenigen Umsätze der Umsatzsteuer unterliegen, die ein Unternehmer ausführt. Ein weiteres Beispiel für eine relevante Uneinheitlichkeit ist die uneinheitliche Entscheidung über das Vorliegen einer Steuerbefreiung.115 Denn steuerpflichtig sind nur diejenigen
109 So etwa OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 – S 7100b-1-St 171, UR 2016, 293 (294), OFD Niedersachsen v. 19. 9. 2017 – S 7100b-1-St 171, DStR 2017, 2285 (2285); Sterzinger, UR 2012, 175 (184). 110 So etwa Sterzinger, UR 2012, 175 (184); Trinks, nwb Experten-Blog 2015, https://www. nwb-experten-blog.de/muessen-leistender-und-empfaenger-umsatzteuerlich-gleich-behandeltwerden/ [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. Dass dies möglich ist, lässt sich z. B. aus den Verfügungen der OFD Niedersachsen schlussfolgern. Vgl. OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 – S 7100b-1-St 171, UR 2016, 293 (294); OFD Niedersachsen v. 19. 9. 2017 – S 7100b-1-St 171, DStR 2017, 2285 (2285). 111 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 112 Prätzler, jurisPR-SteuerR 32/2010 Anm. 5; Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 113 Robisch, in: Bunjes, UStG, § 1 Rz. 145. 114 Sterzinger, UR 2012, 175 (184); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 115 Sterzinger, UR 2012, 175 (184).
§ 1 Umsatzsteuerrechtlicher Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis
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steuerbaren Umsätze, die nicht nach den §§ 4, 4b, 5, 6, 6a, 7 und 8 UStG steuerbefreit sind.116
IV. Problematik aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis 1. Problematik für den Leistenden und den Leistungsempfänger Dass für den leistenden Unternehmer ein Konfliktfall aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis vorliegen kann, veranschaulicht das ADV AllroundUrteil117 des EuGH.118 In dieser Rechtssache stellte das in Deutschland ansässige leistende Unternehmen (ADV Allround Vermittlungs AG, eine Gesellschaft deutschen Rechts; im Folgenden: ADV Allround) den im Ausland ansässigen Unternehmern zunächst Rechnungen ohne deutsche Umsatzsteuer aus. ADV Allround vermittelte an hauptsächlich in Italien ansässige Speditionen Lastkraftwagenfahrer, die ihrerseits selbständig tätig waren. Die Fahrer stellten ADV Allround ihre Kosten in Rechnung, und ADV Allround stellte wiederum seinen Kunden Rechnungen für die Vermittlung dieser Fahrer. Grund dafür, dass die Rechnungen von ADV Allround keine Umsatzsteuer auswiesen, war, dass ADV Allround davon ausging, dass es sich bei seinen Leistungen um „Gestellung von Personal“ i. S. v. § 3a Abs. 4 Nr. 7 UStG i. d. F. bis 31. 12. 2009 handele und der Leistungsort somit nicht im Inland (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG) sei, sondern gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 UStG i. d. F. bis 31. 12. 2009119 in Italien. Das für ADV Allround zuständige Finanzamt war hingegen im Rahmen einer Betriebsprüfung der Auffassung, dass die Leistungen in Deutschland steuerbar und steuerpflichtig seien. Nach dessen Ansicht sei die Vermittlung von selbständig tätigem Personal keine „Gestellung von Personal“, und infolgedessen sei nach § 3a Abs. 1 UStG i. d. F. bis 31. 12. 2009 der Leistungsort120 der Ort, an welchem sich der Sitz von 116
Robisch, in: Bunjes, UStG, § 1 Rz. 1. EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 – 221. 118 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15); Weimann, StB 2014, 398 (398). 119 § 3a Abs. 3 Satz 1 UStG i. d. F. bis 31. 12. 2009 lautete: „Ist der Empfänger einer der in Absatz 4 bezeichneten sonstigen Leistungen ein Unternehmer, so wird die sonstige Leistung abweichend von Absatz 1 dort ausgeführt, wo der Empfänger sein Unternehmen betreibt.“ § 3a Abs. 1 UStG in i. d. F. bis 31. 12. 2009 normierte, dass eine sonstige Leistung grundsätzlich an dem Ort ausgeführt wird, von dem aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt. Dies galt auch dann, wenn es sich bei dem Leistungsempfänger um einen Unternehmer handelte. 120 Beachte: Rechtlich anders zu beurteilen wäre dieser Sachverhalt nach jetziger Rechtslage. Denn nach dem derzeit geltenden § 3a Abs. 2 S. 1 UStG ist Leistungsort einer sonstigen Leistung, die an einen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird, grundsätzlich der Ort, von dem aus der Empfänger sein Unternehmen betreibt. Da die vorliegende Rechtssache jedoch nur zur Veranschaulichung der Problematik widersprüchlicher Entscheidungen dient und widersprüchliche Entscheidungen in vielfältiger Weise denkbar sind, ist die Änderung der Rechtslage vorliegend irrelevant. 117
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
ADV Allround befinde.121 ADV Allround ließ daraufhin den italienischen Kunden nachträglich angepasste Rechnungen, die nun die Umsatzsteuer auswiesen, zukommen und erwartete dabei, dass die Leistungsempfänger die Umsatzsteuerbeträge erstattet bekommen würden.122 Die im Ausland ansässigen Leistungsempfänger verweigerten indes die nachträgliche Zahlung der Umsatzsteuer an ADV Allround und führten an, die für sie zuständige Finanzbehörde, das Bundeszentralamt für Steuern, habe die Vergütung der Vorsteuer mangels Steuerbarkeit in Deutschland abgelehnt.123 Dieses Amt war nämlich der Ansicht, dass die Leistungen von ADV Allround sehr wohl als „Gestellung von Personal“ anzusehen seien, sich der Leistungsort damit nach dem Ort richte, an dem die Leistungsempfänger ansässig seien und die Leistungen mithin nicht im Inland erbracht worden seien.124 Nach Ansicht des Bundeszentralamts für Steuern sei die in den geänderten Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer irrtümlich ausgewiesen.125 Damit läge ein unrichtiger Steuerausweis vor, der einen Vorsteuerabzug ausschließe.126 Zwar war die ursprüngliche Rechtsauffassung der Klägerin (ADV Allround) im Ergebnis korrekt, da die Dienstleistungen als „Gestellung von Personal“ einzustufen waren und demgemäß nicht in Deutschland steuerbar waren,127 zum Zeitpunkt der Entscheidung des EuGH war ADVAllround jedoch bereits in Insolvenz geraten128.Grund hierfür war, dass für das Unternehmen keine Chance bestand, seine Dienstleistungen mit einem um damals 16 %129 höheren Preis ohne Vorsteuererstattungsmöglichkeit für die Kunden auf dem Markt durchzusetzen.130 Außerdem wurden die Umsatzsteuerbeträge von den italienischen Kunden aufgrund der abweichenden Rechtsauffassung des Bundeszentralamts für Steuern im Nachhinein nicht beglichen.131 Problematisch war für ADVAllround, dass ihre Gewinnmarge (lediglich) 8 % bis 20 % betrug.132 Für ADV Allround waren die widersprüchlichen Entscheidungen der beteiligten Finanzbehörden mithin „wirtschaftlich ruinös“133. 121
Vgl. zu den Ausführungen des ersten Teils dieses Absatzes EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/ 10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 (219); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15); Burgmaier, UR 2012, 175 (179 f.). 122 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1119). 123 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 14 – 15. 124 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 (219). 125 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1119). 126 Weimann, StB 2014, 398 (398). 127 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 32. 128 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 15; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (49). 129 Der damalige Regelsteuersatz für die Umsatzsteuer betrug 16 %. 130 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1119). 131 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1119). 132 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 15. 133 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1122).
§ 1 Umsatzsteuerrechtlicher Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis
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Das ADV Allround-Urteil zeigt nicht nur die für den leistenden Unternehmer bestehende Problematik aufgrund des Vorliegens eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis auf, sondern veranschaulicht gleichzeitig, dass bei Vorliegen eines solchen Widerstreits darüber hinaus für den Leistungsempfänger134 ein Konfliktfall entstehen kann. Hätten die im Ausland ansässigen Leistungsempfänger die Umsatzsteuerbeträge bereits an den im Inland ansässigen leistenden Unternehmer bezahlt gehabt, bevor das für die Vergütung der Vorsteuern zuständige Bundeszentralamt für Steuern die Vergütung der Vorsteuer der Leistungsempfänger abgelehnt hatte, hätten die Leistungsempfänger möglicherweise anstelle des leistenden Unternehmers die Umsatzsteuer selbst tragen müssen. Denn für sie wäre es problematisch gewesen, wenn sich diesmal der leistende Unternehmer geweigert hätte, den Leistungsempfängern die Umsatzsteuerbeträge zurückzuerstatten. In diesem Fall hätte der Leistende anführen können, dass er die Umsatzsteuerbeträge an sein Finanzamt abführen musste. Behandelt das Finanzamt des leistenden Unternehmers den Umsatz als steuerbar und steuerpflichtig, gibt es für den leistenden Unternehmer keinen Grund, den Leistungsempfängern die empfangenen Umsatzsteuerbeträge zurückzugewähren.135
2. Keine Problematik bei widerspruchsfreier Behandlung In der Rechtssache ADV Allround musste der leistende Unternehmer die Umsatzsteuer im Ergebnis selbst tragen, weil das für ihn zuständige Finanzamt und das für die Leistungsempfänger zuständige Bundeszentralamt für Steuern an ihren widersprüchlichen umsatzsteuerrechtlichen Entscheidungen festhielten.136 Das für den leistenden Unternehmer zuständige Finanzamt hielt an der Auffassung fest, dass die Umsätze des leistenden Unternehmers steuerpflichtig seien, während das für die Vergütung der Vorsteuern der Leistungsempfänger zuständige Bundeszentralamt für Steuern hingegen an der Auffassung festhielt, dass die Leistungen nicht steuerbar seien und infolgedessen keine Vorsteuer vergütet werden dürfe.137 Hätte das Bundeszentralamt für Steuern dieselbe Rechtsauffassung vertreten wie das Finanzamt des leistenden Unternehmers, auch wenn diese im Ergebnis falsch war, und hätte es die Vorsteuer spiegelbildlich zur nachgezahlten Umsatzsteuer durch ADV Allround vergütet, hätten sich die Leistungsempfänger möglicherweise nicht geweigert, ADV Allround die Umsatzsteuer nachzuzahlen. ADVAllround wäre bei Nachzahlung der Umsatzsteuerbeträge durch die Leistungsempfänger von der Insolvenz infolge unterschiedlicher umsatzsteuerrechtlicher Beurteilungen ein und desselben Sachver134
Zur Problematik für den Leistungsempfänger siehe z. B. Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789); Weimann, ASR 05/2014, 8, (8); Weimann, StB 2014, 398 (399). 135 Weimann, ASR 06/2012, 10 (10). 136 Weimann, StB 2014, 398 (398); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 137 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 (219); Weimann, StB 2014, 398 (398).
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
halts durch die am Leistungsaustausch beteiligten Finanzbehörden verschont geblieben.138 Würde die Finanzbehörde des Leistungsempfängers der Rechtsauffassung der Finanzbehörde des Leistenden über die Steuerpflicht eines Umsatzes folgen, bestünde auch für den Leistungsempfänger nicht das Risiko, dass er dem Leistenden den Umsatzsteuerbetrag zahlt, diesen jedoch nicht von seiner Finanzbehörde erstattet bekommt.139 Überdies würde für den leistenden Unternehmer kein Risiko bestehen, einen Umsatzsteuerbetrag abführen zu müssen, obwohl sich der Leistungsempfänger weigert, dem Leistenden diesen zu bezahlen, wenn die Finanzbehörde des Leistenden umgekehrt der Rechtsauffassung der Finanzbehörde des Leistungsempfängers dahingehend folgen würde, dass kein steuerbarer oder steuerpflichtiger Umsatz vorliegt. Auch dem Leistungsempfänger käme solch eine Situation zu Gute, da der leistende Unternehmer vom Leistungsempfänger in diesem Fall, je nach zivilrechtlicher Vereinbarung, keine (nachträgliche) Zahlung des Umsatzsteuerbetrags verlangen würde.
3. Problematische Divergenz für die Unternehmer und für den Fiskus Das ADV Allround-Urteil verdeutlicht, dass ein Widerstreit im Vier-ParteienVerhältnis für die Unternehmer allein dann problematisch ist, wenn die für den leistenden Unternehmer zuständige Finanzbehörde von der Steuerbarkeit und Steuerpflicht einer Leistung ausgeht, die für den Leistungsempfänger zuständige Finanzbehörde hingegen davon ausgeht, dass dieselbe Leistung nicht steuerbar oder nicht steuerpflichtig ist.140 Umgekehrt ist indes auch denkbar, dass das Finanzamt des Leistenden eine Nichtsteuerbarkeit oder Steuerfreiheit eines Umsatzes annimmt, die Finanzbehörde des Leistungsempfängers hingegen denselben Umsatz für steuerbar und steuerpflichtig hält.141 Diese Situation wäre jedoch allein für den Fiskus problematisch, da dem Leistungsempfänger in diesem Fall der Vorsteuerabzug gewährt wird, obwohl der Leistende keine Umsatzsteuer abzuführen hat.142 Hier kann es mithin zu einem Steuerausfall kommen.143 Sofern in den nachfolgenden Ausführungen von einem Widerstreit im VierParteien-Verhältnis gesprochen wird, ist von ersterer Situation auszugehen. 138
So etwa Weimann, StB 2014, 398 (398). Weimann, ASR 05/2014, 8, (8). 140 Weinschütz, EuZW 2019, 219 (222). 141 Weinschütz, EuZW 2019, 219 (222). 142 Weinschütz, EuZW 2019, 219 (222); siehe hierzu auch Antrag des Landes NordrheinWestfalen, BR-Drs. 310/18, S. 8 Nr. 4. 143 Weinschütz, EuZW 2019, 219 (222); siehe hierzu auch Antrag des Landes NordrheinWestfalen, BR-Drs. 310/18, S. 8 Nr. 4. 139
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 39
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? Wäre eine Symmetrie zwischen der Umsatzsteuer und der Vorsteuer hinsichtlich ein und desselben Umsatzes gesetzlich sichergestellt, würde sich das Problem der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers nicht stellen. Infolgedessen stellt sich die Frage, ob die Unternehmer nach jetziger Rechtslage aus materiell-rechtlichen144 (dazu § 2) oder aus verfahrensrechtlichen Gründen (dazu § 3) einen Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung des zwischen ihnen bestehen Umsatzes gegen die für sie zuständigen Finanzbehörden haben.145 Um die Frage zu beantworten, ob der Anspruch aus materiell-rechtlichen Gründen besteht, wird im Folgenden analysiert, ob ein Gleichlauf zwischen der vom leistenden Unternehmer abzuführenden Umsatzsteuer und der Vorsteuer des Leistungsempfängers hinsichtlich desselben Umsatzes materiell-rechtlich vorgesehen ist (dazu § 2).146 Sollte materiell-rechtlich eine gegenseitige Abhängigkeit von Umsatzsteuer und Vorsteuer zu bejahen sein, könnte man hieraus möglicherweise ein Anspruch147 auf widerspruchsfreie Behandlung oder eine Bindungswirkung148 der Entscheidungen der Finanzbehörden herleiten. Außerdem soll herausgearbeitet werden, weshalb rechtlich überhaupt die Gefahr besteht, dass die Unternehmer bei einem umsatzsteuerrechtlichen Widerstreit die Umsatzsteuer selbst tragen müssen.149 Im Folgenden wird zwischen den umsatzsteuerrechtlichen Regelungen die den Leistenden betreffen (dazu § 2, I.), und denen, die den Leistungsempfänger betreffen (dazu § 2, II.), differenziert
I. Umsatzsteuerrechtliche Lage für den Leistenden Um zu untersuchen, ob der Leistende aus materiell-rechtlichen Gründen gegen seine Finanzbehörde einen Anspruch auf widerspruchsfreie Beurteilung hat und weshalb für ihn nach jetziger Rechtslage die Gefahr besteht, die Umsatzsteuer
144 Zum Anspruch explizit aus materiell-rechtlichen Gründen vgl. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450. 145 Zur Frage des Anspruchs auf widerspruchsfreie Behandlung vgl. Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816); Weimann, UStB 2010, 350 (350); Weimann, UStB 2012, 176 (176). 146 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121): „Gleichklang von Steuerbarkeit und Steuerpflicht einerseits und Vorsteuerabzugsberechtigung andererseits“. 147 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 148 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450. 149 Zur Möglichkeit einer Effektivbelastung des Unternehmers mit der Umsatzsteuer siehe FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1119); Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218).
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
aufgrund widersprüchlicher Beurteilungen selbst tragen zu müssen, wird vorliegend zunächst die für den Leistenden bestehende umsatzsteuerrechtliche Lage dargelegt.
1. Steuerbarkeit und Steuerpflicht eines Umsatzes sowie Steuerschuldnerschaft Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG, welcher den Grundtatbestand des Umsatzsteuerrechts verkörpert,150 sind Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt, steuerbar. Eine Ausnahme hiervon bilden Umsätze, die im Rahmen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen erfolgen.151 Diese sind nach § 1 Abs. 1a UStG auch dann nicht steuerbar, wenn die Voraussetzungen für deren Steuerbarkeit erfüllt wären.152 Steuerbar sind des Weiteren die Einfuhr von Gegenständen im Inland nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG (i. V. m. §§ 11, 21 UStG) und der innergemeinschaftliche Erwerb nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 UStG (i. V. m. § 1a UStG). Steuerpflichtig sind allerdings nur diejenigen steuerbaren Umsätze, die nicht nach den §§ 4, 4b, 5, 6, 6a, 7 und 8 UStG steuerbefreit sind.153 Es ist folglich stets zwischen Steuerbarkeit und Steuerpflicht zu unterscheiden.154 Der leistende Unternehmer ist nach § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG grundsätzlich155 Steuerschuldner. Steuerschuldner ist, wer die Steuer als eigene Schuld schuldet.156 Die Steuerbarkeit und die Steuerpflicht der Umsätze des Leistenden sowie dessen Steuerschuldnerschaft entstehen nach den Regelungen des Umsatzsteuergesetzes materiell-rechtlich unabhängig davon, ob dem Leistungsempfänger hinsichtlich desselben Umsatzes ein Recht auf Vorsteuerabzug zusteht.157
150
Radeisen, in: Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 1 UStG Rz. 32; Stadie, UStG, § 13a Rz. 4. 151 Janzen, in: Lippross/Seibel, Basiskommentar Steuerrecht, § 1 Rz. 119. 152 Peltner, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 1 Rz. 38.1. 153 Robisch, in: Bunjes, UStG, § 1 Rz. 1. 154 Radeisen, in: Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 1 UStG Rz. 3. 155 Ausnahmen von dem in § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG normierten Grundsatz ergeben sich aus den §§ 1 Abs. 1 Nr. 5 i. V. m. § 13a Abs. 1 Nr. 2, § 6a Abs. 4 Satz 2, § 13b und § 25b Abs. 2 UStG.Vgl. Stadie, UStG, § 13a Rz. 1. 156 Arndt/Jenzen/Fetzer, Allgemeines Steuerrecht, S. 142. 157 Vgl. dazu BFH v. 4. 4. 2003 – V B 212/02, BeckRS 2003, 25001869.
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 41
2. Entstehung der Umsatzsteuerschuld Wann die Umsatzsteuerschuld des Leistenden entsteht, richtet sich nach § 13 UStG.158 § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und b UStG, der den Entstehungszeitpunkt der Umsatzsteuer bei Lieferungen und sonstigen Leistungen betrifft, differenziert zwischen der Entstehung der Steuer bei der Berechnung der Steuer nach vereinbarten Entgelten (vgl. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a UStG; sog. Soll-Besteuerung i. S. v. § 16 Abs. 1 Satz 1 UStG) und der Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten (vgl. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG; sog. Ist-Besteuerung i. S. v. § 20 UStG).159 Es erfolgt grundsätzlich eine Soll-Besteuerung.160 Denn die Ist-Besteuerung ist ausschließlich bei Vorliegen einer der in § 20 UStG ausdrücklich normierten Fällen möglich.161 Fällig ist die entstandene Umsatzsteuer sowohl bei Vorliegen der Soll-Besteuerung als auch bei Vorliegen der Ist-Besteuerung grundsätzlich162 am 10. Tag nach Ablauf des Voranmeldungszeitraums (vgl. § 18 Abs. 1 Satz 4 UStG).163 a) Bedeutung der Soll-Besteuerung für das vorliegende Problem aa) Entstehen der Steuerschuld trotz Möglichkeit eines Widerstreits Die vom Leistenden abzuführende Umsatzsteuer entsteht grundsätzlich164 unabhängig vom Erhalt der Gegenleistung.165 Denn gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 1 UStG entsteht die Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen ausgeführt worden sind. Das Vorliegen einer Soll-Besteuerung bedeutet demgemäß, dass der Leistende die Umsatzsteuer vorfinanzieren muss,166 sofern er diese zum Zeitpunkt von deren Fälligkeit (§ 18 Abs. 1 Satz 4 UStG) noch nicht vom Leistungsempfänger einge-
158
BFH v. 9. 5. 1996 – V R 62/94, DStR 1996, 1564 (unter 1.). Kostecka, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 13 Rz. 2. 160 Grünwald, DStR 2012, 998 (998); Hummel, UR 2015, 213 (220); Wesselbaum-Neugebauer, UR 2004, 401 (402 ff.); Widmann, UR 2004, 177 (177). 161 Leonard/Korn, in: Bunjes, UStG, § 13 Rz. 10. 162 Für die Besteuerungszeiträume 2021 bis 2026 vgl. aber § 18 Abs. 2 Satz 6 UStG z. B. bei Aufnahme der gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit im laufenden Kalenderjahr. 163 Frye, UR 2013, 561 (562 f.); Leonard/Heidner, in: Bunjes, UStG, § 18 Rz. 7. 164 Zur Ausnahme vgl. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 4 UStG. 165 BFH v. 22. 8. 2019 – V R 47/17, BB 2020, 32 Rz. 23; BFH v. 31. 5. 2001 – V R 71/99, BStBl. 2003, 206; Feil, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 10 Rz. 32.3; Frye, UR 2013, 561 (562); Wesselbaum-Neugebauer, UR 2004, 401 (403). 166 Wesselbaum-Neugebauer, UR 2004, 401 (402). 159
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
nommen hat.167 Der Leistende muss die Umsatzsteuer demgemäß abführen, ohne zu wissen, ob er diese deshalb nicht vereinnahmen wird, weil sich der Leistungsempfänger infolge der Versagung des Vorsteuerabzugs durch seine Finanzbehörde weigert, ihm den Umsatzsteuerbetrag zu zahlen (Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis). Überdies entsteht die Steuerschuld des Leistenden bei Anwendung der SollBesteuerung unabhängig davon, ob dem Leistungsempfänger hinsichtlich desselben Umsatzes ein Recht auf Vorsteuerabzug zusteht.168 bb) Höhe der abzuführenden Umsatzsteuer bei Widerstreit Bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis und Anwendung der Soll-Besteuerung ist für den Leistenden relevant, in welcher Höhe er die Umsatzsteuer abzuführen hat. Für die Höhe der abzuführenden Umsatzsteuer ist von Bedeutung, welchen Umfang der steuerpflichtige Umsatz hat.169 Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 UStG170 wird der steuerpflichtige Umsatz bei Lieferungen und sonstigen Leistungen nach dem Entgelt bemessen. Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG ist Entgelt ist alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der leistende Unternehmer vom Leistungsempfänger oder von einem Dritten für die Leistung erhält oder erhalten soll, jedoch abzüglich der für diese Leistung gesetzlich geschuldeten Umsatzsteuer. Entgelt ist im Ergebnis folglich alles, was der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten, jedoch abzüglich der Umsatzsteuer.171 Das Entgelt i. S. v. § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG hat die Funktion der Bemessungsgrundlage und ist allein als Rechengröße zu verstehen.172 § 10 UStG legt folglich fest, auf welche Bemessungsgrundlage der Umsatzsteuersatz (vgl. § 12 UStG) anzuwenden ist.173 Indem der Umsatzsteuersatz auf die Bemessungsgrundlage angewendet wird, wird die Höhe der abzuführenden Umsatzsteuer bestimmt.174 Die Bemessungsgrundlage, anhand derer
167
BFH v. 22. 7. 2010 – V R 4/09, DStR 2010, 2349 Rz. 44; Frye, UR 2013, 561 (562); Maunz, DStR 2018, 2572 (2573); Stadie, UR 2004, 136 (139). 168 Vgl. dazu BFH v. 4. 4. 2003 – V B 212/02, BeckRS 2003, 25001869. 169 Feil, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 10 Rz. 1. 170 Weitere Bemessungsgrundlagen sind nach § 12 Abs. 1 UStG in den §§ 11, 25 Abs. 3 und § 25a Abs. 3 und 4 UStG normiert. Vgl. Schmölz, in: BeckOK UStG, § 12 Rz. 1. 171 BFH v. 22. 4. 2015 – XI R 43/11, MwStR 2015, 688 (691). Das Entgelt ist somit als Nettoentgelt zu verstehen. Zudem ist stets zwischen dem zivilrechtlich vereinbarten Preis und dem Nettoentgelt, welches enger ist, zu unterscheiden. Siehe Schwarz, in: Schwarz/Widmann/ Radeisen, UStG, § 10 Rz. 40. 172 Hummel, UR 2016, 289 (290). Damit ist das Entgelt i. S. v. § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG nicht mit der Gegenleistung des Leistungsempfängers gleichzusetzen. Siehe Hummel, UR 2015, 213 (213 u. 218). 173 Feil, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 10 Rz. 1; Schwarz, in: Schwarz/Widmann/ Radeisen, UStG, § 10 Rz. 1. 174 Schwarz, in: Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 10 Rz. 1.
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 43
die Höhe der abzuführenden Umsatzsteuer berechnet wird, ist zum Zeitpunkt der Entstehung der Steuer festzulegen.175 Im Rahmen der Soll-Besteuerung ist der Betrag, den der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten, zum Zeitpunkt der Entstehung der Steuer, das heißt zum Zeitpunkt der Leistungsausführung, noch nicht endgültig bestimmbar, wenn die Steuer in einem Voranmeldungszeitraum entsteht, in welchem noch keine Gegenleistung des Leistungsempfängers (oder eines Dritten)176 erfolgt ist.177 In diesem Fall richtet sich die Höhe des Entgelts vorerst nach der vereinbarten Gegenleistung, das heißt nach der zivilrechtlichen Abrede.178 Haben der Leistende und der Leistungsempfänger einen Betrag zuzüglich Umsatzsteuer (z. B.: vereinbarter Nettopreis „zzgl. gesetzlicher Umsatzsteuer“ (Nettopreisabrede))179 vereinbart, ist Bemessungsgrundlage vorerst der zivilrechtlich vereinbarte Nettopreis („erhalten soll“, § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG).180 Bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis und gleichzeitigem Vorliegen einer Nettopreisabrede richtet sich die Höhe der abzuführenden Umsatzsteuer, sofern noch überhaupt keine Zahlung des Leistungsempfängers erfolgt ist, demnach zunächst danach, in welcher Höhe die Unternehmer den Nettopreis zivilrechtlich für die Leistung vereinbart haben. Der Leistende muss folglich zunächst den auf das vereinbarte Nettoentgelt (z. B. i. H. v. 100 Euro) entfallenden Umsatzsteuerbetrag (z. B. i. H. v. 19 Euro bei Anwendung des Regelsteuersatzes gem. § 12 Abs. 1 UStG) ungeachtet dessen abführen, ob der Leistungsempfänger in einem späteren Voranmeldungszeitraum die Zahlung des vereinbarten Umsatzsteuerbetrags (19 Euro) infolge eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis verweigert. Fraglich ist, ob es einer anderen rechtlichen Bewertung bedarf, wenn der Leistende und der Leistungsempfänger beide davon ausgegangen sind, dass ein Umsatz nicht der Umsatzsteuer unterliegt, eine Gegenleitung ohne Umsatzsteuer vereinbart haben181, das Finanzamt des Leistenden jedoch von der Steuerpflicht des Umsatzes ausgeht und die Umsatzsteuer nachträglich festsetzt182. In diesem Fall ist der zivilrechtlich vereinbarte Betrag in den Nettobetrag und in die auf diesen entfallende
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Treiber, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 10 Rz. 142. Treiber, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 10 Rz. 148. 177 Treiber, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 10 Rz. 143. 178 BFH v. 1. 9. 2010 – V R 32/09, DStRE 2011, 306 (307); Hummel, UR 2015, 213 (220); Treiber, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 10 Rz. 142. 179 Treiber, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 10 Rz. 50. 180 Feil, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 10 Rz. 27. 181 Vgl. hierzu BFH v. 22. 4. 2015 – XI R 43/11, MwStR 2015, 688 (691); BFH v. 16. 11. 2016 – V R 1/16, DStR 2017, 872 Rz. 27; Korn, in: Bunjes, UStG, § 10 Rz. 22. 182 So wie es zunächst im ADV Allround-Urteil war. Vgl. EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 (219). 176
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
Umsatzsteuer aufzuteilen.183 Angemerkt sei, dass das Herausrechnen immer dann vorzunehmen ist, wenn eine Rechnung allein einen Bruttopreis (Bruttopreisabrede)184 ausweist.185 In dem Fall, dass die Umsatzsteuer herauszurechnen ist, könnte man annehmen, dass für den Leistenden keine dauerhafte Problemlage aufgrund widersprüchlicher Entscheidungen der Finanzbehörden entsteht. Denn zahlt der Leistungsempfänger dem Leistenden die zivilrechtlich vereinbarte Gegenleistung, hat der Leistende im Ergebnis die abzuführende herausgerechnete Umsatzsteuer (z. B. i. H. v. 15,97 Euro, sofern die vereinbarte Gegenleistung 100 Euro beträgt) trotz Vorliegens eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis vom Leistungsempfänger erhalten. Allerdings droht dem Leistenden auch in diesem Fall das Risiko, den Umsatzsteuerbetrag aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis im Ergebnis selbst tragen zu müssen, da sich der vom Leistenden ursprünglich kalkulierte Nettoumsatz (z. B. 100 Euro) in der Höhe des abzuführenden Umsatzsteuerbetrags (z. B. 15,97 Euro) mindert (z. B. verbleibender Nettoumsatz: 84,03 Euro). Wäre der Leistende von der Steuerpflicht des Umsatzes ausgegangen, hätte er den Umsatzsteuerbetrag von Anfang an auf seinen kalkulierten Nettoumsatz aufgeschlagen, damit der Umsatzsteuerbetrag für ihn lediglich einen durchlaufenden Posten darstellt.186 Damit kann auch bei Herausrechnen der Umsatzsteuer eine Problemlage für den Leistenden aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis entstehen. cc) Bedeutung der Regelung der Uneinbringlichkeit für das vorliegende Problem Hat der Leistende die Umsatzsteuer im Rahmen der Soll-Besteuerung an den Fiskus abgeführt, bevor er diese als Teil der Gegenleistung des Leistungsempfängers eingenommen hat, besteht für ihn das Risiko, dass sich der Leistungsempfänger weigert, die vereinbarte Gegenleistung trotz bereits erfolgter Leistungsausführung durch den leistenden Unternehmer zu erbringen.187 Auch besteht das Risiko, dass der Leistende nur einen Teil der vereinbarten Gegenleistung erhält.188 Dieses Risiko realisiert sich, wenn sich der Leistungsempfänger aufgrund der Versagung seines Vorsteuerabzugs (Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis) weigert, den Umsatzsteuerbetrag (z. B. i. H. v. 19 Euro) als Teil der vereinbarten Gegenleistung (z. B. 183 EuGH v. 7. 11. 2013 – C-249/12 – Tulica und Plavosin, DStRE 2014, 816 Rz. 45 ff.; BFH v. 20. 1. 1997 – V R 28/95, DStRE 1997, 1022 (1024); BFH v. 22. 4. 2015 – XI R 43/11, MwStR 2015, 688 (691); BFH v. 16. 11. 2016 – V R 1/16, Rz. 27; Grünwald, in: Guhling/Günter, Gewerberaummiete, § 10 UStG Rz. 6. 184 Treiber, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 10 Rz. 48. 185 Heidner, in: Bunjes, UStG, § 12 Rz. 10; Schmölz, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 12 Rz. 17. 186 So etwa Frye, UR 2013, 561 (561). 187 Frye, UR 2013, 561 (562). 188 So etwa Korn, in: Bunjes, UStG, § 17 Rz. 61.
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 45
i. H. v. 119 Euro) an den Leistenden zu zahlen und allein den Nettobetrag (z. B. i. H. v. 100 Euro) begleicht. Bei einer späteren Abweichung zwischen vereinbarten und tatsächlich vereinnahmten Entgelten erfolgt jedoch eine Korrektur über § 17 UStG.189 Im Rahmen der Soll-Besteuerung soll die Regelung über die Uneinbringlichkeit190 des vereinbarten Entgelts (§ 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG) dafür Sorge tragen, dass für den leistenden Unternehmer im Einzelfall keine unverhältnismäßige Besteuerung stattfindet.191 Verweigert der Leistungsempfänger aufgrund der Versagung seines Vorsteuerabzugs im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis die Zahlung des Umsatzsteuerbetrags als Teil der vereinbarten Gegenleistung in einem späteren Voranmeldungszeitraum als in dem Voranmeldungszeitraum, in welchem die Umsatzsteuerschuld des Leistenden bereits entstanden ist,192 könnte ein Fall der teilweisen Uneinbringlichkeit des vereinbarten Entgelts i. S. v. § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG vorliegen. Sofern das vereinbarte Entgelt uneinbringlich geworden ist, hat der Unternehmer, der diesen Umsatz ausgeführt hat, den dafür geschuldeten Steuerbetrag nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 UStG zu berichtigen193. Zunächst gilt es zu beachten, dass der Begriff des ,,vereinbarten Entgelts“ i. S. v. § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG die vereinbarte Gegenleistung meint und nicht das Entgelt i. S. v. § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG.194 Das Entgelt i. S. v. § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG ist eine reine Rechengröße und ist demnach keiner Vereinbarung zugänglich.195 Somit ist der Begriff des Entgelts gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG, als reine Bemessungsgrundlage, nicht mit dem Begriff des „vereinbarten Entgelts“ nach § 17 189
Hummel, UR 2015, 213 (220 f.); Korn, in: Bunjes, UStG, § 10 Rz. 42. Dies hat zur Folge, dass es für die Höhe des Entgelts beziehungsweise für die Höhe der auf Grundlage dieses Entgelts berechneten Umsatzsteuer im Ergebnis unbeachtlich ist, ob eine Soll-Besteuerung oder eine Ist-Besteuerung erfolgt. Siehe Korn, in: Bunjes, UStG, § 10 Rz. 42. 190 Die Uneinbringlichkeit des vereinbarten Entgelts ist ein Unterfall der Änderung (Minderung) der Bemessungsgrundlage nach § 17 Abs. 1 UStG. Siehe BFH v. 22. 4. 2004 – V R 72/03, DStR 2004, 1214 (1215); Korn, in: Bunjes, UStG, § 17 Rz. 59. 191 BFH v. 22. 7. 2010 – V R 4/09, DStR 2010, 2349 Rz. 44; Hummel, MwStR 2014, 168 (171); Meyer, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 17 Rz. 16. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es, dass dem Leistenden nicht die Pflicht auferlegt wird, die Umsatzsteuer längerfristig vorfinanzieren zu müssen. Bei der Auslegung des Begriffs der Uneinbringlichkeit ist dieser Umstand zu berücksichtigen. Siehe Meyer, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 17 Rz. 77. Nach Ansicht des BFH liegt Uneinbringlichkeit i. S. d. § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG vor, wenn die Steuer über zwei Jahre vorfinanziert werden muss. Vgl. BFH v. 24. 10. 2013 – V R 31/12, DStR 2014, 262 Rz. 19 u. 21. 192 Nach § 18 Abs. 1 Satz 4 UStG ist Umsatzsteuer am 10. Tag nach Ablauf des Voranmeldungszeitraums fällig, in welchem sie entstanden ist. 193 Sofern das Entgelt nachträglich vereinnahmt wird, erfolgt eine erneute Berichtigung des Steuerbetrags und des Vorsteuerabzugs (§ 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG). 194 Hummel, UR 2015, 213 (221); Hummel, UR 2016, 289 (290); Stadie, MwStR 2016, 481 (482). 195 Hummel, UR 2016, 289 (290).
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG gleichzusetzen.196 Des Weiteren gilt es zu beachten, dass die vereinbarte Gegenleistung den Umsatzsteuerbetrag umfasst.197 Dies bedeutet wiederum, dass der Leistungsempfänger einen Teil des vereinbarten Entgelts i. S. v. § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG nicht zahlt, sofern er den Umsatzsteuerbetrag als Teil der vereinbarten Gegenleistung infolge eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nicht zahlt. Fraglich ist, ob das vereinbarte Entgelt teilweise in der Höhe des Umsatzsteuerbetrags uneinbringlich ist, wenn eine Zahlungsverweigerung des Leistungsempfängers, die auf einem Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis beruht, vorliegt. Eine Definition des Begriffs der Uneinbringlichkeit wird vom UStG nicht vorgenommen.198 Vielmehr lässt sich eine solche aus Einzelfallentscheidungen der Rechtsprechung herleiten.199 Uneinbringlichkeit im Sinne des § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG liegt insbesondere vor, wenn der Schuldner zahlungsunfähig ist, wenn den Forderungen die Einrede des Einforderungsverzichts entgegengehalten werden kann oder wenn der Anspruch auf Entrichtung des Entgelts nicht erfüllt wird und bei objektiver Betrachtung damit zu rechnen ist, dass der Leistende die Entgeltforderung ganz oder teilweise jedenfalls auf absehbare Zeit rechtlich oder tatsächlich nicht durchsetzen kann.200 Letzteres ist dann der Fall, wenn und gegebenenfalls soweit der Leistungsempfänger das Bestehen dieser Forderung ganz oder teilweise substantiiert bestreitet und damit erklärt, dass er die Entgeltforderung (ganz oder teilweise) nicht bezahlen werde.201 Ab wann substantiiertes Bestreiten anzunehmen ist, wurde von der Rechtsprechung und der Verwaltung (vgl. Abschnitt 17.1 (5) S. 4 UStAE) bisher noch nicht geklärt.202 Zum Ausdruck gebrachte längerfristige Zahlungsunwilligkeit
196 Stadie spricht von einem „gespaltenen Entgeltsbegriff“, der „immer wieder für Verwirrung“ sorgt. Siehe Stadie, MwStR 2016, 481 (482). 197 Stadie, MwStR 2016, 481 (481). 198 BFH v. 31. 5. 2001 – V R 71/99, DStRE 2002, 186 (187); FG Nürnberg v. 11. 11. 2003 – II 132/2002, BeckRS 2003, 26015476; Serafini, BBP Ausgabe 04/2006, S. 104. 199 Serafini, BBP Ausgabe 04/2006, S. 104. 200 So Abschnitt 17.1 (5) Satz 2 UStAE, Umsatzsteuer-Anwendungserlass v. 1. 10. 2010, BStBl. I, 846 [Stand 4. 3. 2021]; siehe auch BFH v. 20.7. 2006 – V R 13/04, DStR 2006, 1699 (1699); BFH v. 24. 10. 2013 – V R 31/12, DStR 2014, 262 Rz. 19; BFH v. 13. 2. 2019 – XI R 19/ 16, NV, MwStR 2019, 790 Rz. 21. 201 BFH v. 31. 5. 2001 – V R 71/99, DStRE 2002, 186 (187); BFH v. 22. 4. 2004 – V R 72/03, DStR 2004, 1214 (1215); BFH v. 20. 7. 2006 – V R 13/04, DStR 2006, 1699 (1699); BFH v. 8. 3. 2012 – V R 49/10, BeckRS 2012, 95697 Rz. 22; FG Nürnberg v. 8. 6. 2010 – 2 K 1121/2009, BeckRS 2010, 26029512; Abschnitt 17.1 (5) Satz 4 UStAE, BStBl. I, 846 [Stand 4. 3. 2021]; Fleckenstein-Weiland, in: Guhling/Günter, Gewerberaummiete, § 17 UStG Rz. 4; Korn, in: Bunjes, UStG, § 17 Rz. 61; Pull, MwStR 2020, 340 (341). 202 Nieskoven, MBP Ausgabe 12/2012, S. 202; siehe auch von Streit, EU-UStB 2012, 38 (41). Im Zivilprozessrecht erfordert substantiiertes Bestreiten eine Erklärung der bestreitenden Partei. Siehe Fritsche, in: Münchner Kommentar zur ZPO, § 138 Rz. 18. Einfaches Bestreiten liegt vor, wenn die Partei allein vorträgt, dass die Behauptung des Anspruchsgegners nicht zutrifft. Siehe Greger, in: Zöllner, ZPO, § 138 Rz. 10a.
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 47
des Leistungsempfängers ist jedoch ausreichend, um die Uneinbringlichkeit zu bejahen.203 Verweigert der Leistungsempfänger die Zahlung des Umsatzsteuerbetrags infolge der Versagung seines Vorsteuerabzugs und führt er hierzu an, dass der Leistende keinen Anspruch auf den Umsatzsteuerbetrag habe, da die Umsatzsteuer laut seiner Finanzbehörde gesetzlich nicht geschuldet sei,204 bringt er seine längerfristige Zahlungsunwilligkeit zum Ausdruck. Er bestreitet somit das teilweise Bestehen der Entgeltforderung substantiiert. Demgemäß ist das vereinbarte Entgelt teilweise nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG uneinbringlich, wenn der Leistungsempfänger aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis die Zahlung des Umsatzsteuerbetrags verweigert. Rechtsfolge ist nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. Abs. 1 UStG, dass der Unternehmer den geschuldeten Steuerbetrag zu berichtigen hat, und zwar in dem Besteuerungszeitraum, in welchem der Tatbestand der Uneinbringlichkeit eingetreten ist205 (vgl. auch § 17 Abs. 1 Satz 7 UStG). Im Ergebnis verringert sich der Steuerbetrag der Höhe nach auf den Steuerbetrag, der bei Vorliegen einer Bruttopreisabrede beziehungsweise im Rahmen einer Ist-Besteuerung abzuführen wäre (z. B. von 19 Euro auf 15,97 Euro, sofern eine Gesamtgegenleistung von 119 Euro vereinbart war, der Leistende indes allein 100 Euro als Gegenleistung in einem späteren Voranmeldungszeitraum erhalten hat).206 dd) Risiko einer Effektivbelastung aufgrund eines Widerstreits Auch wenn sich die Steuerschuld des Leistenden infolge der Regelung des § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG bei einer Verweigerung der Zahlung des Umsatzsteuerbetrags durch den Leistungsempfänger verringert, besteht für den Leistenden dennoch das Risiko, den Umsatzsteuerbetrag aufgrund des Vorliegens eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis im Ergebnis selbst tragen zu müssen. Denn sein ursprünglich kalkuliertes Nettoentgelt (z. B. 100 Euro) verringert sich im Ergebnis um den abzuführenden Umsatzsteuerbetrag (100 Euro abzüglich 15,97 Euro).
203
FG Rheinland-Pfalz v. 11. 12. 2008 – 6 K 2270/07, DStRE 2009, 676 (678); Korn, in: Bunjes, UStG, § 17 Rz. 63. 204 In Betracht kommt auch ein Streit zur Höhe des Steuersatzes. Siehe Sterzinger, UR 2012, 175 (183). 205 Zum Zeitpunkt siehe Korn, in: Bunjes, UStG, § 17 Rz. 87. Die ursprünglich festgesetzte Steuer bleibt indes unberührt. Vielmehr betrifft § 17 UStG die Steuer des Besteuerungszeitraums, in welchem der Tatbestand der Uneinbringlichkeit erfüllt wird. Für den Fall von § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG siehe Fleckenstein-Weiland, in: Guhling/Günter, Gewerberaummiete, § 17 UStG Rz. 1; siehe auch BFH v. 13. 11. 1986 – V R 59/79, BeckRS 1986, 22007882 (unter 2., b)). 206 Die Besteuerungsgleichheit zwischen der Ist- und der Soll-Besteuerung ist Zweck des § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG. Siehe BFH v. 24. 10. 2013 – V R 31/12, DStR 2014, 262 Rz. 20.
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
b) Bedeutung der Ist-Besteuerung für das vorliegende Problem Erfolgt eine Ist-Besteuerung, ist das Entstehen der Umsatzsteuer nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG davon abhängig, dass das Entgelt vereinnahmt worden ist.207 Für das Entstehen der Umsatzsteuer nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG ist es unbeachtlich, ob der Leistende das gesamte Entgelt, einen Teil des vereinbarten Entgelts oder einen Teilbetrag für eine Teilleistung nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 2 UStG vereinnahmt hat.208 Die Umsatzsteuer entsteht damit, wenn der Leistungsempfänger den vereinbarten Umsatzsteuerbetrag (einen Teil des vereinbarten Entgelts) aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nicht zahlt.209 Überdies entsteht die Steuerschuld des Leistenden bei Anwendung der Ist-Besteuerung ebenfalls wie bei Anwendung der Soll-Besteuerung unabhängig davon, ob dem Leistungsempfänger hinsichtlich desselben Umsatzes ein Recht auf Vorsteuerabzug zusteht.210 Die Höhe der abzuführenden Umsatzsteuer bei Anwendung der Ist-Besteuerung und gleichzeitigem Vorliegen eines Widerstreits entspricht der Höhe der Steuer, die der Leistende im Ergebnis bei Vorliegen der Soll-Besteuerung, einer Nettopreisabrede und Anwendung der Regelung des § 17 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. Abs. 1 UStG beziehungsweise bei Vorliegen einer Bruttopreisabrede abzuführen hat (15,97 Euro Umsatzsteuer, sofern der Leistende eine Gegenleistung i. H. v. 100 Euro erhalten hat und der Regelsteuersatz des § 12 Abs. 1 UStG Anwendung findet).211 Ebenfalls wie bei Anwendung der Soll-Besteuerung besteht bei Anwendung der Ist-Besteuerung für den Leistenden das Risiko, den Umsatzsteuerbetrag aufgrund des Vorliegens eines Widerstreits im Ergebnis selbst tragen zu müssen. Denn sein ursprünglich kalkuliertes Nettoentgelt verringert sich im Ergebnis um den abzuführenden Umsatzsteuerbetrag.
3. Selbstveranlagung und Kontrolle durch den Fiskus Besteuerungszeitraum ist nach § 16 Abs. 1 Satz 2 UStG grundsätzlich212 das Kalenderjahr (Grundsatz der Abschnittsbesteuerung)213. Voranmeldungszeitraum ist gemäß § 18 Abs. 2 Satz 1 UStG hingegen grundsätzlich214 das Kalendervierteljahr.215 207
Frye, UR 2013, 561 (563); Stadie, MwStR 2018, 904 (908). Leonard/Korn, in: Bunjes, UStG, § 13 Rz. 19. 209 Allgemein zur Entstehung der Umsatzsteuerschuld des Leistenden, wenn der Leistungsempfänger den Umsatzsteuerbetrag nicht zahlt: Ernst, NJW 1986, 2935 (2936 Fn. 3). 210 Vgl. dazu BFH v. 4. 4. 2003 – V B 212/02, BeckRS 2003, 25001869. 211 Die Besteuerungsgleichheit zwischen der Ist- und der Soll-Besteuerung ist Zweck des § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG. Siehe BFH v. 24. 10. 2013 – V R 31/12, DStR 2014, 262 Rz. 20. 212 Zu den Abweichungen hiervon siehe § 16 Abs. 1a, 1b, 3 und 4 UStG. 213 FG Münster v. 26. 11. 2004 – 9 K 5436/96 U, BeckRS 2004, 26017954 (unter II., 5., a)). 214 Zu den Abweichungen hiervon siehe § 18 Abs. 2 Satz 2, 4 und 5, Abs. 2a Satz 1 UStG. 208
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 49
Bei der für den Voranmeldungszeitraum abzuführenden Steuer handelt sich um eine Vorauszahlung (vgl. § 18 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 UStG).216 Nach § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG hat der Unternehmer bis zum 10. Tag nach Ablauf jedes einzelnen Voranmeldungszeitraums eine Voranmeldung zu übermitteln.217 Hierbei hat er die Steuer gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG für den Voranmeldungszeitraum eigenständig zu berechnen (sog. Selbstveranlagung218). Die Umsatzsteuervoranmeldung ist eine Steueranmeldung i. S. v. § 168 Satz 1 AO, die einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht.219 Infolge des Vorbehalts der Nachprüfung ist eine Änderung der Steuerfestsetzung (§ 164 Abs. 2 AO) innerhalb der Festsetzungsverjährung durch die Finanzbehörde möglich.220 Daneben hat der Unternehmer nach § 18 Abs. 3 UStG dem Finanzamt eine Umsatzsteuerjahresmeldung zu übermitteln.221 Hierbei handelt es sich gemäß § 18 Abs. 3 Satz 1 UStG ebenso um eine Steueranmeldung, die nach § 168 Satz 1 AO grundsätzlich einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht.222 Denn auch die abzuführende Jahressteuer beziehungsweise den sich ergebenden Überschuss hat der Unternehmer selbst zu berechnen (§ 18 Abs. 3 Satz 1 UStG). Ist das für den Unternehmer zuständige Finanzamt der Ansicht, dass der Unternehmer einen Umsatz umsatzsteuerrechtlich falsch beurteilt hat, kann es zu einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 164 Abs. 2 AO kommen.223 Dies kann insbesondere im Rahmen der Steuerveranlagung224 oder infolge einer Betriebsprüfung225 (Außenprüfung i. S. d. §§ 193 ff. AO)226 durch das für den Unternehmer zuständige Finanzamt227 (vgl. § 195 AO) erfolgen. Daneben kann eine geänderte umsatzsteuerrechtliche Beurteilung von Umsätzen auch im Rahmen einer Um215 BFH v. 6. 11. 2002 – V R 21/02, DStRE 2003, 116 (unter II., 1.); Paucksch, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 18 Rz. 35. 216 BFH v. 6. 11. 2002 – V R 21/02, DStRE 2003, 116 (unter II., 1.); Stadie, UStG, § 18 Rz. 2. 217 Es besteht jedoch die Möglichkeit einer Dauerfristverlängerung (vgl. § 18 Abs. 6 UStG und §§ 46 ff. UStDV). Vgl. Stadie, UStG, § 18 Rz. 1. 218 BFH v. 26. 7. 1979 – V R 108/76, BeckRS 1979, 22004984; LG Göttingen v. 21. 9. 2017 – 12 O 58/16, BeckRS 2017, 139551 Rz. 44; LSG Baden-Württemberg v. 16. 1. 2018 – L 11 KR 1723/17, DStR 2018, 579 Rz. 36. 219 Frotscher, in: Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 164 AO Rz. 123. 220 Groels, Allgemeine Steuerlehre, S. 260. 221 Rohde/Knobbe, NJW 2012, 2156 (2156). 222 Frotscher, in: Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 164 AO Rz. 123. 223 Dem Finanzamt steht sowohl eine rechtliche als auch eine tatsächliche Überprüfung des Steuerfalls offen. Vgl. BFH v. 9. 2. 2011 – IV R 15/18, DStRE 2011, 969 Rz. 20. 224 Drüen, DB 2010, 1847 (1847). 225 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 226 Frotscher, in: Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 164 AO Rz. 123. 227 Das für den Unternehmer nach § 21 AO zuständige Finanzamt ist für das gesamte Besteuerungsverfahren zuständig. Es ist beispielsweise auch für eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung zuständig. Siehe Wünsch, in: Koenig, AO, § 21 Rz. 3.
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
satzsteuer-Sonderprüfung (Außenprüfung i. S. d. §§ 193 ff. AO) oder einer Umsatzsteuer-Nachschau nach § 27b UStG (keine Außenprüfung)228 stattfinden.229 Kommt es zu einer Änderung der Steuerfestsetzung gem. § 164 Abs. 2 AO durch das für den Leistenden zuständige Finanzamt, sind divergierende Entscheidungen der am umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustausch beteiligten Finanzbehörden denkbar.230 So kam es auch in der Rechtssache ADV Allround im Anschluss an eine Betriebsprüfung zu divergierenden Entscheidungen des für ADV Allround zuständigen Finanzamts und des Bundeszentralamts für Steuern, welches für die Vergütung der Vorsteuern der Leistungsempfänger zuständig war.231 Das für ADV Allround zuständige Finanzamt setzte die Steuer für die Leistungen von ADV Allround nachträglich fest (§ 164 Abs. 2 AO). Das Bundeszentralamt für Steuern teilte die Rechtsauffassung zur Steuerpflicht hingegen nicht und versagte hinsichtlich derselben Umsätze die Vergütung der Vorsteuern.
4. Zwischenergebnis Die Steuerschuld des leistenden Unternehmers entsteht nach den Regelungen des Umsatzsteuergesetzes materiell-rechtlich unabhängig davon, ob dem Leistungsempfänger hinsichtlich desselben Umsatzes ein Recht auf Vorsteuerabzug zusteht.232Die Steuerschuld des Leistenden hängt mithin nicht vom Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers ab.233 Eine materiell-rechtliche Bindungswirkung der umsatzsteuerrechtlichen Entscheidung der für den Leistungsempfänger zuständigen Finanzbehörde für die Steuerschuld des Leistenden besteht nicht.234 Vielmehr „entspricht es den Wertungen des Gesetzes“, dass die Veranlagung zur Umsatzsteuer
228
Vgl. den Wortlaut des § 27b Abs. 1 Satz 1 UStG sowie Abschnitt 27b.1 (1) Satz 1 UStAE, Umsatzsteuer-Anwendungserlass vom 1. 10. 2010, BStBl. I, 846 [Stand 4. 3. 2021]. 229 Burchert/Gnauck-Stuwe/Heller/Niederreiter, Betriebsprüfung, S. 10 ff. 230 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 231 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15). 232 BFH v. 4. 4. 2003 – V B 212/02, BeckRS 2003, 25001869; BFH v. 6. 10. 2005 – V R 15/ 04, BeckRS 2005, 25009448 (unter II., 2., b), aa)); FG München v. 19. 3. 2009 – 14 K 4678/06, BeckRS 2009, 26027420 (unter II.); Burgmaier/Sterzinger, UR 2012, 175 (183); Hummel, MwStR 2016, 172 (178); Mohr/Detmering, MwStR 2016, 516 (519); so etwa BFH v. 7. 7. 1983 – V R 197/81, BeckRS 1983, 22006559 (unter 1.). 233 BFH v. 6. 10. 2005 – V R 15/04, BeckRS 2005, 25009448 (unter II., 2., b), aa)); BFH v. 27. 12. 2012 – V B 31/11, BeckRS 2013, 94834 Rz. 8; Burgmaier/Sterzinger, UR 2012, 175 (184); Hummel, MwStR 2016, 172 (178); Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450; so etwa BFH v. 7. 7. 1983 – V R 197/81, BeckRS 1983, 22006559 (unter 1.). 234 Zum umgekehrten Fall (keine Bindungswirkung der Steuerfestsetzung der Finanzbehörde des Leistenden für das Recht auf Abzug der Vorsteuer des Leistungsempfängers) vgl. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450.
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 51
vom Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers losgelöst ist.235 Für das dieser Arbeit zugrunde liegende Problem bedeutet dies wiederum, dass der Leistende gegen die für ihn zuständige Finanzbehörde aus materiell-rechtlichen Gründen keinen Anspruch darauf hat, dass diese der Rechtsauffassung der Finanzbehörde des Leistungsempfängers dahingehend folgt, dass ein Umsatz nicht der Umsatzsteuer unterliegt.236 Materiell-rechtlich ist nicht sichergestellt, dass der leistende Unternehmer die Umsatzsteuer für seine Umsätze nur abführen muss, wenn das Finanzamt des Leistungsempfängers dem Leistungsempfänger auch die Vorsteuer hinsichtlich derselben Umsätze erstattet.237Dies bedeutet, dass der Leistende die Umsatzsteuer nach jetziger Rechtslage auch bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-ParteienVerhältnis abführen muss.238 Damit besteht für den Leistenden das Risiko, die Umsatzsteuer im Ergebnis selbst tragen zu müssen, wenn sich der Leistungsempfänger aufgrund der Versagung seines Vorsteuerabzugs im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis weigert, dem Leistenden den Umsatzsteuerbetrag zu zahlen.239 Das Risiko besteht sowohl bei Anwendung der Soll-Besteuerung als auch bei Anwendung der Ist-Besteuerung.
II. Umsatzsteuerrechtliche Lage für den Leistungsempfänger Um zu untersuchen, ob der Leistungsempfänger aus materiell-rechtlichen Gründen gegen seine Finanzbehörde einen Anspruch auf widerspruchsfreie Beurteilung hat und weshalb für ihn nach jetziger Rechtslage die Gefahr besteht, die Umsatzsteuer aufgrund widersprüchlicher Beurteilungen selbst tragen zu müssen, wird im Folgenden die für den Leistungsempfänger bestehende umsatzsteuerrechtliche Lage dargelegt.
1. Vorsteuerabzug Nach dem Regelfall des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG kann der Leistungsempfänger die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuer abziehen. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG voraus, dass der Unternehmer eine nach den 235 BFH v. 6. 10. 2005 – V R 15/04, BeckRS 2005, 25009448 (unter II., 2., b), aa)); FG München v. 19. 3. 2009 – 14 K 4678/06, BeckRS 2009, 26027420 (unter II.); siehe auch Hummel, MwStR 2016, 172 (178). 236 Zum fehlenden Anspruch generell siehe von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 237 So etwa BFH v. 6. 10. 2005 – V R 15/04, BeckRS 2005, 25009448 (unter II., 2., b), aa)); BFH v. 4. 4. 2003 – V B 212/02, BeckRS 2003, 25001869. 238 Weimann, ASR 05/2014, 8 (8). 239 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218).
52
1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
§§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt. Das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechnung ist nach Ansicht des EuGH (lediglich) formelle Ausübungsvoraussetzung für das Recht auf Vorsteuerabzug.240 Der Anspruch auf Vorsteuerabzug entsteht in dem Moment, in dem der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht, und somit grundsätzlich zum Zeitpunkt der Leistungserbringung (sog. Prinzip des Sofortabzugs241).242 Angemerkt sei, dass hingegen keine Voraussetzung für die Geltendmachung des Vorsteuerabzugs nach § 15 UStG ist, dass der leistende Unternehmer die Umsatzsteuer tatsächlich bereits an den Fiskus abgeführt hat.243 Denn eine solche Voraussetzung hätte zur Folge, dass der Leistungsempfänger das Risiko der Versagung des Vorsteuerabzugs aufgrund einer Insolvenz des Leistenden tragen müsste.244 Geltend machen kann der Leistungsempfänger die Vorsteuer innerhalb seiner Umsatzsteuervoranmeldung, sofern er im Inland registrierungspflichtig ist, oder im Rahmen des Vorsteuervergütungsverfahrens (vgl. § 18 Abs. 9 UStG, §§ 59 UStDV), sofern keine Registrierungspflicht für ihn besteht.245 Das heißt, dass dem Leistungsempfänger bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis entweder im Rahmen des Vorsteuervergütungsverfahrens die Erstattung der Vorsteuer verwehrt werden kann246 oder der Vorsteuerabzug im Rahmen des Festsetzungsverfahrens versagt werden kann247.
240
EuGH v. 27. 11. 2015 – C-277/14 – PPUH Stehcemp, DStRE 2016, 282 Rz. 29; EuGH v. 15. 9. 2016 – C-516/14 – Barlis 06, DStR 2016, 2216 Rz. 41; EuGH v. 19. 10. 2017 – C-101/16 – SC Paper Consult SRL, MwStR 2017, 991 Rz. 40; EuGH v. 21. 3. 2018 – C-533/16 – Volkswagen AG, DStR 2018, 675 Rz. 42; EuGH v. 21. 11. 2018 – C-664/16 – Va˘ dan, DStR 2018, 2524 Rz. 49; siehe aber BFH v. 20. 10. 2016 – V R 26/15, DStR 2016, 2967 Rz. 17, wonach „der Besitz der Rechnung materielle Anspruchsvoraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug“ ist. 241 BFH v. 22. 7. 2015 – V R 23/14, DStR 2015, 2073 Rz. 25; Fleckenstein-Weiland, in: Wäger, UStG, § 15 Rz. 8. 242 Heidner, in: Bunjes, UStG, § 15 Rz. 180; Looks, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 15 Rz. 96; Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 38. Zur Entstehung des Anspruchs vor Leistungserbringung siehe § 15 Abs. 1 Satz 3 UStG. 243 EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 u. C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, DStR 2006, 1274 Rz. 49; EuGH v. 6. 12. 2012 – C-285/11 – Bonik, MwStR 2013, 37 Rz. 28; Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176); Heidner, in: Bunjes, UStG, § 15 Rz. 6; Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 330. 244 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176). 245 Langer/Zugmaier, DStR 2007, 983 (983); Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 26. 246 Vgl. dazu FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1119). 247 Vgl. dazu von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815).
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 53
a) Gesetzlich geschuldete Steuer Der Unternehmer ist allein dazu berechtigt, die „gesetzlich geschuldete Steuer“ für Lieferungen und sonstige Leistungen abzuziehen (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG). Die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG meint „die auf einen gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 [UStG] steuerbaren und steuerpflichtigen Umsatz entstandene Steuer, also der sich bei zutreffender umsatzsteuerrechtlicher Qualifizierung des Umsatzes, der Bemessungsgrundlage und des Steuersatzes ergebene Steuerbetrag.“248 Schuldet der Leistende die Steuer allein nach § 14c UStG aufgrund eines unrichtigen oder unberechtigten Steuerausweises, begründet dies kein Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer gemäß § 15 UStG.249 Nach der früheren Rechtsprechung des BFH und dem früheren Wortlaut von § 15 UStG genügte hingegen ein Steuerausweis zur Geltendmachung des Vorsteuerabzugs.250 Am 2. 4. 1998 folgte indes eine Rechtsprechungsänderung des BFH251 sowie eine mit Wirkung zum 1. 1. 2004 vorgenommene Änderung des Wortlautes von § 15 UStG.252 Anstelle der „gesondert ausgewiesenen Steuer“ kann der Unternehmer seit der Änderung des Wortlauts von § 15 UStG nun allein die „gesetzlich geschuldete Steuer“ abziehen.253 Hintergrund der erfolgten Rechtsprechungsänderung des BFH im Jahr 1998 ist die Entscheidung Genius Holding254 des EuGH.255 Seit dem Zeitpunkt der Rechtsprechungsänderung des BFH im Jahre 1998256 infolge des Genius Holding-Urteils des EuGH ist es möglich, dass die am umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustausch beteiligten Finanzbehörden uneinheitlich beurteilen, ob ein zutreffender („gesetzlich geschuldete Steuer“ i. S. v. § 15 UStG) oder 248
Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 326. EuGH v. 13. 12. 1989 – C-642/87 – Genius Holding, NJW 1991, 632 Rz. 13; EuGH v. 19. 9. 2000 – C-454/98 – Schmeink & Cofreth und Strobel, DStRE 2000, 1166 Rz. 53; BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/14, DStRE 2015, 1318 Rz. 21; BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 58; BFH v. 22. 8. 2019 – V R 50/16, DStR 2019, 2528 Rz. 17. 250 Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 8. 251 BFH v. 2. 4. 1998 – V R 34/97, BStBl. II 1998, 695; krit. Stadie, UR 1998, 349 (351). 252 FG Hamburg v. 20.4.2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Oelmaier, in: Sölch/ Ringleb, UStG, § 15 Rz. 8. 253 Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 8. 254 EuGH v. 13. 12. 1989 – C-342/87 – Genius Holding, NJW 1991, 632; die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Genius Holding bestätigend EuGH v. 19. 9. 2000 – C-454/ 98 – Schmeink & Cofreth und Strobel, DStRE 2000, 1166 Rz. 53; EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/ 05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 23; EuGH v. 4. 7. 2013 – C-572/11 – Menidzherski biznes reshenia OOD, BeckRS 2013, 81555 Rz. 20; EuGH v. 31. 1. 2013 – C-642/11 – Stroy trans, MwStR 2013, 125 Rz. 30; EuGH v. 6. 2. 2014 – C424/12 – Fatorie, MwStR 2014, 125 Rz. 39; BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 58; EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 43. 255 Vgl. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 256 BFH v. 2. 4. 1998 – V R 34/97, BStBl. II 1998, 695. 249
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
ein unzutreffender Steuerausweis (vgl. § 14c UStG) vorliegt.257 Dies hat die problematische Folge, dass es in der Praxis wiederholt dazu kommt, dass das Finanzamt des Leistungsempfängers dessen Vorsteuerabzug mit der Argumentation verweigert, dass die Umsatzsteuer gesetzlich nicht geschuldet sei und somit ein unzutreffender Steuerausweis vorliege, hingegen das Finanzamt des Leistenden zugleich von der Rechtmäßigkeit des Steuerausweises überzeugt ist.258 b) Bindungswirkung der Steuerfestsetzung beim Leistenden? Materiell-rechtlich knüpft das Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer an die Steuerschuld des leistenden Unternehmers an.259 Denn der Leistungsempfänger kann, wie aufgezeigt wurde, nur diejenige Steuer in Abzug bringen, die vom Leistenden für die Leistung nach den Vorschriften des Umsatzsteuergesetzes geschuldet wird (d. h. objektiv geschuldet wird).260 Demgemäß bezweckt das UStG einen „materiellrechtlichen Gleichklang von Steuerbarkeit und Steuerpflicht einerseits und Vorsteuerabzugsberechtigung andererseits“.261 Dieser Gleichklang könnte für eine Bindungswirkung der Entscheidung der Finanzbehörde des Leistenden über dessen Steuerschuld für das Steuerschuldverhältnis des Leistungsempfängers sprechen.262 aa) Rechtsprechung zur fehlenden Bindungswirkung Der BFH stellte indes im Jahr 1987 fest, dass ,,der Entscheidung über die Steuerbarkeit und Steuerpflicht eines Umsatzes des Leistenden keine Bindungswirkung bezüglich der Beurteilung der Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs beim Leistungsempfänger im Rahmen von dessen Steuerschuldverhältnis zukommen [könne]. […] [D]ie materiell-rechtliche Regelung der Steuerschuld des Leistenden und des Vorsteuerabzugs des Leistungsempfängers [seien] im UStG zwar von dem systematischen Ausgangspunkt her erfolgt, in der Unternehmerkette solle sich Steuer und Vorsteuer betragsmäßig gegeneinander aufheben (sog. Null-Situation). Im Gesetz [seien] die entsprechenden Regelungen aber […] nicht materiell im Sinne einer gegenseitigen Abhängigkeit miteinander verknüpft worden. Steuerschuld des Leis257
Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); Weimann, UStB 2010, 350 (350). Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); Weimann, UStB 2010, 350 (350). 259 Deutscher Bundestag, Drucksache 15/1562, S. 50; Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 60; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176). 260 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 925. So etwa Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176). 261 Wortzitat aus FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121); siehe auch BMF-Schreiben v. 18. 9. 2020 – III C 2-S 7286-a/19/10001 :001, 2020/0920350, DStR 2020, 2131 Rz. 5; Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176). 262 Siehe dazu Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450. 258
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 55
tenden und Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers [seien] jeweils getrennt in deren Steuerschuldverhältnissen nach eigenen Grundsätzen zu prüfen“.263 bb) Rechtsprechung zur fehlenden Bindungswirkung überholt? Die vorstehende Rechtsansicht des BFH könnte jedoch durch das EuGH-Urteil vom 13. 12. 1989 in der Rechtssache Genius Holding264 beziehungsweise durch die Rechtsprechungsänderung des BFH vom 2. 4. 1998265 überholt sein.266 In seinem Urteil vom 1. 2. 2001267 führte der BFH diesbezüglich aus, dass er zwar in seinen früheren Entscheidungen davon ausgegangen sei, dass „die Umsatzsteuerschuld des Leistenden und der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers […] nicht materiell im Sinne einer gegenseitigen Abhängigkeit miteinander verknüpft [seien]; sie müssten jeweils getrennt in deren Steuerschuldverhältnisse nach eigenen Grundsätzen geprüft werden […]. Diese Entscheidungen beruhen aber noch auf der durch das Urteil [vom 2. 4. 1998] überholten Rechtsprechung, nach der ein Steuerbetrag nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG unabhängig davon abziehbar war, ob er geschuldet wurde oder nicht“.268 Zwar ist das Vorsteuerabzugsrecht entsprechend des Genius Holding-Urteils des EuGH sowie der Rechtsprechungsänderung des BFH vom 2. 4. 1998 gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG davon abhängig, dass die Steuer für den berechneten Umsatz vom Leistenden gesetzlich geschuldet ist, was dafür sprechen könnte, dass die Rechtsprechung des BFH zur fehlenden Bindungswirkung der Entscheidung über die Steuerschuld des Leistenden für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers „überholt“269 ist. Jedoch stimmen auch nach der jetzigen Rechtslage die Voraussetzungen für das Entstehen des Anspruchs auf Abzug der Vorsteuer des Leistungsempfängers und für das Entstehen der Steuer des Leistenden nicht vollständig überein.270 Die Voraussetzungen der gesetzlichen Tatbestände überschneiden sich 263
Wortzitat aus BFH v. 26. 2. 1987 – V S 4/86, BFH/NV 1987, 604 Rz. 29, Hervorhebung durch die Verfasserin dieser Arbeit; siehe auch BFH v. 2. 11. 1989 – V R 56/84, BeckRS 1989, 22009237 (unter 1., c)); BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69 (69); so etwa BFH v. 7. 7. 1983 – V R 197/81, BeckRS 1983, 22006559 (unter 1.); BFH v. 10. 12. 1998 – V R 58/97, BeckRS 1998, 30038240 (unter II., 3.). 264 EuGH v. 13. 12. 1989 – C-342/87 – Genius Holding, NJW 1991, 632. 265 BFH v. 2. 4. 1998 – V R 34/97, BStBl. II 1998, 695. 266 Vgl. dazu FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, EFG 2010, 1170 (1172); siehe auch Sterzinger, UR 2012, 175 (184 Fn. 34); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 220. 267 Im Zusammenhang mit einer Beiladung des Leistungsempfängers nach § 60 Abs. 1 FGO zum Verfahren des Leistenden über dessen Steuerschuld. 268 BFH v. 1. 2. 2001 – V B 199/00, BeckRS 2001, 24000939 (unter II., 3., a)), Hervorhebung durch die Verfasserin dieser Arbeit. 269 BFH v. 1. 2. 2001 – V B 199/00, BeckRS 2001, 24000939 (unter II., 3., a)). 270 Zur fehlenden Übereinstimmung der Entstehungsvoraussetzungen vgl. Generalanwalt Jacobs, Schlussantrag v. 23. 10. 2003 – C-90/02 – Brockemühl, Slg. 2004, I-3303 Rz. 47; BFH v.
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
weiterhin nur teilweise.271 Eine Überschneidung betrifft zum Beispiel die Unternehmereigenschaft des Leistenden. So ist für das Entstehen der Steuerschuld des Leistenden zum Beispiel irrelevant, ob der Leistungsempfänger tatsächlich Unternehmer ist (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG).272 Für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers ist dessen Unternehmereigenschaft hingegen Entstehungsvoraussetzung (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG).273 Auch hängt das Entstehen des Rechts auf Vorsteuerabzug, anders als die Steuerschuld des Leistenden, davon ab, dass die Leistungen für das Unternehmen des Leistungsempfängers ausgeführt worden sind (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG).274 Daneben gilt es zu beachten, dass dem Leistungsempfänger beispielsweise mangels steuerpflichtigem Umsatz oder mangels Unternehmereigenschaft des Leistenden kein Vorsteuerabzug zustehen kann, der Leistende die Steuer hingegen nach § 14c Abs. 1 oder 2 UStG schuldet.275 Auch in diesem Fall führt die Festsetzung der Umsatzsteuer beim Leistenden nicht automatisch zum Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers.276 Überdies hängt die Ausübung277 des Rechts des Leistungsempfängers auf Vorsteuerabzug, anders als das Entstehen der Steuer des Leistenden, davon ab, ob der Leistende dem Leistungsempfänger eine Rechnung ausgestellt hat (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG).278 Zwar sind aufgrund der Rechtsprechung des EuGH279 zur Unbeachtlichkeit von formellen Rechnungsmägeln für den Vorsteuerabzug in der Literatur Stimmen zu finden, die das Vorliegen einer Rechnung als Voraussetzung für den Vorsteuerabzug in bestimmten Situationen gänzlich ablehnen.280 Argumentiert 27. 12. 2012 – V B 31/11, BeckRS 2013, 94834 Rz. 8; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Wesselbaum-Neugebauer, UR 2004, 401 (402). 271 So bereits BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69 (69). 272 So etwa FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 273 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 274 So etwa FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 275 BFH v. 27. 12. 2012 – V B 31/11, BeckRS 2013, 94834 Rz. 8. 276 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 100. 277 Vorliegen einer Rechnung als formelle Ausübungsvoraussetzung vgl. EuGH v. 21. 3. 2018 – C-533/16 – Volkswagen AG, DStR 2018, 675 Rz. 42; Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, Teil 3 § 15 Rz. 19; Heidner, in: Bunjes, UStG, § 15 Rz. 27a; a. A. BFH v. 20. 10. 2016 – V R 26/15, DStR 2016, 2967 Rz. 17. 278 In diesem Zusammenhang vgl. BFH v. 20. 1. 1997 – V R 28/95, UR 1998, 236 Rz. 21; BFH v. 27. 12. 2012 – V B 31/11, BeckRS 2013, 94834 Rz. 8; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 279 Siehe insbes. EuGH v. 15. 9. 2016 – C-516/14 – Barlis 06, DStR 2016, 2216 Rz. 43; EuGH v. 21. 11. 2018 – C-664/16 – Va˘ dan, DStR 2018, 2524 Rz. 41. Eine fehlerhafte Rechnung beeinflusst die Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts demnach grundsätzlich nicht. Siehe Generalanwältin Kokott, Schlussantrag v. 30. 11. 2017 – C-8/17 – Biosafe, MwStR 2018, 130 Rz. 4. 280 So von Streit/Streit, UStB 2017, 57 (66 ff.) unter anderem für den Fall, dass der Leistende nicht mehr existent ist; Langer, MwStR 2017, 73 (77) unter der Voraussetzung, dass eine
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 57
wird insbesondere mit dem Neutralitätsgrundsatz.281 Ob dem zuzustimmen ist, ist für die vorliegende Problematik indes unbeachtlich. Denn die Voraussetzungen für die Steuerschuld des Leistenden und die für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers unterscheiden sich nicht nur aufgrund des Rechnungserfordernisses für den Vorsteuerabzug. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Rechnung keine Voraussetzung für den Vorsteuerabzug ist, würde dies nichts daran ändern, dass sich nur ein Teil der Tatbestandsmerkmale überschneiden. Eines Streitentscheids bedarf es vorliegend mithin nicht. Im Ergebnis ist festzustellen, dass die Rechtsprechung des BFH282 zur fehlenden gegenseitigen materiell-rechtlichen Abhängigkeit zwischen der Umsatzsteuerschuld des Leistenden und dem Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers nicht überholt ist.283 Zwar bezweckt die Regelung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG eine Symmetrie zwischen Steuer und Vorsteuer.284 Die Steuerschuld des Leistenden und das Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer stehen jedoch auch nach der Rechtsprechungsänderung des BFH vom 2. 4. 1998 materiell-rechtlich nicht solchermaßen in einem Abhängigkeitsverhältnis, dass hinsichtlich Steuer und Vorsteuer stets widerspruchsfrei zu entscheiden ist.285 Setzt die für den Leistenden zuständige Finanzbehörde die Steuer für dessen Umsätze fest, führt dies demgemäß nicht zu einer Bindungswirkung für das Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer.286 Zahlung des Leistungsempfängers erfolgt ist; Höink/Hudasch, BB 2019, 542 (545) unter der Voraussetzung einer anderweitigen objektiven Nachweisbarkeit der Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs; a. A. indes BMF-Schreiben v. 18. 9. 2020 – III C 2-S 7286-a/19/10001 :001, 2020/0920350, DStR 2020, 2131 Rz. 6; Becker, NBW 2016, 3374 (3381); Heuermann, DB 2017, 990 (994); Heuermann, MwStR 2017, 729 (739); Nacke, NWB 2017, 3124 (3128); Neumann-Tomm, MwStR 2020, 437 (438); Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14 Rz. 315; Radeisen, DB 2018, 593 (598); Treiber, DStR 2019, 1399 (1404); Treiber, UR 2017, 858 (863); offen lassend Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, Teil 3, § 15 Rz. 19. 281 von Streit/Streit, UStB 2017, 57 (66). 282 BFH v. 7. 7. 1983 – V R 197/81, BeckRS 1983, 22006559 (unter 1.); BFH v. 26. 2. 1987 – V S 4/86, BFH/NV 1987, 604 Rz. 29; BFH v. 2. 11. 1989 – V R 56/84, BeckRS 1989, 22009237 (unter II., 1., c)); BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69 (69); BFH v. 10. 12. 1998 – V R 58/97, BeckRS 1998, 30038240 (unter II., 3.). 283 Der Rechtsprechung des BFH zur fehlenden materiell-rechtlichen Abhängigkeit zustimmend Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 75; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450. 284 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450 u. § 15 Rz. 925; siehe auch BMFSchreiben v. 18. 9. 2020 – III C 2-S 7286-a/19/10001 :001, 2020/0920350, DStR 2020, 2131 Rz. 5. 285 So, aber ohne die Rechtsprechungsänderung des BFH in diesem Zusammenhang erwähnend, auch Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450; siehe auch Burgmaier/ Sterzinger, UR 2012, 175 (183); Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 75; Sterzinger, DStR 2009, 1340 (1342). 286 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 100; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450; zur fehlenden Bindungswirkung der Entscheidung im Rechtsstreit des Leistenden vgl. BFH v. 14. 3. 2007 – V S 34/06, BeckRS 2007, 25011603 (unter II., 1., b), bb); FG Hamburg
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
cc) Bindungswirkung denkbar Anders als die Frage über die Umsatzsteuerschuld des Leistenden und über den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers287 kann die Frage, ob die Steuer vom Leistenden gesetzlich geschuldet ist, was nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG Voraussetzung für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers ist, denklogisch in beiden Steuerschuldverhältnissen jedoch nur einheitlich beurteilt werden288. So kann zum Beispiel die Frage, ob der Leistende tatsächlich Unternehmer ist, in beiden Steuerschuldverhältnissen denklogisch nur widerspruchsfrei entschieden werden.289 Dies gilt beispielsweise auch für die Frage, ob eine Steuerbefreiung290 vorliegt, oder für die Frage, wo der Leistungsort291 befindlich ist. Folglich ist eine Bindungswirkung der Entscheidung über die Steuerschuld des Leistenden in dessen Steuerschuldverhältnis für die im Steuerschuldverhältnis des Leistungsempfängers zu treffende Entscheidung, ob die Steuer i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG geschuldet ist, denkbar.292 Gleiches gilt umgekehrt.293 Auch ist es denkbar, dass sich die beteiligten Behörden hinsichtlich er Frage, ob die Steuer gesetzlich geschuldet ist, verbindlich abstimmen294, damit die Symmetrie von Steuer und Vorsteuer gewahrt wird. Sowohl durch eine Bindungswirkung295 der Entscheidung einer der beiden Finanzbehörden über die gesetzliche Geschuldetheit der Leistung für das andere v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 75. 287 Zur Möglichkeit divergierender Beurteilungen von Vorsteuerabzug und Steuerschuld vgl. BFH v. 26. 2. 1987 – V S 4/86, BFH/NV 1987, 604 Rz. 29; Lange, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 75; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450 u. § 15 Rz. 925; Sterzinger, DStR 2009, 1340 (1342). 288 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (217); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 289 BFH v. 20. 4. 1989 – V B 153/88, BeckRS 1989, 22008985 (unter 1.); BFH v. 27. 7. 2000– VII B 130/99, BeckRS 2000, 25005063 (unter II., 3., a)); BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 223; so etwa Sterzinger, UR 2012, 175 (184). 290 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (217). 291 So etwa Sterzinger, UR 2012, 175 (184). 292 Zur Möglichkeit einer Bindungswirkung der Entscheidungen über die Steuerbarkeit und die Steuerpflicht ein und desselben Umsatzes für das jeweils andere Steuerschuldverhältnis vgl. Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 293 Vgl. Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 294 So für die Frage der Steuerbefreiung aufgrund einer innergemeinschaftlichen Lieferung oder einer Ausfuhrlieferung Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218 f.); für eine Abstimmung auch Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (9); Heinrichshofen, UStB 2013, 36 (37); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300). 295 Vgl. Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815).
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 59
Steuerschuldverhältnis als auch durch eine verbindliche Abstimmung296 der Finanzbehörden über die gesetzliche Geschuldetheit der Leistung wäre eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer gewährleistet. Aus diesem Grund werden diese beiden Lösungsvorschläge im fünften Teil und sechsten dieser Arbeit näher erläutert.297
2. Bedeutung der Regelung des § 17 Abs. 1 Satz 2 UStG für das vorliegende Problem Nach § 17 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 und 5 sowie Abs. 2 UStG ist der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers grundsätzlich ebenfalls zu berichtigen, wenn sich die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz des Leistenden i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG geändert hat oder einer der in § 17 Abs. 1 Satz 5 oder § 17 Abs. 2 UStG normierten Tatbestände erfüllt ist. Beispielsweise hat der Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug ebenfalls nach § 17 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG zu berichtigen, wenn das vereinbarte Entgelt für eine steuerpflichtige Leistung des leistenden Unternehmers uneinbringlich geworden ist. Der Vorsteuerabzug ist angesichts der angestrebten Symmetrie zwischen Steuer und Vorsteuer zu korrigieren.298 Ändert sich folglich der Umsatzsteuerbetrag, ändert sich auch der Vorsteuerbetrag.299 Dies bedeutet, dass hinsichtlich der in § 17 Abs. 1 und Abs. 2 UStG normierten Fällen eine Gleichbehandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers durch die für sie zuständigen Finanzämter zu erfolgen hat.300 Aus diesem Grund stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Regelung des § 17 Abs. 1 Satz 2 UStG für das Problem einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers für den Leistungsempfänger hat.
296 Vgl. dazu Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (9); Heinrichshofen, UStB 2013, 36 (37); Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218 f.); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300). 297 Siehe unten: Fünfter Teil, § 3, I u. II; Sechster Teil, § 3, IV. 298 BFH v. 30. 11. 1995 – V R 57/94, BStBl. 1996 II, 206; FG Köln v. 28. 6. 2001 – 7 K 5008/ 99, DStRE 2001, 1114 (1115); FG Sachsen v. 17. 3. 2004 – 2 K 2580/03, BeckRS 2004, 26020593; Verfügung der OFD Hannover v. 6. 9. 1999 (DB S. 2141), OFD Hannover S 733035-StH 542; S 7330-25-StO 355; Verfügung der LFD Thüringen v. 25. 3. 2010 (StEd S. 332), LFD Thüringen S 7330 A-03-A 3.12. Auch Hummel ist der Ansicht, dass § 17 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 UStG „dem Gleichlauf von Steuerschuld des Leistenden und Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers“ dient. Der Vorsteuervergütungsanspruch solle und müsse „systemimmanent mit der (übergewälzten) Steuerschuld des Leistenden korrespondieren“. Siehe Hummel, UR 2016, 289 (290). Klenk merkt an, dass nur „dieses Gleichgewicht“ dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer entspreche. Siehe Klenk, DStR 2001, 2155 (2158). 299 BFH v. 4. 12. 2014 – V R 6/13, MwStR 2015, 181 (183). 300 Diese Ausführungen machte der V. Senat des BFH für den Fall der Uneinbringlichkeit des vereinbarten Entgelts. Siehe BFH v. 22. 4. 2004 – V R 72/03, DStR 2004, 1214 (1216). Dies muss für alle Fälle des § 17 Abs. 1 und Abs. 2 UStG gelten.
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
Zunächst ist anzumerken, dass der V. Senat des BFH im Zusammenhang mit der Uneinbringlichkeit des vereinbarten Entgelts festgestellt hat, „dass die Uneinbringlichkeit beim Leistenden und beim Leistungsempfänger gleich beurteilt“ werden müsse.301 Es sei, sofern „der Leistungsempfänger […] zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, […] Aufgabe des FA [(Finanzamts)], durch Hinzuziehung oder Beantragung der Beiladung [des Leistungsempfängers] sicherzustellen, dass die Uneinbringlichkeit beim Leistenden und beim Leistungsempfänger gleich beurteilt [werde]“.302 Eine für das Finanzamt des Leistenden bestehende Pflicht zur Hinzuziehung oder zur Beiladung des Leistungsempfängers zum Klageverfahren des Leistenden303 vermag jedoch keinen Anspruch304 des Leistungsempfängers gegen sein Finanzamt auf widerspruchsfreie Beurteilung zu begründen. Nach Auffassung der Verwaltung hat das Finanzamt des Leistenden das Recht, dem Finanzamt des Leistungsempfängers die Uneinbringlichkeit mitzuteilen.305 Grund hierfür ist wiederum die zur Umsatzsteuerkorrektur „spiegelbildliche[…] Vorsteuerkorrektur“.306 Auch nach der Verfügung der OFD Niedersachsen vom 24. 8. 2015 hat das Finanzamt des Leistenden das Finanzamt des Leistungsempfängers im Fall der Uneinbringlichkeit des vereinbarten Entgelts hierüber zu informieren, damit der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers gleichwohl korrigiert wird.307 Obwohl § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG „zur Herstellung des Gleichgewichts zwischen Umsatzsteuer und Vorsteuerabzug die Korrektur der Steuerbelastung, gleichzeitig auch die Rückforderung der Vorsteuer [ermöglicht]“308, entstehen die aus § 17 UStG folgenden Berichtigungspflichten für die Umsatzsteuer des Leistenden und für die Vorsteuer des Leistungsempfängers materiell-rechtlich309 zwar übereinstimmend und gleichen sich letztendlich aus310, diese sind indes selbständig zu betrachten311. Verfahrensrechtlich erfolgen die Berichtigungen mithin eigenständig.312 Ob die Voraussetzungen von § 17 UStG vorliegen, ist nach jetziger Rechtslage in den Be301
BFH v. 22. 4. 2004 – V R 72/03, DStR 2004, 1214 (1216). BFH v. 22. 4. 2004 – V R 72/03, DStR 2004, 1214 (1216). 303 BFH v. 22. 4. 2004 – V R 72/03, DStR 2004, 1214 (1216). 304 Generell zur fehlenden Bindungswirkung der Entscheidung im Rechtsstreit des Leistenden oder des Leistungsempfängers für die Finanzbehörde des anderen Unternehmers bei Hinzuziehung oder Beiladung des anderen Unternehmers siehe unten ausführlich unter: Erster Teil, § 3, V., 3., a). 305 Abschnitt 17.1 (5) Satz 10 UStAE, Umsatzsteuer-Anwendungserlass vom 1. 10. 2010, BStBl. I, 846 [Stand 4. 3. 2021]. 306 Nieskoven, MBP Ausgabe 12/2012, S. 202. 307 OFD Niedersachsen v. 24. 8. 2015 – S 7330-25-St 181. 308 BFH v. 31. 5. 2001 – V R 71/99, DStRE 2002, 186 (187). 309 Bei § 17 UStG handelt es sich um eine materiell-rechtliche Norm. Siehe Korn, in: Bunjes, UStG, § 17 Rz. 10. 310 Korn, in: Bunjes, UStG, § 17 Rz. 18. 311 Schwarz, in: Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 17 Rz. 41. 312 Meyer, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 17 Rz. 60. 302
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 61
steuerungsverfahren des Leistenden und des Leistungsempfängers separat voneinander festzustellen.313 Eine gegenseitige Bindungswirkung ist mithin abzulehnen.314 Zu beachten gilt es überdies, dass § 17 Abs. 1 Satz 2 UStG eine für den Leistungsempfänger bestehende Pflicht zur Berichtigung bei Vorliegen einer der in § 17 UStG geregelten Tatbestände315 normiert und gerade keinen Anspruch dahingehend, dass die Steuer des Leistenden und die Vorsteuer des Leistungsempfängers stets widerspruchsfrei zu behandeln sind. Auch wenn § 17 UStG bezweckt, dass sich die Umsatzsteuer und die Vorsteuer entsprechen316, lässt sich aus § 17 UStG kein genereller Anspruch des Leistungsempfängers gegen seine Finanzbehörde dahingehend herleiten, dass diese der Rechtsauffassung des Finanzamts des Leistenden über die Steuerbarkeit und Steuerpflicht einer Leistung zu folgen hat.
3. Bedeutung der Regelung des § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG für das vorliegende Problem Auch im Fall der Berichtigung des unrichtigen Steuerbetrags nach § 14c Abs. 1 UStG erfolgt im Festsetzungsverfahren im Ergebnis schließlich eine einheitliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers.317 Aus diesem Grund wird im Folgenden analysiert, welche Bedeutung die Gleichbehandlung der Unternehmer im Fall einer Rechnungsberichtigung nach § 14c Abs. 1 UStG für das dieser Arbeit zugrunde liegende Problem hat. § 17 Abs. 1 UStG ist gemäß § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG entsprechend anzuwenden, wenn der leistende Unternehmer den Steuerbetrag gegenüber dem Leistungsempfänger berichtigt. Dies hat zur Folge, dass der Leistende nach einer Rechnungsberichtigung i. S. v. § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG den geschuldeten Steuerbetrag gleichfalls gegenüber dem für ihn zuständigen Finanzamt zu korrigieren hat (vgl. § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG).318 Berichtigt der leistende Unternehmer nach §§ 14c Abs. 1 Satz 2, 17 Abs. 1 UStG die von ihm ausgestellte Rechnung mit Steuerausweis, weil für den Umsatz keine oder eine geringere Umsatzsteuer anfällt, wird ihm die an den Fiskus gezahlte Umsatzsteuer grundsätzlich erst dann zurückerstattet, wenn er dem Leistungsempfänger den zu viel ausgewiesenen Umsatzsteuerbetrag zurückerstattet 313
Meyer, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 17 Rz. 60. Meyer, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 17 Rz. 60. 315 Korn, in: Bunjes, UStG, § 17 Rz. 18; Lenger, NZI 2014, 144 (147). Sofern der Unternehmer die Berichtigungspflicht des § 17 UStG missachtet, hat das Finanzamt das Recht und die Pflicht, den Vorsteuerrückforderungsanspruch von Amts wegen festzusetzen. Siehe FG Nürnberg v. 11. 11. 2003 – II 132/2002, BeckRS 2003, 26015476. 316 Klenk, DStR 2001, 2155 (2158). 317 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 318 Grube, MwStR 2013, 234 (237); Korn, in: Bunjes UStG, § 14c Rn. 30. 314
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
hat.319 Nach Ansicht des XI. Senats des BFH führt „[n]ur die Rückzahlung des berichtigten Steuerbetrags an den Leistungsempfänger […] in der Regel zu einem gerechten Interessenausgleich im Dreiecksverhältnis zwischen […] [Finanzamt] und Leistendem bzw. Leistungsempfänger und gewährleiste[…] so letztlich auch die Neutralität der Mehrwertsteuer“.320 Andernfalls bestehe die Gefahr einer ungerechtfertigten Bereicherung des Leistenden.321 Aus der vorstehenden Rechtsprechung des BFH lässt sich schließen, dass der korrespondierende Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers ebenfalls berichtigt322 werden muss.323 Erfolgt keine Berichtigung des Vorsteuerabzugs, liegt eine ungerechtfertigte Bereicherung des Leistungsempfängers vor.324 Infolgedessen erfolgt im Fall einer Rechnungsberichtigung nach §§ 14c Abs. 1 Satz 2, 17 Abs. 1 UStG eine im Ergebnis einheitliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Festsetzungsverfahren.325 Zu beachten gilt es allerdings, dass im Umsatzsteuerrecht keine gesetzliche Verknüpfung zwischen dem Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer und dem Recht des leistenden Unternehmers auf Berichtigung der Rechnung gemäß § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG sowie auf Korrektur des Steuerbetrags gegenüber dem Finanzamt nach § 17 Abs. 1 UStG entsprechend existiert.326 Zwar schloss der Verweis des § 14 Abs. 2 Satz 2 UStG a. F. auch § 17 Abs. 1 Satz 2 UStG mit ein, wonach der Vorsteuerabzug im Fall einer Änderung der Bemessungsgrundlage ebenfalls zu berichtigen ist, jedoch ist nach jetziger Rechtslage ohnehin allein die „gesetzlich geschuldete Steuer“ als Steuer abziehbar.327 Wie bereits festgestellt, wird kein Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer begründet, wenn der Leistende die Steuer allein nach § 14c UStG aufgrund eines unrichtigen oder unberechtigten Steuerausweises schuldet.328 Dies bedeutet wiederum, dass der Leistungsempfänger nach jetziger Rechtslage im Fall einer Rechnungskorrektur nach § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG ohnehin schon kraft Gesetz – unabhängig von einer Berichtigung der Rechnung des Leistenden – von Anfang an nicht zum Vorsteuerabzug
319 BFH v. 16. 5. 2018 – XI R 28/16, DStR 2018, 1663 Rz. 33; Abschnitt 14c (5) Satz 4 UStAE, Umsatzsteuer-Anwendungserlass vom 1. 10. 2010, BStBl. I, 846 [Stand 4. 3. 2021]; Fleckenstein-Weiland, in: Guhling/Günter, Gewerberaummiete, § 14c UStG Rn. 14; Lohse, BB 2013, 1439 (1442); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 320 BFH v. 16. 5. 2018 – XI R 28/16, DStR 2018, 1663 Rz. 53. 321 BFH v. 16. 5. 2018 – XI R 28/16, DStR 2018, 1663 Rz. 33. 322 Zur Berichtigungspflicht des Leistungsempfängers siehe BFH v. 25. 4. 2013 – V R 2/13, UR 2013, 968 Rz. 16. 323 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 324 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 325 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 326 Grube, MwStR 2013, 234 (237). 327 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 140 u. 141. 328 BFH v. 25. 4. 2013 – V R 2/13, UR 2013, 968 Rz. 17; Farruggia-Weber/Klüger, MwStR 2019, 771 (772); Heidner, in: Bunjes, UStG, § 15 Rz. 158.
§ 2 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen? 63
berechtigt ist.329 Dies gilt auch dann, wenn der Leistende die nach § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG geschuldete Umsatzsteuer an den Fiskus entrichtet hat.330 Eine Rechnungsberichtigung gemäß § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG hat für das Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer infolgedessen keine rechtliche Relevanz mehr.331 Rechtsgrundlage für die Rückgängigmachung des Vorsteuerabzugs sind demnach nicht die §§ 14c Abs. 1 Satz 2, 17 Abs. 1 Satz 2 UStG, sondern die §§ 164 Abs. 2, 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.332 Im Fall einer Rechnungsberichtigung nach §§ 14c Abs. 1 Satz 2, 17 Abs. 1 UStG erfolgt im Ergebnis zwar eine einheitliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers.333 Dem leistenden Unternehmer steht im Fall der Berichtigung des Steuerbetrags und gleichzeitiger Rückerstattung des Umsatzsteuerbetrags an den Leistungsempfänger ein Umsatzsteuererstattungsanspruch zu.334 Gleichzeitig hat der Leistungsempfänger im Fall des unrichtigen Steuerausweises keinen Anspruch auf Vorsteuerabzug beziehungsweise im Fall eines überhöhten Steuerausweises nur in der Höhe, in welcher der Leistende die Umsatzsteuer tatsächlich gesetzlich schuldet.335 Da der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers und die Rechnungsberichtigung des Leistenden nach § 14 Abs. 1 UStG materiell-rechtlich unabhängig voneinander existieren336, lässt sich aus der im Ergebnis einheitlichen337 Behandlung der Unternehmer im Fall einer Rechnungsberichtigung nicht schließen, dass der Leistende und der Leistungsempfänger einen materiell-rechtlichen Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung haben.
4. Zwischenergebnis Zwar knüpft der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers materiell-rechtlich gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG an die Steuerschuld des leistenden Unternehmers an („gesetzlich geschuldet“),338 das Recht des Leistungsempfängers auf 329 Grube, MwStR 2013, 234 (237); Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 31; siehe auch BFH v. 25. 4. 2013 – V R 2/13, UR 2013, 968 Rz. 17; Fleckenstein-Weiland, in: Guhling/Günter, Gewerberaummiete, § 14c UStG Rn. 11. 330 Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 31. 331 BFH v. 25. 4. 2013 – V R 2/13, UR 2013, 968 Rz. 17; Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 31; Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 141. 332 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 140 u. 141; siehe auch Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 31. 333 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 334 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 133. 335 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 140 f. 336 Grube, MwStR 2013, 234 (237). 337 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 338 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121).
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
Abzug der Vorsteuer steht zur Steuerschuld des Leistenden materiell-rechtlich jedoch nicht solchermaßen in einem Abhängigkeitsverhältnis, dass über Vorsteuer und Steuer stets eine widerspruchsfreie Entscheidung zu treffen ist339. Für die dieser Arbeit zugrunde liegende Problematik bedeutet dies, dass der Leistungsempfänger gegen die für ihn zuständige Finanzbehörde nach jetziger Rechtslage aus materiellrechtlichen Gründen auch keinen Anspruch darauf hat, dass diese der Rechtsauffassung der Finanzbehörde des Leistenden dahingehend folgt, dass der Umsatz der Umsatzsteuer unterliegt, und dementsprechend den Vorsteuerabzug gewährt.340 Damit besteht für den Leistungsempfänger die Gefahr, die Umsatzsteuer aufgrund widersprüchlicher Entscheidungen selbst tragen zu müssen, wenn sein Vorsteuerabzug abgelehnt wird.341
III. Zwischenergebnis Das UStG bezweckt eine Symmetrie von Steuer und Vorsteuer.342 Bezweckt ist, dass sich die Umsatzsteuer und die Vorsteuer „betragsmäßig gegeneinander aufheben“ (sog. Null-Situation)343.344 Zwar erfolgt in bestimmten Situationen im Ergebnis eine Gleichbehandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers,345 jedoch ist 339
So Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450; siehe auch Hummel, MwStR 2016, 172 (178); Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 75; Sterzinger, DStR 2009, 1340 (1342); Sterzinger, UR 2012, 175 (183); a. A. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 340 Einen Anspruch aus materiell-rechtlichen Gründen ablehnend Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450 u. § 15 Rz. 925; Sterzinger, UR 2012, 175 (183). 341 Weinschütz, EuZW 2012, 119 (221). 342 BFH v. 30. 11. 1995 – V R 57/94, BStBl. 1996 II, 206; Höink/Hudasch, BB 2017, 215 (222); Hummel, UR 2016, 289 (290); Korn, in: Bunjes, UStG, § 17 Rz. 18; Lenger, NZI 2014, 144 (147); Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 80. Auch Kokott führt an, dass ein ,,Gleichlauf zwischen der Steuerschuld des Leistenden und dem Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers“ bezweckt ist. Die Rechnung, insbesondere das Erfordernis der Angabe des zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrags in der Rechnung gemäß Art. 226 Nr. 10 MwStSystRL, bezwecke unter anderem solch einen Gleichlauf. Siehe Generalanwältin Kokott, Schlussantrag v. 30. 11. 2017 – C-8/17 – Biosafe, MwStR 2018, 130 Rz. 40, 61 u. 65; so auch BMF-Schreiben v. 18. 9. 2020 – III C 2-S 7286-a/19/10001 :001, 2020/0920350, DStR 2020, 2131 Rz. 5. Im vorstehenden Zusammenhang führt Stadie aus: Wäre der Leistungsempfänger befugt, die Vorsteuer eigenständig aus der vereinbarten Gegenleistung herauszurechnen, könnte das Gleichgewicht zwischen Steuer und Vorsteuer gefährdet sein, sofern Steuerpflicht, Steuersatz oder die Höhe der Bemessungsgrundlage divergierend qualifiziert werden würden. Das Gleichgewicht werde prinzipiell deshalb gewahrt, weil der Leistende die Höhe des abziehbaren Vorsteuerabzugs in der Rechnung festlege. Vgl. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 122. 343 Sterzinger, DStR 2009, 1340 (1342). 344 BFH v. 2. 11. 1989 – V R 56/84, BeckRS 1989, 22009237 (unter II., 1., c)); BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69 (69); Sterzinger, DStR 2009, 1340 (1342). 345 Siehe z. B. oben unter: Erster Teil, § 2, II., 3.; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816).
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 65
der „Grundsatz vom Gleichgewicht zwischen abziehbaren Vorsteuerbeträgen und geschuldeter Umsatzsteuer im Gesetz nicht lückenlos verwirklicht.“346 Die Steuerschuld des Leistenden und das Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer stehen materiell-rechtlich nicht solchermaßen in einem Abhängigkeitsverhältnis, dass über diese stets eine widerspruchsfreie Entscheidung zu treffen ist.347 Mit anderen Worten: Das UStG normiert kein materielles „Korrespondenzprinzip“ betreffend die Umsatzsteuer und die Vorsteuer.348 Ob der Leistende die Umsatzsteuer schuldet und ob dem Leistungsempfänger ein Vorsteuerabzug hinsichtlich desselben Umsatzes zusteht, ist demnach nach jetziger Rechtslage jeweils separat in den beiden Steuerschuldverhältnissen zwischen den Unternehmern und den jeweils für sie zuständigen Finanzbehörden zu prüfen.349 Dementsprechend hat keiner der beiden Unternehmer nach jetziger Rechtslage gegen die jeweils für ihn zuständige Finanzbehörde einen Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung hinsichtlich der Steuerbarkeit und Steuerpflicht ein und derselben Leistung aus materiell-rechtlichen Gründen.350 Aufgezeigt wurde jedoch, dass sowohl dem Leistenden als auch dem Leistungsempfänger die Gefahr droht, dass sie die Umsatzsteuer aufgrund widersprüchlicher Beurteilungen selbst tragen müssen.351
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? Hinsichtlich der aufgezeigten Problemlagen der Unternehmer infolge eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis stellt sich die Frage, ob eine Gleichbehandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers durch ihre Finanzämter aus verfah346
BFH v. 2. 11. 1989 – V R 56/84, BeckRS 1989, 22009237 (unter II, 1., c)). So Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450; siehe auch FG Münster v. 7. 4. 2020 – 15 K 3019/17 U, DStRE 2020, 1396 Rz. 30; Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/ FGO, § 110 FGO Rz. 75; Sterzinger, DStR 2009, 1340 (1342); Sterzinger, UR 2012, 175 (183); a. A. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 348 FG Münster v. 7. 4. 2020 – 15 K 3019/17 U, DStRE 2020, 1396 Rz. 28 f.; Hummel, MwStR 2016, 172 (178); Trejo, MwStR 2020, 902 (90); zum Vorschlag einer „gesetzliche[n] Korrespondenzregelung“ um systembedingte „Windfall-profits“ auszuschließen vgl. Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen, BR-Drs. 310/18, S. 8 Nr. 4. 349 BFH v. 2. 11. 1989 – V R 56/84, BeckRS 1989, 22009237 (unter II., 1., c)); BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69 (69); Hummel, MwStR 2016, 172 (178); Mohr/Detmering, MwStR 2016, 516 (519); Sterzinger, DStR 2009, 1340 (1342). 350 Einen Anspruch aus materiell-rechtlichen Gründen ablehnend Sterzinger, UR 2012, 175 (183); Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450; zum fehlenden Anspruch generell siehe von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 351 Erster Teil, § 2, I., 2. u. erster Teil, § 2, II.; vgl. dazu auch Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 347
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
rensrechtlichen Gesichtspunkten gewährleistet wird beziehungsweise ob sich aus dem Verfahrensrecht ein Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung herleiten lässt.352
I. Verbindliche Auskunft, § 89 Abs. 2 Satz 1 AO 1. Verbindliche Auskunft gegenüber einem Unternehmer, § 89 Abs. 2 Satz 1 AO Eine Gleichbehandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers durch ihre Finanzbehörden ist aus verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten zunächst gewährleistet, wenn zumindest einer der beiden Unternehmer die für ihn zuständige Finanzbehörde um verbindliche Auskunft über die umsatzsteuerliche Beurteilung einer Leistung bitten kann und das andere Finanzamt an die verbindliche Auskunft gebunden ist.353 § 89 Abs. 2 Satz 1 AO bestimmt, dass die Finanzämter und das Bundeszentralamt für Steuern auf Antrag verbindliche Auskünfte über die steuerliche Beurteilung von genau bestimmten, noch nicht verwirklichten Sachverhalten erteilen können, wenn daran im Hinblick auf die erheblichen steuerlichen Auswirkungen ein besonderes Interesse besteht. a) Ermessensentscheidung Ob eine verbindliche Auskunft erteilt wird, ist nach dem Wortlaut des § 89 Abs. 2 Satz 1 AO („können“) eine Ermessenentscheidung (sog. Entschließungsermessen)354.355 Auf Ermessensentscheidungen hat der Antragsteller keinen Rechtsanspruch.356 Die Ablehnung einer verbindlichen Auskunft kommt jedoch angesichts dessen, dass eine für die Auskunft bestehende Gebührenpflicht selbst bei Ablehnung der Auskunftserteilung entsteht (vgl. den Wortlaut des § 89 Abs. 3 Satz 1 AO)357, ausschließlich bei eindeutigen Sachverhalten in Frage.358 Unter der Voraussetzung, dass die in § 89 Abs. 2 Satz 2 AO normierten Voraussetzungen vorliegen und davon 352 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789 ff). Die vorliegend in V., 2. bis VII. angesprochenen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten werden auch im vorstehenden Vorlagebeschluss des FG Hamburg geprüft. 353 Vgl. dazu Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1177); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 354 Seer, FR 2017, 161 (163); Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 40. 355 Wünsch, in: Koenig, AO, § 89 Rz. 27. 356 Wünsch, in: Koenig, AO, § 89 Rz. 27. 357 Zur Gebührenpflicht vgl. auch AEAO zu § 89 Nr. 4.1, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021. 358 Wünsch, in: Koenig, AO, § 89 Rz. 27.
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 67
auszugehen ist, dass der Antragsteller die Gebühr i. S. v. § 89 Abs. 3 AO begleichen wird, ist von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen, sodass dem Antragsteller ein Rechtsanspruch auf Auskunftserteilung zuzusprechen ist.359 Sollte die Auskunft vorliegend rechtlich möglich und auch für beide Steuerrechtsverhältnisse bindend sein, spricht dies trotz Vorliegens einer Ermessensentscheidung für die Gewährleistung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer. b) Zuständigkeit und Antragsbefugnis Zuständig für die Erteilung einer verbindlichen Auskunft ist nach § 89 Abs. 2 Satz 2 AO die Finanzbehörde, die bei Verwirklichung des Sachverhalts örtlich zuständig sein würde. Sofern im Zeitpunkt der Antragstellung für den Antragsteller noch keine Finanzbehörde zuständig ist, ist das Bundeszentralamt für Steuern für die Erteilung der Auskunft zuständig (§ 89 Abs. 2 Satz 3 AO). Fraglich ist zunächst, ob sowohl der Leistende als auch der Leistungsempfänger antragsbefugt sind. Wer zur Beantragung einer verbindlichen Auskunft befugt ist, bestimmt § 89 Abs. 2 AO nicht.360 Nach AEAO361 zu § 89 Nr. 3.2.1 ist Antragsteller einer verbindlichen Auskunft derjenige, in dessen Namen der Antrag gestellt wird (formaler Antragstellerbegriff)362, wobei Antragsteller und Steuerpflichtiger nicht identisch sein müssen363. In der Literatur wird dementsprechend vertreten, dass keine materiellen Voraussetzungen für die Antragsbefugnis bestehen, sodass insbesondere die Steuerpflichtigkeit für die Antragsbefugnis nicht vorausgesetzt werde.364 Sofern ein Dritter die Auskunft beantrage, werde es jedoch an dem von § 89 Abs. 2 Satz 1 AO geforderten besonderen Interesse an der Auskunft mangeln.365 Steuerpflichtiger und Antragsteller seien infolgedessen in der Regel personenidentisch.366 Daneben wird in der Literatur vertreten, dass die Antragsbefugnis grundsätzlich367 allein dem Steuerpflichtigen zustehe, der den Sachverhalt zu verwirklichen vorhabe.368 359
Seer, FR 2017, 161 (163). Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 22. 361 Bei den Bestimmungen des Anwendungserlasses zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021 handelt es sich um Finanzverwaltungsauffassungen ohne Rechtsverbindlichkeit. Vgl. Trinks, StB 2011, 30 (30). Auch die Regelungen der AEAO stellen lediglich verwaltungsinterne Anweisungen dar. Vgl. Stemplewski, BB 2012, 2220 (2221). Zum UStAE entsprechend Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 1 Rz. 24. 362 Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 22. 363 Siehe aber AEAO zu § 89 Nr. 3.2.2, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021. 364 Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 22. 365 Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 22. 366 Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 22. 367 Vgl. aber § 89 Abs. 2 Satz 6 AO u. § 1 Abs. 2 und Abs. 3 StAuskV. 360
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
Vorliegend sind Leistender369 und Leistungsempfänger370 als Steuerpflichtige (vgl. § 33AO) nach beiden Ansichten antragsbefugt, sodass es keines Streitentscheids bedarf. Der steuerpflichtige Leistende kann Auskunft darüber begehren, ob seine künftige Leistung der Umsatzsteuer unterliegt.371 Der steuerpflichtige Leistungsempfänger kann Auskunft über die Beurteilung darüber begehren, ob eine künftige Leistung des Leistenden der Umsatzsteuer unterliegt, die er zu empfangen vorhat. c) Noch nicht verwirklichter Sachverhalt § 89 Abs. 1 Satz 1 AO ist nach seinem Wortlaut allein bei noch nicht verwirklichten Sachverhalten anwendbar.372 Der Sachverhalt ist noch nicht verwirklicht, wenn er „erst in der Zukunft umgesetzt werden soll“.373 Liegt ein Widerstreit im VierParteien-Verhältnis vor, ist der Sachverhalt, der umsatzsteuerrechtlich widersprüchlich beurteilt wird, jedoch bereits verwirklicht.374 Denn im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis wird eine bereits ausgeführte Leistung als steuerbar und steuerpflichtig erachtet, der Vorsteuerabzug für dieselbe Leistung hingegen mangels Steuerbarkeit oder Steuerpflicht versagt.375 Die Rechtsfragen, die bei einem bereits verwirklichten Sachverhalt aufkommen, sind allein im Veranlagungs- oder Feststellungsverfahren von der zuständigen Finanzbehörde zu entscheiden.376 Denkbar ist ein Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis allerdings auch im Rahmen von Dauersachverhalten oder bei zwar abgeschlossenen, sich jedoch ständig wiederholenden Sachverhalten. Ein Dauersachverhalt liegt zum Beispiel bei einem Mietvertrag vor.377 Ein sich ständig wiederholender Sachverhalt liegt bei sich ständig 368 Kobor, in: BeckOK AO, § 89 Rz. 30.3; Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 89 Rz. 30a; Wünsch, in: Koenig, AO, § 89 Rz. 26. 369 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1177); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 370 A. A. Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). Neumann-Tomm hält nur den Leistenden im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis für antragsbefugt. 371 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1177); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789); von Streit, DStR 2012, 1897 (899); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 372 Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 266; Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rz. 17; Wünsch, in: Koenig, AO, § 89 Rz. 25. 373 Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rz. 17. 374 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). 375 Weimann, ASR 05/2014, 8 (8); Weimann, StB 2014, 398 (399). In Betracht kommt auch ein Streit zur Höhe des Steuersatzes eines ausgeführten Umsatzes. Siehe Sterzinger, UR 2012, 175 (183). 376 AEAO zu § 89 Nr. 3.5.2, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021; Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rz. 17. 377 Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rz. 17; Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutschfranzösischen Vergleich, S. 24.
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 69
wiederholenden Leistungen vor.378 Bei Dauersachverhalten und sich ständig wiederholenden Leistungen ist der Sachverhalt i. S. d. § 89 Abs. 2 Satz 1 AO noch nicht verwirklicht.379 Auch dann, wenn ein Sachverhalt bereits vorliegt, kann eine Auskunft beantragt werden, wenn der Unternehmer den Sachverhalt ernsthaft umzugestalten plant.380 Denn infolge der Umgestaltung des Sachverhalts muss dieser möglicherweise umsatzsteuerrechtlich abweichend beurteilt werden. Der geplante Sachverhalt stellt einen noch nicht verwirklichten Sachverhalt dar. Infolge einer verbindlichen Auskunft könnten demnach möglicherweise zumindest künftige381 widerstreitende Entscheidungen im Vier-Parteien-Verhältnis verhindert werden, wenn ein Dauersachverhalt oder ein sich ständig wiederholender Sachverhalt vorliegt oder dann, wenn der Sachverhalt ernsthaft umgestaltet werden soll und beide Finanzbehörden an die Auskunft gebunden wären. Überdies könnte dann, wenn ein Widerstreit droht, der Sachverhalt also noch nicht verwirklicht ist, der Eintritt des Widerstreits durch eine verbindliche Auskunft einer der beiden Unternehmer präventiv ausgeschlossen werden. d) Keine Bindungswirkung für das andere Steuerschuldverhältnis In den vorstehenden Situationen ist allerdings gerade fraglich, ob die verbindliche Auskunft gegenüber einem der am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer auch Bindungswirkung382 gegenüber der anderen Finanzbehörde entfaltet. Wie sich die Bindungswirkung der verbindlichen Auskunft generell herleiten lässt, war früher umstritten.383 Heute bestimmt sich die Bindungswirkung der verbindlichen Auskunft nach § 2 der Steuer-Auskunftsverordnung (StAuskV)384.385 § 2 StAuskV basiert auf der Verordnungsermächtigung des § 89 Abs. 2 Satz 5 AO.386 Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 StAuskV ist die von der nach § 89 Abs. 2 Satz 2 oder Satz 3 AO zuständigen Finanzbehörde erteilte verbindliche Auskunft für die Besteuerung des Antragstellers bindend, vorausgesetzt zunächst, dass im Nachhinein keine oder 378
Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rz. 17. Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rz. 17; Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutschfranzösischen Vergleich, S. 34 f. 380 AEAO zu § 89 Nr. 3.5.3, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31.1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021. 381 Heinrichshofen, EU-UStB 2010, 68 (70). 382 Generell zur Frage der Bindungswirkung vgl. Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1177). 383 Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 263; zu den verschiedenen Ansichten siehe dort. 384 Steuer-Auskunftsverordnung v. 30. 11. 2007, BGBl. I, 2783, zul. geändert durch Art. 4 der Verordnung v. 12. 7. 2017, BGBl. I, 2360. 385 Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rz. 32; Wünsch, in: Koenig, AO, § 89 Rz. 29; zur Bindungswirkung siehe auch AEAO zu § 89 Nr. 3.6, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021. 386 Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rz. 32. 379
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
eine nur unwesentliche Sachverhaltsabweichung gegeben ist. Weiterhin setzt die Bindungswirkung voraus, dass die Auskunft nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen dem geltenden Recht widerspricht (§ 2 Abs. 1 Satz 2 StAuskV). Nach dem Wortlaut von § 2 Abs. 1 Satz 1 StAuskV besteht die Bindungswirkung der verbindlichen Auskunft „für die Besteuerung des Antragstellers“. Eine verbindliche Auskunft nach § 89 Abs. 2 Satz 1 AO entfaltet demnach ausschließlich rechtliche Wirkung für das Steuerschuldverhältnis zwischen dem Antragsteller und dem für ihn zuständigen Finanzamt.387 Die Auskunft hat mithin keine formelle oder materielle Bindungswirkung für das Steuerschuldverhältnis zwischen dem anderen am Vier-ParteienVerhältnis beteiligten Unternehmer und dessen Finanzamt.388 Da die Auskunft nur für das Steuerschuldverhältnis zwischen Antragsteller und dessen Finanzbehörde bindend ist, ist vorliegend unbeachtlich, ob für beide Unternehmer unterschiedliche Finanzämter zuständig sind oder für beide Unternehmer dasselbe Finanzamt zuständig ist. e) Zwischenergebnis Eine nach § 89 Abs. 2 Satz 1 AO von einem der Unternehmer eingeholte verbindliche Auskunft vermag folglich keine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer zu begründen.389
2. Einheitlich zu erteilende Auskunft, § 89 Abs. 2 Satz 6 AO, § 1 Abs. 2 und Abs. 3 StAuskV Da die von einem der beiden am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer eingeholte verbindliche Auskunft keine Bindungswirkung für das Steuerschuldverhältnis zwischen dem anderen Unternehmer und dessen Finanzamt hat,390 stellt sich folgende Frage: Können Leistender und Leistungsempfänger bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis und gleichzeitigem Vorliegen eines Dauersachverhalts, sich ständig wiederholenden Sachverhalten oder einer ernsthaften Umplanung des Sachverhalts nach jetziger Rechtslage gemeinsam eine verbindliche Auskunft beantragen mit der Folge, dass die Auskunft für die Besteuerung beider Unternehmer verbindlich ist? Falls diese Frage zu bejahen ist, stellt sich überdies die Frage, welche Finanzbehörde für die Erteilung der Auskunft zuständig ist. Die gleichen Fragen stellen sich ferner für den Fall, dass die Unternehmer ge-
387 So im Ergebnis auch Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1177); Seer, in: Tipke/Kruse, AO/ FGO, § 89 AO Rz. 30b. 388 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1177); siehe auch Monfort, UR 2020, 549 (557). 389 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1177); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). 390 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1177); siehe auch Monfort, UR 2020, 549 (557).
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 71
meinsam eine verbindliche Auskunft beantragen möchten, um bei einem noch nicht verwirklichten Sachverhalt einen drohenden Widerstreit präventiv zu verhindern. a) Voraussetzungen Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine erteilte Auskunft für die Besteuerung aller Beteiligten eines Sachverhalts verbindlich.391 Nach § 89 Abs. 2 Satz 6 AO kann durch Rechtsverordnung bestimmt werden, unter welchen Voraussetzungen eine verbindliche Auskunft gegenüber mehreren Beteiligten einheitlich zu erteilen ist und welche Finanzbehörde in diesem Fall für die Erteilung der verbindlichen Auskunft zuständig ist. Einheitlichkeit meint, „dass die Bindungswirkung der verbindlichen Auskunft gegenüber allen Antragstellern gleichermaßen besteht oder gleichermaßen nicht besteht oder wegfällt“.392 Auf der Verordnungsermächtigung des § 89 Abs. 2 Satz 6 AO basiert § 1 Abs. 2 und Abs. 3 StAuskV393394 § 1 Abs. 2 Satz 1 StAuskV regelt, in welchen Fällen eine verbindliche Auskunft von allen Beteiligten nur gemeinsam beantragt werden kann. Sinn und Zweck dieser Regelung ist die Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen in den dort genannten Fällen.395 § 1 Abs. 3 StAuskV bestimmt, wer zuständige Finanzbehörde bei einer einheitlich zu erteilenden Auskunft ist. § 2 Abs. 2 StAuskV regelt die Bindungswirkung einer nach § 1 Abs. 3 StAuskV erteilten verbindlichen Auskunft. Bezieht sich die Auskunft auf einen Sachverhalt, der mehreren Personen i. S. v. § 179 Abs. 2 Satz 2 AO steuerlich zuzurechnen ist (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StAuskV) oder liegt ein Organschaftsfall i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Nr. 3 oder Nr. 4 StAuskV vor, ist eine gemeinsame Antragstellung eine Auskunft zwingend.396 aa) Organschaftsfall, § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Nr. 3 oder Nr. 4 StAuskV Für die umsatzsteuerrechtliche Bewertung eines Sachverhalts in Organschaftsfällen ist allein § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StAuskV relevant. Nach dieser Vorschrift muss eine gemeinschaftliche Antragstellung erfolgen, wenn sich die Auskunft auf einen Sachverhalt bezieht, der zur Begründung oder Beendigung einer Organschaft i. S. v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG führt. Ein Organschaftsfall i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StAuskV liegt vorliegend jedoch nicht vor. 391 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). von Streit und Streit verweisen auf die Regelung des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StAusk bei Vorliegen eines Widerstreits. 392 BT-Drs. 18/8434, 109. 393 Auf § 1 Abs. 2 StAuskV im Zusammenhang mit der Problematik widersprüchlicher Entscheidungen auch verweisend von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 394 Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rz. 32. 395 Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 89 Rz. 30a. 396 Vgl. den Wortlaut des § 1 Abs. 2 StAuskV: „kann von allen Beteiligten nur gemeinsam beantragt werden“; so auch Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 22.
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bb) Sachverhalt, der mehreren Personen i. S. v. § 179 Abs. 2 Satz 2 AO steuerlich zuzurechnen ist, § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StAuskV Sinn und Zweck der Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StAuskV ist, dass den Personen, deren Besteuerungsgrundlagen in einem zeitlich nach der Auskunft erfolgenden Besteuerungsverfahren gemäß § 179 Abs. 2 Satz 2 AO gesondert und einheitlich festzustellen sind, ebenfalls eine einheitliche verbindliche Auskunft erteilt wird.397 § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StAuskV umfasst somit die Fälle einer gesonderten und einheitlichen Feststellung.398 Nach § 179 Abs. 1 AO werden die Besteuerungsgrundlagen abweichend von § 157 Abs. 2 durch Feststellungsbescheid gesondert festgestellt, soweit dies in der AO oder sonst in den Steuergesetzen bestimmt ist. Die gesonderte Feststellung wird gegenüber mehreren Beteiligten einheitlich vorgenommen, wenn dies gesetzlich bestimmt ist oder der Gegenstand der Feststellung mehreren Personen zuzurechnen ist (§ 179 Abs. 2 Satz 2 AO). Wem ein Gegenstand beziehungsweise ein Sachverhalt i. S. v. § 179 Abs. 2 Satz 2 AO zuzurechnen ist, ist nicht generell explizit gesetzlich bestimmt.399 Vielmehr ergibt sich die Zurechnung aus dem materiellen Recht.400 Eine Zurechnung erfolgt insbesondere bei Personengesellschaften.401 So sind die Einkünfte einer Mitunternehmerschaft die Besteuerungsgrundlage betreffend der Einkommensbesteuerung der Mitunternehmer.402 Regelmäßig wird mehreren Erben ein Gegenstand nach § 179 Abs. 2 Satz 2 AO zugerechnet.403 So ist im Fall einer erbrechtlichen Gesamtnachfolge ein zum Nachlass gehörendes Grundstück mehreren Erben zuzurechnen.404 Im Bereich des Umsatzsteuerrechts kann eine gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 VO zu § 180 Abs. 2 AO405 i. V. m. § 180 Abs. 2 AO nur erfolgen, wenn mehrere Unternehmer im Rahmen eines Gesamtobjekts Umsätze ausführen oder empfangen.406 Die gesonderte Feststellung hiernach ist nach § 179 Abs. 2 Satz 2 AO einheitlich vorzunehmen, wenn der Gegenstand der Feststellung mehreren Personen zuzurechnen ist, was bei einem 397
Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 22. Dannecker/Werder, BB 2011, 2268 (2270). 399 Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 179 AO Rz. 125; Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 22 Fn. 134. 400 Ratschow, in: Klein, AO, § 179 Rz. 22; Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 22. 401 Dißars/Bürkle, StB 2008, 123 (124); Korff/Süß, IStR 2017, 904, (909); Rätke, in: Klein, AO, § 89 Rz. 21. 402 Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 179 AO Rz. 51. 403 BFH v. 18. 8. 2004 – II R 22/04, DStRE 2004, 1360 (unter II., 1., a)). 404 Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 179 AO Rz. 146. 405 Verordnung über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach § 180 Abs. 2 der Abgabenordnung v. 19. 12. 1986 (V zu § 180 Abs. 2 AO), BGBl. I, 2663, zul. geändert durch Artikel 4 der Verordnung v. 18. 7. 2016, BGBl. I, 1722. 406 BFH v. 3. 11. 2005 – V R 53/03, DStRE 2006, 626 (unter II., 1., a)); Canz, BB 2020, 1815 (1815); Leonard/Heidner, in: UStG, § 18 Rz. 30. 398
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Gesamtobjekt notwendigerweise der Fall ist.407 Gesamtobjekte408 sind Wirtschaftsgüter, Anlagen oder Einrichtungen, die mehreren Personen, die bei der Planung, Herstellung, Erhaltung oder dem Erwerb dieser Wirtschaftsgüter, Anlagen oder Einrichtungen gleichartige Rechtsbeziehungen zu Dritten hergestellt oder unterhalten haben, getrennt zuzurechnen sind (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VO zu § 180 Abs. 2 AO409).410 Der Leistende und der Leistungsempfänger sind hingegen lediglich Vertragspartner hinsichtlich eines zwischen ihnen bestehenden Leistungsaustausches. Sie führen oder empfangen keine Umsätze im Rahmen eines Gesamtobjekts. Bei dem Leistenden und dem Leistungsempfänger erfolgt keine gesonderte (und einheitliche) Feststellung von Besteuerungsgrundlagen. Der Sachverhalt Leistungserbringung ist dem Leistenden und dem Leistungsempfänger auch nicht i. S. v. § 179 Abs. 2 Satz 2 AO steuerlich zuzurechnen, was Voraussetzung für die gemeinsame Antragstellung nach § 2 Abs. 2 StAuskV ist. Eine gemeinsame Antragstellung ist vorliegend nach § 2 Abs. 2 StAuskV nicht zwingend. Es wäre außerdem lebensfremd, wenn der Leistende und der Leistungsempfänger jegliche Beantragung einer Auskunft zwingend gemeinsam vornehmen müssten. cc) Keine Möglichkeit einer einheitlich zu erteilenden Auskunft in nicht geregelten Fällen Es stellt sich allerdings die Frage, ob dem Leistenden und der Leistungsempfänger die Möglichkeit offen steht, eine Auskunft gemeinsam beantragen zu können, auch wenn kein von § 1 Abs. 2 Satz 1 StAuskV geregelter Fall gegeben ist. Hierfür spricht, dass von § 1 Abs. 2 Satz 1 StAuskV allein geregelt wird, wann eine verbindliche Auskunft „von allen Beteiligten nur gemeinsam beantragt werden [kann]“, also zwingend gemeinsam beantragt werden muss411. Nach Ansicht des BFH lässt sich jedoch aus dem Bestehen der vorstehenden Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 1 StAuskV im Umkehrschluss folgern, dass in jedem anderen von § 1 Abs. 2 Satz 1 StAuskV nicht geregelten Fall auch bei Vorliegen des gleichen Sachverhalts mehrere Anträge zu erfolgen haben.412 Eine gemeinsame Antragstellung ist folglich allein unter strengen Voraussetzungen möglich.413 407
BFH v. 3. 11. 2005 – V R 53/03, DStRE 2006, 626 (unter II., 1., a)). Der Begriff des „Gesamtobjekts“ stellt einen ertragsteuerlichen Begriff dar, der umsatzsteuerlich zu beurteilen ist. Vgl. dazu Sterzinger, MwStR 2019, 298 (303) u. Canz, BB 2020, 1815 (1818). 409 Verordnung über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach § 180 Abs. 2 der Abgabenordnung v. 19. 12. 1986 (V zu § 180 Abs. 2 AO), BGBl. I, 2663, zul. geändert durch Artikel 4 der Verordnung v. 18. 7. 2016, BGBl. I, 1722. 410 BFH v. 3. 11. 2005 – V R 53/03, DStRE 2006, 626 (unter II., 1., a)). 411 Zum Erfordernis der gemeinsamen Antragstellung vgl. Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 22. 412 BFH v. 27. 11. 2019 – II R 24/17, DStRE 2020, 936 Rz. 24. 408
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Dem ist zuzustimmen. In anderen als in den von § 1 Abs. 2 Satz 1 StAuskV geregelten Fällen kann mangels entsprechender Regelung mithin keine gemeinsame Antragstellung erfolgen.414 Damit steht dem Leistenden und dem Leistungsempfänger nicht die Möglichkeit offen, gemeinsam eine Auskunft mit Bindungswirkung für beide Steuerschuldverhältnisse betragen zu können. b) Zwischenergebnis Nach alledem ist festzustellen, dass der Leistende und der Leistungsempfänger nach jetziger Rechtslage keine gemeinsame verbindliche Auskunft beantragen können, mit der Folge, dass die Auskunft für die künftige Besteuerung beider Unternehmer verbindlich ist.
3. Pflicht von Finanzbehörden zur Abstimmung Nach AEAO415 zu § 89 Nr. 3.3.1.7 und Nr. 3.3.2.3 sollen widersprüchliche verbindliche Auskünfte durch unterschiedliche Finanzbehörden vermieden werden, indem entweder eine Zuständigkeitsvereinbarung nach § 27 AO getroffen wird oder eine Abstimmung unter den Finanzbehörden erfolgt. Die vorstehende Verwaltungsanweisung gilt allerdings nur für den Fall, dass eine von einem Steuerpflichtigen beantragte verbindliche Auskunft mehrere Steuerarten betrifft, sodass für diesen Steuerpflichtigen verschiedene Finanzbehörden zuständig sind.416
II. Verbindliche Zusage, §§ 204 – 207 AO Eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers kann auch nicht mit Hilfe des Instruments der verbindlichen Zusage nach § 204 AO erreicht werden. Gemäß § 204 AO soll die Finanzbehörde im Anschluss an eine Außenprüfung dem Steuerpflichtigen auf Antrag verbindlich zusagen, wie ein für die Vergangenheit geprüfter und im Prüfungsbericht dargestellter Sachverhalt in Zukunft steuerrechtlich behandelt wird. Eine verbindliche Zusage ist demnach zunächst ausschließlich im Anschluss an eine Außenprüfung zulässig.417 Überdies wirkt die 413
Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 24. So im Ergebnis auch Wöhlecke, Die verbindliche Auskunft im deutsch-französischen Vergleich, S. 24. 415 Steuer-Auskunftsverordnung v. 30. 11. 2007, BGBl. I, 2783, zul. geändert durch Art. 4 der Verordnung v. 12. 7. 2017, BGBl. I, 2360. 416 AEAO zu § 89 Nr. 3.3.1.7 und Nr. 3.3.2.3, Steuer-Auskunftsverordnung v. 30. 11. 2007, BGBl. I, 2783, zul. geändert durch Art. 4 der Verordnung v. 12. 7. 2017, BGBl. I, 2360. 417 Bruschke, StB 2006, 297 (298); Rüsken, in: Klein, AO, § 104 Rz. 1. 414
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 75
Zusage allein in die Zukunft.418 Infolgedessen muss der Sachverhalt in die Zukunft wirken, was insbesondere bei Dauersachverhalten, zum Beispiel bei Miet- oder Darlehensverträgen, gegeben ist.419 Wie ein bereits verwirklichter abgeschlossener Sachverhalt zu bewerten ist, kann nicht Inhalt einer verbindlichen Zusage sein.420 Bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis soll jedoch gerade eine in die Vergangenheit wirkende widerspruchsfreie Beurteilung über einen verwirklichten Sachverhalt erzielt werden. Nicht verhindert werden können darüber hinaus künftige widerstreitende Entscheidungen im Vier-Parteien-Verhältnis bei Vorliegen eines Dauersachverhalts. Zwar kommt eine verbindliche Zusage gerade bei Dauersachverhalten in Betracht,421 die verbindliche Zusage entfaltet jedoch grundsätzlich422 allein Bindungswirkung (vgl. § 206 AO423) für das Steuerschuldverhältnis zwischen Antragsteller und dessen Finanzamt424. Dritten gegenüber besteht die Bindungswirkung nur dann, wenn gegenüber ihnen und dem Antragsteller ausschließlich einheitlich entschieden werden kann425, was vorliegend, wie bereits festgestellt wurde,426 nicht der Fall ist. Da die verbindliche Zusage allein für das Steuerschuldverhältnis zwischen Antragsteller und dessen Finanzbehörde bindend ist, ist unbeachtlich, ob für beide Unternehmer unterschiedliche Finanzämter zuständig sind oder für beide Unternehmer dasselbe Finanzamt zuständig ist.
III. Tatsächliche Verständigung Überdies kommt eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers nicht infolge des Instruments der gesetzlich nicht geregelten427, von der Rechtsprechung entwickelten428, tatsächlichen Verständigung in 418 BFH v. 13. 12. 1995 – XI R 43 – 45/89, DStR 1996, 621 (unter II., 3., b)); Hannig, in: BeckOK AO, § 204 Rz. 11; Rüsken, in: Klein, AO, § 104 Rz. 2; Stemplewski, BB 2012, 2220 (2221). 419 Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 266. 420 BFH v. 13. 12. 1995 – XI R 43 – 45/89, DStR 1996, 621 (unter II., 3., b)); Hannig, in: BeckOK AO, § 204 Rz. 11; Rüsken, in: Klein, AO, § 104 Rz. 2. 421 Bruschke, StB 2006, 297 (298); Hannig, in: BeckOK AO, § 204 Rz. 1. 422 Der Gesamtrechtsnachfolger des Antragstellers tritt in dessen Position. Vgl. hierzu und zur Rechtsnachfolge im Weiteren: Bruschke, StB 2006, 297 (300). 423 Nach § 206 Abs. 1 AO ist die verbindliche Zusage ist für die Besteuerung bindend, wenn sich der später verwirklichte Sachverhalt mit dem der verbindlichen Zusage zugrunde gelegten Sachverhalt deckt. Nach dem Wortlaut des § 206 Abs. 1 AO ist die Zusage mithin nur für „die Besteuerung“ des Antragstellers bindend. 424 Intemann, in: Koenig, AO, § 206 Rz. 14. 425 Rüsken, in: Klein, AO, § 206 Rz. 2. 426 Siehe oben: Erster Teil, § 3, I., 2., a), bb). 427 Wünsch, in: Koenig, AO, § 88 Rz. 47.
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Betracht. Eine widerspruchsfreie Behandlung infolge einer tatsächlichen Verständigung ist schon deshalb abzulehnen, weil die tatsächliche Verständigung allein zur Sachverhaltsermittlung erfolgen kann und gerade nicht dazu dient, zweifelhafte Rechtsfragen zu klären429. Selbst wenn durch die tatsächliche Verständigung zweifelhafte Rechtsfragen geklärt werden könnten, könnte durch das Instrument der tatsächlichen Verständigung keine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers erzielt werden. Denn die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung erstreckt sich nicht auf die Behörden oder Personen, die hinsichtlich des Zustandekommens der Verständigung als unbeteiligt anzusehen sind.430
IV. Bindender Grundlagenbescheid, § 171 Abs. 10 AO Eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers kommt nach jetziger Rechtslage auch nicht infolge des Vorliegens eines bindenden Grundlagenbescheids i. S. d. § 171 Abs. 10 AO in Betracht.431 Nach § 171 Abs. 10 AO ist ein Grundlagenbescheid ein Verwaltungsakt, der für die Festsetzung einer Steuer bindend ist. Bei der gegenüber dem Leistenden wirkenden Steuerfestsetzung handelt es sich nicht um einen Grundlagenbescheid i. S. v. § 171 Abs. 10 AO, der eine Bindungswirkung für die Steuervergütungsfestsetzung (vgl. § 155 Abs. 5 (ehemals Abs. 4) AO) beim Leistungsempfänger erzeugt.432 Denn eine gesetzliche Regelung hierfür besteht nicht.433 Umgekehrt ist überdies auch die Steuervergütungsfestsetzung beim Leistungsempfänger mangels gesetzlicher Regelung kein Grundlangenbescheid, der für die Steuerfestsetzung beim Leistenden bindend wäre.434
428
BFH v. 7. 7. 2004 – X R 24/03, DStR 2004, 1647 (unter II., B.). Zum Zweck der tatsächlichen Verständigung vgl. BFH v. 11. 12. 1984 – VIII R 131/76, NVwZ 1985, 863 (unter d)); BFH v. 15. 3. 2000 – IV B 44/99, BeckRS 2000, 25004598 (unter c)); BFH v. 22. 7. 2008 – IX R 74/06, NJW-RR 2009, 258 (unter II., 2., b)); FG Münster v. 25. 2. 2020 – 5 K 795/17 U, DStRE 2020, 1511 Rz. 27; Wegner, SteuK 2011, 31 (31); Wünsch, in: Koenig, AO, § 88 Rz. 47; a. A. Seer, BB 1999, 78 (79). 430 BFH v. 6. 2. 1991 – I R 13/86, DStR 1991, 1047 (unter d.); BFH v. 7. 7. 2004 – X R 24/03, DStR 2004, 1647 (unter II., B.). 431 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450. 432 BFH v. 26. 2. 1987 – V S 4/86, BFH/NV 1987, 604 Rz. 29; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450. 433 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450. 434 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450. 429
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V. Widerstreitende Steuerfestsetzung, § 174 AO § 174 AO eröffnet die Möglichkeit, Steuerfestsetzungen, die inhaltlich zueinander im Widerspruch stehen (d. h. widerstreite Festsetzungen)435, zu ändern.436 Auch bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis widersprechen sich die durch die Finanzbehörden erfolgten umsatzsteuerrechtlichen Qualifizierungen desselben Sachverhalts hinsichtlich der Umsatzsteuerschuld des Leistenden und des Rechts des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer.437 Entweder gegenüber dem Leistenden oder gegenüber dem Leistungsempfänger ist die ergangene Entscheidung, welche durch die Finanzbehörde im Rahmen der Steuervergütung438 oder Steuerfestsetzung erfolgt ist, rechtlich fehlerhaft.439 Das für den Leistenden zuständige Finanzamt und das für die Leistungsempfänger zuständige Bundeszentralamt für Steuern hielten auch in der Rechtssache ADV Allround an ihren widerstreitenden umsatzsteuerrechtlichen Entscheidungen fest.440 Das Finanzamt des Leistenden hielt an der Auffassung fest, dass die Umsätze von ADV Allround der Umsatzsteuer unterliegen, während das für die Leistungsempfänger zuständige Bundeszentralamt für Steuern an der Auffassung festhielt, dass dies nicht der Fall sei und demgemäß keine Vorsteuer vergütet werden dürfe.441 Rechtlich richtig konnte jedoch nur eine der beiden umsatzsteuerrechtlichen Qualifizierungen sein.442 Fraglich ist infolgedessen, ob § 174 AO den dieser Arbeit zugrunde liegenden Konfliktfall, der sich für die Unternehmer aufgrund eines umsatzsteuerrechtlichen Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis ergibt, umfasst.443 Liegt einer der Änderungstatbestände des § 174 AO vor, ist die Bestandskraft des Steuerbescheids zwingend zu durchbrechen.444 Es erfolgt mithin eine nicht im Er-
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Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 428. AEAO zu § 174 Nr. 1.1, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021. 437 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 449. 438 Es erfolgt eine entsprechende Anwendung von § 174 AO auf Steuervergütungsfestsetzungen. Vgl. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rn. 428. 439 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 449. 440 Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); Weimann, StB 2014, 398 (398); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 441 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 (219); Weimann, StB 2014, 398 (398). 442 Allgemein zu widersprüchlichen Entscheidungen siehe Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 449. 443 Siehe dazu Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (790); Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 449; von Streit/Streit, UStB 2017, 57 Fn. 90; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (814). 444 Rüsken, in: Klein, AO, § 174 Rz. 1 u. 6. 436
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
messen der Finanzbehörden stehende Änderung des (bestandskräftigen) Steuerbescheids.445
1. Mehrfachberücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts, § 174 Abs. 1 und 2 AO Widerstreitende Steuerfestsetzungen liegen nach § 174 Abs. 1 Satz 1 AO zunächst vor, wenn ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl dieser nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen. § 174 Abs. 1 Satz 1 AO setzt folglich vorerst voraus, dass den umsatzsteuerrechtlichen Qualifizierungen „ein bestimmter Sachverhalt“ zugrunde gelegt wurde. Ein Sachverhalt „ist jeder einzelne Lebensvorgang, an den das Gesetz eine steuerliche Folge knüpft“.446 Den Steuerbescheiden muss zudem der deckungsgleiche Sachverhalt zugrunde gelegt worden sein („bestimmter Sachverhalt“).447 Im ADV Allround-Urteil beispielsweise lag der Steuerfestsetzung des Leistenden sowie der Verweigerung der Vorsteuervergütung der Leistungsempfänger die deckungsgleiche Leistungserbringung (Vermittlung von Lastkraftwagenfahrern448), die die Umsatzsteuerschuld von ADV Allround begründete, zugrunde. Damit lag der Steuerfestsetzung sowie der Verweigerung der Vorsteuerfestsetzung ein bestimmter Sachverhalt i. S. v. § 174 AO zugrunde.449 § 174 Abs. 1 AO setzt des Weiteren voraus, dass eine Mehrfachberücksichtigung des Sachverhalts vorliegt, die sich denkgesetzlich ausschließt.450 Voraussetzung ist somit, dass die Berücksichtigungen desselben Sachverhalts „zueinander in einem wechselseitigen Ausschließlichkeitsverhältnis stehen“.451 Eine Mehrfacherfassung muss zwingend gegen die materielle Rechtslage verstoßen.452 Eine sich widersprechende Mehrfachberücksichtigung i. S. v. § 174 Abs. 1 AO liegt demnach nicht vor, wenn ein und derselbe Sachverhalt bei zwei Personen zu beachten ist und in zwei Steuerbescheiden allein uneinheitlich beurteilt wird.453 § 174 Abs. 1 AO regelt damit 445
Rüsken, in: Klein, AO, § 174 Rz. 1 u. 6. BFH v. 2. 5. 2001 – VIII R 44/00, DStRE 2001, 1060 (unter 1.). 447 Koenig, in: Koenig, AO, § 174 Rz. 9. 448 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 (219). 449 Siehe hierzu auch Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (790). 450 FG Hamburg v. 30. 10. 2017 – 3 K 187/17, BeckRS 2017, 137678 Rz. 30; Heintzen, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 4. Teil, § 174 AO Rz. 1; Rüsken, in: Klein, AO, § 174 Rz. 10. 451 BFH v.11. 7. 1991 – IV R 52/90, NVwZ-RR 1992, 649 (650, unter 1., c), bb)). 452 BFH v. 7. 7. 2004 – X R 26/01, DStR 2004, 2191 (2191, unter II., 1., b)). 453 BFH v. 26. 1. 1994 – X R 57/89, DStR 1994, 939 (939, unter 1., b)); Rüsken, in: Klein, AO, § 174 Rz. 12; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG § 18 Rz. 433. 446
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 79
gerade nicht den Fall, dass zwei rechtliche Würdigungen eines Sachverhalts „nicht zusammenpassen“, auch wenn eine „denkgesetzlich […] „korrespondierende“ [Steuerfestsetzung] geboten„454 ist, weil diese vom Gesetz bezweckt455 ist. Damit liegt kein Widerstreit nach § 174 Abs. 1 UStG vor, wenn der Leistender und der Leistungsempfänger hinsichtlich Umsatzsteuerschuld und Vorsteuerabzug widersprüchlich behandelt werden.456 Vielmehr ist in diesem Fall „lediglich eine logische, [jedoch] keine rechtliche Unvereinbarkeit“ anzunehmen.457 Nach § 174 Abs. 2 Satz 1 AO liegen außerdem widerstreitende Steuerfestsetzungen vor, wenn ein bestimmter Sachverhalt in unvereinbarer Weise mehrfach zugunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist. Widerstreitende Steuerfestsetzungen gemäß § 174 Abs. 2 AO kommen vorliegend schon mangels Mehrfachberücksichtigung i. S. der Vorschrift nicht in Betracht.458 Muss der Leistende die Umsatzsteuer abführen, obwohl dem Leistungsempfänger hinsichtlich desselben Sachverhalts der Vorsteuerabzug versagt wird, liegt darüber hinaus auch keine mehrfache Berücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts zugunsten der Steuerpflichtigen vor.459 Vielmehr sind beide umsatzsteuerrechtlichen Qualifizierungen für die Unternehmer nachteilig. Bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis liegen mithin keine widerstreitenden Steuerfestsetzungen nach § 174 Abs. 1 oder Abs. 2 AO vor.460
2. Wirkung der Rechtsmittelentscheidung gegenüber einem Dritten, § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 AO Das Problem einer uneinheitlichen steuerlichen Qualifizierung desselben Sachverhalts lässt sich allenfalls über § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 AO auflösen.461 § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 AO ordnet an, dass eine Rechtsmittelentscheidung, die für einen der Steuerpflichtigen ergangen ist, auch gegenüber einem Dritten gilt, wenn 454
Rüsken, in: Klein, AO, § 174 Rz. 13. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 433. 456 Hummel, MwStR 2016, 172 (178); Koenig, in: Koenig, AO, § 174 Rz. 20; Loose, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 174 Rz. 12; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 433. 457 Koenig, in: Koenig, AO, § 174 Rz. 20. 458 Zur Begründung hinsichtlich der fehlenden Mehrfachberücksichtigung siehe die Ausführungen zu § 174 Abs. 1 AO. Auch ablehnend Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 449. 459 § 174 Abs. 2 AO ablehnend auch Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 449. 460 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 449. 461 BFH v. 26. 1. 1994 – X R 57/89, DStR 1994, 939 (unter 1., b)); BFH v. 31. 5. 2005 – IX B 187/03, BeckRS 2005, 25008290; FG Hamburg v. 30. 10. 2017 – 3 K 187/17, BeckRS 2017, 137678 Rz. 32; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Burgmaier/ Sterzinger, UR 2012, 175 (184); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (790); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 226. 455
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
dieser an dem Verfahren, das zugunsten des Steuerpflichtigen zur Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids geführt hat, beteiligt war. Die für die vorstehende Bindungswirkung erforderliche Verfahrensbeteiligung des Dritten kann durch Hinzuziehung nach § 360 AO oder Beiladung nach § 60 FGO erfolgen.462 Die Verfahrensbeteiligung des Dritten kann daneben auch infolge einer Beiladung gemäß § 174 Abs. 5 Satz 2 AO erreicht werden.463 § 174 Abs. 5 Satz 2 AO stellt einen eigenständigen Beiladungsgrund dar.464 Die Beteiligung des Dritten kann im Rechtsbehelfs- oder im Klageverfahren erfolgen.465 Jedoch ist eine Beteiligung auch im Veranlagungsverfahren, zum Beispiel bei einer Änderung nach § 164 Abs. 2 AO, möglich.466 Der BFH hat beispielsweise entschieden, dass eine Folgeänderung beim Leistungsempfänger (Versagung des Vorsteuerabzugs) nach § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 AO möglich ist, wenn im Rechtsstreit des Leistenden über dessen Umsatzsteuerschuld dessen Unternehmereigenschaft abgelehnt wird.467 Dass die „Steuerschuld des Leistenden und der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers […] zwar nicht im Sinne einer gegenseitigen Abhängigkeit miteinander verknüpft“ seien, sei für die Anwendung der Änderungsvorschrift des § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 AO irrelevant.468 Es genüge, dass „bei der – jeweils selbstständig vorzunehmenden – Prüfung der Steuerschuld des Leistenden und des Vorsteuerabzugs des Leistungsempfängers aus demselben Lebenssachverhalt, nämlich dem Auftreten des Leistenden nach außen […], Folgerungen sowohl beim Leistenden als auch beim Leistungsempfänger zu ziehen [seien], weil die Unternehmereigenschaft des Leistenden bei diesem Voraussetzung der Steuerpflicht […], beim Leistungsempfänger Voraussetzung des Vorsteuerabzugs“ sei.469 Außerdem sei die Folgeänderung bei dem anderen am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer nicht davon abhängig, ob die Rechtsmittelentscheidung auch Bindungswirkung gegenüber dem Finanzamt entfalte, das für den Unternehmer zuständig sei, bei dem die Folgeänderung eintrete.470 § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 AO begründet jedoch nach seinem eindeutigen Wortlaut ausschließlich belastende Folgeänderungen beim Dritten.471 Bei dieser 462
Koenig, in: Koenig, § 174 Rz. 83. BFH v. 25. 8. 1987 – IX R 98/82, BeckRS 1987, 22008186 (unter 1., c)). 464 BFH v. 25. 8. 1987 – IX R 98/82, BeckRS 1987, 22008186 (unter 1., c)). 465 Koenig, in: Koenig, § 174 Rz. 87. 466 Koenig, in: Koenig, § 174 Rz. 87. 467 BFH v. 20. 4. 1989 – V B 153/88, BeckRS 1989, 22008985 (unter 1.); BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69. 468 BFH v. 20. 4. 1989 – V B 153/88, BeckRS 1989, 22008985 (unter 1.). 469 BFH v. 20. 4. 1989 – V B 153/88, BeckRS 1989, 22008985 (unter 1.). 470 BFH v. 20. 4. 1989 – V B 153/88, BeckRS 1989, 22008985 (unter 3.). 471 BFH v. 10. 12. 1998 – V R 58/97, BeckRS 1998, 30038240 (unter II., 3.); BFH v. 9. 4. 2008 – V B 143/07, BeckRS 2008, 25013467 (unter II., 2., a)); FG Hamburg v. 10. 4. 2010 – 3 K3/09, DStRE 2010,1119 (1122); FG Hamburg v. 30. 10. 2017 – 3 K 187/17 Rz. 34; Bruschke, 463
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 81
Vorschrift handelt es sich um eine einseitige Regressvorschrift zu Gunsten des Finanzamts.472 Bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis ist Ziel der Unternehmer indes gerade eine Folgeänderung zu ihren Gunsten.473 Darüber hinaus erfordert § 174 Abs. 5 AO nach der Rechtsprechung des BFH einen Antrag des Finanzamts.474 Der Unternehmer selbst könnte eine zu seinen Gunsten bestehende Folgeänderung, selbst wenn diese möglich wäre, gar nicht herbeiführen.475 Damit vermag auch die Regelung des § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 AO bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nach jetziger Rechtslage keine Bindungswirkung zu Gunsten der Unternehmer zu begründen.476
3. Zwischenergebnis Mithin wird von § 174 AO nach jetziger Rechtslage nicht den Fall erfasst, dass ein und derselbe Sachverhalt beim Leistenden und beim Leistungsempfänger durch die für sie zuständigen Finanzbehörden hinsichtlich Steuerschuld und Vorsteuerabzug umsatzsteuerrechtlich widersprüchlich beurteilt wird.477 Eine Bindungswirkung der Entscheidungen der Finanzbehörden lässt sich folglich nicht über § 174 AO begründen.478 § 174 AO gewährleistet nach jetziger Rechtslage somit keine Gleichbehandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers durch die für sie jeweils zuständigen Finanzämter.479
StB 2018, 222 (226); Klomp, in: BeckOK AO, § 174 Rz. 230; Rüsken, in: Klein, AO, § 174 Rz. 70; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (818). 472 FG Hamburg v. 22. 7. 2014 – 3 V 81/14, BeckRS 2014, 96148. 473 FG Hamburg v. 10. 4. 2010 – 3 K3/09, DStRE 2010,1119 (1122); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 226. 474 BFH v. 27. 1. 1982 – VII B 141 /81, NVwZ 1983, 63 (64); BFH v. 20. 4. 1989 – V B 153/ 88, BeckRS 1989, 22008985 (unter 1.); BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69; FG Hamburg v. 10. 4. 2010 – 3 K3/09, DStRE 2010,1119 (1122); Treiber, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 2 Rz. 5; Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 226. 475 Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 226. 476 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (790); von Streit/Streit, UR 2018, 815 (818). 477 Dodos, MwStR 2015, 329 (335 Fn. 24); Hummel, MwStR 2016, 172 (178); Koenig, in: Koenig, AO, § 174 Rz. 20; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 449; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (814). 478 Hinsichtlich § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 AO vgl. Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (818). 479 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450.
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
VI. Beteiligung der anderen Finanzbehörde im Einspruchsoder Klageverfahren Eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers könnte im Ergebnis erreicht werden, indem man die jeweils andere Finanzbehörde im Einspruchs- oder Klageverfahren beteiligt.480 In Frage kommt vorliegend eine Beteiligung der Finanzbehörde des Leistungsempfängers zum Verfahren des Leistenden gegen seine Finanzbehörde, in welchem es um die Steuerschuld des Leistenden geht.481 In Frage kommt auch eine Beteiligung der Finanzbehörde des Leistenden zum Verfahren des Leistungsempfängers gegen seine Finanzbehörde, in welchem es um den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers geht.482 Eine Beteiligung der jeweils anderen Behörde kommt durch Hinzuziehung nach § 360 AO oder durch Beiladung nach § 60 FGO in Betracht.483 Die Hinzuziehung und die Beiladung sollen eine unterschiedliche Behandlung der Steuerpflichtigen hinsichtlich desselben Sachverhalts verhindern.484 Bei der Hinzuziehung im Einspruchsverfahren handelt es sich um das Pendant zur Beiladung im Klageverfahren.485 Zur Vereinfachung wird im Folgenden allein die Beteiligung durch Beiladung dargestellt. Zu unterscheiden ist zwischen der einfachen Beiladung gemäß § 60 Abs. 1 FGO und der notwendigen Beiladung gemäß § 60 Abs. 3 FGO.486
1. Notwendige Beiladung, § 60 Abs. 3 FGO Eine Beiladung ist nach § 60 Abs. 3 AO notwendig, wenn Dritte an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber 480
Zur Beteiligung der jeweils anderen Finanzbehörde oder des jeweils anderen Unternehmers im Einspruchs-/Klageverfahren bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-ParteienVerhältnis vgl. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); NeumannTomm, MwStR 2014, 789 (790); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222; Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 481 Zur Beteiligung des Leistungsempfängers selbst bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis vgl. Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222 ff. 482 Zur Beteiligung des Leistenden am Verfahren des Leistungsempfängers bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis vgl. BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222. 483 Zur Hinzuziehung/Beiladung der Unternehmer bei Vorliegen eines Widerstreits im VierParteien-Verhältnis vgl. Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (790); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222 ff. 484 So etwa BFH v. 16. 9. 2009 – X R 17/06, BeckRS 2009, 25015821 Rz. 43; bzgl. der Hinzuziehung vgl. Rätke, in: Klein, AO, § 360 Rz. 3; bzgl. der Beiladung vgl. BFH v. 19. 9. 2013 – V B 78/12, BeckRS 2013, 96395 Rz. 4; Levedag, in: Gräber, FGO, § 60 Rz. 1 f. 485 § 360 Abs. 1 bis 3 entspricht § 60 Abs. 1 bis 3 FGO. Bruschke, DStR 2011, 753 (754); Cöster, in: Koenig, AO, § 360 Rz. 3; Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); Rätke, in: Klein, AO, § 360 Rz. 1; Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222. 486 Bruschke, DStR 2011, 753 (754).
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 83
nur einheitlich ergehen kann. Das ist dann der Fall, wenn ein Verhältnis der gegenseitigen Abhängigkeit vorliegt.487 Voraussetzung für das vorstehende Verhältnis ist, dass „die Entscheidung notwendigerweise und unmittelbar Rechte Dritter gestaltet, bestätigt, verändert oder zum Erlöschen bringt, insbesondere also in Fällen, in denen das, was einen Prozessbevollmächtigten begünstigt oder benachteiligt, notwendigerweise umgekehrt den Dritten benachteiligen oder begünstigen muss.“488 Finanzbehörden sind jedoch nach ständiger Rechtsprechung des BFH nicht „Dritte“ i. S. v. § 60 Abs. 3 FGO, weil es sich bei Finanzbehörden um unselbstständige Bestandteile des Fiskus handelt, welcher bereits Beteiligter am Verfahren ist489 und können damit nicht notwendig beigeladen werden490. Anzumerken ist, dass auch der leistende Unternehmer selbst nicht notwendig zum Verfahren des Leistungsempfängers, in welchem es um dessen Vorsteuerabzug geht, beizuladen ist.491 Gleiches gilt umgekehrt für den Leistungsempfänger für den Fall, dass der leistende Unternehmer ein Verfahren über seine Umsatzsteuerschuld führt.492 Grund für die mangelnde Beiladungsfähigkeit des jeweils anderen Unternehmers ist, dass das vorausgesetzte Verhältnis der gegenseitigen Abhängigkeit vorliegend nicht gegeben ist.493 Grund hierfür ist, dass „die Entscheidung im Rechtsstreit des einen Beteiligten nicht unmittelbar in das Rechtsverhältnis des anderen am Leistungsverhältnis Beteiligten eingreift oder dieses gestaltet“.494 Zwar steht dem Leistungsempfänger das Recht auf Vorsteuerabzug unter anderem nur dann zu, wenn der Leistende die Steuer gesetzlich schuldet (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG).495 Jedoch führt die Entscheidung im Rechtsstreit des Leistenden über die Umsatzsteuerschuld des Leistenden, wie im Vorstehenden bereits dargelegt wurde, nicht automatisch zu einer Bindungswirkung für das Recht des 487 BFH v. 26. 10. 2001 – VII B 165/01, BeckRS 2001, 25000132 (unter II., 2.); BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)). 488 BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)). 489 BFH v. 23. 11. 1972 – VIII R 42/67, BeckRS 1972, 22001992 (unter I., 1.)). 490 BFH v. 23. 11. 1972 – VIII R 42/67, BeckRS 1972, 22001992 (unter I., 1.)); BFH v. 5. 4. 2006 – IX R 43/04, BeckRS 2006, 2500990 (unter II., 4.); BFH v. 23. 1. 2008 – IV B 38/07, BeckRS 2008, 25013165 (unter 3.); jüngst auch BFH v. 14. 2. 2019 – V B 103/16, BeckRS 2019, 3122 Rz. 6; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); a. A. FG Hamburg v. 9. 7. 2015 – 3 K 308/14, BeckRS 2015, 95345 (unter 5.). 491 BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)); BFH v. 14. 3. 2007 – V S 34/06, BeckRS 2007, 25011603 (unter II., 1., b), bb); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 223. 492 BFH v. 14. 3. 2007 – V S 34/06, BeckRS 2007, 25011603 (unter II., 1., b), bb); BFH v. 19. 2. 2008 – XI B 205/07, BeckRS 2008, 25013244 (unter 1., a)). 493 BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)); Stadie in. Rau/Dürrwächter, § 18 Rz. 450. 494 Wortzitat aus BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)); siehe auch BFH v. 14. 3. 2007 – V S 34/06, BeckRS 2007, 25011603 (unter II., 1., b), bb)). 495 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122).
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer.496 Denn der Vorsteuerabzug ist noch von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig.497 Dem Leistungsempfänger kann beispielsweise mangels eigener Unternehmereigenschaft oder mangels Vorliegens einer ordnungsgemäßen Rechnung kein Vorsteuerabzug zustehen, obwohl der Leistende die Steuer gesetzlich schuldet.498 Gleiches gilt umgekehrt für die Entscheidung im Rechtsstreit des Leistungsempfängers.499 Wie bereits an früherer Stelle dieser Arbeit ausgeführt wurde, ist das Vorliegen der Steuerschuld des leistenden Unternehmers nach den Regelungen des Umsatzsteuergesetzes materiell-rechtlich unabhängig davon, ob dem Leistungsempfänger hinsichtlich desselben Umsatzes ein Recht auf Vorsteuerabzug zusteht.500 Damit gestaltet die Entscheidung über den Vorsteuerabzug im Klageverfahren des Leistungsempfängers nicht notwendigerweise und unmittelbar das Rechtsverhältnis des Leistenden.501 Nicht ausreichend für eine notwendige Beiladung ist nach jetziger Rechtslage, dass ein und derselbe Sachverhalt beziehungsweise eine Vorfrage nur logisch widerspruchsfrei beurteilt werden kann.502
2. Einfache Beiladung, § 60 Abs. 1 FGO In seinem Urteil vom 27. 12. 2012 hat der BFH festgestellt, dass die einfache Beiladung des anderen Unternehmers nach § 60 Abs. 1 FGO „hinreichend gewährleist[e], dass „die Gefahr von Widersprüchen und Konflikten zwischen den verschiedenen Gerichtsbarkeiten [(Finanzgericht und Zivilgericht)]“ vermieden werden kann.“503 Fraglich ist jedoch, ob die einfache Beiladung auch gewährleistet, 496 BFH v. 14. 3. 2007 – V S 34/06, BeckRS 2007, 25011603 (unter II., 1., b), bb)); FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Lange, in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 75. 497 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 498 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 499 BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)); BFH v. 14. 3. 2007 – V S 34/06, BeckRS 2007, 25011603 (unter II., 1., b), bb)); FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 500 BFH v. 7. 7. 1983 – V R 197/81, BeckRS 1983, 22006559 (unter 1.); BFH v. 4. 4. 2003 – V B 212/02, BeckRS 2003, 25001869; BFH v. 6. 10. 2005 – V R 15/04, BeckRS 2005, 25009448 (unter II., 2., b), aa)); Burgmaier/Sterzinger, UR 2012, 175 (183); Mohr/Detmering, MwStR 2016, 516 (519). 501 BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)). 502 BFH v. 27. 7. 2000 – VII B 130/99, BeckRS 2000, 25005063 (unter II., 3., a)); BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)); BFH v. 14. 3. 2007 – V S 34/06, BeckRS 2007, 25011603 (unter II., 1., b), bb); FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 503 BFH v. 27. 12. 2012 – V B 31/11, BeckRS 2013, 94834 Rz. 10.
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 85
dass widersprüchliche Entscheidungen der Finanzbehörden vermieden werden.504 Gegenstand des vorgenannten Urteils des BFH vom 27. 12. 2012 war nicht die Frage der Bindungswirkung des finanzgerichtlichen Urteils für die andere Finanzbehörde, sondern die der Bindungswirkung für das Zivilgericht.505 Eine einfache Beiladung von anderen kann nach § 60 Abs. 1 FGO von Amts wegen oder auf Antrag erfolgen, wenn deren rechtliche Interessen nach den Steuergesetzen durch die Entscheidung berührt werden. „Andere“ in § 60 Abs. 1 AO bedeutet allerdings wiederum nicht „andere Finanzbehörden“, sodass auch eine einfache Beiladung der jeweils anderen Finanzbehörde nicht in Frage kommt.506 Einfach beigeladen werden kann hingegen der Leistungsempfänger zum Rechtsstreit des leistenden Unternehmers, in welchem es um die Steuerbarkeit und Steuerpflicht dessen Leistungen geht507 sowie der leistende Unternehmer zum Rechtsstreit des Leistungsempfängers, in welchem es um dessen Vorsteuerabzug geht508. Die rechtlichen Interessen des Leistungsempfängers werden durch die Entscheidung im Rechtsstreit des Leistenden berührt, weil das Recht des Leistungsempfängers auf Vorsteuerabzug nur besteht, wenn der Leistende die Umsatzsteuer tatsächlich gesetzlich schuldet.509 Die rechtlichen Interessen des Leistenden werden durch die Entscheidung im Rechtsstreit des Leistungsempfängers berührt, da hier entschieden wird, ob die vom Leistenden ausgeführten Leistungen steuerbar und steuerpflichtig sind, weil dies Voraussetzung für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers ist.510
504 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 224. 505 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 506 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 225; zu § 360 Abs. 1 AO vgl. Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); i. E. jüngst auch BFH v. 14. 2. 2019 – V B 103/16, BeckRS 2019, 3122 Rz. 6. 507 BFH v. 1. 2. 2001 – V B 199/00, BeckRS 2001, 24000939 (unter II., 3.); BFH v. 25. 4. 2002 – V B 174/01, BeckRS 2002, 25000718 (unter II., 3., b)); BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/ 01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)); BFH v. 19. 2. 2008 – XI B 205/07, BeckRS 2008, 25013244 (unter 1., a)); BFH v. 9. 4. 2008 – V B 143/07, BeckRS 2008, 25013467 (unter II., 2.); BFH v. 27. 12. 2012 – V B 31/11, BeckRS 2013, 94834 Rz. 7; BFH v. 7. 1. 2016 – 3 K 264/15, BeckRS 2016, 95438 (unter III., 2., b)); FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Burgmaier/Sterzinger, UR 2012, 175 (184); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 220 u. 224; zur früheren gegenteiligen Rechtsauffassung des BFH vgl. BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69 (69). 508 BFH v. 9. 4. 2008 – V B 143/07, BeckRS 2008, 25013467 (unter II., 2.); BFH v. 27. 12. 2012 – V B 31/11, BeckRS 2013, 94834 Rz. 7; Burgmaier/Sterzinger, UR 2012, 175 (184); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 224. 509 BFH v. 1. 2. 2001 – V B 199/00, BeckRS 2001, 24000939 (unter II., 3., a)); BFH v. 7. 1. 2016 – 3 K 264/15, BeckRS 2016, 95438 (unter III., 2., b)). 510 BFH v. 29. 10. 2002 – V B 186/01, BeckRS 2002, 25001729 (unter II., 1., b)).
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
3. Bindungswirkung des Urteils Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, insbesondere die am Verfahren Beteiligten. Das heißt, dass unter anderem der Kläger (Beteiligter i. S. v. § 57 Nr. 1 FGO) und der Beklagte (Beteiligter i. S. v. § 57 Nr. 2 FGO) an das Urteil gebunden sind.511 Beklagter ist die in der Klageschrift genannte Finanzbehörde.512 Die Bindungswirkung besteht auch gegenüber dem Beigeladenen als Beteiligten i. S. v. § 57 Nr. 3 FGO.513. Mit Ausnahme der in § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 FGO genannten Personen und der Regelung des § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO hat das Urteil keine Bindungswirkung gegenüber Dritten.514 Eine Bindungswirkung besteht grundsätzlich „nur bei Identität der Steuerrechtssubjekte“.515 Das Urteil gilt zudem grundsätzlich allein „inter partes“.516 Das heißt, dass das Urteil grundsätzlich nur die Beteiligten des Verfahrens im Verhältnis zueinander bindet (Grundsatz der persönlichen Rechtskraftwirkung).517 a) Keine Bindung der anderen Finanzbehörde Infolge der einfachen Beiladung des anderen Unternehmers (Beteiligter i. S. v. § 57 Nr. 3 FGO) wird dessen Finanzbehörde als Nichtbeteiligte nach jetziger Rechtslage mithin nicht an die Entscheidung gebunden.518
511
Ratschow, in: Gräber, FGO, § 110 Rz. 25. Ratschow, in: Gräber, FGO, § 110 Rz. 25. § 63 FGO bestimmt, gegen welche Behörde die Klage zu richten ist. Vgl. Jesse, BB 2020, 87 (88). 513 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Levedag, in: Gräber, FGO, § 60 Rz. 2; Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 224; bzgl. der bestehenden Bindungswirkung für den Hinzugezogenen im Einspruchsverfahren vgl. Cöster, in: Koenig, AO, § 360 Rz. 42; Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (790); Rätke, in: Klein, AO, § 360 Rz. 2 u. § 60 Rz. 39. 514 BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69; Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 75; siehe auch Schlenk, DStR 2015, 2135 (2137). 515 BFH v. 23. 4. 1999 – VII B 214/97, BeckRS 1999, 25003678 (unter II., 3., a)). 516 BFH v. 22. 10. 2014 – I R 39/13, DStRE 2015, 297 Rz. 26. 517 BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69; Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 75; Schlenk, DStR 2015, 2135 (2137). 518 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); Nieskoven, GStB 2010, 300 (300); Stadie in. Rau/Dürrwächter, § 18 Rz. 450; Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 225. 512
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 87
b) Bindung an das Urteil bei Zuständigkeit derselben Finanzbehörde und Beiladung des anderen Unternehmers Ist für die Unternehmer allerdings dasselbe Finanzamt zuständig und wird der andere Unternehmer zum Verfahren über die Steuerschuld oder über den Vorsteuerabzug gemäß § 60 Abs. 1 FGO beigeladen, werden nach § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO sowohl die Unternehmer als Kläger und als Beigeladener als auch das Finanzamt als Beklagter an die Entscheidung gebunden. Somit könnte im Ergebnis eine widerspruchsfreie Behandlung beider Unternehmer hinsichtlich der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht ein und desselben Umsatzes erzielt werden. Um festzustellen, ob in dieser Konstellation eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer erzielt wird, bedarf es einer Klärung, was die Bindungswirkung der Entscheidung umfasst. aa) Streitgegenstand – Entscheidungsgegenstand Gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile die am Verfahren Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Streitgegenstand im Klageverfahren der Unternehmer ist vorliegend die Rechtsfolgebehauptung des Klägers, der Verwaltungsakt (der Steuerbescheid) sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten.519 Die Bindungswirkung des Urteils schließt die Entscheidung über die Rechtsfolgebehauptung ein und damit den Tenor der Entscheidung.520 Problematisch könnte vorliegend sein, dass der bindende Tenor der Entscheidung, das heißt die Antwort auf die Frage, ob der Steuerbescheid des Klägers rechtmäßig oder rechtswidrig ist und ihn in seinen Rechten verletzt, nicht auch ausdrücklich die Frage beantwortet, ob dem anderen Unternehmer ein Vorsteuerabzug zusteht beziehungsweise ob die Steuerschuld des anderen Unternehmers besteht.521 Mit „Streitgegenstand“ i. S. v. § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO ist nach Ansicht des BFH indes „Entscheidungsgegenstand“ gemeint.522 Entscheidungsgegenstand ist die „Teilmenge aller mit dem angefochtenen Verwaltungsakt erfa[ss]ten Besteue519 Zum Streitgegenstand des Verfahrens bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-ParteienVerhältnis vgl. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 225; generell vgl. FG Bremen v. 10. 3. 2004 – 2 K 29/03, BeckRS 2004, 17456 Rz. 30; Krumm, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 11. 520 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 225. 521 Die Problematik des Umfangs der Bindungswirkung aufwerfend für den Fall, dass Finanzbehörden entgegen der jetzigen Rechtslage beigeladen werden können, vgl. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); vgl. Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 225. 522 BFH v. 4. 3. 2020 – II R 11/17, DStRE 2020, 1009 Rz. 12; FG Bremen v. 10. 3. 2004 – 2 K 29/03, BeckRS 2004, 17456 Rz. 30; Krumm, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 11; Martin, HFR 2004, 840 (841).
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1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
rungsgrundlagen, zu denen das Gericht selbstentscheidend Feststellungen getroffen hat“.523 Damit bindet das Urteil die am Verfahren Beteiligten, soweit über den Entscheidungsgegenstand entschieden worden ist.524 „Für die Bindungswirkung kommt es [demnach] auf den vom Gericht seiner Entscheidung tatsächlich zugrunde gelegten Sachverhalt und auf die hierzu angestellten rechtlichen Erwägungen an (Entscheidungsgegenstand).“525 Maßgeblich für die Reichweite der Bindungswirkung ist, worüber tatsächlich entschieden wurde.526 Wird in einem Urteil über die steuerliche Behandlung einer Leistung entschieden, ist die Entscheidung über die steuerliche Behandlung dieser Leistung mithin für die am Verfahren Beteiligten, also auch gegenüber dem beigeladenen anderen Unternehmer, bindend.527 So ist beispielsweise die Entscheidung darüber, ob eine Geschäftsveräußerung im Ganzen vorliegt, bindend.528 Wird die Klage des Leistenden gegen den Umsatzsteuerbescheid zum Beispiel wegen der Steuerbarkeit und Steuerpflicht der Leistung abgewiesen, steht gleichzeitig bindend fest, dass ein Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers aus materiellrechtlichen Gründen bestehen könnte.529 Ob das Recht des Leistungsempfängers auf Vorsteuerabzug tatsächlich besteht, ist in diesem Fall davon abhängig, ob dessen übrige Voraussetzungen vorliegen. bb) Entscheidung über die Steuerbarkeit und Steuerpflicht eines Umsatzes bindend Wird somit über die Frage, ob ein bestimmter Umsatz steuerbar und steuerpflichtig ist, im Klageverfahren über die Steuerschuld des Leistenden oder über den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers entschieden, ist eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer hinsichtlich der Steuerbarkeit und Steuerpflicht ein und desselben Umsatzes in der vorstehenden Konstellation (Zuständigkeit desselben Finanzamts und Beiladung des anderen Unternehmers) sichergestellt. Dies gilt auch, wenn im Einspruchsverfahren über die Steuerbarkeit und die Umsatzsteuerpflicht eines Umsatzes entschieden wird. 523
BFH v. 26. 11. 1998 – IV R 66/97, BeckRS 1998, 30035789 (unter II., 1., b)). Krumm, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 16. 525 Wortzitat aus BFH v. 3. 9. 2015 – III B 39/15, BeckRS 2015, 95669 Rz. 7; siehe auch BFH v. 21. 11. 1989 – VII R 3/88, BeckRS 1989, 06353 (unter II., 1.); BFH v. 25. 10. 2012 – XI B 48/12, BeckRS 2012, 96609 Rz. 11; FG Hamburg, Urteil vom 4. 12. 2008 – 5 K 103/07, BeckRS 2008, 26026461 (unter I., 1.); Krumm in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 110 Rz. 13; Martin, HFR 2004, 840 (841). 526 BFH v. 8. 6. 2000 – IV R 65/99, DStR 2000, 1824 (unter 2., c)); Krumm, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 16. 527 BFH v. 25. 10. 2012 – XI B 48/12, BeckRS 2012, 96609 Rz. 12; a. A. wohl FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 528 BFH v. 25. 10. 2012 – XI B 48/12, BeckRS 2012, 96609 Rz. 12. 529 Für den umgekehrten Fall (keine Steuerbarkeit und Steuerpflicht) vgl. FG Hamburg v. 7. 1. 2016 – 3 K 264/15, BeckRS 2016, 95438 (unter III., 2., b)). 524
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 89
Aufgrund der inter partes-Wirkung des Urteils nach § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO gelten die vorstehenden Ausführungen trotz Zuständigkeit desselben Finanzamts nicht, wenn der jeweils andere Unternehmer nicht am Klageverfahren beteiligt ist.530 Eine generelle Bindungswirkung des Urteils des Finanzgerichts über die Steuerschuld des Leistenden oder über den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers ist weder im UStG noch in der AO normiert, sodass es bei der Geltung des Grundsatzes der persönlichen Rechtskraftwirkung verbleibt.531 cc) Ermessensentscheidung Zu beachten gilt es indes, dass die Entscheidung darüber, ob der andere Unternehmer bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis zum Verfahren einfach beizuladen ist, eine Ermessensentscheidung des Finanzgerichts ist.532 Wird der andere Unternehmer am Klageverfahren durch einfache Beiladung nicht beteiligt, liegt kein Verfahrensfehler i. S. v. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor.533 c) Bindung der Finanzbehörde bei Zuständigkeit von Finanzbehörden derselben öffentlich-rechtlichen Körperschaft, § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO Nach § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO wirken die gegen eine Finanzbehörde ergangenen Urteile auch gegenüber der öffentlich-rechtlichen Körperschaft, der die beteiligte Finanzbehörde angehört.534 Das heißt, dass das Urteil auch für die Körperschaft, der die beteilige Finanzbehörde angehört, selbst535 und für jede weitere Finanzbehörde dieser Körperschaft verbindlich ist536. Bei der öffentlich-rechtlichen Körperschaft handelt es sich um den Bund oder um das jeweilige Bundesland.537 §§ 1 und 2 FVG
530
BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69. BFH v. 18. 7. 1991 – V B 42/91, DStR 1992, 69; Krumm, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 110 Rz. 10; Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 75. 532 Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 224; generell vgl. BFH v. 9. 4. 2008 – V B 143/07, BeckRS 2008, 25013467 (unter II., 1.); Levedag, in: Gräber, FGO, § 60 Rz. 29. 533 Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 224; generell vgl. BFH v. 14. 3. 2007 – V S 34/06, BeckRS 2007, 25011603 (unter II., 1., b), bb)); BFH v. 27. 12. 2012 – V B 31/11, BeckRS 2013, 94834 Rz. 10 534 Die Regelung des § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO im Zusammenhang mit dem Problem widersprüchlicher Entscheidungen nennend FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 225; siehe auch Liebgott, UR 2017, 49 (56 f.). 535 BFH v. 23. 1. 2008 – IV B 38/07, BeckRS 2008, 25013165 (unter 3.); Jesse, BB 2020, 87 (88); Ratschow, in: Gräber, FGO, § 110 Rz. 25. 536 BFH v. 16. 9. 2009 – X R 17/06, BeckRS 2009, 25015821 Rz. 39; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 537 Jesse, BB 2020, 87 (88); Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 88. 531
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bestimmen die angehörigen Bundes- und Landesfinanzbehörden.538 Das Bundeszentralamt für Steuern gehört dem Bund als öffentlich-rechtliche Körperschaft an.539 Die Finanzämter gehören dem jeweiligen Bundesland als öffentlich-rechtliche Körperschaft an.540 Ein gegen das Finanzamt München ergangenes Urteil wirkt dementsprechend beispielsweise auch gegenüber den anderen bayerischen Finanzämtern.541 Sind für den Leistenden und den Leistungsempfänger zwar verschiedene Finanzämter zuständig, die jedoch demselben Bundesland angehören, wirkt das gegen das Finanzamt einer der beiden Unternehmer ergangene Urteil nach § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO gegenüber beiden Finanzämtern des Vier-Parteien-Verhältnisses.542 Wurde der andere Unternehmer hinzukommend zum Verfahren einfach beigeladen, wirkt das gegen die Finanzbehörde ergangene Urteil gegenüber allen Beteiligten des Vier-Parteien-Verhältnisses.543 Demnach könnte eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer infolge der Regelung des § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO erzielt werden.544 Problematisch könnte vorliegend sein, dass § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO nach seinem Wortlaut ausschließlich für „gegen eine Finanzbehörde“ ergangene Urteile gilt.545 Das heißt, dass die Regelung des § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO dem Wortlaut dieser Regelung nach nicht einschlägig ist, wenn das Urteil „gegen den Steuerpflichtigen“ ergeht.546 Für diese Auslegung spricht auch der Sinn und Zweck der Regelung des § 110 Abs. 2 Satz 2 FGO. Durch diese Regelung soll gemäß der Gesetzesbegründung die Frage beantwortet werden,547 „welche öffentlichrechtliche Körperschaft für die Verpflichtungen einzustehen hat, die sich aus den Gerichtsentscheidungen für die Finanzverwaltung ergeben können“548. „[D]iejenige Körperschaft haftet, der die am Verfahren beteiligte Behörde […] angehört“.549 Wird die Klage des Leistenden aufgrund der Steuerbarkeit und Steuerpflicht seiner Leistung(en) abgewiesen, käme zwar ein zuvor abgelehnter Vorsteuerabzug 538
Jesse, BB 2020, 87 (88). FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 540 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 541 So etwa FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 542 Vgl. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122) für den Fall, dass die Finanzbehörden unterschiedlichen Bundesländern angehören. 543 So etwa Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 225. 544 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 225. 545 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 546 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 547 Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 87. 548 BT-Drs. IV/1446, 56. 549 BT-Drs. IV/1446, 56. 539
§ 3 Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus verfahrensrechtlichen Gründen? 91
des Leistungsempfängers im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis in Betracht, es liegt jedoch ein Urteil „gegen“ den Leistenden und nicht „gegen“ die Finanzbehörde des Leistenden vor, sodass § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO bei diesem Ausgang des Gerichtsverfahrens nicht einschlägig ist.550 Demnach wäre die Finanzbehörde des Leistungsempfängers vorliegend nicht an das Urteil gebunden.551 Wird die Klage des Leistungsempfängers über dessen abgelehnten Vorsteuerabzug aufgrund der Nichtsteuerbarkeit und der Nichtsteuerpflicht der Leistungen des Leistenden abgewiesen, käme zwar auch die Ablehnung der Steuerschuld des Leistenden in Betracht. Es liegt jedoch wiederum kein Urteil „gegen“ die Finanzbehörde, sondern „gegen“ den Leistungsempfänger vor, sodass § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO wiederum nicht einschlägig ist. Dementsprechend vermag die Regelung des § 110 Abs. 1 Satz 2 FGO bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nicht weiterzuhelfen.552
4. Zwischenergebnis Eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer hinsichtlich der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht ein und desselben Umsatzes kann infolge einer einfachen Beiladung oder durch eine einfache Hinzuziehung des anderen Unternehmers zum Einspruchs- oder Klageverfahren über die Umsatzsteuerschuld oder über den Vorsteuerabzug nach jetziger Rechtslage allein dann erzielt werden, wenn für beide Unternehmer dasselbe Finanzamt zuständig ist. In allen anderen Fällen vermag die Regelung des § 60 Abs. 3 FGO beziehungsweise die des § 360 Abs. 3 AO nach jetziger Rechtslage bei der vorliegenden Problematik nicht weiterzuhelfen.553
VII. Interne Abstimmung der Finanzbehörden Die Finanzverwaltung hat jedoch in zwei Fällen das Erfordernis einer einheitlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Festsetzungsverfahren für nötig erachtet.554 Dies zeigt die Verfügung der OFD Hannover vom 9. 10. 2009, wonach eine einheitliche Entscheidung der bundesweit beteiligten Finanzämter über das Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen (§ 1 Abs. 1a UStG) oder das einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG)
550
FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 552 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 553 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 554 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Weimann, Umsatzsteuer, S. 44; Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 551
92
1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
erfolgen soll.555 Die Lösung der OFD Hannover ist eine verwaltungsinterne Sonderzuständigkeit des Finanzamts des Leistenden556 beziehungsweise des Finanzamts des potentiellen Organträgers557, sofern im Rahmen einer Abstimmung keine übereinstimmende umsatzsteuerrechtliche Einordnung erreicht werden kann.558 Für die Frage, ob eine Geschäftsveräußerung im Ganzen oder eine umsatzsteuerrechtliche Organschaft vorliegt, wurde mithin eine bundeseinheitliche Verständigung geschaffen.559 Fraglich ist indes, weshalb allein in diesen beiden Fällen eine einheitliche Entscheidung erfolgen soll.560 Für zahlreiche weitere Fälle besteht die bundeseinheitliche Verständigung nicht ausdrücklich.561 Zu beachten gilt es darüber hinaus auch, dass die Steuerpflichtigen keinen Anspruch auf Beachtung der Regelung zur Verständigung haben.562 Denn bei dieser Regelung handelt es sich lediglich um eine verwaltungsinterne Regelung.563 Damit ist die Verständigung der Finanzbehörden für die Steuerpflichtigen nicht einklagbar.564 Dies muss auch für einen nach den Verfügungen565 der OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 und 19. 9. 2017 vorzunehmenden Informationsaustausch durch die verschiedenen zuständigen Bearbeiter derselben Finanzbehörde gelten. Dementsprechend lässt sich aus der verwaltungsinternen Regelung566 erst recht kein genereller Anspruch der Steuerpflichtigen auf widerspruchsfreie Behandlung herleiten. Jedoch zeigt die vorzunehmende Verständigung zwischen den Finanzbehörden beziehungsweise zwischen den Bearbeitern derselben Finanzbehörde, dass eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers 555
OFD Hannover v. 9. 10. 2009 – S 7500-466-StO 171, UR 2010, 188; zur einheitlichen Entscheidung über das Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen siehe auch OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 – S 7100b-1-St 171, UR 2016, 293 (294) sowie OFD Niedersachsen v. 19. 9. 2017 – S 7100b-1-St 171, DStR 2017, 2285 (2285); hierauf hinweisend auch FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 556 Nach den Verfügungen der OFD Niedersachsen ist für die einheitliche Beurteilung des Vorliegens einer Geschäftsveräußerung im Ganzen, sofern für den Leistenden und den Leistungsempfänger verschiedene Bearbeiter bzw. verschiedene Finanzämter zuständig sind, ein Informationsaustausch sicherzustellen. Vgl. OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 – S 7100b-1-St 171, UR 2016, 293 (294); OFD Niedersachsen v. 19. 9. 2017 – S 7100b-1-St 171, DStR 2017, 2285 (2285). 557 So auch OFD Frankfurt/M. v. 24. 5. 2016 – S 7105 A-22-St 110. 558 OFD Hannover v. 9. 10. 2009 – S 7500-466-StO 171, UR 2010, 188; Weimann, UStB 2010, 350 (350). 559 Weimann, UStB 2010, 350 (351). 560 So auch Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (9). 561 Weimann, UStB 2010, 350 (351). 562 Gerhards, DStZ 2010, 774 (775). 563 Gerhards, DStZ 2010, 774 (775). 564 Weimann, UStB 2010, 350 (351). 565 OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 – S 7100b-1-St 171, UR 2016, 293 (294) sowie OFD Niedersachsen v. 19. 9. 2017 – S 7100b-1-St 171, DStR 2017, 2285 (2285). 566 Gerhards, DStZ 2010, 774 (775).
§ 4 Gesamtergebnis erster Teil
93
hinsichtlich der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht der Leistung(en) in der Tat denkbar ist.567
VIII. Zwischenergebnis Ebenfalls wie das UStG, normiert auch das nationale Steuerverfahrensrecht kein „Korrespondenzprinzip“ betreffend die Umsatzsteuer und die Vorsteuer.568 Eine verfahrensrechtliche Bindungswirkung der Entscheidungen der Finanzbehörden für die jeweils andere Finanzbehörde ist nicht normiert.569 Es besteht folglich auch verfahrensrechtlich keine ausdrückliche Regelung, die dem Leistenden oder dem Leistungsempfänger einen Anspruch darauf verleiht, dass die für sie jeweils zuständigen Finanzbehörden einen Sachverhalt umsatzsteuerrechtlich in gleicher Weise beurteilen müssen.570 Eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer wird nach jetziger Rechtslage im Einspruchs- oder Finanzgerichtsverfahren allein dann erzielt, wenn der andere Unternehmer zum Verfahren hinzugezogen beziehungsweise beigeladen wird und für beide Unternehmer gleichzeitig dasselbe Finanzamt zuständig ist.571
§ 4 Gesamtergebnis erster Teil Sowohl das UStG als auch die AO normieren kein „Korrespondenzprinzip“ betreffend die Umsatzsteuer und die Vorsteuer.572 Weder aus materiell-rechtlichen Gründen573 noch aus verfahrensrechtlichen Gründen574 haben der Leistende und der Leistungsempfänger einen Anspruch darauf, dass die für sie jeweils zuständigen 567 Hinsichtlich der Regelung zur Geschäftsveräußerung im Ganzen vgl. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 568 FG Münster v. 7. 4. 2020 – 15 K 3019/17 U, DStRE 2020, 1396 Rz. 28 f.; Hummel, MwStR 2016, 172 (178); Trejo, MwStR 2020, 902 (90); zum Vorschlag einer „gesetzliche[n] Korrespondenzregelung“ um systembedingte „Windfall-profits“ auszuschließen vgl. Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen, BR-Drs. 310/18, S. 8 Nr. 4. 569 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Dodos, MwStR 2015, 329 (332); Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450 f. 570 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815); Weimann, ASR 06/2012, 10 (10). 571 Siehe oben: Erster Teil, § 3, VI., 3., c). 572 FG Münster v. 7. 4. 2020 – 15 K 3019/17 U, DStRE 2020, 1396 Rz. 28 f.; Hummel, MwStR 2016, 172 (178); Trejo, MwStR 2020, 902 (90); zum Vorschlag einer „gesetzliche[n] Korrespondenzregelung“ um systembedingte „Windfall-profits“ auszuschließen vgl. Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen, BR-Drs. 310/18, S. 8 Nr. 4. 573 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450; a. A. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/ 09, DStRE 2010, 1119 (1121). 574 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1175); Dodos, MwStR 2015, 329 (331).
94
1. Teil: Analyse des Problems einer widersprüchlichen Behandlung
Finanzbehörden einen Sachverhalt umsatzsteuerrechtlich in gleicher Weise beurteilen müssen.575 Dem Leistenden und dem Leistungsempfänger droht jedoch die Gefahr, dass sie die Umsatzsteuer aufgrund widersprüchlicher Beurteilungen selbst tragen müssen.576 Ob „das nationale Verfahrensrecht Vorkehrungen dafür treffen muss, dass die Steuerbarkeit und Steuerpflicht ein und derselben Leistung beim leistenden und beim leistungsempfangenden Unternehmer gleich beurteilt wird, auch wenn für beide Unternehmer verschiedene Finanzbehörden zuständig sind“577, ist deshalb Gegenstand des vierten Teils dieser Arbeit.
575 Allgemein einen Anspruch ablehnend Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 119 f.; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815); Weimann, UStB 2012, 176 (176). 576 Erster Teil, § 2, I., 2. u. erster Teil, § 2, II.; vgl. dazu auch Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 577 Wortzitat aus FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119, Leitsatz zu 2; siehe auch EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 33.
Zweiter Teil
Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien Verhältnis Im ersten Teil wurde erläutert, dass innerhalb des Vier-Parteien-Verhältnisses drei Rechtsbeziehungen entstehen. Zwischen den beteiligten Unternehmern liegt ein zivilrechtliches Rechtsverhältnis vor und zwischen jedem der beiden Unternehmer und der jeweils für ihn zuständigen Finanzbehörde eine steuerrechtliche Rechtsbeziehung.578 Aus diesem Grund wird im zweiten Teil erläutert, welche zivilrechtlichen Aspekte bei Bestehen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis zu berücksichtigen sind, und insbesondere herausgearbeitet, welche Auswirkungen eine widersprüchliche Behandlung der Unternehmer auf das zwischen ihnen bestehende zivilrechtliche Rechtsverhältnis hat. Im Folgenden wird zunächst zwischen den zivilrechtlichen Aspekten die den Leistenden betreffen (dazu § 1.), und denen, die den Leistungsempfänger betreffen (dazu § 2), differenziert. Abschließend wird der Frage auf den Grund gegangen, ob sich der Leistungsempfänger hinsichtlich der Rückzahlung der (vermeintlich) gesetzlich nicht geschuldeten Umsatzsteuer direkt579 an den Fiskus wenden kann, wenn der Leistende sich weigert, den zivilrechtlichen Anspruch des Leistungsempfängers auf Rückzahlung des Umsatzsteuerbetrags aufgrund des Widerstreits zu erfüllen (dazu § 3).
§ 1 Zivilrechtliche Aspekte für den Leistenden Im Vorangegangenen wurde dargelegt, dass für den Leistenden das Risiko besteht, die Umsatzsteuer aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis im Ergebnis selbst tragen zu müssen.580 Dieses Risiko besteht immer dann, wenn sich der Leistungsempfänger infolge der Versagung seines Vorsteuerabzugs weigert, dem 578 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (1), (a), (cc)); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 579 Grundsätzliches zur Frage eines direkten Anspruchs des Leistungsempfängers gegen den Fiskus bei Versagung des Vorsteuerabzugs aufgrund unrichtigem Steuerausweis siehe BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/14, DStRE 2015, 1318; Reiß, MwStR 2019, 526 (526 ff.); von Streit, EU-UStB 2012, 38; von Streit/Streit, UR 2020, 815 (820); von Streit/Streit, MwStR 2020, 174. 580 Siehe Erster Teil, § 2, I., 2.
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2. Teil: Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits
Leistenden den Umsatzsteuerbetrag zu zahlen. Der Leistende würde die Umsatzsteuer im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis jedoch im Ergebnis nicht selbst tragen, wenn er gegen den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Zahlung der Umsatzsteuer durchsetzen könnte.581 Unter diesem Aspekt stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen dem Leistenden gegen den Leistungsempfänger ein Anspruch auf (nachträgliche) Zahlung des Umsatzsteuerbetrags zusteht.582
I. Mögliche zivilrechtliche Konstellationen im Rahmen eines Widerstreits Zu unterscheiden sind vorerst die folgenden zivilrechtlichen Konstellationen im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis: Zunächst kann die Möglichkeit bestehen, dass die zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger bestehende zivilrechtliche Vereinbarung die Zahlung des Umsatzsteuerbetrags durch den Leistungsempfänger an den Leistenden vorsieht, soweit der Umsatz der Umsatzsteuer unterliegt (Nettopreisvereinbarung).583 Trotz Vorliegens einer Vereinbarung hinsichtlich des Umsatzsteuerbetrags ist es jedoch denkbar, dass sich der Leistungsempfänger weigert, den Umsatzsteuerbetrag an den Leistenden zu zahlen, wenn die für ihn zuständige Finanzbehörde die Erstattung der Vorsteuer verweigert.584 Für den Leistenden würde möglicherweise dann ein Problem bestehen, wenn er die Umsatzsteuer gleichwohl an den Fiskus abzuführen hat (Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis).585 Des Weiteren kann die Möglichkeit bestehen, dass der Leistende und der Leistungsempfänger davon ausgegangen sind, dass die Leistung nicht der Umsatzsteuer unterliegt.586 Dementsprechend wurde allein ein Nettobetrag vereinbart.587 Zudem wurde keine Regelung zur Umsatzsteuerzahlung getroffen (Bruttopreisvereinbarung).588 Die Finanzbehörde des Leistenden setzt die Umsatzsteuer für die Leistung gleichwohl fest und fordert diese vom Leistenden nach.589 Der Leistende stellt die Umsatzsteuer trotz Vorliegens einer Bruttopreisvereinbarung nachträglich in 581
So etwa auch von Streit/Streit, UR 2018, 813 (820). Allgemein zum Anspruch auf Zahlung des Umsatzsteuerbetrags siehe Mann, BC 2015, 256 (256 ff.); Neumann-Tomm, MwStR 2020, 437 (438). 583 Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1272). 584 So etwa FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 1119 (1119). 585 So etwa FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 1119 (1119); Meyer-Burow/ Connemann, UStB 2016, 214 (218). 586 Weinschütz, DB 2010, 20 (20); allgemein zu dieser Konstellation siehe Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1272). 587 Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 588 Allgemein zu dieser Konstellation siehe Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1272). 589 Weinschütz, DB 2010, 20 (20); allgemein zu dieser Konstellation siehe Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1272). 582
§ 1 Zivilrechtliche Aspekte für den Leistenden
97
Rechnung, woraufhin sich der Leistungsempfänger weigert, den Umsatzsteuerbetrag an den Leistenden zu zahlen, da seine Finanzbehörde die Erstattung der Vorsteuer verweigert.590
II. Netto- oder Bruttopreisabrede Zivilrechtlich besteht der Grundsatz, dass die Umsatzsteuer vom Leistenden einzuplanen ist.591 Ein Anspruch des Leistenden gegen den Leistungsempfänger auf zusätzliche Zahlung der Umsatzsteuer kommt grundsätzlich nur in Frage, wenn hierfür eine zivilrechtliche Vereinbarung getroffen wurde.592
1. Nettopreisabrede Dies ist bei Vorliegen einer Nettopreisabrede der Fall.593 Bei Vorliegen einer Nettopreisabrede ist die Umsatzsteuer zivilrechtlich Bestandteil der Gegenleistung des Leistungsempfängers.594 Dementsprechend hat der Leistende gegen den Leistungsempfänger hier einen Anspruch auf Zahlung des Umsatzsteuerbetrags.595 Dieser Anspruch besteht indes nur dann, wenn die Umsatzsteuer in der Rechnung materiell-rechtlich richtig ausgewiesen ist.596 Schuldet der Leistende die Umsatzsteuer aufgrund eines unrichtigen Steuerausweises (§ 14c Abs. 1 Satz 1 UStG), ist der Leistungsempfänger auch bei Vorliegen einer Nettopreisabrede nicht dazu verpflichtet, den Umsatzsteuerbetrag an den Leistenden zu zahlen.597 Grund hierfür ist, dass der Leistungsempfänger in diesem Fall keinen Vorsteuerabzug geltend machen kann und infolgedessen im Ergebnis die Umsatzsteuer selbst tragen müsste, wenn er den Umsatzsteuerbetrag trotzdem an den Leistenden zu zahlen hätte.598 Für das dieser Arbeit zugrunde liegende Problem bedeutet das Vorliegen einer Nettopreisabrede Folgendes: Selbst wenn eine Nettopreisabrede vorliegt, kann zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger bei Verweigerung des Vorsteuerabzugs durch die für den Leistungsempfänger zuständige Finanzbehörde 590
Weinschütz, DB 2010, 20 (20). Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1272); Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14 Rz. 560. 592 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14 Rz. 560. 593 Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1272); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). 594 Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1272). 595 Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1272). Beachte: Kommt der Leistungsempfänger seiner Verpflichtung zur Begleichung des Umsatzsteuerbetrags nicht nach, muss der Leistungsempfänger möglichweise Verzugszinsen aus dem Umsatzsteuerbetrag an den leistenden Unternehmer zahlen. Siehe hierzu Ernst, NJW 1986, 2935 (2936). 596 Rohde/Knobbe, NJW 2012, 2156 (2158). 597 Rohde/Knobbe, NJW 2012, 2156 (2158). 598 Rohde/Knobbe, NJW 2012, 2156 (2158 f.). 591
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2. Teil: Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits
Streit darüber bestehen, ob der Umsatzsteuer materiell-rechtlich tatsächlich angefallen ist.599 Problematisch ist, dass bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis fraglich ist, ob der Leistende die Steuer nach den Regelungen des Umsatzsteuergesetzes schuldet.600 Dies bedeutet, dass für den Leistenden auch bei Bestehen eines grundsätzlichen Anspruchs auf Zahlung des Umsatzsteuerbetrags eine Problematik aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis bestehen kann.
2. Bruttopreisabrede Sofern keine Nettopreisabrede besteht, sondern eine Bruttopreisabrede601, hat der Leistende gegen den Leistungsempfänger grundsätzlich lediglich einen Anspruch auf Zahlung der bezifferten Gegenleistung.602 Die Umsatzsteuer ist hier folglich, sofern sie anfällt, unselbstständiger Teil der zu zahlenden Gegenleistung603 und ein reiner Kalkulationsposten des Leistenden604. Denn auch wenn es sich bei dem Leistungsempfänger um einen zum Vorsteuerabzug berechtigten Unternehmer handelt, besteht kein dahingehender Handelsbrauch605, dass der geschuldete Betrag für die Leistung stets als Nettopreis zu verstehen ist.606 Das heißt, dass der Leistungsempfänger auch bei einem beiderseitigen Handelsgeschäft davon ausgehen kann, dass der für die Leistung vereinbarte Betrag die Umsatzsteuer miteinschließt.607 Das Risiko, die Umsatzsteuer bei deren Nachforderung selbst tragen zu müssen, liegt damit in diesem Fall grundsätzlich beim Leistenden.608 Eine Ausnahme hiervon kann insbesondere dann vorliegen, wenn der Leistende und der Leistungsempfänger übereinstimmend (irrtümlich) davon ausgegangen sind,
599 600
(cc)). 601
So etwa Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a),
Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1272 – 1273). BGH v. 14. 12. 1977 – VIII ZR 34/76, BeckRS 1977, 31122042; Westermann, in: MüKo, BGB, § 433 Rz. 24. 603 BGH v. 28. 2. 2002 – I ZR 318/99, GRUR 2003, 84 (85); BGH v. 11. 5. 2001 – V ZR 492/ 99, NJW 2001, 2464 (2464). 604 Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1273). 605 Es liegt ein beiderseitiges Handelsgeschäft vor, wenn es sich sowohl bei dem leistenden Unternehmer als auch bei dem leistungsempfangenden Unternehmer um einen Kaufmann handelt. Bei einem beiderseitigen Handelsgeschäft sind Handelsbräuche zu beachten. Siehe Schwarz, in: Schwarz/Widmann/Radeisen, § 10 Rz. 37. 606 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, MwStR 2014, 376 (377, unter II., 1., a)); Schwarz, in: Schwarz/Widmann/Radeisen, § 10 Rz. 37. 607 Schwarz, in: Schwarz/Widmann/Radeisen, § 10 Rz. 37. 608 Kahsnitz, DStR 2017, 1272 (1273). 602
§ 1 Zivilrechtliche Aspekte für den Leistenden
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dass der Umsatz nicht der Umsatzsteuer unterliegt.609 Im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 157, 133 BGB) ist in diesem Fall zu bestimmen, wem die Umsatzsteuer auferlegt werden soll.610 Dies ist in der Regel der Leistungsempfänger, wenn ihm ein Vorsteuerabzug zusteht.611 Grund hierfür ist, dass der Leistungsempfänger in diesem Fall im Ergebnis wirtschaftlich nicht finanziell belastet wird und dem Leistenden die Tragung der Umsatzsteuer überdies dann nicht zugemutet werden kann.612 Zu beachten gilt es, dass ein Anspruch des Leistenden gegen den Leistungsempfänger auf Zahlung des Umsatzsteuerbetrags infolge des Grundsatzes der ergänzenden Vertragsauslegung nur dann in Betracht kommt, wenn der Leistende die Umsatzsteuer deshalb schuldet, weil der Umsatz nach den Regelungen des UStG steuerbar und steuerpflichtig ist.613 Schuldet der Leistende die Umsatzsteuer gegenüber dem Fiskus allein aufgrund eines unrichtigen (§ 14c Abs. 1 UStG) oder unberechtigten Steuerausweises (§ 14c Abs. 2 UStG), ist ein Anspruch infolge ergänzender Vertragsauslegung von vornherein abzulehnen.614 Denn dann betrifft die Verpflichtung des Leistenden zur Abführung der Umsatzsteuer ausschließlich das steuerrechtliche Verhältnis zwischen dem Leistenden und dem für ihn zuständigen Finanzamt.615 Zudem gilt es zu beachten, dass, sofern sich ausschließlich der Leistende über die Steuerpflicht eines Umsatzes täuscht, nach Ansicht des BGH ein bloßer Motivirrtum (hier ein sog. interner oder verdeckter Kalkulationsirrtum) vorliegt, welcher rechtlich irrelevant ist.616 Liegt eine Bruttopreisvereinbarung vor, kann der Leistungsempfänger im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis demnach grundsätzlich zurecht die nachträgliche Zahlung des Umsatzsteuerbetrags verweigern. Stellt der Leistende die Umsatzsteuer dennoch nachträglich in Rechnung, da seine Finanzbehörde die Umsatzsteuer nachfordert, hätte der leistende Unternehmer jedoch gegen den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Zahlung des Umsatzsteuerbetrags aus ergänzender Vertragsauslegung, sofern beide Unternehmer von der Nichtsteuerbarkeit oder Steuerfreiheit des Umsatzes ausgegangen sind und dem Leistungsempfänger der Vorsteuerabzug gewährt werden würde. Verweigert die Finanzbehörde des Leistungsempfängers den Vorsteuerabzug (Widerstreit im Vier609 BGH v. 14. 1. 2000 – V ZR 416/97, IBRRS 2000, 1395 (unter II., 3.); OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, openJur 2014, 5792 Rz. 45. 610 BGH v. 28. 2. 2002 – I ZR 318/99, GRUR 2003, 84 (85); Faust, in: BeckOK BGB, § 433 Rz. 56; Heuermann, DB 2015, 572 (575). 611 BGH v. 14. 1. 2000 – V ZR 416/97, IBRRS 2000, 1395 (unter II., 3.). 612 BGH v. 14. 1. 2000 – V ZR 416/97, IBRRS 2000, 1395 (unter II., 3.). 613 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, openJur 2014, 5792 Rz. 45 ff. 614 BGH v. 24. 1. 2008 – VII ZR 280/05, ZfBR 2008, 361 (362); OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, openJur 2014, 5792 Rz. 49. 615 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13, openJur 2014, 5792 Rz. 49. 616 BGH v. 28. 2. 2002 – I ZR 318/99, GRUR 2003, 84 (85); siehe auch Rohde/Knobbe, NJW 2012, 2156 (2158).
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2. Teil: Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits
Parteien-Verhältnis), steht ihm also kein Vorsteuerabzug zu, kommt ein solcher Anspruch des Leistenden jedoch gerade nicht in Betracht. Somit besteht für den Leistenden auch bei Vorliegen einer Bruttopreisabrede und gleichzeitigem Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis aufgrund des Widerstreits ein Problem.
III. Geltendmachung des Anspruchs auf Zahlung der Umsatzsteuer 1. Klage vor dem Zivilgericht Setzt das Finanzamt des Leistenden Umsatzsteuer durch einen Steuerbescheid fest und weigert sich der Leistungsempfänger, dem Leistenden den Umsatzsteuerbetrag infolge des Vorliegens eines umsatzsteuerrechtlichen Widerstreits zu zahlen, muss der Leistende seinen etwaigen Anspruch auf Zahlung der Umsatzsteuer vor den Zivilgerichten617 einklagen (vgl. § 13 GVG).618 Andernfalls droht dem Leistenden die Gefahr, endgültig mit der Umsatzsteuer belastet zu sein,619 sofern er weder im Einspruchs- noch im Klageverfahren erfolgreich gegen die Umsatzsteuerfestsetzung vorgehen kann. Das Zivilgericht würde dem Leistenden den Anspruch gegen den Leistungsempfänger auf Zahlung des Umsatzsteuerbetrags zusprechen, wenn es an die Rechtsauffassung beziehungsweise an die Steuerfestsetzung des Finanzamts des Leistenden gebunden wäre.620 So könnte schon eine verbindliche Auskunft des Finanzamts (des Leistenden) Bindungswirkung entfalten.621 Die Auskunft beziehungsweise die Umsatzsteuerfestsetzung des Finanzamts des Leistenden könnte grundsätzlich auch für das zivilrechtliche Rechtsverhältnis zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger maßgeblich sein.622 Für das Problem des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis bedeuten die vorstehenden Erwägungen, dass der Leistende die Umsatzsteuer im Ergebnis nicht selbst tragen müsste, wenn die Zivilgerichte an die Auffassung des Finanzamts des Leistenden gebunden wären. Dementsprechend ist die Frage der Prüfungskompetenz
617 Allgemein zur Klärung von umsatzsteuerrechtlichen Fragen vor den Zivilgerichten siehe OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter I.); Bode/Fleckenstein-Weiland, DStR 2013, 2066 (2069). 618 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176). 619 So etwa Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176). 620 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter I.). 621 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter I.). 622 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter I.).
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der Zivilgerichte hinsichtlich der materiellen Steuerrechtslage für das Problem des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis relevant.623
2. Bindung der Zivilgerichte an Rechtsaufassungen der Finanzbehörden Ob die Zivilgerichte an Steuerfestsetzungen beziehungsweise an Rechtsauffassungen der Finanzbehörden gebunden sind oder ob ihnen vielmehr eine eigene Prüfungskompetenz hinsichtlich der materiellen Steuerrechtslage zusteht, ist jedoch umstritten.624 a) Streitstand aa) Erste Ansicht Nach einer Auffassung besteht grundsätzlich eine eigene Prüfungskompetenz der Zivilgerichte hinsichtlich der materiellen Steuerrechtslage.625 Hierfür spreche, dass dies für die Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes vonnöten sei.626 Im Rahmen einer Klage des Leistungsempfängers gegen den Leistenden auf Erteilung einer Rechnung mit gesondert ausgewiesenem Steuerbetrag macht der BGH aber von der grundsätzlichen Prüfungskompetenz eine Ausnahme.627 Eine Ausnahme bestehe hier, wenn die Frage der objektiven Steuerpflichtigkeit eines Umsatzes ernstlich zweifelhaft sei.628 Grund hierfür sei, dass es dem Leistenden in diesem Fall nicht zuzumuten sei, aufgrund der Entscheidung des Zivilgerichts der Sanktionswirkung des § 14 Abs. 2, Abs. 3 UStG a. F. (nunmehr § 14c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1
623 Burgmaier und Heinrichshofen thematisieren die Frage der Prüfungskompetenz der Zivilgerichte im Zusammenhang mit dem Problem sich widersprechender Entscheidungen von Finanzbehörden, sehen die Frage jedoch als eigenständiges Problem an („Widerstreit zwischen Finanzgerichtsbarkeit und Nichtfinanzgerichtsbarkeit“). Vgl. Burgmaier/Heinrichshofen, EUUStB 2012, 14 (17). So auch Weinschütz: „Die Divergenz kann auch durch sich widersprechende Entscheidungen von Finanz- und Zivilgerichten entstehen“. Vgl. Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 624 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a)); Bode/ Fleckenstein-Weiland, DStR 2013, 2066 (2069). 625 BGH v. 24. 2. 1988 – VII ZR 64/87, NJW 1988, 2042 (unter II., 2., c)); BFH v. 30. 3. 2011 – XI R 5/09, BeckRS 2011, 96065 Rz. 21; OLG Naumburg v. 29. 6. 2007 – 10 U 7/07, BeckRS 2008, 7269 Rz. 29; OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (aa)); OLG Schleswig-Holstein v. 4. 4. 2018 – 12 U 4/18, NJW-RR 1291 Rz. 26. 626 BGH v. 2. 11. 2011 – V ZR 224/00, BeckRS 2001, 30216246 Rz. 14. 627 BGH v. 14. 1. 1980 – II ZR 76/79, NJW 1980, 2710 (unter 2., b)); BGH v. 24. 2. 1988 – VII ZR 64/87, NJW 1988, 2042 (unter II., 2., c)); BGH v. 2. 11. 2011 – V ZR 224/00, BeckRS 2001, 30216246 Rz. 13. 628 BGH v. 24. 2. 1988 – VII ZR 64/87, NJW 1988, 2042 (unter II., 2., c)).
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2. Teil: Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits
UStG) ausgesetzt zu werden.629 Denn dem Leistenden werde andernfalls das Risiko aufgebürdet, dass er die Steuer infolge der Erteilung einer Rechnung mit gesondert ausgewiesenem Steuerbetrag nach der Regelung des § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG unabhängig davon schulde, ob der Umsatz (auch nach Auffassung der für ihn zuständigen Finanzbehörde) tatsächlich steuerpflichtig sei.630 In diesem Fall müsse das Zivilgericht keine Entscheidung treffen und dürfe feststellen, dass die Frage der objektiven Steuerpflichtigkeit ernstlich zweifelhaft sei.631 In den anderen Fällen sei eine Bindungswirkung von Steuerbescheiden oder Auffassungen der Finanzbehörden hingegen abzulehnen.632 bb) Zweite Ansicht Nach einer anderen Auffassung sind die Zivilgerichte an die Rechtsauffassungen beziehungsweise an die Umsatzsteuerfestsetzungen der Finanzbehörden (und die Rechtsauffassungen der Finanzgerichte) gebunden und haben dementsprechend keine eigene Prüfungskompetenz hinsichtlich steuerrechtlicher Fragen.633 Denn ansonsten bestünde das Risiko sich widersprechender Entscheidungen der Finanzbehörden (beziehungsweise der Finanzgerichte) und der Zivilgerichte.634 Solch ein Ergebnis stünde mit dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung nicht im Einklang.635 Nach Ansicht Stadies muss das Zivilgericht den Rechtsstreit aussetzen, sofern die Umsatzsteuerpflicht des Leistenden fraglich ist, und darauf warten, bis das zuständige Finanzamt über die Umsatzsteuerpflicht entschieden hat.636
629 BFH v. 10. 7. 1997 – V R 94/96, DStR 1997, 1643 (1645 unter II., 2., a)., aa)); BGH v. 24. 2. 1988 – VII ZR 64/87, NJW 1988, 2042 (unter II., 2., c), aa)); BGH v. 2. 11. 2011 – V ZR 224/00, BeckRS 2001, 30216246 Rz. 13; OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (aa)). 630 BGH v. 14. 1. 1980 – II ZR 76/79, NJW 1980, 2710 (unter 2., b)); BGH v. 24. 2. 1988 – VII ZR 64/87, NJW 1988, 2042 (unter II., 2., c), aa)); BGH v. 2. 11. 2011 – V ZR 224/00, BeckRS 2001, 30216246 Rz. 13. 631 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (aa)). 632 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (cc)). 633 BGH v. 17. 7. 2001 – X ZR 13/99, BeckRS 2001, 7659 (unter II., 2., a)); BSG v. 17. 7. 2008 – B 3 KR 18/07 R, BeckRS 2009, 50013 Rz. 13; LSG Baden-Württemberg v. 16. 1. 2018 – L 11 KR 1723/17, DStR 2018, 579 Rz. 36; Bode/Fleckenstein-Weiland, DStR 2013, 2066 (2069); Stadie, UR 2011, 801 (802). 634 LSG Baden-Württemberg v. 16. 1. 2018 – L 11 KR 1723/17, DStR 2018, 579 Rz. 36; Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (18); Bode/Fleckenstein-Weiland, DStR 2013, 2066 (2069). 635 BSG v. 17. 7. 2008 – B 3 KR 18/07 R, BeckRS 2009, 50013 Rz. 13; Bode/FleckensteinWeiland, DStR 2013, 2066 (2069). 636 Stadie, UR 2011, 801 (802).
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cc) Streitentscheid Ersterer Auffassung ist zuzustimmen. Zunächst ist daran zu erinnern, dass im umsatzsteuerrechtlichen Vier-Parteien-Verhältnis drei Rechtsbeziehungen bestehen (das zivilrechtliche Rechtsverhältnis sowie die beiden steuerrechtlichen Rechtsverhältnisse), welche voneinander losgelöst betrachtet werden müssen.637 Ob der Leistende die Umsatzsteuer nach den Regelungen des Umsatzsteuergesetzes schuldet, kann von den für die am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer zuständigen Finanzbehörden in den beiden Steuerrechtsverhältnissen nach jetziger Rechtslage unterschiedlich entschieden werden.638 Da schon eine Divergenz zwischen den Rechtsauffassungen der Finanzbehörden bestehen kann, besteht kein Grund, dass die Zivilgerichte an die Entscheidungen der Finanzbehörden gebunden sind.639 Zudem würde sich, würde man eine Bindungswirkung der Entscheidungen der Finanzbehörden annehmen, die Frage stellen, welche der beiden Auffassungen der Finanzbehörden des Leistenden und des Leistungsempfänger Bindungswirkung entfaltet. Bei einem Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis stehen die Entscheidungen der Finanzbehörden gerade im Widerspruch. Eine Bindungswirkung der Entscheidung der für den Leistenden zuständigen Finanzbehörde oder der Entscheidung der für den Leistungsempfänger zuständigen Finanzbehörde wäre mithin nur dann gerechtfertigt, wenn gewährleistet wäre, dass widerspruchsfreie Entscheidungen zu treffen sind.640 Den Zivilgerichten steht damit grundsätzlich eine eigene Prüfungskompetenz hinsichtlich der materiellen Steuerrechtslage zu.641 b) Bedeutung für das vorliegende Problem Für die Problematik des Widerstreits bedeuten die vorstehenden Ausführungen Folgendes: Wenn die Zivilgerichte grundsätzlich nicht an die Steuerfestsetzungen beziehungsweise an die Rechtsauffassungen der Finanzbehörden gebunden sind, besteht das Risiko, dass dem Leistenden gegen den Leistungsempfänger kein Anspruch auf Zahlung des Umsatzsteuerbetrags zugesprochen wird, obwohl er die
637
(cc)). 638
(cc)); 639
(cc)). 640
(cc)).
OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a),
641 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a); a. A. BGH v. 17. 7. 2001 – X ZR 13/99, NJW-RR 2002, 591 (unter II., 2., a)); BSG v. 17. 7. 2008 – B 3 KR 18/07 R, NJOZ 2009, 1910 Rz. 13.
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2. Teil: Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits
Umsatzsteuer abzuführen hat.642 In diesem Fall müsste der Leistende die Umsatzsteuer infolge eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis im Ergebnis selbst tragen. Denkbar wäre auch, dass das Zivilgericht dem Leistenden den Anspruch gegen den Leistungsempfänger auf Zahlung der Umsatzsteuer zuspricht.643 Dann wäre der Leistungsempfänger dazu verpflichtet den Umsatzsteuerbetrag an den Leistenden zahlen,644 obwohl er diesen Betrag infolge des umsatzsteuerrechtlichen Widerstreits nicht als Vorsteuer in Abzug zu bringen kann.645 In diesem Fall würde der Leistende die Umsatzsteuer infolge eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis im Ergebnis nicht selbst tragen, sondern der Leistungsempfänger.
§ 2 Zivilrechtliche Aspekte für den Leistungsempfänger Nicht nur für den Leistenden besteht das Risiko, die Umsatzsteuer aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis im Ergebnis selbst tragen zu müssen, auch besteht dieses Risiko für den Leistungsempfänger.646
I. Keine Zahlung des Leistungsempfängers Verweigert der Leistungsempfänger die Zahlung des Umsatzsteuerbetrags an den Leistenden und führt an, die für ihn zuständige Finanzbehörde habe den Vorsteuerabzug versagt,647 besteht für den Leistungsempfänger die Gefahr, vom Leistenden auf dem Zivilrechtsweg in Anspruch genommen zu werden.648 Wie bereits festgestellt, besteht für den Leistungsempfänger dann das Risiko, dass das Zivilgericht dem Leistenden den Anspruch auf Zahlung der Umsatzsteuer zuspricht.649 Spricht das Zivilgericht dem Leistenden den Zahlungsanspruch zu, ist der Leistungsempfänger 642 LSG Baden-Württemberg v. 16. 1. 2018 – L 11 KR 1723/17, DStR 2018, 579 Rz. 36; Bode/Fleckenstein-Weiland, DStR 2013, 2066 (2069); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 643 Bode/Fleckenstein-Weiland, DStR 2013, 2066 (2069); Heinrichshofen, EU-UStB 2011, 51 (52); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 644 Bode/Fleckenstein-Weiland, DStR 2013, 2066 (2069). 645 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (cc)); Dodos, MwStR 2015, 329 (332); Heinrichshofen, EU-UStB 2011, 51 (52); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 646 Burgmaier/Sterzinger, UR 2012, 175 (182); Weimann, UStB 2010, 350 (350); Weymüller, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 14 Rz. 166.2. 647 Vgl. EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 (219). 648 Unabhängig vom Vorliegen eines umsatzsteuerrechtlichen Widerstreits vgl. Bode/Fleckenstein-Weiland, DStR 2013, 2066 (2069); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 649 Bode/Fleckenstein-Weiland, DStR 2013, 2066 (2069); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221).
§ 2 Zivilrechtliche Aspekte für den Leistungsempfänger
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dazu verpflichtet, den Umsatzsteuerbetrag an den Leistenden zahlen,650 obwohl er diesen Betrag infolge des umsatzsteuerrechtlichen Widerstreits nicht als Vorsteuer in Abzug zu bringen kann.651 In diesem Fall muss der Leistungsempfänger den Umsatzsteuerbetrag im Ergebnis aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis selbst tragen. Nicht belastet ist der Leistungsempfänger im Ergebnis mit der Umsatzsteuer bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis, wenn das Zivilgericht die Klage des Leistenden auf Zahlung des Umsatzsteuerbetrags abweist.
II. Zahlung des Leistungsempfängers Hat der Leistungsempfänger den Umsatzsteuerbetrag an den Leistenden gezahlt und wird ihm zu einem späteren Zeitpunkt der Vorsteuerabzug im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis versagt, ist der Leistungsempfänger auf seinen (nur möglicherweise bestehenden) zivilrechtlichen Rückzahlungsanspruch gegen den Leistenden angewiesen,652 sofern ihm der Vorsteuerabzug auch nicht im Einspruchs- oder Klageverfahren zugesprochen wird. Der Leistungsempfänger würde die Umsatzsteuer im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis im Ergebnis nicht selbst tragen, wenn er gegen den Leistenden einen Anspruch auf Rückzahlung der Umsatzsteuer durchsetzen könnte.653 Der Leistungsempfänger muss, wenn er die Rückzahlung des bereits an den Leistenden gezahlten Umsatzsteuerbetrags begehrt, den Zivilrechtsweg bestreiten.654 Nach der in dieser Arbeit vertretenen Ansicht655 steht den Zivilgerichten grundsätzlich eine eigene Prüfungskompetenz656 hinsichtlich der materiellen Steuerrechtslage zu.
650
Bode/Fleckenstein-Weiland, DStR 2013, 2066 (2069). OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (cc)); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 652 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 653 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176). 654 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 2.); FarruggiaWeber/Klüger, MwStR 2019, 771 (773); Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 32. 655 Siehe aber was nach der hier vertretenen Auffassung nach Auflösung des Widerstreits gelten muss: sechster Teil, § 3, XIII. 656 BGH v. 24. 2. 1988 – VII ZR 64/87, NJW 1988, 2042 (unter II., 2., c)); BFH v. 30. 3. 2011 – XI R 5/09, BeckRS 2011, 96065 Rz. 21; OLG Naumburg v. 29. 6. 2007 – 10 U 7/07, BeckRS 2008, 7269 Rz. 29; OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 107/13, MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (aa)); OLG Schleswig-Holstein v. 4. 4. 2018 – 12 U 4/18, NJW-RR 1291 Rz. 26. 651
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2. Teil: Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits
1. Rückzahlungsanspruch, § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB Besteht ein Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis, ist zunächst denkbar, dass der Leistungsempfänger die Rückzahlung der Umsatzsteuer begehrt, weil er infolge der Versagung seines Vorsteuerabzugs der Ansicht ist, dass die Umsätze des Leistenden nicht der Umsatzsteuer unterliegen.657 Denkbar ist auch, dass der Leistungsempfänger die Rückzahlung eines Teils des bezahlten Umsatzsteuerbetrags begehrt, weil ihm der Vorsteuerabzug teilweise infolge der falschen Anwendung des Steuersatzes (Anwendung des Regelsteuersatzes (19 %) anstatt des ermäßigten Steuersatzes (7 %)) versagt wurde.658 Ein Anspruch auf Rückzahlung des zu viel gezahlten Umsatzsteuerbetrags kommt aus ungerechtfertigter Bereicherung gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB in Betracht.659 Der bereicherungsrechtliche Herausgabeanspruch des Leistungsempfängers setzt nach § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB zunächst voraus, dass der leistende Unternehmer durch die Leistung eines anderen (des Leistungsempfängers) etwas ohne rechtlichen Grund erlangt hat. Mit Zahlung des Umsatzsteuerbetrags durch den Leistungsempfänger an den leistenden Unternehmer hat der leistende Unternehmer etwas660 durch Leistung661 eines anderen erlangt.662 Kein rechtlicher Grund liegt hierfür vor, wenn die Leistungen des leistenden Unternehmers nicht der Umsatzsteuer unterliegen663 beziehungsweise nur der ermäßigte Steuersatz664 hätte angewendet werden dürfen. Das Zivilgericht könnte entscheiden, dass der Umsatz sehr wohl der Umsatzsteuer unterliegt beziehungsweise die Anwendung des Regelsteuersatzes richtig ist und demgemäß die Klage des Leistungsempfängers abweisen, obwohl dem Leistungsempfänger kein Vorsteuerabzug gewährt wird.665 In diesem Fall müsste der Leistungsempfänger den Umsatzsteuerbetrag aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis im Ergebnis selbst tragen.
657
OLG Brandenburg v. 17. 2. 2010 – 7 U 125/09, IBRRS 2010, 1558. BGH v. 18. 4. 2012 – VIII ZR 253/11, NVwZ-RR 2012, 570 Rz. 12. 659 BGH v. 18. 4. 2012 – VIII ZR 253/11, NVwZ-RR 2012, 570 Rz. 12; OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 2.); Farruggia-Weber/Klüger, MwStR 2019, 771 (773); Leipold in Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 145. 660 Das erlangte Etwas ist in jedweder Verbesserung der Vermögenslage des Bereicherungsschuldners zu sehen. Vgl. Wiese, in: Schulze/Dörner/Ebert, BGB, § 812 Rz. 3. 661 Leistung ist die bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens. Vgl. Schwab, in: MüKo, BGB, § 812 Rz. 47. 662 OLG Brandenburg v. 17. 2. 2010 – 7 U 125/09, IBRRS 2010, 1558. 663 OLG Brandenburg v. 17. 2. 2010 – 7 U 125/09, IBRRS 2010, 1558. 664 BGH v. 18. 4. 2012 – VIII ZR 253/11, NVwZ-RR 2012, 570 Rz. 12. 665 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 658
§ 2 Zivilrechtliche Aspekte für den Leistungsempfänger
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2. Entreicherung des Leistenden, § 818 Abs. 3 BGB Das Zivilgericht könnte jedoch auch entscheiden, dass der Umsatz nicht der Umsatzsteuer unterliegt666 beziehungsweise der ermäßigte Steuersatz anzuwenden gewesen wäre und somit die Voraussetzungen des § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB vorliegen. Möglicherweise kann sich der Leistende jedoch gemäß § 818 Abs. 3 BGB auf Entreicherung berufen, wenn er den Umsatzsteuerbetrag bereits an sein Finanzamt abgeführt hat.667 Dies ist grundsätzlich in Höhe des an den Fiskus gezahlten Umsatzsteuerbetrags möglich.668 So könnte sich der Anspruch des Leistungsempfängers auf Herausgabe des Umsatzsteuerbetrags um den durch den leistenden Unternehmer abgeführten Umsatzsteuerbetrag (bis auf null) mindern.669 Ausgeschlossen ist eine Entreicherung des leistenden Unternehmers nach § 818 Abs. 3 BGB jedoch dann, wenn dieser eine Rechnungsberichtigung (vgl. §§ 14c Abs. 1 Satz 2, 17 Abs. 1 Satz 1, 7 UStG) durchführen kann und den an den Fiskus abgeführten Umsatzsteuerbetrag vom Finanzamt nach § 37 Abs. 2 AO zurückerlangen kann.670 Eine Entreicherung liegt nur dann vor, „wenn der Erstattungsanspruch [nach § 37 Abs. 2 AO] gegenüber dem Fiskus praktisch wertlos ist, was der Fall ist, wenn der Anspruch uneinbringlich oder seine Durchsetzung nach den Umständen zumindest äußerst schwierig ist“.671 Uneinbringlichkeit des Anspruchs liegt vor, wenn die Beklagte darlegt, „[d]ass der Fiskus die Erstattung der Umsatzsteuer entgegen der bestehenden Rechtslage verweigern würde.“672 Wenn also anzunehmen ist, dass „die Beklagte gezwungen sein wird, ihren Erstattungsanspruch gegen den Fiskus gerichtlich geltend“ machen zu müssen.673 Die Durchsetzung des Erstattungsanspruchs ist beispielsweise „bei einer komplizierten und unsicheren Beweisführung oder bei unverhältnismäßig hohen Verfahrenskosten“ äußerst schwierig.674 666
Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). BGH v. 8. 5. 2008 – IX ZR 229/06, IBRRS 2008, 1609 (unter II., 2.); BGH v. 18. 4. 2012 – VIII ZR 253/11, NVwZ-RR 2012, 570 (571 Rz. 12 u. 572 Rz. 24). 668 BGH v. 8. 5. 2008 – IX ZR 229/06, IBRRS 2008, 1609 (unter II., 2.); BGH v. 18. 4. 2012 – VIII ZR 253/11, NVwZ-RR 2012, 570 (572 Rz. 24); OLG Braunschweig v. 22. 5. 2018 – 8 U 130/17, ECLI:DE:OLGBS:2018:0522.8U130.17.00 Rz. 28. 669 BGH v. 8. 5. 2008 – IX ZR 229/06, IBRRS 2008, 1609 (unter II., 2.). 670 BGH v. 18. 4. 2012 – VIII ZR 253/11, NVwZ-RR 2012, 570 (572 Rz. 24); OLG Brandenburg v. 17. 2. 2010 – 7 U 125/09, BeckRS 2010, 8976 (unter II.); OLG Braunschweig v. 22. 5. 2018 – 8 U 130/17, ECLI:DE:OLGBS:2018:0522.8U130.17.00 Rz. 28. 671 OLG Braunschweig v. 22. 5. 2018 – 8 U 130/17, ECLI:DE:OLGBS:2018:0522.8U130.17.00 Rz. 28; vgl. auch BGH v. 18. 4. 2012 – VIII ZR 253/11, NVwZ-RR 2012, 570 (572 Rz. 25). 672 OLG Braunschweig v. 22. 5. 2018 – 8 U 130/17, ECLI:DE:OLGBS:2018:0522.8U130.17.00 Rz. 30. 673 BGH v. 18. 4. 2012 – VIII ZR 253/11, NVwZ-RR 2012, 570 (572 Rz. 26). 674 OLG Braunschweig v. 22. 5. 2018 – 8 U 130/17, ECLI:DE:OLGBS:2018:0522.8U130.17.00 Rz. 32. 667
108
2. Teil: Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits
Ob dem Unternehmer der Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO zu gewähren ist, entscheidet die für ihn zuständige Finanzbehörde im Festsetzungsverfahren von Amts wegen.675 Nimmt der Leistende eine Rechnungsberichtigung nach §§ 14c Abs. 1 Satz 2, 17 Abs. 1 UStG vor, kann er nach § 37 Abs. 2 AO von seiner Behörde verlangen, dass ihm die zu Unrecht gezahlten Umsatzsteuerbeträge zurückerstattet werden.676 Bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis geht das Finanzamt des Leistenden jedoch davon aus, dass der leistende Unternehmer die Steuer gesetzlich schuldet.677 Demnach ist bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-ParteienVerhältnis davon auszugehen, dass das für den leistenden Unternehmer zuständige Finanzamt dem Leistenden den Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO nicht gewähren wird und dieser den Erstattungsanspruch (§ 37 Abs. 2 AO) gerichtlich geltend zu machen hat. Im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis ist der Erstattungsanspruch des Leistenden demnach uneinbringlich und damit für den leistenden Unternehmer praktisch wertlos. Somit kann sich der leistende Unternehmer im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nach § 818 Abs. 3 BGB auf Entreicherung berufen, wenn er den Umsatzsteuerbetrag an den Fiskus abgeführt hat. In diesem Fall hat der Leistungsempfänger gegen den Leistenden im Rahmen eines Widerstreits keinen Rückzahlungsanspruch nach § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB.
§ 3 Direkter Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus Wird dem Leistungsempfänger der Vorsteuerabzug im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis verwehrt und weigert sich der Leistende aufgrund des Widerstreits den vom Leistungsempfänger erhaltenen Umsatzsteuerbetrag an den Leistungsempfänger zurückzuzahlen, muss der Leistungsempfänger seinen etwaigen Anspruch auf Rückzahlung des Umsatzsteuerbetrags im Zivilrechtsweg geltend machen.678 Dies kann sich, wie im Vorangegangenen dargelegt wurde,679 jedoch als problematisch erweisen.
675 676
Rz. 30. 677 678 679
Koenig, in: Koenig, AO, § 37 Rn. 66; Ratschow, in: Klein, AO, § 37 Rn. 55. OLG Braunschweig v. 22. 5. 2018 – 8 U 130/17, ECLI:DE:OLGBS:2018:0522.8U130.17.00 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1119). So etwa Weinschütz, DB 2010, 20 (20). Siehe oben: Zweiter Teil, § 2, II.
§ 3 Direkter Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus
109
Es stellt sich deshalb die Frage, ob der Leistungsempfänger die Erstattung des Umsatzsteuerbetrags bei Verweigerung seines Vorsteuerabzugs direkt680 vom Fiskus verlangen kann, wenn sich der Leistende aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis trotz Versagung des Vorsteuerabzugs weigert,681 dem Leistungsempfänger den Umsatzsteuerbetrag zu erstatten. Denn sollte unter diesen Gegebenheiten ein Direktanspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus auf Rückerstattung des Umsatzsteuerbetrags bestehen, bestünde keine endgültige Belastung682 des Leistungsempfängers mit der Umsatzsteuer aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis. Die Geltendmachung eines Anspruchs auf Rückerstattung der Umsatzsteuer kommt sowohl gegenüber dem für den Leistungsempfänger zuständigen Finanzamt683 als auch gegenüber dem für den Leistenden zuständigen Finanzamt684 in Frage.
I. Grundsatz Ein direkter Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus auf Rückzahlung eines nicht geschuldeten Umsatzsteuerbetrags685 (Erstattungs- oder Regressanspruch)686 besteht grundsätzlich nicht.687 In der Regel erfolgt die Rückabwicklung gesetzlich nicht geschuldeter Umsatzsteuer allein im Dreiecksverhältnis wie folgt: der Leistungsempfänger wendet sich an den Leistenden (anstatt seiner Geltendmachung des Vorsteuerabzugs), und der Leistende wendet sich an die für ihn zuständige Finanzbehörde.688
680
Grundsätzliches zur Frage eines direkten Anspruchs des Leistungsempfängers gegen den Fiskus bei Versagung des Vorsteuerabzugs aufgrund unrichtigem Steuerausweis siehe BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/14, DStRE 2015, 1318; Reiß, MwStR 2019, 526 (526 ff.); von Streit, EU-UStB 2012, 38; von Streit/Streit, UR 2020, 815 (820); von Streit/Streit, MwStR 2020, 174. 681 In Betracht kommt auch, dass das Finanzamt des Leistungsempfängers die Vorsteuer zurückfordert. So generell Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 145. 682 Allgemein zur Möglichkeit einer endgültigen Belastung des Leistungsempfängers mit der Umsatzsteuer bei Versagung des Vorsteuerabzugs siehe Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG § 14c Rz. 145 ff. 683 BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/14, DStRE 2015, 1318 Rz. 3. 684 Burgmaier, UR 2007, 343 (348); Heinrichshofen, EU-UStB 2017, 25 (26). 685 Bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis freilich nur nach Ansicht der für den Leistungsempfänger zuständigen Finanzbehörde. 686 von Streit, EU-UStB 2012, 38 (41). 687 BFH v. 30. 6. 2015 – VII 30/14, DStR 2015, 1318 Rz. 18; Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 145. 688 Reiß, MwStR 2019, 526 (527); Weinschütz, DB 2010, 20 (20).
110
2. Teil: Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits
II. Reemtsma-Rechtsprechung Ausnahmsweise gebieten es die Grundsätze der Neutralität und Effektivität indes, dass der Leistungsempfänger gegen den Fiskus unmittelbar einen Anspruch auf Rückzahlung der nicht geschuldeten Umsatzsteuer geltend machen kann.689 Die Frage des Bestehens eines solchen Anspruchs war Gegenstand der Rechtssache Reemtsma690.691 Im Reemtsma-Urteil erinnerte der EuGH zunächst daran, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich dazu berechtigt seien, das Verfahren, das die Rückerstattung rechtsgrundlos gezahlter Umsatzsteuer gewährleiste, selbst zu bestimmen.692Dies folge aus dem Grundsatz der Verfahrensautonomie.693 Dementsprechend verbiete es sich nicht, wenn der Leistungsempfänger auf zivilrechtlichem Wege seinen Anspruch auf Erstattung der fälschlicherweise in Rechnung gestellten Umsatzsteuer gegen den Leistenden geltend machen müsse und sich der Leistende hinsichtlich der Erstattung der an den Fiskus abgeführten Umsatzsteuer seinerseits an die für ihn zuständige Finanzbehörde wenden müsse.694 Sodann entschied der EuGH, dass, wenn ,,die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert wird, insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers [(des Leistenden)]“, es die Grundsätze der Neutralität und der Effektivität „gebieten, dass der Dienstleistungsempfänger [(Leistungsempfänger)] seinen Antrag auf Erstattung unmittelbar an die Steuerbehörden richten kann.“695 Die Mitgliedstaaten müssen, so der EuGH, „[f]ür den Fall, dass die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert wird, […] die erforderlichen Mittel vorsehen, die es dem Dienstleistungsempfänger
689
Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 147. EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570; die Grundsätze dieses Urteils bestätigend z. B. EuGH v. 20. 10. 2011 – C-94/10 – Danfoss A/S und Sauer-Danfoss ApS, BeckRS 2011, 81520 Rz. 24, 26, 28; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 53; EuGH v. 11. 4. 2019 – C-691/ 17 – PORR, DStR 2019, 924 Rz. 40; krit. Reiß, MwStR 2019, 526 (526 ff.). 691 von Streit, EU-UStB 2012, 38 (39). 692 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 37; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (39). 693 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 37; BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/15, DStRE 2015, 1318 Rz. 19; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (39); von Streit/Streit, MwStR 2020, 174 (175). 694 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 39; BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/15, DStRE 2015, 1318 Rz. 18; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (39). 695 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 39 u. 41. 690
§ 3 Direkter Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus
111
[(Leistungsempfänger)] ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen“.696 Die Reemtsma-Rechtsprechung gilt sowohl für Fälle, in denen der Leistende und der Leistungsempfänger in demselben Mitgliedstaat ansässig sind, als auch dann, wenn diese in zwei unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässig sind.697
1. Geltendmachung eines Reemtsma-Anspruchs Eine gesetzliche Grundlage für einen „Reemtsma-Anspruch“ ist weder dem nationalen Steuerrecht (insbes. nicht dem UStG oder der AO) noch dem Unionsrecht zu entnehmen.698 Dem Leistungsempfänger steht gegen das Finanzamt des Leistenden kein Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO zu.699 Denn die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs nach § 37 Abs. 2 AO kommt ausschließlich durch den leistenden Unternehmer700 gegenüber seinem Finanzamt in Betracht.701 Angemerkt sei, dass aus § 37 Abs. 2 AO auch kein Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Leistenden auf Abtretung des Erstattungsanspruchs gegen das Finanzamt herzuleiten ist.702 Über die Frage, ob dem Leistungsempfänger ausnahmsweise ein Direktanspruch gegen den Fiskus zusteht, ist vielmehr im Billigkeitsverfahren nach § 163 AO zu entscheiden.703 Die Billigkeitsentscheidung (§§ 163, 227 AO) trifft die für den Leistungsempfänger zuständige Finanzbehörde,704 denn allein zu dieser steht der Leistungsempfänger in einem Steuerschuldverhältnis, in welchem eine Geltendmachung von Ansprüchen aus den Regelungen der AO möglich ist705. Damit kann 696 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 42. 697 Dies folgt aus dem Äquivalenzprinzip. BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/15, DStRE 2015, 1318 Rz. 15 f.; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (40 u. Fn. 7). 698 Siehe hierzu ausführlich Reiß, MwStR 2019, 526 (530 ff.); vgl. auch von Streit/Streit, MwStR 2020, 68 (72); von Streit/Streit, MwStR 2020, 174 (174 ff.), die sich für eine gesetzliche Regelung des Reemtsma-Anspruchs aussprechen. 699 BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/14, DStRE 2015, 1318 Rz. 11 ff.; Lang-Horgan, MwStR 2015, 922 (922); Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 145; a. A. wohl Burgmaier, UR 2007, 343 (348). 700 Im Fall der gesetzlich nicht geschuldeten Umsatzsteuer setzt der Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO voraus, dass der Leistende seine Rechnung nach § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG berichtigt hat. Vgl. Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 145. 701 Zur Begründung siehe z. B. BFH v. 22. 8. 2019 – V R 50/16, DStR 2019, 2528 Rz. 13. 702 Leipold, in: Sölch/Ringleb, § 14c Rz. 145. 703 BFH v. 22. 8. 2019 – V R 50/16, DStR 2019, 2528 Rz. 16; krit. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (820). 704 Lang-Horgan, MwStR 2015, 922 (922). Siehe auch Cöster, in: Koenig, AO, § 163 Rz. 45; Rüsken, in: Klein, AO, § 163 Rz. 140. 705 BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/14, DStRE 2015, 1318 Rz. 24.
112
2. Teil: Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits
sich der Leistungsempfänger hinsichtlich eines eventuell bestehenden Direktanspruchs nicht an die Finanzbehörde des Leistenden wenden.706
2. Bedeutung der Reemtsma-Ansprüche für das vorliegende Problem Der Leistungsempfänger, welchem der Vorsteuerabzug im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis versagt wird, könnte sich dementsprechend hinsichtlich der Rückerstattung der an den Leistenden gezahlten Umsatzsteuer nur dann direkt an den Fiskus wenden, wenn ,,die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert„707 ist. Das heißt, dass für den Leistungsempfänger die Geltendmachung des zivilrechtlichen Anspruchs gegen den Leistenden praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert sein müsste.708 Fraglich ist, ob dies schon dann anzunehmen ist, wenn der Leistende aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis die Rückerstattung der Umsatzsteuer an den Leistungsempfänger verweigert709. Auch wenn die Existenz eines „Reemtsma-Anspruchs“ gegen den Fiskus in Deutschland zwar in der Regel anerkannt ist, sind indes dessen exakte Tatbestandsvoraussetzungen nicht umfassend geklärt.710 Die §§ 163, 277 AO stellen nur eine allgemeine Grundlage für Entscheidungen im Wege des Billigkeitsverfahrens dar.711 Vornehmlich steht gerade nicht abschließend fest, wann die Erstattung der Umsatzsteuer „unmöglich oder übermäßig erschwert“ ist.712 Dies soll jedenfalls bei Insolvenz des Leistenden gegeben sein.713 Darüber hinaus wird der „Reemtsma-
706 BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/14, DStRE 2015, 1318 Rz. 24; a. A. Burgmaier, UR 2007, 343 (349); Heinrichshofen, EU-UStB 2017, 25 (26). 707 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStR 2007, 570 Rz. 39 u. 41. 708 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (820). 709 Zur Frage des Reemtsma-Anspruchs bei bloßer Rückzahlungsverweigerung durch den Leistenden vgl. Englisch, UR 2008, 466 (469); auch von Streit befasst sich mit der Frage, ob ein substantiiertes Bestreiten des Rückzahlungsanspruchs durch den Leistenden ausreichend ist, damit die Erstattung der Umsatzsteuer als „unmöglich oder übermäßig erschwert“ anzusehen ist. Vgl. von Streit, EU-UStB 2012, 38 (41). 710 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (820); von Streit/Streit, MwStR 2020, 174 (175). 711 Lang-Horgan, MwStR 2015, 922 (925). 712 von Streit/Streit, MwStR 2020, 174 (175). 713 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 41; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 53; EuGH v. 11. 4. 2019 – C-691/17 – PORR, DStR 2019, 924 Rz. 45; BFH v. 22. 8. 2019 – V R 50/16, DStR 2019, 2528 Rz. 16; Heinrichshofen, UStB 2019, 96 (97); von Streit/ Streit, MwStR 2020, 174 (175). Demzufolge trägt der Leistungsempfänger nicht das Insolvenzrisiko des leistenden Unternehmers, wenn die Voraussetzungen für den „Reemtsma-Anspruch“ erfüllt sind. Vgl. dazu Farruggia-Weber/Klüger, MwStR 2019, 771 (778 Fn. 30).
§ 3 Direkter Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus
113
Anspruch“ durch die Rechtsprechung des BFH eingeschränkt.714 So fordert der BFH beispielsweise für die Gewährung eines „Reemtsma-Anspruchs“, dass die Leistung tatsächlich ausgeführt wurde, für welche in unzutreffender Weise ein Steuerausweis erfolgte.715 Um eine Definition zu finden, wann die Erstattung der Umsatzsteuer „unmöglich oder übermäßig erschwert“ ist, könnte man die Grundsätze zur Uneinbringlichkeit von Forderungen heranziehen.716 Uneinbringlichkeit einer Forderung i. S. v. § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG liegt unter anderem vor, wenn und gegebenenfalls soweit der Leistungsempfänger das Bestehen dieser Forderung ganz oder teilweise substantiiert bestreitet und damit erklärt, dass er die Entgeltforderung (ganz oder teilweise) nicht bezahlen werde.717 So könnte man in Erwägung ziehen, dass die Erstattung der Umsatzsteuer „unmöglich oder übermäßig erschwert“ ist, wenn der Leistende den Rückzahlungsanspruch substantiiert bestreitet.718 Hiergegen spricht jedoch, dass nach Ansicht des EuGH in der Verweisung des Leistungsempfängers auf den Zivilrechtsweg gerade keine übermäßige Erschwerung zu sehen ist, sodass substantiiertes Bestreiten des Leistenden nicht ausreicht, um eine übermäßige Erschwerung anzunehmen.719
3. Zwischenergebnis Somit hat der Leistungsempfänger im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis gegen den Fiskus keinen direkten Anspruch auf Erstattung des an den Leistenden gezahlten Umsatzsteuerbetrags, wenn der Leistende die Rückerstattung an den Leistungsempfänger verweigert.
714
von Streit/Streit, MwStR 2020, 174 (175). BFH v. 22. 8. 2019 – V R 50/16, DStR 2019, 2528 Rz. 15; BFH v. 25. 6. 2020 – V B 88/19, DStR 2020, 2432 Rz. 3 f.; hieran Kritik übend von Streit/Streit, MwStR 2020, 174 (175). 716 von Streit, EU-UStB 2012, 38 (41). 717 BFH v. 31. 5. 2001 – V R 71/99, DStRE 2002, 186 (187); BFH v. 22. 4. 2004 – V R 72/03, DStR 2004, 1214 (1215); BFH v. 20.7. 2006 – V R 13/04, DStR 2006, 1699 (1699); BFH v. 8. 3. 2012 – V R 49/10, BeckRS 2012, 95697 Rz. 22; FG Nürnberg v. 8. 6. 2010 – 2 K 1121/2009, BeckRS 2010, 26029512; Abschnitt 17.1 (5) Satz 4 UStAE, Umsatzsteuer-Anwendungserlass vom 1. 10. 2010, BStBl. I, 846 [Stand 4. 3. 2021]; Fleckenstein-Weiland, in: Guhling/Günter, Gewerberaummiete, § 17 UStG Rz. 4; Korn, in: Bunjes, UStG, § 17 Rz. 61. 718 von Streit, EU-UStB 2012, 38 (41); a. A. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 964. 719 Vgl. hierzu von Streit, EU-UStB 2012, 38 (41); a. A. Englisch, UR 2008, 466 (469). 715
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2. Teil: Zivilrechtliche Aspekte bei Vorliegen eines Widerstreits
§ 4 Gesamtergebnis zweiter Teil Für den Leistenden kann sowohl bei Bestehen einer Nettopreisabrede720 als auch bei Bestehen einer Bruttopreisabrede721 eine Problematik aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis bestehen. Den Zivilgerichten steht grundsätzlich eine eigene Prüfungskompetenz hinsichtlich der materiellen Steuerrechtslage zu.722 Eine Bindungswirkung der Entscheidungen der Finanzbehörden wäre nur dann gerechtfertigt, wenn gewährleistet wäre, dass widerspruchsfreie Entscheidungen im Vier-Parteien-Verhältnis zu treffen sind.723 Problematisch ist für den Leistungsempfänger, dass sich der leistende Unternehmer aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nach § 818 Abs. 3 BGB auf Entreicherung berufen kann, wenn er den Umsatzsteuerbetrag an den Fiskus abgeführt hat, sodass dem Leistungsempfänger kein Rückzahlungsanspruch nach § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt BGB gegen den Leistenden zusteht.724 Hinzukommend ist für den Leistungsempfänger problematisch, dass dieser im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis auch gegen den Fiskus keinen direkten Anspruch auf Erstattung des an den Leistenden gezahlten Umsatzsteuerbetrags hat, wenn der Leistende die Rückerstattung an den Leistungsempfänger verweigert.725
720
Siehe oben: Zweiter Teil, § 1, II., 1. Siehe oben: Zweiter Teil, § 1, II., 2. 722 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a); a. A. BGH v. 17. 7. 2001 – X ZR 13/99, NJW-RR 2002, 591 (unter II., 2., a)); BSG v. 17. 7. 2008 – B 3 KR 18/07 R, NJOZ 2009, 1910 Rz. 13. 723 OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (cc)). 724 Siehe oben: Zweiter Teil, § 2, II., 2. 725 Siehe oben: Zweiter Teil, § 3. 721
Dritter Teil
Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich und Reformansätze In Anbetracht des für den Leistenden und den Leistungsempfänger bestehenden Risikos, die Umsatzsteuer selbst tragen zu müssen, stellt sich die Frage, weshalb bei zwischenunternehmerischen Umsätzen nicht vollständig auf eine Besteuerung verzichtet wird.726 Die Umsatzsteuer soll für die Unternehmer einen durchlaufenden Posten darstellen.727 Denkbar wäre infolgedessen auch eine Einphasenbesteuerung (beziehungsweise eine Einzelhandelsteuer)728, das heißt eine ausschließliche Erhebung der Steuer bei Umsätzen an Endverbraucher.729 Würde man auf eine Umsatzbesteuerung von zwischenunternehmerischen Umsätzen verzichten, könnte die dieser Arbeit zugrunde liegende Problematik einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers möglicherweise erst gar nicht aufkommen. Aus diesem Grund wird im Folgenden erläutert, weshalb zwischenunternehmerische Umsätze besteuert werden (dazu § 1). Außerdem wird dargelegt, welche Reformansätze zum gegenwärtigen Umsatzsteuersystem bestehen, deren Umsetzung Einfluss auf das Problem einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers haben würde (dazu § 2). Die Einflüsse werden im Anschluss an die jeweils inhaltliche Darstellung der Reformansätze erläutert. Abschließend werden die Alternativvorschläge von der Zielsetzung dieser Arbeit abgegrenzt (dazu § 3).
726
Diese Frage stellt sich auch hinsichtlich Steuerausfällen des Fiskus. Siehe hierzu Reiß, UR 2002, 561 (564); siehe auch Stadie, UStG, Einf. Rz. 12. Befürworter einer prinzipiellen Abschaffung der Steuerbarkeit zwischenunternehmerischer Umsätzen ist Paul Kirchhof. Siehe hierzu Kirchhof, DStR 2008, 1 (1). 727 Bericht des Finanzausschuss v. 30. 3. 1957, BT-Drs. V/1581, Allg. Nr. 3. 728 Begründung zum Regierungsentwurf für ein UStG 1967 v. 20. 10. 1963, BT-Drs. IV/ 1590, S. 24. 729 Kirchhof, DStR 2008, 1 (6); Kußmaul/Naumann, StB 2015, 317 (318); Stadie, UStG, Einf. Rz. 12.
116
3. Teil: Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich
§ 1 Allphasen-Netto-Umsatzsteuersystem Steuerschuldner sind zwar die Unternehmer,730 mit der Umsatzsteuer (indirekte Steuer)731 belastet werden sollen im Ergebnis indes nur die Endverbraucher732. Hinsichtlich der Steuerbarkeit eines Umsatzes differenziert § 1 Abs. 1 UStG jedoch nicht zwischen Leistungen an Unternehmer (i. S. v. §§ 2, 2a UStG) und Leistungen an Endverbraucher.733 Gegenwärtig erfolgt dementsprechend eine Allphasen734-Umsatzbesteuerung735. Dies bedeutet, dass eine Besteuerung der inländischen Umsätze auf jeder Produktions- und Handelsstufe stattfindet (sog. fraktionierte Erhebung736).737 Bemessungsgrundlage ist der Nettowert.738 Denn gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 und 2 UStG fließt die Umsatzsteuer nicht in die Bemessungsgrundlage mit ein.739 Deshalb spricht man von einem Allphasen-Netto-Umsatzsteuersystem.740 Hauptgrund für die Entscheidung für eine Allphasenbesteuerung war der bereits im Jahr 1967 bei Erlass der 1. und 2. EG-Richtlinie741 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer vorhandene Gedanke, dass sich durch eine Allphasenbesteuerung mehr Steuerausfälle verhindern ließen.742 Die 1. und 2. EG-Richtlinie wurde mit Wirkung zum 1. 1. 1968 im deutschen Umsatzsteuergesetz umgesetzt.743 Bei einer Einphasenbesteuerung bestünde die Gefahr von Steuerausfällen, wenn Ausgangsumsätze an den Verbraucher entweder erst gar nicht erklärt werden würden oder aber fälschlicherweise als zwischenunternehmerische und damit als nicht steuerbare Umsätze ausgewiesen werden würden.744 Denn im Fall einer Nichtdeklaration von Umsätzen ließen sich Steuerausfälle im Rahmen einer Allphasenbe730
Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 31. Kirchhof, DStR 2008, 1 (3). 732 Bericht des Finanzausschuss v. 30. 3. 1957, BT-Drs. V/1581, Allg. Nr. 3. 733 Stadie, UStG, Einf. Rz. 7. 734 Vgl. Art. 1 Abs. 2 MwStSystRL (2006/112/EG). 735 Heidner, in: Bunjes, UStG, § 15 Rz. 4; Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 31. 736 Stadie, UStG, Einf. Rz. 12. 737 Richtlinie 67/227/EWG v. 11. 4. 1967, Abl. EG Nr. L 71, 1301 (1301). 738 Stadie, UStG, Einf. Rz. 9. 739 Vgl. auch EuGH v. 10. 4. 2019 – C-214/18 – PSM „K“, ECLI:EU:C:2019:301 Rz. 48. 740 Weymüller, in: Weymüller, BeckOK UStG, vor § 1 Rz. 17. 741 Richtlinie 67/227/EWG v. 11. 4. 1967, Abl. EG Nr. L 71, 1301; Richtlinie 67/228/EWG v. 11. 4. 1967, Abl. EG Nr. L 71, 1303. 742 Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 18; Stadie, UStG, Einf. Rz. 12; siehe auch Bericht des Finanzausschusses v. 30. 3. 1957, BT-Drs. V/1581, Allg. Nr. 3: „Die Mehrwertsteuer könnte als Einzelhandelsteuer gestaltet werden; aus wirtschaftlichen, fiskalischen, steuertechnischen und nicht zuletzt psychologischen Gründen jedoch hat sich eine Fraktionierung der Steuerzahlung auf allen Wirtschaftsstufen als vorteilhafter erwiesen“. 743 Robisch, in: Bunjes, UStG, vor § 1 Rz. 1. 744 Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 18. 731
§ 2 Kritik am Allphasen-Umsatzsteuersystem und Reformvorschläge
117
steuerung wenigstens durch den Einbehalt der Umsatzsteuer auf den Vorstufen kompensieren, da ein Vorsteuerabzug gleichzeitig mit einer Nichtdeklaration von Ausgangsumsätzen nicht vorstellbar sei.745 Aus der Geltendmachung des Vorsteuerabzugs könne auf getätigte Ausgangsumsätze geschlossen werden.746 Steuerausfälle, die bei einer Einphasenbesteuerung dadurch entstehen könnten, dass Umsätze an Endverbraucher fälschlicherweise als nicht steuerbare zwischenunternehmerische Umsätze deklariert würden, kämen bei einer Allphasenbesteuerung nicht in Frage, da in deren Rahmen zwischenunternehmerische Umsätze grundsätzlich steuerbar seien.747 Hinzukommend spreche für eine Allphasenbesteuerung, dass durch die Einziehung der Umsatzsteuer auf jeder Wirtschaftsstufe weniger Steuerausfälle infolge Insolvenzen zu erwarten seien als bei einer Einphasenbesteuerung.748
§ 2 Kritik am Allphasen-Umsatzsteuersystem und Reformvorschläge Das bestehende Allphasen-Umsatzsteuersystem stieß trotz der mit ihm verfolgten Vorteile auf Kritik.749 Kritisiert wurde in erster Linie, dass es betrugsanfällig750 sei und zu beträchtlichen Steuerausfällen führe.751 Kritisiert wurde also gerade der Umstand, der durch eine Allphasen-Umsatzbesteuerung verhindert werden sollte. Dem Fiskus würden bei Nichtdeklarationen von Umsätzen nicht nur Einnahmen entgehen, es bestünde vielmehr sogar die Gefahr, dass zusätzlich Vorsteuer vergütet werde, die der Fiskus niemals einnehmen werde.752 Denn das Vorsteuerabzugsrecht 745
Himsel, UR 2002, 593 (595); Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 18; Stadie, UStG, Einf. Rz. 12; Wohlfahrt, Umsatzbesteuerung und Umsatzsteuerausfall, S. 4. Kirchhof merkt an, dass dieser Vorteil allerdings nicht verifiziert sei; siehe Kirchhof, DStR 2008, 1 (5 – 6). 746 Stadie, UStG, Einf. Rz. 12. 747 Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 18. 748 Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 18; Stadie, UStG, Einf. Rz. 12. 749 Vgl. zum Beispiel Kirchhof, DStR 2008, 1 (6); Mittler, UR 2004, 1 (3); Pahne, UR 2011, 247 (250). 750 Problematisch sei insbesondere der sog. „Karussell- oder Missing-Trader-Betrug“. Siehe hierzu Mitteilung der Kommission an den Rat gemäß Artikel 27 Absatz 3 der Richtlinie 77/388/EWG v. 19. 7. 2006, Abschn. 2, Punkt 2.2., https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/?uri=CELEX%3A52006DC0404 [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]; zu den Grundfällen des Betrugs sowie des Missbrauchs die Umsatzsteuer betreffend vgl. Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 39 – 63. 751 Erdbrügger, MwStR 2018, 685 (685); Ismer/Schwarz, MwStR 2019, 348 (348); Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 35; Peters Schönberger GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (PSP), UR 2005, 659 (659); Widmann, UR 2002, 588 (588). 752 Mittler, UR 2001, 385 (385 – 386); siehe auch Nieskens, MwStR 2015, 243 (243); Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 34.
118
3. Teil: Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich
des Leistungsempfängers ist mit der Abführung der Umsatzsteuer durch den leistenden Unternehmer nicht dergestalt verknüpft, dass dieses Recht nur entsteht, wenn eine Entrichtung der Umsatzsteuer erfolgt ist.753 Der Wortlaut des § 15 UStG sieht eine solche Verknüpfung nicht vor. Zur Verhinderung von Steuerausfällen wurden auf europäischer Ebene sowie in den einzelnen Mitgliedstaaten einige Reformansätze entwickelt.754
I. Reformvorschlag: Grundsätzliche Abschaffung des Auseinanderfallens von Umsatzsteuer und Vorsteuer Im Nachfolgenden werden drei Reformansätze beschrieben, die im Ergebnis grundsätzlich das Auseinanderfallen von Umsatzsteuer und Vorsteuer verhindern.
1. Reformansatz von Paul Kirchhof a) Inhalt Kirchhof schlägt in einem von ihm entworfenen Bundessteuergesetzbuch (BStGB) aus dem Jahr 2011 vor, zwischenunternehmerische Umsätze im Regelfall als schon nicht steuerbare Umsätze auszugestalten (§§ 100, 105 BStGB).755 Auch wenn das BStGB ein für Deutschland vorgeschlagenes Gesetz ist, soll es einen europaweiten Systemwechsel des bestehenden Umsatzsteuersystems anregen.756 Es widerspreche dem Charakter der Umsatzsteuer als Verbrauchsteuer, wenn eine prinzipielle Umsatzbesteuerung im unternehmerischen Bereich erfolge.757 Voraussetzung für die Nichtsteuerbarkeit zwischenunternehmerischer Umsätze sei, dass sich der Leistungsempfänger als Unternehmer ausweisen könne, was durch eine von der Finanzverwaltung vergebene Wirtschaftsidentifikationsnummer (UNummer) (§ 106 BStGB) ermöglicht werde. Zusätzlich dürfe das Geschäft weder in bar noch per Kreditkarte abgewickelt werden (§ 105 Satz 2 BStGB). Eine Banküberweisung sei notwendig, damit eine Überprüfung durch die Finanzbehörden uneingeschränkt möglich sei.758 Schließlich müsse die bezogene Leistung durch den 753 Ismer, MwStR 2017, 687 (691); Reiß, UR 2002, 561 (572); Stadie, UStG, Einf. Rz. 13. Das Soll-Prinzip gilt auch auf Vorsteuerseite. Leistungsbezug sowie Erhalt einer ordnungsgemäßen Rechnung genügen für den Vorsteuerabzug. Siehe Wäger, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 17 Rz. 76. 754 Erdbrügger, MwStR 2018, 685 (685); siehe auch Haffner, Endphasensteuer versus Allphasensteuer, S. 83. 755 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, S. 69; vgl. auch Kirchhof, DStR 2008, 1 (6). 756 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Rz. 119. 757 Kirchhof, DStR 2008, 1 (6). 758 Vgl. zu den Ausführungen dieses Absatzes Kirchhof, DStR 2008, 1 (6).
§ 2 Kritik am Allphasen-Umsatzsteuersystem und Reformvorschläge
119
Leistungsempfänger einzig und allein für sein Unternehmen verwendet werden (§ 105 Satz 1 BStGB).759 In den Fällen, in denen diese Voraussetzungen nicht erfüllt seien, seien zwischenunternehmerische Umsätze grundsätzlich, wie bisher, steuerbar und steuerpflichtig. Der leistende Unternehmer habe die Umsatzsteuer in diesem Fall grundsätzlich abzuführen und habe eine Rechnung mit Steuerausweis auszustellen. Der Leistungsempfänger müsse infolgedessen seinen Vorsteuerabzug (§ 108 BStGB) geltend machen.760 b) Auswirkungen auf das vorliegende Problem Wenn ein zwischenunternehmerischer Umsatz schon nicht steuerbar ist (vgl. § 105 BStGB), der leistende Unternehmer damit von vornherein gesetzlich nicht dazu verpflichtet ist, die Umsatzsteuer an den Fiskus zu zahlen, und der Leistungsempfänger dem Leistenden allein den Nettopreis schuldet, entstehen für den Leistenden und den Leistungsempfänger keine finanziellen Nachteile aufgrund uneinheitlicher umsatzsteuerrechtlicher Beurteilungen ein und desselben Sachverhalts durch die beteiligten Finanzbehörden. Denn die Unternehmer sind in diesem Fall zu keinem Zeitpunkt mit der Umsatzsteuer belastet. Das Problem einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers tritt in diesem Fall mithin nicht auf. Allerdings ist nicht außer Acht zu lassen, dass Auslegungsschwierigkeiten darüber bestehen könnten, ob ein Umsatz an einen Unternehmer (§ 102 BStGB) oder an einen Endverbraucher vorliegt.761 So könnte die für den Leistenden zuständige Finanzbehörde die Unternehmereigenschaft des Leistungsempfängers negieren und die Umsatzsteuer nachfordern, während die für den Leistungsempfänger zuständige Finanzbehörde von der Unternehmereigenschaft des Leistungsempfängers ausgeht. Darüber hinaus ist auch nach dem Vorschlag von Kirchhof nicht uneingeschränkt762 von einer Nichtsteuerbarkeit zwischenunternehmerischer Umsätze auszugehen. Wie bereits dargelegt, muss der leistende Unternehmer bei Barzahlungsgeschäften und gemischten Nutzungen763 der bezogenen Leistungen die Umsatzsteuer an den Fiskus 759
Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Rz. 119. Vgl. zu den Ausführungen dieses Absatzes: Kirchhof, DStR 2008, 1 (6). 761 Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 23. 762 Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 21. 763 Nach § 105 Satz 1 BStGB muss die Leistung eines Unternehmers, damit die Nichtsteuerbarkeit zwischenunternehmerischer Umsätze im Rahmen des Modells von Kirchhof gegeben ist, ,,ausschließlich dem unternehmerischen Handeln des Leistungsempfängers dien[en].“ Dementsprechend darf keine gemischte Nutzung vorliegen. Eine gemischte Nutzung liegt unter anderem dann vor, wenn der Leistungsempfänger die empfangene Leistung zum Teil unternehmerisch und zum Teil nichtunternehmerisch (das heißt privat) nutzt. Der Leistungsempfänger hat bei der gemischten Nutzung eines Gegenstandes (Vorliegen einer Lieferung) nach jetziger Rechtslage ein Zuordnungswahlrecht, wenn eine Mindestnutzung im Unter760
120
3. Teil: Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich
abführen.764 Der Leistungsempfänger muss dann auch den entsprechenden Vorsteuerabzug geltend machen, damit er nicht mit der Umsatzsteuer belastet wird.765 Da in diesen Fällen im Ergebnis kein Unterschied zum gegenwärtigen AllphasenUmsatzsteuersystem besteht, könnte das dieser Arbeit zugrunde liegende Problem nach wie vor auftreten. Selbst bei Umsetzung des Vorschlags von Kirchhof wäre das Problem einer uneinheitlichen Behandlung von Leistendem und Leistungsempfänger demnach nicht vollständig gelöst.
2. Mittler-Modell a) Inhalt Nach dem „Mittler-Modell“, welches im Jahr 2001 von Gernot Mittler entwickelt wurde, wird das Allphasen-Besteuerungssystem zwar beibehalten, zwischenunternehmerische Leistungen766 sind jedoch grundsätzlich steuerfrei (sog. Vorstufenbefreiung).767 Den Unternehmern, die im Regelfall zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, wird eine F-Nummer erteilt, damit sie ausweisen können, dass es sich bei ihnen dem Grunde nach um vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmer handelt, und damit sie darlegen können, dass eine Vorstufenbefreiung stattzufinden hat.768 Unternehmern, denen keine F-Nummer erteilt wurde, müssen dementsprechend, sofern die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug bei einem Eingangsumsatz gegeben sind, den Vorsteuerabzug wie zuvor durchführen.769 Bei sogenannten ausschließlich vorsteuerabzugsschädlichen Ausgangsumsätzen, also bei solchen, bei welchen die Leistung nicht für das Unternehmen des Leistungsempfängers ausgeführt wurde liegt keine Steuerfreiheit vor.770 Dass die Leistung für das Unternehmen des Leistungsempfängers ausgeführt wurde, ist Tatbestandsvoraussetzung des § 15 Abs. 1 Nr. 1
nehmen von 10 % besteht. Dieses Zuordnungswahlrecht bedeutet, dass der Unternehmer das Recht hat, den Gegenstand entweder vollständig dem Unternehmen oder vollständig dem privaten Bereich zuzuordnen, aber auch das Recht hat, eine Aufteilung entsprechend der tatsächlichen Verwendung vorzunehmen. Bei der gemischten Nutzung einer sonstigen Leistung wird hingegen der Bezug dieser Leistung stets aufgeteilt. Siehe zu diesen Ausführungen EuGH v. 22. 3. 2011 – C-153/11 – Klub OOD, DStR 2012, 653 Rz. 38; Heidner, in: Bunjes, UStG, § 15 Rz. 99; Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 257. 764 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Rz. 119. 765 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Rz. 119. 766 Ursprünglich sollten nur Lieferungen steuerbefreit sein. Siehe Bundesteuerberaterkammer, DStR-KR 2002, 17 (17) u. Mittler, UR 2001, 385 (387). 767 Mittler, UR 2001, 385 (386 – 387); siehe auch Ammann, UR 1994, 109 (111). 768 Bundesteuerberaterkammer, DStR-KR 2002, 17 (17). 769 Bundesteuerberaterkammer, DStR-KR 2002, 17 (17). 770 Bundesteuerberaterkammer, DStR-KR 2002, 17 (17).
§ 2 Kritik am Allphasen-Umsatzsteuersystem und Reformvorschläge
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Satz 1 UStG. Die Vorstufenbefreiung findet darüber hinaus bei Rechnungen unter 1.000 Euro keine Anwendung.771 b) Auswirkungen auf das vorliegende Problem Wie bei dem Vorschlag von Kirchhof, würde sich auch im Fall einer Vorstufenbefreiung das Problem einer widersprüchlichen umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung ein und desselben Umsatzes grundsätzlich nicht stellen. Grund hierfür ist, dass die Unternehmer aufgrund der in der Regel bestehenden Steuerfreiheit zwischenunternehmerischer Umsätze dem Grundsatz nach auch zu keinem Zeitpunkt mit der Umsatzsteuer belastet wären. Allerdings erfolgt auch nach dem Mittler-Modell nicht in jedem Fall eine Vorstufenbefreiung,772 weshalb das dieser Arbeit zugrunde liegende Problem auch bei Umsetzung dieses Reformvorschlags nicht vollständig gelöst wäre. Insbesondere könnte die Problematik einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers bei Umsätzen an Unternehmer, denen keine F - Nummer erteilt wurde, nach wie vor bestehen. Bei Umsätzen unterhalb der Bagatellgrenze könnte dieses Problem von Anfang an aufkommen. Vorstellbar wäre auch, dass die für den leistenden Unternehmer zuständige Finanzbehörde einen Umsatz trotz grundsätzlicher Steuerfreiheit für steuerpflichtig hält und die Umsatzsteuer nachfordert, während die Finanzbehörde des Leistungsempfängers von der Steuerfreiheit des Umsatzes ausgeht. Denn selbst bei der Annahme einer grundsätzlichen Steuerfreiheit müssen der F-Umsatz beziehungsweise der F-Eingangsumsatz bei dem Mittler-Modell von dem leistenden Unternehmer und dem Leistungsempfänger in den Umsatzsteuer-Voranmeldungen (vgl. § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG) aus Überwachungsgründen deklariert werden.773 Divergierende Beurteilungen könnten beispielsweise bei der Frage erfolgen, ob es sich bei einem als steuerfrei behandelten Umsatz nicht doch um einen „ausschließlich vorsteuerabzugsschädlichen Ausgangsumsatz“ handelt. Dann wäre der leistende Unternehmer dazu verpflichtet, die Umsatzsteuer nachzuzahlen, und gleichzeitig darauf angewiesen, den geschuldeten Betrag nachträglich vom Leistungsempfänger einzufordern. Bei Irrtümern der Steuerpflichtigen, zum Beispiel über die Steuerbar- und Steuerpflichtigkeit eines Umsatzes, sind diese hinsichtlich der Rückabwicklung von umsatzsteuerrechtlichen Fehlern grundsätzlich allein auf zivilrechtliche Lösungen angewiesen.774 Schließlich könnten, wie bei dem Vorschlag von Kirchhof, auch bei
771 772 773 774
Bundesteuerberaterkammer, DStR-KR 2002, 17 (17). Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 21. Bundesteuerberaterkammer, DStR-KR 2002, 17 (17). Hummel, MwStR 2018, 778 (779 u. Fn. 10).
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3. Teil: Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich
dem Mittler-Modell Auslegungsschwierigkeiten darüber bestehen, ob ein Umsatz an einen Unternehmer oder an einen Endverbraucher erfolgt.775
3. Generelles Reverse-Charge-Verfahren a) Inhalt Des Weiteren wurde ein auf Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie (nunmehr Art. 395 Abs. 1 der MwStSystRL 2006/112/EG) beruhendes generelles „ReverseCharge-Verfahren“776 vorgeschlagen. Nach Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie (bzw. Art. 395 Abs. 1 der MwStSystRL 2006/112/EG) kann der Rat auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern. Es handelt sich hierbei demnach um ein Verfahren, in welchem abweichende Sonderregelungen von den allgemeinen Prinzipien des harmonisierten Mehrwertsteuerrechts bewilligt werden. Dabei gilt es zu beachten, dass diese Sonderregelungen laut dem EuGH restriktiv und verhältnismäßig zu sein haben. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde insbesondere von Deutschland und Österreich die Einführung eines generellen Reverse-Charge-Verfahrens angestrebt. Ein entsprechender Antrag777 wurde von Deutschland am 7. April 2006 eingereicht.778 Im Folgenden wird nur auf den deutschen Antrag eingegangen. Bei diesem Vorschlag findet, wie in den Fällen des bestehenden § 13b UStG, grundsätzlich eine Umkehr der Steuerschuldnerschaft779 bei zwischenunternehmerischen Umsätzen statt, sofern sich der leistungsempfangende Unternehmer mit einer R-Nummer780 (oder auch als MwSt-Kennnummer781 bezeichnet) ausweist.782 Zwar
775
S. 23.
Himsel, UR 2002, 593 (594); Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt,
776 Stadie ist der Ansicht, dass der Begriff „Reverse-Charge-Verfahren“ unpräzise bzw. falsch sei. Er schlägt die Benennung „Steuerschuld des Leistungsempfängers“ vor. Hierzu führt er an, dass es sich nicht um ein Verfahren handele, sondern allein um eine materiell-rechtliche Regelung. Eine verfahrensrechtliche Regelung sei in § 18 UStG zu sehen, welcher auch im Rahmen des § 13b UStG Anwendung finde. Zur weiteren Begründung siehe Stadie, in: Rau/ Dürrwächter, § 13b Rz. 2. 777 Vgl. zum Erfordernis eines solchen Antrags Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG (nunmehr Art. 395 Abs. 2 MwStSystRL (2006/112/EG)). 778 Vgl. zu den Ausführungen dieses Absatzes: Mitteilung der Kommission an den Rat gemäß Artikel 27 Absatz 3 der Richtlinie 77/388/EWG v. 19.7.2006, Abschn. 1, https://eur-lex.europa.eu/le gal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52006DC0404 [Zugriffsdatum: 16.3. 2021]. 779 Zum Teil wird eine Gesamtschuldnerschaft von Leistendem und Leistungsempfänger vorgeschlagen. Siehe Bundesteuerberaterkammer, DStR-KR 2002, 17 (18). 780 Pahne, UR 2011, 247 (250).
§ 2 Kritik am Allphasen-Umsatzsteuersystem und Reformvorschläge
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bleiben, anders als bei dem Vorschlag von Kirchhof und dem Mittler-Modell, die Regelungen über die Steuerbarkeit und die Steuerpflicht zwischenunternehmerischer Umsätze bestehen,783 faktisch findet indes keine Umsatzbesteuerung dieser Umsätze statt784. Denn der leistende Unternehmer stellt allein den Netto-Betrag in Rechnung.785 Somit schuldet, abweichend vom allgemeinen Grundsatz nach § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG, nicht mehr er die Umsatzsteuer, sondern der Leistungsempfänger, der die Umsatzsteuer gleichzeitig als Vorsteuer abzieht.786 Dieses in der Regel bestehende Vorsteuerabzugsrecht ergibt sich bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Umkehr der Steuerschuldnerschaft nach der gegenwärtigen Rechtslage aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG.787 Die Umsatzsteuerschuld des Leistungsempfängers und das Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer hinsichtlich desselben Umsatzes fallen mithin zusammen.788 Es findet infolgedessen grundsätzlich eine Saldierung statt, mit der Folge, dass dem Fiskus im Ergebnis regelmäßig keine Umsatzsteuerzahlung geschuldet wird.789 Zudem entsteht infolge der unmittelbaren Saldierung von Umsatzsteuer und Vorsteuer gegen den Fiskus kein Anspruch auf Vorsteuererstattung.790 Weitere Voraussetzung für die Umkehr der Steuerschuldnerschaft im Rahmen des Vorschlags eines generellen Reverse-Charge-Verfahrens ist nach dem deutschen Vorschlag das Überschreiten einer Bagatellgrenze in Höhe von 5000 Euro.791 b) Auswirkungen auf das vorliegende Problem aa) Vorteile für den Leistenden und den Leistungsempfänger Fallen Steuerschuldner und vorsteuerabzugsberechtigter Unternehmer generell infolge der vorzunehmenden Saldierung in einer Person zusammen, kommt es grundsätzlich nicht zu einer uneinheitlichen umsatzsteuerrechtlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers durch die für sie zuständigen Fi781 Mitteilung der Kommission an den Rat gemäß Artikel 27 Absatz 3 der Richtlinie 77/388/ EWG v. 19. 7. 2006, Abschn. 2, Punkt 2.2., https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/? uri=CELEX%3A52006DC0404 [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. 782 Bundesteuerberaterkammer, DStR-KR 2002, 17 (18). 783 Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 22. 784 BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (16). 785 Loy, DStR 2018, 1097 (1099). 786 Heuermann, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 13b Rz. 21. 787 Stadie, UStG, § 15 Rz. 1. 788 Leonard/Korn, in: Bunjes, UStG, § 13b Rz. 2. 789 EuGH v. 11. 4. 2019 – C-691/17 – PORR, DStR 2019, 924 Rz. 30. 790 Kirchhof, DStR 2008, 1 (6). 791 Pahne, UR 2011, 247 (251); Welling/Richter, UR 2007, 102 (103 – 104).
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3. Teil: Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich
nanzbehörden, da die Abwicklung hinsichtlich der Abführung der Umsatzsteuer und der Geltendmachung des Vorsteuerabzugs allein zwischen dem Leistungsempfänger und dessen Finanzbehörde erfolgt. bb) Nachteile für den Leistenden Ausnahmsweise kann es indes auch bei dem generellen Reverse-Charge-Verfahren zu einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers kommen, wenn die für den Leistenden zuständige Finanzbehörde das Vorliegen der Voraussetzungen für die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft verneint und die Umsatzsteuer nachfordert, während die Finanzbehörde des Leistungsempfängers die Voraussetzungen als erfüllt ansieht. (1) Normierter Vertrauensschutz in § 13b Fällen Nach der gegenwärtigen Rechtslage ist der Leistende bei einer fehlerhaften Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen des § 13b UStG nicht in jedem Fall zu einer Nachzahlung verpflichtet. Der Leistungsempfänger ist, entgegen der eigentlichen Rechtslage, in bestimmten Fällen ausnahmsweise dennoch als Steuerschuldner anzusehen, wenn der Leistende und der Leistungsempfänger nicht eindeutig entscheiden konnten, wer Steuerschuldner ist, und weitere Voraussetzungen erfüllt sind. Ausdrückliche Vertrauensschutztatbestände beziehungsweise Vereinfachungsregelungen stellen die folgenden Paragraphen dar: § 13b Abs. 5 Satz 2 bzw. Satz 5, § 13b Abs. 5 Satz 8, § 13b Abs. 7 Satz 5 UStG, § 27 Abs. 19 UStG.792 Gemäß § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG kann der leistende Unternehmer beispielsweise darauf vertrauen, dass der Leistungsempfänger nachhaltig selbst entsprechende Bauleistungen i. S. v. § 13b Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 UStG ausführt, wenn dieser ihm eine Bescheinigung seines Finanzamts vorlegt, die belegt, dass er ein Unternehmer ist, welcher entsprechende Leistungen erbringt.793 Dies ist relevant, da eine Umkehr der Steuerschuldnerschaft in den Fällen des § 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG voraussetzt, dass der Leistungsempfänger selbst nachhaltig Bauleistungen im Sinne dieser Vorschrift erbringt.794 Allerdings gilt es zu beachten, dass kein Zusammenhang zwischen den vom leistenden Unternehmer an den Leistungsempfänger erbrachten Bauleistungen und den Bauleistungen des Leistungsempfängers vorliegen muss.795 Auch gilt es zu beachten, dass allein schon die Ausstellung der Bescheinigung i. S. v. § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG zur Folge hat, dass der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer auch dann schuldet, wenn er selbst gerade keine entsprechenden Leistungen i. S. v. § 13b Abs. 2
792 793 794 795
Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 13b Rz. 436. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 13b Rz. 436. BT-Drs. 18/1995 S. 113. BT-Drs. 18/1995 S. 113.
§ 2 Kritik am Allphasen-Umsatzsteuersystem und Reformvorschläge
125
Nr. 4 Satz 1 UStG erbringt.796 Für den Leistenden ist es des Öfteren nicht eindeutig ersichtlich, ob er Bauleistungen an einen Leistungsempfänger erbringt, der selbst ein Unternehmer ist, welcher Bauleistungen i. S. v. § 13b Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 UStG erbringt oder erbracht hat.797 Die gesetzliche Normierung der aufgeführten Vertrauenstatbestände und der hier bestehende materiell-rechtliche Vertrauensschutz sind „Ausfluss der verfassungsrechtlich gebotenen Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit (Zumutbarkeit)“.798 Neben der gesetzlichen Normierung des Vertrauensschutzes in § 13b-Fällen, wurde dem Leistenden per BMF-Schreiben bei Gebäudereinigungsleistungen unter bestimmten Voraussetzungen Vertrauensschutz zugesprochen.799 (2) Verfassungsrechtlich gebotener Vertrauensschutz in anderen Fällen Nach Ansicht Stadies soll der Leistende aus vertrauensschutzrechtlichen Gründen jedoch auch in anderen als in den gesetzlich geregelten Fällen nicht dazu verpflichtet sein, die Umsatzsteuer nachzuzahlen. Um materiell-rechtlichen Vertrauensschutz in einem bestimmten Fall anzuerkennen, bedürfe es keiner einfachgesetzlichen Norm. Denn materiell-rechtlicher Vertrauensschutz im Umsatzsteuerrecht resultiert nach Stadie direkt aus dem Verfassungsrecht.800 Die verfassungsrechtlich gebotenen Grundsätze der Rechtssicherheit und der Zumutbarkeit würden den im Umsatzsteuerrecht bestehenden Vertrauensschutz begründen. Die Zumutbarkeit sei das ,,maßgebende Kriterium für die Verhältnismäßigkeit eines staatlichen Eingriffs“.801 Voraussetzung für den verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz sei, dass die am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer aufgrund einer fehlenden beziehungsweise von der Rechtsprechung abweichenden Verwaltungsauffassung nicht rechtssicher beurteilen konnten, wer die Steuer gesetzlich schulde. Eine Rückabwicklung der Zahlung des Umsatzsteuerbetrags des Leistungsempfängers an den Fiskus und gleichzeitige Inanspruchnahme des Leistenden sei in diesem Fall unverhältnismäßig. Dem Leistenden sei es nicht zuzumuten, einen zivilrechtlichen Anspruch auf Zahlung des Betrags, den er gesetzlich selbst dem Staat schulde, gegen den Leistungsempfänger geltend machen zu müssen. Stadie argumentiert diesbezüglich, dass der Leistende schließlich nur als „zwangsverpflichteter Gehilfe des 796
BT-Drs. 18/1995 S. 113. BT-Drs. 18/1995 S. 113. 798 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 13b Rz. 437. 799 BMF-Schreiben v. 4. 1. 2011 – IV D 3-S 7279/10/10004, BStBl. I 2011, 48; siehe zu der für den Leistenden bestehenden Problematik in § 13b-Fällen auch Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 137 – 239. 800 Auch Hummel ist der Ansicht, dass der Vertrauensschutz im Umsatzsteuerrecht aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt. Hummel, MwStR 2016, 4 (13). 801 Die Inanspruchnahme eines Privaten für die Einsammlung der Umsatzsteuer stellt zumindest einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG dar. So Hummel, MwStR 2016, 4 (13). 797
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3. Teil: Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich
Staates“ tätig werde, was einen staatlichen Eingriff darstelle. Unverhältnismäßigkeit liege aus den folgenden Gründen vor: Das Ziel des Erhalts der Umsatzsteuer sei bereits erreicht, wenn der Fiskus den Umsatzsteuerbetrag bereits vom Leistungsempfänger erhalten habe. Eine Rückgängigmachung dieses Vorgangs sei für die Erreichung dieses Ziels nicht erforderlich. Schließlich bestehe auch kein sachlicher Grund für die Rückabwicklung der Zahlung des Leistungsempfängers und die daraufhin erfolgende Inanspruchnahme des Leistenden. Infolgedessen sei eine unmittelbar eintretende sowie „verfassungsrechtlich gebotene Reduktion der einfachgesetzlichen Norm [(§ 13a UStG)] geboten“. Das Risiko einer Fehleinschätzung über die Voraussetzungen des § 13b UStG habe mithin der Fiskus zu tragen und nicht der Leistende.802 (3) Risiko einer Nachforderung der Umsatzsteuer Im Rahmen eines generellen Reverse-Charge-Verfahrens besteht das Risiko einer Nachforderung für den Leistenden, da dieser dem Fiskus seine Reverse-Umsätze trotz fehlender Steuerschuldnerschaft elektronisch zu melden hat.803 Bei dem deutschen Antrag ist zwar ein Abgleich von Reverse-Umsätzen des Leistenden und den durch den Leistungsempfänger gemeldeten entsprechenden Eingangsumsätzen durch die Steuerbehörden vorgesehen.804 Ob damit eine widersprüchliche Entscheidung bezüglich des Vorliegens der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft ausgeschlossen ist, kann an dieser Stelle nicht mit Sicherheit gesagt werden. Denn die Entscheidung der Finanzbehörde des Leistenden entfaltet nach gegenwärtiger Rechtslage keine Bindungswirkung für die Entscheidung der Finanzbehörde des Leistungsempfängers oder umgekehrt.805 Es erfolgt nach jetziger eine getrennte umsatzsteuerrechtliche Betrachtung der beiden Steuerrechtsverhältnisse.806 Die EUKommission selbst hat angemerkt, dass bei dem Reverse-Charge-Modell der leistende Unternehmer das finanzielle Risiko trägt, sofern er die Umsatzsteuer nicht abführt, weil er darauf vertraut, dass der Leistungsempfänger Unternehmer ist.807 Wie bereits festgestellt, sind die Unternehmer grundsätzlich allein auf zivilrechtliche
802 Siehe zu den Ausführungen dieses Absatzes: Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 13b Rz. 437 – 440. 803 Mitteilung der Kommission an den Rat gemäß Artikel 27 Absatz 3 der Richtlinie 77/388/ EWG v. 19. 7. 2006, Abschn. 2, Punkt 2.2., https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/? uri=CELEX%3A52006DC0404 [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. 804 Mitteilung der Kommission an den Rat gemäß Artikel 27 Absatz 3 der Richtlinie 77/388/ EWG v. 19. 7. 2006, Abschn. 2, Punkt 2.2., https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/? uri=CELEX%3A52006DC0404 [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. 805 Siehe oben: Erster Teil, § 1 u. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 948. 806 Siehe oben: Erster Teil, § 1 u. Hummel, MwStR 2018, 778 (780). 807 Mitteilung der Kommission an den Rat gemäß Artikel 27 Absatz 3 der Richtlinie 77/388/ EWG v. 19. 7. 2006, Abschn. 6, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3 A52006DC0404 [Zugriffsdatum: 16. 3.2021].
§ 2 Kritik am Allphasen-Umsatzsteuersystem und Reformvorschläge
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Lösungen angewiesen.808 Auch wenn der Leistende gegen den Leistungsempfänger gegebenenfalls einen zivilrechtlichen Anspruch auf Nachzahlung des Betrags in Höhe der von ihm geschuldeten Umsatzsteuer hat, ist nicht sicher, ob seine Geltendmachung erfolgreich ist. Hinzukommend kann eine uneinheitliche Behandlung von Leistendem und Leistungsempfänger auch bei dem Reverse-Charge-Modell bei Unterschreiten der Bagatellgrenze erfolgen. Bei Umsetzung des Reverse-Charge-Modells wäre das Problem einer uneinheitlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers mithin ebenfalls nicht umfassend gelöst.
4. Zwischenergebnis Gemein haben alle voranstehenden Alternativvorschläge, dass bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen im Ergebnis keine Belastung des Leistungsempfängers mit der Umsatzsteuer stattfindet, da er gegenüber dem leistenden Unternehmer ausschließlich den Nettopreis schuldet.809 Gleichzeitig erfolgt eine Entlastung des leistenden Unternehmers, da er in diesen Fällen auch nicht mehr zur Vorfinanzierung der Umsatzsteuer verpflichtet ist (vgl. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchs. a UStG).810 Die mit einer uneinheitlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers verbundenen möglichen finanziellen Nachteile für diese wären bei Umsetzung einer der Reformvorschläge mithin zumindest minimiert, da es weniger Anknüpfungspunkte für eine uneinheitliche Rechts- oder Sachverhaltsauslegung geben würde. Es könnten jedoch, wie dargelegt wurde, insbesondere noch Auslegungsschwierigkeiten darüber bestehen, ob ein Umsatz an einen Unternehmer oder an einen Endverbraucher vorliegt.811 Bei der Fehlannahme eines zwischenunternehmerischen Umsatzes durch den leistenden Unternehmer würde das Risiko bestehen, dass er die Umsatzsteuer selbst tragen muss.812 Darüber hinaus wären widersprüchliche Entscheidungen der beteiligten Finanzbehörden bei dem Mittler-Modell und dem Reverse-Charge-Modell stets bei Unterschreiten der oben aufgeführten Bagatellgrenzen denkbar.
808
Hummel, MwStR 2018, 778 (779) u. Fn. 10. Haffner, Endphasensteuer versus Allphasensteuer, S. 83; Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 20; siehe auch Himsel, UR 2002, 593 (594). 810 Ammann, UR 1994, 109 (111); Kirchhof, DStR 2008, 1 (6). 811 BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (16); Himsel, UR 2002, 593 (594); Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 23. 812 Für den Fall einer Einphasenbesteuerung vgl. Stadie, UStG, Einf. Rz. 12. Gleiches muss für die Reformansätze gelten. 809
128
3. Teil: Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich
II. Generelle Ist-Besteuerung mit Cross-Check Neben den Alternativvorschlägen, bei welchen grundsätzlich keine Umsatzbesteuerung zwischenunternehmerischer Umsätze erfolgt, was bei dem Vorschlag von Kirchhof und dem Mittler-Modell der Fall ist, beziehungsweise faktisch keine solche bei dem Reverse-Charge-Modell, wurde der Vorschlag einer generellen Ist-Besteuerung mit Cross-Check813 diskutiert.
1. Inhalt Bei dem Modell der Ist-Besteuerung mit Cross-Check bleibt das gegenwärtige Allphasen-Umsatzsteuersystem bestehen.814 Mit anderen Worten bleibt weiterhin eine grundsätzliche Steuerbarkeit und Steuerpflicht zwischenunternehmerischer Umsätze erhalten.815 Auch bleibt ein grundsätzliches Auseinanderfallen von Umsatzsteuer und Vorsteuer bestehen.816 Die im UStG gegenwärtig normierte Ist-Besteuerung i. S. v. § 20 UStG sowie die gegenwärtige Soll-Besteuerung i. S. v. § 16 Abs. 1 Satz 1 UStG wurden im Vorstehenden bereits erläutert.817 Nach dem Vorschlag der generellen Ist-Besteuerung entsteht die Umsatzsteuerschuld des Leistenden erst dann, wenn der Leistende den Umsatzsteuerbetrag vom Leistungsempfänger tatsächlich vereinnahmt hat.818 Dies hat zur Folge, dass die Vorschrift des § 17 UStG (Änderung der Bemessungsgrundlage) keinen Anwendungsbereich mehr hat und es somit im Nachhinein zu keiner Korrektur der Umsatzsteuer und der Vorsteuer mehr kommt.819 Vielmehr leitet der Leistende ausschließlich die vereinnahmte Umsatzsteuer an den Fiskus weiter.820 Überdies entsteht nach diesem Vorschlag das Recht des Leistungsempfängers auf Geltendmachung des Vorsteuerabzugs, anders als gegenwärtig,821 erst dann, wenn der Leistungsempfänger die Zahlung geleistet hat und der Leistende die Umsatz-
813
BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (17); Loy, DStR 2018, 1097 (1100); Zimmert, DStR 2015, 921 (923). 814 BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (18). 815 BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (18). 816 BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (18). 817 Siehe oben: Erster Teil, § 2, I., 2. 818 Kirchhof, DStR 2008, 1 (8). 819 Kirchhof, DStR 2008, 1 (8). 820 Kirchhof, DStR 2008, 1 (8). 821 Siehe aber § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 UStG. Hiernach kann der Leistungsempfänger im Fall einer noch nicht ausgeführten Leistung den Vorsteuerabzug erst dann geltend machen, wenn die Zahlung geleistet worden ist und eine Rechnung vorliegt.
§ 2 Kritik am Allphasen-Umsatzsteuersystem und Reformvorschläge
129
steuer auch abgeführt hat.822 Durch diese Regelung soll das für den Fiskus bestehende Problem gelöst werden, dass dieser Vorsteuer auszahlt, ohne die entsprechende Umsatzsteuer eingenommen zu haben beziehungsweise jeweils einnehmen zu werden.823 Cross-Check bedeutet, dass die gemeldeten Ausgangsumsätze mit den gemeldeten Eingangsumsätzen abgeglichen werden.824 Die Steuererklärungs- und Anmeldungsverpflichtungen des Leistenden bleiben demgemäß wie bisher bestehen.825 Es sei angemerkt, dass solch ein Verfahren mehr Aufwand erfordert als die gegenwärtig vorhandene prinzipielle Soll-Besteuerung ohne Cross-Check.826 In dem BMFSchreiben vom 12. 11. 2003 wurde vorgeschlagen, diesen Abgleich nur bei Überschreiten einer Bagatellgrenze in Höhe von 500 Euro durchzuführen.827
2. Auswirkungen auf das vorliegende Problem Bei dem Vorschlag einer generellen Ist-Besteuerung besteht für den Leistenden der Vorteil, dass er in der Regel, wie bei den vorangehenden Vorschlägen, nicht zur Vorfinanzierung der Umsatzsteuer verpflichtet ist, da er die Umsatzsteuer generell erst bei deren Erhalt durch den Leistungsempfänger abführen muss.828 Man könnte annehmen, dass bei Umsetzung des Vorschlags der generellen IstBesteuerung für den Leistenden keine Problematik infolge widersprüchlicher Entscheidungen entsteht. Denn nach dem Vorschlag der generellen Ist-Besteuerung entsteht die Umsatzsteuer erst dann, wenn der Leistende den Umsatzsteuerbetrag vereinnahmt hat.829 Jedoch besteht für den Leistenden auch bei Anwendung der IstBesteuerung das Risiko, den Umsatzsteuerbetrag selbst tragen zu müssen, sofern der Leistungsempfänger die Zahlung des Umsatzsteuerbetrags aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis verweigert. Denn erhält der Leistende aufgrund des Widerstreits vom Leistungsempfänger nicht die vereinbarte Umsatzsteuer, wird der Betrag, den der Leistende vom Leistungsempfänger erhalten hat, in Entgelt sowie Umsatzsteuer aufgeteilt und die Steuer entsteht vorliegend indes.830 In diesem Fall wird die Umsatzsteuer mithin aus dem erhaltenen Betrag herausgerechnet und der 822
BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (17); Bundessteuerberaterkammer, DStR-KR 2004, 2 (2); Widmann, UR 2004, 177 (177). 823 Widmann, UR 2004, 177 (179). Auch Wäger spricht von einem „verfehlten Sollprinzip“ auf Vorsteuerseite. Siehe Wäger, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 17 Rz. 76. 824 BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (17). 825 BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (17). 826 Widmann, UR 2004, 177 (179). 827 BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (17). 828 BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (17); Loy, DStR 2018, 1097 (1100). 829 Kirchhof, DStR 2008, 1 (8). 830 Siehe hierzu oben ausführlich: Erster Teil, § 2, 2., b).
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3. Teil: Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich
Leistende muss den herausgerechneten und abzuführenden Betrag im Ergebnis selbst tragen. Außerdem könnten sich bei Umsetzung dieses Lösungsvorschlags für den Leistenden neue Probleme ergeben. Zunächst könnte dies bei Teilzahlungen für Rechnungen mit unterschiedlichen Steuersätzen der Fall sein. Denn erfolgt eine Teilzahlung durch den Leistungsempfänger, bleibt für den Leistenden wohl unklar, auf welchen Steuersatz die erfolgte Teilzahlung Bezug nimmt.831 Überdies könnte es sich als problematisch erweisen, wenn der Leistende seinen gegen den Leistungsempfänger bestehenden Zahlungsanspruch an einen Dritten abtritt. In dem Erhalt des Abtretungsentgelts ist nicht der Erhalt der Zahlung durch den Leistungsempfänger zu sehen, womit nach der Ist-Besteuerung die Abführung der Umsatzsteuer auch noch nicht fällig ist. Für den Leistenden könnten Schwierigkeiten bestehen herauszufinden, wann die Zahlung durch den Leistungsempfänger erfolgt.832 In dem BMF-Schreiben vom 12. 11. 2003 wurde für den Leistungsempfänger zunächst das Recht vorgesehen, die Umsatzsteuer nicht an den leistenden Unternehmer zu zahlen, sondern direkt an eine Finanzbehörde, und zwar mit schuldbefreiender Wirkung. Welche Finanzbehörde dies sein sollte, wurde in dem BMFSchreiben vom 12. 11. 2003 offen gelassen. In Frage kommt hierbei eine zentrale Bundesbehörde, ein zentrales Finanzamt, das Finanzamt des leistenden Unternehmers oder das Finanzamt des Leistungsempfängers.In diesem Fall sollte Steuerschuldner indes der leistende Unternehmer bleiben. Für diesen sollte jedoch die Verpflichtung zur Abführung der Umsatzsteuer an das Finanzamt, sobald diese vom Leistungsempfänger bezahlt wurde, entfallen. Durch diese für den Leistungsempfänger bestehende Möglichkeit sollten für ihn potentiell bestehende Probleme beim Vorsteuerabzug verhindern werden, indem er die Zahlung der Umsatzsteuer und die Geltendmachung des Vorsteuerabzugs allein mit der Finanzbehörde abwickeln sollte. Sofern er die Umsatzsteuer an eine zuständige Finanzbehörde abgeführt haben sollte, sollte ihm nach dem BMF-Schreiben vom 12. 11. 2003 auch „die Sicherheit, dass die ihm vom leistenden Unternehmer in Rechnung gestellte Umsatzsteuer als Vorsteuer angerechnet/erstattet wird“, gewährt werden. Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug sollten indes bestehen bleiben.833 Diese Möglichkeit wäre geeignet gewesen, die für den Leistungsempfänger bestehende Problematik infolge eines Widerstreits zu beseitigen. Von dieser für den Leistungsempfänger vorgesehenen Möglichkeit wurde jedoch wieder abgesehen, da 831 Siehe zu den Ausführungen des vorstehenden Absatzes Widmann, UR 2004, 177 (179). Stadie ist hingegen der Ansicht, dass hierein kein Problem zu sehen sei. Die erfolgte Teilzahlung werde den Lieferungen verhältnismäßig zugewiesen (entsprechend § 366 Abs. 2 letzte Alt. BGB). Vgl. Stadie, UR 2004, 398 (400). 832 Siehe zu den Ausführungen des vorstehenden Absatzes Widmann, UR 2004, 177 (179). 833 Vgl. zu den Ausführungen dieses Absatzes BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (17 – 18).
§ 3 Gesamtergebnis dritter Teil
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man sich nicht darüber im Klaren war, welche Stelle für die Abwicklung der Zahlungen durch den Leistungsempfänger zuständig sein sollte.834 Zahlt der Leistungsempfänger den Umsatzsteuerbetrag an den Leistenden, muss er nach wie vor darauf vertrauen, dass seine Finanzbehörde die gleiche umsatzsteuerrechtliche Entscheidung trifft wie die Finanzbehörde des Leistenden und ihm infolgedessen der Vorsteuerabzug gewährt wird. Mithin ist das dieser Arbeit zugrunde liegende Problem auch im Rahmen dieses Alternativvorschlags nicht gelöst.
§ 3 Gesamtergebnis dritter Teil Es wurde aufgezeigt, dass keiner der voranstehenden Alternativvorschläge das dieser Arbeit zugrunde liegende Problem ausreichend zu lösen vermag. Zwar würden die voranstehenden Alternativvorschläge zumindest teilweise das dieser Arbeit zugrunde liegende Problem lösen, allerdings stehen die Alternativvorschläge mit dem gegenwärtigen europäischen Umsatzsteuerrecht nicht im Einklang835 und wurden in Deutschland nicht eingeführt. Diesen Umstand hat die EUKommission bezogen auf die Einführung eines generellen Reverse-Charge-Verfahrens schon im Jahr 2006 explizit festgestellt.836 Begründet wurde die Nichteinführung eines generellen Reverse-Charge-Verfahrens damit, dass die Einführung eine grundlegende Veränderung des gegenwärtigen Umsatzsteuersystems bedeuten würde.837 Im Jahr 2016 wurde die Thematik von der EU-Kommission im Rahmen eines Richtlinienvorschlags zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG erneut aufgegriffen.838 Der ECOFIN-Rat (Rat der Europäischen Union für Wirtschaft und Finanzen) hat am 2. 10. 2018 verkündet, dass ein generelles Reverse-Charge-Ver834
Wohlfahrt, Umsatzbesteuerung und Umsatzsteuerausfall, S. 253 Fn. 273. Bezügl. des Vorschlags von Kirchhof, des Mittler-Modells und des Reverse-ChargeModells vgl. BMF-Schreiben v. 12. 11. 2003 – IV B 2-S 7050-107/03, UR 2004, 16 (16); Bundesteuerberaterkammer, DStR-KR 2002, 17 (18); Reiß, in: Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt, S. 24; Welling/Richter, UR 2007, 102 (104); bzgl. des Vorschlags einer generellen Ist-Besteuerung mit Cross Check siehe Widmann, UR 2004, 177 (179); a. A. aber Loy, DStR 2018, 1097 (1100). Stadie befürwortet eine generelle Ist-Besteuerung, lehnt aber den Cross-Check ab. Siehe hierzu Stadie, UR 2004, 136 (137). 836 Mitteilung der Kommission an den Rat gemäß Artikel 27 Absatz 3 der Richtlinie 77/388/ EWG v. 19. 7. 2006, Abschn. 6, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3 A52006DC0404 [Zugriffsdatum: 16. 3.2021]. 837 Mitteilung der Kommission an den Rat gemäß Artikel 27 Absatz 3 der Richtlinie 77/388/ EWG v. 19. 7. 2006, Abschn. 6, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3 A52006DC0404 [Zugriffsdatum: 16. 3.2021]. 838 EU-Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf die befristete generelle Umkehrung der Steuerschuldnerschaft v. 21. 12. 2016, https://eur-lex.europa.eu/legalcontent/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52016PC0811 [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. 835
132
3. Teil: Besteuerung der Umsätze im unternehmerischen Bereich
fahren in den Mitgliedstaaten als Sofortmaßnahme, bis zum 30. 6. 2022 befristet, etabliert werden kann, sofern bestimmte enge Voraussetzungen erfüllt sind.839 Voraussetzung ist insbesondere, dass der Karussellbetrug einen Anteil von 25 % an der Mehrwertsteuerlücke840 ausmacht.841 Dieser Anteil wird in Deutschland nicht erreicht.842 Es bedarf folglich einer Untersuchung, wie das Problem widersprüchlicher Entscheidungen der am Leistungsaustausch beteiligten Finanzbehörden im Rahmen des gegenwärtigen Umsatzsteuersystems gelöst werden kann. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist nicht die Entwicklung eines weiteren Vorschlags zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung. Es soll vielmehr eine Lösung innerhalb des Allphasen-Netto-Besteuerungssystems für die aufgrund eines Widerstreits im VierParteien-Verhältnis bestehenden Konfliktlagen der sich rechtstreu verhaltenden Steuerpflichtigen entwickelt werden.
839 Rat der Europäischen Union, Pressemittelung v. 2. 10. 2018, https://www.consilium.euro pa.eu/de/press/press-releases/2018/10/02/vat-fraud-council-agrees-to-allow-generalised-tempor ary-reversal-of-liability/ [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. 840 Als Mehrwertsteuerlücke wird die Differenz zwischen den angenommenen und den von den Steuerbehörden in Wirklichkeit eingenommenen Mehrwertsteuerbeträgen bezeichnet. Siehe EU-Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf die befristete generelle Umkehrung der Steuerschuldnerschaft v. 21. 12. 2016, Begründung, Abschn. 1, https: //eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52016PC0811 [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. 841 Art. 199c Abs. 1 (b) MwStSystRL; Schlegel, DStR 2018, 2405 (2409). 842 IHS, Study and Reports on the VAT Gap in the EU-28 Member States, S. 16.
Vierter Teil
Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers als europarechtliche Pflicht? Im ersten Teil dieser Arbeit wurde dargelegt, dass das nationale Recht nach jetziger Rechtslage keine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers gewährleistet, was zur Folge hat, dass die Gefahr einer endgültigen Belastung der Unternehmer mit der Umsatzsteuer besteht.843 Ob die verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer im nationalen Recht jedoch als europarechtliche Pflicht anzusehen ist, wird im Folgenden beleuchtet. Wegweisend für die Beantwortung dieser Frage ist das Urteil des EuGH vom 26. 1. 2012 in der Rechtssache ADV Allround844. In der Rechtssache ADV Allround wurde die Relevanz der Problematik divergierender Entscheidungen vom FG Hamburg erkannt und aufgezeigt.845 Im Rahmen der Untersuchung dahingehend, ob die europarechtliche Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung besteht, wird vorerst erläutert, weshalb diese Pflicht aus dem europäischen Recht hergeleitet werden könnte (dazu § 1). Sodann gilt es zu klären, ob und inwieweit europarechtliche Vorgaben explizit an das nationale Steuerverfahrensrecht bestehen können (dazu § 2). Eine Analyse, ob allgemeine Grundsätze des Unionsrechts die Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im nationalen Verfahrensrecht gebieten, schließt den zweiten Teil ab (dazu § 3).
843
FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1122). EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 – 222 (m. Anm. Weinschütz). 845 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 – 1123; Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15). 844
134
4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
§ 1 Möglichkeit der Herleitung einer Pflicht aus dem europäischen Recht Es stellt sich vorerst die Frage, weshalb aus dem europäischen Recht überhaupt eine Pflicht zur Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer im nationalen Recht hergeleitet werden könnte. Aus diesem Grund wird zunächst der rechtliche Zusammenhang zwischen dem europäischen Mehrwertsteuerrecht und dem nationalen Umsatzsteuerrecht dargelegt.
I. Rechtlicher Zusammenhang zwischen europäischem Mehrwertsteuerrecht und nationalem Umsatzsteuerrecht Das nationale Umsatzsteuerrecht beruht weitgehend auf Europarecht.846 Demgemäß ist das Europarecht für das nationale Umsatzsteuerrecht von hoher Bedeutung.847 Im Jahr 1967 wurde auf europäischer Ebene entschieden, ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem für die Umsatzbesteuerung des Handels zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten zu schaffen.848 Ziel war es, ein System zu schaffen, welches innerhalb der Europäischen Gemeinschaft in gleicher Weise angewandt wird, wie in jedem der einzelnen Mitgliedstaaten.849 Art. 113 AEUVenthält einen Harmonisierungsauftrag.850 Gemäß Art. 113 AEUV erlässt der Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses einstimmig die Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Dieser Harmonisierungsauftrag existierte schon gemäß Art. 99 EWGV
846 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 17 Rz. 5; Hummel, EuR 2010, 309 (309); Kemper, UR 2017, 1 (1); Kirchhof, DStR 2008, 1 (3). 847 Robisch, in: Bunjes, UStG, vor § 1 Rz. 4. 848 EU-Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG in Bezug auf die Einführung der detaillierten technischen Maßnahmen für die Anwendung des endgültigen Mehrwertsteuersystems für die Besteuerung des Handels zwischen Mitgliedstaaten v. 25. 5. 2018, Erwägungsgrund (1), https://eur-lex.europa.eu/legal-con tent/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52018PC0329 [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. 849 EU-Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG in Bezug auf die Einführung der detaillierten technischen Maßnahmen für die Anwendung des endgültigen Mehrwertsteuersystems für die Besteuerung des Handels zwischen Mitgliedstaaten v. 25. 5. 2018, Erwägungsgrund (1), https://eur-lex.europa.eu/legal-con tent/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52018PC0329 [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. 850 Kußmaul/Naumann, StB 2015, 317 (319); Stadie, UStG, Einf. Rz. 58.
§ 1 Möglichkeit der Herleitung einer Pflicht aus dem europäischen Recht
135
von 1957 und nachfolgend gemäß Art. 93 EGV a. F.851 Basierend auf diesen Harmonisierungsaufträgen hat der Rat seit 1967 mehrere Richtlinien zur „Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern“ erlassen.852
1. Umsetzung der Richtlinien zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Für die Mitgliedstaaten besteht nach Art. 288 Abs. 3 AEUV die Pflicht, Richtlinien in das nationale Recht umzusetzen.853 Die Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht erfolgt durch den planmäßigen Erlass von Rechtsakten,854 wobei das Richtlinienziel vollständig erreicht werden muss855. Infolge des Erlasses der Richtlinien zur „Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern“ wurden die Umsatzsteuern in den Mitgliedstaaten nach und nach harmonisiert.856 Im Jahr 1967 erließ der Rat die 1.857 und die 2. EG-Richtlinie858. Hauptziel der 1. und der 2. EG-Richtlinie war die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, was durch die Einführung eines gemeinsamen Umsatzsteuersystems verwirklicht werden sollte.859 Das gemeinsame Umsatzsteuersystem wurde von der 1. und der 2. EGRichtlinie in groben Zügen vorgegeben.860 Mit der 1. EG-Richtlinie wurde ein gemeinsames Umsatzsteuersystem mit Vorsteuerabzug geschaffen.861 Struktur und Anwendungsmodalitäten wurden von der 2. EG-Richtlinie vorgegeben.862 Umgesetzt in deutsches Recht wurden die 1. und die 2. EG-Richtlinie im UStG mit Wirkung zum 1. 1. 1968.863
851
Stadie, UStG, Einf. Rz. 58; siehe auch Birkenfeld, StuW, 1998, 55 (57 f.). Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 17 Rz. 6; Robisch, in: Bunjes, UStG, vor § 1 Rz. 4; Stadie, UStG, Einf. Rz. 59. 853 Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rz. 62. 854 Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rz. 63. 855 EuGH v. 11. 7. 2002 – C-62/00 – Marks & Spencer, IStR 2002, 565 Rz. 24; Ruffert, in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rz. 27. 856 Kamann, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 113 AEUV Rz. 13 ff.; zum Stand der Harmonisierung vgl. Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 1 Rz. 22. 857 Richtlinie 67/227/EWG v. 11. 4. 1967, Abl. EG Nr. L 71, 1301. 858 Richtlinie 67/228/EWG v. 11. 4. 1967, Abl. EG Nr. L 71, 1303. 859 Richtlinie 67/227/EWG v. 11. 4. 1967, Abl. EG Nr. L 71, 1301 (1301, Erwägungsgründe); Richtlinie 67/228/EWG v. 11. 4. 1967, Abl. EG Nr. L 71, 1303 (1303). 860 Kirchhof, DStR 2008, 1 (3). 861 Kamann, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 113 AEUV Rz. 14. 862 Kamann, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 113 AEUV Rz. 14. 863 Robisch, in: Bunjes, UStG, vor § 1 Rz. 1. 852
136
4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
Nachfolgend wurde die 6. EG-Richtlinie864 erlassen865, welche die 2. EG-Richtlinie ersetzte866. Mit der 6. EG-Richtlinie wurde eine weitreichende Kodifikation des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems erzielt.867 Die 6. EG-Richtlinie beinhaltete genauere Vorgaben an das gesamte Umsatzsteuersystem.868 Insbesondere wurden detailliertere Vorgaben an die Steuerbarkeit, die Steuerpflicht, die Bemessungsgrundlage sowie den Vorsteuerabzug gestellt.869 Die 6. EG-Richtlinie wurde durch das UStG 1980, welches dem Umsatzsteuerrecht im Kern seine heutige Gestalt verliehen hat, in nationales Recht umgesetzt.870 In den darauffolgenden Jahren wurde die 6. EG-Richtlinie durch mehrere Änderungsrichtlinien angepasst,871 da man den Entwicklungen, die sich aus der Verwirklichung des Binnenmarktes ergaben, Beachtung verschaffen wollte.872 Die Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL)873 vom 28. 11. 2006 fasste die 6. EG-Richtlinie mitsamt ihrer Änderungen sowie die der 6. EG-Richtlinie vorgehenden Richtlinien zusammen.874 Sie übernahm deren Inhalt, ohne diesen wesentlich zu ändern.875 In den darauffolgenden Jahren wurde die Mehrwertsteuersystemrichtlinie mehrmals geändert.876 Hierbei erfolgten jedoch nur punktuelle Reformen.877 Die Regelungen des heutigen UStG beruhen größtenteils auf der Mehrwertsteuersystemrichtlinie.878 Damit stellt die Mehrwertsteuersystemrichtlinie die Grundlage des europäischen Mehrwertsteuerrechts dar.879
864
Richtlinie 77/388/EWG v. 17. 5. 1977, Abl. EG Nr. L 145, 1. Kirchhof, DStR 2008, 1 (3). 866 Richtlinie 77/388/EWG v. 17. 5. 1977, Abl. EG Nr. L 145, 1 (22). 867 Heidner, UR 2003, 69 (69). 868 Kirchhof, DStR 2008, 1 (3); Robisch, in: Bunjes, UStG, vor § 1 Rz. 5. 869 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 17 Rz. 6; Kirchhof, DStR 2008, 1 (3). 870 Kirchhof, DStR 2008, 1 (3). 871 Siehe hierzu Kamann, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 113 AEUV Rz. 16 f. 872 Birkenfeld, StuW, 1998, 55 (58); siehe auch Kirchhof, DStR 2008, 1 (3). 873 Richtlinie 2006/112/EG v. 28. 11. 2006, Abl. 2006, Nr. L 347, 1. 874 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 17 Rz. 7; Kirchhof, DStR 2008, 1 (4). 875 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 17 Rz. 7; Kirchhof, DStR 2008, 1 (4); Stadie, UStG, Einf. Rz. 60. 876 Robisch, in: Bunjes, UStG, vor § 1 Rz. 6. 877 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 17 Rz. 7. 878 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 66; Kirchhof, DStR 2008, 1 (4). 879 Kemper, UR 2017, 1 (1). 865
§ 2 Fehlende ausdrückliche Bestimmung in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie
137
2. Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Umsatzsteuerrechts Die Regelungen des UStG, die auf Regelungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie beruhen, sind richtlinienkonform auszulegen.880 Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Umsatzsteuerrechts ergibt sich aus der Umsetzungsverpflichtung des Art. 288 Abs. 3 AEUV sowie aus dem Gebot zur Unionstreue aus Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV.881 Demnach ist das nationale Umsatzsteuerrecht hauptsächlich anhand der Mehrwertsteuersystemrichtlinie882 sowie mithilfe der vom EuGH zur 6. EG-Richtlinie und zur Mehrwertsteuersystemrichtlinie erlassenen Rechtsprechung auszulegen883.
II. Zwischenergebnis Eine für die Mitgliedstaaten bestehende Pflicht zur Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer im nationalen Verfahrensrecht könnte deshalb aus dem europäischen Mehrwertsteuerrecht hergeleitet werden, weil die Mitgliedstaaten nach Art. 288 Abs. 3 AEUV verpflichtet sind, die Vorgaben der europäischen Mehrwertsteuersystemrichtlinie in nationales Recht umzusetzen. Die vorstehende Pflicht besteht demnach zunächst dann, wenn die Mehrwertsteuersystemrichtlinie eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer vorschreibt.884 Ob dies der Fall ist, wird im Folgenden beantwortet (dazu § 2).
§ 2 Fehlende ausdrückliche Bestimmung in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie – Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Die Frage, ob die 6. EG-Richtlinie dahingehend auszulegen ist, dass sie eine widerspruchsfreie umsatzsteuerrechtliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers vorschreibt, war Gegenstand des Vorabentscheidungsverfah880
Kamann, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 113 AEUV Rz. 23; zur Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung siehe auch Zirkl, Die Neutralität der Umsatzsteuer als europäisches Besteuerungsprinzip, S. 252 – 254. 881 Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 17 Rz. 8; Kußmaul/Naumann, StB 2015, 317 (320); Stadie, UStG, Einf. Rz. 62. 882 Klenk, in: Sölch/Ringleb, UStG, vor § 1 Rz. 14. 883 Kamann, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 113 AEUV Rz. 23. 884 Zur etwaigen Pflicht aus der 6. EG-Richtlinie vgl. EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 33 f.; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1120 ff.).
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
rens vor dem EuGH in der Rechtssache ADV Allround.885 Derzeit gilt die Mehrwertsteuersystemrichtlinie, sodass im Folgenden untersucht wird, ob die Mehrwertsteuersystemrichtlinie eine solche Pflicht enthält.
I. Vorlagefrage des FG Hamburgs in der Rs. ADV Allround In der Rechtssache ADV Allround sollte der EuGH beantworten, ob die „Art. 17 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a, Abs. 3 Buchst. a, Art. 18 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 77/ 388/EWG […] dahin auszulegen [sind], dass das nationale Verfahrensrecht Vorkehrungen dafür treffen muss, dass die Steuerbarkeit und Steuerpflicht ein und derselben Leistung beim leistenden und beim leistungsempfangenden Unternehmer gleich beurteilt wird, auch wenn für beide Unternehmer verschiedene Finanzbehörden zuständig sind“.886 Die in der Vorlagefrage des FG Hamburgs aufgeführten Artikel entsprechen Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 169 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a MwStSystRL.887 Art. 167 ff. MwStSystRL888 regeln den Vorsteuerabzug. Art. 167 MwStSystRL bestimmt, wann das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht. Art. 168 Buchst. a MwStSystRL normiert, dass der Steuerpflichtige die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Leistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen erbracht wurden oder werden, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer abziehen darf, soweit die Leistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden. Weitere abziehbare Beträge sind in Art. 169 MwStSystRL genannt. Dass der Steuerpflichtige zur Ausübung seines Rechts auf Vorsteuerabzug i. S. v. Art. 168 Buchst. a MwStSystRL über eine Rechnung verfügen muss, die den in der MwStSystRL festgelegten Anforderungen genügt, ist in Art. 178 Buchst. a MwStSystRL bestimmt. Damit wollte das FG Hamburg mit seiner zweiten Vorlagefrage vom EuGH insbesondere wissen, ob die Regelungen über das Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer die Mitgliedstaaten zu einer verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung verpflichten.889 Unter anderem wollte das FG Hamburg wissen, ob eine derartige Verpflichtung aufgrund der ma885 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 33; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1119, zweite Vorlagefrage). 886 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1119, zweite Vorlagefrage); siehe auch EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 33. 887 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 19; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStR 2010, 1119 (1119, Leitsatz zu 2). 888 Umgesetzt in § 15 UStG. 889 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 47; Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15); Burgmaier/ Sterzinger, UR 2012, 175 (181).
§ 2 Fehlende ausdrückliche Bestimmung in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie
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teriell-rechtlichen Anknüpfung des Rechts des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer an die Steuerschuld des Leistenden besteht.890
1. Begriff des Steuerverfahrensrechts i. S. d. Vorlagefrage Dem Wortlaut der zweiten Vorlagefrage891 des FG Hamburgs in der Rechtssache ADV Allround ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob sich die Vorlagefrage allein auf die verfahrensrechtlichen Bestimmungen für gerichtliche Verfahren892 oder auch auf die verfahrensrechtlichen Bestimmmungen für das Besteuerungsverfahren bezieht. Ob Ersteres oder Letzteres der Fall ist, ist für die vorliegende Untersuchung indes unbeachtlich.
2. Begriff des Steuerverfahrensrechts i. S. d. vorliegenden Untersuchung Die vorliegende Untersuchung dahingehend, ob das nationale Steuerverfahrensrecht eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer sicherzustellen hat, bezieht sich sowohl auf die verfahrensrechtlichen Bestimmungen für gerichtliche Verfahren als auch auf die verfahrensrechtlichen Bestimmungen für das Besteuerungsverfahren. Denn im ersten Teil wurde gezeigt, dass eine für die Unternehmer bestehende Problematik infolge sich widersprechender Entscheidungen gerade bereits im Besteuerungsverfahren entstehen kann.893 Im Besteuerungsverfahren ist es möglich, dass dem Leistungsempfänger entweder im Vorsteuervergütungsverfahren die Erstattung der Vorsteuer894 oder im Festsetzungsverfahren der Vorsteuerabzug versagt wird895, obwohl der Leistende die entsprechende Umsatzsteuer spiegelbildlich abzuführen hat. Aus diesem Grund ist vorliegend nicht nur zu untersuchen, ob die Vorschriften für gerichtliche Verfahren eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer zu gewährleisten haben, sondern auch, ob dies für die Vorschriften zum Besteuerungsverfahren896 gilt. 890 Zur materiell-rechtlichen Anknüpfung des Vorsteuerabzugs an die Steuerschuld des Leistenden auf nationaler Ebene siehe oben ausführlich: Erster Teil, § 2, II., 1., a); EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 20; Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 60. 891 Siehe FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1119, Leitsatz zu 2); siehe auch EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 33. 892 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 60. Nach Mazák bezieht sich das FG Hamburg offensichtlich vorrangig auf die das Gerichtsverfahren betreffenden Bestimmungen. 893 Siehe oben: Erster Teil, § 2. 894 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1119). 895 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 896 Das Problem einer widersprüchlichen Behandlung der Unternehmer im Besteuerungsverfahren verortend auch von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815).
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
Das Besteuerungsverfahren allgemein wird von der AO geregelt.897 Es ist in mehrere Abschnitte gegliedert. Grob einzuteilen ist das Besteuerungsverfahren in das Ermittlungsverfahren, das Festsetzungs- und Feststellungsverfahren (§§ 155 ff. AO) sowie das Erhebungsverfahren (§§ 218 ff. AO). Das Vollstreckungsverfahren (§§ 249 ff. AO) und das Rechtsbehelfsverfahren (§§ 347 ff. AO) werden nur dann durchgeführt, wenn sich dies als erforderlich erweist.898 Verfahrensrechtliche Vorschriften, die speziell das Umsatzbesteuerungsverfahren betreffen, sind insbesondere § 18 UStG,899 §§ 46 bis 48 und 59 bis 62 UStDV.900 Diese Vorschriften regeln die Steueranmeldung, die Steuerfestsetzung sowie die Entrichtung und die Vergütung der Umsatzsteuern.901 Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen für das Finanzgerichtsverfahren werden von der FGO geregelt.
II. Keine ausdrücklichen Vorgaben der Mehrwertsteuersystemrichtlinie Die Mehrwertsteuersystemrichtlinie enthält, insbesondere in ihren Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 169 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a, jedoch keine ausdrückliche Regelung, die eine einheitliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers hinsichtlich der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht ein und desselben Umsatzes durch die für sie zuständigen Finanzbehörden vorsieht.902 In den Art. 167 ff. MwStSystRL ist lediglich geregelt, unter welchen Voraussetzungen dem Leistungsempfänger materiell-rechtlich ein Recht auf Vorsteuerabzug zusteht (vgl. insbesondere Art. 2 ff. MwStSystRL). Dementsprechend stellte das FG Hamburg in seinem Vorlagebeschluss vom 20. 4. 2010 in der Rechtssache ADV Allround hierzu fest, dass Mehrwertsteuersystemrichtlinie „keine expliziten Regelungen [enthält], ob und wie der materiellrechtliche Gleichklang von Steuerbarkeit und Steuerpflicht einerseits und Vorsteuerabzugsberechtigung andererseits verfahrensrechtlich umzusetzen ist, insbesondere ob aus der materiellrechtlichen Anknüpfung des Vorsteuerabzugs des Leistungsempfängers an die Steuerbarkeit und Steuerpflicht beim Leistenden (welche sich ihrerseits auch nicht explizit aus der […][Mehrwertsteuersystemrichtlinie] ergibt, sondern infolge der Auslegung durch den EuGH) die 897
Bergan, DStR 2019, 1075 (1075). Vgl. zu den Ausführungen des vorstehenden Absatzes Bundesministerium der Finanzen: Besteuerungsverfahren, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Glossareintraege/B/ Besteuerungsverfahren.html?view=renderHelp [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]; siehe auch Grashof, Grundzüge des Steuerrechts, Rz. 566. 899 Heintzen, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 4. Teil, vor AO Rz. 10. 900 Treiber, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 18 Rz. 1. 901 Treiber, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 18 Rz. 1. 902 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 34; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 898
§ 2 Fehlende ausdrückliche Bestimmung in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie
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Notwendigkeit folgt, inhaltlich sich widersprechende Entscheidungen auszuschließen, und ggf. wie dies zu bewerkstelligen wäre.“903 Da die Mehrwertsteuersystemrichtlinie keine ausdrückliche Regelung zur widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer enthält,904 besteht für die Mitgliedstaaten diesbezüglich auch keine ausdrückliche Umsetzungspflicht nach Art. 288 Abs. 3 AEUV.
III. Rechtsfolge: Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Die Mehrwertsteuersystemrichtlinie beinhaltet nur punktuell verfahrensrechtliche Regelungen.905 Im Gegensatz zum materiell-rechtlichen Umsatzsteuerrecht ist das nationale Steuerverfahrensrecht nicht harmonisiert.906 Art. 5 Abs. 2 EUV bestimmt, dass nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig wird, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben, und dass alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Eine ausdrückliche unionsrechtliche Zuständigkeit im Bereich des Verfahrensrechts existiert in den Verträgen jedoch nicht.907 Der Union wird kein allgemeiner Harmonisierungsauftrag hinsichtlich des nationalen Verwaltungs- und Gerichtsverfahrensrechts zugesprochen.908 Ist der Union eine materiell-rechtliche Kompetenz in einem Bereich zuzusprechen, beinhaltet diese Kompetenz nicht automatisch eine verfahrensrechtliche Kompetenz in diesem Bereich.909 Eine „implizierte Zuständigkeit“ der Union in Fragen des Verfahrensrechts ist dementsprechend abzulehnen.910 Solange und soweit an das Verfahrensrecht keine ausdrücklichen europäischen (harmonisierten) Vorgaben gestellt werden, herrscht der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten (auch sog. „verfahrensrechtliche und institutionelle Autonomie“911 genannt) (vgl. Art. 291 AEUV)912.913
903
FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 34; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 905 Vgl. z. B. Art. 171 Abs. 1 MwStSystRL (Erstattungsverfahren). 906 Heintzen, DStZ 2015, 265 (267); Robisch, in: Bunjes, UStG, vor § 1 Rz. 8; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (38). 907 Galetta, EuR-Beiheft, 2012, 37 (38). 908 von Danwitz, DVBl 1998, 421 (430). 909 Galetta, EuR-Beiheft, 2012, 37 (38); Heintzen, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 4. Teil, § 174 AO Rz. 10. 910 Galetta, EuR-Beiheft, 2012, 37 (38). 911 EuGH v. 2. 4. 2018 – C-574/15 – Mauro Scialdone, MwStR 2018, 791 Rz. 29. 904
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
Der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten erfährt auch von der Mehrwertsteuersystemrichtlinie Anerkennung.914 Er kommt etwa in Art. 131 MwStSystRL zum Ausdruck.915 So bestimmt Art. 131 MwStSystRL, dass die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 der MwStSystRL unter Beachtung sonstiger unionsrechtlicher Bestimmungen unter den Bedingungen angewandt werden, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.
1. Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten als unionsrechtlicher Terminus Bei dem Begriff der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten916 handelt es sich um einen unionsrechtlichen Begriff.917 Auszulegen ist dieser nicht anhand eines nationalen Vorverständnisses.918 Denn nationale Vorverständnisse können in den verschiedenen Mitgliedstaaten divergieren.919 Um festzulegen, was unter den Begriff des Verfahrens fällt, ist „auf den Unterschied zwischen den inhaltlichen Vorgaben des Unionsrechts und den nationalen [Verfahrens-]Vorschriften zu ihrer Verwirklichung abzustellen“ („“Indienstnahme“ des nationalen Rechts zur Umsetzung des Unionsrechts“).920 Die Verfahrensauto912 Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 10 Rz. 3; Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 16; Vincze, EuR, 2013, 721 (721). 913 EuGH v. 16. 12. 1976 – C-33/76 – Rewe-Zentralfinanz, ECLI:EU:C:1976:188 Rz. 5; EuGH v. 16. 12. 1976 – C-45/76 – Comet, ECLI:EU:C:1976:191 Rz. 11/18; EuGH v. 21. 1. 2010 – C-472/08 – Alstom Power Hydro, DStRE 2010, 493 Rz. 17; EuGH v. 8. 9. 2011 – C-89/ 10, 96/10 – Q-Beef NVund Frans Bosschaert, BeckRS 2011, 81313 Rz. 34; EuGH v. 2. 4. 2018 – C-574/15 – Mauro Scialdone, MwStR 2018, 791 Rz. 25; EuGH v. 16. 7. 2020 – C-424/19 – UR (Assujettissement des avocats à la TVA), DStR 2020, 1669 Rz. 25; Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 56; Heintzen, DStZ 2015, 265 (266); Heintzen, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 4. Teil, vor AO Rz. 20; Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 10 Rz. 4; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (38); Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 4 Rz. 41. 914 Heintzen, DStZ 2015, 265 (268). 915 Heintzen, DStZ 2015, 265 (268). 916 Die Rechtsnatur der Verfahrensautonomie ist strittig. So Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1417). Zu den bestehenden Ansichten zu der Rechtsnatur der Verfahrensautonomie siehe Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1419 f.). 917 Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 12 ff.; Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1417). 918 Galetta, EuR-Beiheft, 2012, 37 (37); Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1417). 919 Galetta, EuR-Beiheft, 2012, 37 (37). 920 Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1417).
§ 2 Fehlende ausdrückliche Bestimmung in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie
143
nomie ist demzufolge beim Unionsrechtsvollzug von Bedeutung.921 Setzen die Mitgliedstaaten Richtlinien i. S. v. Art. 288 Abs. 3 AEUV in nationales Recht um, liegt ein (mittelbarer) Vollzug922 von Unionsrecht vor.923 Hierbei kommen allerdings auch andere Rechtsmaterien, wie unter anderem das Verwaltungsorganisations- und Verwaltungsprozessrecht, zum Tragen.924 Infolgedessen sind Stimmen in der Literatur zu finden, die den Begriff der „Verwaltungsautonomie“925 als zutreffender einstufen.926 Der Umfang der Verfahrensautonomie ist schließlich wie folgt zu definieren: „Von der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie sind all diejenigen Normenkomplexe des nationalen Rechts erfasst, nach denen die Mitgliedstaaten mangels bestehender unionsrechtlicher Regelung zu „verfahren“ haben, um eine positive unionsrechtliche Bestimmung im Einzelfall zu verwirklichen.“927 Unter „Autonomie“ versteht man „die verfahrensmäßige Eigengesetzlichkeit der mitgliedstaatlichen Unionsrechtsanwendung“.928 Nach alledem ist festzustellen, dass die Ausgestaltung des Verfahrensrechts grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten ist.929 Unter anderem sind die Mitgliedstaaten berechtigt, die zuständigen Gerichte und Behörden zu bestimmen und ,,die Modalitäten der Verfahren […], die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenen Rechte gewährleisten sollen“, selbst zu regeln930. Angemerkt sei, dass die für das nationale Verfahrensrecht bestehende Ausgestaltungsfreiheit
921 Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1418); Stettner, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EUWirtschaftsrechts, B., III., 3., a) Rz. 9; Voßkule/Schemmel, JuS 2019, 347 (348). 922 Zu den verschiedenen Formen des mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzugs des Unionsrechts vgl. Sydow, JuS 2005, 97 (97); Stettner, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EUWirtschaftsrechts, B., III., 3. 923 Stettner, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B., III., 3., b) Rz. 18; Sydow, JuS 2005, 97 (97). 924 Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 13 ff.; Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1417 f.); siehe auch Calliess/Kahl/Puttler, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 4 EUV Rz. 64. 925 Götz, DVBl 2002, 1 (1); Schwarze, NVwZ 2000, 241 (244); Stelkens, EuR 2012, 511 (521). 926 Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1418). 927 Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 16. 928 Ludwigs, NVwZ 2018, 1417 (1417); siehe auch Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 18. 929 BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/14, MwStR 2015, 938 Rz. 19; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Bergan, DStR 2019, 1075 (1076); Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 10 Rz. 3; Sterzinger, DStR 2010, 2606 (2607). 930 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 35; siehe auch EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 40.
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
auch in den verfahrensrechtlichen Bereichen gilt, in denen das Unionsrecht keine Vorgaben an das materielle Recht stellt.931 Die vorliegende Untersuchung dahingehend, ob die Mitgliedstaaten unionsrechtlich verpflichtet sind, ihr nationales Verfahrensrecht so auszugestalten, dass ein und derselbe Umsatz hinsichtlich dessen Steuerbarkeit und Steuerpflicht beim Leistenden und Leistungsempfänger von den für sie zuständigen Finanzbehörden widerspruchsfrei beurteilt wird,932 bezieht sich auf die verfahrensrechtlichen Bestimmungen für das Besteuerungsverfahren und auch die verfahrensrechtlichen Bestimmungen für gerichtliche Verfahren. Wie aufgezeigt wurde, sind die Mitgliedstaaten jedoch grundsätzlich befugt, die Bestimmungen zum Besteuerungsverfahren und die verfahrensrechtlichen Bestimmungen für gerichtliche Verfahren selbst auszugestalten.933 Infolgedessen stellt sich die Frage, ob eine aus dem Europarecht hergeleitete Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer im nationalen Recht mangels ausdrücklicher unionsrechtlicher Regelung diesbezüglich aufgrund des Grundsatzes der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten von vornherein ausgeschlossen ist.934 Dieser Frage soll im Folgenden auf den Grund gegangen werden.
2. Europarechtliche Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung ausgeschlossen? Nach Art. 5 Abs. 2 EUV verbleiben alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten. a) Grenzen durch die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts Zwar ist die Ausgestaltung des Verfahrensrechts grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten,935 trotz dessen muss das nicht harmonisierte (Steuer-)Verfahrensrecht zunächst den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts Rechnung tragen936. Stehen 931
Götz, DVBl 2002, 1 (2). EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 33; Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 47; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStR 2010, 1119 (1119, Leitsatz zu 2). 933 Klenk, in: Sölch/Ringleb, UStG, vor § 1 Rz. 26. 934 Verneinend FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Heinrichshofen, EU-UStB 2010, 68 (68); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (814). 935 BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/14, MwStR 2015, 938 Rz. 19; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Bergan, DStR 2019, 1075 (1076); Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 10 Rz. 3; Sterzinger, DStR 2010, 2606 (2607). 936 EuGH v. 7. 9. 2000 – C-213/99 – de Andrade, BeckRS 2004, 75135 Rz. 20; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, MwStR 2017, 413 Rz. 59; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121 f.); Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im 932
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verfahrensrechtliche Vorschriften eines Mitgliedstaats im Widerspruch zu einem oder mehreren allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, führt dies zur Nichtanwendbarkeit der nationalen Verfahrensvorschrift.937 aa) Grenzen durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze Bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts handelt es sich um ungeschriebenes Primärrecht.938 Die Bindung an die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts folgt aus deren unmittelbaren Anwendbarkeit.939 Sie sind mithin Bestandteil der Rechtsordnung der Union.940 Sie erfahren als Rechtsquelle Anerkennung und besitzen Allgemeingültigkeit.941 Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts wurden vom EuGH in dessen Rechtsprechung aufgezeigt,942 wobei der EuGH diese Rechtsgrundsätze nicht selbst herausgebildet hat.943 Vielmehr handelt es sich um allgemeine Rechtsgrundsätze der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (vgl. Art. 340 Abs. 2 AEUV) sowie allgemeine Rechtsgrundsätze der Union selbst.944 Die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Union „verkörpern die elementaren Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, denen jede Rechtsordnung verpflichtet ist.“945 Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts zählt insbesondere der Grundsatz des Vertrauensschutzes946 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit947. Umsatzsteuerrecht, S. 275; Heinrichshofen, EU-UStB 2010, 68 (69); Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 10 Rz. 5; Stettner, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B., III., 3., a) Rz. 10; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (38); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (814); Sydow, JuS 2005, 97 (100). 937 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (814). 938 Ruffert/Grischek/Schramm, JuS 2020, 413 (413); siehe auch Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 207; Sterzinger, DStR 2010, 2606 (2607). 939 Sydow, JuS 2005, 97 (100). 940 EuGH v. 28. 3. 2019 – C-275/18 – Vinsˇ, MwStR 2019, 486 Rz. 28. 941 Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 206. 942 Looks, DStR 2009, 513 (515). 943 Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 207; a. A. Sydow, JuS 2005, 97 (97). 944 Stettner, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B., III., 3., a) Rz. 10. 945 Wortzitat aus Looks, DStR 2009, 513 (515); siehe auch Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 206. 946 EuGH v. 1. 4. 1993 – C-31/19 bis C-44/91 – Lageder u. a., ECLI:EU:C:1993:132 Rz. 33; EuGH v. 3. 12. 1998 – C-381/97 – Belgocodex, DStRE 1999, 28 Rz. 26; EuGH v. 8. 6. 2000 – C396/98 – Schloßsstraße, DStRE 2000, 877 Rz. 44; EuGH v. 11. 7. 2002 – C-62/00 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2002:435 Rz. 44 f.; EuGH v. 12. 5. 2011 – C-107/10 – Enel Maritsa Iztok 3, BeckRS 2011, 80513 Rz. 29; Frenz, EuR 2008, 468 (471), Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 276; Heinrichshofen, EU-UStB 2010, 68 (69). 947 EuGH v. 7. 9. 2000 – C-213/99 – de Andrade, BeckRS 2004, 75135 Rz. 20; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, MwStR 2017, 413 Rz. 59; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (38).
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
So hat der EuGH beispielsweise entschieden, dass die verfahrensrechtlichen Regelungen zu Sanktionen für Verstöße gegen die durch die Mehrwertsteuerrichtlinie harmonisierten Regelungen mangels Harmonisierung der Sanktionen im Bereich der Mehrwertsteuer Sache der Mitgliedstaaten sind („verfahrensrechtliche und institutionelle Autonomie“).948 Die Regelungen zu Sanktionen müssen einer Sanktion jedoch „einen wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Charakter verleihen“.949 Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ist demnach insbesondere durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt.950 bb) Grenzen durch den Äquivalenzgrundsatz und den Effektivitätsgrundsatz Dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten können insbesondere dann, wenn Unionsrecht durchgeführt951 wird, durch den Äquivalenzgrundsatz und durch den Effektivitätsgrundsatz Grenzen gesetzt werden,952 was der EuGH bereits im Jahr 1976 in der Rechtssache Rewe953 klargestellt hat954. Dies folgt aus dem in Art. 4 Abs. 3 EUV normierten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit.955 In ständiger Rechtsprechung führt der EuGH aus, dass die nationalen Regelungen, deren Ausgestaltung grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten ist, indes das Äquivalenzprinzip und das Effektivitätsprinzip beachten müssen.956 Die Modalitäten der Verfahren, „die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen“, dürfen – so der EuGH –„nicht weniger günstig ausgestaltet sein […] als die entsprechender innerstaatlicher Rechtsbehelfe (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen
948
EuGH v. 2. 4. 2018 – C-574/15 – Mauro Scialdone, MwStR 2018, 791 Rz. 29. EuGH v. 2. 4. 2018 – C-574/15 – Mauro Scialdone, MwStR 2018, 791 Rz. 25 u. 28, Hervorhebung durch die Verfasserin dieser Arbeit. 950 EuGH v. 2. 4. 2018 – C-574/15 – Mauro Scialdone, MwStR 2018, 791 Rz. 29. 951 Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, Teil 3 § 10 Rz. 5. 952 Zum Steuerverfahrensrecht vgl. EuGH v. 11. 7. 2002 – C-62/00 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2002:435 Rz. 34; EuGH v. 6. 10. 2005 – C-291/03 – My Travel, BeckRS 2005, 70773 Rz. 17; EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 37; EuGH v. 21. 1. 2010 – C-472/08 – Alstom Power Hydro, DStRE 2010, 493 Rz. 17; EuGH v. 12. 5. 2011 – C-107/10 – Enel Maritsa Iztok 3, BeckRS 2011, 80513 Rz. 29; EuGH v. 15. 12. 2011 – C-427/10 – Banca Antoniana Popolare Veneta, DStRE 2012, 240 Rz. 22 ff.; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 50; EuGH v. 2. 4. 2018 – C-574/15 – Mauro Scialdone, MwStR 2018, 791 Rz. 29; Heinrichshofen, EU-UStB 2010, 68 (69); Herbert, MwStR 2014, 266 (267); Heuermann, MwStR 2015, 998 (800); Lange, UR 2020, 595 (598); Streinz, JuS 2010, 835 (835); von Streit/Streit, MwStR 2020, 174 (175). 953 EuGH v. 16. 12. 1976 – C-33/76 – Rewe-Zentralfinanz, ECLI:EU:C:1976:188 Rz. 5. 954 Galetta, EuR-Beiheft, 2012, 37 (40). 955 EuGH v. 24. 10. 2018 – C-234/17 – XC u. a., EuZW 2019, 82 Rz. 22. 956 EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 50. 949
§ 2 Fehlende ausdrückliche Bestimmung in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie
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Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren […] (Effektivitätsgrundsatz)“.957 cc) Grenzen durch den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer Die allgemeinen europäischen Grundsätze sind nicht in jedem Fall steuerspezifische Prinzipien.958 Ein steuerspezifischer allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist jedoch der Grundsatz der steuerlichen Neutralität.959 Dass dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten durch den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer Grenzen gesetzt werden können, hat der EuGH bereits aufgezeigt.960 So stellte der EuGH im Reemtsma-Urteil961 beispielsweise fest, dass die Mitgliedstaaten zwar mangels unionsrechtlicher Regelung zur Erstattung von Abgaben grundsätzlich dazu berechtigt seien, das Verfahren, das die Rückerstattung rechtsgrundlos gezahlter Umsatzsteuer gewährleiste, selbst zu bestimmen (Grundsatz der Verfahrensautonomie).962 Die Grundsätze der Neutralität und der Effektivität gebieten jedoch, dass der Leistungsempfänger seinen Antrag auf Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Umsatzsteuer unmittelbar an die Steuerbehörden richten könne, wenn die Erstattung der Umsatzsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert werde.963 Damit stellte der EuGH zunächst fest, dass das nationale Verfahrensrecht eine korrekte Belastung der Unternehmer mit der Umsatzsteuer zu gewährleisten hat.964 Die „erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten […], die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen“, seien – so der EuGH – wiederum jedoch Sache der
957
EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 35. Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 2 Rz. 8. 959 Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 8 Rz. 12. 960 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 39; EuGH v. 20. 10. 2011 – C-94/10 – Danfoss A/S und SauerDanfoss ApS, BeckRS 2011, 81520 Rz. 25; EuGH v. 31. 1. 2013 – C-643/11 – LVK – 56, HFR 2013, 361 Rz. 49, wonach aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer „die Steuerbehörden den Rückgriff auf die[…] Möglichkeit [einer Berichtigung der Rechnung] nicht dadurch ausschließen dürfen, dass sie ihre Kontrollen systematisch so organisieren, dass zunächst ein Steuerprüfungsbescheid an den Aussteller einer Rechnung ergeht und dieser Bescheid gegebenenfalls sogar bestandskräftig wird, bevor der Empfänger der Rechnung kontrolliert wird. […]“; von Streit/Streit, MwStR 2020, 174 (175). 961 Zur Rechtssache Reemtsma siehe bereits ausführlich oben: Zweiter Teil, § 3. 962 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 37; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 50; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (39). 963 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 39 u. 41. 964 von Streit, EU-UStB 2012, 38 (40). 958
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
Mitgliedstaaten.965 Damit stellte der EuGH gleichzeitig fest, dass es wiederum aufgrund des Grundsatzes der Verfahrensautonomie den einzelnen Mitgliedstaaten obliegt, wie die exakten Verfahrensmodalitäten auszugestalten sind, damit der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer gewahrt bleibt.966 b) Beachtung von Grundfreiheiten und europäischen Grundrechten Angemerkt sei, dass das Steuerverfahrensrecht ferner im Einklang mit den Grundfreiheiten stehen muss.967 Wobei es an dieser Stelle zu beachten gilt, dass im Bereich des harmonisierten Steuerrechts die Grundfreiheiten und das Äquivalenzund Effektivitätsprinzip übereinstimmen.968 Das nationale Steuerverfahrensrecht muss bei der Durchführung des Rechts der Union (vgl. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh) überdies mit den europäischen Grundrechten der Europäischen Grundrechtecharta in Einklang stehen.969
3. Zwischenergebnis Der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten können Grenzen gesetzt werden.970 Bei der Ausgestaltung des nationalen Verfahrensrechts haben die Mitgliedstaaten trotz des Grundsatzes der Verfahrensautonomie bestimmte unionsrechtliche Vorgaben zu beachten.971 Mit anderen Worten „gilt der Rahmen des Unionsrechts“ auch im Verfahrensrecht.972 Demzufolge ist eine aus dem Europarecht hergeleitete Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer im nationalen Verfahrensrecht nicht mangels ausdrücklicher unions-
965 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 41; bestätigend EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, MwStR 2017, 413 Rz. 52 f. 966 Grube, MwStR 2017, 414 (419); von Streit, EU-UStB 2012, 38 (40). 967 Heintzen, DStZ 2015, 265 (268); Heintzen, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 4. Teil, vor AO Rz. 14. 968 Heintzen, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 4. Teil, vor AO Rz. 14; siehe auch Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 236 f. 969 Heintzen, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 4. Teil, vor AO Rz. 15; Klenk, in: Sölch/Ringleb, UStG, vor § 1 Rz. 26; Thym, NVwZ 2013, 889 (890). 970 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 57; Galetta, EuR-Beiheft, 2012, 37 (46); Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 22; Voßkuhle/Schemmel, JuS 2019, 347 (348). 971 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121 f.); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (814). 972 Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 10 Rz. 3.
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
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rechtlicher Regelung hierfür aufgrund des Grundsatzes der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten von vornherein ausgeschlossen.973
IV. Zwischenergebnis Die Mehrwertsteuersystemrichtlinie enthält keine ausdrückliche Regelung zur widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers durch die für sie zuständigen nationalen Finanzbehörden.974 Es besteht der Grundsatz der Verfahrensautonomie.975 Trotz dessen könnte eine europarechtliche Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer einheitlichen Behandlung der Unternehmer bestehen976, denn die Mitgliedstaaten sind auch im Bereich des Verfahrensrechts insbesondere an die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts gebunden977.
§ 3 Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung aufgrund von europarechtlichen Grundsätzen? Die Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im nationalen Recht könnte aufgrund eines oder mehrerer allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts bestehen.978
I. Effektivitätsgrundsatz Der Effektivitätsgrundsatz könnte die verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers ge973 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (814); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 974 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 34; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 975 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 35. 976 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 977 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121 f.); von Streit, EU-UStB 2012, 38 (38); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (814). 978 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121 f.); das FG Hamburg hat in seinem Vorlagebeschluss folgende Grundsätze in folgender Reihenfolge angesprochen: Äquivalenzgrundsatz, Effektivitätsgrundsatz, Grundsatz des Vertrauensschutzes, Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer.
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
bieten.979 Der Effektivitätsgrundsatz verlangt, „dass die durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden“.980 Die nationalen Gerichte sowie die nationalen Verwaltungsbehörden müssen im Rahmen ihrer Zuständigkeit gewährleisten, dass das unmittelbar geltende Unionsrecht ohne Einschränkung zur Anwendung kommt.981 Der Effektivitätsgrundsatz würde demgemäß die verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer gebieten, wenn die nach jetziger Rechtslage im Verfahrensrecht nicht bestehende Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer die Ausübung der dem Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren würde.982 Die Verletzung des Effektivitätsgrundsatzes ist dann zu bejahen, wenn das Unionsrecht den Unternehmern ein Recht auf widerspruchsfreie Behandlung hinsichtlich der Beurteilung der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht ein und desselben Umsatzes durch die für sie zuständigen Finanzbehörden zuspricht, welches praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird.983
1. Recht auf widerspruchsfreie Behandlung aufgrund des Genius Holding-Urteils? Die Mehrwertsteuersystemrichtlinie enthält, wie im Vorstehenden bereits festgestellt wurde, keine ausdrückliche Regelung, die das vorstehende Recht der Unternehmer normiert.984
979 Zustimmend FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); vgl. auch Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (7). 980 Wortzitat aus FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); vgl. auch EuGH v. 30. 6. 2011 – Meilicke II, DStR 2011, 1262 Rz. 55; EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 35; Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 2 Rz. 68. 981 EuGH v. 24. 10. 1996 – C-72/95 – Kraaijeveld u. a., NVwZ 1997, 473 Rz. 55 – 51; EuGH v. 8. 9. 2010 – C-409/06 – Winner Wetten, MMR 2010, 838 Rz. 55; Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 61. 982 Zustimmend FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); zu den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes allgemein vgl. z. B. EuGH v. 11. 7. 2002 – C-62/ 00 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2002:435 Rz. 34; EuGH v. 8. 5. 2008 – C-95/07, C-96/07 – Ecotrade SpA, DStRE 2008, 959 Rz. 46; EuGH v. 2. 7. 2020 – C-835/18 – Terracult, BeckRS 2020, 14154 Rz. 32. 983 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 984 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 34; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121).
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
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a) Ansicht des FG Hamburg Das FG Hamburg war in seinem Vorlagebeschluss vom 20. 4. 2010 in der Rechtssache ADV Allround der Auffassung, dass dem Leistenden und dem Leistungsempfänger infolge der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Genius Holding985 das Recht zustehe, „hinsichtlich Steuerbarkeit und Steuerpflicht ein und derselben Leistung gleich behandelt zu werden“.986 Zwar hätte der deutsche Gesetzgeber § 15 UStG mit Wirkung zum 1. 1. 2004 an die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Genius Holding angepasst.987 Eine dementsprechende Anpassung beziehungsweise Änderung der Verfahrensvorschriften oder des Verwaltungsablaufes sei hingegen nicht erfolgt.988 Allein die Finanzverwaltung habe in zwei Fällen das Erfordernis einer einheitlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Festsetzungsverfahren gesehen.989 Dies zeige die Verfügung der OFD Hannover vom 9. 10. 2009, wonach eine einheitliche Entscheidung der bundesweit beteiligten Finanzämter über das Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen (§ 1 Abs. 1a UStG) oder das einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG) erfolgen soll.990 „Ohne Vorkehrungen in der jeweiligen nationalen Verfahrensordnung, die eine divergierende Behandlung ausschließen, [liefe] [das] Recht [der Unternehmer auf widerspruchsfreie Behandlung] jedoch praktisch leer“, weshalb der Effektivitätsgrundsatz verletzt sei.991 Das heißt, dass das FG Hamburg in seinem Vorlagebeschluss vom 20. 4. 2010 der Auffassung ist, dass sich aus der Anknüpfung992 des Rechts des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer an die Steuerschuld des Leistenden eine unionsrechtliche Pflicht zur Vornahme von verfahrensrechtlichen Vorkehrungen zur Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer ergibt.993
985
EuGH v. 13. 12. 1989 – C-342/87 – Genius Holding, NJW 1991, 362. Zum Genius Holding-Urteil siehe bereits oben Erster Teil, § 2, II., 1., a); FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 987 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 988 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); siehe auch Heinrichshofen, EU-UStB 2010, 68 (69). 989 Dazu bereits oben: Erster Teil, § 3, VII.; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Weimann, Umsatzsteuer, S. 44. 990 Dazu bereits oben Erster Teil, § 3, VII.; OFD Hannover v. 9. 10. 2009 – S 7500-466-StO 171, UR 2010, 188; zur einheitlichen Entscheidung über das Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen siehe auch OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 – S 7100b-1-St 171, UR 2016, 293 (294) sowie OFD Niedersachsen v. 19. 9. 2017 – S 7100b-1-St 171, DStR 2017, 2285 (2285). 991 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 992 Zu der materiell-rechtlichen Anknüpfung des Vorsteuerabzugs an die Steuerschuld des Leistenden auf nationaler Ebene siehe oben unter: Erster Teil, § 2., 1., a). 993 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 20. 986
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
b) Ansicht des EuGH Es ist jedoch fraglich, ob das Urteil Genius Holding dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Recht auf widerspruchsfreie Behandlung hinsichtlich der Beurteilung der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht ein und desselben Umsatzes zu gewähren vermag.994 Nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Genius Holding steht dem Leistungsempfänger der Vorsteuerabzug allein für diejenigen Steuern zu, die „geschuldet werden“, das heißt „mit einem der Mehrwertsteuer unterworfenen Umsatz in Zusammenhang stehen – oder die entrichtet worden sind, soweit sie geschuldet wurden“.995 Das Recht auf Vorsteuerabzug besteht nach dem Genius Holding-Urteil mithin nicht, wenn der Leistende die Steuer allein deshalb schuldet, weil sie in der Rechnung ausgewiesen ist.996 Damit regele – so der EuGH in der Rechtssache ADV Allround – das Genius Holding-Urteil allein den Umfang des Vorsteuerabzugsrechts.997 Es regele nicht, ob der Leistende und der Leistungsempfänger ein Recht auf widerspruchsfreie Behandlung hinsichtlich der Beurteilung der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht ein und desselben Umsatzes hätten.998 Aus der Anknüpfung des Rechts des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer an die Steuerschuld des leistenden Unternehmers ergibt sich nach der Ansicht des EuGH dementsprechend kein Recht der Unternehmer auf widerspruchsfreie Behandlung.999 c) Stellungnahme Der Feststellung des EuGH, dass sich aus der Anknüpfung des Rechts des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer an die Steuerschuld des leistenden Unternehmers kein Recht der Unternehmer auf widerspruchsfreie Behandlung ergibt, ist zuzustimmen. In seinem Urteil Genius Holding hat der EuGH allein entschieden, wann das Recht auf Vorsteuerabzug besteht.1000 Der EuGH hat in der Rechtssache Genius Holding die Steuerschuld des Leistenden jedoch nicht vom 994
EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 40; Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 70. 995 EuGH v. 13. 12. 1989 – C-342/87 – Genius Holding, NJW 1991, 362 Rz. 13; EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 23; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, MwStR 2017, 413 Rz. 47; Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 70. 996 EuGH v. 13. 12. 1989 – C-342/87 – Genius Holding, NJW 1991, 362 Rz. 19. 997 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 40. 998 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 40; siehe auch Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 70. 999 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 40. 1000 EuGH v. 13. 12. 1989 – C-342/87 – Genius Holding, NJW 1991, 362 Rz. 13.
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
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Bestehen des Vorsteuerabzugs abhängig gemacht. Hieraus kann man schließen, dass der EuGH das Vorsteuerabzugsrecht und die Umsatzsteuer im Genius Holding-Urteil gerade nicht in der Weise in Abhängigkeit gestellt hat, dass die für die Unternehmer zuständigen Steuerbehörden den Leistenden und den Leistungsempfänger hinsichtlich desselben Umsatzes widerspruchsfrei behandeln müssen. Wäre dies der Fall, hätte der EuGH dies im Genius Holding-Urteil zum Ausdruck bringen können. Der EuGH hat das Vorsteuerabzugsrecht des Leistungsempfängers gerade (nur) deshalb vom Bestehen der Steuerschuld des Leistenden abhängig gemacht, weil sich so am ehesten Steuerhinterziehungen vermeiden ließen.1001 An dieser Stelle sei daran erinnert, dass im ersten Teil bereits festgestellt wurde, dass sich aus der auch auf nationaler Ebene bestehenden materiell-rechtlichen Anknüpfung des Vorsteuerabzugsrechts des Leistungsempfängers an die Steuerschuld des Leistenden (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG) nicht ergibt, dass über den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers und die Steuer des Leistenden stets widerspruchsfreie Entscheidungen zu treffen sind.1002 Zu beachten gilt es, dass auch festgestellt wurde,1003 dass die Schaffung eines Anspruchs auf widerspruchsfreie Behandlung hinsichtlich der umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung ein und desselben Umsatzes hinsichtlich dessen Steuerbarkeit und Steuerpflicht auf nationaler Ebene denkbar ist.1004 Dies wurde jedoch mit denklogischen1005 Gründen begründet und nicht mit der oben stehenden Rechtsprechung des EuGH zur materiell-rechtlichen Abhängigkeit des Vorsteuerabzugs von der Steuerschuld des Leistenden.
2. Rechtsschutz hat korrekte und einheitliche Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie sicherzustellen Es hat jedoch eine korrekte und einheitliche Auslegung1006 und Anwendung der Bestimmungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie zu erfolgen.1007 Diese Ver-
1001
EuGH v. 13. 12. 1989 – C-342/87 – Genius Holding, NJW 1991, 362 Rz. 17. Siehe oben Erster Teil, § 2, II., 1., b), bb); Burgmaier/Sterzinger, UR 2012, 175 (183); Lange, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 75; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450; Sterzinger, DStR 2009, 1340 (1342). 1003 Siehe oben: Erster Teil, § 2, II., 1., b), cc). 1004 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218 f.); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1005 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (217); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 1006 Zur Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung siehe bereits oben: Vierter Teil, § 1, I., 2. 1007 Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (8). 1002
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
pflichtung ist „ein dem Vorrang des Unionsrechts innewohnendes Erfordernis“.1008 Unionsrecht muss in allen Mitgliedstaaten einheitlich gelten und einheitlich angewandt werden, damit dieses auch ein gemeinschaftliches Recht ist.1009 So stellte der EuGH im ADV Allround-Urteil klar, dass der Rechtsschutz in den Mitgliedstaaten eine korrekte und einheitliche Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie sicherzustellen hat.1010 Was jedoch auch heißt, dass die Anwendung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie bei beiden am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmern hinsichtlich der Steuerbarkeit und Steuerpflicht desselben Umsatzes letztendlich zu ein und demselben Endergebnis führen muss.1011 a) Möglichkeit der Überprüfung von Entscheidungen auf dem Rechtsweg Jedoch hätten – so der EuGH – sowohl der Leistende als auch der Leistungsempfänger jeweils die Möglichkeit, die jeweils gegenüber ihnen erfolgte umsatzsteuerrechtliche Entscheidung in vollem Umfang rechtlich überprüfen zu lassen.1012 Die Unternehmer hätten nicht nur die Möglichkeit, ihre Rechte gegenüber den Finanzbehörden, sondern auch im Finanzgerichtsverfahren geltend zu machen.1013 Die Eignung der Finanzgerichtsverfahren, „grundsätzlich eine korrekte und einheitliche Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der […] [Mehrwertsteuersystemrichtlinie] sicherzustellen“, stehe indes außer Streit.1014 Denn eine korrekte und einheitliche Auslegung und Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts werde letztendlich durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV sichergestellt.1015 Dieses schaffe „ein System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof“.1016 „Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten“ ergebe „sich jedoch nicht, dass eine nationale Regelung wie die im Aus1008
Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 62. 1009 Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 4 EUV Rz. 33. 1010 Zur 6. EG-Richtlinie vgl. EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 41; Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (8). 1011 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 221. 1012 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 41; siehe auch Sterzinger, UR 2012, 175 (183). 1013 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 41. 1014 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 41; diese Aussage kritisch betrachtend von Streit, EU-UStB 2012, 38 (49). 1015 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 41; siehe auch Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (8). 1016 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 41; so auch Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 62.
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
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gangsverfahren in Rede stehende es nicht erlaubt, das ordnungsgemäße Funktionieren dieser gerichtlichen Zusammenarbeit zu gewährleisten.“1017 b) Generelles zum Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV Das Vorabentscheidungsverfahren ist ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem EuGH und den nationalen Richtern.1018 Nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV entscheidet der EuGH im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Richtlinien sind Handlungen des Rates1019 und stellen somit „Handlungen der Organe“ der Union i. S. v. Art. 267 Abs. 1 Buchst. b AEUV dar1020. Bestehen Zweifel eines nationalen Gerichts über die Auslegung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie, ist dieses zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH berechtigt, wenn es die Entscheidung zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält (vgl. Art. 267 Abs. 2 AEUV)1021, grundsätzlich jedoch nicht verpflichtet1022. Handelt es sich bei diesem Gericht um ein letztinstanzliches Gericht, ist das Gericht zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH verpflichtet (vgl. Art. 267 Abs. 3 AEUV). Ausgeschlossen werden soll durch diese Verpflichtung insbesondere die Entstehung einer nationalen Rechtsprechung, welche nicht mit den Bestimmungen des Unionsrecht vereinbar ist.1023 Das Unionsrecht soll volle Geltung erfahren.1024 Das Vorabentscheidungsverfahren ist als „Zwischenverfahren“ zu verstehen.1025 Die Entscheidungsbefugnis hinsichtlich des dem Verfahren zugrunde liegenden Anspruchs steht allein dem vorlegenden Gericht zu.1026
1017
EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 42. EuGH v. 18. 10. 1990 – C-297/88, C- 197/89 – Dzodzi, BeckRS 2004, 73015 Rz. 33; Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 267 Rz. 7. 1019 Stadie, UStG, Einf. Rz. 66. 1020 Klenk, in: Sölch/Ringleb, UStG, vor § 1 Rz. 34. 1021 Stadie, UStG, Einf. Rz. 66; generell zur Berechtigung vgl. EuGH v. 16. 1. 1974 – C-166/ 73 – Amministrazione delle finanze dello Stato / Simmenthal, ECLI:EU:C:1974:3 Rz. 19/20. 1022 Zu den Ausnahmen siehe Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 267 AEUV Rz. 29 f. Die Ausnahmen sind für die vorliegende Problematik irrelevant. 1023 EuGH v. 24. 5. 1977 – C-107/66 – Hoffmann-La Roche / Centrafarm, NJW 1977, 1585 (1585 f.); Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 65; Groh, EuZW 2002, 460 (461); Herrmann, EuZW 2006, 231 (232). 1024 EuGH v. 16. 1. 1974 – C-166/73 – Rheinmühlen Düsseldorf / Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, BeckRS 1974, 106488 Rz. 2. 1025 Heidner, UR 2003, 69 (74); siehe dazu EuGH v. 5. 2. 1963 – C-26/62 – Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1 (unter II, A). 1026 Heidner, UR 2003, 69 (74); siehe dazu EuGH v. 5. 2. 1963 – C-26/62 – Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1 (unter II, A). 1018
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
3. Zwischenergebnis Der Effektivitätsgrundsatz ist vorliegend nicht verletzt, indem das nationale Verfahrensrecht keine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer gewährleistet.1027 Die Ausübung eines durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechts wird nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert.1028
II. Grundsatz des Vertrauensschutzes Erfolgt eine widersprüchliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers, könnte der Grundsatz des Vertrauensschutzes1029 verletzt sein.1030 Das FG Hamburg war in der Rechtssache ADV Allround der Auffassung, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes, der „Teil der Gemeinschaftsordnung und von den Mitgliedsstaaten bei der Durchführung von Gemeinschaftsregelungen zu beachten [sei]“, die Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer gebieten könnte.1031 Es „könnte“ – so das FG Hamburg – „gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen, wenn die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaates zunächst den leistenden Unternehmer veranlasst, Umsatzsteuer in seinen Rechnungen auszuweisen und an das FA abzuführen, und daran anschließend die Steuerverwaltung desselben Mitgliedstaates beim Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug mit der Begründung verneint, die Leistung sei nicht steuerbar gewesen.“1032 Vorab sei angemerkt, dass der EuGH in der Rechtssache ADV Allround nicht entschieden hat, ob dem FG Hamburg zuzustimmen ist. Vielmehr erfolgten vom EuGH keinerlei Ausführungen zu der Frage, ob durch widersprüchliche Entscheidungen der am Leistungsaustausch beteiligten Finanzbehörden der europäische Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes verletzt wird. Auch der Generalanwalt Mazák tätigte in seinem Schlussantrag in der Rechtssache ADV Allround keine Ausführungen zur Frage der Verletzung des Vertrauensschutzes durch eine widersprüchliche Behandlung. 1027 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 36 u. 39; Martin, BFH/PR 2012, 203; Sterzinger, UR 2012, 175 (183); vgl. auch die Ansicht der deutschen Regierung in der Rechtssache ADV Allround: Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 53. 1028 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 38 ff. 1029 Zum Vertrauensschutz bzw. Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers im VierParteien-Verhältnis, basierend auf der Angabe des Leistenden, dass Umsatzsteuer anfällt, siehe unten ausführlich Fünfter Teil, § 1. Die vorliegende Arbeit differenziert zwischen Vertrauensschutz aufgrund von Handeln der zuständigen Finanzbehörden und aufgrund von Handeln des anderen Unternehmers. 1030 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816); Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 1031 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 1032 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121).
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
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1. Vertrauensschutz als Unterprinzip des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Rechtssicherheit Der Grundsatz des Vertrauensschutzes1033 ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts.1034 Er ist ein Unterprinzip des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Rechtssicherheit.1035 Sowohl die Gemeinschaftsorgane als auch die Mitgliedstaaten müssen dem Grundsatz des Vertrauensschutzes Beachtung schenken.1036 Die Mitgliedstaaten haben den europäischen Grundsatz des Vertrauensschutzes „bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Gemeinschaftsrichtlinien übertragen“, zu berücksichtigen.1037 Die Erhebung der Umsatzsteuer als Recht der Mitgliedstaaten gehört zu den vorgenannten Befugnissen.1038 Zum ersten Mal einen Anspruch auf Vertrauensschutz in einem Verfahren zugesprochen hat der EuGH im Jahr 1964 einer Klägerin in einem Verfahren, in dem es um das Vertrauen der Klägerin auf den Fortbestand und die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes einer Gemeinschaftsbehörde ging.1039
2. Vertrauensschutz aufgrund von Verwaltungshandeln Vorliegend könnte der Grundsatz des Vertrauensschutzes aufgrund von Verwaltungshandeln betroffen sein.1040 Auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes „kann sich [nach Ansicht des EuGH] jeder berufen, bei dem eine zuständige Behörde durch 1033
Siehe zum Grundsatz des Vertrauensschutzes bereits EuGH v. 12. 7. 1957 – C-7/56 u. C3/57 bis C-7/57 – Algera u. a. / Assemblée commune, BeckRS 2004, 73551 (unter III). 1034 EuGH v. 1. 4. 1993 – C-31/19 bis C-44/91 – Lageder u. a., ECLI:EU:C:1993:132 Rz. 33; EuGH v. 3. 12. 1998 – C-381/97 – Belgocodex, DStRE 1999, 28 Rz. 26; EuGH v. 8. 6. 2000 – C-396/98 – Schlossstraße, DStRE 2000, 877 Rz. 44; EuGH v. 11. 7. 2002 – C-62/00 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2002:435 Rz. 44 f.; EuGH v. 12. 5. 2011 – C-107/10 – Enel Maritsa Iztok 3, BeckRS 2011, 80513 Rz. 29; Frenz, EuR 2008, 468 (471). 1035 EuGH v. 10. 9. 2009 – C-201/08 – Plantanol, BeckRS 2009, 70971 Rz. 46; EuGH v. 9. 10. 2014 – C-492/13 – Traum EOOD, MwStR 2014, 795 Rz. 28; EuGH v. 18. 11. 2020 – C371/19 – Kommission/Deutschland, DStR 2020, 2671 Rz. 95; Kokott, Das Steuerrecht der europäischen Union, § 2 Rz. Rz. 27. 1036 EuGH v. 14. 9. 2006 – C-181/04, C-182/04, C-183/04 – Elmeka, BeckRS 2006, 70690 Rz. 31. 1037 Wortzitat aus EuGH v. 10. 9. 2009 – C-201/08 – Plantanol, BeckRS 2009, 70971 Rz. 43; so auch EuGH v. 10. 12. 2015 – C-427/14 – SIAVeloserviss, BeckRS 2015, 81977 Rz. 30; EuGH v. 18. 11. 2020 – C-371/19 – Kommission/Deutschland, DStR 2020, 2671 Rz. 94. 1038 Spatscheck/Stenert, DStR 2016, 2313 (2319). 1039 EuGH v. 13. 7. 1965 – C-111/63 – Lemmerz-Werke / Haute autorité, BeckRS 2004, 71251; Frenz, EuR 2008, 468 (469). 1040 Vgl. dazu FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); von Streit/ Streit, UR 2018. 813 (816).
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
bestimmte Zusicherungen begründete Erwartungen geweckt hat“.1041 Vertrauensschutz kann demgemäß in der Beziehung zwischen den Unternehmern und den Verwaltungsbehörden zum Tragen kommen.1042 a) Bestimmte Zusicherungen Damit der Grundsatz des Vertrauensschutzes durch widersprüchliche Entscheidungen der Finanzbehörden gegenüber dem Leistenden und dem Leistungsempfänger verletzt ist, müssten im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis zunächst „bestimmte Zusicherungen“ von behördlicher Seite getätigt worden sein. aa) Aktives Verhalten der Finanzbehörde erforderlich – vorliegend jedoch Anmeldesteuer Der EuGH hat, soweit ersichtlich, nicht definiert, was unter einer „bestimmten Zusicherung“ i. S. d. oben genannten Voraussetzung zu verstehen ist. Schweigen einer Verwaltungsbehörde reicht jedoch hierfür nicht aus.1043 Es bedarf „ausdrücklicher“ Zusicherungen.1044 Zur Begründung von Vertrauensschutz bedarf es eines aktiven Verhaltens der Verwaltungsbehörde im Besteuerungsverfahren.1045 Das Verhalten kann in dem Erlass von Verwaltungsakten oder auch in (schlichtem) Handeln bestehen.1046 Ein aktives Verhalten liegt beispielsweise nicht vor, wenn das Finanzamt eine Umsatzsteueranmeldung des Unternehmers lediglich akzeptiert, ohne diese einer 1041
Wortzitat aus EuGH v. 18. 11. 2020 – C-371/19 – Kommission/Deutschland, DStR 2020, 2671 Rz. 95; so auch EuGH v. 17. 3. 2011 – C-221/09 – AJD Tuna, BeckRS 2011, 80243 Rz. 71; EuGH v. 5. 3. 2015 – C-585/13 P – Europäisch-Iranische Handelsbank / Rat, BeckRS 2015, 80343 Rz. 95; EuGH v. 9. 7. 2015 – C-144/14 – Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiaga˘ Andrei, DStRE 2015, 1386 Rz. 43; EuGH v. 9. 7. 2015 – C-183/14 – Salomie und Oltean, MwStR 2015, 808 Rz. 44; EuGH v. 14. 6. 2017 – C-26/16, Santogal, MwStR 2017, 617 Rz. 76; EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 46; EuGH v. 17. 10. 2018 – C-167/17 – Klohn, BeckRS 2018, 24936 Rz. 51; EuGH v. 31. 1. 2019 – C-225/17 P – Islamic Republic of Iran Shipping Lines u. a./Rat, BeckRS 2019, 637 Rz. 57; Generalanwalt Tizzano, Schlussantrag v. 6. 2. 2003 – C-339/00 – Irland / Kommission, ECLI:EU:C:2003:70 Rz. 60; siehe auch BFH. v. 27. 1. 2016 – V B 87/15, DStR 2016, 470 Rz. 18. 1042 EuGH v. 14. 9. 2006 – C-181/04, C-182/04, C-183/04 – Elmeka, BeckRS 2006, 70690 Rz. 31; Jacobs, DStRK 2018, 131 (131). 1043 EuG v. 27. 3. 1990 – T-123/89 – Chomel/Kommission, Slg. 1990, II-131, R. 27; Generalanwalt Tizzano, Schlussantrag v. 6. 2. 2003 – C-339/00 – Irland/Kommission, ECLI:EU:C: 2003:70 Rz. 60. 1044 Generalanwalt Tanchev, Schlussantrag v. 30. 5. 2018 – C-664/16 – Va˘ dan, BeckRS 2018, 15457 Rz. 69. 1045 Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 166. 1046 Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 2 Rz. 39.
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aktiven Prüfung zu unterwerfen oder dieser zu widersprechen.1047 In diesem Fall liegt keine „bestimmte Zusicherung“ vor. Beispielsweise handelt es sich jedoch bei einer gegenüber dem Unternehmer erfolgten verbindlichen Auskunft (vgl. § 89 AO) durch seine Finanzbehörde, welche für diesen Unternehmer sowie für dessen Finanzbehörde eine rechtsverbindliche Wirkung entfaltet, um eine „bestimmte Zusicherung“.1048 An dieser Stelle muss sich jedoch zunächst in Erinnerung gerufen werden, dass die Umsatzsteuer eine Anmeldesteuer darstellt.1049 Die Umsatzsteuervoranmeldung ist eine Steueranmeldung i. S. v. § 168 Satz 1 AO, die einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht.1050 Infolge des Vorbehalts der Nachprüfung ist eine Änderung der Steuerfestsetzung (§ 164 Abs. 2 AO) innerhalb der Festsetzungsverjährung durch die zuständige Finanzbehörde möglich.1051 bb) Bestimmte Zusicherungen bei Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis? Ein für die Unternehmer problematischer Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis liegt allein dann vor, wenn die für den Leistenden zuständige Finanzbehörde von der Steuerbarkeit und Steuerpflicht einer Leistung ausgeht, die für den Leistungsempfänger zuständige Finanzbehörde hingegen davon ausgeht, dass dieselbe Leistung nicht steuerbar oder nicht steuerpflichtig ist.1052 Entscheidend ist demnach vorliegend allein, ob die Entscheidung der Finanzbehörde des Leistenden gegenüber dem Leistenden, dass die Leistung steuerbar und steuerpflichtig ist, sowie die Versagung des Vorsteuerabzugs durch die Finanzbehörde des Leistungsempfängers gegenüber dem Leistungsempfänger „bestimmte Zusicherungen“ verkörpern. (1) Entscheidung gegenüber dem Leistenden Die im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis durch die Finanzbehörde des Leistenden nach einer aktiven Prüfung1053 des Sachverhalts erfolgte 1047
Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 166. 1048 Sharpston, Schlussantrag v. 6. 2. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko sp. K., BeckRS 2020, 4788 Rz. 124; Schulze, DStR 2016, 561 (569); siehe zur Bejahung einer bestimmten Zusicherung bei Vorliegen einer Auskunft auch EuGH v. 16. 12. 2010 – C-537/08 P – Kahla Thüringen Porzellan / Kommission, BeckRS 2010, 91447 Rz. 63; EuGH v. 17. 3. 2011 – C-221/09 – AJD Tuna, BeckRS 2011, 80243 Rz. 72. 1049 Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 166. 1050 Frotscher, in: Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 164 AO Rz. 123. 1051 Groels, Allgemeine Steuerlehre, S. 260. 1052 Weinschütz, EuZW 2019, 219 (222). 1053 Zum Vertrauensschutz der Unternehmer infolge Prüfungsentscheidungen durch die zuständigen Finanzbehörden vgl. EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109 Rz. 50; EuGH v. 14. 6. 2017 – C-26/16, Santogal, MwStR 2017, 617 Rz. 75 f.; Streit/Rust, DStR
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Entscheidung gegenüber dem Leistenden, dass die Leistung(en) des Leistenden steuerbar und steuerpflichtig ist / sind, ist als „bestimmte Zusicherung“ anzusehen. Es liegen zunächst „bestimmte Zusicherungen“ der Finanzbehörde des Leistenden im Vier-Parteien-Verhältnis vor, wenn es zu einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 164 Abs. 2 AO durch die Finanzbehörde des Leistenden kommt, weil der Leistende seine Leistung(en) als nicht steuerbar oder als nicht steuerpflichtig aufgefasst hat, seine Finanzbehörde jedoch beispielsweise im Rahmen einer Außenprüfung gegenteiliger Ansicht ist und die Steuer nachträglich festsetzt. Bei dem Änderungsbescheid der Finanzbehörde des Leistenden gegenüber dem Leistenden handelt es sich um einen Verwaltungsakt i. S. v. § 118 Satz 1 AO.1054 In der durch die Finanzbehörde des Leistenden getätigten Veranlassung des Leistenden, „Umsatzsteuer in seinen Rechnungen auszuweisen und an das FA abzuführen“1055, ist mithin eine „bestimmte Zusicherung“ zu sehen. Erfolgt bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis hingegen kein Steuerbescheid (Änderungsbescheid) seitens der Finanzbehörde des Leistenden, liegt kein Verwaltungsakt vor, der gegenüber dem Adressaten Vertrauensschutz entfalten könnte. Allein ein Prüfungsbericht beispielsweise ist kein Verwaltungsakt i. S. d. § 118 Satz 1 AO.1056 Nur der Änderungsbescheid im Anschluss an eine Prüfung ist ein Verwaltungsakt.1057 Nach Auffassung des EuGH tätigt die Finanzbehörde des Leistenden gegenüber dem Leistenden jedoch „bestimmte Zusicherungen“, wenn der Leistende seiner Finanzbehörde Unterlagen für die Prüfung der Steuerbefreiung seiner Umsätze zukommen lässt, diese Unterlagen einer Prüfung durch die Finanzbehörde durchlaufen und schließlich akzeptiert werden.1058 Prüfungsentscheidungen der Finanzbehörden entfalten demgemäß nach Auffassung des EuGH Bindungswirkung.1059 Dies bedeutet, dass „bestimmte Zusicherungen“ der Finanzbehörde des Leistenden auch dann im Vier-Parteien-Verhältnis vorliegen, wenn der Leistende seine Leistung(en) im Rahmen des Widerstreits bereits als steuerbar und steuerpflichtig erklärt hatte1060 und seine Finanzbehörde nach einer aktiven Prüfung (z. B. Außenprüfung) derselben Meinung ist wie der Leistende, also kein Änderungsbescheid ihrerseits erlassen wird. Der Widerstreit ergibt sich hier allein aus der gegenteiligen Rechts2018, 1321 (1329 f.); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). In den Rechtssachen Teleos und Santogal bestand die Zusicherung jedoch in der Gewährung der Steuerbefreiung. 1054 Vgl. Füssenich, in: BeckOK AO, § 118 Rz. 134. 1055 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 1056 BFH v. 6. 8. 2014 – V B 116/13, BeckRS 2014, 95924 Rz. 6; FG Saarland v. 1. 2. 2005 – 1 K 216/04, BeckRS 2005, 26017974 (unter 1.). 1057 FG Saarland v. 1. 2. 2005 – 1 K 216/04, BeckRS 2005, 26017974 (unter 1.). 1058 EuGH v. 14. 6. 2017 – C-26/16, Santogal, MwStR 2017, 617 Rz. 75 f.; siehe auch EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109 Rz. 50; Streit/Rust, DStR 2018, 1321 (1329 f.); siehe auch von Streit/Streit, UR 2018. 813 (816). 1059 Streit/Rust, DStR 2018, 1321 (1329 f.); siehe auch von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1060 Zur Möglichkeit dieser Konstellation vgl. Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789).
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auffassung der Finanzbehörde des Leistungsempfängers hinsichtlich desselben Sachverhalts.1061 (2) Entscheidung gegenüber dem Leistungsempfänger Gleichfalls liegt ein aktives Verhalten in Form eines Verwaltungsaktes und damit eine „bestimmte Zusicherung“ der am Vier-Parteien-Verhältnis beteiligten Finanzbehörde des Leistungsempfängers vor, wenn diese nach einer aktiven Prüfung des Sachverhalts den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers im Rahmen der Änderung der Steuerfestsetzung (§ 164 Abs. 2 AO) versagt. Hier ist die Zusicherung in einem Verwaltungsakt1062 zu sehen. Auch hätte der Leistungsempfänger durch „bestimmte Zusicherungen“ die Erwartung, dass sein Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn seine Finanzbehörde bei einer Nachschau oder Sonderprüfung Rechnungen aktiv überprüft, diese jedoch nicht bemängelt.1063 Dies ist bei Vorliegen eines „problematischen“ Widerstreits jedoch gerade nicht der Fall. (3) Zwischenergebnis „Bestimmte Zusicherungen“ liegen bei Bestehen eines Widerstreits im VierParteien-Verhältnis sowohl dann vor, wenn ein Änderungsbescheid der Finanzbehörden (vgl. § 164 Abs. 2 AO) vorliegt als auch dann, wenn lediglich eine Prüfungsentscheidung1064 der Finanzbehörde des Leistenden gegenüber dem Leistenden vorliegt, jedoch kein Änderungsbescheid erlassen wurde. Folglich werden bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis „bestimmte Zusicherungen“ der beteiligten Finanzbehörden getätigt. b) Begründete Erwartungen und berechtigte Erwartungen Fraglich ist jedoch, ob die bei einem Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis vorliegenden „bestimmten Zusicherungen“ der beteiligten Finanzbehörden gegenüber den Unternehmern bei dem jeweils anderen Unternehmer „begründete Erwartungen“ wecken. Denn nur dann kommt eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes durch widerstreitende Entscheidungen in Frage.
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Zur Möglichkeit dieser Konstellation vgl. Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). Zum Vorliegen eines Verwaltungsaktes vgl. Füssenich, in: BeckOK AO, § 118 Rz. 134. 1063 Jacobs, DStRK 2018, 131 (131). 1064 Zum Vertrauensschutz der Unternehmer infolge Prüfungsentscheidungen durch die zuständigen Finanzbehörden ohne Änderungsbescheid vgl. EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109 Rz. 50; EuGH v. 14. 6. 2017 – C-26/16, Santogal, MwStR 2017, 617 Rz. 75 f.; Streit/Rust, DStR 2018, 1321 (1329 f.); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1062
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Nach Ansicht des EuGH bedarf es bei der Prüfung, ob der Grundsatz des Vertrauensschutzes betroffen ist, einer Prüfung „ob die Handlungen der Verwaltungsbehörden in der Vorstellung eines umsichtigen und besonnenen Wirtschaftsteilnehmers vernünftige Erwartungen begründet haben“.1065 Sei dies zu bejahen, müsse sodann gefragt werden, ob diese Erwartungen „berechtigt“ seien.1066. Zwar kann die gegenüber dem Leistenden erfolgte Entscheidung seiner Finanzbehörde über die bestehende Steuerbarkeit und Steuerpflicht einer Leistung die Erwartung beim Leistungsempfänger erwecken, dass ihm spiegelbildlich auch ein Vorsteuerabzug aufgrund der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht der Leistung zusteht.1067 Auch kann die Entscheidung der Finanzbehörde des Leistungsempfängers gegenüber dem Leistungsempfänger über das Nichtbestehen des Vorsteuerabzugs mangels Steuerbarkeit und Steuerpflicht der Leistung beim Leistenden die Erwartung wecken, dass spiegelbildlich hinsichtlich derselben Leistung keine Umsatzsteuer anfällt. Allerdings sind solche Erwartung nicht „berechtigt“ i. S. d. vorstehenden vom EuGH verlangten Voraussetzung für die Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes. Denn der jeweils andere Unternehmer ist überhaupt nicht Adressat der Entscheidung (der „bestimmte Zusicherungen“). Nach Ansicht des EuGH kann sich nämlich derjenige gerade nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen, „dem keine […] Zusicherungen gegeben wurden“,1068 was vorliegend gegen das Vorliegen von „berechtigten“ Erwartungen bei einem Widerstreit im Vier-ParteienVerhältnis spricht. Das Vertrauen der Unternehmer, welches auf der Entscheidung gegenüber dem jeweils anderen Unternehmer basiert, ist deshalb nicht schützenswert.1069 Der Vertrauensschutz kann nur in dem jeweiligen Steuerschuldverhältnis Anwendung finden.1070 Demnach spielt es auch keine Rolle, ob für beide Unternehmer dasselbe Finanzamt zuständig ist, oder zwei unterschiedliche Finanzbe-
1065 EuGH v. 14. 9. 2006 – C-181/04, C-182/04, C-183/04 – Elmeka, BeckRS 2006, 70690 Rz. 31; auch Generalanwalt Mengozzi, Schlussantrag v. 25. 11. 2015 – C-332/14 – Wolfgang und Dr. Wilfried Rey Grundstücksgemeinschaft, BeckRS 2015, 81952 Rz. 133. 1066 EuGH v. 14. 9. 2006 – C-181/04, C-182/04, C-183/04 – Elmeka, BeckRS 2006, 70690 Rz. 31; siehe auch Generalanwalt Mengozzi, Schlussantrag v. 25. 11. 2015 – C-332/14 – Wolfgang und Dr. Wilfried Rey Grundstücksgemeinschaft, BeckRS 2015, 81952 Rz. 133. 1067 So etwa FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 1068 So EuGH v. 31. 1. 2019 – C-225/17 P – Islamic Republic of Iran Shipping Lines u. a./Rat, BeckRS 2019, 637 Rz. 57; siehe auch EuGH v. 14. 10. 1999 – C-104/97, BeckRS 2004, 74066 Rz. 57; EuGH v. 14. 10. 2010 – C-67/07 – Nuova Agricast und Cofra / Kommission, BeckRS 2010, 91208 Rz. 71; EuGH v. 17. 3. 2011 – C-221/09 – AJD Tuna, BeckRS 2011, 80243 Rz. 72. 1069 a. A. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816); a. A. wohl auch FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 1070 a. A. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816), wonach Vertrauensschutz auch in einem Mehrpersonenverhältnis bestehen soll, da in Mehrpersonenverhältnissen insbesondere ebenfalls Schutzwürdigkeit zu bejahen sei; a. A. wohl auch FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121).
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hörden, und die Entscheidungen durch zwei verschiedene Finanzbeamte getroffen wurden. Das FG Hamburg hat in seinem Vorlagebeschluss in der Rechtssache ADV Allround hinsichtlich der möglichen Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes darauf abgestellt, dass die Ungleichbehandlung der Unternehmer durch „die Steuerverwaltung[en] desselben Mitgliedstaates“ erfolgt ist.1071 Die Unternehmer könnten dementsprechend die „berechtigte“ Erwartung haben, dass die Entscheidungen ihrer Finanzbehörden dem Fiskus zugerechnet werden und deshalb keine abweichende Entscheidung gegenüber ihnen erfolgen darf, weil der Fiskus „insgesamt“ widerspruchsfrei entscheiden muss. Weil Finanzbehörden unselbstständige Bestandteile des Fiskus sind,1072 könnte man die Finanzbehörden als „Einheit“ auffassen. Hier sollte sich in Erinnerung gerufen werden, dass Steuergläubiger nach Art. 106 Abs. 3 und Abs. 5a GG der Bund, die Länder und die Gemeinden sind.1073 Sie sind Gemeinschaftsgläubiger und werden durch die zuständigen Behörden tätig.1074. Die Unternehmer könnten berechtigt davon ausgehen, dass sie den vorstehenden Gläubigern die Umsatzsteuer schulden und nicht „ihrer“ Finanzbehörde an sich, sodass diese Gemeinschaftsgläubiger nicht widersprüchlich entscheiden dürfen. In der Literatur wird beispielsweise auch vertreten, dass die Aufsplitterung der Zuständigkeit der nationalen Finanzbehörden keine Lockerung der Selbstbindung nach sich ziehen darf, was für die Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes bei widersprüchlichen Entscheidungen spreche.1075 Auch wird in der Literatur generell darauf hingewiesen, dass die „Zersplitterung in einzelne Finanzämter und -behörden“ für die Unternehmer bei Vorliegen eines Widerstreits problematisch sei.1076 Wenn jedoch Vertrauen allein in dem jeweiligen Steuerschuldverhältnis im VierParteien-Verhältnis begründet wird (Leistender – Fiskus; Leistungsempfänger – Fiskus), spielt es auch keine Rolle, dass die Unternehmer deshalb berechtigte Erwartungen infolge der Entscheidung der jeweils anderen Behörde gegenüber dem jeweils anderen Unternehmer haben könnten, weil es sich bei Finanzbehörden um unselbstständige Bestandteile des Fiskus handelt1077, und die Unternehmer davon ausgehen könnten, dass die Entscheidungen dem Fiskus zugerechnet werden.
1071 1072 1073 1074 1075 1076 1077
FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). BFH v. 23. 11. 1972 – VIII R 42/67, BeckRS 1972, 22001992 (unter I., 1.)). Drüen, FR 2008, 295 (295). Arndt/Jenzen/Fetzer, Allgemeines Steuerrecht, S. 143. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). Lang-Horgan, MwStR 2013, 394 (395). BFH v. 23. 11. 1972 – VIII R 42/67, BeckRS 1972, 22001992 (unter I., 1.)).
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Auch war beispielsweise Generalanwalt Sharpston in der Rechtssache KrakVet Marek Batko sp. K.1078 in seinem Schlussantrag der Auffassung, dass der Leistende aufgrund eines Steuervorbescheids (verbindliche Auskunft) des für ihn zuständigen polnischen Finanzamts nicht die für den Vertrauensschutz erforderliche Erwartung haben durfte, dass die für ihn ebenfalls zuständige Finanzbehörde eines anderen Mitgliedstaats (hier Ungarns) dieselbe Rechtsauffassung hinsichtlich derselben Leistung vertritt, wie die polnische Finanzbehörde es getan hat.1079 Berechtigte Erwartungen dürfe der Unternehmer jedoch (bzw. nur!) dahingehend haben, dass er sich, wenn er seine Umsätze entsprechend seinen Angaben in seinem Antrag auf verbindliche Auskunft ausführe, „nicht dem Risiko schwerwiegender Sanktionen wegen Rechtsmissbrauchs aussetzen würde“, sofern sich die verbindliche Auskunft der polnischen Finanzbehörde im Nachhinein als rechtlich fehlerhaft erweisen sollte.1080 Wenn der Grundsatz des Vertrauensschutzes sogar, wie Sharpston in der Rechtssache KrakVet Marek Batko sp. K. in seinem Schlussantrag ausführt,1081 nicht verbietet, dass gegenüber demselben Steuerpflichtigen uneinheitliche Entscheidungen von zwei Finanzbehörden getroffen werden, muss dies auch gerade heißen, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht gegen uneinheitliche Entscheidungen von zwei Steuerbehörden gegenüber zwei Steuerpflichtigen spricht, auch wenn es um denselben Sachverhalt geht. Der Vertrauensschutz wird demgemäß allein im jeweiligen Steuerschuldverhältnis im Vier-Parteien-Verhältnis begründet. Zwar beziehen sich die Ausführungen von Sharpston auf den fraglichen Vertrauensschutz infolge des Handels von Finanzbehörden von zwei verschiedenen Mitgliedstaaten,1082 sodass man in Erwägung ziehen könnte, etwas anderes gelte möglicherweise für nationale Finanzbehörden. Wie bereits erwähnt, könnte man diese als „Einheit“ ansehen. Nach Sharpston „bestand immer die Möglichkeit, dass die zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats eine andere Auffassung vertreten würden und dass […] ein Klageverfahren vor den nationalen Gerichten durchgeführt und der Gerichtshof um eine verbindliche Klärung ersucht werden
1078 Das KrakVet Marek Batko sp. K.-Urteil (vgl. EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699) wird im Rahmen der Ausführungen zum Neutralitätsgrundsatz unten genauer besprochen. Siehe unten: Vierter Teil, § 3, III., 3., c). Angemerkt sei, dass der EuGH in der Rechtssache KrakVet Marek Batko sp. K keinerlei Ausführungen zum Grundsatz des Vertrauensschutzes getroffen hat. 1079 Sharpston, Schlussantrag v. 6. 2. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko sp. K., BeckRS 2020, 4788 Rz. 125. 1080 Sharpston, Schlussantrag v. 6. 2. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko sp. K., BeckRS 2020, 4788 Rz. 125. 1081 Sharpston, Schlussantrag v. 6. 2. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko sp. K., BeckRS 2020, 4788 Rz. 125. 1082 Sharpston, Schlussantrag v. 6. 2. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko sp. K., BeckRS 2020, 4788 Rz. 125.
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würde.“1083 Dies gilt jedoch gerade auch für Finanzbehörden desselben Mitgliedstaats. Auch hier ist es möglich, dass diese abweichende Rechtsauffassungen vertreten, sodass vorliegend hinsichtlich der Voraussetzung der „berechtigten Erwartung“ keine Differenzierung zwischen Finanzbehörden zweier Mitgliedstaaten und Finanzbehörden desselben Mitgliedstaats vorgenommen werden muss. c) Zuständige Behörde Gegen die Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes durch das Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis spricht auch, dass in diesem Fall gerade nicht die „zuständige Behörde“1084 tätig geworden ist, wenn es um die Frage geht, ob bei dem am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer Vertrauensschutz begründet wurde. Auch wenn für die Unternehmer dieselbe Finanzbehörde zuständig ist, ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht betroffen, da es an dem Erfordernis der berechtigten Erwartung fehlt, wie oben erläutert wurde.
3. Zwischenergebnis Die umsatzsteuerrechtliche Entscheidung, die durch die Finanzbehörde des Leistenden gegenüber dem Leistenden erfolgt, begründet keinen Vertrauensschutz des Leistungsempfängers gegenüber seiner Finanzbehörde.1085 Gleiches gilt umgekehrt.1086 Dies gilt auch bei Zuständigkeit derselben Finanzbehörde für die Unternehmer. Erfolgt eine widersprüchliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers ist der europäische Grundsatz des Vertrauensschutzes mithin nicht verletzt.1087
III. Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer Die Europäische Kommission war in der Rechtssache ADV Allround der Auffassung, dass das nationale Verfahrensrecht Sorge dafür zu tragen habe, dass ein und derselbe Umsatz beim Leistenden und beim Leistungsempfänger nicht wider-
1083 Sharpston, Schlussantrag v. 6. 2. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko sp. K., BeckRS 2020, 4788 Rz. 125. 1084 EuGH v. 18. 11. 2020 – C-371/19 – Kommission/Deutschland, DStR 2020, 2671 Rz. 95. 1085 A. A. tendenziell FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); a. A. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1086 A. A. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1087 A. A. tendenziell FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); a. A. wohl auch von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816).
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sprüchlich beurteilt werde.1088 Erforderlich sei eine „Koordination“ der nach nationalem Recht zuständigen Steuerbehörden und Spruchkörpern.1089 Zur Begründung hierzu führte die Europäische Kommission den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer an.1090 Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten finde dort ihre Grenzen, wo das grundlegende Recht auf Vorsteuerabzug beziehungsweise das auf Vorsteuererstattung gefährdet werde.1091 Dieses diene „der vollständigen Entlastung der Unternehmen von der Last der im Laufe ihrer sämtlichen wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer und damit der Gewährleistung der vollständigen Neutralität der Besteuerung sämtlicher wirtschaftlicher Tätigkeiten“.1092 Die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit verpflichte die Mitgliedstaaten zu verhindern, dass Unternehmern infolge widersprüchlicher Entscheidungen der Steuerbehörden der vollständige Vorsteuerabzug beziehungsweise die vollständige Vorsteuererstattung versagt werde, obwohl die Steuer gesetzlich geschuldet sei.1093 Auch das FG Hamburg war in der Rechtssache ADV Allround der Ansicht, dass der zusätzliche Verwaltungsaufwand, der für die Finanzbehörden aufkommen würde, wenn das Verfahrensrecht eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer gewährleisten würde, zwar gegen eine solche Gewährleistung spreche.1094 Jedoch spreche erheblich für die Gewährleistung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer.1095 Ob der europäische Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer die Mitgliedstaaten zur Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer verpflichtet, wird im Folgenden beleuchtet.
1088 Vgl. Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 48. 1089 Vgl. Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 50. 1090 Vgl. Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 49. 1091 Vgl. Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 49. 1092 Vgl. Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 49. 1093 Vgl. Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 50. 1094 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 1095 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1122); ebenso von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815); Weimann, UStB 2010, 350 (350).
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1. Ursprung in der 1. EG-Richtlinie – Grundlegendes Prinzip des Mehrwertsteuerrechts Von der Mehrwertsteuersystemrichtlinie wird zwar nicht ausdrücklich geregelt, dass eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers hinsichtlich der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht ein und desselben Umsatzes durch die für sie zuständigen Finanzbehörden zu erfolgen hat.1096 Im 5., 7. und 30. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuersystemrichtlinie wird allerdings ausdrücklich angeordnet, dass der Neutralitätsgrundsatz zu wahren ist.1097 Bereits im 5. und 8. Erwägungsgrund der 1. EG-Richtlinie1098 ist der Neutralitätsgrundsatz zu finden.1099 Damit lässt sich der Neutralitätsgrundsatz nicht auf eine bestimmte Vorschrift zurückführen.1100 Vielmehr beruft sich der EuGH bei der Herleitung des Neutralitätsgrundsatzes auf die Erwägungsgründe der 1. EG-Richtlinie.1101 Hier heißt es im 5. Erwägungsgrund der 1. EG-Richtlinie: „Die größte Einfachheit und Neutralität eines Mehrwertsteuersystems wird erreicht, wenn die Steuer so allgemein wie möglich erhoben wird und wenn ihr Anwendungsbereich alle Produktions- und Vertriebsstufen sowie den Bereich der Dienstleistungen umfaßt“.1102 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH verkörpert der Neutralitätsgrundsatz ein grundlegendes Prinzip des Mehrwertsteuerrechts.1103 Der Neutralitätsgrundsatz ist ein steuerspezifischer allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts.1104 Der Neutralitätsgrundsatz besteht sowohl bei Eingangs- als auch bei Ausgangsumsätzen,1105 sodass der Neutralitätsgrundsatz genau genommen zwei Grundsätze umfasst1106. Zu beachten ist es, dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer auf Ausgangsseite Primärrechtsrang hat, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht 1096 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 34; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 1097 Kußmaul/Naumann, StB 2015, 317 (319). 1098 Richtlinie 67/227/EWG v. 11. 4. 1967, Abl. EG Nr. L 71, 1301. 1099 Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, Vor UStG Einführung Rz. 4. 1100 Nieuwenhuis, UR 2013, 663 (663). 1101 EuGH v. 1. 4. 1982 – C-89/81 – Hong-Kong Trade Development, Slg. 1982, 01277 Rz. 6; Nieuwenhuis, UR 2013, 663 (663). 1102 Richtlinie 67/227/EWG v. 11. 4. 1967, Abl. EG Nr. L 71, 1301 (1302, 5. Erwägungsgrund). 1103 Siehe z. B. EuGH v. 19. 9. 2000 – C-454/98 – Schmeink & Cofreth und Strobel, DStRE 2000, 1166 Rz. 59; EuGH v. 10. 4. 2008 – C-309/06 – Marks & Spencer plc, IStR 2008, 665 Rz. 47; siehe auch Generalanwältin Kokott, Schlussantrag v. 30. 11. 2017 – C-8/17 – Biosafe, MwStR 2018, 130 Rz. 42. 1104 Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 8 Rz. 12. 1105 Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, Vor UStG Einführung Rz. 5 ff.; Lohse, UR 2004, 582 (583). 1106 Hidien, MwStR 2020, 210 (212 f.); Hummel, EuR 2010, 309 (312); Klenk, in: Sölch/ Ringleb, UStG, Einf. Rz. 10.
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
jedoch auf Eingangsseite.1107 Ungeachtet des Primärrechtsranges des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer geht dieser dem nationalen Recht als unmittelbar anwendbares Recht vor.1108 Er genießt mithin Anwendungsvorrang.1109 Überdies ist der Steuerpflichtige zur unmittelbaren Berufung auf den Neutralitätsgrundsatz befugt.1110
2. Neutralitätsgrundsatz auf Ausgangsseite Auf der Ausgangsseite fordert der Neutralitätsgrundsatz Wettbewerbsneutralität.1111 Die Wettbewerbsneutralität gebietet, dass gleichartige Umsätze steuerrechtlich gleich behandelt werden.1112 Durch den Neutralitätsgrundsatz auf Ausgangsseite kommt im Umsatzsteuerrecht der primärrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung zum Ausdruck (Art. 20 GRCh).1113 So heißt es im 8. Erwägungsgrund der 1. EG-Richtlinie: „Die Ersetzung der in den meisten Mitgliedstaaten geltenden kumulativen Mehrphasensteuersysteme durch das gemeinsame Mehrwertsteuersystem muß […] eine Wettbewerbsneutralität in dem Sinne bewirken, daß gleichartige Waren innerhalb der einzelnen Länder ungeachtet der Länge des Produktions- und Vertriebswegs steuerlich gleich belastet werden […]“.1114 Auch nach ständiger Rechtsprechung des EuGH „lässt es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität insbesondere nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln“.1115 1107 Dies liegt daran, dass der Neutralitätsgrundsatz auf Eingangsseite nicht auf dem Primärrecht (bzw. Gleichheitssatz) beruht. Siehe Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 8 Rz. 494. 1108 Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 8 Rz. 494. 1109 Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 8 Rz. 494. 1110 EuGH v. 11. 4. 2013 – C-138/12 – Rusedespred, DStR 2013, 857 Rz. 40; von Streit/ Streit, UR 2018, 813 (814); von Streit/Streit, UStB 2017, 57 (60). 1111 Hummel, EuR 2010, 309 (312); zur Wettbewerbsneutralität ausführlich siehe Zirkl, Die Neutralität der Umsatzsteuer als europäisches Besteuerungsprinzip, S. 96 ff. 1112 Lohse, UR 2004, 582 (583). 1113 EuGH v. 10. 4. 2008 – C-309/06 – Marks & Spencer plc, IStR 2008, 665 Rz. 49; EuGH v. 31. 1. 2013 – C-643/11 – LVK – 56, HFR 2013, 361 Rz. 55; EuGH v. 14. 6. 2017 – C-38/16 – Compass Contract Services, DStRE 2017, 1516 Rz. 24; EuGH v. 27. 6. 2018 – C-459/17 u. C460/17 – SGI und Valériane SNC, MwStR 2018, 712 Rz. 44; Heuermann, MwStR 2017, 729 (730); Klenk, in: Sölch/Ringleb, UStG, Einf. Rz. 10. 1114 Richtlinie 67/227/EWG v. 11. 4. 1967, Abl. EG Nr. L 71, 1301 (1302, 8. Erwägungsgrund). 1115 EuGH v. 27. 4. 2006 – C-443/04 u. C-444/04 – H. A. Solleveld, J. E. van den Hout-van Eijnsbergen, DStRE 2007, 377 Rz. 39, EuGH v. 10. 11. 2011 – C-259/10 u. C-260/10 – The Rank Group, BeckRS 2011, 81607 Rz. 32; EuGH v. 5. 3. 2020 – C-48/19 – X-GmbH, DStR 2020, 550 Rz. 45.
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Eine Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes auf Ausgangsseite kommt mithin allein dann in Frage, wenn gleichartige Umsätze konkurrierender Wirtschaftsteilnehmer unterschiedlich behandelt werden.1116 Infolgedessen sind gleichartige Umsätze mit einem einheitlichen Steuersatz zu besteuern.1117 Bei der vorliegenden Problematik geht es um die widersprüchliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers hinsichtlich ein und desselben Umsatzes und nicht um die widersprüchliche Behandlung von gleichartigen Umsätzen konkurrierender Wirtschaftsteilnehmer. Die Wettbewerbsneutralität ist vorliegend folglich nicht betroffen.
3. Neutralitätsgrundsatz auf Eingangsseite Auf der Eingangsseite gebietet der Neutralitätsgrundsatz Belastungsneutralität.1118 Der Neutralitätsgrundsatz gewährleistet eine vollständige Entlastung der Unternehmer „von der im Rahmen [ihrer] gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer“.1119 „Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst der Mehrwertsteuer unterliegen“.1120 Auf der Eingangsseite gebietet der Neutralitätsgrundsatz demnach die Belastungsfreiheit unternehmerischer Leistungsbezüge.1121 Es darf keine endgültige Belastung der Unternehmer mit der Mehrwertsteuer entstehen.1122 Denn die Unternehmer sind bloße „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates“1123.1124
1116
EuGH v. 10. 4. 2008 – C-309/06 – Marks & Spencer plc, IStR 2008, 665 Rz. 49. EuGH v. 10. 4. 2008 – C-309/06 – Marks & Spencer plc, IStR 2008, 665 Rz. 47; Lohse, UR 2004, 582 (585). 1118 EuGH v. 27. 11. 2003 – C-497/01 – Zita Modes, IStR 2004, 53 Rz. 38; Hidien, MwStR 2020, 210 (213); zur Belastungsneutralität ausführlich Zirkl, Die Neutralität der Umsatzsteuer als europäisches Besteuerungsprinzip, S. 61 ff. 1119 EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 u. C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, DStR 2006, 1274 Rz. 48; EuGH v. 12. 4. 2018 – C-8/17 – Biosafe, DStR 2018, 787 Rz. 28 u. 43. 1120 Wortzitat aus EuGH v. 15. 12. 2005 – C-63/04 – Centralan Property, IStR 2006, 52 Rz. 51; so auch EuGH v. 27. 11. 2003 – C-497/01 – Zita Modes, IStR 2004, 53 Rz. 38; EuGH v. 15. 9. 2016 – C-516/14 – Barlis 06, DStR 2016, 2216 Rz. 39. 1121 Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, Vor UStG Einführung Rz. 5. 1122 Generalanwältin Kokott, Schlussantrag v. 30. 11. 2017 – C-8/17 – Biosafe, MwStR 2018, 130 Rz. 43. 1123 Wortzitat aus EuGH v. 20. 10. 1993 – C-10/92 – Balocchi, BeckRS 2004, 74023 Rz. 25; so auch EuGH v. 21. 2. 2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, EuZW 2008, 286 Rz. 21. 1124 Hidien, MwStR 2020, 210 (213); Hummel, EuR 2010, 309 (312). 1117
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Hergestellt wird die Belastungsneutralität durch das Recht auf Vorsteuerabzug.1125 Das Recht auf Vorsteuerabzug ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ein fundamentaler Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems.1126 Es ist „integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden“.1127 Überdies kann das Recht auf Vorsteuerabzug ,,für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden“.1128 Bei dem Problem der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers könnte der Neutralitätsgrundsatz auf Eingangsseite betroffen sein.1129 Denn es besteht ein Widerspruch zum Neutralitätsgrundsatz, sofern die Umsatzsteuer für einen der am umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer aufgrund widersprüchlicher Entscheidungen der Finanzbehörden im Ergebnis zu einer effektiven Belastung wird.1130 Dass sowohl dem Leistenden als auch dem Leistungsempfänger die Gefahr droht, dass sie die Umsatzsteuer aufgrund sich widersprechender Beurteilungen desselben Sachverhalts selbst tragen müssen1131, wurde im ersten Teil dargelegt. a) Rs. ADV Allround aa) Feststellungen des EuGH zum Neutralitätsgrundsatz In der Rechtssache ADV Allround zeigte der EuGH auf, wann der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer nach seiner Ansicht verletzt wird.1132 1125
EuGH v. 14. 2. 1985 – C-268/83 – Rompelman / Minister van Financiën, Slg. 1985, 655 Rz. 19; EuGH v. 27. 1. 2003 – C-497/01 – Zita Modes Sárl, DStR 2003, 2220 Rz. 38; EuGH v. 15. 12. 2005 – C-63/04 – Centralan Property, IStR 2006, 52 Rz. 51; EuGH v. 12. 7. 2012 – C284/11 – EMS-Bulgaria Transport, DStRE 2013, 102 Rz. 43; Fleckenstein-Weiland, in: Wäger, UStG, § 15 Rz. 14; Heidner, in: Bunjes, UStG, § 15 Rz. 6; Heuermann, MwStR 2017, 729 (730); Lohse, UR 2004, 582 (582). 1126 EuGH v. 9. 9. 2004 – C-269/03 – Vermietungsgesellschaft Objekt Kirchberg, IStR 2004, 716 Rz. 19; EuGH v. 21. 11. 2018 – C-664/16 – Va˘ dan, DStR 2018, 2524 Rz. 37. 1127 EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 u. C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, DStR 2006, 1274 Rz. 47; EuGH v. 12. 7. 2012 – C-284/11 – EMS-Bulgaria Transport, DStRE 2013, 102 Rz. 44. 1128 EuGH v. 21. 11. 2018 – C-664/16 – Va˘ dan, DStR 2018, 2524 Rz. 37. 1129 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1122); Sterzinger, UR 175 (183); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815); Weimann, UStB 2010, 350 (350); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222); Zirkl, Die Neutralität der Umsatzsteuer als europäisches Besteuerungsprinzip, S. 93. 1130 Dodos, MwStR 2015, 329 (333); Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 1131 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 1132 Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (8); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); Sterzinger, UR 2012, 175 (183).
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Nach Ansicht des EuGH „wird“ der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer verletzt und damit „könnte“ gegen die Verpflichtungen des Mitgliedstaats aus der Mehrwertsteuersystemrichtlinie verstoßen werden, wenn sich herausstellt, „dass – auch ohne dass Fragen nach der Auslegung oder Gültigkeit vorgelegt wurden oder in dem Fall, dass sich die zuständigen Gerichte sogar weigern, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung über die Auslegung oder die Gültigkeit des Unionsrechts zu ersuchen – verschiedene Behörden und/oder Gerichte eines Mitgliedstaats weiterhin systematisch unterschiedliche Auffassungen über die Anknüpfung ein und derselben Dienstleistung in Bezug auf den Leistungserbringer einerseits und den Leistungsempfänger andererseits vertreten“.1133 Eine etwaige Verletzung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer erklärte der EuGH wie folgt: „Selbst wenn nämlich in Art. 17 Abs. 1, 2 Buchst. a und 3 Buchst. a sowie in Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie [(inzwischen Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 169 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a Richtlinie 2006/ 112)] der konkrete Inhalt der zur Sicherstellung der korrekten Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität zu ergreifenden administrativen oder sonstigen Maßnahmen nicht genau festgelegt ist, binden diese Vorschriften die Mitgliedstaaten gleichwohl hinsichtlich des zu erreichenden Ziels,1134 wobei sie ihnen zugleich bei der Bewertung der Erforderlichkeit solcher Maßnahmen einen Spielraum belassen.“1135 Schließlich antwortete der EuGH auf die zweite Vorlagefrage, „dass Art. 17 I, II lit. a und III lit. a sowie Art. 18 I lit. a der Sechsten Richtlinie [(inzwischen: Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 169 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a Richtlinie 2006/112)] dahin auszulegen sind, dass sie den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, ihr nationales Verfahrensrecht so zu gestalten, dass die Steuerbarkeit und die Mehrwertsteuerpflicht einer Dienstleistung beim Leistungserbringer und beim Leistungsempfänger in kohärenter Weise beurteilt werden, auch wenn für sie verschiedene Finanzbehörden zuständig sind. Diese Bestimmungen verpflichten die Mitgliedstaaten jedoch, die zur Sicherstellung der korrekten Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität erforderlichen Maßnahmen zu treffen.“1136
1133
EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 43, Hervorhebung durch die Verfasserin dieser Untersuchung. 1134 Zur Pflicht der vollständigen Erreichung des Richtlinienziels siehe bereits oben: Vierter Teil, § 1, I., 2. 1135 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 44. 1136 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45 u. Tenor zu 2.
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
bb) Analyse des ADV Allround-Urteils (1) Kein Eingriff in das nationale Verfahrensrecht Im Ergebnis hat der EuGH festgestellt, dass keine europarechtliche Pflicht für die Mitgliedstaaten besteht, Vorkehrungen zur Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im nationalen Verfahrensrecht vorzunehmen.1137 Weder die Mehrwertsteuersystemrichtlinie explizit,1138 noch der Effektivitätsgrundsatz1139 oder der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer1140 erlegen den Mitgliedstaaten eine europarechtliche Pflicht hierzu auf. Damit greift der EuGH im Ergebnis nicht in das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten ein.1141 (2) Einfluss durch den Neutralitätsgrundsatz auf das nationale Verfahrensrecht Das FG Münster ist in seinem Gerichtsbescheid vom 7. 4. 2020 der Ansicht, dass der EuGH im ADV Allround-Urteil den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer infolgedessen dahingehend einschränkt, dass die vorstehende Pflicht für die Mitgliedstaaten nicht besteht.1142 Zu beachten gilt es indes, dass der EuGH die Mitgliedstaaten deutlich auf die Geltung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer hinweist.1143 Festgestellt hat der EuGH trotz Ablehnung der vorgenannten Pflicht, dass das nationale Verfahrensrecht eine „korrekte[…] Erhebung der Mehrwertsteuer und […] [die] Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität“1144 zu gewährleisten hat. Allein die Ausgestaltung der hierzu „erforderliche[n] Maßnahmen“ sei grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten1145 wie auch schon die „Bewertung der Erforderlichkeit solcher Maßnahmen“1146. Grund hierfür ist, dass in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie keine genaue Regelung zum „konkrete[n] Inhalt der zu ergreifenden ad1137
EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45; FG Münster v. 7. 4. 2020 – 15 K 3019/17 U, DStRE 2020, 1396 RZ. 30; Burgmaier, UR 2012, 175 (181); Dodos, MwStR 2015, 329 (333); Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (217); Monfort, UR 2020, 549 (557); Nieskens, MwStR 2015, 243 (244); Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 18 Rz. 450; Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 220; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 1138 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 34 u. 44. 1139 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 37 ff. 1140 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 43 ff. 1141 Burgmaier, UR 2012, 175 (182). 1142 FG Münster v. 7. 4. 2020 – 15 K 3019/17 U, DStRE 2020, 1396 Rz. 30. 1143 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 44, 45 u. Tenor zu 2; Burgmaier, UR 2012, 175 (181); Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (8). 1144 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45 u. Tenor zu 2. 1145 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 1146 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 44.
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
173
ministrativen oder sonstigen Maßnahmen“1147 zu finden ist. Der EuGH zeigt mithin auf, dass dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten durch den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer Grenzen gesetzt werden.1148 Damit wird deutlich, dass der europäische Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer Einfluss auf das nationale Steuerverfahrensrecht hat.1149 Einen Einfluss auf das nationale Verfahrensrecht durch den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer hatte der Generalanwalt Mazák in seinem Schlussantrag1150 in der Sache ADV Allround hingegen in diesem Zusammenhang noch unerwähnt gelassen.1151 Das heißt, dass der EuGH erkennbar von den Vorschlägen des Generalanwalts Mazák abgewichen ist, indem er bewusst über dessen Vorschläge hinausging.1152 (3) Ausreichende Instrumentarien für eine widerspruchsfreie Behandlung Im ADV Allround-Urteil war der EuGH der Ansicht, dass das deutsche Verfahrensrecht den vorgenannten Anforderungen an eine „korrekte[…] Erhebung der Mehrwertsteuer und […] [die] Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität“1153 gerecht werde.1154 Denn die Unternehmer könnten eine korrekte und einheitliche Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie mit Hilfe des gerichtlichen Rechtsschutzes durchsetzen.1155 Eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts werde nämlich letztlich durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV sichergestellt.1156 Dieses Verfahren sei Kernstück der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH.1157 Nach Ansicht des EuGH stehen demnach alle erforderlichen Instrumentarien zur Verfügung, um im Ergebnis widerspruchsfrei lautende Verwaltungsentscheidungen
1147
EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 44; siehe hierzu auch Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 1148 Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222. 1149 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222); vgl. dazu auch Nieuwenhuis, UR 2013, 663 (670). 1150 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 76 u. 78. 1151 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 1152 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 1153 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45 u. Tenor zu 2. 1154 von Streit, EU-UStB 2012, 38 (49); von Streit/Streit, UR 2018, 813, (815). 1155 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 41; von Streit/ Streit, UR 2018, 813 (815 f.). 1156 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 42; Burgmaier, UR 2012, 175 (181). 1157 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 41; so auch Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 62.
174
4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
zu erzielen.1158. Der materiell-rechtliche Gleichklang von Umsatzsteuer des Leistenden und Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers wird demnach nach Ansicht des EuGH bei Vorliegen von Auslegungszweifeln gegebenenfalls durch das Vorabentscheidungsverfahren hergestellt1159, und es wird damit auf diese Wiese der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer gewahrt. Der EuGH hat dem Leistenden und dem Leistungsempfänger dementsprechend im Ergebnis keinen generellen Anspruch auf einheitliche Behandlung gegen die für sie zuständigen Finanzbehörden aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer zugesprochen.1160 (4) Verfahrensrechtliches Problem Damit kann auch festgestellt werden, dass es sich bei dem Problem einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers um ein verfahrensrechtliches Problem und nicht um ein materiell-rechtliches Problem handelt.1161 Denn wenn die Mehrwertsteuersystemrichtlinie korrekt und einheitlich angewandt wird, wird die Neutralität der Mehrwertsteuer gewahrt.1162 Auch nach Ansicht der deutschen Regierung in der Rechtssache ADV Allround sind sich „einander widersprechenden Entscheidungen […] ein althergebrachtes Organisationsproblem“1163 und damit kein materiell-rechtliches Problem. (5) Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes Das Ziel der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH, welches durch das Vorabentscheidungsverfahren erreicht wird, und die damit einhergehende einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts wird allerdings nicht erreicht, sofern eine restriktive Vorlagepraxis der Mitgliedstaaten herrscht.1164. Diese Auffassung teilt auch der EuGH und stellte im ADV Allround1158
Weimann, UStB 2012, 176 (177). Martin, BFH/PR 2012, 203. 1160 Trinks, nwb Experten-Blog 2015, https://www.nwb-experten-blog.de/muessen-leisten der-und-empfaenger-umsatzteuerlich-gleich-behandelt-werden/ [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. 1161 Das Problem einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers ebenfalls als verfahrensrechtliches Problem einstufend Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1175); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (14); Burgmaier/Sterzinger, UR 2012, 175 (181); Heinrichshofen, UStB 2013, 36 (37); Liebgott, UR 2017, 49 (56); MeyerBurow/Connemann, UStB 2016, 214 (217); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); Prätzler, jurisPR-SteuerR 32/2010 Anm. 5; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (49); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815); Weimann, UStB 2010, 350 (350). 1162 Vgl. dazu EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 50. 1163 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 54. 1164 Burgmaier, UR 2012, 175 (181). 1159
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
175
Urteil klar,1165 dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer bereits dann1166 verletzt werde, wenn „verschiedene Behörden und/oder Gerichte eines Mitgliedstaats weiterhin systematisch unterschiedliche Auffassungen über die Anknüpfung ein und derselben Dienstleistung in Bezug auf den Leistungserbringer einerseits und den Leistungsempfänger andererseits vertreten“1167. Damit verdeutlicht der EuGH, dass der Leistende und der Leistungsempfänger im Ergebnis nicht widersprüchlich behandelt werden dürfen.1168 Damit der Grundsatz der Neutralität nicht verletzt wird, müssen im Ergebnis widerspruchsfreie Entscheidungen getroffen werden.1169 Damit kann festgestellt werden, dass der EuGH anders als der Generalanwalt Mazák in seinem Schlussantrag1170 die möglicherweise bestehende Erforderlichkeit gesehen hat, Maßnahmen im nationalen Verfahrensrecht dafür zu treffen, dass keine widersprüchliche Behandlung der Unternehmer erfolgt.1171 Solche Maßnahmen seien gerade erforderlich, wenn von einer Vorlage an den EuGH abgesehen werde oder „in dem Fall, dass sich die zuständigen Gerichte sogar weigern, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung über die Auslegung oder die Gültigkeit des Unionsrechts zu ersuchen“1172.1173 b) Verfahrensrechtliche Vorkehrungen erforderlich Auch wenn nach Auffassung des EuGH keine europarechtliche Pflicht dazu besteht, Vorkehrungen im nationalen Verfahrensrecht zu treffen, um eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers durch ihre Finanzbehörden zu gewährleisten,1174 wird im Folgenden aufgezeigt, weshalb verfahrensrechtliche Vorkehrungen hierzu indes erforderlich1175 sind. 1165 1166
dann“. 1167
Burgmaier, UR 2012, 175 (181). Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (8); vgl. aber Sterzinger, UR 2012, 175 (183): „erst
EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 43, Hervorhebung durch die Verfasserin dieser Untersuchung. 1168 Burgmaier, UR 2012, 175 (182); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 221. 1169 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (18); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 221. 1170 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 76 u. 78. 1171 Burgmaier, UR 2012, 175 (182). 1172 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 43. 1173 Burgmaier, UR 2012, 175 (181). 1174 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45; Dodos, MwStR 2015, 329 (333); Nieskens, MwStR 2015, 243 (244). 1175 Burgmaier, UR 2012, 175 (180 f.); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (18); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (49); von Streit/ Streit, UR 2018, 813 (816); Weinschütz, EuZW 2012, 2019 (222); a. A. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 451.
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
Die Beantwortung der Frage, ob1176 und wenn ja, welche1177 verfahrensrechtliche(n) Vorkehrungen als erforderlich zu bewerten sind, um den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer zu wahren, unterliegt dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten. Für eine verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers spricht zunächst, dass sich vor Augen gehalten werden muss, dass das Mehrwertsteuerrecht zwar harmonisiert ist, jedoch nicht frei von Rechtsfragen ist, mithin stets Rechtsunsicherheiten1178 bestehen können, sodass widersprüchliche Entscheidungen sowohl der Finanzbehörden1179 als aber auch der Finanzgerichte1180 in vielen Fällen1181 denkbar sind. Divergenzen beziehungsweise Rechtsunsicherheiten im Umsatzsteuerrecht entstehen beispielsweise deshalb, weil im Umsatzsteuerrecht ein Gemisch aus Rechtsquellen beachtet werden muss.1182 Zu beachten ist zum Beispiel neben der Mehrwertsteuersystemrichtlinie die Mehrwertsteuer-Durchführungsverordnung oder die „VAT/GST Guidelines“1183, wobei letztere keine Rechtsverbindlichkeit entfalten.1184 Jedoch stellte der Generalanwalt Mazák gerade fest, dass „es offenkundig nicht Ziel dieses durch Art. 267 AEUV eingeführten Systems der gerichtlichen Zusammenarbeit [ist], eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in allen Einzelfällen und auf allen Ebenen der Gerichtsbarkeit herbeizuführen, und erst recht nicht, sämtliche Widersprüche zwischen den nationalen Behörden […] zu verhindern“.1185 Wenn es – dem Generalanwalt Mazák zustimmend – nicht Aufgabe des Vorabentscheidungsverfahrens ist, sämtliche widersprüchliche Entscheidungen zwischen den nationalen Finanzbehörden zu verhindern, solche jedoch im Endergebnis auch nicht stehen bleiben dürfen,1186 wie werden die zahlreich möglichen 1176 1177
S. 222. 1178
EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 44. Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis,
Siehe dazu Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 1 Rz. 22 ff. Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 219. 1180 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (14). 1181 Zu Beispielen siehe bereits oben Erster Teil, § 1, III., 3.; siehe auch Stadie, in: Rau/ Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 949; Weimann, UStB 2010, 350 (350); siehe zur Alltäglichkeit von divergierenden Auslegungen auch Mateev, MwStR 2020, 699 (706). 1182 Generell siehe Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 1 Rz. 24. Zu den weiteren Gründen für bestehende Rechtsunsicherheiten siehe auch dort. 1183 OECD (2017), International VAT/GST Guidelines, OECD Publishing, Paris. http://dx. doi.org/10.1787/9789264271401-en [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]. 1184 Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 1 Rz. 24 u. 42. 1185 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 66. 1186 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45 u. Tenor zu 2; Burgmaier, UR 2012, 175 (182); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 221. 1179
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
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widersprüchlichen Endergebnisse dann verhindert, wenn es keine Vorkehrungen auf nationaler Ebene gibt? Der Generalanwalt Mazák stellte allerdings auch fest, dass die „einheitliche Anwendung und Auslegung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte […] in dem jeweiligen gesamten Mitgliedstaat durch die entsprechende Gerichtsbarkeit und in letzter Instanz durch ein Ersuchen an den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu gewährleisten“ ist.1187 Der EuGH ist Inhaber der Entscheidungshoheit hinsichtlich dessen, wie die Mehrwertsteuersystemrichtlinie auszulegen ist.1188 Nach jetziger Rechtslage kann eine widerspruchsfreie Behandlung demnach nur folgendermaßen erreicht werden:1189 Sowohl der Leistende als auch der Leistungsempfänger müssen Einspruch und sodann Klage erheben1190, und es muss zusätzlich in beiden Verfahren zur Vorlage an den EuGH kommen.1191 Ein einheitliches Ergebnis wäre damit erst aufgrund der Entscheidung des EuGH erzielt.1192 Dass beide Unternehmer den Rechtsweg bis zum EuGH bestreiten müssten, um eine widerspruchsfreie Behandlung zu erreichen, ist zunächst deshalb erforderlich, weil die jeweils andere Finanzbehörde, wie im ersten Teil geprüft wurde,1193 nach jetziger Rechtslage nicht am Verfahren derart beteiligt werden kann, dass die Entscheidung in dem Verfahren einer der beiden Unternehmer auch Bindungswirkung für das andere Steuerschuldverhältnis entfaltet. Den Weg bis zum EuGH bestreiten zu müssen, ist ferner erforderlich, weil die Finanzgerichte ebenfalls widersprüchlich entscheiden können.1194 Das Ergebnis einer widerspruchsfreien Behandlung durch den vorstehenden beschriebenen Weg wird allerdings zunächst nicht erreicht, wenn die Gerichte dem EuGH keine Fragen zur Auslegung der Bestimmungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie vorlegen.1195 Eine Verpflichtung zur Vorlage von Fragen an den EuGH besteht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV grundsätzlich1196 nur für letztinstanzliche Gerichte. Außerdem kann der Steuerpflichtige selbst ein Vorabentscheidungsverfahren
1187 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 67; so auch EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 41 f. 1188 Mateev, MwStR 2020, 699 (706). 1189 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 1190 Siehe auch Heinrichshofen, EU-UStB 2011, 51 (52), wonach derselbe Sachverhalt bei divergierenden Senaten des BFH anhängig sein könnte. 1191 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 1192 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 1193 Siehe dazu oben: Erster Teil, § 3, VI. 1194 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (14). 1195 Burgmaier, UR 2012, 179 (181); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222. 1196 Zu den Ausnahmen siehe Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 267 AEUV Rz. 29 f. Diese Ausnahmen sind für die vorliegende Problematik indes unbeachtlich.
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
nach Art. 267 AEUV nicht erzwingen.1197 Auch kann es sein, dass die Nichtzulassungsbeschwerde keine ausreichende Begründung erfährt oder eine verspätete Einlegung von Rechtsmitteln erfolgt, sodass es zu keinem Vorabentscheidungsverfahren kommt.1198 Erfolgt keine Vorlage an den EuGH, kann es im Ergebnis bei der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers verbleiben und infolgedessen bei der Gefahr einer endgültigen Belastung der Unternehmer mit der Umsatzsteuer.1199 Demnach sind Vorkehrungen im nationalen Recht schon deshalb erforderlich, weil es Fälle gibt, in denen es zu keiner Vorlage an den EuGH kommt.1200 Dass dies der Fall sein kann, hat der EuGH in der Rechtssache ADV Allround explizit festgestellt.1201 Es besteht jedoch gerade ein Widerspruch zum Neutralitätsgrundsatz, sofern die Umsatzsteuer für einen der am umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer aufgrund widersprüchlicher Entscheidungen der Finanzbehörden im Ergebnis zu einer effektiven Belastung wird.1202 Im ersten Teil wurde anhand der gegenwärtig bestehenden Regelungen des UStG untersucht und belegt, dass es aufgrund eines Widerstreits zu einer Effektivbelastung der Unternehmer mit der Umsatzsteuer kommen kann. Damit folgt die Erforderlichkeit der verfahrensrechtlichen Vorkehrungen aus dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer (Belastungsneutralität).1203 Außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass der Betroffene zum Zeitpunkt einer Entscheidung des EuGH, wie das ADV Allround-Urteil zeigt, bereits insolvent ist.1204 Der Weg zum EuGH ist lang.1205 Den aufgezeigten Weg bis zum EuGH zu bestreiten, bedeutet für die Unternehmer überdies das Entstehen von (mögli-
1197
So Mateev, MwStR, 2020, 699 (705) in seiner Anmerkung zu EuGH v. 18. 6. 2020 – C276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699; generell zur fehlenden Möglichkeit der Herbeiführung durch den Steuerpflichtigen vgl. Heidner, UR 2003, 69 (74). Nach Heidner besteht für den Steuerpflichtigen allein die Möglichkeit, das nationale Gericht von einer Vorlage an den EuGH zu überzeugen. 1198 Martin, BFH/PR 2012, 203. 1199 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); siehe auch Mateev, MwStR 2020, 699 (706). 1200 Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222; siehe auch Mateev, MwStR 2020, 699 (706). 1201 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 43; Burgmaier, UR 2012, 175 (182). 1202 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1203 Burgmaier, UR 2012, 175 (180 f.); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (18); Weinschütz, EuZW 2012, 2019 (222). 1204 So von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). Hinsichtlich weiterer Argumente siehe dort. 1205 Kettisch, UR 2014, 593 (607 Fn. 172); Mateev, MwStR, 2020, 699 (705).
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
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cherweise hohen) Verfahrenskosten.1206 Durch das Entstehen von Verfahrenskosten wird der Unternehmer mittelbar im Rahmen des Prozesses der Erhebung der Mehrwertsteuer belastet, wobei gerade „Belastungsneutralität“ bestehen soll. Liegt für die Unternehmer erkennbar ein Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis vor, könnte für sie die Vorstellung, den Widerstreit nur durch ein Urteil des EuGH auflösen zu können, daran hindern, überhaupt eine Auflösung des Widerstreits anzustreben. Gerade für kleine Unternehmer oder Start-up-Unternehmen können die auf sie zukommenden, für sie möglicherweise nicht kalkulierbaren Verfahrenskosten daran hindern, den Widerstreit auf rechtlichem Wege aufzulösen. Kleine Unternehmen oder Start-up-Unternehmen verfügten möglicherweise nicht über die finanziellen Mittel, sich von Rechtsanwälten oder Steuerberatern umfassend beraten zu lassen, wenn ein Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis vorliegt. Handelt es sich um redliche Unternehmer, sollte man diesen im nationalen Verfahrensrecht schon die Möglichkeit eröffnen, widersprüchliche Entscheidungen ihnen gegenüber zu beseitigen, da für sie die Problematik im Kern nicht aufgrund falscher umsatzsteuerrechtlicher Beurteilungen ihrerseits beruht, sondern aufgrund des Widerstreits. Die redlichen Unternehmer stehen „zwischen den Stühlen“. Die Unternehmer müssen in all den Fällen widerstreitender Entscheidungen „raten“, welche der beiden Entscheidung nun richtig ist. Dies kann sich aufgrund der Komplexität1207 der umsatzsteuerrechtlichen Normen als schwierig erweisen. Zwar können stets Verfahrenskosten entstehen, wenn man sein Recht gerichtlich erstreiten muss. Allerdings sei an dieser Stelle auch an die schon zu Anfang dieser Arbeit erfolgte Feststellung1208 erinnert, dass im Umsatzsteuerrecht die Besonderheit besteht, dass die Unternehmer im Rahmen des umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustausches1209 „nur die Funktion zwangsverpflichteter Gehilfen des Staates bei der Besteuerung der Verbraucher [haben]. [Sie] werden […] lediglich als „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates tätig“1210, indem sie „öffentliche Gelder“ vereinnahmen, so dass sie die Steuer auch nicht zeitweilig belasten darf, weil sie nur verpflichtet sind, „die Steuer für Rechnung der Steuerverwaltung einzuziehen und sodann [!] an diese abzuführen“1211.
1206 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816); siehe auch Buge, EU-UStB 2020, 57 (60); Mateev, MwStR 2020, 699 (706). 1207 Beispielsweise zu den komplexen Voraussetzungen der Umkehr der Steuerschuldnerschaft vgl. Nieskens, EU-UStB 2020, 61 (61 f.). 1208 Siehe oben: Erster Teil. 1209 Das nachfolgende Zitat stammt von Stadie, MwStR 2018, 904 (907). 1210 Wortzitat aus EuGH v. 20. 10. 1993 – C-10/92 – Balocchi, BeckRS 2004, 74023 Rz. 25; so auch EuGH v. 21. 2. 2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, EuZW 2008, 286 Rz. 21. 1211 EuGH v. 24. 10. 1996 – C-317/94 – Elida Gibbs, BeckRS 2004, 76308 Rz. 22.
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
Die vorstehende Funktion der Unternehmer als lediglich Steuereinnehmer spricht für die Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung.1212 Eine verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer führt auch nicht dazu, dass dem EuGH die Entscheidungshoheit1213 hinsichtlich dessen, wie die Mehrwertsteuersystemrichtlinie auszulegen ist, genommen wird. Durch eine verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung wird allein verhindert, dass die Unternehmer aufgrund des Widerspruchs die Umsatzsteuer entgegen dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer selbst tragen müssen. Der Weg zum EuGH wird nicht abgeschnitten. Die Unternehmer könnten weiterhin gegen ihre Umsatzsteuerfestsetzungen klagen, und somit wäre weiterhin der Weg zum EuGH bei Auslegungsfragen über die Mehrwertsteuersystemrichtlinie geebnet. Nach alledem ist somit festzustellen, dass verfahrensrechtliche Maßnahmen zur Gewährung einer widerspruchsfreien umsatzsteuerrechtlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im nationalen Verfahrensrecht aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer erforderlich sind.1214 Hinsichtlich Gestaltungsvorschlägen diesbezüglich ist auf den fünften Teil und sechsten Teil dieser Arbeit zu verweisen. c) Rs. KrakVet Marek Batko In der Rechtssache KrakVet Marek Batko vom 18. 6. 2020 sollte der EuGH beantworten, ob die Finanzbehörden zweier Mitgliedstaaten hinsichtlich ein und desselben Umsatzes grenzüberschreitend kooperieren müssen und eine gemeinsame Einigung dahingehend erzielen müssen, wie ein und derselbe Umsatz umsatzsteuerrechtlich behandelt wird.1215 Die umsatzsteuerrechtliche Behandlung des Leistenden durch die Finanzbehörde eines Mitgliedstaats könnte für Finanzbehörden anderer Mitgliedstaaten verbindlich sein.1216 Zwar geht es in der Rechtssache KrakVet Marek Batko um das Problem der internationalen Doppelbesteuerung1217 eines Steuerpflichtigen und nicht um die hier vorliegende Problematik der widersprüchlichen Behandlung von zwei Steuerpflichtigen. Die Problematik der internationalen Doppelbesteuerung ergibt sich 1212
So auch von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). Mateev, MwStR 2020, 699 (706). 1214 Burgmaier, UR 2012, 175 (180 f.); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (49); von Streit/ Streit, UR 2018, 813 (816); Weinschütz, EuZW 2012, 2019 (222). 1215 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 40, zweiter Teil der zweiten Vorlagefrage. 1216 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 41; siehe auch Buge, EU-UStB 2020, 57 (57) zur Frage der Bindungswirkung. 1217 Zur Problematik siehe Ismer/Artinger, MwStR 2018, 12 (12 ff). 1213
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
181
daraus, dass ein und derselbe Sachverhalt von zwei Steuerbehörden verschiedener Mitgliedstaaten umsatzsteuerrechtlich unterschiedlich behandelt wird, sodass für den Leistenden das Risiko besteht, in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten Umsatzsteuer für dieselbe Leistung abführen zu müssen.1218 Die Problematik der internationalen Doppelbesteuerung im Umsatzsteuerrecht wird von der vorliegenden Arbeit nicht tiefergehend untersucht. Wäre die europarechtliche Pflicht zur grenzüberschreitenden Kooperation der Finanzbehörden hinsichtlich derselben Leistung zu bejahen, müsste dies jedoch erst recht für die Finanzbehörden desselben Mitgliedstaats hinsichtlich derselben Leistung gelten.1219 Aus dem vorstehenden Grund wird die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache KrakVet Marek Batko betrachtet. aa) Vorlagefragen Das Hauptstädtische Verwaltungs- und Arbeitsgericht Ungarns wollte vom EuGH mit seinen ersten drei Fragen, die zusammen geprüft wurden, wissen, „ob die Richtlinie 2006/112 [(Mehrwertsteuersystemrichtlinie)] sowie die Art. 7, 13 und 28 bis 30 der Verordnung Nr. 904/20101220 dahin auszulegen sind, dass sie es den Steuerbehörden eines Mitgliedstaats verwehren, Umsätze einseitig einer anderen mehrwertsteuerlichen Behandlung zu unterwerfen als derjenigen, nach der sie bereits in einem anderen Mitgliedstaat besteuert wurden“.1221 Insbesondere wollte das ungarische Gericht wissen, ob für die Finanzbehörden der Mitgliedstaaten die Pflicht bestehe, gemeinsam eine Rechtsfrage hinsichtlich desselben Sachverhalts beantworten zu müssen.1222 So wollte es vom EuGH geklärt wissen, ob „die Steuerbehörden beider Mitgliedstaaten zur Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität und zur Vermeidung der Doppelbesteuerung verpflichtet [sind], in Bezug auf den Umsatz des Steuerpflichtigen zusammenzuarbeiten und eine Einigung zu erzielen, damit der Steuerpflichtige nur in einem der Mitgliedstaaten die Mehrwertsteuer entrichten muss.“1223
1218
EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 41 ff. So Monfort, UR 2020, 549 (557) zur Bindungswirkung der verbindlichen Auskunft von Finanzbehörden für andere Finanzbehörden hinsichtlich desselben Sachverhalts. 1220 Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom 7. 10. 2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, Abl. 2010 Nr. 268, 1. 1221 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 41. 1222 Mateev, MwStR, 2020, 699 (705). 1223 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 40, zweiter Teil der zweiten Vorlagefrage. 1219
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
bb) Sachverhalt Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:1224 KrakVet Marek Batko, eine Gesellschaft polnischen Rechts, musste für ihre Lieferungen sowohl in Polen als auch in Ungarn Umsatzsteuer abführen. Grund für die Doppelbesteuerung waren die unterschiedlichen umsatzsteuerrechtlichen Beurteilungen der Steuerbehörde des Warenabgangsstaates und der Steuerbehörde des Bestimmungsstaates. KrakVet Marek Batko hatte sich auf die durch die polnische Finanzbehörde erfolgte umsatzsteuerrechtliche Beurteilung in einer eingeholten verbindlichen Auskunft verlassen. cc) Entscheidung des EuGH Der EuGH antwortete dem ungarischen Gericht, dass die Mehrwertsteuersystemrichtlinie sowie die Art. 7, 13 und 28 bis 30 der Verordnung Nr. 904/2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer dahingehend auszulegen seien, „dass sie es den Steuerbehörden eines Mitgliedstaats nicht verwehren, Umsätze einseitig einer anderen mehrwertsteuerlichen Behandlung zu unterwerfen als derjenigen, nach der sie bereits in einem anderen Mitgliedstaat besteuert wurden.“1225 Zur Begründung führte der EuGH Folgendes aus: Die Verordnung Nr. 904/2010 ermögliche die Schaffung „eines gemeinsamen Systems der Zusammenarbeit“ zwischen den Steuerbehörden der verschiedenen Mitgliedstaaten.1226 Es bestehe die Möglichkeit, dass die Steuerbehörde eines Mitgliedstaats die Steuerbehörde eines weiteren Mitgliedstaats um Informationen bitte, die für die Beurteilung eines Umsatzes vonnöten seien.1227 Auf mehr als auf die Ermöglichung einer Verwaltungszusammenarbeit für den Austausch von Informationen erstrecke sich die Verordnung Nr. 904/2010 allerdings nicht.1228 Eine Regelung über die Zuständigkeit der Steuerbehörden zur Beurteilung der Umsätze anhand der ausgetauschten Informationen umfasse die Verordnung nicht.1229 Aus diesem Grund begründe die Verordnung Nr. 904/2010 „weder eine Verpflichtung der Steuerbehörden zweier Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit, um zu einer gemeinsamen Lösung für die mehrwertsteuerliche Behandlung eines Umsatzes zu gelangen, noch ein Erfordernis, wonach die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats an die Einstufung 1224 Vgl. zum Sachverhalt EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 26 ff.; siehe auch Mateev, MwStR, 2020, 699 (705). 1225 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 53. 1226 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 46; vgl. hierzu auch EuGH v. 17. 12. 2015 – C-419/14 – WebMindLicenses Kft., MwStR 2016, 153 Rz. 55 – 59. 1227 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 46 – 48. 1228 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 48. 1229 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 48.
§ 3 Verfahrensrechtliche Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
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dieses Umsatzes durch die Steuerbehörden eines anderen Mitgliedstaats gebunden wären.“1230 Der EuGH stellte sodann fest, dass, sofern die Mehrwertsteuersystemrichtlinie korrekt angewandt werde, eine Doppelbesteuerung ausgeschlossen sei und die Neutralität der Mehrwertsteuer somit gewährleistet werde.1231 Wenn die Finanzgerichte mit einem Rechtsstreit befasst seien, in welchem sie feststellten, dass ein und dieselbe Leistung in einem anderen Mitgliedstaat, also von Finanzbehörden verschiedener Mitgliedstaaten, umsatzsteuerrechtlich unterschiedlich behandelt werde, seien die Finanzgerichte berechtigt oder verpflichtet (vgl. Art. 267 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV), sich per Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH zu wenden.1232 Die zu Unrecht erhobenen Steuern seien von dem Mitgliedstaat zu erstatten, der die Abgaben zu Unrecht erhoben habe.1233 Im Ergebnis werde mithin die mit der Abgabe zu Unrecht auferlegte wirtschaftliche Belastung des „Wirtschaftsteilnehmers, der sie letztlich tatsächlich getragen hat, „neutralisiert“.1234 dd) Bedeutung für die vorliegende Untersuchung Zwischen der Rechtssache ADV Allround und der Rechtssache KrakVet Marek Batko lässt sich eine Parallele ziehen.1235 Denn wie im ADV Allround-Urteil1236 stellte der EuGH in der Rechtssache KrakVet Marek Batko fest, dass, sofern ein und dieselbe Leistung umsatzsteuerrechtlich unterschiedlich von den zuständigen Finanzbehörden behandelt werde, die Finanzgerichte berechtigt oder verpflichtet (vgl. Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV) seien, sich per Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH zu wenden, sodass im Ergebnis eine widerspruchsfreie Behandlung auf Ebene des EuGH und demgemäß die Wahrung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer gewährleistet sei.1237 Die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache KrakVet Marek Batko stimmt mit der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache ADV Allround hinsichtlich der Bindungswirkung von umsatzsteuerrechtlichen Beurteilungen der Finanzbehörden überein.1238 Wenn die nationalen Finanzbehörden nach Ansicht des EuGH 1230
EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 49. EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 50. 1232 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 51. 1233 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 52; zur Erstattung zu Unrecht erhobener Abgaben durch einen der Mitgliedstaaten vgl. auch EuGH v. 20. 10. 2011 – C-94/10 – Danfoss A/S und Sauer-Danfoss ApS, BeckRS 2011, 81520 Rz. 20. 1234 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 52. 1235 Eine Parallele zwischen dem Urteil des EuGH in der Rechtssache ADV Allround und dem Urteil des EuGH in der Rechtssache KrakVet Marek Batko ziehend Monfort, UR 2020, 549 (557). 1236 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 41. 1237 EuGH v. 18. 6. 2020 – C-276/18 – KrakVet Marek Batko, MwStR 2020, 699 Rz. 50 – 52. 1238 Monfort, UR 2020, 549 (557). 1231
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
entsprechend dem ADV Allround-Urteil hinsichtlich desselben Umsatzes zunächst1239 uneinheitliche Beurteilungen treffen können, können Finanzbehörden unterschiedlicher Mitgliedstaaten erst recht zunächst unterschiedlich entscheiden.1240 Die Gründe, die für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Finanzbehörden sprechen, entsprechen mithin den Gründen1241, die für eine Zusammenarbeit der für den Leistenden und Leistungsempfänger zuständigen nationalen Finanzbehörden sprechen. So ist der Weg, beginnend mit dem Einspruchsverfahren über das Finanzgerichtsverfahren bis hin zum Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, nicht nur lang und zeitaufwendig, sondern auch kostspielig.1242 Die Klärung der Rechtsfrage, die von den Finanzbehörden in der Rechtssache KrakVet Marek Batko widersprüchlich beantwortet wurde, hat 8 Jahre Zeit in Anspruch genommen.1243 Darüber hinaus kann der Steuerpflichtige selbst ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV nicht erzwingen.1244 Demnach kann eine Doppelbesteuerung nicht allein aufgrund des Rechts des Leistenden auf Erstattung zu Unrecht erhobener Steuern vermieden werden.1245 d) Rs. Stoy trans und LVK-56 Die vorliegende Problematik einer widersprüchlichen Behandlung ist von dem Fall1246 abzugrenzen, dass eine widersprüchliche Behandlung der Unternehmer deshalb erfolgt, weil die Umsatzsteuer tatsächlich nicht gesetzlich geschuldet ist und keine Berichtigung der Rechnung durch den Leistenden vorgenommen wurde, sodass der Leistende die Steuer allein nach Art. 203 MwStSystRL (§ 14c UStG) schuldet und dem Leistungsempfänger aus diesem Grund kein Recht auf Vorsteuerabzug zuzusprechen ist.1247 Der EuGH hat in den Rechtssachen Stoy trans und LVK-56 in diesem Zusammenhang festgestellt, dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer trotz widersprüchlicher Behandlungen der Unternehmer gewahrt bleibe.1248 Der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer werde 1239
Damit der Widerstreit nicht bestehen bleibt, muss der Rechtsweg beschritten werden. Monfort, UR 2020, 549 (557). 1241 Siehe oben: Vierter Teil, § 3, III., 3., b). 1242 Mateev, MwStR, 2020, 699 (705); so auch Buge, EU-UStB 2020, 57 (60). 1243 Buge, EU-UStB 2020, 57 (60). 1244 Mateev, MwStR, 2020, 699 (705). 1245 Mateev, MwStR, 2020, 699 (705). 1246 Zu diesem Fall vgl. EuGH v. 31. 1. 2013 – C-642/11 – Stroy trans, MwStR 2013, 125 Rz. 39 ff.; EuGH v. 31. 1. 2013 – C-643/11 – LVK-56, HFR 2013, 361 Rz. 44 ff.; Leipold, in: Sölch/Ringleb, § 14c Rz. 100. 1247 So auch Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 221 Fn. 1331. 1248 EuGH v. 31. 1. 2013 – C-642/11 – Stroy trans, MwStR 2013, 125 Rz. 41 – 44; EuGH v. 31. 1. 2013 – C-643/11 – LVK-56, HFR, 361 Rz. 46 – 50. 1240
§ 4 Gesamtergebnis vierter Teil
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hier deshalb gewahrt, weil der Leistende die Rechnung mit der Folge berichtigen könne,1249 dass er im Ergebnis keine Umsatzsteuer abzuführen habe. Den vorstehenden Ausführungen des EuGH in den Rechtssachen Stoy trans und LVK-56 ist zuzustimmen. Zwar erfolgt in den vorstehenden Rechtssachen eine an sich widersprüchliche Behandlung der Unternehmer hinsichtlich der Steuerschuld des Leistenden und des Vorsteuerabzugs des Leistungsempfängers, da der Leistende Umsatzsteuer abführen hat, wohingegen dem Leistungsempfänger kein Recht auf Vorsteuerabzug für denselben Umsatz gewährt wird. Hinsichtlich der Rechtsfrage, ob die Leistung steuerbar und steuerpflichtig ist beziehungsweise welcher Steuersatz Anwendung findet, wird jedoch in den Rechtssachen Stoy trans und LVK-56 widerspruchsfrei entschieden. Gegenstand der dieser Arbeit zugrunde liegenden Problematik ist jedoch gerade, dass über die Steuerbarkeit und die Steuerpflicht eines Umsatzes aufgrund widersprüchlicher Auslegungen des geltenden Rechts unterschiedlich entschieden wird. Die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Stoy trans und LVK-56 zur widersprüchlichen Behandlung der Unternehmer aufgrund eines falschen Steuerausweises ist infolgedessen nicht dahingehend zu verstehen, dass dieselbe Leistung hinsichtlich der Steuerbarkeit und der Steuerschuld widersprüchlich beurteilt werden darf.1250 Vielmehr zeigt die vorstehende Rechtsprechung auf, dass die Steuer korrekt erhoben und widerspruchsfrei darüber entschieden werden muss, ob eine Leistung steuerbar und steuerpflichtig ist.
§ 4 Gesamtergebnis vierter Teil Es besteht keine europarechtliche Pflicht für die Mitgliedstaaten, Vorkehrungen zur Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im nationalen Verfahrensrecht vorzunehmen.1251 Auch wenn eine diesbezügliche Verpflichtung nicht besteht, sind gleichwohl Vorkehrungen im nationalen Recht erforderlich.1252 Zwar ist durch eine widersprüchliche Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers der europäische Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht verletzt.1253 Dass das Treffen von Vorkehrungen zur Gewährung einer widerspruchsfreien Behandlung der Unternehmer im nationalen Recht 1249 EuGH v. 31. 1. 2013 – C-642/11 – Stroy trans, MwStR 2013, 125 Rz. 43; EuGH v. 31. 1. 2013 – C-643/11 – LVK-56, HFR, 361 Rz. 48. 1250 So auch Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 221 Fn. 1331. 1251 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45. 1252 Burgmaier, UR 2012, 175 (180 f.); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (18); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (49); von Streit/ Streit, UR 2018, 813 (816); Weinschütz, EuZW 2012, 2019 (222). 1253 A. A. tendenziell FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); a. A. wohl auch von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816).
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4. Teil: Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung?
jedoch erforderlich ist, folgt aus dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in Form der Belastungsneutralität.1254 Die Frage, welche Vorkehrungen zur Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung im nationalen Recht in Betracht kommen, unterliegt der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten.1255 Vorschläge, welche Vorkehrungen im nationalen Recht in Betracht kommen, werden im nachfolgenden fünften und sechsten Teil dieser Untersuchung dargelegt.
1254 Burgmaier, UR 2012, 175 (180 f.); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (18); Dodos, MwStR 2015, 329 (333); Weinschütz, EuZW 2012, 2019 (222). 1255 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791).
Fünfter Teil
Bestehende Lösungsvorschläge Für die Mitgliedstaaten besteht die Verpflichtung, die Mehrwertsteuer korrekt zu erheben, den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer zu wahren und erforderliche Maßnahmen diesbezüglich zu treffen, was im vorstehenden vierten Teil dargelegt wurde.1256 Auch wurde im vierten Teil aufgezeigt, dass, auch wenn keine europarechtliche Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im nationalen Recht besteht,1257 verfahrensrechtliche Maßnahmen diesbezüglich im nationalen Recht notwendig1258 sind. Demnach ist zu untersuchen, welche Maßnahmen dies sein könnten. Es bestehen bereits verschiedene Lösungsvorschläge dahingehend, wie das Problem der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers aufzulösen sein könnte, die im Folgenden betrachtet werden. Die nachfolgenden Lösungsvorschläge hätten bereits im ersten Teil dieser Arbeit abgehandelt werden können. Eine getrennte Darstellung der jetzigen Rechtslage (erster Teil) und der bestehenden Lösungsvorschläge (fünfter Teil) erfolgt vorliegend indes deshalb, weil im vierten Teil vorerst herausgearbeitet werden sollte, ob und wenn ja, welche Anforderungen an das nationale Verfahrensrecht zu stellen sind. Außerdem sollte verdeutlicht werden, dass die jetzige Rechtslage (dazu erster Teil, § 3) dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer nicht gerecht wird.
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers Stadie ist der Ansicht, dass die Gewährung des Vorsteuerabzugs aufgrund von Gutglaubensschutz die „vom EuGH1259 angemahnte „erforderliche Maßnahme“ zur 1256 Siehe oben: Vierter Teil, § 3, III., 3., a); EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 43 – 45. 1257 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45; Dodos, MwStR 2015, 329 (333); Nieskens, MwStR 2015, 243 (244). 1258 Siehe oben: Vierter Teil, § 3, III., 3., b); Burgmaier, UR 2012, 175 (181); Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 227; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815); Weinschütz, EuZW 2012, 2019 (222). 1259 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45 u. Tenor zu 2.
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
Sicherstellung der korrekten Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität“ ist.1260 Damit schlägt Stadie für die Lösung des Problems der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers eine materiell-rechtliche Lösung allein für den Leistungsempfänger vor. Ob und, wenn ja, wie eine verwaltungsinterne Beseitigung des Widerstreits zwischen den Finanzbehörden zu erfolgen habe, kann nach Ansicht Stadies dahinstehen.1261 Infolge der Gewährung des Gutglaubensschutzes bedürfe es überdies keiner prozessrechtlichen Lösungen.1262 So sei eine Anfechtungsklage des Leistungsempfängers, welcher im Rahmen einer Anfechtungsklage als beschwerter Steuerträger anzusehen wäre, gegen die Steuerfestsetzung beim Leistenden beziehungsweise gegen die Steueranmeldung des Leistenden schon nicht vonnöten.1263 Versage die Finanzbehörde des Leistungsempfängers dessen Vorsteuerabzug, da sie entgegen der Ansicht der Finanzbehörde des Leistenden der Auffassung sei, dass die Umsatzsteuer fälschlicherweise in Rechnung gestellt worden sei (Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis), könne sich der Leistungsempfänger auf Gutglaubensschutz berufen, wenn er die (vermeintliche) Fehlerhaftigkeit des Steuerausweises „nicht erkennen konnte und auch nicht erkennen musste“.1264
I. Begriff des Gutglaubensschutzes Wird der Begriff des Vertrauensschutzes in dieser Arbeit verwendet, wird das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Steuerpflichtigen angesprochen.1265 Dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Verhältnis zwischen dem Fiskus und dem Steuerpflichtigen durch widerstreitende Entscheidungen verletzt wird, wurde im zweiten Teil dieser Arbeit abgelehnt.1266 Dieser Arbeit wird das Verständnis zugrunde gelegt, dass der Grundsatz des Gutglaubensschutzes im Umsatzsteuerrecht 1260
Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 950 u. § 18 Rz. 451. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 969. 1262 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 451; a. A. Burgmaier/Heinrichshofen, EUUStB 2012, 14 (15 ff.). 1263 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 451. 1264 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 950 u. Rz. 969; § 18 Rz. 451. 1265 So auch FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Mann untersucht die Verwendung der Begriffe des Gutglaubensschutzes und des Vertrauensschutzes in der Rechtsprechung des EuGH und der des BFH sowie in der Literatur. Siehe Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 75 – 78; zu den Begriffen des Gutglaubensschutzes und des Vertrauensschutzes siehe auch von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 43. 1266 Siehe oben: Vierter Teil, § 3, II.; a. A. tendenziell FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); a. A. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1261
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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ein spezieller Teil des übergreifenden primärrechtlichen Rechtsgrundsatzes des Vertrauensschutzes ist.1267 Bei der Frage, ob ein Gutglaubensschutz des Unternehmers bejaht werden muss, geht es um die Frage, ob der Unternehmer den Angaben seines Vertragspartners Vertrauen schenken darf.1268
II. Analyse von Stadies Lösungsvorschlag unter Einbeziehung der Rechtsprechung des EuGH und des BFH zum Gutglaubensschutz der Unternehmer Nach der hier vertretenen Ansicht ist das Problem der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers ein verfahrensrechtliches Problem und kein materiell-rechtliches Problem. Gleichwohl gibt Stadies Lösungsvorschlag1269 Grund zur Untersuchung, ob Stadie zuzustimmen ist, dass sich der Leistungsempfänger bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis gegenüber seiner Finanzbehörde auf Gutglaubensschutz berufen kann, sodass ihm der Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz gewährt wird. Anlass zur Untersuchung des Lösungsvorschlags Stadies besteht vorliegend deswegen, weil der Leistungsempfänger im Vier-Parteien-Verhältnis, das zwischen ihm, dem Leistenden und den für die Unternehmer jeweils zuständigen Finanzbehörden gegeben ist,1270 in der Regel darauf vertrauen muss, dass die Rechtsauffassung des Leistenden über die Steuerbarkeit und die Steuerpflicht einer Leistung richtig ist1271. Gleiches gilt für die Beurteilung des Leistenden über den anzuwendenden Steuersatz.1272 Mit anderen Worten: Der Leistungsempfänger ist im Rahmen des Vier-Parteien-Verhältnisses gutgläubig.1273 Problematisch ist, dass dem Leistungsempfänger das Risiko der fehlerhaften umsatzsteuerlichen Qualifizierung der zwischen ihm und dem Leistenden bestehenden Leistungsbeziehung durch den Leistenden auferlegt wird.1274 Um die Frage zu beantworten, ob Stadies Lösungsvorschlag1275 zuzustimmen ist, wird im Folgenden aufgezeigt, ob, und wenn ja, in welchen Fällen ein Gutglau1267
So auch Drüen, DB 2010, 1847 (1847); Stapperfend, UR 2013, 321 (324). Drüen, DB 2010, 1847 (1847); Heinrichshofen, UR 2018, 282 (286 f.); siehe auch von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 45. 1269 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 950 u. Rz. 969; § 18 Rz. 451. 1270 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 1271 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176); Weinschütz, DB 2010, 20 (20); vgl. dazu auch Brill, kösdi 2018, 21034 (21041); Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153. 1272 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 1273 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 969 1274 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). 1275 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 950 u. Rz. 969; § 18 Rz. 451. 1268
190
5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
bensschutz des Leistungsempfängers beim Vorsteuerabzug unabhängig vom Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nach Ansicht des EuGH, des BFH sowie der Literatur zu gewähren ist (dazu 3. – 5.). Denn den Lösungsvorschlag, dass bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis Gutglaubensschutz zu gewähren ist, hat bisher, soweit ersichtlich, allein Stadie gemacht, sodass eine generelle Betrachtung des Gutglaubensschutzes erfolgt. Ob sich die allgemeinen Erwägungen der Rechtsprechung und der Literatur zum Gutglaubensschutz der Unternehmer auf die Situation des Leistungsempfängers bei Bestehen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis übertragen lassen, wird im Folgenden untersucht. Aus diesem Grund wird zuallererst wiederholt, in welchen Fällen widerstreitende Entscheidungen denkbar sind, damit deutlich wird, in welchen Fällen vorliegend entscheidend ist, ob dem Leistungsempfänger generell Gutglaubensschutz beim Vorsteuerabzug zu gewähren ist (dazu a)). Abschließend wird Stellung zu Stadies Lösungsvorschlag genommen und entschieden, ob Stadies Ansicht, dass bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Personen-Verhältnis Gutglaubensschutz zu gewähren ist, in dieser Arbeit gefolgt wird (dazu 5.).
1. Spannungsverhältnis zwischen Sicherung des Steueraufkommens und Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers a) Widersprüchliche Entscheidungen zur Steuerbarkeit oder zur Steuerpflicht einer Leistung oder zum Steuersatz Wie im ersten Teil dieser Arbeit bereits erläutert wurde,1276 ist es seit dem Zeitpunkt der Rechtsprechungsänderung des BFH im Jahre 19981277 infolge des Genius Holding-Urteils des EuGH möglich, dass die am umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustausch beteiligten Finanzbehörden uneinheitlich beurteilen, ob ein zutreffender („gesetzlich geschuldete Steuer“ i. S. v. § 15 UStG) oder ein unzutreffender Steuerausweis i. S. v. § 14c UStG vorliegt.1278 Widerstreitende Entscheidungen der Finanzbehörden im Vier-Parteien-Verhältnis können sich nämlich in Bezug auf die Steuerbarkeit und die Steuerpflicht ein und derselben Leistung ergeben.1279 Gleiches gilt für den anzuwendenden Steuersatz.1280 Ist die Leistung nicht steuerbar oder nicht steuerpflichtig, liegt bei Ausweis der Steuer der Fall des unrichtigen Steuerausweises nach § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG
1276
Siehe oben: Erster Teil, § 2., II., 1., a). BFH v. 2. 4. 1998 – V R 34/97, BStBl. II 1998, 695. 1278 Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); Weimann, UStB 2010, 350 (350). 1279 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (217). 1280 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (217); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 1277
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
191
vor.1281 Wird der falsche (zu hohe) Steuersatz angewandt, liegt ebenfalls ein Fall des § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG vor.1282 Liegt der Grund der Nichtsteuerbarkeit oder der Nichtsteuerpflichtigkeit eines Umsatzes in der Person des Leistenden, weil der Leistende nicht zum Ausweis der Steuer berechtigt ist, beispielsweise weil der Leistende Kleinunternehmer1283 oder kein Unternehmer ist, ist § 14c Abs. 2 Satz 1 UStG beziehungsweise § 14c Abs. 2 Satz 2 1. Alt. UStG einschlägig.1284 Nach § 14c Abs. 2 Satz 2 2. Alt. UStG liegt ebenfalls ein Fall des unberechtigten Steuerausweises vor, wenn die Leistung nicht ausgeführt wird. Ob Gutglaubensschutz im Fall des § 14c Abs. 2 Satz 2 2. Alt. UStG zu gewähren ist, ist vorliegend jedoch nicht relevant. Denn bei einem Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis besteht Streit zwischen den Finanzbehörden über die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung1285 der „Steuerbarkeit und Steuerpflicht ein und derselben Leistung“1286 und nicht Streit darüber, ob der Leistende eine Leistung tatsächlich ausführt oder i. S. v. § 14c Abs. 2 Satz 2 2. Alt. UStG nicht ausführt. Es geht vorliegend um Auslegungsdivergenzen bei rechtlichen Bestimmungen.1287 b) Fragestellung Es stellt sich demgemäß die Frage, ob in dem Fall, dass aus Sicht der Finanzbehörde des Leistungsempfängers eine Inrechnungstellung nach § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG (unrichtiger Steuerausweis) oder nach § 14c Abs. 2 Satz 1 oder Abs. 2 Satz 2 1. Alt. UStG (unberechtigter Steuerausweis) vorliegt, obwohl aus Sicht der Finanzbehörde des Leistenden die Umsatzsteuer vielmehr i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG „gesetzlich“ geschuldet ist, dem redlichen Leistungsempfänger der Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz zusteht.1288 Der gute Glaube des Leistungsempfängers könnte bei Bestehen eines Widerstreits die objektive Voraussetzung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG, dass die Steuer
1281 BFH v. 7. 5. 1981 – V R 126/75 – BeckRS 1981, 22005740 (unter 1., e)); Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 20. 1282 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 38. 1283 Zur Nichtberechtigung des Ausweises der Steuer von Kleinunternehmern vgl. BFH v. 9. 7. 2003 – V R 29/02, DStRE 2003, 1239 (unter II., 3., a)); ist der leistende Unternehmer ein Kleinunternehmer i. S. v. § 19 Abs. 1 UStG, ist Folge der Anwendung des § 18 Abs. 1 UStG eine unechte Steuerbefreiung. So Korn, in: Bunjes, UStG, § 19 Rz. 16. Dem Leistungsempfänger steht bei Anwendung des § 19 Abs. 1 UStG dementsprechend kein Vorsteuerabzug zu. Vgl. Korn, MwStR 2014, 232 (234). 1284 Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 17. 1285 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176); Weimann, UStB 2010, 350 (350). 1286 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 1287 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 59; siehe auch Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (216 f.). 1288 So etwa Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 969.
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
„gesetzlich geschuldet“ sein muss, ersetzen1289, sodass es schon keiner Auflösung1290 eines Widerstreits bedürfte. Der Leistungsempfänger bekäme, wie Stadie vorschlägt, den Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz zugesprochen, und der Leistende müsste spiegelbildlich die Umsatzsteuer abführen, da seine Finanzbehörde den Umsatz ohnehin als steuerbar und steuerpflichtig beurteilt hat.1291 So wäre eine Symmetrie zwischen der Umsatzsteuer und der Vorsteuer auf dem vorstehenden Wege hergestellt. Der Neutralitätsgrundsatz wäre im Ergebnis mithin gewahrt.1292 Bereits festgestellt wurde an früherer Stelle in dieser Arbeit,1293 dass die umsatzsteuerrechtliche Entscheidung, die durch die Finanzbehörde des Leistenden gegenüber dem Leistenden erfolgt, keinen Vertrauensschutz des Leistungsempfängers gegenüber seiner Finanzbehörde begründet.1294 Vertrauensschutz besteht allein im jeweiligen Steuerschuldverhältnis.1295 Es stellt sich jedoch die Frage, ob dem Leistungsempfänger vorliegend deshalb Gutglaubensschutz und infolgedessen deshalb der Vorsteuerabzug zu gewähren ist, weil er auf die erfolgte Angabe1296 des Leistenden hinsichtlich des Anfallens der Umsatzsteuer, also auf die Richtigkeit der umsatzsteuerrechtlichen Qualifizierung der Leistung durch den Leistenden, vertraut hat.1297 c) Problemaufriss Die Lösung Stadies erscheint auf den ersten Blick zu einem gerechten Ergebnis zu führen, weil der Neutralitätsgrundsatz in Bezug auf den Leistungsempfänger nach Stadies Vorschlag gewahrt ist.
1289
Zur etwaigen tatbestandsersetzenden Wirkung des guten Glaubens des Leistungsempfängers generell vgl. Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 3. Teil, § 15 Rz. 31; Heuermann, MwStR 2017, 729 (738 f.). 1290 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 969. 1291 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 969. 1292 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 969. 1293 Siehe oben: Vierter Teil, § 3, III., 2. 1294 A. A. tendenziell FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); a. A. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1295 A. A. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816), welche sich auch für Vertrauensschutz in Mehrpersonenverhältnissen aussprechen. 1296 Zum Schutz des gutgläubigen Unternehmers vor falschen Angaben seines Vertragspartners vgl. von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 1 ff. 1297 Generell zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers hinsichtlich des Steuerausweises durch den Leistenden vgl. Brill, kösdi 2018, 21034 (21041); Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153.
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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Geht man der Frage nach, ob dem redlichen Leistungsempfänger generell der Vorsteuerabzug im Fall des § 14c UStG aufgrund von Gutglaubensschutz zugesprochen werden kann, ist indes zwingend zu beachten, dass der Unternehmer nach dem eindeutigen Wortlaut des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG allein dazu berechtigt, die „gesetzlich geschuldete Steuer“ für Lieferungen und sonstige Leistungen abzuziehen.1298 Schuldet der Leistende die Steuer allein nach § 14c UStG aufgrund eines unrichtigen oder unberechtigten Steuerausweises, begründet dies kein Recht des Leistungsempfängers auf Abzug der Vorsteuer gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG.1299 Gleichwohl schuldet der Leistende im Fall des § 14c UStG den Mehrbetrag beziehungsweise den ausgewiesenen Steuerbetrag, wobei für ihn jedoch die Möglichkeit zur Berichtigung1300 der Rechnung besteht (vgl. § 14c Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 3 UStG). Der Zweck des § 14c UStG besteht in der Sicherung des Steueraufkommens.1301 Das Steueraufkommen ist deswegen gefährdet, weil die Gefahr besteht, dass ein Vorsteuerabzug aufgrund des Steuerausweises vorgenommen wird, obwohl keine entsprechende Umsatzsteuer abgeführt wird.1302 Dass die Gutgläubigkeit beziehungsweise die Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers jedoch (zumindest) in bestimmten Fällen umsatzsteuerrechtliche Folgen beim Vorsteuerabzug haben kann, ist in der Rechtsprechung des EuGH (dazu 3) und der des BFH (dazu 4.) sowie in Literatur (dazu 5.) anerkannt. Es könnte „ein Systemwechsel eigentlich hin zu einer Art Absichtsbesteuerung“ eingeleitet worden sein.1303
1298 Brill, kösdi 2018, 21034 (21041); Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153; Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 359. 1299 EuGH v. 13. 12. 1989 – C-642/87 – Genius Holding, NJW 1991, 632 Rz. 13; EuGH v. 19. 9. 2000 – C-454/98 – Schmeink & Cofreth und Strobel, DStRE 2000, 1166 Rz. 53; EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 23; EuGH v. 4. 7. 2013 – C-572/11 – Menidzherski biznes reshenia OOD, BeckRS 2013, 81555 Rz. 20; EuGH v. 31. 1. 2013 – C-642/11 – Stroy trans, MwStR 2013, 125 Rz. 30; EuGH v. 6. 2. 2014 – C-424/12 – Fatorie, MwStR 2014, 125 Rz. 39; BFH v. 25. 4. 2013 – V R 2/13, UR 2013, 968 Rz. 17; Farruggia-Weber/Klüger, MwStR 2019, 771 (772); Heidner, in: Bunjes, UStG, § 15 Rz. 158; Reiß, MwStR 2019, 526 (526). 1300 EuGH v. 6. 11. 2003 – C-78/02 bis C-80/02 – Karageorgou, DStRE 2004, 108 Rz. 50; EuGH v. 31. 1. 2013 – C-642/11 – Stroy trans, MwStR 2013, 125 Rz. 33; Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 8 Rz. 90. 1301 EuGH v. 18. 6. 2009 – C-566/07 – Stadeco VB, DStR 2009, 1366 Rz. 28; Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 8 Rz. 89; Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 1. 1302 EuGH v. 18. 6. 2009 – C-566/07 – Stadeco VB, DStR 2009, 1366 Rz. 28; EuGH v. 31. 1. 2013 – C-642/11 – Stroy trans, MwStR 2013, 125 Rz. 32 u. 34; Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, § 8 Rz. 89; Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 1. 1303 Heuermann, DB 2017, 990 (992); so auch Wäger, UR 2017, 41 (41 ff.): „Zeitalter der Absichtsbesteuerung beim Vorsteuerabzug“; siehe ebenfalls Widmann, UR 2019, 255 (265); Mann lehnt eine „Besteuerung nach der Vorstellungskraft“ ab. Nach Mann ist ein System-
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
Auch wenn die Finanzbehörde des Leistenden im Rahmen eines Widerstreits die Leistung der Umsatzsteuer unterwirft, scheint es trotzdem so, als stünden die Sicherung des Steueraufkommens und die Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis in einem Spannungsverhältnis. Denn ob der Umsatz tatsächlich der Umsatzsteuer unterfällt, ist ja gerade fraglich, sodass die Gefahr des Steuerausfalls besteht. Auf der anderen Seite befindet sich der Leistungsempfänger im Vier-Parteien-Verhältnis in einer Zwangslage, weil er auf die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung des Leistenden vertrauen muss,1304 sodass die Frage aufkommt, wie der Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers bei einem Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis Rechnung getragen werden kann.
2. Kein normierter genereller Gutglaubensschutz Eine Vorschrift, die den Unternehmern generellen Gutglaubensschutz zuspricht, besteht im UStG und in der AO1305 nicht.1306 Insbesondere normiert § 15 UStG keinen Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers ausdrücklich.1307 Die Regelung zum Vorsteuerabzugsrecht gemäß § 15 UStG enthält vielmehr allein objektive Elemente.1308 Gleiches gilt für die Mehrwertsteuersystemrichtlinie.1309 An dieser Stelle sei angemerkt, dass nach Ansicht des EuGH ein Widerspruch zum Grundsatz der Rechtssicherheit bestünde, wenn die Finanzverwaltung dazu verpflichtet wäre, die Absichten der Unternehmer zu erforschen.1310 Grundsätzlich müsse eine objektive Beurteilung des Umsatzes erfolgen.1311
wechsel vorzugswürdig. Siehe Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 404 u. 407. 1304 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176); Weinschütz, DB 2010, 20 (20); vgl. dazu auch Brill, kösdi 2018, 21034 (21041); Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153. 1305 In der AO normiert § 176 AO in bestimmten, hier nicht relevanten, Fällen Vertrauensschutz. 1306 Brill, kösdi 2018, 21034 (21035); Radeisen, SteuK 2011, 51 (51). 1307 Englisch, UR 2009, 181 (184 f.); Friedrich-Vache, UR 2015, 889 (894); Lindenberg/ Klamet/Schmidt, UR 2015, 895 (896); Weymüller, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 14 Rz. 515. 1308 Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 3. Teil, § 15 Rz. 30; Heuermann, MwStR 2017, 729 (730). 1309 Brill, kösdi 2018, 21034 (21035). 1310 EuGH v. 6. 4. 1995 – C-4/94 – BLP Group / Commissioners of Customs & Excise, BeckRS 2004, 77032 Rz. 24; EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 u. C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, DStR 2006, 1274 Rz. 42. 1311 EuGH v. 6. 4. 1995 – C-4/94 – BLP Group / Commissioners of Customs & Excise, BeckRS 2004, 77032 Rz. 24; EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 u. C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, DStR 2006, 1274 Rz. 42.
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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Bestimmungen zu Gutglaubensgrundsätzen existieren im UStG nur ausnahmsweise punktuell.1312 Hieraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass kein genereller Gutglaubensschutz im UStG normiert ist. Gesetzliche Gutglaubensschutzregelungen des UStG sind insbesondere § 6a Abs. 4 UStG und § 13b Abs. 5 Satz 8 UStG. Hier geht es indes um normierten Gutglaubensschutz des Leistenden. § 25 f Abs. 1 UStG1313 versagt dem bösgläubigen Leistungsempfänger in den dort normierten Fällen (Beteiligung an einer Steuerhinterziehung) den Vorsteuerabzug. § 25 f UStG enthält ausnahmsweise ein subjektives Element („wusste oder hätte wissen müssen“).1314 Zwar sind Vorschläge zur Normierung eines generellen Gutglaubensschutzes der Unternehmer in der Literatur vorzufinden.1315Allerdings wurde bisher keiner dieser Vorschläge im UStG oder in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie umgesetzt.1316
3. Rechtsprechung des EuGH zum Gutglaubensschutz Der Grundsatz des Gutglaubensschutzes im Umsatzsteuerrecht wird vom EuGH aus den europäischen Rechtsgrundsätzen der Rechtssicherheit1317 und der Verhältnismäßigkeit1318 sowie dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer1319 hergeleitet.1320 Im Folgenden wird aufgezeigt, in welchen Fällen der EuGH Unternehmern Gutglaubensschutz zugesprochen hat. Es wird untersucht, ob sich die Erwägungen hierzu auf die vorliegende Problematik widersprüchlicher Entscheidungen übertragen lassen.
1312
Brill, kösdi 2018, 21034 (21035). Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH zur Versagung des Vorsteuerabzugs bei Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers; vgl. BFH v. 11. 3. 2020 – XI R 38/18, MwStR 2020, 894 Rz. 36; siehe auch Höink/Lüger, MwstR 2020, 913 (914). Diese Rechtsprechung des EuGH gilt neben § 25f UStG weiter. Siehe Treiber, DStR 2020, 1850 (1857). 1314 Böllmann, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 25f Rz. 5. 1315 Einen Entwurf einer gesetzlichen Regelung des Gutglaubensschutzes beim Vorsteuerabzug machen Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 297; Lindenberg/Klamet/Schmidt, UR 2015, 895 (899). 1316 Brill, kösdi 2018, 21034 (21039). 1317 EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109 Rz. 50. 1318 EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109 Rz. 58. 1319 EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109 Rz. 59 f. 1320 Drüen, DB 2010, 1847 (1847); Friedrich-Vache, UR 2015, 889 (894); siehe auch Grünwald, MwStR 2013, 13 (14). 1313
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
a) Tatbestandsersetzender Gutglaubensschutz des Leistenden auf die vorliegende Problematik übertragbar? Mit seinen Entscheidungen in den Rechtssachen Teleos1321 und Netto Supermarkt1322 hat der EuGH den Grundstein für die Anerkennung von Gutglaubensschutz des Leistenden im Umsatzsteuerrecht gesetzt.1323 Die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Teleos und Netto Supermarkt könnte auf die vorliegende Problematik widerstreitender Entscheidungen, also auf den Fall des § 14c UStG, übertragbar1324 sein. Anlass für diese Überlegung ist, dass der EuGH in den Rechtssachen Teleos und Netto Supermarkt der Gutgläubigkeit des Leistenden tatbestandsersetzende1325 Wirkung hinsichtlich einer materiellen Voraussetzung der innergemeinschaftlichen Lieferung und der Ausfuhrlieferung zugesprochen hat. Der gute Glaube des Leistungsempfängers könnte die aus Sicht seiner Finanzbehörde nicht vorliegende Voraussetzung des Vorsteuerabzugs, dass die Steuer „gesetzlich geschuldet“ sein muss, entsprechend der Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Teleos und Netto Supermarkt bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis ersetzen. aa) Rs. Teleos und Netto Supermarkt In der Rechtssache Teleos hat der EuGH entschieden, dass, wenn der gutgläubige Lieferant „alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die von ihm vorgenommene innergemeinschaftliche Lieferung nicht zu seiner Beteiligung an einer […] Steuerhinterziehung führt“, dem Lieferanten die Steuerbefreiung selbst dann zuzusprechen ist, wenn die Voraussetzungen hierfür zwar nicht vorliegen, die Beweise für das Vorliegen der innergemeinschaftlichen Lieferung allerdings vom Leistungsempfänger gefälscht worden waren.1326
1321
EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109. EuGH v. 21. 9. 2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, DStR 2008, 450. 1323 Drüen, DB 2010, 1847 (1847); Nieskens, UR 2008, 812 (813); Oelmaier, in: Sölch/ Ringleb, UStG, § 15 Rz. 75; zur Analyse dieser Urteile siehe Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 236 – 240 u. S. 283 – 285. 1324 Zur Übertragung der Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Teleos und Netto Supermarkt auf den Vorsteuerabzug vgl. Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 3. Teil, § 15 Rz. 32; Spatscheck/Stenert, DStR 2016, 2313 (2319 f.). 1325 Vgl. zur tatbestandsersetzenden Wirkung des Gutglaubensschutzes des Leistenden Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 3. Teil, § 15 Rz. 32; Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (60); Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 240 u. 290. 1326 EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109 Rz. 68 u. Tenor zu 2. 1322
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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In der Rechtssache Netto Supermarkt hat der EuGH den Gutglaubensschutz des gutgläubigen Ausfuhrlieferers unter bestimmten Voraussetzungen bestätigt.1327 Dem gutgläubigen Ausfuhrlieferer stehe die Steuerbefreiung aufgrund der Ausfuhrlieferung selbst dann zu, wenn die Voraussetzungen für die Steuerfreiheit zwar nicht vorlägen, der Ausfuhrlieferer dies jedoch „selbst bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns“ deshalb nicht erkennen konnte, weil ihm vom Abnehmer gefälschte Ausfuhrnachweise unterbreitet worden waren.1328 bb) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik Stimmen in der Literatur übertragen die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Teleos und Netto Supermarkt zur tatbestandsersetzenden Gutgläubigkeit des Leistenden auf den Vorsteuerabzug.1329 Für die vorstehende Übertragung wird angebracht, dass der Grundsatz des Gutglaubensschutzes ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts sei, dem nicht nur in einem Teil des Umsatzsteuerrechts Beachtung geschenkt werden dürfe.1330 Nach der hier vertretenen Auffassung wird die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Teleos und Netto Supermarkt zum Gutglaubensschutz des Leistenden indes nicht auf den Fall des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis übertragen. In den Rechtssachen Teleos und Netto Supermarkt hat der EuGH dem Leistenden deshalb Gutglaubensschutz zugesprochen, weil ihm gefälschte Dokumente unterbreitet worden waren und er insoweit auf die Richtigkeit dieser gefälschten Dokumente vertrauen durfte.1331 Der Schutz des gutgläubigen Leistenden fußt auf dessen Beweisnot.1332 Dementsprechend könnte zwar eine vom Leistenden gefälschte Rechnung für die Begründung von Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers genügen, vorausgesetzt, dass die Fälschung für den redlichen Leistungsempfänger nicht ersichtlich ist.1333 Dieser Arbeit wird jedoch die Auffassung zugrunde gelegt, dass bei einem Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis am Leistungsaustausch zwei sich rechtstreu verhaltende Unternehmer beteiligt sind. Bei der Problematik widersprüchlicher Entscheidungen geht es nicht um die Frage, ob dem gutgläubigen Leistungsempfänger der Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz entgegen 1327
EuGH v. 21. 9. 2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, DStR 2008, 450 Rz. 27. EuGH v. 21. 9. 2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, DStR 2008, 450 Rz. 27. 1329 Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 3. Teil, § 15 Rz. 32; Spatscheck/Stenert, DStR 2016, 2313 (2319 f.); a. A. Heuermann, DB 2017, 990 (992); Heuermann, MwStR 2017, 729 (738 f.); Schumann, DStR 2018, 1653 (1654). 1330 Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 3. Teil, § 15 Rz. 32. 1331 EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109 Rz. 68 u. Tenor zu 2; EuGH v. 21. 9. 2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, DStR 2008, 450 Rz. 27; Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (60); hieran Kritik übend Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 285 – 287. 1332 Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (60). 1333 Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (60); siehe auch Grube, MwStR 2014, 125 (129). 1328
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG deshalb zusteht, weil ihm gefälschte Dokumente vorgelegt worden waren. Die Möglichkeit des Vorliegens einer Rechnung i. S. v. § 14c UStG besteht bei Vorliegen eines Widerstreits nicht deswegen, weil der Leistende die Rechnung gefälscht hat, sondern deswegen, weil der Umsatz möglicherweise vom Leistenden (und dem Leistungsempfänger) umsatzsteuerrechtlich falsch beurteilt1334 wurde. Die hier vorliegende Problematik besteht für den gutgläubigen Leistungsempfänger gerade nicht aufgrund einer Täuschung durch seinen Vertragspartner, sondern aufgrund von widersprüchlichen Entscheidungen der Finanzbehörden. Eine Übertragung der Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Teleos und Netto Supermarkt auf die vorliegende Problematik kommt demgemäß nicht in Betracht. b) Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers bei betrugsbehafteten Umsätzen Das erste grundlegende Urteil des EuGH zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers beim Vorsteuerabzug erfolgte am 6. 7. 2006 in der Rechtssache Kittel und Recolta Recycling1335.1336Die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Kittel und Recolta Recycling könnte für die Frage, ob dem gutgläubigen Leistungsempfänger bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis Gutglaubensschutz zuzusprechen ist, von Bedeutung sein. aa) Rs. Kittel In der Rechtssache Kittel und Recolta Recycling stellte der EuGH fest, dass das Vorsteuerabzugsrecht des Leistungsempfängers zu verweigern ist, wenn es in betrügerischer1337 Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird.1338 Dies sei unter 1334
Vgl. dazu Weinschütz, DB 2010, 20 (20). EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 u. C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, DStR 2006, 1274; siehe indes auch bereits EuGH v. 12. 1. 2006 – C-356/04, C-355/03 u. C-484/03 – Optigen, DStR 2006, 133. 1336 Stapperfend, UR 2013, 321 (323). 1337 Zu den Grundfällen des Betrugs sowie des Missbrauchs die Umsatzsteuer betreffend vgl. Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 39 – 63; zum Begriff des Umsatzsteuerbetrugs vgl. Mann, Der Schutz des guten Glauben im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 65 – 69. 1338 EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 u. C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, DStR 2006, 1274 Rz. 55; bestätigend EuGH v. 21. 6. 2012 – C-80/11 u. C-142/11 – Mahagében und Dávid, DStRE 2012, 1336 Rz. 43; EuGH v. 6. 9. 2012 – Gábor Tóth – C-624/11, BeckRS 2012, 81872 Rz. 37; EuGH v. 6. 12. 2012 – C-285/11 – Bonik, DStRE 2013, 803 Rz. 37; EuGH v. 31. 1. 2013 – C-642/11 – Stroy trans, MwStR 2013, 125 Rz. 47; EuGH v. 13. 2. 2014 – C-18/16 – Marks Pen, DStRE 2014, 1249 Rz. 27; EuGH v. 18. 12. 2014 – C-131/13, C-163/13 u. C-164/ 1335
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anderem dann der Fall, wenn der Leistungsempfänger „wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligte, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war“.1339 Auf der anderen Seite dürfe dem gutgläubigen Leistungsempfänger der Vorsteuerabzug bei Vorliegen eines betrugsbehafteten Umsatzes nicht verwehrt werden.1340 bb) Zusätzliche Voraussetzung für den Vorsteuerabzug: Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers Der EuGH hat das Recht des Leistungsempfängers auf Vorsteuerabzug in seiner Rechtsprechung zur Gutgläubigkeit beziehungsweise zur Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers im Rahmen von betrugsbehafteten Umsätzen indes allein begrenzt (negatives Tatbestandsmerkmal1341).1342 Er hat das Vorsteuerabzugsrecht in den vorstehenden Entscheidungen nicht dahingehend erweitert, dass dieses dem gutgläubigen Unternehmer auch dann zu gewähren ist, wenn die formellen und materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugsrechts nicht vorliegen.1343 Dies wird insbesondere vor allem in der Rechtssache PPUH Stehcemp1344 vom EuGH durch folgende Aussage eindeutig zum Ausdruck gebracht:1345 „Wenn hingegen die nach der Sechsten Richtlinie vorgesehenen materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt sind, ist es mit der Vorsteuerabzugsregelung dieser Richtlinie nicht vereinbar, einen Steuerpflichtigen, der weder wusste noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in eine vom Lieferer begangene Steuerhinterziehung einbezogen
13 – Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti, DStR 2015, 573 Rz. 44; EuGH v. 18. 5. 2017 – C-624/15 – Litdana, DStRE 2017, 1389 Rz. 32. 1339 EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 – Kittel und Recolta Reycling, DStR 2006, 1274 Rz. 61; siehe dazu BFH v. 16. 5. 2019 – XI B 13/19, MwStR 2019, 706 Rz. 20. 1340 EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 u. C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, DStR 2006, 1274 Rz. 60; bestätigend z. B. EuGH v. 31. 1. 2013 – C-642/11 – Stroy trans, MwStR 2013, 125 Rz. 48; EuGH v. 18. 5. 2017 – C-624/15 – Litdana, DStRE 2017, 1389 Rz. 35; BFH v. 21. 6. 2018 – V R 28/16, DStR 2018, 1650 Rz. 31. 1341 Heuermann, DB 2017, 990 (992). 1342 BFH v. 8. 10. 2008 – V R 63/07, BeckRS 2008, 25015261 (unter II., 2., b)); BFH v. 22.7. 2015 – V R 23/14, MwStR 2015, 816 Rz. 36; BFH v. 18. 2. 2016 – V R 62/14, DStR 2016, 960 Rz. 20; jüngst BFH v. 15. 10. 2019 – V R 29/19, DStR 2020, 40 Rz. 33; so auch Heuermann, MwStR 2015, 798 (801); Reichelt, MwStR 2016, 552 (555). 1343 BFH v. 8. 10. 2008 – V R 63/07, BeckRS 2008, 25015261 (unter II., 2., b)); BFH v. 22.7. 2015 – V R 23/14, MwStR 2015, 816 Rz. 36; BFH v. 18. 2. 2016 – V R 62/14, DStR 2016, 960 Rz. 20; BFH v. 15. 10. 2019 – V R 29/19, DStR 2020, 40 Rz. 33; Reichelt, MwStR 2016, 552 (555); Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 331. 1344 EuGH v. 22. 10. 2015 – C-277/14 – PPUH Stehcemp, MwStR 2015, 964. 1345 Reichelt, MwStR 2016, 552 (555).
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war […], durch die Versagung dieses Rechts zu sanktionieren“1346. „Hierin kommt im Unionsrecht der […] Grundsatz des „guten Glaubens“ bzw. „Vertrauensschutzes“ zum Ausdruck.“1347 Damit wird klar, dass der EuGH zwischen den formellen und den materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs auf der einen Seite und dem Rechteverlust auf der anderen Seite, der bei betrugsbehafteten Umsätzen und gleichzeitiger Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers zu erfolgen hat, differenziert.1348 Die Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers muss ergänzend zu den formellen und den materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs gegeben sein.1349 Demgemäß wurde vom EuGH eine weitere Voraussetzung für den Vorsteuerabzug bestimmt: das subjektive Merkmal der Gutgläubigkeit.1350 cc) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik Dementsprechend ist die vorstehende Rechtsprechung des EuGH zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers bei betrugsbehafteten Umsätzen nicht auf die vorliegende Problematik widersprüchlicher Entscheidungen zu übertragen. Vorliegend geht es um nicht betrugsbehaftete Umsätze zwischen zwei sich rechtstreu verhaltenden Steuerpflichtigen. Die für den redlichen Leistungsempfänger hier vorliegende Problematik besteht nicht infolge eines unredlichen (betrügerischen) Verhaltens seines Vertragspartners, sondern aufgrund von widersprüchlichen Entscheidungen der Finanzbehörden. Außerdem geht es vorliegend um die Frage, ob die Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers die aus Sicht seiner Finanzbehörde nicht vorliegende Voraussetzung der gesetzlich geschuldeten Steuer i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG ersetzt. In den oben aufgeführten Fällen zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers bei betrugsbehafteten Umsätzen lag diese Voraussetzung indessen gerade vor.
1346 EuGH v. 22. 10. 2015 – C-277/14 – PPUH Stehcemp, MwStR 2015, 964 Rz. 49, Hervorhebungen durch die Verfasserin dieser Arbeit; dem folgend z. B. BFH v. 11. 3. 2020 – XI R 38/18, BB 2020, 1952 Rz. 35 f. 1347 Generalanwalt Wahl, Schlussanträge v. 5. 7. 2017 – C-374/16 u. C-375/16 – Geissel und Butin, MwStR 2017, 624 Rz. 58. 1348 Wäger, UR 2017, 41 (48 Fn. 19). 1349 Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 331 u. 348 f. 1350 Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 331; siehe auch von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 51.
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c) Unbeachtlichkeit formeller Fehler Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist das Fehlen formeller Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer grundsätzlich1351 unbeachtlich, wenn die materiellen Anforderungen gegeben sind („alternativer Beweis“1352).1353 Die formellen Anforderungen hinsichtlich des Vorsteuerabzugsrechts regeln „die Modalitäten und die Kontrolle“ der Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts „sowie das ordnungsgemäße Funktionieren des Mehrwertsteuersystems […], so wie die Verpflichtungen zu Aufzeichnungen, Rechnungstellung und Steuererklärung“.1354 Das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechnung (vgl. i. S. v. § 14 Abs. 4 UStG) ist nach Ansicht des EuGH formelle Ausübungsvoraussetzung für das Recht auf Vorsteuerabzug.1355 Die Unbeachtlichkeit des Fehlens formeller Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug gilt nicht für den bösgläubigen Unternehmer.1356 Die Unbeachtlichkeit formeller Fehler ist jedoch Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und nicht Ausfluss des Grundsatzes des Gutglaubensschutzes.1357 Außerdem widerstreiten bei einem Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis nicht die Auffassungen der Finanzbehörden über das Vorliegen einer ordnungsge-
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Eine Ausnahme zur Unbeachtlichkeit formeller Fehler liegt indes insbesondere dann vor, wenn aufgrund des Fehlens der formellen Anforderungen nicht überprüfbar ist, ob die materiellen Voraussetzungen gegeben sind. Vgl. EuGH v. 15. 9. 2016 – C-516/14 – Barlis 06, DStR 2016, 2216 Rz. 43. 1352 Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (58). 1353 EuGH v. 21. 10. 2010 – C-385/09 – Nidera Handelscompagnie, DStRE 2011, 570 Rz. 42; EuGH v. 28. 7. 2016 – C-332/15 – Giuseppe Astone, DStRE 2016, 1514 Rz. 45; EuGH v. 15. 9. 2016 – C-516/14, Barlis 06, DStR 2016, 2216 Rz. 42 f.; EuGH v. 15. 9. 2016 – C-518/14 – Senatex, DStR 2016, 2211 Rz. 38; EuGH v. 15. 11. 2017 – C-374/16 u. C-375/16 – Geissel und Butin, DStR 20172544 Rz. 40; EuGH v. 21. 11. 2018 – C-664/16 – Va˘ dan, DStR 2018, 2524 Rz. 41; EuGH v. 18. 11. 2020 – C-371/19 – Komission/Deutschland, DStR 2020, 2671 Rz. 80; EuGH v. 17. 12. 2020 – C-346/19 – Bundeszentralamt für Steuern, ECLI:EU:C:2020:1045 Rz. 72. 1354 EuGH v. 28. 7. 2016 – C-332/15 – Giuseppe Astone, DStRE 2016, 1514 Rz. 47. 1355 EuGH v. 27. 11. 2015 – C-277/14 – PPUH Stehcemp, DStRE 2016, 282 Rz. 29; EuGH v. 15. 9. 2016 – C-516/14 – Barlis 06, DStR 2016, 2216 Rz. 41; EuGH v. 19. 10. 2017 – C-101/16 – SC Paper Consult SRL, MwStR 2017, 991 Rz. 40; EuGH v. 21. 3. 2018 – C-533/16 – Volkswagen AG, DStR 2018, 675 Rz. 42; EuGH v. 21. 11. 2018 – C-664/16 – Va˘ dan, DStR 2018, 2524 Rz. 49; zustimmend Höink/Hudasch, BB 2019, 542 (544); Huschens, UVR 2017, 45 (45); Lange, UR 2020, 595 (597); Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14 Rz. 315; von Streit/Streit, UStB 2017, 57 (66); siehe auch Heuermann, MwStR 2017, 729 (730); vermittelnde Ansicht des BFH v. 20. 10. 2016 – V R 26/15, DStR 2016, 2967 Rz. 17, wonach „der Besitz der Rechnung materielle Anspruchsvoraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug“ ist. 1356 EuGH v. 28. 7. 2016 – C-332/15 – Giuseppe Astone, DStRE 2016, 1514 Tenor zu 2; EuGH v. 17. 12. 2020 – C-346/19 – Bundeszentralamt für Steuern, ECLI:EU:C:2020:1045 Rz. 80; Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (65). 1357 Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (58 u. 64).
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
mäßen Rechnung1358 i. S. v. § 14 Abs. 4 UStG, sodass die Frage, inwieweit fehlende formelle Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs unbeachtlich für den Vorsteuerabzug des gutgläubigen Leistungsempfängers sind, vorliegend nicht entscheidend ist. d) Tatbestandsersetzende Wirkung des guten Glaubens hinsichtlich der materiellen Voraussetzung des Vorsteuerabzugs der „gesetzlich geschuldeten Steuer“? Die materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugsrechts regeln „die eigentliche Grundlage und den Umfang dieses Rechts“1359. Was zu den materiellen Voraussetzungen des Regelfalls des Vorsteuerabzugs zählt, ist in Art. 168 Buchst. a MwStSystRL geregelt.1360 Nach Art. 168 Buchst. a MwStSystRL kann der Leistungsempfänger, sofern er Steuerpflichtiger ist, die „geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden“, als Vorsteuer abziehen, „[s]oweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden“. Die „gesetzlich geschuldete Steuer“ (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG) ist materielle Voraussetzung für den Vorsteuerabzug auf nationaler Ebene.1361 Wie bereits festgestellt, können sich widerstreitende Entscheidungen der Finanzbehörden zur Steuerbarkeit oder zur Steuerpflicht eines Umsatzes sowie zum Steuersatz ergeben.1362 Relevant ist vorliegend deshalb, ob sich der Leistungsempfänger auf seine Gutgläubigkeit hinsichtlich der umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung des Leistenden, dass die Umsatzsteuer „gesetzlich geschuldet“ ist, berufen kann, wenn seine Finanzbehörde die Steuerbarkeit oder Steuerpflicht oder den angewandten Steuersatz ablehnt.1363 Eine etwaige Gutgläubigkeit in Bezug auf die materiellen Voraussetzungen des Anspruchs auf Vorsteuerabzug, die nach Art. 168 Buchst. a MwStSystRL beziehungsweise nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG auf Seiten des Leistungsempfängers für den Vorsteuerabzug vorliegen müssen, das heißt die Unternehmer1358
So auch Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). EuGH v. 28. 7. 2016 – C-332/15 – Giuseppe Astone, DStRE 2016, 1514 Rz. 47. 1360 EuGH v. 6. 9. 2020 – C-324/11 – Tóth, BeckRS 2012, 81872 Rz. 26; EuGH v. 21. 11. 2018 – C-664/16 – Va˘ dan, DStR 2018, 2524 Rz. 39; Generalanwalt Wahl, Schlussanträge v. 5. 7. 2017 – C-374/16 u. C-375/16 – Geissel und Butin, MwStR 2017, 624 Rz. 25; BMF-Schreiben v. 18. 9. 2020 – III C 2-S 7286-a/19/10001 :001, 2020/0920350, DStR 2020, 2131 Rz. 3; Heuermann, MwStR 2017, 729 (730). 1361 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 45; BFH v. 6. 4. 2016 – V R 25/15, DStR 2016, 1527 Rz. 34 f.; BFH v. 21. 8. 2018 – V R 25/15, NJW 2018, 2591 Rz. 27; vgl. auch Art. 168 Buchts. a MwStSystRL: „geschuldete […] Mehrwertsteuer“. 1362 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (217); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 1363 Vgl. dazu Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 451. 1359
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eigenschaft1364 des Leistungsempfängers und die Verwendung1365 der Leistung für das Unternehmen des Leistungsempfängers, ist vorliegend unbeachtlich. aa) Rs. PPUH Stehcemp (1) Keine Erweiterung des Vorsteuerabzugsrechts Im Schrifttum wird vertreten, dass der EuGH dem Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers in der Rechtssache PPUH Stehcemp1366 tatbestandsersetzende Wirkung zugesprochen hat.1367 Auch der XI. Senat des BFH nimmt in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH vom 6. 4. 2016 (Rs. Geissel und Butin) Bezug auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache PPUH Stehcemp und ist dort der Auffassung, dass sich aus der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache PPUH Stehcemp ergeben könnte, „dass ein nicht vorliegendes Tatbestandsmerkmal des Vorsteuerabzugs durch den guten Glauben des Leistungsempfängers an dessen Vorliegen ersetzt werden kann“1368. Klärungsbedürftig sei, ob das Vorsteuerabzugsrecht aufgrund von Gutglaubensschutz inzwischen vom EuGH erweitert worden sei oder die Rechtsprechung des EuGH zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers weiterhin so auszulegen sei, dass das Vorsteuerabzugsrecht allein eine Begrenzung erfahre, weil es trotz Vorliegens der formellen und materiellen Voraussetzungen bei betrugsbehafteten Umsätzen und Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers zu versagen sei.1369 Hintergrund der vorstehenden Erwägungen des BFH ist, dass nach Ansicht des BFH die Unternehmereigenschaft des Leistenden in der Rechtssache PPUH Stehcemp nicht vorlag, sodass aus seiner Sicht nicht alle Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug gegeben waren.1370 Infolgedessen habe es sich bei der Rechnung des Leistenden in der Rechtssache PPUH Stehcemp um eine Rechnung i. S. v. § 14c UStG (Art. 203 MwStSystRL) gehandelt.1371 1364 Zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers hinsichtlich dessen Unternehmereigenschaft siehe Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 119 ff. 1365 Zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers hinsichtlich dessen Verwendungsabsicht vgl. EuGH v. 8. 6. 2000 – C-396/98 – Schlossstraße, DStRE 2000, 877 Rz. 47; BFH v. 8. 3. 2001 – V R 24/98, DStR 2001, 700 (unter II., 1., aa)); Wäger, UR 2017, 41 (42). 1366 EuGH v. 22. 10. 2015 – C-277/14 – PPUH Stehcemp, MwStR 2015, 964. 1367 So Nacke, NWB 2017, 3124 (3125); siehe auch Treiber, DStR 2019, 271 (273) zum Gutglaubensschutz hinsichtlich der Unternehmereigenschaft des Leistenden. 1368 BFH v. 6. 4. 2016 – XI R 20/14, MwStR 2016, 668 Rz. 61. 1369 BFH v. 6. 4. 2016 – XI R 20/14, MwStR 2016, 668 Rz. 62. 1370 BFH v. 6. 4. 2016 – XI R 20/14, MwStR 2016, 668 Rz. 63; zustimmend Treiber, DStR 2019, 271 (273). 1371 BFH v. 6. 4. 2016 – XI R 20/14, MwStR 2016, 668 Rz. 64; zustimmend Treiber, DStR 2016, 1532 (1538).
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
Der Auffassung, dass der EuGH dem guten Glauben des Leistungsempfängers in der Rechtssache PPUH Stehcemp tatbestandsersetzende Wirkung verliehen hat, ist indes nicht zuzustimmen.1372 In der Rechtssache PPUH Stehcemp ging der EuGH vom Vorliegen sowohl der formellen als auch materiellen Tatbestandsmerkmale des Vorsteuerabzugs aus,1373 sodass der EuGH das Recht auf Vorsteuerabzug in dieser Rechtssache nicht durch den guten Glauben des Leistungsempfängers erweitert hat1374. Wirkung spricht der EuGH der Gutgläubigkeit beziehungsweise Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers allein bei der Frage zu, ob der Vorsteuerabzug aufgrund von Missbrauchsgründen abzulehnen ist, auch wenn die formellen und materiellen Tatbestandsvoraussetzungen des Vorsteuerabzugs gegeben sind.1375 Insbesondere war die Umsatzsteuer in der Rechtssache PPUH Stehcemp gerade gesetzlich geschuldet1376, sodass kein Fall des § 14c UStG vorlag. Angemerkt sei, dass der EuGH in der Rechtssache Geissel und Butin auf die vorstehenden Erwägungen des XI. Senats des BFH1377 zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers nicht eingegangen ist.1378 Selbst wenn der EuGH auf die Erwägungen des BFH zum Gutglaubensschutz in der Rechtssache Geissel und Butin eingegangen wäre, wären seine Ausführungen hierzu für die Frage des Gutglaubensschutzes im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nicht relevant. Denn die materiellen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug in der Rechtssache Geissel und Butin lagen vor.1379 In der Rechtssache Butin und Geissel sollte der EuGH beantworten, unter welchen Voraussetzungen sich der Unternehmer auf Gutglaubensschutz berufen kann, wenn keine ordnungsgemäße Rechnung i. S. v. Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL vorliegt, er von deren Vorliegen indes ausging.1380 Nach Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL muss die Rechnung „den vollständigen Namen und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen und des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers“ ausweisen.
1372
So auch Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 15 Rz. 31; Reichelt, MwStR 2016, 552 (555); Spatscheck/Stenert, DStR 2016, 2313 (2317 f.). 1373 EuGH v. 22. 10. 2015 – C-277/14 – PPUH Stehcemp, MwStR 2015, 964 Rz. 42 – 45. 1374 So auch Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 15 Rz. 31; Reichelt, MwStR 2016, 552 (555); Spatscheck/Stenert, DStR 2016, 2313 (2317 f.); a. A. Treiber, DStR 2016, 1532 (1538). 1375 Siehe EuGH v. 22. 10. 2015 – C-277/14 – PPUH Stehcemp, MwStR 2015, 964 Rz. 47 ff.; so auch Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 15 Rz. 31; Spatscheck/Stenert, DStR 2016, 2313 (2317 f.). 1376 EuGH v. 22. 10. 2015 – C-277/14 – PPUH Stehcemp, MwStR 2015, 964 Rz. 45. 1377 BFH v. 6. 4. 2016 – XI R 20/14, MwStR 2016, 668 Rz. 61 ff. 1378 EuGH v. 15. 11. 2017 – C-374/16 u. C-375/16 – Geissel und Butin, DStR 2017, 2544 Rz. 51; Schumann, DStR 2017, 2719 (2720). 1379 Generalanwalt Wahl, Schlussanträge v. 5. 7. 2017 – C-374/16 u. C-375/16 – Geissel und Butin, MwStR 2017, 624 Rz. 27. 1380 Generalanwalt Wahl, Schlussanträge v. 5. 7. 2017 – C-374/16 u. C-375/16 – Geissel und Butin, MwStR 2017, 624 Rz. 27.
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
205
(2) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik Damit ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache PPUH Stehcemp für die hier bestehende Frage, ob dem Leistungsempfänger im (vermeintlichen) Fall des § 14c UStG im Rahmen eines Widerstreits Gutglaubensschutz zusteht, nicht von Relevanz. bb) Rs. Litdana (1) Gutglaubensschutz bei der Differenzbesteuerung Jedoch hat der EuGH in der Rechtssache Litdana klargestellt, dass in „Fälle[n], in denen nicht alle der materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, die das Recht […] auf Vorsteuerabzug eröffnen, […] dieses Recht nicht einem Steuerpflichtigen versagt werden darf, der in gutem Glauben gehandelt und alle Maßnahmen ergriffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt.“1381 Im Schrifttum wird vertreten, dass die Frage, ob das Recht auf Vorsteuerabzug auch bei Nichtbestehen von materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs aufgrund des guten Glaubens des Leistungsempfängers bestehen kann, durch die Rechtssache Litdana Klärung erfahren hat.1382 In seinem Urteil Litdana habe der EuGH seine Rechtsprechung in der Rechtssache Teleos1383 zur tatbestandsersetzenden Wirkung des guten Glaubens des Leistenden zum ersten Mal ausdrücklich auf den Vorsteuerabzug bezogen.1384 Die oben stehende Ausführung des EuGH bezieht sich jedoch darauf, dass dem gutgläubigen Leistungsempfänger bei Vorliegen eines betrugsbehafteten Umsatzes das Vorsteuerabzugsrecht nicht versagt werden darf.1385 Gegenstand des LitdanaUrteils ist die Übertragung der Grundsätze des EuGH zum Gutglaubensschutz im Rahmen von betrugsbehafteten Umsätzen auf die Differenzbesteuerung (vgl.§ 25a UStG).1386 (2) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik Zur hier relevanten Frage, ob Gutglaubensschutz im Fall des § 14c UStG erfolgen kann, hat der EuGH im Litdana-Urteil keine Ausführungen getroffen, sodass die 1381 1382 1383 1384 1385 1386
EuGH v. 18. 5. 2017 – C-624/15 – Litdana, DStRE 2017, 1389 Rz. 36. Lange, UR 2020, 595 (597). EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109. Lange, UR 2020, 595 (597). EuGH v. 18. 5. 2017 – C-624/15 – Litdana, DStRE 2017, 1389 Rz. 35. EuGH v. 18. 5. 2017 – C-624/15 – Litdana, DStRE 2017, 1389 Rz. 37.
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
Entscheidung in der Rechtssache Litdana vorliegend nicht weiterhilft, ob dem gutgläubigen Leistungsempfänger bei einem Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis Gutglaubensschutz zuzusprechen ist. cc) Rs. SGI und Valériane SNC (1) Kein Gutglaubensschutz im Fall des § 14c Abs. 2 Satz 2 2. Alt. UStG In der Rechtssache SGI und Valériane SNC hat der EuGH entschieden, dass ein Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers hinsichtlich der tatsächlich nicht vorliegenden materiellen Tatbestandsvoraussetzung des Vorsteuerabzugs einer erfolgten Leistung (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG; Art. 168 Buchst. a MwStSystRL) nicht in Frage kommt.1387 (2) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik Dass im Fall des § 14c Abs. 2 Satz 2 2. Alt. UStG nach Ansicht des EuGH kein Gutglaubensschutz in Frage kommt, könnte dafür sprechen, dass auch im Fall des § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG und im Fall des § 14c Abs. 2 Satz 1 oder Abs. 2 Satz 2 1. Alt nach Ansicht des EuGH kein Gutglaubensschutz zu gewähren ist. Denn die Mehrwertsteuersystemrichtlinie unterscheidet nicht zwischen einem unrichtigen (§ 14c Abs. 1 UStG) und einem unberechtigten Steuerausweis (§ 14c Abs. 2 UStG) (vgl. § 203 MwStSystRL).1388 Art. 203 MwStSystRL bestimmt allein, dass die Mehrwertsteuer von jeder Person geschuldet wird, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist. Überdies gilt es zu beachten, dass der EuGH im Zusammenhang mit dem guten Glauben des Leistungsempfängers an die Leistung wiederholt hat, dass „das Recht auf Vorsteuerabzug sich nicht auf eine Steuer erstreckt, die ausschließlich deswegen geschuldet wird, weil sie in der Rechnung ausgewiesen ist“1389. Da bei einem Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis jedoch Streit über die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung1390 der Finanzbehörden über die „Steuerbarkeit und Steuerpflicht ein und derselben Leistung“1391 und nicht Streit darüber besteht, ob der Leistende eine Leistung tatsächlich ausführt oder i. S. v. § 14c Abs. 2 Satz 2 1387 EuGH v. 27. 6. 2018 – C-459/17 u. C-460/17 – SGI und Valériane SNC, MwStR 2018, 712 Rz. 38; siehe hierzu auch Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 15 Rz. 30; Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (57 f.); siehe auch bereits FG Berlin-Brandenburg v. 17. 8. 2016 – 7 K 7246/14, DStRE 2017, 749 (unter III., 3., b)), wonach bei einer fehlenden Leistungserbringung ein „herabgesetzter Vertrauensschutz“ erfolgt. Anders indes noch Lindenberg/Klamet/Schmidt, UR 2015, 895 (901); Wäger, UR 2017, 41 (45). 1388 Weymüller, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 14c Rz. 27. 1389 EuGH v. 27. 6. 2018 – C-459/17 u. C-460/17 – SGI und Valériane SNC, MwStR 2018, 712 Rz. 37. 1390 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176); Weimann, UStB 2010, 350 (350). 1391 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121).
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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2. Alt. UStG nicht ausführt, ist die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache SGI und Valériane SNC nicht auf die vorliegende Problematik übertragbar. dd) Rs. Kollroß und Wirtl (1) Beurteilung der Leistung aus Empfängersicht Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kollroß und Wirtl und die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache SGI und Valériane SNC stehen vermeintlich im Widerspruch zueinander.1392 Denn in der Rechtssache Kollroß und Wirtl hat der EuGH dem gutgläubigen Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug trotz Nichtvorliegens einer Leistung zugesprochen.1393 In der Rechtssache Kollroß und Wirtl stellte der EuGH klar, dass im Fall einer nie erfolgten Leistung, jedoch bereits erfolgten Anzahlung1394 des durch den Leistenden getäuschten1395 Leistungsempfängers dem gutgläubigen Leistungsempfänger der Vorsteuerabzug nur dann versagt werden darf, „wenn anhand objektiver Umstände erwiesen ist, dass er zum Zeitpunkt der Leistung der Anzahlung wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass diese Lieferung oder Dienstleistung voraussichtlich nicht bewirkt bzw. erbracht werden würde“.1396 Weil der EuGH im Kollroß und Wirtl-Urteil auf die subjektive1397 Sichtweise des Leistungsempfängers in Bezug auf das Erbringen einer Leistung durch den Leistenden abstellt, wird auf dieses Urteil vorliegend eingegangen. In der Rechtssache Kollroß und Wirtl liegt nach Ansicht des EuGH und des BFH kein Fall des unberechtigten Steuerausweises nach § 14c Abs. 2 Satz 2 2. Alt. UStG (Art. 203 MwStSystRL) vor, auch wenn die Leistung tatsächlich nicht ausgeführt wurde.1398 Grund hierfür sei, dass die Steuer im Fall einer Anzahlung des Leistungsempfängers vor Leistungserbringung nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a S. 4 1392
Vgl. dazu Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (57). EuGH v. 31. 5. 2018 – C-660/16 u. C-661/16 – Kollroß und Wirtl, MwStR 2018, 652 Rz. 49; zu den entsprechenden Vorlagebeschlüssen siehe BFH v. 1. 9. 2016 – XI R 44/14, MwStR 2017, 128; BFH v. 21. 9. 2016 – V R 29/15, MwStR 2017, 122. 1394 Gleiches gilt für eine Vorauszahlung. Vgl. BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 41. 1395 Der leistende Unternehmer hatte tatsächlich nie vor, die Leistung zu erbringen. 1396 EuGH v. 31. 5. 2018 – C-660/16 u. C-661/16 – Kollroß und Wirtl, MwStR 2018, 652 Rz. 49; zustimmend Jacobs/Swoboda, DStRK 2018, 201 (201); a. A. Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 45; kritisch auch Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 282. 1397 Vgl dazu Hartman, in: Musil/Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, Teil 3, § 15 Rz. 29; Jacobs, DStRK 2018, 201 (201); Schumann, DStR 2018, 1653 (1653 ff); Weymüller, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 14c Rz. 253.3; Widmann, UR 2019, 255 (264). 1398 EuGH v. 31. 5. 2018 – C-660/16 u. C-661/16 – Kollroß und Wirtl, MwStR 2018, 652 Rz. 39 – 51; BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 57 u. 59; BFH v. 17. 7. 2019 – V R 9/19 (V R 29/15), MwStR 2019. 959 Rz. 24; so bereits Wäger, UR 2017, 41 (45); a. A. Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 45; Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 283. 1393
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
UStG (Art. 65 MwStSystRL) bereits zum Zeitpunkt der Anzahlung entstehe, vorausgesetzt es bestehe keine Unsicherheit1399 beim Leistungsempfänger über die noch zu erbringende Leistung.1400 Die „Unsicherheit über die ausstehende Leistungserbringung [sei] aus Empfängersicht“ zu beurteilen.1401 Der Leistende schulde die Steuer demgemäß nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a S. 4 UStG.1402 Eine Steuerschuld nach § 14c Abs. 2 Satz 2 2. Alt. UStG (Art. 203 MwStSystRL) liege in diesem Fall folglich nicht vor.1403 Der Vorsteuerabzug entstehe, wenn der Anspruch auf die abziehbare Vorsteuer entstehe (vgl. § 167 MwStSystRL) (Entstehung des Vorsteuerabzugs „im Gleichlauf mit dem Steueranspruch“1404).1405 Dem Leistungsempfänger stehe dementsprechend der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 UStG zu.1406 Mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 14c Abs. 2 Satz 2 2. Alt. UStG sei die Steuer auch „gesetzlich geschuldet“ i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG.1407 Auch eine Berichtigungspflicht des Leistungsempfängers hinsichtlich des Vorsteuerabzugs (vgl. § 17 Abs. 2 Nr. 2 UStG) wurde vom EuGH und ihm folgend vom BFH für den Fall abgelehnt, dass der Leistungsempfänger den Steuerbetrag nicht vom Leistenden zurückerhalten habe und der Fiskus den Steuerbetrag vom Leistenden erhalten habe.1408 Ein Steuerausfallrisiko bestünde angesichts dessen, dass der Fiskus den Steuerbetrag bereits vom Leistenden vereinnahmt habe, nicht.1409 1399 Zur Voraussetzung der Steuerentstehung nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a S. 4 UStG (Art. 65 MwStSystRL), dass keine Unsicherheit des Leistungsempfängers über die Leistungserbringung bestehen darf, vgl. auch bereits EuGH v. 13. 3. 2014 – C-107/13 – FIRIN OOD, DStR 2014, 650 Rz. 39 u. BFH v. 29. 1. 2015 – V R 51/13, BeckRS 2015, 94491 Rz. 13; BFH v. 21. 9. 2016 – V R 29/15, BeckRS 2016, 95792 Rz. 31. 1400 EuGH v. 31. 5. 2018 – C-660/16 u. C-661/16 – Kollroß und Wirtl, MwStR 2018, 652 Rz. 39 – 51; BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 59; a. A. FG Münster v. 3. 4. 2014 – 5 K 383/12 U, BeckRS 2014, 95179. 1401 BFH v. 17. 7. 2019 – V R 9/19 (V R 29/15), MwStR 2019. 959 Rz. 24; entsprechend EuGH v. 31. 5. 2018 – C-660/16 u. C-661/16 – Kollroß und Wirtl, MwStR 2018, 652 Rz. 46 ff. 1402 BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 59. 1403 BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 59; so bereits auch BFH v. 21. 9. 2016 – V R 29/15, BeckRS 2016, 95792 Rz. 40; a. A. indes noch BFH v. 21. 9. 2016 – XI R 44/ 14, DStR 2017, 33 Rz. 57; a. A. FG Münster v. 3. 4. 2014 – 5 K 383/12 U, BeckRS 2014, 95179; Korn, in: Bunjes, UStG, § 14c Rz. 45. 1404 Jacobs, DStRK 2018, 201 (201). 1405 EuGH v. 31. 5. 2018 – C-660/16 u. C-661/16 – Kollroß und Wirtl, MwStR 2018, 652 Rz. 47; BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 42. 1406 BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 37 ff. u. 59; zustimmend Korf, MwStR 2018, 652 (658). 1407 BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 57. 1408 BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 62 – 78; EuGH v. 31. 5. 2018 – C660/16 u. C-661/16 – Kollroß und Wirtl, MwStR 2018, 652 Rz. 52 – 69; a. A. Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (65). 1409 EuGH v. 31. 5. 2018 – C-660/16 u. C-661/16 – Kollroß und Wirtl, MwStR 2018, 652 Rz. 62.
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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Nach Auffassung des BFH besteht kein Widerspruch zwischen den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Kollroß und Wirtl und SGI und Valériane SNC, da unterschiedliche Fälle vorgelegen hätten.1410 (2) Keine Übertragung auf die vorliegende Problematik Die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Kollroß und Wirtl ist auf die vorliegende Problematik nicht übertragbar. Der Leistungsempfänger kann sich nicht entsprechend1411 dem Kollroß und Wirtl-Urteil bei Widerstreit im Vier-ParteienVerhältnis darauf berufen, dass er nicht wusste und auch nicht vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Leistung nicht steuerbar oder nicht steuerpflichtig ist, sodass ihm der Vorsteuerabzug zusteht. Zunächst befindet sich der Leistungsempfänger bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nicht in der Situation, dass, wie es im Kollroß und WirtlUrteil der Fall war, ihn der Leistende über das Ausführen der Leistung täuscht, der Leistungsempfänger indes eine Anzahlung leistet. Gegen die Übertragung spricht außerdem, dass in der Rechtssache Kollroß und Wirtl die nicht ausgeführte Leistung an sich, wäre sie ausgeführt worden, steuerbar und steuerpflichtig war.1412 Allein die Unsicherheit der Leistung bei der Frage der Steuerentstehung im Fall einer Anzahlung des Leistungsempfängers ist aus Empfängersicht zu werten.1413 Die subjektive Anknüpfung ist in diesem Fall nur deshalb erforderlich, weil eben noch keine Leistung erbracht wurde und dies auch keine Voraussetzung für die Steuerentstehung beim Leistenden nach Art. 65 MwStSystRL ist.1414 Der BFH wiederholt in der Rechtssache Kollroß und Wirtl gerade, dass sich das Vorsteuerabzugsrecht nicht auf eine Steuer erstreckt, „die ausschließlich deshalb geschuldet wird, weil sie in der Rechnung ausgewiesen ist“, und verweist hierbei auf das Genius-Holding-Urteil1415 und die dieses Urteil bestätigende Rechtsprechung.1416 1410
BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 59. Schumann untersucht aufgrund des Kollroß und Wirtl-Urteils, ob man generell davon ausgehen könne, dass die subjektive Sicht des Leistungsempfängers die nicht vorliegende Tatbestandsvoraussetzung des Vorsteuerabzugs einer Leistung ersetzen kann, was er ablehnt. Eine allein vom Leistungsempfänger angenommene, in Wirklichkeit nicht vorliegende Leistung begründe bei Nichtvorliegen eines Anzahlungsfalls kein Recht auf Vorsteuerabzug. Für die Frage, ob ein Vorsteuerabzugsrecht vorliegt, komme es auf die objektive Sichtweise an. Vgl. Schumann, DStR 2018, 1653 (1653 ff.). 1412 Vgl. dazu BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 57 ff. 1413 EuGH v. 31. 5. 2018 – C-660/16 u. C-661/16 – Kollroß und Wirtl, MwStR 2018, 652 Rz. 46 ff.; BFH v. 17. 7. 2019 – V R 9/19 (V R 29/15), MwStR 2019, 959 Rz. 24. Auch Schumann ist der Auffassung, dass der EuGH allein festgestellt hat, dass sich die Anzahlung aus zwei Bestandteilen zusammensetzt, und zwar aus dem objektiven Bestandteil der Zahlung sowie dem subjektiven Bestandteil der Vorstellung des Leistungsempfängers, dass die Leistung ausgeführt wird. Siehe Schumann, DStR 2018, 1653 (1654). 1414 Schumann, DStR 2018, 1653 (1654). 1415 EuGH v. 13. 12. 1989 – C-342/87, NJW 1991, 632. 1411
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
ee) Rs. Kreuzmayr (1) Kein Gutglaubensschutz im Fall des § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG In der Rechtssache Kreuzmayr sollte der EuGH klären, ob der Grundsatz des Gutglaubensschutzes1417 dahin auszulegen ist, dass der Leistungsempfänger eine ihm vom leistenden Unternehmer in Rechnung gestellte Umsatzsteuer, die jedoch tatsächlich nicht gesetzlich geschuldet ist, weil in Wirklichkeit eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung vorliegt (§ 4 Nr. 1 Buchst. b UStG), als Vorsteuer abziehen darf, wenn die übrigen materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs vorliegen und eine missbräuchliche Beanspruchung des Vorsteuerabzuges durch den Leistungsempfänger nicht anzunehmen sei.1418 Dass dem gutgläubigen Leistungsempfänger bei unrichtigem Steuerausweis (§ 14c Abs. 1 UStG) Gutglaubensschutz zuzusprechen ist, hat der EuGH unmissverständlich abgelehnt.1419 Zu beachten gilt es zwar, dass der EuGH in seinen Entscheidungsgründen nicht auf den vom Vorlagegericht angefragten Gutglaubensschutz eingegangen ist, sondern allein auf Vertrauensschutz gegenüber Finanzbehörden, auf den sich die Vorlagefrage gar nicht bezog.1420 Allerdings ist anzunehmen, dass der EuGH damit auch einen Gutglaubensschutz im Fall des unrichtigen Steuerausweises abgelehnt hat. Denn es ist davon auszugehen, dass der EuGH Gutglaubensschutz und Vertrauensschutz in der Rechtssache Kreuzmayr synonym verwendet.1421 Außerdem war für den EuGH durch die Fragestellung des Vorlagegerichts erkennbar, dass es dem Vorlagegericht um die Frage des Schutzes des guten Glaubens an das Anfallen der Umsatzsteuer ging. Generell unterliegt die Verwendung der Begriffe des Gutglaubensschutzes und des Vertrauensschutzes durch den EuGH keiner erkennbaren Systematik.1422 Der EuGH wiederholte in der Rechtssache Kreuzmayr zunächst seine ständige Rechtsprechung, indem er daran erinnerte, dass „[d]as gemeinsame Mehrwertsteuersystem […] die völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller 1416
BFH v. 5. 12. 2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508 Rz. 58. Das Vorlagegericht hat sich bei seiner Vorlagefrage auf den Grundsatz des Gutglaubensschutzes bezogen, auch wenn es von Vertrauensschutz spricht. Vgl. Heinrichshofen, UR 2018, 282 (285 f.). 1418 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 21 u. 39 f. 1419 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 45 – 49; Langer, MwStR DStR 2018, 461 (465); zustimmend Heuermann, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 3 Rz. 498; Reiß, MwStR 2018, 296 (304); Schumann, DStR 2018, 1653 (1654). 1420 Heinrichshofen, UR 2018, 282 (285 f.). 1421 So Heinrichshofen, UR 2018, 282 (288 Fn. 11); siehe auch Reiß, MwStR 2018, 296 (304). 1422 Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 75. 1417
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wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis [gewährleiste]“.1423 Jedoch sei erforderlich, dass „diese Tätigkeiten selbst der Mehrwertsteuer unterliegen.“1424 „Das Recht auf Vorsteuerabzug besteh[e] nämlich nur für geschuldete Steuern und […] [könne] nicht auf zu Unrecht gezahlte Vorsteuer erstreckt werden […]. Folglich erstreck[e] sich dieses Recht nicht auf die Mehrwertsteuer, die nur deshalb geschuldet wird, weil sie in der Rechnung ausgewiesen ist“.1425 Ein Vorsteuerabzug aufgrund des fehlerhaften Steuerausweises komme nicht in Frage.1426 Der Leistungsempfänger könne sich hinsichtlich seines Vorsteuerabzugs nicht allein auf die vom Leistenden getätigten Rechnungsangaben in Bezug auf die Steuerpflicht der Leistung verlassen.1427 Zwar könne „sich jeder auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen […], bei dem eine Verwaltungsbehörde aufgrund bestimmter Zusicherungen, die sie ihm gegeben hat, begründete Erwartungen geweckt hat“.1428 „Daraus folg[e], dass sich ein Wirtschaftsteilnehmer unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens zur Geltendmachung eines Anspruchs auf Vorsteuerabzug nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes gegenüber seinem Lieferanten berufen“ könne.1429 Ein Leistungsempfänger „in der Situation von Kreuzmayr im Ausgangsverfahren […] [müsse] […] die Rückzahlung der rechtsgrundlos an den Wirtschaftsteilnehmer, der eine fehlerhafte Rechnung ausgestellt hat, gezahlten Steuer nach nationalem Recht verlangen“.1430 Der Leistende war in der Rechtssache Kreuzmayr bereits in Insolvenz geraten.1431 Aus diesem Grund verwies der EuGH auf seine Rechtsprechung in der Rechtssache Farkas1432, wonach der Leistungsempfänger sich hinsichtlich seines Rückzahlungsanspruchs direkt an den Fiskus wenden kann (sog. „Reemstma-Anspruch“1433).1434
1423
EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 42. EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 42. 1425 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 43; vgl. dazu auch EuGH v. 19. 9. 2000 – C-454/98 – Schmeink & Cofreth und Strobel, DStRE 2000, 1166 Rz. 53. 1426 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 44. 1427 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 45 ff. 1428 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 46. 1429 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 47. 1430 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 48; zustimmend Reiß, MwStR 2018, 296 (304); Widmann, MwStR 2018, 308 (312); vgl. dazu auch EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 49 ff.; Jacobs, DStRK 2018, 131 (131). 1431 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 15. 1432 EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 49 ff. 1433 Zu diesem Direktanspruch (sog. „Reemtsma-Anspruch“) siehe bereits oben ausführlich: Zweiter Teil, § 3, II. u. insbes. EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/ Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 39 u. 41. 1424
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Im Ergebnis stützt sich der EuGH damit auf den Grundsatz: „Wo Du Deinen Glauben gelassen hast, sollst Du ihn suchen.“1435 (2) Übertragung auf die vorliegende Problematik Die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Kreuzmayr ist auf die vorliegende Problematik übertragbar. Der EuGH hat klargestellt, dass dem gutgläubigen Leistungsempfänger bei unrichtigem Steuerausweis (§ 14c Abs. 1 Satz 1 UStG) der Vorsteuerabzug nicht aufgrund von Gutglaubensschutz zuzusprechen ist.1436 Die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Kreuzmayr ist auf die vorliegende Problematik deshalb übertragbar, weil bei einem Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis ebenfalls ein aus Sicht der Finanzbehörde des Leistungsempfängers Fall des § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG besteht. Gleichfalls besteht dann, wenn die Finanzbehörde des Leistungsempfängers bei einem Widerstreit davon ausgeht, dass ein Fall des § 14c Abs. 2 Satz 1 oder des § 14c Abs. 2 Satz 2 1. Alt. UStG vorliegt, kein Gutglaubensschutz. Denn der EuGH lehnt den Gutglaubensschutz in der Rechtssache Kreuzmayr generell bei einer „fehlerhafte[n] Rechnung“1437 ab. Das heißt, dass auch bei einer Rechnung i. S. d. § 14c Abs. 2 Satz 1 oder gem. § 14c Abs. 2 Satz 2 1. Alt. UStG nach Ansicht des EuGH kein Gutglaubensschutz in Frage kommt. Überträgt man die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Kreuzmayr1438 auf die dieser Arbeit zugrunde liegende Problematik widersprüchlicher Entscheidungen gilt Folgendes: Ist die Finanzbehörde des Leistungsempfängers entgegen der Ansicht der Finanzbehörde des Leistenden der Ansicht, dass ein unrichtiger Steuerausweis oder unberechtigter Steuerausweis vorliegt, kann sich der Leistungsempfänger nicht auf seine Gutgläubigkeit hinsichtlich der umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung des Leistenden, dass die Umsatzsteuer so, wie sie in der Rechnung ausgewiesen ist, gesetzlich geschuldet ist, berufen. Ein Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers besteht bei Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis nicht. Vielmehr muss der Leistungsempfänger, sofern er den Umsatzsteuerbetrag bereits an den Leistenden gezahlt hat, sich hinsichtlich der Rückzahlung des vermeintlich gesetzlich nicht geschuldeten Umsatzsteuerbetrags zunächst an den Leistenden 1434
EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 46; Klenk, HFR 337 (339). 1435 Widmann, MwStR 2018, 308 (312). 1436 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 45 – 49; Jacobs, DStRK 2018, 131 (131); Langer, MwStR DStR 2018, 461 (465); Reiß, MwStR 2018, 296 (304). 1437 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 48; zustimmend Reiß, MwStR 2018, 296 (304); Widmann, MwStR 2018, 308 (312); vgl. dazu auch EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 49 ff.; Jacobs, DStRK 2018, 131 (131). 1438 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 45 – 49.
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halten. Im Fall der Insolvenz des Leistenden kommt ein Direktanspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus in Frage. Bereits an dieser Stelle sei auf die Problematik hingewiesen, dass sich der Leistende bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis jedoch weigern wird, den Umsatzsteuerbetrag an den Leistungsempfänger zurückzuzahlen, da sein Finanzamt den Umsatz als steuerbar und steuerpflichtig behandelt.1439 Wie die Lösung dieser für den Leistungsempfänger bestehenden Problematik zu erfolgen hat, wird an späterer Stelle im Rahmen der Stellungnahme zu Stadies Lösungsvorschlag erläutert (dazu II., 1., b.). ff) Zwischenergebnis Gutglaubensschutz beim Vorsteuerabzug kommt nach Auffassung des EuGH insbesondere1440 bei betrugsbehafteten Umsätzen in Frage.1441 Eine Gutgläubigkeit hinsichtlich bloßer Rechtsfragen beziehungsweise umsatzsteuerrechtlicher Beurteilungen kommt nach Ansicht des EuGH hingegen nicht in Frage.1442 Dies wird insbesondere durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kreuzmayr1443 deutlich.1444 Bei der Frage, ob dem Leistungsempfänger bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis Gutglaubensschutz zuzusprechen ist, geht es jedoch gerade um die Frage, ob ein Gutglaubensschutz hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung des Leistenden über das Anfallen der Umsatzsteuer – also hinsichtlich Rechtsfragen – in Frage kommt. Überträgt man die oben aufgeführte Rechtsprechung des EuGH zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers beim Vorsteuerabzug auf die vorliegende Problematik des Widerstreits im Vier-Personen-Verhältnis, ist im Ergebnis festzustellen: Dem gutgläubigen Leistungsempfänger ist im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis im Fall des (vermeintlichen) § 14c UStG kein 1439 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 969; zur Erschwerung der zivilrechtlichen Rückabwicklung aufgrund des steuerrechtlichen Widerstreits vgl. auch Nieskens, UR 2015, 302 (304). 1440 Mangels Relevanz wird in dieser Arbeit nicht darauf eingegangen, ob und inwieweit eine Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers in Bezug auf die materiellen Voraussetzungen des Anspruchs auf Vorsteuerabzug, die auf Seiten des Leistungsempfängers für den Vorsteuerabzug vorliegen müssen, besteht. 1441 EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 u. C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, DStR 2006, 1274 Rz. 60; bestätigend z. B. EuGH v. 31. 1. 2013 – C-642/11 – Stroy trans, MwStR 2013, 125 Rz. 48; der Rechtsprechung des EuGH diesbezüglich folgend z. B. BFH v. 21. 6. 2018 – V R 28/ 16, DStR 2018, 1650 Rz. 31; vgl. dazu auch Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (57). 1442 Langer, DStR 2018, 461 (465); von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 152; Wäger, UR 2017, 41 (47); so wohl auch Ismer/Artinger, MwStR 2019, 56 (57 u. 65). 1443 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308. 1444 So auch von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 152.
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
Gutglaubensschutz zuzusprechen, weil es hier um bloße Rechtsfragen über die Steuerbarkeit und die Steuerpflicht ein und derselben Leistung geht.
4. Rechtsprechung des BFH zum Gutglaubensschutz a) Gutglaubensschutzerwägungen im Billigkeitsverfahren, §§ 163, 227 AO Nach ständiger Rechtsprechung des BFH normiert § 15 UStG keinen Gutglaubensschutz hinsichtlich des Vorliegens von dessen Voraussetzungen.1445 Demnach kommt nach Ansicht des BFH die Beachtung des Gutglaubensschutzes des Leistungsempfängers nicht im Festsetzungsverfahren (§§ 16, 18 UStG), sondern allein im Billigkeitsverfahren (§§ 163, 227) AO in Betracht.1446 Letzteres ist strittig. Nach teilweise vertretener Ansicht in der Rechtsprechung und in der Literatur ist der gute Glaube des Leistungsempfängers beim Vorsteuerabzug im Festsetzungsverfahren zu beachten.1447 Ob der Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers im Festsetzungsverfahren zu gewähren ist, hat der EuGH (noch) nicht entschieden.1448 Zwar hat der BFH den EuGH per Vorabentscheidungsverfahren gefragt, ob „Art. 168 Buchst. a in Verbindung mit Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie unter Beachtung des Effektivitätsgebots einer nationalen Praxis entgegen[steht], die einen guten Glauben des Leistungsempfängers an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nur außerhalb des Steuerfestsetzungsverfahrens im Rahmen eines gesonderten Billig1445 BFH v. 8. 10. 2008 – V R 63/07, BeckRS 2008, 25015261 (unter II., 2.); BFH v. 8. 7. 2009 – XI R 51/07, BFH/NV 2010, 256 (unter II., 2.); BFH v. 22. 7. 2015 – V R 23/14, DStR 2015, 2073 Rz. 31; BFH v. 6. 4. 2016 – XI R 20/14, MwStR 2016, 668 Rz. 32; zustimmend Korn, MwStR 2016, 62 (65); a. A. FG Köln v. 6. 12. 2006 – 4 K 1354/02, DStRE 2007, 491 (unter 2., b), bb)). 1446 BFH v. 30. 4. 2009 – V R 15/07, BStBl. 2009 II, 744 (unter II., 3. a)); BFH v. 8. 7. 2009 – XI R 51/07, BFH/NV 2010, 256 (unter II., 3.); BFH v. 19. 11. 2009 – V R 41/08, DStR 2010, 150 Rz. 19; BFH v. 22. 7. 2015 – V R 23/14, DStR 2015, 2073 Rz. 21; BFH v. 6. 4. 2016 – XI R 20/ 14, MwStR 2016, 668 Rz. 32; BFH v. 15. 10. 2019 – V R 29/19, DStR 2020, 40 Rz. 33; zustimmend Heidner, in: Bunjes, UStG, § 15 Rz. 30; Heuermann, MwStR 2017, 729 (734); in Frage stellend BFH v. 6. 4. 2016 – XI R 20/14, MwStR 2016, 668. 1447 FG Berlin-Brandenburg v. 27. 8. 2014, 7 V 7147/14, DStRE 2015, 867 (868); Drüen, DB 2010, 1847 (1850); Friedrich-Vache, UR 2015, 889 (894); Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 282; Lange, UR 2020, 595 (601); Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 79; Schumann, DStR 2017, 2719 (2721); Stapperfend, UR 2013, 321 (326); von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 251; von Streit, UStB 2012, 288 (291 ff.); Wäger, UR 2017, 41 (48); Weymüller, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 14 Rz. 515.2; Weymüller, MwStR 2016, 668 (673). 1448 Heidner, in: Bunjes, UStG, § 15 Rz. 30; Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 78; Schumann, DStR 2017, 2719 (2720); Weymüller, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 14 Rz. 515.1.
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keitsverfahrens berücksichtigt“.1449 Eine Antwort hierauf gab der EuGH dem BFH in der Rechtssache Geissel und Butin indes nicht.1450 Vielmehr ging der EuGH einen Lösungsweg, bei welchem die Beantwortung der Frage zur Geltendmachung des Gutglaubensschutzes im Festsetzungsverfahren oder im Billigkeitsverfahren nicht zu entscheiden war.1451 Ob der Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers im Festsetzungsverfahren zu beachten ist, sei – so der BFH – weiterhin ungeklärt.1452 b) Der gute Glaube an ordnungsgemäße Rechnungsangaben Die Rechtsprechung des BFH zum im Billigkeitsverfahren zu beachtenden Gutglaubensschutz „beim Vorsteuerabzug“ betrifft den Schutz des guten Glaubens daran, dass ordnungsgemäße Rechnungsangaben i. S. v. § 14 Abs. 4 UStG gegeben sind.1453 Die Entscheidungen des BFH zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers betreffen zum Beispiel den guten Glauben des Leistungsempfängers an die Rechnungsanschrift1454 oder an die Rechnungsnummer1455. „Liegen die materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs nach § 15 UStG […] wegen unzutreffender Rechnungsangaben nicht vor, kann im Billigkeitsverfahren gleichwohl ausnahmsweise nach dem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes ein Vorsteuerabzug nach den Grundsätzen des EuGH in den Urteilen Teleos […] und NettoSupermarkt […] in Betracht kommen, wenn der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer gutgläubig war und alle Maßnahmen ergriffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sich von der Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu überzeugen und seine Beteiligung an einem Betrug ausgeschlossen ist.“1456 An dieser Stelle ist zu beachten, dass nach Ansicht des BFH das Vorliegen
1449 1450
Rz. 51. 1451
BFH v. 6. 4. 2016 – XI R 20/14, MwStR 2016, 668 (Leitsatz zu 2). EuGH v. 15. 11. 2017 – C-374/16 u. C-375/16 – Geissel und Butin, DStR 2017, 2544
Siehe dazu Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 79; Weymüller, in: Weymüller, BeckOK UStG, § 14 Rz. 515.1. 1452 BFH v. 16. 5. 2019 – XI B 13/19, MwStR 2019, 706 Rz. 22. 1453 BFH v. 8. 10. 2008 – V R 63/07, BeckRS 2008, 25015261 (unter II., 4.); BFH v. 22. 7. 2015 – V R 23/14, DStR 2015, 2073 Rz. 30; BFH v. 6. 4. 2016 – XI R 20/14, MwStR 2016, 668 Rz. 31; BFH v. 15. 10. 2019 – V R 29/19, DStR 2020, 40 Rz. 17 ff.; siehe dazu auch FriedrichVache, UR 2015, 889 (891); Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 351 u. 354; Schumann, DStR 2017, 2719 (2721); Wäger, UR 2017, 41 (41). 1454 BFH v. 8. 10. 2008 – V R 63/07, BeckRS 2008, 25015261; BFH v. 30. 4. 2009 – V R 15/ 07, DStR 2009, 1427; BFH v. 8. 7. 2009 – XI R 51/07, BeckRS 2009, 25017794; dazu auch Treiber, DStR 2019, 271 (273); Weymüller, MwStR 2016, 668 (673 f.). 1455 BFH v. 2. 9. 2010 – V R 55/09, DStR 2010, 2348. 1456 Wortzitat aus BFH v. 8. 10. 2008 – V R 63/07, BeckRS 2008, 25015261 (unter II., 4.); siehe auch BFH v. 30. 4. 2009 – V R 15/07, BStBl. 2009 II, 744 (unter II., 4.); siehe auch BFH v. 18. 2. 2016 – V R 62/14, DStR 2016, 960 Rz. 22.
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einer ordnungsgemäßen Rechnung „materielle Anspruchsvoraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug“ ist.1457 Vorliegend ist jedoch irrelevant, ob dem Leistungsempfänger im Fall unzutreffender Rechnungsangaben i. S. v. § 14 Abs. 4 UStG Gutglaubensschutz zuzusprechen ist. Denn über die Frage, ob eine ordnungsgemäße Rechnung vorliegt, besteht vorliegend kein Streit. Streit besteht vorliegend darüber, ob der Umsatz steuerbar und steuerpflichtig ist beziehungsweise welcher Steuersatz der Anwendung findet.1458 c) Kein Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz im Fall des § 14c UStG Relevant ist vorliegend allerdings, dass der BFH in seinem Urteil vom 21. 6. 2018 mit Verweis auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache Kreuzmayr1459 klargestellt hat, dass aus seiner Sicht „ein Vorsteuerabzug aus Vertrauensschutzgründen [(Gutglaubensschutzgründen)] […] im Hinblick auf eine Mehrwertsteuer aus[scheidet], die nur deshalb geschuldet wird, weil sie in der Rechnung ausgewiesen ist“.1460 In dem vorstehenden Urteil des BFH war fraglich, ob die materielle Voraussetzung des Rechts auf Vorsteuerabzug vorliegt, dass es sich um eine gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG „gesetzlich geschuldete Steuer“ handelt.1461 Angemerkt sei, dass der BFH in seinem Urteil vom 19. 11. 2009 noch offen gelassen hatte, ob Gutglaubensschutz in Bezug auf den falsch angewandten Steuersatz bestehen kann (Fall des § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG).1462 d) Zwischenergebnis Aus diesem Grund ist hinsichtlich der Bedeutung der vorstehenden BFHRechtsprechung zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers für die vorliegende Problematik widersprüchlicher Entscheidungen auf die Ausführungen zu verweisen, die im Rahmen der EuGH-Rechtsprechung zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers erfolgt sind. Überträgt man die Rechtsprechung des BFH auf die vorliegende Problematik, ist dem Leistungsempfänger kein Gutglaubensschutz
1457 BFH v. 20. 10. 2016 – V R 26/15, DStR 2016, 2967 Rz. 17; zustimmend Heuermann, DB 2017, 990 (994). 1458 Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 1459 Vgl. die Ausführungen des EuGH zum Vertrauensschutz bzw. Gutglaubensschutz bei unrichtigem Steuerausweis: EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 39 – 49. 1460 BFH v. 21. 6. 2018 – V R 25/15, MwStR 2018, 802 Rz. 28; so auch BFH v. 16. 5. 2019 – XI B 13/19, MwStR 2019, 706 Rz. 33. 1461 BFH v. 21. 6. 2018 – V R 25/15, MwStR 2018, 802 Rz. 28. 1462 BFH v. 19.112009 – V R 41/08, DStR 2010, 159 Rz. 19.
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zu gewähren, wenn die Steuer aus Sicht seiner Finanzbehörde „nur deshalb geschuldet wird, weil sie in der Rechnung ausgewiesen ist“1463.
5. Literaturansichten zum Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers im Fall des § 14c UStG Ob dem gutgläubigen Leistungsempfänger Gutglaubensschutz im Fall des § 14c UStG zuzusprechen ist, ist in der Literatur, anders als in der Rechtsprechung, umstritten.1464 a) Verfassungs- und unionsrechtskonforme Auslegung des Tatbestandsmerkmals „gesetzlich geschuldet“ i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG Nach Stadie steht dem gutgläubigen Leistungsempfänger hingegen auch dann ein Recht auf Abzug der Vorsteuer nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unmittelbar zu, wenn die Steuer tatsächlich nicht gesetzlich geschuldet sei (§ 14c UStGFall).1465 Die Rechtsprechung des EuGH, wonach allein die gesetzlich geschuldete Steuer abziehbar ist, sei verfehlt.1466 Der Gutglaubensschutz sei infolgedessen bereits im Festsetzungsverfahren und nicht erst im Billigkeitsverfahren zu beachten.1467 Gutgläubig sei der Leistungsempfänger, wenn er die Fehlerhaftigkeit des Steuerausweises nicht erkennen konnte.1468 Wobei der Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz voraussetze, dass der Leistungsempfänger den entsprechenden Steuerbetrag an den Leistenden beglichen habe.1469 Ein „generelles Abzugsverbot“ der Vorsteuer im Festsetzungsverfahren verstoße gegen den verfassungsrechtlich gebotenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zugleich Teil des Unionsrechts sei.1470 Über die objektive Umsatzsteuerwahrheit zu 1463
BFH v. 21. 6. 2018 – V R 25/15, MwStR 2018, 802 Rz. 28. Brill, kösdi 2018, 21034 (21041); Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 953 ff.; Stadie, UR 2013, 968 (972 f.) bejahen einen Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers im Fall des § 14c UStG explizit. Anderer Ansicht sind indes Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 359 f.; von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 186; Widmann, MwStR 2018, 308 (312). 1465 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 953; Stadie, UR 2013, 968 (972). 1466 Stadie, UR 1998, 349 (351). 1467 Stadie, UR 2013, 968 (972). 1468 Stadie, UR 2013, 968 (972). 1469 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 954. 1470 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 957; zustimmend Brill, kösdi 2018, 21034 (21041). 1464
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
verfügen, verlange von den Unternehmern nämlich etwas, was für diese unmöglich sei, sodass Unzumutbarkeit vorliege.1471 Folge sei eine unzumutbare Risikoverteilung zwischen dem Fiskus und den Steuerpflichtigen.1472 Diese würden jedoch „lediglich als Gehilfen des Staates bei der Besteuerung der Endverbraucher fungieren“.1473 Dass den Unternehmern in ihrer Funktion als Gehilfen des Fiskus das Risiko einer (un)zutreffenden umsatzsteuerrechtlichen Bewertung der getätigten Leistungen auferlegt werde, dürfe nicht sein.1474 Ein Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz komme auch bei Umsatzsteuerrechtsfragen in Betracht.1475 Denn dem Leistungsempfänger sei es nicht zuzumuten, sich vor jeder Bezahlung des Umsatzsteuerbetrags an das für ihn zuständige Finanzamt zu wenden und dieses um Prüfung der Korrektheit der Inrechnungstellung der Umsatzsteuer zu bitten.1476 Den gutgläubigen Leistungsempfänger auf seinen zivilrechtlichen Anspruch auf Rückzahlung des fälschlicherweise in Rechnung gestellten Umsatzsteuerbetrags gegen den Leistenden zu verweisen, sei unverhältnismäßig.1477 Stadie nimmt auch Stellung zum oben aufgeführten Kreuzmayr-Urteil1478 des EuGH, in welchem der EuGH den Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers im Fall des unrichtigen Steuerausweises abgelehnt hat, und ist der Auffassung, dass der EuGH in diesem Urteil seine ständige Rechtsprechung außer Acht lasse, dass die Unternehmer lediglich als Gehilfen des Fiskus tätig würden.1479 Ob die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug vorliegen, sei infolgedessen nicht allein anhand des reinen Wortlauts von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG zu bewerten.1480 Es müsse eine verfassungs- und unionsrechtskonforme Auslegung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG im Fall des § 14c UStG erfolgen.1481 Damit subsumiert Stadie im Ergebnis die allein nach § 14c UStG geschuldete Steuer unter die gesetzlich geschuldete Steuer i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG.1482
1471 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 957; zustimmend Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153. 1472 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 957. 1473 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 957. 1474 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 957. 1475 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 958. 1476 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 958. 1477 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 958. 1478 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308. 1479 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 961.1. 1480 Stadie, UR 2013, 968 (972). 1481 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 953 u. Rz. 971. 1482 Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 140; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 971.
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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b) Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz Nach zum Teil vertretener Ansicht in der Literatur schließt die klare Regelung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG, dass allein die gesetzlich geschuldete Steuer als Vorsteuer abziehbar ist, die Gewährung des Vorsteuerabzugs aufgrund von Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers im Fall des § 14c UStG nicht aus.1483 Aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes müsse eine angemessene Risikoverteilung vorgenommen werden.1484 Hierfür spreche auch der Neutralitätsgrundsatz.1485 Stadie1486 sei zuzustimmen, dass ein „generelles Abzugsverbot“ der Vorsteuer gegen den verfassungsrechtlich gebotenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.1487 Die Notwendigkeit eines Gutglaubensschutzes beim Vorsteuerabzug sei nicht durch die Möglichkeit der Korrektur der Rechnung durch den Leistenden beseitigt.1488 Eine Korrektur der Rechnung werde insbesondere in vielen Fällen erst im Anschluss an lange andauernde gerichtliche Prozesse vorgenommen.1489
c) Kein Vorsteuerabzug aufgrund von Gutglaubensschutz Nach anderer Ansicht steht dem Leistungsempfänger im Fall des § 14c UStG hingegen kein Gutglaubensschutz zu.1490 Hierfür werden Missbrauchs- und Betrugsverhinderungsaspekte angebracht.1491 So komme ein Gutglaubensschutz zum Beispiel nicht in Frage, wenn sich der gutgläubige Leistende und der gutgläubige Leistungsempfänger über die Unternehmereigenschaft des Leistenden irren1492 und damit ein Fall des § 14c Abs. 2 Satz 2 1. Alt. UStG vorliegt. Oelmaier lehnt den Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers im Fall des falsch angewandten (zu hohen) Steuersatzes ab (Fall des § 14c Abs. 1 Satz 1 1483 Brill, kösdi 2018, 21034 (21041); Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153; so im Ergebnis auch Zirkl, Die Neutralität der Umsatzsteuer als europäisches Besteuerungsprinzip, S. 95. 1484 Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153. 1485 Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153; Zirkl, Die Neutralität der Umsatzsteuer als europäisches Besteuerungsprinzip, S. 95. 1486 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 957. 1487 Brill, kösdi 2018, 21034 (21041); Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153. 1488 Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153. 1489 Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 154. 1490 Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 359 f.; von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 186; so auch Widmann, MwStR 2018, 308 (312). 1491 Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 359 f. 1492 Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 358 f.; a. A. Zaumseil, UStB 2008, 230 (232).
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
UStG).1493 Die Voraussetzungen des anzuwendenden Steuersatzes seien nicht dem internen Bereich des Leistenden zuzurechnen, dem der Leistungsempfänger Vertrauen schenken dürfe.1494 d) Zwischenergebnis Nur nach zum Teil vertretener Auffassung in der Literatur kann sich der Leistungsempfänger unter den von diesen Literaturansichten aufgestellten Voraussetzungen generell im Fall des § 14c UStG auf Gutglaubensschutz berufen. Würde man diesen Auffassungen folgen, könnte sich der Leistungsempfänger im (vermeintlichen) Fall des § 14c UStG bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis auf Gutglaubensschutz berufen.
III. Stellungnahme Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Kreuzmayr1495 auf die Problematik des Widerstreits im Vier-ParteienVerhältnis zu übertragen, was Folgendes bedeutet: Der Leistungsempfänger kann sich bei Vorliegen eines Widerstreits im VierParteien-Verhältnis entgegen Stadies Lösungsvorschlag nicht auf seinen guten Glauben in Bezug auf die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung des Leistenden, dass die Leistung steuerbar und steuerpflichtig ist beziehungsweise dass der höhere Steuersatz Anwendung findet, berufen. Dem Leistungsempfänger steht im (vermeintlichen) Fall des § 14c UStG im Rahmen eines Widerstreits im Vier-ParteienVerhältnis nach der hier vertretenen Auffassung demgemäß kein Gutglaubensschutz zu.1496 Liegt ein Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis vor, ist der Leistungsempfänger hinsichtlich des an den Leistenden (vermeintlich) zu Unrecht gezahlten Umsatzsteuerbetrags vielmehr auf seinen zivilrechtlichen1497 Rückzahlungsanspruch gegen 1493
Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 332. Oelmaier, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 332. 1495 EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 39 – 49. 1496 So für den vorliegenden Fall des § 14c UStG von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 186. 1497 Zum Vorzug des zivilrechtlichen Rückzahlungsanspruchs des Leistungsempfängers gegen den Leistenden anstatt des Vorsteuerabzugs aufgrund von Gutglaubensschutz bei unrichtigem Steuerausweis vgl. EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 48; dem EuGH in der Rs. Kreuzmayr zustimmend Reiß, MwStR 2018, 296 (304); von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 186 f.; Widmann, MwStR 2018, 308 (312); vgl. zur Verweisung des Leistungsempfängers auf den Zivilrechtsweg bei Vorliegen eines Steuerausweises i. S. v. § 14c UStG: EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, 1494
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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den Leistenden zu verweisen. Wie an früherer Stelle in dieser Arbeit bereits festgestellt wurde,1498 erfolgt die Rückabwicklung gesetzlich nicht geschuldeter Umsatzsteuer grundsätzlich allein im Dreiecksverhältnis, indem sich der Leistungsempfänger an den Leistenden wendet und der Leistende sich an die für ihn zuständige Finanzbehörde wendet.1499
1. Argumente Argumente, die gegen die Gewährung von Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers bei Bestehen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis sprechen und damit für die Übertragung der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Kreuzmayr auf die vorliegende Problematik sprechen, werden im Folgenden aufgezeigt. Es wird insbesondere dargelegt, dass es bei einem Widerstreit im VierParteien-Verhältnis keines Rückgriffs auf einen Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers bedarf. Die Gewährung von Gutglaubensschutz würde die Problematik der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers auch nicht für beide Unternehmer, insbesondere nicht für den Leistenden, lösen. Erläutert wird darüber hinaus, warum die Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis in einen gerechten Ausgleich1500 mit dem Ziel der Sicherung des Steueraufkommens gebracht wird, wenn der hier vertretenen Auffassung gefolgt wird. a) Verweisung auf den Zivilrechtsweg konsequent Zwar ist Stadie zuzustimmen, dass die Unternehmer nicht über eine objektive Umsatzsteuerwahrheit1501 verfügen können. Für den Vorrang der zivilrechtlichen Rückabwicklung bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis im DStRE 2007, 570 Rz. 39; EuGH v. 6. 2. 2014 – C-424/12 – Fatorie, MwStR 2014, 125 Rz. 42; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 51; EuGH v. 11. 4. 2019 – C-691/17 – PORR, DStR 2019, 924 Rz. 40; BFH v. 30. 6. 2015 – VII R 30/14, DStRE 2015, 1318 Rz. 18; Burgmaier, UR 2007, 343 (348); Hummel, MwStR 2018, 778 (779 Fn. 10); Nieskens, EU-UStB 2014, 37 (38); Schmittmann, NZI 2015, 951 (954); Reiß, MwStR 2019, 526 (527); von Streit/Streit, MwStR 2020, 174 (175); hinsichtlich des zivilrechtlichen Rückzahlungsanspruchs des Leistungsempfängers bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-ParteienVerhältnisses vgl. Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1176); Weinschütz, DB 2010, 20 (20); zum Vorrang zivilrechtlicher Ansprüche vor „staatlicher Hilfe“ vgl. Treiber, DStR 2019, 1399 (1404). 1498 Siehe oben Zweiter Teil, § 3, I. 1499 Reiß, MwStR 2019, 526 (526); Weinschütz, DB 2010, 20 (20). 1500 Zur Schaffung eines gerechten Ausgleichs zwischen der Sicherung des Steueraufkommens und der Schutzwürdigkeit der Unternehmer bei Vorliegen eines Widerstreits im VierParteien-Verhältnis vgl. Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (219). 1501 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 957; zustimmend Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153.
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
vermeintlichen Fall des § 14c UStG spricht jedoch zunächst, dass eine Verweisung des Leistungsempfängers auf den Zivilrechtsweg konsequent1502 ist. Der Leistungsempfänger hat sich seinen Vertragspartner, den Leistenden, ausgesucht.1503 An diesen muss er sich hinsichtlich etwaiger Rückzahlungsansprüche an erster Stelle auch halten.1504 b) Auflösung des Widerstreits durch einen Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung Für den Leistungsempfänger besteht stets das Risiko den Umsatzsteuerbetrag selbst tragen zu müssen, wenn der Leistende die Rückerstattung der gesetzlich nicht geschuldeten Steuer nicht tätigt.1505 Dieses Risiko besteht unabhängig vom Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis. Für den Leistungsempfänger stellt sich vorliegend allerdings die besondere Problematik, dass, wie Stadie zutreffend ausführt, sich der Leistende aufgrund des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis weigern wird, den Umsatzsteuerbetrag an den Leistungsempfänger zurückzuzahlen.1506 Dieses für den Leistungsempfänger bestehende Risiko besteht aufgrund des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis. Wie bereits erläutert,1507 besteht für den Leistungsempfänger nach der hier vertretenen Ansicht sogar das Problem, dass sich der Leistende aufgrund des Vorliegens des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nach § 818 Abs. 3 BGB auf Entreicherung berufen wird, wenn er den Umsatzsteuerbetrag bereits an den Fiskus abgeführt hat. Daneben besteht für den Leistungsempfänger die Problematik, dass, wie ferner bereits festgestellt wurde,1508 ein Direktanspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus auf Erstattung des an den Leistenden vermeintlich zu Unrecht gezahlten Umsatzsteuerbetrags nicht besteht, wenn der Leistende die Rückerstattung an den Leistungsempfänger gerade aufgrund des Widerstreits allein verweigert. 1502
So generell im Fall des § 14c UStG Schmittmann, NZI 2015, 951 (954); siehe auch von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 186. 1503 So generell im Fall des § 14c UStG Jacobs, DStRK 2018, 131 (131); Mann, Der Schutz des guten Glaubens im Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld des Umsatzsteuerbetrugs, S. 406; Schmittmann, NZI 2015, 951 (954). 1504 Wie Widmann, MwStR 2018, 308 (312) zutreffend ausführt, stützt sich der EuGH auch in der Rechtssache Kreuzmayr auf den Grundsatz: „Wo Du Deinen Glauben gelassen hast, sollst Du ihn suchen“. 1505 Jacobs, DStRK 2018, 131 (131). 1506 Zur Problematik vgl. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 969; zur Erschwerung der zivilrechtlichen Rückabwicklung aufgrund des steuerrechtlichen Widerstreits vgl. auch Nieskens, UR 2015, 302 (304). 1507 Siehe oben: Zweiter Teil, § 2, II., 2. 1508 Siehe oben: Zweiter Teil, § 3.
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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Zwar könnten die vorstehend beschriebenen, für den Leistungsempfänger bestehenden Problematiken für die Gewährung von Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers sprechen. Die für den Leistungsempfänger bestehende Problematik aufgrund des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis sollte jedoch durch einen Anspruch der Unternehmer gegen die jeweils für sie zuständigen Finanzbehörden auf widerspruchsfreie umsatzsteuerrechtliche Behandlung gelöst werden.1509 Hinsichtlich der Konkretisierung eines derartigen Anspruchs ist nach unten zu verweisen.1510 An dieser Stelle soll allein aufgezeigt werden, weshalb dieser als vorrangig anzusehen ist. Für den Vorrang dieser Lösung vor der Gewährung von Gutglaubensschutz spricht, dass die vorliegende Problematik für den redlichen Leistungsempfänger weder aufgrund einer Täuschung durch seinen Vertragspartner noch aufgrund einer falschen umsatzsteuerrechtlichen Qualifizierung des Leistenden besteht, sondern im Kern auf der widersprüchlichen umsatzsteuerrechtlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers basiert. Es geht um einen Konflikt zwischen den Finanzbehörden und nicht zwischen den Unternehmern. Hier sollte der Lösungsansatz auch ansetzen. Durch den Zuspruch von Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers wird keine einheitliche Beurteilung darüber erzielt, ob der Umsatz objektiv tatsächlich steuerbar und steuerpflichtig ist beziehungsweise welcher Steuersatz Anwendung findet. Hinsichtlich der Frage, ob die Steuer tatsächlich i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG gesetzlich geschuldet ist oder vielmehr ein Fall des § 14c UStG vorliegt, wird auch bei Anwendung von Stadies Lösungsvorschlags uneinheitlich entschieden. Denn die Finanzbehörde des Leistungsempfängers geht weiterhin davon aus, dass die Steuer nicht gesetzlich geschuldet ist, wohingegen die Finanzbehörde des Leistenden davon ausgeht, dass dies der Fall ist. Der Vorsteuerabzug wird bei Stadies Lösungsvorschlag „lediglich“ aus Gutglaubensschutzgründen gewährt. aa) Auflösung mit der Folge: Steuer gesetzlich nicht geschuldet Kommen die Finanzbehörden bei Auflösung des Widerstreits im Vier-ParteienVerhältnis zu dem Ergebnis, dass ein unrichtiger oder unberechtigter Steuerausweis vorliegt, besteht für den Leistenden unter den Voraussetzungen des § 14c Abs. 1 Satz 2 oder des § 14c Abs. 2 Satz 3 UStG die Möglichkeit zur Berichtigung der Rechnung. Dies hat zur Folge, dass sich der Leistende nach der hier vertretenen Auffassung nicht mehr aufgrund des Widerstreits auf § 818 Abs. 3 BGB berufen kann, sofern er den Umsatzsteuerbetrag bereits an den Fiskus abgeführt hat. Denn 1509 Für einen Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers durch ihre Finanzbehörden auch FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816); Weimann, UStB 2010, 350 (351). 1510 Siehe unten: Sechster Teil.
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
eine Entreicherung des leistenden Unternehmers nach § 818 Abs. 3 BGB ist dann ausgeschlossen, wenn der Leistende eine Rechnungsberichtigung durchführen und den an den Fiskus abgeführten Umsatzsteuerbetrag vom Finanzamt nach § 37 Abs. 2 AO zurückerlangen kann.1511 Der Leistende kann sich damit nicht aufgrund von § 818 Abs. 3 BGB weigern, den fälschlicherweise in Rechnung gestellten Umsatzsteuerbetrag an den Leistungsempfänger zurückzuzahlen. Erhält der Leistungsempfänger den Umsatzsteuerbetrag nach Auflösung des Widerstreits auf zivilrechtlichem Wege vom Leistenden zurück, wird der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer mangels endgültiger Belastung mit der Umsatzsteuer im Ergebnis gewahrt. Die Zivilgerichte1512 müssten freilich dann, wenn ein Anspruch der Unternehmer auf widerspruchsfreie Behandlung gegen die Finanzbehörden besteht, an das von den Finanzbehörden entschiedene Ergebnis gebunden sein.1513 Anderenfalls würde dem Leistungsempfänger trotz Anspruchs auf widerspruchsfreie Behandlung und Auflösung des Widerstreits mit dem Ergebnis, dass die Steuer gesetzlich nicht geschuldet ist, im Fall einer zivilrechtlichen Klage drohen, den Umsatzsteuerbetrag vom Leistenden nicht zurückzuerhalten. Angemerkt sei freilich auch, dass dann, wenn ein Anspruch der Unternehmer auf widerspruchsfreie Behandlung besteht, auch kein zivilrechtlicher Streit über die gesetzliche Geschuldetheit der Leistung mehr vor den Zivilgerichten1514 entstehen dürfte. bb) Auflösung mit der Folge: Steuer gesetzlich geschuldet Kommen die Finanzbehörden im Rahmen der Auflösung des Widerstreits zu dem Ergebnis, dass die Steuer i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG gesetzlich geschuldet ist, bedarf es schon keines Gutglaubensschutzes des Leistungsempfängers. Denn 1511
Vgl. dazu BGH v. 18. 4. 2012 – VIII ZR 253/11, NVwZ-RR 2012, 570 Rz. 24; OLG Brandenburg v. 17. 2. 2010 – 7 U 125/09, BeckRS 2010, 8976 (unter II.); OLG Braunschweig v. 22. 5. 2018 – 8 U 130/17, ECLI:DE:OLGBS:2018:0522.8U130.17.00 Rz. 28. 1512 Nach der hier vertretenen Auffassung steht den Zivilgerichten eine eigene Prüfungskompetenz hinsichtlich der materiellen Steuerrechtslage zu. Siehe dazu oben: Zweiter Teil, § 1, III, 2. Grund hierfür ist jedoch nach der hier vertretenen Auffassung allein, dass die Steuerbehörden nach jetziger Rechtslage widersprüchliche Entscheidungen treffen können, sodass fraglich ist, welche Entscheidung überhaupt Bindungswirkung für das Zivilgericht entfalten soll. Eine Bindungswirkung ist indes zu bejahen, wenn ein Anspruch der Unternehmer auf widerspruchsfreie Behandlung geschaffen wird. 1513 Vgl. OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (cc)); für eine Bindungswirkung der Entscheidungen des zuständigen Finanzamts gegenüber den Zivilgerichten auch Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (17); a. A. Weinschütz, EuZW 2019 (222). Nach Weinschütz besteht eine Bindungswirkung des Urteils des Zivilgerichts für die Finanzbehörden. 1514 Stadie ist der Auffassung, dass aufgrund der Regelung, dass allein die gesetzlich geschuldete Steuer abziehbar ist, eine Reihe an Streitigkeiten entstehen würden, sodass „Steuerfragen vor die Zivilgerichte gelangen, wo sie nicht hingehören“. Siehe Stadie, UR 1998, 349 (352).
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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dann steht dem Leistungsempfänger das Recht auf Vorsteuerabzug unmittelbar gemäß § 15 UStG zu, sodass infolgedessen der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer auch in diesem Fall gewahrt wird. c) Zumutbare Risikoverteilung bei Insolvenz des Leistenden Die nachstehenden Ausführungen verdeutlichen ferner, dass eine zumutbare Risikoverteilung zwischen dem Fiskus und dem Leistungsempfänger auch dann besteht, wenn einer verwaltungsinternen Beseitigung des Widerstreits entgegen Stadies Ansicht Vorrang vor der Gewährung von Gutglaubensschutz gewährt wird. Zieht man das Erzielen von widerspruchsfreien Entscheidungen einem Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers im Fall des Widerstreits im Vier-ParteienVerhältnis vor, stellt sich bei Bestehen eines zivilrechtlichen Rückzahlungsanspruchs des Leistungsempfängers gegen den Leistenden für den Fall der Insolvenz des Leistenden jedoch die Frage, ob der Leistungsempfänger oder der Fiskus das Insolvenzrisiko1515 des Leistenden zu tragen hat. aa) Umsatzsteuer bereits abgeführt Besteht nach Auflösung des Widerstreits ein Rückzahlungsanspruch des Leistungsempfängers gegen den Leistenden, weil die Finanzbehörden übereinstimmend zum Ergebnis kommen, dass die Steuer gesetzlich nicht geschuldet ist, und ist der Leistende zwischenzeitlich in Insolvenz gefallen, ist dem Leistungsempfänger ein Direktanspruch1516 (sog. „Reemtsma-Anspruch“1517) gegen den Fiskus zuzusprechen.1518 Dieser Direktanspruch besteht aufgrund des Neutralitätsprinzips und des Effektivitätsprinzips immer dann, wenn für den Leistungsempfänger die Geltendmachung des zivilrechtlichen Rückzahlungsanspruchs gegen den Leistenden praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert ist.1519 Dies ist bei Insolvenz des Leistenden der Fall.1520 1515 Auch der EuGH lehnt einen Gutglaubensschutz im Fall des § 14c UStG ab und beschäftigt sich mit der Frage, wer das Insolvenzrisiko des Leistenden zu tragen hat, der Fiskus oder der Leistungsempfänger. Vgl. EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 46. 1516 Auf den Direktanspruch des Leistungsempfängers verweisend bei unrichtigem Steuerausweis und Insolvenz des Leistenden EuGH v. 21. 2. 2018 – C-628/16 – Kreuzmayr, MwStR 2018, 308 Rz. 46. 1517 Siehe zu diesem Anspruch bereits oben ausführlich: Zweiter Teil, § 3 u. insbes. EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStR 2007, 570 Rz. 39 u. 41; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 49 ff. 1518 So generell von Streit/Streit, UR 2018, 813 (820). 1519 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 39 u. 41; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 53; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (820).
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
Unstrittig besteht ein „Reemtsma-Anspruch“ gegen den Fiskus für den Fall, dass der insolvente Leistende die Umsatzsteuer bereits abgeführt hat.1521 Dem Fiskus ist die Erstattung der Umsatzsteuer an den Leistungsempfänger zumutbar, weil er, würde man den Direktanspruch des Leistungsempfängers ablehnen, ungerechtfertigt bereichert wäre.1522 Demzufolge trägt der Leistungsempfänger letztendlich nicht das Insolvenzrisiko des leistenden Unternehmers, wenn der Leistende die Umsatzsteuer bereits an den Fiskus abgeführt hat.1523 bb) Umsatzsteuer noch nicht abgeführt Problematisch könnte es für den Leistungsempfänger trotz des Bestehens eines Anspruchs auf widerspruchsfreie umsatzsteuerrechtliche Behandlung sowie Bestehens eines zivilrechtlichen Anspruchs gegen den Leistenden auf Rückzahlung der gesetzlich nicht geschuldeten Steuer sein, wenn der insolvente Leistende die Umsatzsteuer an den Fiskus nicht abgeführt hat. Nach Ansicht des BFH kommt ein Direktanspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus nur dann in Frage, wenn der Leistende die Steuer bereits an den Fiskus abgeführt hat.1524 In einer solchen Situation könnten die Interessen des Fiskus als schutzwürdiger erachtet werden als die des Leistungsempfängers.1525 Der BFH begründet seine Auffassung, soweit ersichtlich, allein mit dem Argument, dass der Leistende mangels Zahlung der Umsatzsteuer an den Fiskus auch keinen Anspruch auf Erstattung der Umsatzsteuer hat1526 und dass sich aus dem Reemtsma-Urteil nicht entnehmen lasse, dass ein Reemtsma-Anspruch des Leistungsempfängers auch bei Nichtabführung der Umsatzsteuer durch den Leistenden bestehe1527. So wird zum Beispiel auch in der Literatur vertreten, dass für die Auffassung des BFH spricht, dass sich der Leistungsempfänger seinen Vertragspartner ausgesucht 1520 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570 Rz. 41; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 53; EuGH v. 11. 4. 2019 – C-691/17 – PORR, DStR 2019, 924 Rz. 45; BFH v. 22. 8. 2019 – V R 50/16, DStR 2019, 2528 Rz. 16; Heinrichshofen, UStB 2019, 96 (97); von Streit/ Streit, MwStR 2020, 174 (175). 1521 BFH v. 11. 10. 2007 – V R 27/05, DStRE 2008, 511 (unter II., 6., b)); BFH v. 10. 12. 2008 – XI R 57/06, BeckRS 2008, 25014951 (unter II., 2., b). 1522 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 147. 1523 So etwa Farruggia-Weber/Klüger, MwStR 2019, 771 (778 Fn. 30). 1524 BFH v. 11. 10. 2007 – V R 27/05, DStRE 2008, 511 (unter II., 6., b)); BFH v. 10. 12. 2008 – XI R 57/06, BeckRS 2008, 25014951 (unter II., 2., b)); so auch FG Berlin-Brandenburg v. 26. 6. 2014 – 5 K 5148/12, DStRE 2015, 869; zustimmend Leipold in Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 148; Schlabelrauch, in: Reichert, GmbH & Co. KG, 14. Kapitel, § 50 Rz. 47; siehe hierzu auch Nieskens, EU-UStB 2014, 37 (38). 1525 Heinrichshofen, UR 2018, 282 (287). 1526 BFH v. 11. 10. 2007 – V R 27/05, DStRE 2008, 511 (unter II., 6., b)). 1527 BFH v. 10. 12. 2008 – XI R 57/06, BeckRS 2008, 25014951 (unter II., 2., b)).
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
227
hat und der Fiskus bei Nichtabführung der Umsatzsteuer durch den Leistenden auch nicht bereichert ist.1528 Der vorstehenden Auffassung des BFH ist indes nicht zuzustimmen.1529 Zunächst ist anzumerken, dass die vom BFH gestellte Voraussetzung der Abführung der Steuer durch den Leistenden im Reemtsma-Urteil vom EuGH nicht gestellt wurde.1530 Das Argument, dass sich der Leistungsempfänger seinen Vertragspartner ausgesucht hat,1531 spricht allein dafür, dass sich der Leistungsempfänger an erster Stelle (!) an seinen Vertragspartner halten muss. Dies wird, wie oben ausgeführt wurde, auch vorliegend vertreten. Denn ein solches Vorgehen ist systematisch. Scheitert der zivilrechtliche Rückzahlungsanspruch des Leistungsempfängers hingegen aufgrund der Insolvenz des Leistenden, kann sich der Leistungsempfänger an zweiter Stelle direkt an den Fiskus wenden, und das aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer auch dann, wenn dieser die Umsatzsteuer nie vom Leistenden erhalten hat. Auch dieses Vorgehen ist systematisch. Zwar ist der Fiskus in diesem Fall nicht1532 bereichert. Ebenfalls wie das Vorsteuerabzugsrecht des Leistungsempfängers nicht1533 voraussetzt, dass der Leistende die Umsatzsteuer bereits abgeführt hat, darf dies entsprechend auch keine Voraussetzung für den Reemtsma-Anspruch sein. Der Unterschied zwischen dem Vorsteuerabzug und dem Reemtsma-Anspruch besteht zwar darin, dass bei dem Reemtsma-Anspruch gerade keine Umsatzsteuer gesetzlich geschuldet ist. Eine Unterscheidung hinsichtlich der Voraussetzung des Abführens der Umsatzsteuer beim Vorsteuerabzug und beim Reemtsma-Anspruch kann indes nicht allein damit begründet werden, dass der Umsatz von dem Leistenden oder möglicherweise von beiden Unternehmern falsch beurteilt wurde und ein Fall des § 14c UStG vorliegt. Zwar könnte man in Erwägung ziehen, der Zweck des § 14c UStG, der in der Sicherung des Steueraufkommens besteht, werde nach der hier vertretenen Ansicht unterlaufen. Das Ziel der Sicherung des Steueraufkommens muss jedoch vorliegend hinter dem Schutz des Unternehmers vor einer endgültigen Belastung mit der Umsatzsteuer infolge der Insolvenz des Leistenden zurücktreten. Denn der Fiskus bedient sich bei der Steuererhebung des Leistenden als „Gehilfen“.1534 Der Leistungsempfänger wird hierbei nicht tätig.1535 Führt der Leistende 1528
Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 148. So auch Burgmaier, UR 2007, 343 (349); Englisch, UR 2008, 466 (468); Stadie, in: Rau/ Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 963; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (42). 1530 Burgmaier, UR 2007, 343 (349); Englisch, UR 2008, 466 (468); Kortz/Reitz, MwStR 2015, 939 (942). 1531 Leipold; in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 148. 1532 Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rz. 148. 1533 EuGH v. 6. 7. 2006 – C-439/04 u. C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, DStR 2006, 1274 Rz. 49; EuGH v. 6. 12. 2012 – C-285/11 – Bonik, MwStR 2013, 37 Rz. 28. 1534 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 963; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (42). 1535 von Streit, EU-UStB 2012, 38 (42). 1529
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
die Steuer nicht an den Fiskus ab, darf dieses pflichtwidrige Verhalten nicht dem Leistungsempfänger als Unbeteiligtem zur Last gelegt werden.1536 Diesem steht nicht einmal der Weg offen, die Abführung der Steuer an den Fiskus nachzuvollziehen.1537 Eine Ausnahme hiervon wäre nur dann gerechtfertigt, wenn dem Leistungsempfänger und dem Leistenden ein Rechtsmissbrauch zu Last gelegt werden kann.1538 Wie Stadie ausführt,1539 kann der Unternehmer nicht über die objektive Umsatzsteuerwahrheit verfügen. Dies führt nach der hier vertretenen Ansicht zwar entgegen Stadies Ansicht nicht dazu, dass dem Leistungsempfänger im Fall des vermeintlichen § 14c UStG im Rahmen eines Widerstreits Gutglaubensschutz gewährt werden sollte. Jedoch ist dies ein weiteres Argument dafür, dass dem Leistungsempfänger im Fall der Insolvenz des Leistenden auch dann ein Direktanspruch zugesprochen werden muss, wenn der Fiskus nicht bereichert ist.1540 Selbst wenn man der Auffassung des BFH folgen würde, dass der Leistungsempfänger das Insolvenzrisiko des Leistenden im Fall des Nichtabführens der Umsatzsteuer an den Fiskus tragen muss, müsste der Leistungsempfänger den Umsatzsteuerbetrag bei Auflösung des Widerstreits „zu seinen Lasten“ (Versagung des Vorsteuerabzugs und Verweisung auf den Zivilrechtsweg) nicht aufgrund des Widerstreits selbst tragen, sondern aufgrund, eines „allgemeinen Insolvenzrisikos“, welches an dieser Stelle jedoch freilich abgelehnt wird.1541 Selbst wenn der Leistungsempfänger infolge des Nichtabführens der Steuer durch den insolventen Leistenden die Steuer im Ergebnis selbst tragen müsse, wäre dies infolgedessen kein ausreichender Grund, dem Leistungsempfänger bei Widerstreit im Vier-ParteienVerhältnis Gutglaubensschutz zu gewähren. Denn die Problematik beruht dann nicht auf dem Widerstreit. d) Interessen des Leistungsempfängers und des Fiskus in gerechtem Ausgleich Der Leistungsempfänger muss den Umsatzsteuerbetrag letztendlich trotz Nichtgewährung von Gutglaubensschutz bei Vorliegen eines Widerstreits im VierParteien-Verhältnis nicht selbst tragen, wenn (1) eine widerspruchsfreie1542 Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers erzielt wird und (2) im Fall des Bestehens des zivilrechtlichen Rückzahlungsanspruchs des Leistungsempfän1536 von Streit, EU-UStB 2012, 38 (42); siehe auch Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 963. 1537 Burgmaier, UR 2007, 343 (349); von Streit, EU-UStB 2012, 38 (42). 1538 von Streit, EU-UStB 2012, 38 (42). 1539 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 15 Rz. 957.; zustimmend Günther, Vertrauensschutz bei Angaben Dritter im Umsatzsteuerrecht, S. 153. 1540 Siehe dazu Englisch, UR 2008, 466 (469). 1541 So auch Englisch, UR 2008, 466 (469). 1542 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121).
§ 1 Materiell-rechtliche Lösung: Gutglaubensschutz des Leistungsempfängers
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gers gegen den Leistenden nach Auflösung des Widerstreits bei Insolvenz des Leistenden ein Direktanspruch gegen den Fiskus besteht. Im Ergebnis wird der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer demgemäß gewahrt, wenn der hier vertretenen Ansicht, dass entgegen Stadies Ansicht ein Gutglaubensschutz bei Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis abzulehnen ist, gefolgt wird. Wird dem Leistungsempfänger kein Gutglaubensschutz im Fall des (vermeintlichen) § 14c UStG zugesprochen, sondern werden widerspruchsfreie Entscheidungen angestrebt, besteht darüber hinaus keine Gefahr des Steuerausfalls1543, weil infolge eines Widerstreits „zugunsten“ der Unternehmer Vorsteuer vergütet wird, obwohl die entsprechende Umsatzsteuer nicht vom solventen Leistenden abgeführt wird.1544 Das Interesse des Leistungsempfängers, im Ergebnis nicht mit der Umsatzsteuer belastet zu werden, und das Interesse des Fiskus, welches in der Sicherung des Steueraufkommens besteht, sind demgemäß zu einem gerechten Ausgleich gebracht. e) Beweisschwierigkeiten des Leistungsempfängers Gegen Stadies Vorschlag spricht darüber hinaus, dass es sich für den Leistungsempfänger möglicherweise als schwieriger erweist, seine Gutgläubigkeit nachzuweisen1545, als widerspruchsfreie Entscheidungen anzustreben und entweder den Vorsteuerabzug nach § 15 UStG zu erhalten oder den an den Leistenden gezahlten Betrag zurückzuerhalten. Für den Leistungsempfänger könnten mithin Beweisschwierigkeiten aufkommen, würde man Stadies Auffassung folgen. Deshalb ist eine rein objektive Betrachtungsweise bei Vorliegen eines Widerstreits vorzugswürdig. f) Verbleibende Problematik bei übereinstimmender umsatzsteuerrechtlicher Qualifizierung des Umsatzes Gegen die Gewährung von Gutglaubensschutz bei einem Widerstreit im VierParteien-Verhältnis spricht außerdem Folgendes: Ein Widerstreit im Vier-ParteienVerhältnis ist auch dann denkbar, wenn der Leistende und der Leistungsempfänger übereinstimmend von der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht des zwischen ihnen bestehenden Umsatzes beziehungsweise von dem höheren Steuersatz ausgegangen 1543 Zum Risiko des Steuerausfalls aufgrund eines Widerstreits zulasten des Fiskus vgl. Weinschütz, EuZW 2012, 119 (221); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1544 So generell auch Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (219); so etwa auch generell von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1545 Zur Feststellungs– und Beweislast bezüglich der Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers vgl. Heuermann, MwStR 2017, 729 (738). Der Leistungsempfänger hätte vorliegend seine Gutgläubigkeit nachzuweisen.
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
sind und der Leistungsempfänger auch die Gegebenheiten auf Seiten des Leistenden kennt. Stadie fordert für die Gewährung des Vorsteuerabzugs aufgrund von Gutglaubensschutz, dass der Leistungsempfänger die Fehlerhaftigkeit des Steuerausweises nicht erkennen konnte.1546 Geht die Finanzbehörde des Leistungsempfängers davon aus, dass der Leistungsempfänger die Fehlerhaftigkeit des Steuerausweises sehr wohl erkennen konnte, wird dem Leistungsempfänger hiernach kein Gutglaubensschutz gewährt, obwohl sich der Leistende aufgrund des Widerstreits weiterhin weigern kann, den zivilrechtlichen Rückzahlungsanspruch des Leistungsempfängers zu erfüllen. Hierdurch wird auch deutlich, dass widerspruchsfreie Entscheidungen der Finanzbehörden bei Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis erforderlich sind. Somit bleibt es bei dem hier vertretenen Ergebnis: Der für den Leistungsempfänger bestehende Konfliktfall aufgrund eines Widerstreits kann nur dann gelöst werden, wenn widerspruchsfreie Entscheidungen erzielt werden. g) Gewährung von Gutglaubensschutz keine Lösung des vorliegenden Problems für den Leistenden Außerdem vermag die von Stadie vorgeschlagene Lösung das Problem der widersprüchlichen Behandlung nicht für den Leistenden zu lösen. Weigert sich der Leistungsempfänger aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis, den Umsatzsteuerbetrag an den Leistenden zu zahlen, droht dem Leistenden, die Umsatzsteuer selbst tragen zu müssen, wenn man Stadies Vorschlag als vorrangig vor einer Auflösung des Widerstreits ansieht. Dem Leistenden ist kein genereller Gutglaubensschutz dahingehend zuzusprechen, dass er darauf vertrauen kann, dass seine Leistung nicht steuerbar oder nicht steuerpflichtig ist.1547 Hier fehlt es grundsätzlich an einer durch den Leistungsempfänger herbeigerufenen Vertrauenslage.1548 Gutglaubensschutz des Leistenden kommt allein in den oben beschriebenen Ausnahmefällen bei gefälschten Dokumenten durch den Leistungsempfänger in Frage.1549 Damit besteht bei Stadies Vorschlag für den Leistenden weiterhin das Risiko, die Umsatzsteuer aufgrund eines Widerstreits im Vier-Personen-Verhältnis selbst tragen 1546
Stadie, UR 2013, 968 (972). So auch von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 152. 1548 Siehe hierzu auch von Sanden, Der Vertrauensschutz des gutgläubigen Unternehmers im harmonisierten Umsatzsteuerrecht, S. 95, welcher den Gutglaubensschutz des Leistenden auch dann ablehnt, wenn der Leistungsempfänger gegenüber dem Leistenden falsche Angaben getätigt hat. Der Leistende sei durch die Möglichkeit der Berichtigung der Rechnung genügend geschützt. 1549 EuGH v. 27. 9. 2007 – C-409/04 – Teleos, DStRE 2008, 109 Rz. 68; EuGH v. 21. 9. 2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, DStR 2008, 450. 1547
§ 2 Verfahrensrechtliche Lösungen im Einspruchs- und Klageverfahren
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zu müssen. Dieses Ergebnis steht indes nicht im Einklang mit einer gerechten Risikoverteilung und verdeutlicht das Erfordernis einer verwaltungsinternen Lösung.
2. Zwischenergebnis In dieser Arbeit wird Stadies Ansicht nicht gefolgt, dass die Gewährung von Gutglaubensschutz die „vom EuGH1550 angemahnte „erforderliche Maßnahme“ zur Sicherstellung der korrekten Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität„1551 ist. Der Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers hinsichtlich nur der rechtlichen Beurteilung des Leistenden über die Steuerbarkeit und die Steuerpflicht einer Leistung soll bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nach der hier vertretenen Ansicht durch einen Anspruch1552 auf widerspruchsfreie Behandlung Rechnung getragen werden. Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Erzielung von widerspruchsfreien Entscheidungen der Finanzbehörden im Fall des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis mithin der Gewährung von Gutglaubensschutz vorzuziehen.
§ 2 Verfahrensrechtliche Lösungen im Einspruchs- und Klageverfahren Neben der zuvor vorgestellten materiell-rechtlichen Lösung von Stadie1553 bestehen verschiedene Lösungsvorschläge, wie der Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis auf prozessrechtlichem Wege aufzulösen sein könnte.
I. Beteiligung der anderen Finanzbehörde im Einspruchs- oder Klageverfahren In seinem Vorlagebeschluss in der Rechtssache ADV Allround wies das FG Hamburg bereits darauf hin, dass man § 60 FGO i. V. m. § 174 Abs. 5 AO unionsrechtskonform auslegen müsse, sofern eine für die Mitgliedstaaten bestehende Pflicht zur verfahrensrechtlichen Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behand1550
EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45 u. Tenor zu 2. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 950 u. § 18 Rz. 451. 1552 Für einen Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers durch ihre Finanzbehörden auch FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816); Weimann, UStB 2010, 350 (351). 1553 Siehe oben: Fünfter Teil, § 1. 1551
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
lung des Leistenden und des Leistungsempfängers bestehe.1554 § 174 Abs. 5 Satz 2 AO stellt eine eigenständige Rechtsgrundlage für eine Beiladung dar,1555 wobei § 174 Abs. 5 Satz 1 AO nach jetziger Rechtslage allein dazu dient, negative (vgl. den Wortlaut von § 174 Abs. 4 Satz 1 AO) korrespondierende Folgen bei dem nach § 174 Abs. 5 Satz 2 AO Beigeladenen zu ziehen.1556 Hätte der EuGH die vorstehende Pflicht in der Rechtssache ADV Allround bejaht, hätte das FG Hamburg sowohl den Leistungsempfänger als auch dessen Finanzbehörde nach § 60 FGO i. V. m. § 174 Abs. 5 AO zum Klageverfahren des leistenden Unternehmers beigeladen, um im Ergebnis eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer zu ihren Gunsten zu erzielen.1557 Auch wenn der EuGH in der Rechtssache ADV Allround die vorstehende Pflicht gerade abgelehnt hat,1558 ist Weinschütz der Auffassung, dass die „erforderliche Maßnahme“ zur Wahrung des Neutralitätsgrundsatzes i. S. d. ADV Allround-Urteils die Vornahme einer „unionsrechtlich fundierten“ „Beiladung sui generis“ der jeweils anderen Behörde im Klageverfahren mit der Wirkung einer notwendigen Beiladung (§ 60 Abs. 3 FGO) ist.1559 Gleiches gelte für die Hinzuziehung im Einspruchsverfahren (vgl. § 360 Abs. 3 AO).1560 Auch sei der jeweils andere Unternehmer zum Verfahren hinzuzuziehen beziehungsweise beizuladen.1561 Die notwendige Beiladung und die notwendige Hinzuziehung wurden im ersten Teil dieser Arbeit bereits erläutert,1562 weshalb an dieser Stelle keine tiefergehenden Erläuterungen hierzu erfolgen. Eine Beteiligung der jeweils anderen Behörde und des jeweils anderen Unternehmers müsse stets dann erfolgen, wenn sich die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen abzeichne.1563 In der Literatur wird überdies darauf hingewiesen, dass der Eintritt der materiellen Bestandskraft beim anderen Unternehmer aufgrund des Grundsatzes der Neutralität nicht eintreten dürfe.1564 1554
FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1123). BFH v. 25. 8. 1987 – IX R 98/82, BeckRS 1987, 22008186 (unter 1., c)); Koenig, in: Koenig, AO, § 174 Rz. 87. 1556 Siehe oben ausführlich: Erster Teil, § 3, V., 2.; FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1122). 1557 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1123). 1558 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45. 1559 Weinschütz, EuZW 2012, 221 (222); zustimmend Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (217); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (791). 1560 Weinschütz, EuZW 2012, 221 (222); zustimmend Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (790). 1561 Weinschütz, EuZW 2012, 221 (222). 1562 Siehe oben: Erster Teil, § 3, VI. 1563 Weinschütz, EuZW 2012, 221 (222). 1564 Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 227. 1555
§ 2 Verfahrensrechtliche Lösungen im Einspruchs- und Klageverfahren
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Im ersten Teil wurde herausgearbeitet,1565 dass eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Einspruchs- oder im Klageverfahren nach jetziger Rechtslage allein dann erzielt wird, wenn für beide Unternehmer dasselbe Finanzamt zuständig ist, und der andere Unternehmer zusätzlich zum Verfahren beigeladen oder hinzugezogen wird. Folgt man der Auffassung von Weinschütz werden auch bei verschiedenen zuständigen Finanzbehörden alle Beteiligten des Vier-Parteien-Verhältnisses an die Entscheidung im Einspruchs- oder im Klageverfahren gebunden1566, sodass im Ergebnis eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer erzielt wird.1567
II. Dritteinspruch, §§ 347 ff. AO Ferner wird vorgeschlagen, dass der Widerstreit durch einen Dritteinspruch (vgl. §§ 347 ff. AO) des Leistungsempfängers gegen die Steuerfestsetzung beim Leistenden beseitigt werden könnte.1568 Damit eine Bindungswirkung der Einspruchsentscheidung für alle Parteien erzeugt werde, müsse zusätzlich sowohl der andere Unternehmer als auch die für den Leistungsempfänger zuständige Finanzbehörde notwendig hinzugezogen (§ 360 Abs. 3 AO) werden.1569 Nach § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist der Einspruch insbesondere gegen Verwaltungsakte in Abgabenangelegenheiten (vgl. § 347 Abs. 2 AO), auf die die AO Anwendung findet, statthaft (Zulässigkeitsvoraussetzung1570). Verwaltungsakte i. S. v. § 347 Abs. 1 Satz 1 AO umfassen Verwaltungsakte gemäß § 118 AO.1571 Hierzu zählen auch Steueranmeldungen i. S. d. § 168 AO,1572 die zwar keine Verwaltungsakte sind, aber nach § 168 Satz 1 AO einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichstehen1573. Gegenstand des Dritteinspruchs des Leistungsempfängers könnte demnach sowohl der Änderungsbescheid (vgl. § 164 Abs. 2 Satz 1 AO) der Finanzbehörde des Leistenden gegenüber dem Leistenden, bei
1565
Siehe oben: Erster Teil, § 3, VI., 3. Zur Bindungswirkung der Entscheidung im Klageverfahren siehe oben ausführlich: Erster Teil, § 3, VI., 3. 1567 Weinschütz, EuZW 2012, 221 (222). 1568 Burgmaier, UR 2012, 175 (182); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15 f.); Heinrichshofen, EU-UStB 2011, 51 (52). 1569 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (16 f.); siehe auch Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 230. 1570 Cöster, in: Koenig, AO, § 347 Rz. 1. 1571 Rätke, in: Klein, AO, § 347 Rz. 3. 1572 BFH v. 25. 6. 1998 – V B 104/97, DStR 1998, 1471 (II., 1., a)); Rätke, in: Klein, AO, § 347 Rz. 3. 1573 Ratschow, in: Klein, AO, § 118 Rz. 42. 1566
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
welchem es sich um einen Verwaltungsakt i. S. v. § 118 Satz 1 AO handelt1574, oder die Steueranmeldung (vgl. § 168 Satz 1 AO) des Leistenden sein.1575 Im Falle eines Dritteinspruchs durch den Leistungsempfänger stellt sich die Frage, ob der Leistungsempfänger beschwert ist, was nach § 350 AO weitere Zulässigkeitsvoraussetzung1576 für den Einspruch ist.1577 Die Beschwer des Einspruchsführers setzt voraus, dass der Einspruchsführer durch den Verwaltungsakt, gegen welchen Einspruch erhoben wird, „persönlich in eigenen Rechten bzw. rechtlich geschützten Interessen betroffen ist“.1578 Nach einer Auffassung in der Literatur muss die Beschwer des Leistungsempfängers bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis bejaht werden, da der Widerstreit zu Lasten des Leistungsempfängers nach jetziger Rechtslage ansonsten nicht aufgelöst werden könne.1579 Für die Beschwer des Leistungsempfängers spreche auch, dass der Leistende bei Vorliegen eines Widerstreits und Bestehen eines Anspruchs auf Zahlung des Umsatzsteuerbetrags gegen den Leistungsempfänger gerade nicht beschwert sei, sondern vielmehr dem Leistungsempfänger drohe, die Umsatzsteuer selbst tragen zu müssen.1580 Ein Dritteinspruch des Leistungsempfängers müsse mithin aufgrund des ADV Allround-Urteils möglich sein.1581 Sofern der Dritteinspruch keinen Erfolg habe, könne der Leistungsempfänger eine Drittanfechtungsklage (§ 40 Abs. 1 FGO) erheben.1582 In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass sich der vorstehende Lösungsweg dann als problematisch erweist, wenn der Leistungsempfänger nicht in Erfahrung bringen kann, ob bereits ein Festsetzungsbescheid beim Leistenden vorliegt.1583
III. Feststellungsklage, § 41 FGO Darüber hinaus wird in der Literatur eine Feststellungsklage des Leistungsempfängers unter Einbeziehung aller Parteien des Vier-Parteien-Verhältnisses er-
1574
So generell vgl. Füssenich, in: BeckOK AO, § 118 Rz. 134. Vgl. dazu Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 451. 1576 Vgl. BFH v. 9. 8. 2007 – VI R 7/04, BeckRS 2007, 25012501 (unter II., 2.). 1577 Burgmaier, UR 2012, 175 (182); Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15 f.). 1578 Cöster, in: Koenig, AO, § 350 Rz. 6. 1579 Burgmaier, UR 2012, 175 (182); die Beschwer des Leistungsempfängers generell auch bejahend Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 22 Rz. 125. 1580 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15). 1581 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15). 1582 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (15 f.); nach jetziger Rechtslage ablehnend Hummel, MwStR 2016, 172 (178). 1583 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (16). 1575
§ 2 Verfahrensrechtliche Lösungen im Einspruchs- und Klageverfahren
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wogen.1584 Die Einbeziehung aller Parteien sei durch eine notwendige Beiladung des anderen Unternehmers sowie der anderen Finanzbehörde zu erzielen.1585 Gegenstand der Feststellungsklage sei bei Vorliegen eines Widerstreits die Frage, ob der Umsatz steuerbar und steuerpflichtig ist.1586 Bei Vorliegen eines Widerstreits sei die Feststellungsklage nicht subsidiär (§ 41 Abs. 2 Satz 1 FGO1587.1588 Denn eine Klage des Leistungsempfängers gegen die Ablehnung seines Vorsteuerabzugs würde ihm dann nicht helfen, wenn diese abgewiesen werde, der Leistende aber weiterhin die Umsatzsteuer schulde.1589 Allenfalls sei der Drittanspruch als vorrangig anzusehen.1590
IV. Stellungnahme Den vorstehenden Vorschlägen ist zuzustimmen. Aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer muss es möglich sein, im Einspruchs- oder Klageverfahren vor den Finanzbehörden beziehungsweise vor den Finanzgerichten eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers zu erzielen.1591 Zu beachten gilt es jedoch zunächst, dass der BFH weiterhin daran festhält, dass Finanzbehörden nicht hinzugezogen beziehungsweise nicht beigeladen werden können.1592 Bei allen vorstehenden prozessrechtlichen Lösungsvorschlägen bedarf es zur Bindung aller Beteiligten indes gerade einer Hinzuziehung oder einer Beiladung der anderen Finanzbehörde.1593 Überdies stellt sich die Frage, ob dem Neutralitätsprinzip allein durch prozessrechtliche Lösungen Genüge getan werden kann. Denn in manchen Fällen kann das Einspruchs- und Klageverfahren über mehrere Jahre hinweg andauern1594 und der Betroffene zum Zeitpunkt einer Entscheidung bereits insolvent sein.1595 Außerdem 1584 Burgmaier, UR 2012, 175 (182); Dodos, MwStR 2015, 329 (331); Heinrichshofen, EUUStB 2010, 68 (70); Heinrichshofen, EU-UStB 2011, 51 (52); a. A. Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 948. 1585 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (16 f.). 1586 Dodos, MwStR 2015, 329 (331). 1587 Siehe hierzu auch Lohse, UR 2000, 320 (321). 1588 Burgmaier, UR 2012, 175 (182). 1589 Burgmaier, UR 2012, 175 (182). 1590 Burgmaier, UR 2012, 175 (183 Fn. 28). 1591 So auch Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (18); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); siehe auch Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 227. 1592 Siehe oben ausführlicher Erster Teil, § 3, VI.; zur Ablehnung der Beiladung von Finanzbehörden vgl. jüngst BFH v. 14. 2. 2019 – V B 103/16, BeckRS 2019, 3122 Rz. 6. 1593 Siehe hierzu Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (16 f.). 1594 Hinsichtlich der Dauer des Einspruchs vgl. Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (18 Fn. 13). 1595 So von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816) für den Weg bis zum EuGH.
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
entstehen für die Unternehmer auch bei den vorstehend aufgezeigten Lösungswegen, wenn es zu einer Klärung im Klageverfahren kommt, möglicherweise Verfahrenskosten.1596 Auch bei der Auflösung des Widerstreits im Einspruchsverfahren können Kosten aufgrund eines Rechtsrats durch Steuerberater oder Rechtsanwälte entstehen, weil die Unternehmer den Einspruch zum Beispiel nicht selbst verfassen. Müssten die Unternehmer allein einen Antrag auf widerspruchsfreie Behandlung stellen, wäre dies für die Unternehmer nur mit Zeit, jedoch nicht mit Kosten für eine Rechtsberatung hinsichtlich der Einspruchseinlegung verbunden.
§ 3 Verfahrensrechtliche Lösungen im Festsetzungsverfahren Welche verfahrensrechtlichen Lösungen im Festsetzungsverfahren vorgeschlagen werden, wird im Nachstehenden erläutert.
I. Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung – Abstimmung der Finanzbehörden 1. Vorschlag Bereits das FG Hamburg sprach sich in seinem Vorlagebeschluss in der Rechtssache ADV Allround für ein „Recht“ des Leistenden und des Leistungsempfängers aus, „hinsichtlich Steuerbarkeit und Steuerpflicht ein und derselben Leistung gleich behandelt zu werden“.1597 Auch im Schrifttum wird vertreten, dass den Unternehmern ein Anspruch auf einheitliche Behandlung hinsichtlich ein und desselben Umsatzes zugesprochen werden müsse.1598 Dass ein solcher Anspruch nach jetziger Rechtslage nicht besteht, wurde im ersten Teil dargelegt. Für den Fall der Frage des Bestehens einer Steuerbefreiung aufgrund des Vorliegens einer innergemeinschaftlichen Lieferung oder einer Ausfuhrlieferung wird vorgeschlagen, dass sich die Finanzbehörden im Festsetzungsverfahren abstimmen könnten, wobei die Abstimmung für beide Steuerschuldverhältnisse bindend sein müsse.1599 Sollte sich der Verwaltungsaufwand für eine Abstimmung in Einzelfällen 1596
So von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816) für den Weg bis zum EuGH. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121). 1598 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816); siehe auch Weimann, UStB 2010, 350 (351). 1599 Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218 f.): „Abgestimmte Versagung oder Gewährung des Vorsteuerabzugs“, wenn fraglich ist, ob eine Steuerbefreiung aufgrund einer Ausfuhrlieferung oder einer innergemeinschaftlichen Lieferung gegeben ist; siehe auch Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789), der darauf hinweist, dass eine unverbindliche Abstimmung zwischen den Finanzbehörden bei Vorliegen eines Widerstreits keine Lösung ist. Auch Streit wirft die Möglichkeit einer Zusammenarbeit auf. Vgl. Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222. 1597
§ 3 Verfahrensrechtliche Lösungen im Festsetzungsverfahren
237
als nicht zu überwinden erweisen, wird vorgeschlagen, den Vorsteuerabzug zu bejahen und ein Auge darauf zu haben, dass der Leistende die Umsatzsteuer abführe.1600 Ferner wird vorgeschlagen, dass man die Verfügung der OFD Hannover vom 9. 10. 20091601 zur widerspruchsfreien Entscheidungsfindung (Abstimmung) der zuständigen Finanzbehörden über das Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen oder das einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft zum Vorbild nehmen könnte und eine entsprechende Bestimmung für alle Fälle entwickelt werden könnte.1602 So könnte man bestimmen, dass der Finanzbehörde des Leistenden entsprechend der vorstehenden Regelung das Recht zugesprochen werde, verbindlich die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung des Sachverhalts festzulegen.1603
2. Stellungnahme Wie bereits oben im Rahmen der Frage des Gutglaubensschutzes bei Vorliegen eines Widerstreits ausgeführt wurde,1604 ist auch nach der hier vertretenen Auffassung den Unternehmern ein Anspruch1605 gegen die jeweils für sie zuständigen Finanzbehörden auf eine widerspruchsfreie umsatzsteuerrechtliche Behandlung zusprechen, damit der Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis durch diesen Anspruch aufgelöst wird. Im Rahmen der Auflösung des Widerstreits sollten sich die Finanzbehörden, wie in der Literatur bereits vorgeschlagen wird, betreffend aller Fälle abstimmen.1606 Der hier vorgeschlagene Lösungsweg knüpft an den Vorschlag zur Abstimmung der Finanzbehörden an. Den Unternehmern sollte demgemäß gegen die für sie zuständigen Finanzbehörden ein Anspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung gewährt werden. Der Anspruch des Leistenden und des Leistungsempfängers auf
1600
Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (219). Dazu bereits oben: Erster Teil, § 3, VII.; OFD Hannover v. 9. 10. 2009 – S 7500-466-StO 171, UR 2010, 188. 1602 Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (9); Heinrichshofen, UStB 2013, 36 (37); so auch Liebgott, UR 2017, 49 (59); siehe auch bereits Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); auf die Möglichkeit einer Zusammenarbeit der Finanzbehörden auch hinweisend Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 222. 1603 Heinrichshofen, EU-UStB 2011, 51 (52). 1604 Siehe oben: Fünfter Teil, § 1, III., 1., b). 1605 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816); Weimann, UStB 2010, 350 (351). 1606 Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (9); Heinrichshofen, UStB 2013, 36 (37); Nieskoven, GStb 2010, 300 (300); so für die Frage der Steuerbefreiung aufgrund einer innergemeinschaftlichen Lieferung oder Ausfuhrlieferung Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218 f.); siehe auch Liebgott, UR 2017, 49 (59); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). 1601
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
Erlass der Kooperationsentscheidung sollte überdies gesetzlich1607 normiert werden. Denn allein bei Bestehen eines gesetzlichen Anspruchs auf eine Kooperationsentscheidung haben die Unternehmer die rechtliche Sicherheit, dass der Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis ohne das Entstehen von Verfahrenskosten aufgelöst wird. Hinsichtlich eines entsprechenden – soweit ersichtlich noch nicht bestehenden – Gesetzesvorschlages für eine verbindliche Kooperationsentscheidung ist auf den sechsten Teil dieser Arbeit zu verweisen.
II. Automatische Bindungswirkung bei rechtskräftiger abändernder Beurteilung für das andere Steuerschuldverhältnis 1. Vorschlag Ferner wird in der Literatur vorgeschlagen, dass eine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers dadurch gewährleistet werden könnte, dass eine abändernde Beurteilung durch die Finanzbehörde von einem der Unternehmer auch gleichzeitig Bindungswirkung für das andere Steuerschuldverhältnis entfalte.1608 Eine derartige Bindungswirkung besteht nach jetziger Rechtslage mangels materiell-rechtlicher Abhängigkeit von Steuer und Vorsteuer nicht, was im ersten Teil dieser Arbeit dargelegt wurde.1609 Es wird vorgeschlagen, dass die Finanzbehörde, welche die Steuer abändernd beurteile, das andere Finanzamt hierüber informieren könnte.1610 Sofern schon Bestandskraft der Veranlagung des anderen Unternehmers eingetreten sei, müsse diese durchbrochen werden.1611 Die gegenüber dem Leistenden wirkende Steuerfestsetzung könne zum Beispiel entsprechend eines Grundlagenbescheids i. S. v. § 171 Abs. 10 AO eine Bindungswirkung für die Steuerfestsetzung beim Leistungsempfänger erzeugen.1612 Auch wird vorgeschlagen, dass die Berichtigung der Rechnung, die dann erfolge, wenn beim Leistenden bindend festgestellt worden sei, dass der Umsatz steuerbar und steuerpflichtig sei, als rückwirkendes Ereignis i. S. v. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gelten könnte.1613 Hier gilt es zu beachten, dass § 14 Abs. 4 1607
Zum Erfordernis einer gesetzlichen Lösung des Problems widersprüchlicher Entscheidungen siehe Heinrichshofen, EU-UStB 2010, 68 (69); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (821). 1608 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (816). 1609 Siehe oben: Erster Teil, § 2., II., 1., b); eine Bindungswirkung nach jetziger Rechtslage auch ablehnend Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 450. 1610 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 1611 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 1612 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (818). Nach jetziger Rechtslage ist dies nicht der Fall. Siehe oben: Erster Teil, § 4, IV. 1613 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (818); siehe auch Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (16).
§ 4 Zivilrechtliche Lösung: Streitverkündung, §§ 72 ff. ZPO
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Satz 4 UStG seit dem 1. 1. 2020 ausdrücklich normiert, dass die Berichtigung einer Rechnung um fehlende oder unzutreffende Angaben kein rückwirkendes Ereignis im Sinne von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist.1614 Außerdem müsse, sofern man eine automatische Bindungswirkung bejahe, der Unternehmer, in dessen Steuerschuldverhältnis die Bindungswirkung Auswirkungen habe, die Möglichkeit eines Drittwiderspruchs haben.1615 Zudem müsse eine verbindliche Auskunft i. S. v. § 89 Abs. 2 AO der Finanzbehörde einer der beiden Unternehmer gleichfalls eine Bindungswirkung für das andere Steuerschuldverhältnis entfalten.1616 Dass dies nach jetziger Rechtslage nicht der Fall ist, wurde im ersten Teil aufgezeigt.1617
2. Stellungnahme Nach der hier vertretenen Auffassung tritt eine Bindungswirkung für beide Steuerschuldverhältnisse erst aufgrund einer Kooperationsentscheidung der Finanzbehörden ein, die zur Auflösung des Widerstreits erfolgt, also nach einer Abstimmung der Finanzbehörden.1618 Hierfür spricht, dass beide Finanzbehörden dem Grundsatz nach entscheiden sollen dürfen.1619
§ 4 Zivilrechtliche Lösung: Streitverkündung, §§ 72 ff. ZPO I. Vorschlag Darüber hinaus wird in der Literatur die Ansicht vertreten, dass der Widerstreit zwischen den Finanzbehörden im Zivilprozess aufzulösen ist.1620 Die entsprechende Anwendung der Bestimmungen der ZPO zur Streitverkündung (§§ 72 ff. ZPO) sei die vom EuGH im ADV Allround-Urteil geforderte „erforderliche Maßnahme“1621 zur Gewährung der Neutralität der Mehrwertsteuer.1622 1614
Siehe hierzu auch BMF-Schreiben v. 18. 9. 2020 – III C 2-S 7286-a/19/10001 :001, 2020/0920350, DStR 2020, 2131 Rz. 32. 1615 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (818). 1616 von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 1617 Siehe oben Erster Teil, § 4, I. 1618 Zur Bindungswirkung der Abstimmung für beide Steuerschuldverhältnisse im Bereich der innergemeinschaftlichen Lieferung und der Ausfuhrlieferung vgl. Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218 f.). 1619 So auch OFD Hannover v. 9. 10. 2009 – S 7500-466-StO 171, UR 2010, 188. 1620 Dodos, MwStR 2015, 329 (332). 1621 EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 Rz. 45 u. Tenor zu 2. 1622 Dodos, MwStR 2015, 329 (333).
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5. Teil: Bestehende Lösungsvorschläge
So könnten die am Leistungsaustausch beteiligten Finanzbehörden hier infolge einer Streitverkündung nach §§ 72 ff. ZPO, die ihnen gegenüber zu erfolgen habe, in das zivilgerichtliche Verfahren über das Bestehen der Steuerbarkeit und die Steuerpflicht eines Umsatzes einbezogen werden.1623 Folge der Streitverkündung sei, dass die Finanzbehörden aufgrund der Interventionswirkung der Streitverkündung nach §§ 74, 68 ZPO an die im Finanzprozess getroffenen rechtlichen Beurteilungen1624 gebunden seien.1625 Folge sei ferner, dass es schon keiner finanzgerichtlichen Klärung mehr bedürfe und sich damit auch die Frage erledige, ob Finanzbehörden beigeladen werden können.1626
II. Stellungnahme Die umsatzsteuerrechtliche Frage, ob ein Umsatz steuerbar und steuerpflichtig ist, sollte im Rahmen einer Kooperationsentscheidung der Finanzbehörden geklärt werden.1627 Wenn durch den Anspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung gewährleistet wird, dass eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer erfolgt, müssen auch die Zivilgerichte an die Kooperationsentscheidung gebunden sein.1628 Zudem dürfte sich, wenn ein Anspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung besteht, ein zivilrechtlicher Streit dahingehend, ob die Umsatzsteuer gesetzlich geschuldet ist, ohnehin erledigt haben. Hierfür spricht auch, dass die Zivilgerichte nach der hier vertretenen Ansicht entlastet werden und den Finanzbehörden der problematische Sachverhalt bei Vorliegen eines Widerstreits im VierParteien-Verhältnis schon besser vertraut ist. Außerdem würden für die Unternehmer Kosten aufgrund des Zivilrechtsstreits entstehen, was ein weiteres Argument für den Vorrang des Anspruchs auf eine Kooperationsentscheidung ist.
1623
Dodos, MwStR 2015, 329 (332); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (222). So generell BGH v. 4. 4. 2019 – III ZR 338/17, NJW 2019, 1749 Rz. 27. 1625 Dodos, MwStR 2015, 329 (332). 1626 Dodos, MwStR 2015, 329 (333). 1627 Siehe hierzu auch Stadie, UR 2011, 801 (802), der sich für eine Aussetzung des zivilrechtlichen Verfahrens und Klärung durch die Finanzbehörden ausspricht. 1628 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, § 1, III., 2. sowie OLG Hamm v. 28. 1. 2014 – 19 U 107/ 13 MwStR 2014, 376 (unter II., 1., b), (2), (a), (cc)). 1624
Sechster Teil
Gesetzesvorschlag für eine verbindliche Kooperationsentscheidung Die Problematik der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers ist durch einen gesetzlichen Anspruch des Leistenden und des Leistungsempfängers gegen die für sie zuständigen Finanzbehörden auf Erlass einer Kooperationsentscheidung1629 zu lösen. Dieser Anspruch besteht nach jetziger Rechtslage, wie im ersten Teil aufgezeigt wurde, nicht. Damit knüpft der hier vertretene Lösungsweg an den in der Literatur vorzufindenden Vorschlag an, dass sich die Finanzbehörden hinsichtlich der Steuerbarkeit und der Steuerpflicht ein und desselben Umsatzes verbindlich abstimmen sollten.1630 Dass die bestehenden Kooperationsformen1631 im Steuerrecht, insbesondere das Instrument der verbindlichen Auskunft1632, der verbindlichen Zusage und der tatsächlichen Verständigung, keine widerspruchsfreie Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers hinsichtlich desselben Umsatzes gewährleisten, wurde im ersten Teil1633 erläutert. Im Folgenden wird vorab geklärt, wo im Gesetz der Anspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung verankert werden sollte (dazu § 1). Sodann wird ein Gesetzesvorschlag gemacht (dazu § 2), der danach erläutert wird (dazu § 3.).
1629
Zur fehlenden „Koordination“ der Gerichte oder Spruchkörper bei Vorliegen eines Widerstreits vgl. FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1121); zur Kooperation im Besteuerungsverfahren zwischen der Finanzverwaltung und den Unternehmern generell siehe z. B. Drüen, FR 2011, 101 (101 ff.); Stemplewski, BB 2012, 2220 (2220 ff.); zur Kooperation beim Vollzug der Steuer zwischen dem Bund und den Ländern und zwischen den Ländern siehe Drüen, FR 2008, 295 (299). 1630 Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 7 (9); Heinrichshofen, UStB 2013, 36 (37); zur Abstimmung über die Frage des Vorliegens einer innergemeinschaftlichen Lieferung oder einer Ausfuhrlieferung vgl. Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218 f.); zur Abstimmung über das Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen oder eines Organschaftsverhältnisses vgl. auch bereits OFD Hannover v. 9. 10. 2009 – S 7500-466-StO 171, UR 2010, 188. 1631 Zu den bestehenden Kooperationsformen siehe auch Stemplewski, BB 2012, 2220 (2221). 1632 Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1177); Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). 1633 Dazu oben: Erster Teil, § 3, I. – III.
242
6. Teil: Gesetzesvorschlag für eine verbindliche Kooperationsentscheidung
§ 1 Gesetzliche Verortung des Anspruchs Eine reine Verwaltungsanweisung ist für die Auflösung des Widerstreits nicht ausreichend.1634 Es bedarf vielmehr einer gesetzlichen Regelung.1635 Es stellt sich die Frage, ob der Anspruch auf den Erlass einer Kooperationsentscheidung in der AO oder im UStG geregelt werden sollte. Da es sich um einen verfahrensrechtlichen Anspruch handelt, könnte man zunächst in Erwägung ziehen, diesen Anspruch in der AO zu verankern. Man könnte an eine Erweiterung der Regelungen der §§ 85 ff. AO (3. Unterabschnitt Besteuerungsgrundsätze, Beweismittel) denken. Hier ist auch die verbindliche Auskunft geregelt (siehe § 89 Abs. 2 AO). Auch durch sie sollen in bestimmten Fällen sich widersprechende Entscheidungen vermieden werden (vgl. § 1 Abs. 2 StAuskV).1636 Andererseits handelt es sich bei dem Anspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung um einen allein das Umsatzsteuerrecht betreffenden Anspruch. Dieser Anspruch soll den am umsatzsteuerrechtlichen Leistungsaustausch beteiligten Unternehmen zu Gute kommen. Die Normierung eines solchen Anspruchs im UStG erscheint deshalb passender. Auch im UStG sind verfahrensrechtliche Vorschriften, die speziell das Umsatzbesteuerungsverfahren betreffen, vorzufinden (vgl. z. B. § 18 UStG),1637 weshalb eine verfahrensrechtliche Regelung zur Kooperation im UStG getroffen werden kann. Der Anspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung könnte im siebten Abschnitt des UStG (Durchführung, Bußgeld-, Straf-, Verfahrens-, Übergangs- und Schlussvorschriften) normiert werden. Es werden nämlich mit der gesetzlichen Regelung der Kooperationsentscheidung diverse Themen angesprochen, wie die Steuerpflicht und die Steuerbarkeit des Umsatzes, der anzuwendende Steuersatz, aber auch eine das Verfahrensrecht betreffende Abstimmung. Man könnte im siebten Abschnitt des UStG einen § 27c UStG1638 einfügen.
1634
(350).
Siehe bereits oben: Erster Teil, § 3, VII., 2.; siehe dazu auch Weimann, UStB 2010, 350
1635 Zum Erfordernis einer gesetzlichen Lösung des Problems widersprüchlicher Entscheidungen siehe Heinrichshofen, EU-UStB 2010, 68 (69); von Streit/Streit, UR 2018, 813 (821). 1636 Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 89 Rz. 30a; auf § 1 Abs. 2 StAuskV bei Vorliegen eines Widerstreits auch hinweisend von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 1637 Siehe bereits oben: Vierter Teil, § 2, I., 2. u. Treiber, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 18 Rz. 1; hierauf hinweisend auch von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 1638 Zum Vorschlag der Schaffung eines § 27c UStG siehe auch bereits Stellungnahme des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2020, https: //www.bundestag.de/resource/blob/800862/b5058d67eab1250e42d5a05b95c69bce/05-Dt-Stif tungen-data.pdf [Zugriffsdatum: 16. 3. 2021]: „§ 27c UStG-NEU Anrufungsauskunft“, „Das Betriebsstättenfinanzamt hat auf Anfrage eines Beteiligten darüber Auskunft gegeben, ob und inwieweit im einzelnen Fall die Vorschriften über die Umsatzsteuer anzuwenden sind.“
§ 2 Vorschlag eines Gesetzestextes
243
§ 2 Vorschlag eines Gesetzestextes Änderung des Umsatzsteuergesetzes Nach § 27b UStG wird § 27c UStG eingefügt: „§ 27c UStG Verbindliche Kooperationsentscheidung (1) 1Die für den leistenden Unternehmer und den Leistungsempfänger zuständigen Finanzbehörden erteilen auf gemeinsamen Antrag des leistenden Unternehmers und des Leistungsempfängers eine für die erteilenden Finanzbehörden und die Antragsteller verbindliche Kooperationsentscheidung über die umsatzsteuerliche Beurteilung eines bereits verwirklichten Sachverhalts, wenn die für den leistenden Unternehmer und die für den Leistungsempfänger zuständigen Finanzbehörden widersprüchliche Rechtsauffassungen hinsichtlich desselben Sachverhalts vertreten. 2Die für den leistenden Unternehmer und den Leistungsempfänger zuständigen Finanzbehörden stimmen1639 sich über die Steuerbarkeit und die Steuerpflicht des dem Antrag zugrunde liegenden Umsatzes sowie über den anzuwendenden Steuersatz ab. 3Sofern keine Einigung zwischen den Finanzbehörden erzielt werden kann, steht der Finanzbehörde des leistenden Unternehmers die Alleinentscheidungsbefugnis1640 über die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung des Sachverhalts zu. 4Bei Zuständigkeit derselben Finanzbehörde für den leistenden Unternehmer und den Leistungsempfänger erfolgt eine Abstimmung zwischen den zuständigen Bearbeitern1641. 5Sofern keine Einigung zwischen den zuständigen Bearbeitern erzielt werden kann, steht dem für den leistenden Unternehmer zuständigen Bearbeiter die Alleinentscheidungsbefugnis über die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung zu. (2) Der Antrag auf Erlass der Kooperationsentscheidung ist schriftlich oder elektronisch innerhalb eines Monats nach Kenntniserlangung des leistenden Unternehmers und des Leistungsempfängers von deren widersprüchlichen umsatzsteuerrechtlichen Behandlung zu stellen. (3) Die Kooperationsentscheidung gilt als Verständigungsvereinbarung im Sinne des § 175a Satz 1 und Satz 2 AO. (4) Die Kooperationsentscheidung ist sowohl dem leistenden Unternehmer als auch dem Leistungsempfänger schriftlich oder elektronisch zu erteilen.“
1639 Vgl. dazu bereits OFD Hannover v. 9. 10. 2009 – S 7500-466-StO 171, UR 2010, 188 zur Abstimmung über das Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen oder eines Organschaftsverhältnisses. 1640 Vgl. dazu bereits OFD Hannover v. 9. 10. 2009 – S 7500-466-StO 171, UR 2010, 188 zur Abstimmung über das Vorliegen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen oder eines Organschaftsverhältnisses; zustimmend Heinrichshofen, EU-UStB 2011, 51 (52). 1641 Vgl. dazu bereits OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 – S 7100b-1-St 171, UR 2016, 293 (294); OFD Niedersachsen v. 19. 9. 2017 – S 7100b-1-St 171, DStR 2017, 2285 (2285).
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6. Teil: Gesetzesvorschlag für eine verbindliche Kooperationsentscheidung
§ 3 Erläuterungen zum Gesetzesvorschlag I. Rechtsanspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung, § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG Die Erteilung der Kooperationsentscheidung steht nicht im Ermessen1642 der zuständigen Finanzbehörden. Die Kooperationsentscheidung ist zu erteilen, sofern ein umsatzsteuerrechtlicher Widerstreit im Vier-Parteien-Verhältnis1643 besteht (vgl. § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG).
II. Antragsbefugnis, § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG Die Antragsbefugnis steht dem leistenden Unternehmer und dem Leistungsempfänger nur gemeinsam zu (vgl. § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG). Hierfür spricht, dass die Kooperationsentscheidung gerade beide Steuerschuldverhältnisse betrifft und beiden Unternehmern gegenüber ergeht. Möchte einer der beiden Unternehmer gegen seine Steuerfestsetzung alleine vorgehen, muss er innerhalb der Einspruchsfrist (vgl. § 355 Abs. 1 AO) Einspruch (vgl. §§ 347 ff. AO) gegen die Steuerfestsetzung einlegen.
III. Zuständige Finanzbehörde(n), § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG Zuständig für den Erlass der Kooperationsentscheidung sind die für den leistenden Unternehmer und den Leistungsempfänger zuständigen1644 Finanzbehörden (vgl. § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG). Sind für beide Unternehmer dieselbe Finanzbehörde zuständig, ist diese Finanzbehörde für den Erlass der Kooperationsentscheidung zuständig. Auch dies ergibt sich aus § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG. In diesem Fall erfolgt eine Kooperation zwischen den zuständigen Bearbeitern1645 (vgl. § 27c Abs. 1 Satz 4 UStG).
1642
Zum behördlichen Ermessen vgl. § 5 AO. Zum Begriff des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis siehe bereits: Erster Teil, § 1, III., 1. u. 2. 1644 Zur örtlichen Zuständigkeit der Finanzbehörden bereits oben ausführlich: Erster Teil, § 1, I. 1645 Vgl. dazu bereits OFD Niedersachsen v. 6. 11. 2015 – S 7100b-1-St 171, UR 2016, 293 (294); OFD Niedersachsen v. 19. 9. 2017 – S 7100b-1-St 171, DStR 2017, 2285 (2285). 1643
§ 3 Erläuterungen zum Gesetzesvorschlag
245
IV. Inhalt der Kooperationsentscheidung, § 27c Abs. 1 Satz 1 und 2 UStG Inhalt der Abstimmung zwischen den Finanzbehörden und somit Inhalt der Kooperationsentscheidung ist die umsatzsteuerliche Beurteilung eines bereits verwirklichten Sachverhalts (vgl. § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG). Ein Sachverhalt i. S. v. § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG „ist jeder einzelne Lebensvorgang, an den das Gesetz eine steuerliche Folge knüpft“1646. Verwirklicht ist der Sachverhalt, wenn die steuerliche Folge bereits eingetreten ist. Die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung des verwirklichten Sachverhalts umfasst die Beurteilung über die Steuerbarkeit1647, die Steuerpflicht1648 und den Steuersatz1649 des dem Antrag zugrunde liegenden Umsatzes (§ 27c Abs. 1 Satz 2 UStG). Nicht Gegenstand der Abstimmung und der Kooperationsentscheidung sind umsatzsteuerrechtliche Fragen, die allein den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers betreffen, wie zum Beispiel das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechnung. Hierüber entscheidet allein die Finanzbehörde des Leistungsempfängers. Auch hier muss der Leistungsempfänger die Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 AO beachten, wenn er gegen die Ablehnung des Vorsteuerabzugs aus Gründen vorgehen will, die nicht den Widerstreit zwischen den Finanzbehörden beziehungsweise zwischen den zuständigen Bearbeitern betreffen. Ist der Sachverhalt noch nicht verwirklicht, ist die verbindliche Auskunft (vgl. § 89 Abs. 2 AO) spezieller. Diese kann zwar nach jetziger Rechtslage nicht von beiden Unternehmern gemeinsam beantragt werden.1650 Wenn den Unternehmern ein Anspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung zusteht, sollten die Unternehmer auch gemeinsam eine verbindliche Auskunft beantragen können. Denn auf diesem Wege könnte ein drohender Widerstreit bereits präventiv ausgeschlossen werden. Ein präventiver Ausschluss eines Widerstreits kommt sowohl den Unternehmern als auch dem Fiskus zu Gute. Ein Widerstreit kann, wie im ersten Teil aufgezeigt wurde,1651 sowohl für den Fiskus als auch für die Unternehmer finanziell nachteilig sein. Hierfür müsste der bestehende § 1 StAuskV (vgl. § 89 Abs. 2 Satz 6 AO) geändert werden. Man könnte einen Absatz 5 in § 1 StAuskV einfügen, der wie folgt lautet: 1646 Entsprechend der Definition des Sachverhalts i. S. v. § 174 AO. Vgl. BFH v. 2. 5. 2001 – VIII R 44/00, DStRE 2001, 1060 (unter 1.). 1647 Vgl. dazu FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Heinrichshofen, EU-UStB 2011, 51 (52); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 1648 Vgl. dazu FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1121); Heinrichshofen, EU-UStB 2011, 51 (52); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 1649 Vgl. dazu Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (217); Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). 1650 Siehe oben: Erster Teil, § 3, I., 2. 1651 Siehe oben: Erster Teil, § 1, IV., 3.
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6. Teil: Gesetzesvorschlag für eine verbindliche Kooperationsentscheidung
„1Eine verbindliche Auskunft kann bei umsatzsteuerrechtlichen Fragen vom leistenden Unternehmer und vom Leistungsempfänger gemeinsam beantragt werden. 2§ 27c Absatz 1 Satz 2 bis Satz 5 UStG gilt in diesem Fall für die verbindliche Auskunft entsprechend.“
Damit die vom Leistenden und vom Leistungsempfänger gemeinsam beantragte Auskunft auch für beide Steuerschuldverhältnisse bindend ist, müsste man überdies § 2 StAuskV ändern. Auch hier könnte man einen Absatz 5 einfügen, der wie folgt lautet: „Eine nach § 1 Absatz 5 erteilte verbindliche Auskunft ist für die Besteuerung des leistenden Unternehmers und des Leistungsempfängers einheitlich bindend, wenn der später verwirklichte Sachverhalt von dem Sachverhalt, der der Auskunft zugrunde gelegt wurde, nicht oder nur unwesentlich abweicht. Widerspricht die einheitlich erteilte verbindliche Auskunft dem geltenden Recht und beruft sich einer der Antragsteller hierauf, entfällt die Bindungswirkung der verbindlichen Auskunft einheitlich gegenüber beiden Antragstellern.“
V. Alleinentscheidungsbefugnis bei mangelnder Einigung, § 27c Abs. 1 Satz 3 und 4 UStG Wird keine Einigung zwischen den Finanzbehörden oder den zuständigen Bearbeitern erzielt, steht der Finanzbehörde des Leistenden beziehungsweise dem für den Leistenden zuständigen Bearbeiter die Alleinentscheidungsbefugnis über die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung zu (vgl. § 27c Abs. 1 Satz 3 u. 5 UStG).1652 Eine Alleinentscheidungsbefugnis ist deshalb erforderlich, weil es zwingend zu einer Einigung kommen muss, damit der Widerstreit aufgelöst werden kann. Der Finanzbehörde des Leistenden beziehungsweise dem für den Leistenden zuständigen Bearbeiter sollte die Alleinentscheidungsbefugnis bei mangelnder Einigung zugesprochen werden, weil diese(r) allgemein besser mit den ausgeführten Umsätzen des Leistenden vertraut ist und die Finanzbehörde des Leistungsempfängers „allein“ über den spiegelbildlichen Vorsteuerabzug entscheidet.
VI. Rechtliche Qualifizierung der Kooperationsentscheidung und Erteilung der Kooperationsentscheidung gegenüber beiden Unternehmern, § 27c Abs. 4 UStG Die Kooperationsentscheidung ist ein Verwaltungsakt i. S. v. § 118 Satz 1 AO. Sie muss sowohl dem Leistenden als auch dem Leistungsempfänger gegenüber schriftlich oder elektronisch (vgl. § 27c Abs. 4 UStG) nach § 122 Abs. 1 Satz 1 AO bekannt gegeben werden.
1652 Vgl. dazu bereits OFD Hannover v. 9. 10. 2009 – S 7500-466-StO 171, UR 2010, 188; so auch Heinrichshofen, EU-UStB 2011, 51 (52).
§ 3 Erläuterungen zum Gesetzesvorschlag
247
VII. Bindungswirkung der Kooperationsentscheidung Die Bindungswirkung der Kooperationsentscheidung für beide Steuerschuldverhältnisse ergibt sich direkt aus § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG.1653 Sinn und Zweck der Kooperationsentscheidung nach § 27c Abs. 1 Satz 1 UStG ist eine bindende Entscheidung der Finanzbehörden für beide Steuerschuldverhältnisse.1654 Für die Bindungswirkung der Kooperationsentscheidung für beide Steuerschuldverhältnisse spielt es ferner keine Rolle, ob die Finanzbehörden demselben oder unterschiedlichen Bundesländern angehören. Denn die von einem Bundesland erlassenen Verwaltungsakte gelten auch in jedem anderen Bundesland.1655
VIII. Form des Antrags und Antragsfrist, § 27c Abs. 2 UStG Entsprechend dem Antrag auf verbindliche Auskunft (vgl.§ 1 Abs. 1 Satz 1 StAuskV1656) ist der Antrag auf Erlass der Kooperationsentscheidung schriftlich oder elektronisch zu stellen (§ 27c Abs. 2 UStG). Die Monatsfrist für den Antrag auf Erlass einer Kooperationsentscheidung ab Kenntniserlangung beider Unternehmer vom Widerstreit ist ausreichend, um den Antrag zu stellen, und somit angemessen. Außerdem entspricht die Länge der Frist für den Antrag auf Erlass der Kooperationsentscheidung der Länge der Einspruchsfrist i. S. v. § 355 Abs. 1 AO. Verstreicht die Einspruchsfrist i. S. v. § 355 Abs. 1 AO, tritt formelle Bestandskraft des Steuerbescheids (Verwaltungsakts) ein.1657 Formelle Bestandskraft bedeutet Unanfechtbarkeit.1658 Hat der leistende Unternehmer beispielsweise einen Änderungsbescheid (Verwaltungsakt i. S. v. § 118 Satz 1 AO1659) dahingehend erhalten, dass er Umsatzsteuer nachzahlen muss, und wird der entsprechende Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger im Rahmen einer Betriebsprüfung erst nach Ablauf der für den leistenden Unternehmer bestehenden Einspruchsfirst gegen den Änderungsbe-
1653 So auch Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (218 f.) hinsichtlich einer Abstimmung im Fall der Frage des Vorliegens einer Ausfuhrlieferung oder einer innergemeinschaftlichen Lieferung. 1654 So auch bei der verbindlichen Auskunft bei gemeinsamer Beantragung vgl. AEAO zu § 89 Nr. 3.6.1 Satz 3, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021. 1655 Vgl. dazu Rätke, in: Klein, AO, § 17 Rz. 5. 1656 Auf § 1 Abs. 2 StAuskV bei Vorliegen eines Widerstreits hinweisend von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 1657 Cöster, in: Koenig, AO, § 355 Rz. 2; Rätke, in: Klein, AO, § 355 Rz. 20. 1658 AEAO zu vor §§ 172 bis 177 Nr. 1, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021. 1659 Vgl. Füssenich, in: BeckOK AO, § 118 Rz. 134.
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6. Teil: Gesetzesvorschlag für eine verbindliche Kooperationsentscheidung
scheid seiner Steuerbehörde versagt,1660 stellt sich die Frage, ob die Unternehmer trotz formeller Bestandskraft1661 beispielsweise beim Leistenden einen Anspruch auf Kooperationsentscheidung stellen dürfen. Diese Frage ist zu bejahen. Vom Vorliegen eines Widerstreits im Vier-ParteienVerhältnis erfahren die Unternehmer möglicherweise gerade erst zu einem Zeitpunkt, in welchem die Einspruchsfrist bei einem der Unternehmer schon abgelaufen ist.1662 Ist die Einspruchsfrist versäumt, muss unter „normalen Umständen“ die formelle Bestandskraft beziehungsweise die Rechtssicherheit1663 obsiegen. Die Unternehmer haben es hier selbst in der Hand, innerhalb der Einspruchsfrist gegen den Änderungsbescheid vorzugehen. Ob ein Widerstreit entsteht, liegt jedoch nicht in der Hand der Unternehmer.1664 Der Widerstreit ist systembedingt.1665 Deshalb muss ein Antrag auf Erlass einer Kooperationsentscheidung auch dann möglich sein, wenn die Einspruchsfrist bei einem der Unternehmer bereits abgelaufen ist.1666
IX. Änderungsnormen nach Auflösung des Widerstreits – § 164 Abs. 2 AO und § 27c Abs. 3 UStG i. V. m. § 175a AO entsprechend Die Kooperationsentscheidung erfolgt im Festsetzungsverfahren. Zu klären ist, welche Änderungsnormen nach Auflösung des Widerstreits durch die Kooperationsentscheidung hier Anwendung finden. Denn bei einem der Unternehmer ist die Steuerfestsetzung zwingend falsch1667 und muss nach Auflösung des Widerstreits, 1660 Zum umgekehrten Fall (Bestandskraft beim Leistungsempfänger) vgl. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817). 1661 Zur Durchbrechung der Bestandskraft bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis vgl. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817); siehe auch Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 227, der darauf hinweist, dass keine materielle Bestandskraft eintreten darf, wenn eine bindende Beurteilung für beide Steuerschuldverhältnisse getroffen werden soll. 1662 Siehe hierzu Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (219) u. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817), welche darauf hinweisen, dass zum Zeitpunkt des Widerstreits schon Bestandskraft eingetreten sein kann. 1663 Siehe dazu Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 55 mit Verweis auf EuGH v. 16. 3. 2006 – C-234/04 – Kapferer, Slg. 2006, I-2585 Rz. 20. 1664 Streit, Steuerschuld durch Steuerausweis, S. 227 weist darauf hin, dass die Unternehmer nicht die Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens in der Hand haben, sodass, sofern ein Rechtsbehelf von einem der Unternehmer eingelegt wurde, keine Bestandskraft beim anderen Unternehmer eintreten darf. 1665 Siehe dazu den Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen, BR-Drs. 310/18, S. 8 Nr. 4: Vorschlag einer „gesetzliche[n] Korrespondenzregelung“ um systembedingte „Windfall-profits“ auszuschließen. Siehe auch Büchter-Hole, EFG 2010, 1170 (1177). 1666 A. A. indes Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 55. 1667 Stadie, in: Rau/Dürrwächter, § 18 Rz. 449.
§ 3 Erläuterungen zum Gesetzesvorschlag
249
die nach der hier vertretenen Auffassung durch die Kooperationsentscheidung erfolgt, korrigiert werden. Korrekturvorschriften stellen die §§ 129 – 131, 164 Abs. 2, 165 Abs. 2, 172 ff. AO dar.1668
1. Änderung der Steueranmeldung des leistenden Unternehmers, § 164 Abs. 2 AO Ist gegenüber dem leistenden Unternehmer bisher noch kein Änderungsbescheid i. S. v. § 164 Abs. 2 Satz 1 AO durch seine Finanzbehörde erfolgt und bestand der Widerstreit allein deshalb, weil die Finanzbehörde des Leistungsempfängers entgegen der Ansicht des leistenden Unternehmers und entgegen der Ansicht der Finanzbehörde des leistenden Unternehmers den Vorsteuerabzug abgelehnt hatte,1669 kann die Steuerbehörde des leistenden Unternehmers nach Auflösung des Widerstreits durch die Kooperationsentscheidung (Kooperationsentscheidung: Umsatz nicht steuerbar oder nicht steuerpflichtig beziehungsweise Anwendung des niedrigeren Steuersatzes) die Steueranmeldung des Leistenden, die nach § 168 Satz 1 AO einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht,1670 nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO1671 innerhalb der Festsetzungsfrist1672 (vgl. § 169 Abs. 1 Satz 1 AO) entsprechend der Kooperationsentscheidung ändern. „Ein Steuerbescheid [(Steuerfestsetzung)], der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist […], kann aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen jederzeit geändert werden, solange der Vorbehalt wirksam ist“1673 (vgl. § 164 Abs. 2 Satz 1 AO). Solange der Vorbehalt wirksam ist, liegt keine materielle Bestandskraft vor.1674 Materielle Bestandskraft bedeutet „Verbindlichkeit einer Verwaltungsentscheidung“.1675 Die Möglichkeit der Abänderbarkeit besteht mithin unabhängig von der formellen Bestandskraft (Unanfechtbarkeit).1676 1668
Rätke, in: Klein, AO, § 355 Rz. 20. Siehe zu dieser Konstellation bereits oben im Rahmen der Frage der Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes: Vierter Teil, § 3., II., 2., a), cc), (1) u. Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). 1670 Neumann-Tomm, MwStR 2014, 789 (789). 1671 Auf die Änderungsmöglichkeit nach § 164 AO bei Vorliegen eines Widerstreits im VierParteien-Verhältnis auch verweisend von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 1672 AEAO zu vor §§ 172 bis 177 Nr. 6, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021. 1673 Wortzitat aus BFH v. 6. 11. 2012 – VIII R 15/19, NVwZ-RR 2013, 486 Rz. 14, Hervorhebungen durch die Verfasserin dieser Arbeit; siehe auch FG Schleswig-Holstein v. 6. 3. 2019 – 4 K 48/18, BeckRS 2019, 4875 Rz. 22; FG Nürnberg v. 16. 6. 2020 – 2 K 1119/18, BeckRS 2020, 16139 Rz. 15. 1674 BFH v. 30. 4. 2019 – V B 34/17, MwStR 2019, 711 Rz. 7; Bergan, DStR 2019, 1075 (1075). 1675 AEAO zu vor §§ 172 bis 177 Nr. 1, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021. 1669
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6. Teil: Gesetzesvorschlag für eine verbindliche Kooperationsentscheidung
Zu beachten gilt es, dass die Vornahme der Änderung einer Steuerfestsetzung, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, im Ermessen der Finanzbehörde steht (vgl. den Wortlaut des § 164 Abs. 2 Satz 1 AO: „kann […] aufgehoben oder geändert werden“).1677 Um die Steuern jedoch „nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben“ (§ 85 AO), steht die Änderung indes in der Pflicht der Finanzbehörde.1678 Die Festsetzungsfrist beträgt vorliegend nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO vier Jahre.1679
2. Änderung des Änderungsbescheids beim leistenden Unternehmer oder beim Leistungsempfänger, § 164 Abs. 2 AO Die von den Steuerbehörden erlassenen Umsatzsteuerbescheide stehen in der Regel unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.1680 Bei Vorliegen eines Vorbehalts der Nachprüfung kommt eine mehrfache Änderung nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO in Betracht.1681 Hat der leistende Unternehmer einen Änderungsbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung von seiner Finanzbehörde erhalten, ist dieser Änderungsbescheid, solange der Vorbehalt besteht, nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO1682 innerhalb der Festsetzungsfrist1683 im Anschluss an die Kooperationsentscheidung zu ändern, wenn das Ergebnis der Kooperationsentscheidung ist, dass die Steuer gesetzlich nicht geschuldet ist, oder der niedrigere Steuersatz Anwendung findet. Gleiches gilt für den Änderungsbescheid des Leistungsempfängers, wenn die Kooperationsentscheidung dahingehend erfolgt ist, dass die Steuer gesetzlich geschuldet ist oder der höhere Steuersatz Anwendung findet.
1676
AEAO zu vor §§ 172 bis 177 Nr. 4, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021. 1677 Specker, in: BeckOK AO, § 164 Rz. 110. 1678 Specker, in: BeckOK AO, § 164 Rz. 110. 1679 Bergan, DStR 2019, 1075 (1075). 1680 Oelmaier, MwStR 2020, 802 (806). 1681 Specker, in: BeckOK AO, § 164 Rz. 110. 1682 Auf die Änderungsmöglichkeit nach § 164 AO bei Vorliegen eines Widerstreits im VierParteien-Verhältnis auch verweisend von Streit/Streit, UR 2018, 813 (815). 1683 AEAO zu vor §§ 172 bis 177 Nr. 6, Anwendungserlass zur AO 2014 v. 31. 1. 2014, BStBl. I, 290, zul. geändert durch BMF-Schreiben v. 28. 1. 2021.
§ 3 Erläuterungen zum Gesetzesvorschlag
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3. Materielle Bestandskraft eingetreten – Durchbrechung der Bestandskraft nach § 27c Abs. 3 UStG i. V. m. § 175a Satz 1 AO entsprechend Wird der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben oder erfolgt ein Steuerbescheid ohne Vorbehalt der Nachprüfung und ist die Rechtsbehelfsfrist abgelaufen, liegt formelle und materielle Bestandskraft vor.1684 Die materielle Bestandskraft kann jedoch dann durchbrochen werden, wenn hierfür eine gesetzliche Norm besteht (vgl. § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d AO).1685 Die Durchbrechung der Bestandskraft ist in den §§ 172 ff. AO normiert.1686 Materielle Bestandskraft tritt zum Beispiel nach einer Außenprüfung1687 (vgl. §§ 193 ff. AO) oder bei endgültigen Bescheiden1688 ein. Nach § 164 Abs. 3 Satz 3 AO ist nach einer Außenprüfung1689 der Vorbehalt aufzuheben, wenn sich Änderungen gegenüber der Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung nicht ergeben. Bei Vorliegen eines Widerstreits kann dem Leistungsempfänger im Rahmen des Vorsteuervergütungsverfahrens die Erstattung der Vorsteuer verwehrt werden.1690 Bei dem Antrag auf Vorsteuervergütung (vgl. § 18 Abs. 9 UStG i. V. m. §§ 59 ff. UStDV) handelt es sich um eine Steueranmeldung i. S. v. § 150 Abs. 1 Satz 3 AO.1691 Nach § 155 Abs. 5 AO sind die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften auf die Festsetzung einer Steuervergütung sinngemäß anzuwenden.1692 Der Antrag auf Vergütung des Leistungsempfängers ist nur dann eine Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung i. S. v. § 168 Satz 1 AO (keine materielle Bestandskraft), wenn eine Zustimmung der Finanzbehörde des Leistungsempfängers (Bundeszentralamt für Steuern) erfolgt (vgl. § 168 Satz 2 AO).1693 Der ablehnende Bescheid des Bundeszentralamts (vgl. § 155 Abs. 1 Satz 3 AO) erfolgt hingegen nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.1694 Er „enthält die vorbehaltslose Ablehnung des Antrags auf Steuerfestsetzung“ (materielle Bestandskraft).1695 Das heißt, dass der Leistungsempfänger in diesem Fall Einspruch gegen die Ablehnung der Steuer1684
(1076). 1685
BFH v. 30. 4. 2019 – V B 34/17, MwStR 2019, 711 Rz. 8; Bergan, DStR 2019, 1075
Bergan, DStR 2019, 1075 (1076). Bergan, DStR 2019, 1075 (1076). 1687 Oelmaier, MwStR 2020, 802 (806). 1688 Oelmaier, MwStR 2020, 802 (806). 1689 Beachte aber § 173 Abs. 2 AO bei der Durchbrechung der Bestandskraft wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel bei einem Steuerbescheid, der auf Grund einer Außenprüfung ergangen ist. 1690 Vgl. dazu FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1119). 1691 BFH v. 30. 4. 2019 – V B 34/17, MwStR 2019, 711 Rz. 7. 1692 BFH v. 30. 4. 2019 – V B 34/17, MwStR 2019, 711 Rz. 7. 1693 BFH v. 30. 4. 2019 – V B 34/17, MwStR 2019, 711 Rz. 7. 1694 BFH v. 30. 4. 2019 – V B 34/17, MwStR 2019, 711 Rz. 7 f. 1695 BFH v. 30. 4. 2019 – V B 34/17, MwStR 2019, 711 Rz. 8. 1686
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6. Teil: Gesetzesvorschlag für eine verbindliche Kooperationsentscheidung
vergütung einlegen muss, weil ansonsten formelle und materielle Bestandskraft eintreten.1696 Bei Vorliegen eines Widerstreits kann zum Beispiel in folgender Situation Bestandskraft eingetreten sein: Der leistende Unternehmer erhält einen Änderungsbescheid und muss Umsatzsteuer nachzahlen.1697 Er lässt daraufhin dem Leistungsempfänger angepasste Rechnungen mit Steuerausweis zukommen.1698 Der Vorsteuervergütungsantrag wird jedoch abgelehnt1699 und der Leistungsempfänger legt keinen Einspruch ein,1700 weil er derselben Ansicht ist, wie das Bundeszentralamt für Steuern. In dem Zeitpunkt, in welchem der Leistende den Umsatzsteuerbetrag vom Leistungsempfänger erneut nachfordert und der Widerstreit ans Licht kommt, ist beim Leistungsempfänger bereits formelle und materielle Bestandskraft eingetreten. Bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis und erfolgter Kooperationsentscheidung muss die Bestandskraft aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer jedoch durchbrochen werden.1701 An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Bestandskraft dann, wenn es um belastende Folgeänderungen beim anderen am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer geht, nach § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 AO1702 nach jetziger Rechtslage durchbrochen wird.1703 Eine Differenzierung zwischen belastenden Folgeänderungen nach § 174 Abs. 4 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 AO und begünstigenden Folgeänderungen bei den am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmen ist angesichts des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer jedoch nicht gerecht.
1696
BFH v. 30. 4. 2019 – V B 34/17, MwStR 2019, 711 Rz. 8. EuGH v. 26. 1. 2012 – C-218/10 – ADV Allround, EuZW 2012, 219 (219). 1698 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1119). 1699 FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119 (1119). 1700 Generalanwalt Mazák, Schlussantrag v. 28. 11. 2011 – C-218/10 – ADV Allround, BeckRS 2011, 81049 Rz. 71; Prätzler, jurisPR-SteuerR 32/2010 Anm. 5. 1701 So Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (219) für den Fall, dass eine Abstimmung über das Vorliegen einer Ausfuhrlieferung oder einer innergemeinschaftlichen Lieferung aufgrund Bestandskraft/Festsetzungsverjährung nicht mehr möglich ist. Die Vorsteuer soll aufgrund des Neutralitätsprinzips gewährt werden, wenn sie trotz Steuerpflicht abgelehnt wurde; siehe auch von Streit/Streit, UR 2018, 813 (817) zur Durchbrechung der Bestandskraft bei automatischer Bindungswirkung der abändernden Beurteilung bei einem Unternehmer für das Steuerschuldverhältnis des anderen Unternehmers; a. A. Sterzinger, UR 2012, 175 (184). 1702 Auf § 174 Abs. 5 AO bei Vorliegen eines Widerstreits auch verweisend FG Hamburg v. 20. 4. 2010 – 3 K/09, DStRE 2010, 1119 (1123). Das FG Hamburg erwägt in seinem Vorlagebeschluss v. 20. 4. 2010 § 60 FGO i. V. m. § 174 Abs. 5 AO gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, „um auf diese Weise eine Rechtskrafterstreckung zu bewirken und damit sich widersprechende Entscheidungen auszuschließen“. Zum Verweis auf § 174 AO bei Vorliegen eines Widerstreits vgl. auch von Streit/Streit, UR 2018, 813 (814). 1703 BFH v. 10. 12. 1998 – V R 58/97, BeckRS 1998, 30038240 (unter II., 3.). 1697
§ 3 Erläuterungen zum Gesetzesvorschlag
253
Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Änderungsnorm § 27c Abs. 3 UStG i. V. m. § 175a AO, wenn bei einem der Unternehmer bereits materielle Bestandskraft1704 eingetreten ist. Gemäß § 175a AO kann eine Steuerfestsetzung auch dann, wenn Bestandskraft eingetreten ist, geändert werden.1705 Nach § 175a Satz 1 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit dies zur Umsetzung einer Verständigungsvereinbarung oder eines Schiedsspruchs nach einem Vertrag im Sinne des § 2 AO geboten ist.1706 Die hier vorgeschlagene Kooperationsentscheidung ist zwar keine Verständigungsvereinbarung und kein Schiedsspruch i. S. v. § 175a Satz 1 AO. Zu einer Verständigungsvereinbarung i. S. v. § 175a Satz 1 AO kommt es im Rahmen einer Verständigung zwischen Deutschland und einem anderen Staat, deren Inhalt ein Besteuerungsrecht ist.1707 Das Verfahren basiert auf einem Vertrag nach § 2 AO.1708 Ein für die Vertragsparteien verbindlicher Schiedsspruch i. S. v. § 175a Satz 1 AO durch eine Schiedskommission erfolgt in einem Schiedsverfahren, wenn die Möglichkeit eines solchen im Doppelbesteuerungsabkommen vorgesehen ist, nachdem das Verständigungsverfahren fehlgeschlagen ist.1709 Trotzdem muss § 175a AO entsprechend für die Kooperationsentscheidung gelten. Sinn und Zweck der Regelung des § 175a AO ist die Beseitigung einer Doppelbesteuerung, die insbesondere trotz Vorhandenseins eines Doppelbesteuerungsabkommens der Vertragsstaaten aufkommen kann.1710 Aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer muss eine „Doppelbesteuerung des Leistenden und des Leistungsempfängers“ ebenso vermieden werden. Nur wenn es entsprechend § 175a Satz 1 AO zu einer Durchbrechung der Bestandskraft bei Vorliegen einer Kooperationsentscheidung kommt, wird der Grundsatz der Neutralität im Ergebnis gewahrt und der Zweck der Kooperationsentscheidung erreicht.
1704 Generell zur Möglichkeit des Auseinanderfallens von Änderungsvorschriften beim Leistenden und beim Leistungsempfänger vgl. FG Münster v. 7. 4. 2020 – 15 K 3019/17 U, DStRE 2020, 1396 Rz. 37. 1705 Rüsken, in: Klein, AO, § 175a Rz. 1. 1706 Siehe hierzu BMF-Schreiben v. 9. 10. 2018, Merkblatt zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – IV B 2 – S 1304/17/10001, BStBl. S. 1122. 1707 Koenig, in: Koenig, AO, § 175a Abs. 6. 1708 Koenig, in: Koenig, AO, § 175a Abs. 6. 1709 Koenig, in: Koenig, AO, § 175a Abs. 7. 1710 Klomp, in: BeckOK, AO, § 175a Rz. 1; Koenig, in: Koenig, AO, § 175a Abs. 1.
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6. Teil: Gesetzesvorschlag für eine verbindliche Kooperationsentscheidung
X. Ablaufhemmung, § 27c Abs. 3 UStG i. V. m. § 175a Satz 2 AO Die Unternehmer müssen den Antrag auf Kooperationsentscheidung vor Ablauf der Festsetzungsverjährung1711 (vgl. § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) stellen.1712 Entscheidend ist hierbei, dass bei einem der Unternehmer noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist.1713 Nach § 175a Satz 2 AO endet die Festsetzungsfrist insoweit nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Wirksamwerden der Verständigungsvereinbarung oder des Schiedsspruchs. § 175a Satz 2 AO normiert eine Ablaufhemmung.1714 Eine solche muss auch dann eintreten, wenn der Antrag auf Kooperationsentscheidung vor Ablauf der Festsetzungsverjährung bei einem der beiden Unternehmer gestellt wurde. Folge ist, dass die Festsetzungsverjährung nicht abläuft, bevor eine Kooperationsentscheidung getroffen wurde.1715 Bei dem Unternehmer, bei welchem die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen ist, lebt der Steueranspruch wieder auf.1716 Allein dieses Ergebnis entspricht dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer.1717
XI. Einspruch gegen die Kooperationsentscheidung möglich, § 27c Abs. 4 UStG Da es sich bei der Kooperationsentscheidung um einen Verwaltungsakt i. S. v. § 118 Satz 1 AO handelt, ist gegen die Kooperationsentscheidung nach § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO der Einspruch zulässig.
1711 Eine Abstimmung zwischen den Finanzbehörden bei Festsetzungsverjährung auch ablehnend Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (219). 1712 Siehe für das Verständigungsverfahren Koenig, in: Koenig, AO, § 175a Rz. 10; a. A. Rüsken, in: Klein, AO, § 175a Rz. 2. 1713 Generell zur Möglichkeit des Auseinanderfallens von Verjährungsvorschriften beim Leistenden und beim Leistungsempfänger vgl. FG Münster v. 7. 4. 2020 – 15 K 3019/17 U, DStRE 2020, 1396 Rz. 37; von Streit/Streit, UR 2018, 813 (814). 1714 Koenig, in: Koenig, AO, § 175a Rz. 10. 1715 Klomp, in: BeckOK, AO, § 175a Rz. 40. 1716 Siehe dazu Rüsken, in: Klein, AO, § 175a Rz. 2. 1717 Siehe hierzu Meyer-Burow/Connemann, UStB 2016, 214 (219), die zwar eine Abstimmung nach Festsetzungsverjährung ablehnen, sich jedoch dafür aussprechen, den Vorsteuerabzug indes aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer zu gewähren.
§ 3 Erläuterungen zum Gesetzesvorschlag
255
XII. Keine Gebührenpflicht für die Kooperationsentscheidung Für die Erteilung der verbindlichen Kooperationsentscheidung fällt, anders als bei der verbindlichen Auskunft (vgl. § 89 Abs. 3 bis Abs. 7 AO)1718, keine Gebühr an. Denn der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer gebietet es, dass die Auflösung des Widerstreits für die Unternehmer ohne finanzielle Belastung erfolgt. Überdies wird die Gebührenpflicht der verbindlichen Auskunft insbesondere damit begründet, dass es sich bei dem Erlass der verbindlichen Auskunft um eine Aufgabe handele, „die nicht mehr im Bereich der Steuerfestsetzung und –erhebung“ liege, „sondern eine Dienstleistung gegenüber dem Steuerpflichtigen“ darstelle.1719 Dies trifft auf die Kooperationsentscheidung jedoch schon deshalb nicht zu, weil diese im Steuerfestsetzungsverfahren erfolgt. Zudem dient die Kooperationsentscheidung allein dazu, einen systemwidrigen Widerstreit aufzulösen, und nicht etwa dazu, die Unternehmer im Vorfeld einer Transaktion zu beraten1720. Damit ist in dem Erlass der Kooperationsentscheidung keine „Dienstleistung gegenüber dem Steuerpflichtigen“1721 zu sehen. Außerdem agieren die Unternehmer nicht im eigenen Interesse, sondern lediglich als „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates“1722, sodass auch aus diesem Grund keine Gebühr für die Kooperationsentscheidung anfallen darf.
XIII. Bindung der Zivilgerichte an die Kooperationsentscheidung und Insolvenzrisiko Die Zivilgerichte müssen an die Kooperationsentscheidung der Finanzbehörden gebunden sein.1723 Folge hiervon ist, dass die für die Unternehmer bestehenden Problemlagen aufgrund widersprüchlicher Entscheidungen der Finanzbehörden und der Finanzgerichte, die im zweiten Teil dieser Arbeit aufgezeigt wurden,1724 nicht mehr bestehen. Für den leistenden Unternehmer beispielsweise besteht dann nicht mehr das Risiko, dass ihm gegen den Leistungsempfänger kein Anspruch auf 1718
Zur Gebührenpflicht der verbindlichen Auskunft vgl. z. B. BMF-Schreiben v. 12. 3. 2007 – IV A 4-S 0224/07/0001, DStR 2007, 582 Rz. 1; Küffner/Zugmaier, DStR 2007, 2307 (2307 f.). 1719 BT-Drs. 16/3036 Nr. 25. 1720 Vgl. hinsichtlich der verbindlichen Auskunft hierzu Küffner/Zugmaier, DStR 2007, 2307 (2307). 1721 BT-Drs. 16/3036 Nr. 25. 1722 EuGH v. 20. 10. 1993 – C-10/92 – Balocchi, BeckRS 2004, 74023 Rz. 25; siehe auch EuGH v. 21. 2. 2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, EuZW 2008, 286 Rz. 21. 1723 Siehe hierzu auch Stadie, UR 2011, 801 (802), der sich für eine Aussetzung des zivilrechtlichen Verfahrens und Klärung durch die Finanzbehörden ausspricht. 1724 Siehe oben: Zweiter Teil, § 1, III., 2., b).
256
6. Teil: Gesetzesvorschlag für eine verbindliche Kooperationsentscheidung
Zahlung des Umsatzsteuerbetrags durch das Zivilgericht zugesprochen wird, obwohl er die Umsatzsteuer abzuführen hat.1725 Wie überdies bereits erläutert wurde,1726 steht dem Leistungsempfänger gegen den Fiskus ein Direktanspruch (sog. Reemtsma-Anspruch1727) auf Erstattung des Umsatzsteuerbetrags zu, wenn der Leistungsempfänger den Umsatzsteuerbetrag, den er bereits an den Leistenden gezahlt hatte, nach Auflösung des Widerstreits und Bestehen eines Rückzahlungsanspruchs gegen den Leistenden wegen Insolvenz des Leistenden nicht geltend machen kann.1728 Der vorstehende Anspruch steht dem Leistungsempfänger auch dann zu, wenn der leistende Unternehmer den Umsatzsteuerbetrag noch nicht an den Fiskus abgeführt hatte.1729 Aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer muss dasselbe für den leistenden Unternehmer gelten, wenn der leistende Unternehmer seinen Anspruch gegen den Leistungsempfänger auf Zahlung des Umsatzsteuerbetrags nach Auflösung des Widerstreits durch die Kooperationsentscheidung wegen Insolvenz des Leistungsempfängers nicht mehr geltend machen kann.1730
1725
Auf das Problem hinweisend Weinschütz, EuZW 2012, 219 (221). Siehe oben: Fünfter Teil, § 1, III., 1., c). 1727 EuGH v. 15. 3. 2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken/Ministerio delle Finanze, DStRE 2007, 570; die Grundsätze dieses Urteils bestätigend z. B. EuGH v. 20. 10. 2011 – C-94/10 – Danfoss A/S und Sauer-Danfoss ApS, BeckRS 2011, 81520 Rz. 24, 26, 28; EuGH v. 26. 4. 2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, DStRE 2017, 1301 Rz. 53; EuGH v. 11. 4. 2019 – C-691/ 17 – PORR, DStR 2019, 924 Rz. 40; krit. Reiß, MwStR 2019, 526 (526 ff.). 1728 Unabhängig vom Vorliegen einer Kooperationsentscheidung vgl. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (820). 1729 Siehe dazu oben ausführlich Fünfter Teil, § 1, III., 1., c), bb); so auch Burgmaier, UR 2007, 343 (349); Englisch, UR 2008, 466 (468); Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 963; von Streit, EU-UStB 2012, 38 (42); a. A. BFH v. 11. 10. 2007 – V R 27/05, DStRE 2008, 511 (unter II., 6., b)); BFH v. 10. 12. 2008 – XI R 57/06, BeckRS 2008, 25014951 (unter II., 2., b)). 1730 Unabhängig vom Vorliegen einer Kooperationsentscheidung vgl. von Streit/Streit, UR 2018, 813 (820), die auf EuGH v. 15. 12. 2011 – C-427/10 – Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, UR 2012, 184 Rz. 29 verweisen. 1726
Schluss 1. Infolge einer widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers durch ihre Finanzbehörden droht sowohl dem Leistenden als auch dem Leistungsempfänger die Gefahr, die Umsatzsteuer im Ergebnis selbst tragen zu müssen (erster Teil, § 2). Dies gilt für den Leistenden bei Vorliegen der Ist-Besteuerung und bei Vorliegen der Soll-Besteuerung (erster Teil, § 2, I., 2.). 2. Keiner der beiden am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer hat nach jetziger Rechtslage gegen die jeweils für ihn zuständige Finanzbehörde einen Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung aus materiell-rechtlichen Gründen (erster Teil, § 2.). 3. Auch aus verfahrensrechtlichen Gründen steht den Unternehmern kein Anspruch auf widerspruchsfreie Behandlung zu (erster Teil, § 3). 4. Eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer ist im Ergebnis allein bei Zuständigkeit derselben Finanzbehörde für die Unternehmer gewährleistet, wenn der jeweils andere Unternehmer zum Einspruchs- oder Klageverfahren hinzugezogen beziehungsweise beigeladen wird (erster Teil, § 3, VI., 3., b)). 5. Für den Leistenden kann sowohl bei Bestehen einer zivilrechtlichen Nettopreisabrede als auch bei Bestehen einer zivilrechtlichen Bruttopreisabrede eine Problematik aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis bestehen (zweiter Teil, II.). 6. Für den Leistungsempfänger ist insbesondere problematisch, dass sich der Leistende aufgrund eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nach § 818 Abs. 3 BGB auf Entreicherung berufen kann, wenn der Leistende den Umsatzsteuerbetrag an den Fiskus abgeführt hat. In diesem Fall hat der Leistungsempfänger gegen den Leistenden keinen Rückzahlungsanspruch nach § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB (zweiter Teil, § 2, II.). Überdies ist für den Leistungsempfänger problematisch, dass er im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis gegen den Fiskus keinen direkten Anspruch auf Erstattung des an den Leistenden gezahlten Umsatzsteuerbetrags hat, wenn der Leistende die Rückerstattung an den Leistungsempfänger verweigert (zweiter Teil, § 3). 7. Eine Bindungswirkung der Entscheidungen der Finanzbehörden für die Zivilgerichte ist nur dann gerechtfertigt, wenn gewährleistet ist, dass widerspruchsfreie Entscheidungen im Vier-Parteien-Verhältnis zu treffen sind (zweiter Teil, § 1, III., 2.).
258
Schluss
8. Ob der Leistende oder der Leistungsempfänger infolge eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis die Umsatzsteuer im Ergebnis selbst tragen muss, hängt davon ab, ob die Zivilgerichte sich der Ansicht der Finanzbehörde des Leistenden anschließen, oder der Ansicht der Finanzbehörde des Leistungsempfängers (zweiter Teil, § 1, III., 2., b)). 9. Es bestehen mehrere Reformvorschläge zum gegenwärtigen Umsatzsteuersystem. Diese wurden aufgrund der Betrugsanfälligkeit des bestehenden Umsatzsteuersystems vorgeschlagen. Keiner der Alternativvorschläge vermag das dieser Arbeit zugrunde liegende Problem ausreichend zu lösen. Dies gilt für den Reformansatz von Paul Kirchhof (dritter Teil, § 2, I., 1.), das Mittler-Modell (dritter Teil, § 2, I., 2.), den Vorschlag eines generellen Reverse-Charge-Verfahrens (dritter Teil, § 2, I., 3.) und den Vorschlag der generellen Ist-Besteuerung mit Cross-Check (dritter Teil, § 2, II.). 10. Der europäische Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes ist durch widersprüchliche Entscheidungen der Finanzbehörden nicht verletzt (vierter Teil, § 3, II.). 11. Das nach jetziger Rechtslage bestehende Problem der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im Umsatzsteuerrecht muss zur Wahrung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer gelöst werden (vierter Teil, § 3, III., b)), auch wenn keine europarechtliche Pflicht für die Mitgliedstaaten dazu besteht, Vorkehrungen zur Sicherstellung einer widerspruchsfreien Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers im nationalen Verfahrensrecht zu schaffen (vierter Teil, IV., 3., a), bb), (1)). 12. Dem Leistungsempfänger steht im Rahmen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nach der hier vertretenen Auffassung kein Gutglaubensschutz zu. Die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Kreuzmayr ist auf die Problematik des Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis zu übertragen. Der Gutgläubigkeit des Leistungsempfängers hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung des Leistenden über die Steuerbarkeit und der Steuerpflicht einer Leistung soll bei Vorliegen eines Widerstreits im Vier-Parteien-Verhältnis nach der hier vertretenen Ansicht durch einen Anspruch des Leistenden und des Leistungsempfängers gegen die Finanzbehörden auf widerspruchsfreie Behandlung Rechnung getragen werden (fünfter Teil, § 1, III., 1., b)). 13. Die bestehenden verfahrensrechtlichen Lösungsvorschläge im Einspruchsoder Klageverfahren sind die Beteiligung der anderen Finanzbehörde im Einspruchsoder Klageverfahren (fünfter Teil, § 2, I.), ein Dritteinspruch des Leistungsempfängers (fünfter Teil, § 2, II.) und eine nicht subsidiäre Feststellungsklage (fünfter Teil, § 2, III.). Den bestehenden verfahrensrechtlichen Lösungsvorschlägen im Einspruchs- oder Klageverfahren ist zuzustimmen. Aufgrund des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer muss es möglich sein, im Einspruchs- oder Klageverfahren vor den Finanzbehörden beziehungsweise vor den Finanzgerichten eine widerspruchsfreie
Schluss
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Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers zu erzielen. Zu beachten gilt es jedoch, dass der BFH weiterhin daran festhält, dass Finanzbehörden nicht hinzugezogen beziehungsweise nicht beigeladen werden können (fünfter Teil, § 1, IV.). 14. Die bestehenden verfahrensrechtlichen Lösungsvorschläge im Feststellungsverfahren sind eine verbindliche Abstimmung der Finanzbehörden (fünfter Teil, § 2, I.) und eine automatische Bindungswirkung der Entscheidung der einen Finanzbehörde für das andere Steuerschuldverhältnis (fünfter Teil, § 1, II.). Der hier vorgeschlagene Gesetzesvorschlag für einen Anspruch des Leistenden und des Leistungsempfängers gegen die für sie zuständigen Finanzbehörden auf Erlass einer verbindlichen Kooperationsentscheidung knüpft an den Vorschlag der verbindlichen Abstimmung der Finanzbehörden an (sechster Teil). 15. Die Lösung des Problems der widersprüchlichen Behandlung des Leistenden und des Leistungsempfängers besteht in einem Anspruch des Leistenden und des Leistungsempfängers gegen die für sie zuständigen Finanzbehörden auf den Erlass einer verbindlichen Kooperationsentscheidung (sechster Teil). 16. Der Anspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung sollte im UStG normiert werden (sechster Teil, § 1). 17. Die Antragsbefugnis für den Antrag auf Erlass der Kooperationsentscheidung sollte beiden Unternehmern gemeinsam zustehen (sechster Teil, § 3, II). Inhalt der Kooperationsentscheidung ist die Beurteilung über die Steuerbarkeit, die Steuerpflicht und den anzuwendenden Steuersatz (sechster Teil, § 3, IV). Bei Nichtzustandekommen einer Einigung der zuständigen Finanzbehörden steht der Finanzbehörde des Leistenden die Alleinentscheidungsbefugnis zu (sechster Teil, § 3, V.). Der Antrag auf Erlass der Kooperationsentscheidung ist auch möglich, wenn formelle Bestandskraft eingetreten ist (sechster Teil, § 3, VIII.). Bei materieller Bestandskraft wird diese durch eine entsprechende Anwendung des § 175a Satz 1 AO durchbrochen (sechster Teil, § 3, IX., 3.). Außerdem tritt entsprechend § 175a Satz 2 AO eine Ablaufhemmung ein, wenn der Antrag auf Kooperationsentscheidung vor Ablauf der Festsetzungsverjährung bei einem der beiden Unternehmer gestellt wurde (sechster Teil, § 3, X.). Schließlich sollte für den Erlass der Kooperationsentscheidung keine Gebühr anfallen (sechster Teil, § 3, XII). 18. Wenn durch den Anspruch auf Erlass einer Kooperationsentscheidung gewährleistet wird, dass eine widerspruchsfreie Behandlung der Unternehmer erfolgt, müssen auch die Zivilgerichte an die Kooperationsentscheidung der Finanzbehörden gebunden sein (sechster Teil, § 3, XIII.) Bei Bestehen eines Anspruchs auf Erlass einer Kooperationsentscheidung sollten die umsatzsteuerrechtlichen Fragen im Rahmen der Kooperationsentscheidung der Finanzbehörden geklärt werden, und nicht von den Zivilgerichten (fünfter Teil, § 4, II.).
260
Schluss
19. Ist einer der beiden Unternehmer nach Auflösung des Widerstreits im VierParteien-Verhältnis insolvent, steht den Unternehmern ein Reemtsma-Anspruch gegen den Fiskus zu (sechster Teil, § 3, XIII.).
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Sachverzeichnis Ablaufhemmung 254 Abschnittsbesteuerung 48 ADV Allround-Urteil 35 ff., 138 f., 170 ff. Alleinentscheidungsbefugnis 92, 246 Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts 144 ff. Allphasen-Netto-Umsatzsteuersystem 116 f. Änderungsbescheid 250 Antragsbefugnis 244 Äquivalenzgrundsatz 146 Billigkeitsverfahren 111, 214 f. Bindung der Zivilgerichte 101 ff., 255 f. Bindungswirkung der Entscheidung über die Steuerschuld 54 ff., 238 f. Bindungswirkung der Kooperationsentscheidung 247 Bindungswirkung eines Urteils 86 ff. Bruttopreisabrede 44, 98 ff. Dritteinspruch 233 f. Effektivitätsgrundsatz 145 f., 149 f. Einfache Beiladung 84 f. Einspruchsverfahren 82 ff., 231 ff. Entreicherung 107 ff., 224 Entscheidungsgegenstand 87 f. Europäische Grundrechte 148 Feststellungsklage 234 f. Gebührenpflicht 255 Generelle Ist-Besteuerung mit CrossCheck 128 ff. Generelles Reverse-Charge-Verfahren 122 ff. Genius Holding-Urteil 53 f., 150 ff. Grundfreiheiten 148 Grundlagenbescheid 76 Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer 147 f., 165 ff.
Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten 141 ff. Gutglaubensschutz 187 ff. Harmonisierungsauftrag 134 f. Inter partes-Wirkung 89 Ist-Besteuerung 48 f. Kirchhof 118 f. Kittel-Urteil 198 Klageverfahren 82 ff., 231 ff. Kollroß und Wirtl-Urteil 207 ff. Korrespondenzprinzip 65, 93 KrakVet Marek Batko-Urteil 180 ff. Kreuzmayr-Urteil 210 ff., 216 Litdana-Urteil 205 f. LVK-56-Urteil 184 f. Materielle Bestandskraft 251 ff. Mehrwertsteuersystemrichtlinie 136, 140 f. Mittler-Modell 120 ff. Netto Supermarkt-Urteil 196 ff. Nettopreisabrede 43, 97 Notwendige Beiladung 82 ff. OFD Hannover 91 f. OFD Niedersachsen 92 Ordnungsgemäße Rechnungsangaben 215 f. Örtliche Zuständigkeit 28 ff. PPUH Stehcemp-Urteil 199 f., 203 ff. Rechtsbeziehungen 30 f. Reemtsma-Urteil 110 ff., 225 f., 256 Richtlinien 135 ff. Selbstveranlagung 48 f. SGI und Valériane SNC-Urteil 206 f. Sofortabzug 52
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Sachverzeichnis
Soll-Besteuerung 41 ff. Steuerbarkeit 40 Steuerpflicht 40 Steuerschuldnerschaft 40 Steuerschuldverhältnis 30 f. Steuerverfahrensrecht 139 f. Stoy trans- Urteil 184 f. Streitgegenstand 87 Streitverkündung 239 f. Tatsächliche Verständigung 75 f. Teleos-Urteil 196 ff. Umsatzsteuerjahresmeldung 49 Umsatzsteuerschuld 41 ff. Umsatzsteuervoranmeldung 49 Unberechtigter Steuerausweis 53, 191 ff. Uneinbringlichkeit 44 Unrichtiger Steuerausweis 53, 61 ff., 191 ff.
Verbandskompetenz 32 f. Verbindliche Auskunft 66 ff. Verbindliche Kooperationsentscheidung 241 ff. Verbindliche Zusage 74 f. Verfügung 91 Vertrauensschutz 124 ff., 156 ff., 188 Vier-Parteien-Verhältnis 28 ff. Vorabentscheidungsverfahren 154 f. Voranmeldungszeitraum 48 f. Vorbehalt der Nachprüfung 249 f. Vorsteuerabzug 51 ff. Vorsteuerberichtigung 59 ff. Widerstreit 31 ff. Widerstreitende Steuerfestsetzung 77 ff. Zivilrechtsweg 100 ff.