Währungsunion und Weltwirtschaft: Festschrift für Wilhelm Hankel zum 70. Geburtstag 9783110505009, 9783828200982


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Table of contents :
Geleitwort
Wilhelm Hankel - homo politicus, homo contemplativus
Inhalt
I. Währungsunion
Perspektiven einer „Währungs-Union“ à la Maastricht
Zur Europäischen Währungsunion
Eleven Questions about the European Monetary Union
Das Wagnis Euro - kein Bravourstück der Demokratie
Die Erosion von Maastricht
Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion
Währungsreform, Kriminalität und Korruption Schlagschatten einer Erfolgsgeschichte
Regierungswechsel in Deutschland und die Währungsunion aus der Sicht Großbritanniens
Der Euro und die Rente
Demokratiedefizite in der Europäischen Union
Der neue europäische Wechselkursmechanismus und die MOE-Staaten
Der Euro: Barriere oder Brücke auf dem Weg zu einem föderalistischen Europa?
Die Verfassung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion als Wirtschaftsunion
Die Politische Ökonomie der Währungsunion - aus österreichischer Sicht
Schicksalhafte Entscheidung und politische Argumentation – Bundestag und Bundesrat zum Euro
II. Weltwirtschaft
Aspekte des Geld- und Währungswesens als ökonomisches Rüstzeug und wirtschaftspolitisches Präzisionsinstrument
Nachholende wirtschaftliche Entwicklung im Lichte der derzeitigen Währungs- und Finanzkrisen
A World Central Bank: To Be or Not to Be?
Globalismus via Regionalismus im Währungsbereich? Der Beitrag eines wertstabilen Euro
Über den Zusammenhang von Finanzmarkterwartungen: USA und Deutschland
“Clash of cultures”? – Transaktionsorientierung versus Bankenintermediation
Spekulation statt Produktion - was treibt den modernen Kapitalismus?
Über die „Angst“ der Amerikaner vor dem Euro
Stabilitätspolitik in einem dollar-euro-zentrierten Weltwährungssystem
Zivilrecht im Entwicklungsprozeß
Projekt 2000: Eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung
Globalization, Governance, and the Third World
Eine Spinne im Netz. Die Mitteleuropäische Handelsbank AG – ein gelungenes Deutsch-Polnisches Joint-Venture
Logik der Finanzierungsrechnung
Anhang
Lebenslauf
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Wilhelm Hankel
Verzeichnis der Autoren
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Währungsunion und Weltwirtschaft: Festschrift für Wilhelm Hankel zum 70. Geburtstag
 9783110505009, 9783828200982

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Währungsunion und Weltwirtschaft

Währungsunion und Weltwirtschaft Festschrift für Wilhelm Hankel

Herausgegeben von

Wilhelm Nölling Karl Albrecht Schachtschneider Joachim Starbatty

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Lucius & Lucius • Stuttgart

Anschrift der Herausgeber: Prof. Dr. Wilhelm Nölling Universität Hamburg Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Neuer Jungfernstieg 7 20354 Hamburg

Prof. Dr. K. A. Schachtschneider Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Lehrstuhl für Öffentliches Recht Lange Gasse 20 90403 Nürnberg

Prof. Dr. Joachim Starbatty Eberhard-Karls-Universität Tübingen Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Nauklerstr. 47 72074 Tübingen

Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung von Dr. Uta Hankel und Pro Europa e. V. zur Förderung der Europäischen Integration

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Währungsunion und Weltwirtschaft: Festschrift für Wilhelm Hankel zum 70. Geburtstag / hrsg. von Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider und Joachim Starbatty - Stuttgart: Lucius und Lucius, 1999 ISBN 3-8282-0098-2 © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH • Stuttgart • 1999 Gerokstr. 51 • D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen.

Druck und Einband: Druckhaus Thomas Müntzer, Bad Langensalza Printed in Germany

Wilhelm Hankel Zum 70. Geburtstag

Geleitwort Das Bundesverfassungsgericht hatte unsere Euro-Klage verworfen, und Parlament und Regierung hatten der „Verantwortung", die ihnen das Gericht zugesprochen hatte, in ihrer Weise Genüge getan. Sie hatten für die Teilnahme Deutschlands an der dritten Stufe der Währungsunion gestimmt - gegen den Vertrag von Maastricht, gegen die praktische Vernunft und gegen das Recht. Wir vier hatten unsere Pflicht als Professoren und Bürger getan, die Sach- und Rechtswidrigkeit der Euro-Politik zur Geltung zu bringen, und wollten nach den anstrengenden und aufregenden Wochen wissenschaftlicher Arbeit und außerordentlicher Medienpräsenz zusammen einen heiteren Frühsommertag auf Wilhelm Nöllings Hof „Hohe Leuchte" genießen. Als Wilhelm Hankel zu seinem 70. Geburtstag am 10. Januar 1999 einlud, kam uns der Gedanke, ihm eine Festschrift zu widmen. Zur gemeinsamen Euro-Klage kam es so: Sowohl Hankel als auch Wilhelm Nölling hatten seit längerem erwogen, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, wenn Bundesregierung und Bundestag unter Verletzung des Maastricht-Vertrages die Währungsunion zum 1. Januar 1999 starten lassen wollten. Die freundschaftliche Beziehung zwischen Hankel und Nölling geht bis auf den Beginn der sozialliberalen Koalition im Herbst 1969 zurück, als Hankel für Schiller in der Regierung arbeitete und Nölling im Bundestag u. a. stellvertretendes Mitglied im Wirtschaftsausschuß war. Wilhelm Hankel lud Karl Schachtschneider, den er als einen der wenigen rechtswissenschaftlichen Kritiker der Euro-Politik kannte, im Herbst 1995 in sein Haus in Königswinter zu einem Gespräch über die Währungsunion ein. Beide verabredeten, die Euro-Politik vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen, weil das Gericht im Maastricht-Urteil der vertraglich konzipierten Stabilitätsgemeinschaft Rechtsschutz zugesagt hatte und nicht zu erwarten war, daß die Konvergenzkriterien des Vertrages erfüllt werden würden. Nölling hatte Schachtschneider im Januar 1997 in Nürnberg aufgesucht, um das Projekt Euro-Klage zu besprechen. Hankel hatte seine Kontakte zu Starbatty aktiviert und gewann ihn im Sommer 1997 zur Mitarbeit. Schachtschneider und Starbatty waren sich aus ihrem

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Geleitwort

gemeinsamen Einsatz um ein freiheitliches, bürgerliches Europa freundschaftlich verbunden. Nach Vorarbeiten in der Einsamkeit der Studierstuben trafen wir im Oktober 1997 in Frankfurt zusammen, um unsere Vorstellungen und Texte äußerlich und innerlich zusammenzuführen. Das ist nach manch weiteren Treffen und vielen Briefen, Faxen und E-mails auch gelungen, ein seltener Fall erfolgreicher interdisziplinärer Arbeit in praktischer Wissenschaft. Die Euro-Klage wurde frühestmöglich dem Bundesverfassungsgericht am 12. Januar 1998 vorgelegt. Sie wurde von der medialen Öffentlichkeit unerwartet stark beachtet und bald darauf als rororo-Buch veröffentlicht. Das alles war nur durch das herzliche Einvernehmen aller vier, getragen von der Sorge um Deutschland und vor allem um Europa, aber auch geleitet von der Sorge um die Wirtschaft und das Recht, möglich. Daß wir alters- und herkunftsmäßig sowie gesellschaftspolitisch und „politisch" nicht gerade aus einem Tuch gewebt waren, hat unserem Unternehmen genützt und eine gemeinsame Freundschaft begründet, wie sie in reiferen Jahren nur selten möglich erscheint. Wir danken dies auch dem tiefen Verständnis Wilhelm Hankels für die ökonomischen und rechtlichen, also die politischen, Zusammenhänge der Wirtschaftspolitik in Europa und der Welt, seiner offenen, zugewandten Persönlichkeit, seiner Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen, seinem und unser aller innerem Christentum. Die Festschrift für Wilhelm Hankel ist aber nicht nur ein Akt unserer Freundschaft, sondern auch ein Akt des Respektes und der Verbundenheit aller Autoren, die bereit waren, in der allerkürzesten Zeit, in der eine Festschrift entstehen kann, einen Aufsatz zu Ehren Wilhelm Hankels, zu schreiben. Die meisten Beiträge der Festschrift befassen sich mit Hankels wichtigsten Arbeits- und Forschungsgebieten, der Weltwirtschaft und der Währungsunion. Viele der Beiträge fußen auf Hankels eigenen Arbeiten, viele ergänzen diese, viele werfen Licht auf neue Sachverhalte und Phänomene. Allen Autoren gehört unser großer Dank. Wilhelm Hankel, homo politicus und homo contemplativus, ist gegenüber letzten Wahrheiten von Wissenschaftlern und Politikern unverbesserlich skeptisch. Er lernt von denen, die die Lage von einem anderen Blickwinkel oder von einem anderen normativen Standpunkt aus anschauen und beurteilen, nicht von denen, die sagen, was er schon weiß. Freunde, Weggefährten und Kollegen, ministerielle wie akademische, bewerten die Probleme, aber auch die Chancen der Währungsunion und der Weltwirtschaft durchaus unterschiedlich. Es ist so ein Werk entstanden, das in Politik und Wissenschaft Beachtung finden wird. Wir hoffen, daß wir Wilhelm Hankel mit der Festschrift eine Freude bereiten, und sind sicher, daß die Leser Gewinn aus ihr ziehen können. Uns hat die Herausgabe Freude bereitet, weil die Festschrift einem Freund gewidmet ist.

Geleitwort

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Unser Dank gilt dem Verleger, Dr. Wulf D. v. Lucius, der für die schnelle Veröffentlichung der Festschrift jede Hilfestellung gegeben hat. Wir danken auch Katrin Hidding vom Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik, in Tübingen und den wissenschaftlichen Mitarbeitern Dr. Angelika Emmerich-Fritsche, Wolfgang Freitag, Michael Kläver, Dagmar Siebold und Peter Wollenschläger für die Durchsicht der Aufsätze und für manche Anregung, den studentischen Hilfskräften Olga Couklaki, Ulrike Frank, Andrea Krügel, Stefanie Mayer, Andreas Pirner, Udo Wartha und insbesondere Sylvia Jäger für die großen Mühen der Textverarbeitung, sowie Christa Dammann für manche Hilfe. Ganz besonderer Dank gebührt Else Hirschmann für ihre unermüdliche, sorgsame und äußerst geduldige Arbeit und technische Leitung des Projekts, alle vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht in Nürnberg.

Weihnachten 1998

Wilhelm Nölling

Karl Albrecht Schachtschneider

Joachim Starbatty

Währungsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Wilhelm Hankel - homo politicus, homo contemplativus Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachischneider

und Joachim

Starbatty

Der Mensch Wilhelm Hankel will wirken, ändern und verbessern. Der Bürger Hankel weiß sich dem wirtschaftlichen und politischen Wohl der res publica verpflichtet. Er ist ein homo politicus. Zugleich reflektiert Hankel als Akademiker seine Tätigkeit, gibt sich und der Öffentlichkeit Rechenschaft über sein Denken und Handeln und fühlt sich dem Universitätsleben und insbesondere seiner Universität Frankfurt/M. verbunden. Wilhelm Hankel ist ein homo contemplativus. Sein Leben pendelt zwischen diesen Polen. Die politische Praxis befruchtet und bereichert seine wissenschaftliche und literarische Arbeit; in seiner politischen Praxis schöpft er aus seinem reichen geistigen Fundus.

I.

Der Weg in die Ökonomie

j m Rückblick wird mir klar, wie sehr die Währungsreform von 1948, die Geburt der DM, mein Leben geprägt hat", bekennt Wilhelm Hankel. Die Währungsreform fand zeitgleich mit seinem Abitur statt und beendete über Nacht sein Leben als Quasi-Student. Eigentlich war er Schüler, lebte aber in seiner eigenen Bude. Er war seinem Vater entlaufen und finanzierte seine Unabhängigkeit mit dem halblegalen Verkauf von (über Bezugsscheine erworbenen) Zigaretten am Schwarzmarkt. Mit der D-Mark war das vorbei. Hankel mußte Geld durch Arbeit verdienen. Damals bezahlten Mainzer Sparkassen 5 DM pro Tag für das Umrechnen der Reichsmarkkonten in DM-Konten. Das bedeutete für Wilhelm Hankel, acht Stunden am Tag alle möglichen Zahlen durch 93,5 dividieren zu müssen. Wenn der junge Hankel etwas über die Hintergründe augenscheinlicher Veränderungen in der damaligen Nachkriegsgesellschaft wissen wollte, blieben die Banker stumm. „Studieren Sie doch Volkswirtschaftslehre" sagten sie. Im Wintersemester 1948/49 schrieb sich Wilhelm Hankel in die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der gerade gegründeten Mainzer Universität ein. Sie vereinigte bekannte Namen: Robert Noll von der Nahmer, der sich den deutschen Keynes nannte, Erich Welter, der später die Frankfurter Allgemeine Zeitung gründen sollte und als ewigen Fakultätsassistenten Horst Claus Recktenwald, später Ordinarius in Erlangen-Nürnberg. Hankels Mentor war ein holländischer Gastprofessor, Louis Jacques Zimmerman, Freund und Schüler von Jan Tinbergen. Zimmerman machte aus seiner Geringschätzung deutscher Ökonomen keinen Hehl: „Ökonomie ist für sie ein ausländisches Fach". Er zwang seine Stu„Erst

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denten, Keynes und seine damaligen Exegeten zu lesen: Alwin Hansen, Lawrence Klein und Roy Harrod. Unter den deutschen Kollegen ließ er allenfalls Erich Schneider, der damals seine berühmte Lehrbuchedition begann, Karl Schiller und Otto Veit gelten. Die beiden letzteren wurden nach Zimmerman Hankels wichtigste Lehrer. Nach sechs Semestern stieg Wilhelm Hankel in das Examen. Erich Welter fragte ihn, ob er ihm den Unterschied zwischen einem Investitions- und einem Konsumgut erläutern könne. Der Kandidat Hankel antwortete: "Der Bleistift in Ihrer Hand, Herr Professor, ist ein Investitionsgut, in meiner wäre er nur ein Konsumgut". Welter fauchte ihn an: „Im Examen macht man keine Witze!" Zimmerman sagte ihm später, nicht einmal er habe es geschafft, aus der „3", die Hankel bekam, wenigstens eine „2" zu machen. Zimmerman verschaffte dem vielversprechenden Volkswirt ein einjähriges Stipendium nach Holland. Hankel studierte an der Universität Amsterdam und durfte in Tinbergens berühmtem Centraalplan-Bureau in Den Haag an seiner Doktorarbeit werkeln. Sie galt der damals neuen Kunst der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Tinbergen hat der Dissertation einen Begleitbrief für die Mainzer Fakultät beigelegt. Sie wurde sofort angenommen und mit „magna cum laude" benotet. Dank Zimmermans Vermittlung lernte Wilhelm Hankel Otto Veit kennen, den Präsidenten der Landeszentralbank in Hessen, eines der führenden Mitglieder im damaligen Zentralbankrat, und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Frankfurter Universität. Durch Veits Fürsprache fand Hankel Aufnahme in die volkswirtschaftliche Abteilung der Bank Deutscher Länder. Seine Erwartung, nunmehr in der Kommandozentrale der Geldpolitik zu arbeiten, wurde enttäuscht. Die damaligen Herren der volkswirtschaftlichen Abteilung, Eduard Wolf und Otmar Emminger, waren nicht an der Mitarbeit, sondern der Zuarbeit ihrer „Rechenknechte" interessiert. Statt Fragen und Gedanken wurden Zahlen erwartet. Wie vor dem Studium rechnete Hankel von morgens bis abends an der Außenhandelsstatistik und malte Kurven. Nach zwei Jahren „Knochenarbeit" bei der Bank Deutscher Länder bewarb sich Wilhelm Hankel beim Bonner Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, dem früheren Marshallplanministerium, das nun die Kontakte mit Europa wahrnahm: OEEC und Europäische Zahlungsunion. Außerdem koordinierte das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, geleitet vom damaligen Vizekanzler Franz Blücher, das sogenannte Wirtschaftskabinett. Blücher, ein Autodidakt, ließ sich die von ihm zu behandelnden Kabinettsvorlagen durch drei junge Volkswirte aufbereiten. Einer von den Dreien war Wilhelm Hankel. 1956 stand die Dynamisierung der Altersrenten im Mittelpunkt aller Debatten. Aus Kapitaldeckung und Ansparen bei der Sozialversicherung sollte eine beitragsfinanzierte Umlage ge-

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macht werden. Wilhelm Hankel und sein Kollege Gerhard Zweig bewiesen, gestützt auf das sogenannte Mackenroth-Theorem, daß die Fortführung der Kapitaldeckung in der Sozialversicherung früher oder später zur Sozialisierung der deutschen Volkswirtschaft führen würde. Die Sozialversicherung würde mit der Zeit zum größten Kapitalbesitzer werden. Auch sei es letztlich egal, wie das Geld für die Rentenfinanzierung aufgebracht werde: über Kapitalerträge oder Beiträge. Das den Rentnern zugesproche Realeinkommen müsse so oder so von den aktiven Erwerbspersonen erwirtschaftet werden. Die Vorlage Hankels und Zweigs fand Eingang in den sogenannten "SchreiberPlan" der katholischen Unternehmerschaft und von dort in das Denken Konrad Adenauers. Selbst Ludwig Erhard lenkte ein; denn auch er wollte aus ordnungspolitischen Gründen keine Zwangssozialisierung der Kapitalbildung. Wilhelm Hankel und Gerhard Zweig faßten dann ihre gesammelten Vermerke zu einer Streitschrift über die Sozialreform zusammen, Hankels erster gedruckter Buchbeitrag. Was die beiden jungen Volkswirte entwickelt hatten, ist noch heute trotz der veränderten Daten der Demographie beachtenswert. Wenn die reale Alterslast zu groß für die nachfolgenden Generationen und damit unfinanzierbar wird, dann helfen keine Rechentricks, sondern nur, um den Neuzugang zu senken, Heraufsetzung und nicht Herabsetzung des Renteneintrittsalters und Absenkung des staatlich garantierten Rentenniveaus, nicht aber dessen Finanzierung aus anderen Quellen. Nach Abschluss der Rentendiskussion wechselte Hankel vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit ins Auswärtige Amt zur handelspolitischen Abteilung. Deren Chefs (van Scherpenberg und Harkort), selber eminente Volkswirte, brauchten einen jungen Volkswirt für die neuen Aufgaben des Auswärtigen Amtes: Finanzierung von Besatzungskosten und Entwicklungshilfe. Dazu kam die Standardisierung der neu aufgenommen Wirtschaftsberichterstattung bei den Auslandsmissionen. So vielseitig und interessant die Aufgabe war, es zog Hankel zurück zu den Banken. In der Berliner Bank, einer Nachkriegsgründung, hatte Wolfgang Stützel einen neuen Typ der Bankberichterstattung entwickelt: die offene Auseinandersetzung mit der amtlichen Politik, auch der der Bundesbank. Die Bankleitung schätzte die damit verbundene Publizität. Sie machte die Bank bekannter, als es ihrer Größe und Marktstellung entsprach. Die früheren Chefs im Auswärtigen Amt haben Wilhelm Hankel aber bald wieder zurückgeholt. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau sollte damals zur deutschen Weltbank umgebaut werden, zur zentralen Prüfungs- und Finanzierungsinstanz der deutschen Kapitalhilfe für die Dritte Welt. Die Anstalt war dazu bereit; denn ihre Ursprungsaufgaben - Wiederaufbau und Ersatz für den nach Kriegsende darniederliegenden deutschen Kapitalmarkt - waren Ende der fünfziger Jahre erfüllt.

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Doch es fehlte der Bank an makroökonomisch und international versiertem Personal. Man kam auf Wilhelm Hankel, weil sich der neue Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Günter Harkort, für ihn aussprach und weil Hankel gerade das damals einzige Textbuch zur Entwicklungsproblematik, „Arme en Rijke Landen" seines alten Lehrers L. J. Zimmerman, aus dem Holländischen übersetzt hatte. Wilhelm Hankel wurde 1958 der erste Chefökonom der Kreditanstalt für Wiederaufbau mit dem Auftrag, für das Institut einen bislang fehlenden volkswirtschaftlichen Prüfungs- und Analyseapparat aufzubauen.

II.

Weltwirtschaftliche Erfahrungen

In den knapp zehn Jahren seiner Tätigkeit in der Kreditanstalt für Wiederaufbau lernte Wilhelm Hankel nicht nur die Welt kennen: fremde Kulturen, Probleme und Projekte. Sein Kontakt zur Wissenschaft wurde enger denn je. In den Jahren zuvor hatte Hankel zwei für den Lehrbetrieb an deutschen Wirtschaftshochschulen und fakultäten bahnbrechende Lehr- und Textbücher übersetzt: als erstes Mitte der fünfziger Jahre aus dem Holländischen L. J.Zimmermans „Geschichte der Volkswirtschaftslehre", die binnen kurzem drei Neuauflagen erlebte, und sodann aus dem Englischen P. A. Samuelsons „Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung" - bis zu deren 6. Auflage. Universitäre Aufgaben ergaben sich für Hankel daraus zunächst nicht. Im Hause der Kreditanstalt für Wiederaufbau tagte routinemäßig der „Ausschuß für Entwicklungsländer". Rudolf Stucken aus Erlangen-Nürnberg und Hans Egner aus Frankfurt hatten diesen Ausschuß, der die deutschen Forschungsinstitute und die führenden Köpfe der Wirtschaftsfakultäten zusammenführte, im Rahmen des Vereins für Socialpolitik gegründet. Das ergab eine gute Zusammenarbeit von Forschung und Praxis. Mitte der sechiger Jahre wurde der Andrang von Studenten aus der Dritten Welt an der Frankfurter Universität so groß, daß sich die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät entschloß, ein eigenes Seminar für Probleme der Entwicklungsländer einzurichten. Die Studenten sollten ihre Probleme und nicht die des Gastlandes zu analysieren lernen. Helmut Meinhold, Fritz Neumark und Herrmann Priebe luden Wilhelm Hankel ein, an einem entwicklungspolitischen Seminar mitzuwirken. Daraus wurde 1967 ein fester Lehrauftrag. Außerdem verpflichtete ihn Fritz Neumark, für sein „Handbuch der Finanzwissenschaften" den grundlegenden Artikel „Entwicklungshilfe" zu verfassen. Engen Kontakt hielt Hankel zu Otto Veit. Obwohl Veit der Bundesbank nahestand und nahe blieb, verwarf er deren Philosophie. Geld brauche, um wirklich „liquide" sein und bleiben zu können, nicht nur „Stabilität in der Zeit" (konstante

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Binnenkaufkraft), sondern auch „Stabilität im Raum" (Währungskonvertierbarkeit bei festen, quasi-meinsehen Wechselkursen). Daher sei eine internationale Währungsordnung unerläßlich. Gerade diese gefährde die Bundesbank mit ihrer primären Binnengeldwert-Stabilitätspolitik. Umgekehrt seien flexible, dem Marktzufall ausgesetzte Wechselkurse ein Attentat auf den internationalen Preis- und Zinszusammenhang und damit auf die Weltgeld- und -gütermärkte. Veits ebenso liberale wie kosmopolitische Vision hat Wilhelm Hankel stark geprägt. Als er zum Hauptgehilfen („Sherpa") Schillers im internationalen Krisenmanagement aufstieg, hat Veits Konzeption Hankels Arbeit geleitet. Umgekehrt war Veit am Zusammenhang von Geld und Kapitalmarkt interessiert. Veit übernahm die Patenschaft und Einführung zu Hankels im Dienste der Kreditanstalt für Wiederaufbau verfaßten Studie über „die zweite Kapitalverteilung" (1965). Hankel hat darin die These entwickelt, daß parallel zur „zweiten Einkommensverteilung" aus sozialen Gründen auch eine politische Korrektur der primären, vom Sparer vorgenommenen Vermögensverteilung stattfinden könne und solle: durch Entwicklungsbanken vom Typ der Kreditanstalt für Wiederaufbau, die durch ihre Refinanzierung an den Kapitalmärkten das Kapital dahin lenken, wo es volkswirtschaftlich und entwicklungspolitisch hohe Renditen abwirft. Hankel hat an diesem Prinzip festgehalten. In fast allen Entwicklungsländern, in denen er seitdem gearbeitet hat, fand er bestätigt: Nur wenn man vor der realen oder industriellen Entwicklung einen leistungsfähigen Finanzsektor aufgebaut hat, besteht die Chance, die eigene Entwicklung auch aus Eigenmitteln zu finanzieren - frei von jeder Krise durch externe Verschuldung. Denn Sparkapital gibt es überall. Es muß nur richtig gemanagt und institutionell kanalisiert werden. Dann findet es auch seinen „besten Wirt". Dies ist die Schumpetersche Ergänzung zu Keynes. In Bonn trat Ende 1967 ein neuer Bundesminister sein Amt an: Karl Schiller. Schon wenige Wochen danach bestellte Schiller Wilhelm Hankel zu sich, um seinen Auftritt auf der großen UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung Anfang 1968 zu planen. Schiller bat um einen Redeentwurf. Hankel ahnte nicht, daß dies sein „Examen" für den Übertritt ins Bundeswirtschaftsministerium sein sollte. Schiller hielt die Rede und ließ Hankel mitteilen, daß er ihn entgegen seiner ersten Absicht nicht zum Leiter der Abteilung V (Außenhandel und Entwicklungshilfe) berufen wolle, sondern zum Leiter der Abteilung VI: Geld und Kredit. Damit hatte die Geldwirtschaft Wilhelm Hankel wieder.

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III.

Bundesschätzchen und Sonderziehungsrechte

Die Abteilung VI war die Kommandostelle sowohl der inneren wie der äußeren Geldpolitk. Ihr unterstanden die Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen und für die Versicherungswirtschaft in Berlin. Außerdem war sie der „Geschäftspartner" des Internationalen Währungsfonds sowie der ausländischen Notenbanken in allen Fragen der Wechselkurspolitik. Dies war eine ähnliche Konstruktion, wie sie inzwischen der Maastricht-Vertrag vorsieht - freilich unter gänzlich anderen Voraussetzungen und Bedingungen. In der inneren Währungspolitik ergab es zu Beginn 1968 einen starken Problemstau. Wegen der Agonie der Regierung Erhard waren wichtige Vorhaben liegengeblieben: u. a. die Bankenenquete, die die Zinsliberalisierung, den Einlegerschutz und die Wettbewerbsordnung zwischen privaten und öffentlichen Banken zum Ziel hatte, die Novellierung der Hypotheken- und Pfandbriefgesetze, mit dem Auftrag, die viel zu langen Pfandbrieflaufzeiten an die der Hypotheken anzupassen, die Investmentfondsgesetzgebung sowie Reformen auf dem Gebiet des Börsenwesens und des öffentlichen Schuldenmanagements. Nicht eben förderlich für den Abbau des Problemstaus waren die permanenten internationalen Währungskrisen: erst das Pfund Sterling, dann der Franc und zuletzt auch der US $. Sie zwangen den Minister und seinen Abteilungsleiter zu permanenten Auslandsreisen, Konferenzbesuchen und Abstimmungsgesprächen mit den ausländischen Partnern. Dabei war die Zusammenarbeit mit der Bundesbank keineswegs reibungs- und problemlos. Zwei Beispiele stehen für viele: - Die Bundesbankleitung widersetzte sich entgegen dem Anschein in der Öffentlichkeit hartnäckig der in den Jahren 1968/69 gebotenen DM-Aufwertung. Bundesbankpräsident Blessing und dessen Nachfolger Klasen waren dezidierte Gegner einer Aufwertung. Das hinderte Blessing nicht, 1968 eine DM-Aufwertung anzukündigen, die zwar geplant, aber noch nicht terminiert war. Klasen sprach sich Anfang der siebziger Jahre öffentlich gegen das damals intern vorbereitete kollektive Floating der heutigen Euro-Währungen aus, was zum Auslöser für Schillers Rücktritt im Sommer 1972 wurde. - Hankels Erfindung, das Bundesschätzchen, welches das Doppelziel hatte, dem Sparer ein kursschwankungssicheres Anlagepapier und dem Bund ein neues Finanzierungsinstrument jenseits des Bundesanleihekonsortiums zu geben, wurde von der Bundesbank offen bekämpft. Die Bundesbank sah darin einen Angriff auf ihre beherrschende Stellung im Bundesanleihekonsortium und im Zentralen Kreditausschuß der Banken. Reibungslos dagegen war die Zusammenarbeit von Wirtschaftsministerium und Bundesbank auf dem Felde der äußeren Währungspolitik. Die Bundesbank unter-

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stützte die anstehenden Reformen des Internationalen Währungsfonds, seine Ausstattung mit zusätzlichen Fazilitäten und den neuen Sonderziehungsrechten. Otmar Emminger hat sich in seinen späteren Veröffentlichungen gerühmt, immer ein (einsamer) Verfechter des Wechselkursfloatings im Direktorium gewesen zu sein. Hankel erzählt, er habe bis zu seinem Abschied 1972 als erster „Sherpa" der Bundesregierung für das intermonetäre Krisenmanagement davon nichts gemerkt. Schiller jedenfalls war es mit Erhalt und Rettung des Bretton Woods-Systems ernst. Er kämpfte wie ein Löwe gegen den Widerstand der USA und Frankreichs für die Einführung der Sonderziehungsrechte. Er wollte, daß der Internationale Währungsfonds Eigenliqidität bekäme und von den Dotationen seiner Mitglieder unabhängig würde. Schiller kannte seinen Keynes gut genug, um zu wissen, daß damit der Weg in Richtung "Weltzentralbank" und ,Bender of last resort" für die Weltwirtschaft beschritten wurde. Er sah im DM-Floating der Krisenmonate 1969 und 1971 lediglich ein „heuristisches Prinzip", um zum richtigen Gleichgewichtskurs für die Deutsche Mark zurückzugelangen. Folgerichtig ordnete Schiller für die große Währungskonferenz von Washington Ende 1971 („SmithsonianKonferenz") die Ausarbeitung eines neuen Rasters (parity grid) fester Wechselkurse auf Dollar- oder SZR-Basis an, worüber tage- und nächtelang verhandelt wurde. Die Konferenz endete mit einem fatalen halben Erfolg. Die damaligen EWG-Staaten und die USA verständigten sich über die neuen festen Wechselkurse, aber nicht mehr über die zu ihrer Verteidigung ausgearbeiteten Vorschläge zur Zinspolitik. US-Präsident Nixon beendete die Konferenz, ehe es zum unverzichtbaren Zinsakkord kam, weil er feste Fernsehtermine vereinbart hatte.

IV.

Der Werner-Bericht

Parallel zum Krisenmanagement auf der Weltwährungsebene liefen die Vorarbeiten zur Schaffung einer Europäischen Währungsunion. Luxemburgs damaliger Premier- und Finanzminister Pierre Werner hatte sie angestoßen. Wegen ihrer überragenden gesamtpolitischen und gesamtwirtschaftlichen Bedeutung hatte Schiller die Verhandlungen im Werner-Ausschuß seinen drei wichtigsten Abteilungen übertragen: der Grundsatzabteilung unter Otto Schlecht, der Europaabteilung unter ihrem neuen Leiter Hans Tietmeyer und Hankels Abteilung VI. Diese entwickelten ein Konzept, das noch heute als ein ebenso realistisches wie gegen Überraschungen und Krisen abgesichertes Modell gelten kann. Leider finden sich im Maastricht-Vertrag so gut wie keine Parallelen und Entsprechungen zum Werner-Bericht. Seine drei Essentials lauteten: erstens kein Zeitdruck; zweitens kein Abweichen von der Stabilitätsgrundlage; drittens kein Zwang zu einer Gemeinschaftswährung. Schiller selbst hatte vorgegeben, daß es keinen Fortschritt in der Sache ohne

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die strikte Stabilitätssicherung auf den vorangegangenen Stufen geben dürfe („Bewährungsklausel"). Entsprechend waren die drei vorgesehenen Fünf-JahresEtappen bei Bedarf auszudehnen - ein Modell, an das sich auch noch das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 gehalten hat. "Konvergenz" der Partner wurde nicht, wie im Maastricht-Vertrag, lediglich im Sinne nominaler Kriterien interpretiert: nämlich als Gleichklang von Inflation, Zins- und Wechselkursentwicklung sowie vereinbarten Obergrenzen staatlicher Verschuldung. Gefordert wurde darüber hinaus die reale Konvergenz der Strukturen und Systeme, also Annäherung in Produktivität und Kostenniveaus, Abstimmung in Steuer- und Sozialsystemen, um zu fairem statt verzerrtem und für einzelne Partner ruinösem Wettbewerb zu gelangen. Ein weiteres wichtiges Element war der Vorrang der äußeren Währungsintegration vor der inneren. In Phase II des Werner-Berichts ging es um eine gemeinsame Wechselkurspolitik der Partner zum Dollar. Bevor Europa zu einer einheitlichen Währungspolitik voranschreiten könnte, sollte es sich erst gegenüber dem monetären Ausland profilieren. In der Phase III sollten auch die innereuropäischen Wechselkurse unwiderruflich festgeschrieben und durch einen gemeinsamen Devisenfonds verteidigt werden. Offen blieb, ob es bei dieser „Wechselkursunion" bleiben oder ob es zu einem ferneren Zeitpunkt zu einer „Währungsunion", d. h. zur Aufgabe aller nationalen Währungen zugunsten einer europäischen Einheitswährung, kommen sollte. Der Werner-Bericht trat nach seiner politischen Billigung im Frühjahr 1971 in Kraft. Bereits zwölf Monate später, im Frühjahr 1972, erklärte der damalige französische Finanzminister Giscard d'Estaing, daß der Plan für Frankreich nicht mehr verbindlich sei. Kritiker haben Hankel vorgeworfen, daß er zur Frage einer europäischen Währungsunion früher ganz anderes gesagt und geschrieben habe als in der jüngsten Euro-Debatte. Das frührere Ja bezog sich eben auf eine Union nach dem WernerBericht, also auf etwas gänzlich anderes als die Euro-Union von heute und morgen.

V.

Abschied vom Staatsdienst und die Rolle bei der Hessischen Landesbank

Die Summe seiner Erfahrungen und Erkenntnisse faßte Hankel in seiner „Währungspolitik" mit den Untertiteln - Über Geldwert, Währungsintegration und Sparerschutz (1971) - zusammen. Sie wurde vor allem von der Bankenwelt gekauft, die sich aus der Lektüre offensichtlich Aufschlüsse über künftige Politik und künftige Krisen versprach. Aber auch universitär zeigte das Buch Wirkung.

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Hankels Frankfurter alma mater berief ihn zum Honorarprofessor für aktuelle Fragen der Wahrungs- und Entwicklungspolitik. Fast gleichzeitig erhielt Hankel einen ehrenvollen Ruf der Universität Mannheim. Er sollte einen Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre übernehmen. Wegen des Interesses Schillers und angesichts der weiteren Aufgaben entschied Hankel, im Schillerschen Ministerium zu bleiben. Schon auf der Reise zur Smithsonian-Konfernz überraschte ihn die Hessische Landesregierung mit der lakonischen Mitteilung, das Kabinett habe beschlossen, ihm die Leitung der Hessischen Landesbank anzuvertrauen. Zu verhandeln gab es nicht viel. Hankel sprach mit Schiller und nahm an. Entgegen manchen Gerüchten gab es keine Differenzen zwischen Schiller und Hankel, etwa in Fragen Bretton Woods oder der aktuellen Wechselkurspolitik. Schiller sah sorgenvoll in die Zukunft. Er mißtraute sowohl dem Smithsonian Agreement als auch seiner Stellung im Kabinett. Obwohl nach dem überraschenden Rücktritt von Finanzminister Alex Möller zum Doppelminister avanciert, war Schillers Stellung in der Regierung eher schwächer als stärker geworden. Die Zahl seiner Widersacher hatte sich vermehrt. Im Frühjahr 1972 trat Hankel sein neues Amt als Präsident der Hessischen Landesbank an. Erst jetzt hatte er Zeit, sich mit den Interna der Bank zu befassen und die internen Prüfungsberichte zu studieren. Die Bank befand sich in einer kritischen Lage, und die Hessische Landesregierung hatte das gewußt. Sie suchte einen starken Mann, der im Falle der Erfolglosigkeit auch als Sündenbock herhalten konnte. Ein Jahr später, im Frühjahr 1973 wurde die Schieflage der Bank offenbar. Die Zinsen explodierten, und das beträchtliche Immobilienengagement der Bank geriet ins Rutschen. Hinzu kam ein zusätzlicher Sanierungsbedarf bei der frischerworbenen Industrie- und Handelsbank, an der fast alle Girozentralen und die Bank für Gemeinwirtschaft beteiligt waren. Hankel hatte den Anteil der Hessischen Landesbank an der Industrie- und Handelsbank aufgestockt, weil die Hessische Landesregierung diese Bank als eigenes Industriefinanzierungsinstitut einsetzen wollte. Hankel versuchte sechs Monate lang vergeblich, die Gewährträger der Hessischen Landesbank von der Notwendigkeit einer substantiellen Kapitalerhöhung zu überzeugen. Als dann noch die übrigen Girozentralen (allen voran die WestLB) ihren Sanierungsanteil an der Industrie- und Handelsbank verweigerten, hat Hankel die Gewährtäger vor die Wahl gestellt, ihm entweder Kapital und Rückendeckung im Streit mit den übrigen Aktionären der Industrie- und Handelsbank zu geben oder seinen Rücktritt zu akzeptieren. Nach einer quälend langen Bedenkpause nahmen die Gewährträger seinen Rücktritt an. Der Rücktritt fiel Hankel leicht; denn nun konnte er ein ehrenvolles Angebot aus den USA annehmen. Zusammen mit Kurt Biedenkopf und dem damaligen Ministerialdirektor für Hochschulangelegenheiten im hessischen Kultusministerium,

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Udo Kollatz, war Hankel trustee des ursprünglich privatfinanzierten KronsteinLehrstuhls an der Georgetown University in Washington. Noch als Ministerialbeamter hatte er vorgeschlagen, diesen Lehrstuhl als Geschenk des Deutschen Volkes zum 200. Geburtstag der USA (1976) aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren, sei es aus dem von Hankel mitverwalteten ERP-Sondervermögen oder aus dem Kulturfonds des Auswärtigen Amtes. Für 1976 war eine Neubesetzung dieses Lehrstuhls vorgesehen. Außerdem hatte die Harvard University 1975 bei Hankel angefragt, ob er eine auf ein Jahr befristete Gastprofessur an ihrem Institut für Europäische Studien übernehmen wolle. Als sich Harvard und Georgetown dafür entschieden, Hankel zu berufen, sagte er zu. Erst in den USA erfuhr er mit beträchtlicher Verspätung, daß und wie man ihn in Deutschland zum Urheber und Sündenbock an der Hessischen LandesbankAffäre gemacht hatte. Als dann wahlkampfbedingt das Hessische Parlament einen Hessischen Landesbank-Untersuchungsausschuß einrichtete, unterbrach Hankel seine Lehrtätigkeit in den USA und kehrte 1977 nach Deutschland zurück. Das Ergebnis der Untersuchungen rehabilitierte Hankel. Die Hessische Landesbank stellte die zeitweilige Sperrung seiner finanziellen Ansprüche zurück. Nur mußte Hankel die Erfahrung machen, daß der Newswert seiner Entlastung weit hinter dem der vorangegangenen Skandalnachrichten zurückblieb. Den durch die Hessische Landesbank bedingten Zwischenaufenthalt in Deutschland benutzte Wilhelm Hankel, um jenes Buch zu konzipieren, welches ihm selbst das liebste ist: Caesar oder die Weltwirtschaft des Alten Rom. Rom, der erste und letzte Weltstaat der Geschichte, kannte keine inneren Staats- und Währungsgrenzen. Also konnte und mußte es sich ein für alle seine Teile gültiges Weltgeld leisten. Die Weltwirtschaft Roms war der Vorgriff auf den heutigen Unternehmensglobalismus, geldpolitisch aber etwas grundsätzlich anderes als das regionale Subsystem, als das sich alle bisherigen europäischen Währungsmodelle darstellten. Hankels Frankfurter Fakultät hat trotz seiner Abwesenheit und trotz erheblichen politischen Drucks während Zeit des Hessischen Landesbank-Skandals nicht daran gedacht, Hankel vom Professorenamt zu suspendieren. Auch andere erkannten die Haltlosigkeit der Anschuldigungen. So berief 1974 EG-Kommissar Wilhelm Haverkamp Hankel zum währungspolitischen Berater der Kommission; Österreichs Finanzminisiter und späterer Vizekanzler Hannes Androsch übertrug ihm die Aufgabe, Österreichs Wirtschaftspolitik während und nach dem Ölschock zu überprüfen, ein Auftrag, aus dem das in den USA veröffentlichte Buch: Prosperity amidst Crisis, hervorging, und der German Marshall Fund der USA ließ sich von Hankel eine großangelegte Analyse über die Folgen der Ölkrise an den Weltfinanzmärkten anfertigen („Taming the Petro-Dollar"). Sie bildete den

Wilhelm Hankel - homo politicus, homo contemplativus

Grundstock zu seinem späteren Buch: Gegenkurs Vollbeschäftigung (1983).

VI.

- von der Schuldenkrise

XXI

zur

Internationaler Berater

Die Jahre in USA waren fruchtbar. In Harvard, am Littauer Center, profitierte Wilhelm Hankel von seinen Zimmernachbarn. Sie hießen Wassily Leontief, Kenneth Galbraith und Karl Deutsch. In Georgetown bereitete er sein Buch: Weltwirtschaft, vom Wohlstand der Nationen heute (1977) vor, eine Zusammenfassung der Theorien über Weltwirtschaft und Weltwährungsordnung. Nach Harvard und Georgetown übernahm Hankel eine Gastprofessur der Johns-Hopkins-University an ihrer School for Advanced International Studies in Bologna. Sie ließ Hankel hinreichend Zeit, sich nunmehr als „Eigenunternehmer" in Sachen Volkswirtschaft zu betätigen. Er wurde internationaler Consultant. Zunächst schickte ihn die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit nach Saudi-Arabien, wo er Karl Schiller ablöste. Danach analysierte Hankel für die Weltbank den neuen Entwicklungsplan Koreas und evaluierte für die Europäische Gemeinschaft die ägyptischen Staatsbanken. Anfang der achtziger Jahre schickte ihn die Europäische Gemeinschaft in die fünf zentralamerikanischen Republiken (Guatemala, Honduras, Nicaragua, Haiti, Dominikanische Republik), um die Grundlagen für ein neues Entwicklungshilfeprogramm auf Gegenwertbasis zu erarbeiten. Es folgten Aufenthalte in Jordanien, im Jemen und in der Volksrepublik China. Während es in Arabien darum ging, die legislativen Grundlagen für die neuen Finanzmärkte zu erarbeiten, standen in China Ausbildungsfragen im Vordergrund. Die Plankommissare sollten in Sachen Marktwirtschaft geschult werden. 1994/95, nach dem Zerfall der Sowjetunion, ging Hankel für das TACIS-Programm der Europäischen Union nach Rußland und baute im sibirischen Tyumen ein Ausbildungsund Beratungszentrum für die dortigen Banken auf. Seit diesem Jahr ist er ebenfalls im Auftrag von TACIS als Währungsberater in Georgien tätig. Anfang der achtziger Jahre war Hankel aus Bologna nach Deutschland zurückgekehrt. Nach zwei Jahren Forschung und Lehre am Wissenschaftszentrum in Berlin nahm er seine volle Lehrtätigkeit in Frankfurt wieder auf. Daneben entstanden seine Bücher über Keynes (1986), ein Geldbuch (1987), Überarbeitungen zum CAESAR und zwei Bücher zu den Fragen und Folgen der deutschen Vereinigung: Eine Mark für Deutschland (199o), das aus einer Artikelserie im „Handelsblatt" hervorging, und Die Sieben Todsünden der Vereinigung (1993 und 1994). Karl Schiller hat in seinem letzten Buch „Der schwierige Weg in die offene Gesellschaft" sich mit einigen der Todsünden auseinandergesetzt. In seinen Büchern: Dollar und ECU, Leitwährungen im Wettstreit und Das große Geldtheater: über

XXII

Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider, Joachim Starbatty

Dollar, DM, Rubel und Ecu (1995) nimmt Hankel seine alten Geldthemen wieder auf.

VII. Die EURO-Klage Otto Veit, der in diesen Tagen seinen hundertsten Geburtstag feiern würde, sagte einmal: „Wer in scheinbar ruhigen Zeiten auf schlummernde Gefahren hinweist, gilt entweder als ein Querkopf oder als ein blasser Theoretiker". Aber genau solche Querköpfe und scheinbar blassen Theoretiker braucht ein Gemeinwesen, das sich von der neuesten Form der Indoktrination - der political correctness - leiten läßt. Für Europa und für den Euro zu sein, gilt als Pflicht. Aber die Gleichsetzung von Europa und Euro ist weder politisch korrekt noch ökonomisch sinnvoll. Diese Erkenntnis war es, die Wilhelm Hankel mit uns zusammengeführt hat und zu einem politischen, nämlich bürgerlichen, Schritt genötigt hat: der gemeinsamen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die überhastete und im Grunde integrationswidrige Einführung des Euro. Das Bundesverfassungsgericht selber hatte in seinem Maastricht-Urteil festgestellt, daß es für den Wechsel von der DMark zum Euro eine unabdingbare Voraussetzung gebe: Der Euro müsse so stabil sein und bleiben wie die Deutsche Mark. Falls daran Zweifel bestünden, müßten die Termine für die Einführung der einheitlichen Währung hinausgeschoben werden - so wie es ja auch der Werner-Bericht vor über 25 Jahren vorgesehen hatte. Darauf haben wir Vier geklagt. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Euro-Klage vom Januar 1998 bereits Anfang April als unbegründet verworfen. Die Verantwortung für die Rechtlichkeit der Europolitik Deutschlands wollte das Verfassungsgericht nicht tragen. Eine solche Verantwortung kann aber kein Verfassungsorgan abschütteln. Keine staatliche Stelle in Deutschland hat ernsthaft die Frage, ob die Einführung des Euro mit dem Maastricht-Vertrag, insbesondere mit dessen Konvergenzkriterien, vereinbar ist, geprüft sowie die notwendigen politischen Schlußfolgerungen gezogen. Die vierte Stufe der Währungsunion, ihr Scheitern, wird aller Welt die Verantwortungslosigkeit der Euro-Politik vor Augen führen. Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts hat eine weitere Sorge begründet, die Sorge um das Recht im integrierten Europa. Daß der Euro in der irrigen Hoffnung aufgeweicht werden wird, ein besseres Klima für die Beschäftigung zu schaffen, zeichnet sich bereits ab. Wir fürchten, daß wir mit unseren Warnungen recht behalten werden. Nur ist das kein Grund, um zu triumphieren. Wir werden wie Kassandra weinen, wenn Troja brennt.

Inhalt

Geleitwort

VII

Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider und Joachim Starbatty Wilhelm Hankel - homo politicus, homo contemplativus

I.

XI

Währungsunion

Wolf Dieter Becker Perspektiven einer „Währungs-Union" ä la Maastricht

3

Kurt Biedenkopf Zur Europäischen Währungsunion

13

David I. Fand Eleven Questions about the European Monetary Union

31

Hesel Hartenstein Das Wagnis Euro - kein Bravourstück der Demokratie

45

Rolf Hasse Die Erosion von Maastricht

59

Gunnar Heinsohn und Otto Steiger Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion

69

Udo Kollatz Währungsreform, Kriminalität und Korruption Schlagschatten einer Erfolgsgeschichte

89

XXIV

Inhaltsverzeichnis

David Marsh Regierungswechsel in Deutschland und die Währungsunion aus der Sicht Großbritanniens

107

Bert Riirup Der EURO und die Rente

115

Karl Albrecht Schachtschneider Demokratiedefizite in der Europäischen Union

119

Wolf Schäfer Der neue europäische Wechselkursmechanismus und die MOE-Staaten

149

Bertram Schefold Der Euro: Barriere oder Brücke auf dem Weg zu einem föderalistischen Europa?

155

Martin Seidel Die Verfassung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion als Wirtschaftsunion

165

Karl Socher Die Politische Ökonomie der Währungsunion aus österreichischer Sicht

189

Joachim Starbatty Schicksalhafte Entscheidung und politische Argumentation Bundestag und Bundesrat zum Euro

,201

Inhaltsverzeichnis

II.

XXV

Weltwirtschaft

Hannes

Androsch

Aspekte des Geld- und Währungswesens als ökonomisches Rüstzeug und wirtschaftspolitisches Präzisionsinstrument Andreas

227

Hauskrecht

Nachholende wirtschaftliche Entwicklung im Lichte der derzeitigen Währungs- und Finanzkrisen

239

Robert Isaak A World Central Bank: To Be or Not to Be? Reimut

255

Jochimsen

Globalismus via Regionalismus im Währungsbereich? Der Beitrag eines wertstabilen Euro Heinz König, Robert Dornau und Michael

265 Schröder

Über den Zusammenhang von Finanzmarkterwartungen: USA und Deutschland Hans-Helmut

295

Kotz

Clash of cultures? - Transaktionsorientierung versus Bankenintermediation

311

Franz Lehner Spekulation statt Produktion - Was treibt den modernen Kapitalismus?

325

Wilhelm Nölling Über die „Angst" der Amerikaner vor dem Euro

337

XXVI

Inhaltsverzeichnis

Hajo Riese Stabilitätspolitik in einem dollar-euro-zentrierten Weltwährungssystem

361

Hans-Bernd Schäfer Zivilrecht im Entwicklungsprozeß

375

Udo E. Simonis Projekt 2000: Eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung

393

P. Bernd Spahn Globalization, Governance, and the Third World

411

Eckard Wilch Eine Spinne im Netz. Die Mitteleuropäische Handelsbank AG ein gelungenes Deutsch-Polnisches Joint-Venture

427

Gerhard Zweig Logik der Finanzierungsrechnung

437

Anhang Lebenslauf

451

Verzeichnis der Schriften von Wilhelm Hankel

455

Verzeichnis der Autoren

463

WÄHRUNGSUNION

Währungsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Perspektiven einer „Währungs-Union" ä la Maastricht Wolf-Dieter

Becker

Viele Jahrzehnte wirtschaftspolitischer Stabsarbeit haben mich gelehrt, daß der Weg zu wichtigen Entscheidungen kaum jemals über den Pfad der Erkenntnis führt. Vielmehr wird in der Regel analytisches Denken von den tonangebenden Politikern verteufelt, die Ratio wird verspottet, und die Boten unangenehmer Nachrichten werden verunglimpft; Denkverbote werden verhängt. So auch bei unserem Thema. Statt Nachdenken beherrschen Euro-Belletristik und autoritative Gerüchte das Forum.

I.

Ziel ist ein wirklicher Binnenmarkt

Das Ziel der Europäischen Union ist, wenn ich die ganze Sache richtig verstanden habe, die Integration der europäischen Volkswirtschaften und zwar nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet, sondern vielleicht noch in einigen anderen Bereichen. Die Geld- und Währungsfragen gehören ohne Zweifel zum wirtschaftlichen Bereich; sie sind freilich nur ein Ausschnitt davon. Damit wird klar: Wollte man bloß die Europäische Währungs- Union als entscheidende Frage des Abendlandes betrachten, so wäre dies eine recht subalterne Betrachtungsweise. Es geht vielmehr bei unserem Problem in erster Linie um die wirtschaftliche Integration Europas, von der erst in zweiter Linie eine eventuelle Währungsunion ein Teil ist (und zwar ein kleiner, mehr folkloristischer Teil), mit dem man aber beträchtliches Unheil anrichten kann, wenn man es nur falsch genug anstellt. Wirtschaftliche Integration Europas heißt, daß wir innerhalb der Europäischen Union wirtschaftliche Verhältnisse und Rahmenbedingungen schaffen müssen, die eine Lage wie auf einem nationalen Binnenmarkt herstellen. Im einzelnen würde das zum Beispiel bedeuten: Wirkliche Freizügigkeit der Personen und Berufe, freier Güterverkehr, freier Kapitalverkehr, adäquate Rechtsverhältnisse, Abwicklung des genannten Austausches nach einheitlichen Spielregeln und dergleichen mehr, und zwar ohne daß solche Bewegungen durch administrative Beschränkungen etwa des Zugangs zu den Märkten (z.B. durch Konzessionen) oder zur Ausübung des Berufs (Prüfungen, Kautionen, Zunftvorschriften, versteckte Subventionen, nationale Normen usw.) allzu sehr behindert werden. Dazu gehört aber auch, daß die allgemeine Wirtschaftspolitik in den einzelnen Ländern in die gleiche Richtung und nicht etwa gegen die europäische oder sonst internationale Arbeitsteilung zielt (Negativbeispiele: "Industriepolitik", Entsendegesetz, Ausbil-

4

Wolf-Dieter Becker

dungszwang, Lohn- und Preisfestsetzungen, Steuerung der Wirtschaft durch den Staat und nicht durch die Märkte u.ä.). Die Europäer wünschen eine weltoffene und von politischer Steuerung freie Marktwirtschaft. Wenn man es etwas wissenschaftlicher ausdrücken will, dann kann man sagen, daß es zur Sicherung von Wohlstand und Arbeitsplätzen in erster Linie auf die volle Wirksamkeit der internationalen wirtschaftlichen Arbeitsteilung in Europa ankommt, die durch die genannten Freiheiten zum Zuge kommen soll. Am Vorrang dieses Zieles der freien Arbeitsteilung in der Europäischen Union bestand seit den Verhandlungen von Messina und dem Vertrag von Rom in den frühen fünfziger Jahren nicht der geringste Zweifel. Von einer formalen Vereinheitlichung der Währungen war hingegen mit keinem Wort die Rede. Worauf es ankommt (und zwar entscheidend ankommt), ist vielmehr die ungehinderte Möglichkeit, Arbeitskraft, Güter und Dienstleistungen, Investitions- und Geldkapital problemlos von Land zu Land übertragen zu können. Von solchen notwendigen Voraussetzungen sind wir wenn man genauer hinsieht - in allen Ländern noch recht weit entfernt. Eine bloße Verlautbarung der Chefs, die befiehlt: "Ab dann und dann haben wir einen Gemeinsamen Markt", genügt natürlich nicht. Das Schlagwort "Gemeinsamer Markt" bedeutet in Wirklichkeit eine weitgehende politische Union, und davon kann auf absehbare Zeit nicht gesprochen werden. Ein Gemeinsamer Markt erfordert ferner eine große Übereinstimmung der Wirtschaftsordnungen und der Ziele der Wirtschaftspolitiken in den beteiligten Ländern und Regionen. Man kann ja auch in Sachsen keine grundsätzlich andere Wirtschaftspolitik betreiben als in Schleswig-Holstein. Ich komme später auf diesen wichtigen Punkt noch einmal zurück. Für die Integration bedarf es hingegen nicht einer einheitlichen Bezeichnung der benutzten Geldmittel; davon hängen Wohlstand und Arbeitsplätze keineswegs ab. Das bei der Währungs- Union gegenüber der Öffentlichkeit proklamierte Ziel des Vorhabens ist nichtsdestoweniger die Schaffung einer Einheitswährung in Europa und die Abschaffung des nationalen Geldes. Welche Folgen hat dies in einem Gebiet, in dem noch keine ausreichenden Binnenmarktverhältnisse bestehen?

II.

Integration stets über das Realeinkommen

Eine einheitliche Währung in einem Gebiet ist gedanklich gleichzusetzen mit einem unveränderlichen Umrechnungskurs der Währung von Region zu Region und von Ort zu Ort. Es gibt zum Beispiel keine spezielle bayerische oder sächsische DM, mit der man seine Briefmarken, ein Bahnticket oder seine Steuern bezahlen könnte, sondern eine DM ist eben im ganzen Bundesgebiet eine DM. Dieser Umstand hat unabwendbare reale Konsequenzen. Denn mit der Einführung

Perspektiven einer „Währungs-Union" ä la Maastricht

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eines solchen unveränderlichen Wechselkurses (ein Euro ist gleich überall ein Euro) verschwinden naturgemäß nicht die bestehenden strukturellen Unterschiede wirtschaftlicher, sozialer und sonstiger Art, die sich in den verschiedenen Regionen und Orten im Laufe der Zeit entwickelt haben. Andererseits wissen wir seit Beginn des 18. Jahrhunderts, als die Briten anfingen, sich über den Handel mit Indien Gedanken zu machen, daß die Einfuhr eines Landes stets mit Gütern und Dienstleistungen seiner Ausfuhr "bezahlt" werden muß. Ein Land oder ein Gebiet, das mehr Güter und Dienstleistungen erwirbt, als es selbst verkauft, hat in der laufenden Rechnung ein Defizit: seine Bilanz wird passiv. Wenn nun in einem Gebiet die wirtschaftliche Leistung geringer ist als in dem anderen, dann wird dieses Gebiet - wenn es den Lebensstandard bewahren will - seine Einfuhr in laufender Rechnung mit eigenen Leistungen auf die Dauer nicht bezahlen können; das Gebiet ist "zu teuer". Umgekehrt ist es bei der Ausund Einfuhr von Geldkapital. Ein Land, das mehr Kapital ausfuhrt als es einfuhrt (etwa weil die Zinsen zu niedrig sind oder weil Mißtrauen gegenüber der Geldpolitik herrscht), ein solches Land hat ein Defizit in der Kapitalbilanz. Man kann jedoch nicht ewig auf Pump leben; denn das machen die Gläubiger nicht mit. Mit immer zusätzlichem inländischen Geld (Inflationierung) kann man diese Lage auch nicht ausgleichen, weil dann der Umrechnungskurs des betreffenden Geldes auf dem Weltmarkt (der "Wechselkurs"), rapide sinkt und schließlich niemand mehr das Geld annehmen will. Das defizitäre Land müßte also seine Vorräte an hartem, d.h. knappen auswärtigem Geld - die sogenannten Währungsreserven angreifen, so es welche hat. Es geht aber nicht unbeschränkt; denn eines Tages sie sind sie alle ausgegeben. Eine solche bittere Erfahrung mußte kürzlich Frankreich machen, als das Land schließlich fast pleite war. Ende Juli 1993 sanken die französischen Währungsreserven von 103 Mrd. FFr am Montag auf ein Defizit von 2,8 Mrd. am Freitag! Die Stützung des fixen viel zu hohen Wechselkurses kostete binnen fünf Tagen weit über 100 Mrd. FFr. Wenn wir uns der Einfachheit halber einmal zwei Länder vorstellen, ein wirtschaftliches schwächeres und ein stärkeres, dann müssen sich also mindestens zwei Faktoren ändern, wenn die beiden Bilanzen zueinander ins Gleichgewicht gebracht werden sollen: nämlich die Preise und/oder der Umrechnungskurs der Geldeinheiten, also der Wechselkurs. Das heißt im schwächeren Gebiet müssen entweder der Wechselkurs oder die Inlandspreise sinken. Im stärkeren Land ist es umgekehrt. Etwas allgemeiner ausgedrückt, kann man sagen, daß bei größeren Ungleichgewichten der Kapital- und Leistungsbilanzen in den beteiligten Ländern realwirtschaftliche Anpassungen stattfinden müssen. Sie laufen darauf hinaus, daß sich in den beteiligten Ländern das reale Einkommen 1 an die unterschiedlichen 1

Nominelles Einkommen abzüglich der Preissteigerungsrate.

6

Wolf-Dieter Becker

Produktivitätsverhältnisse direkt anpassen muß. Daran führt kein Weg vorbei; denn niemand kann - wie gesagt - für alle Ewigkeit auf Einfuhr-Pump leben. Bei flexiblen und nicht durch Marktinterventionen manipulierten Wechselkursen geschieht diese Anpassung auf mittlere Sicht und relativ sanft in der Weise, daß der Wechselkurs des schwächeren Laxides sinkt. Veränderungsfähige Wechselkurse wirken also wie eine Art Stoßdämpfer. Durch einen sinkenden Wechselkurs wird unter sonst gleichen Umständen die Einfuhr dieses Landes teurer; sie geht relativ zurück. Umgekehrt wird die Ausfuhr billiger; sie steigt relativ. Beides haben wir in den letzten Monaten im Verhältnis der DM zum US-Dollar erlebt. Anders, nämlich spiegelbildlich, ist es im stärkeren Land. Seine Einfuhr wird billiger und die Ausfuhr teurer. Schließlich balancieren sich Ein- und Ausfuhr aus. Die Bilanzen kommen zueinander ins Gleichgewicht, wenn eben der wirkliche Gleichgewichts-Wechselkurs erreicht ist. Der unterschiedliche Stand der realen Einkommen (oder anders ausgedrückt: der „Lebensstandard") in den beiden Ländern entspricht dann grosso modo den unterschiedlichen Produktivitätsverhältnissen. Die reale Anpassung hat dabei um so sanfter und schmerzloser stattfinden können, je länger die Periode des frei beweglichen Wechselkurses angehalten hatte. Mit der im Europäischen Währungs-System (EWS) derzeit aktuellen großen Spanne der Wechselkurse von 30 % haben wir schon sehr flexible Wechselkurse in Europa erreicht und sind dabei nicht schlecht gefahren. Falls nicht vorhersehbare oder auch zu erwartende reale Strukturveränderungen in den einzelnen Ländern eintreten, dann verändern sich die flexiblen Wechselkurse automatisch in Richtung auf ein neues Gleichgewicht. Die beweglichen Wechselkurse zwingen auf diese Weise die Regierungen der Länder zur finanziellen Disziplin, weil jeder politische Unfug sofort eine Änderung der Kurse bewirkt und u.U. gewaltige Geldströme in Bewegung setzt. Deshalb mögen die Politiker bewegliche Wechselkurse nicht leiden. Es kommt entscheidend darauf an, daß solche Veränderungen nicht durch Marktinterventionen (Geldkäufe oder- Verkäufe) der Regierungen und/oder Notenbanken künstlich verfälscht werden. Hiergegen Vorkehrungen zu treffen, wäre des Schweißes der Politiker wert. Wenn die Ökonomen von flexiblen Wechselkursen sprechen, dann meinen sie immer nur solche Kurse, die nicht manipuliert sind.

III.

Sehr unbehagliche Szenarien

Eigentlich und vernünftigerweise brauchen wir also gar keine Währungsunion, um ein wirtschaftlich vereintes Europa zu schaffen. Flexible Wechselkurse sind aber genau das Modell, welches der Vertrag von Maastricht nicht will. Es heißt dort, daß ab 1999 - also in gut einem Jahr - die Wechselkurse unwiderruflich fixiert

Perspektiven einer „Währungs-Union" ä la Maastricht

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werden sollen, und möglichst kurze Zeit danach die ominöse Einheitswährung eingeführt wird. Diese Lage bedeutet nach unseren Überlegungen, daß eine sanfte realwirtschaftliche Adjustierung der Realeinkommen in den Ländern an veränderte Bedingungen mit Hilfe beweglicher Wechselkurse künftig nicht mehr in Betracht kommt. Folglich werden sich die unausweichlichen realen Vorgänge unmittelbar und damit hart vollziehen. Die Stoßdämpfer sollen ja laut "Maastricht" verschwinden. Die mangelnde Flexibilität bei den Wechselkursen wird dann durch unmittelbar wirkende realwirtschaftliche Vorgänge kompensiert werden. Für diese Abläufe gibt es in der modernen Volkswirtschaftslehre eine klare Aussage, die empirisch vielfach bestätigt und auch intellektuell schwer zu widerlegen ist. Es handelt sich um das Theorem der optimalen Währungsräume (Optimum Currency Areas: Robert Mundell 1961; Ronald Mc Kinnon 1963) . Hiemach bieten sich bei fixen Wechselkursen (Währungsunion) für den Integrationsprozeß vier Szenarien an, zwischen denen (oder in einer Kombination) die Politik die ausschließliche Wahl hat. Das können im einzelnen sein: - Mobilität des Faktors Arbeit (die Menschen wandern in das Land mit höherem Realeinkommen), oder die - unmittelbare (d.h. administrative) Senkung der Löhne in dem Land mit zu hohem Realeinkommen, oder - Arbeitslosigkeit in dem Land mit zu hohem Realeinkommen, oder - Kapitaltransfer in das Land mit schwachen Realeinkommen. Andere Möglichkeiten, wohl auch überirdische, sind nicht auszumachen. Wirtschaftliche Integration vollzieht sich immer durch die Adjustierung der Realeinkommen an die unterschiedlichen Produktivitätsverhältnisse: 1. Bei fixierten Wechselkursen (d.h. also auch bei einer Einheitswährung) kann die unumgängliche Anpassung der realen Einkommen in den beteiligten Volkswirtschaften beispielsweise durch die Mobilität des Faktors Arbeit vonstatten gehen. Die Arbeitskräfte wandern von den Orten mit niedrigem in Orte mit höherem realen Einkommen; dort wird das Realeinkommen im Laufe der Zeit sinken. Innerhalb der EU besteht zwar seit geraumer Zeit weitgehende personelle Freizügigkeit, freie Wahl des Arbeitsplatzes und - mit Einschränkung - auch Niederlassungsfreiheit. In der Tat findet eine gewisse Wanderung der Arbeitskräfte zwischen Gebieten mit relativ niedrigem Realeinkommen und solchen mit relativ hohem statt; freilich nicht in erheblichem Umfang. Die 2

Nähere Ausfuhrungen und zu früheren Denkansätzen siehe: W. D. Becker, Eine Währungsunion ist mehr als ein System fixer Wechselkurse, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 121 vom 27 / 28. Mai 1995, S. 89.

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Wolf-Dieter Becker

Brüsseler Statistiker meinen, es handele sich höchstens um etwa um 4 % des Potentials. Migration ist eine Funktion der Entfernung, der Sprachbarrieren, der sozialen Bindungen usw., wie wir das ja auch aus den Nationalstaaten kennen. Die Mobilitätshemmnisse, welcher Natur sie auch sein mögen, schränken jedenfalls die Anpassung der Realeinkommen an die jeweilige Produktivität der betreffenden Länder stark ein. Oft wird von den Interessenten politischer Druck ausgeübt, um die Migration zu verhindern. Beispiel: das deutsche Entsende-Gesetz. Der denkbare Anpassungsmechanismus der Mobilität arbeitet also nur sehr unvollkommen. 2. Funktioniert die Migration des Faktors Arbeit nicht oder nur ungenügend, dann käme insoweit als nächstes eine unmittelbare, d.h. in der Regel eine administrative Senkung des Realeinkommens (Reallöhne, Sozialeinkommen) in den schwächeren Ländern in Betracht. Man braucht keine Prophetengabe, um den Gang einer solchen Debatte vorauszusagen. Die Gewerkschaften wehren sich überall vehement gegen eine Herabsetzung der realen Einkommen. Beispiele: Bergarbeiter und Bauarbeiter in Deutschland, große Streiks in Frankreich, Spanien, Italien usw. Auch die Möglichkeit des Angleichungs-Mechanismus über eine administrative Anpassung der Realeinkommen ist also gleichfalls ziemlich aussichtslos und fallt in Wirklichkeit weitgehend aus. Die dann noch verbleibenden zwei Möglichkeiten sind besonders unerfreulich. Es entstehen bei beiden große Schwierigkeiten, deren Last sehr einseitig einzelnen Bevölkerungsteilen aufgebürdet wird. 3. Zunächst droht dem schwächeren Land zur Senkung des Realeinkommens massive Arbeitslosigkeit. Zu dieser Entwicklung in einer Währungsunion haben wir 1990 im Verhältnis zu Ostdeutschland eine böse Lehre bezogen, weil durch die Währungsumstellung und die Lohnpolitik ein viel zu hohes Realeinkommen angesteuert wurde (gleicher Lohn in West und Ost), und die anderen Anpassungsmechanismen (Migration, Senkung der Tariflöhne) nicht funktionierten. Die Produktivität in Ostdeutschland war und ist nur reichlich halb so hoch wie in Westdeutschland. Eine solche Beschäftigungs-Situation mit Arbeitslosenquoten bis zu 30 % ist für Industrieländer, und selbst für weniger entwickelte Länder in Europa auf die Dauer schlechthin unerträglich. Weder die Bevölkerung noch die nationalen Regierungen werden bereit sein, für längere Zeit eine katastrophale Arbeitslosigkeit zu dulden. Eine verbreitete Verelendung ist die Währungs-Union auch wirklich nicht wert. Auch dieses Szenarium müssen wir also streichen. 4. Wenn man unterstellt, daß alle diese Möglichkeiten nicht oder nur am Rande in Betracht kommen, dann wird als letztes Szenarium die politische Forderung nach Kapitaltransfer in die von Unterbeschäftigung bedrohten Gebiete erhoben

Perspektiven einer „Währungs-Union" ä la Maastricht

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werden. Dabei ist zu erwarten, daß die Notwendigkeit für Transferleitungen um so dringender sein wird, je größer der Mangel an Flexibilität bei den anderen Parametern ist. Um so höher werden dann auch die politisch geltend gemachten Forderungen, und um so stärker der politische Druck auf die sogenannten „reichen Länder" sein. Mit privatem Kapitalexport in die schwächeren Länder wird man freilich nur wenig rechnen können. Privater Kapitaltransfer findet in größerem Umfang nur dann statt, wenn in der betreffenden Region bei gegebenem Risiko höhere Renditen erzielt oder wenigstens erwartet werden als in anderen. Bei den geschilderten starken Rigiditäten ist es innerhalb eines akzeptablen Zeithorizonts kaum vorstellbar, daß solche Voraussetzungen in den schwachen Ländern der EU bald erreicht werden. Voraussichtlich wird also die Kompensation der realwirtschaftlichen Anpassungshindemisse lange vom Transfer öffentlicher Mittel zu tragen sein. Hierfür gibt es jedoch in der EU kein geregeltes Verfahren. Die verschiedenen Fonds der EU-Kommission sind weder sachlich noch quantitativ ein Ersatz. Da die Mitgliedstaaten eifersüchtig auf Souveränitätsgesichtspunkte achten, wird es bis auf weiteres keine entsprechenden Regeln und - nicht zu vergessen! - auch keine wirksamen Kontrollen geben. Die Steuerzahler in den Geberländern tragen ein hohes Risiko, Fehlallokationen zu finanzieren. Hier zeigt es sich besonders: Der Gemeinsame Markt existiert noch nicht ausreichend, sondern nur als Torso. Um einen naheliegenden Einwand gleich zu begegnen, muß bedacht werden, daß ein Finanzausgleich innerhalb der EU mit den üblichen Verfahren zum nationalen Finanzausgleich nur wenig vergleichbar ist. Das Volumen des nationalen Finanzausgleichs dürfte im alten Bundesgebiet früher bei 10 bis 15 Mrd. jährlich gelegen haben. Als Beispiel: Im Falle des (falschen) fixen Umtauschkurses bei der deutschen Währungskonversion ist seit 1990 allein aus öffentlichen Kassen weit über eine Billion DM in die neuen Länder netto transferiert worden. Es handelt sich zwar um einen extremen Fall, doch er deutet immerhin an, was passieren kann. Die strukturellen Ungleichgewichte zwischen den europäischen Volkswirtschaften sind wesentlich gravierender als Strukturunterschiede innerhalb der einzelnen nationalen Grenzen oder zwischen benachbarten Regionen. Man vergleiche etwa Griechenland, Spanien, Süditalien, Portugal mit Deutschland, Benelux, Österreich oder anderen Ländern. Von Strukturbedingungen, die auf absehbare optimale oder wenigstens halbwegs günstige strukturelle Voraussetzungen für eine Einheitswährung bieten könnten, kann nicht die Rede sein. Das läuft auf beträchtliche Kapitalübertragungen durch die öffentliche Haushalte der "reichen" Länder an die "armen" hinaus. Daran wird es auf die Dauer nichts ändern, daß ein solcher Transfer nach dem Maastricht-Vertrag eigentlich nicht gestattet ist (no bail out); bei der

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Wolf-Dieter Becker

bekannten Kreativität wird man schon Wege finden. Da keine strengen Bedingungen für die Verwendung des Geldes gestellt werden können, und wirksame Kontrollen fehlen, sind außerdem Prestigeinvestitionen oder konsumtive und andere Verwendungen ohne nennenswerten Produktivitätseffekt zu erwarten; Befürchtungen, die aus den Entwicklungsländern hinreichend bestätigt sind. Man könnte sagen, daß eine Ausbeutung der Starken durch die Schwachen droht. IV.

Auf der Reise in den Colbertismus?

Soweit die Folgerungen aus der Theorie der Optimalen Währungsräume. Es gibt aber noch ein weiteres, bisher kaum beachtetes Problem. Die Analyse der bisher behandelten vier Szenarien lehrt, daß bei der Entwicklung eines tatsächlichen „Gemeinsamen Marktes" wegen der zwangsnotwendigen Adjustierung der Realeinkommen an die unterschiedlichen Produktivitätslagen von den beteiligten Volkswirtschaften unter den Bedingungen einer Einheitswährung ein sehr hohes Maß an Elastizität und Anpassungswilligkeit verlangt werden muß. Das bedeutet für die laufende praktische Wirtschaftspolitik, daß die Wirtschaftsordnungen (also das rechtliche, das technisch-strukturelle und das politisch-soziale Gefüge der Länder) nach einigermaßen ähnlichen Grundsätzen gestaltet werden müssen. In der EU haben zwar die meisten Länder ihre Volkswirtschaften marktwirtschaftlich geordnet und wollen es auch künftig so halten. Dabei streben die Briten eine mehr „freie" Marktwirtschaft, die Deutschen eine mehr „soziale" Marktwirtschaft an. Aber diese verwandten Systeme lassen sich ohne gravierende Probleme miteinander vereinbaren. Frankreich hingegen wünscht erklärtermaßen nicht nur 3 % Inflation p. a.3, sondern eine ganz andere Wirtschaftsordnung, die man nur noch entfernt mit „Marktwirtschaft" bezeichnen kann. Denn die Marktkräfte sollen nach dieser Vorstellung eben gerade nicht zum Zuge kommen, sondern die Wirtschaft soll in wichtigen Bereichen (partei)-politisch dominiert und gesteuert werden. Damit soll der Einfluß der USA gebrochen werden. Es geht um Machtpolitik; ein Motiv, das schon im vorherigen Jahrhundert Napoleon III. mit der später gescheiterten Lateinischen Münzunion anstrebte. Das kann man in französischen Medien ständig lesen, sehen und hören. Beispiele für diese Linie: Protektionismus, Subventionierung des Exports, viele politisch gesteuerte und subventionierte Staatsbetriebe, staatliche Industrieplanung, Geld als staatlich beeinflußtes Manipulat, politisch eingefärbte Statistik usw. Wir nennen eine solche Politik "Etatismus" oder "Colbertismus", nach dem Erfinder Jean Baptiste Colbert (1619-1683), dem Finanzminister Ludwig XIV.

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Das wäre bei den Geldvermögen ein realer Wertverlust von gut einem Drittel binnen zehn Jahren.

Perspektiven einer „Währungs-Union" ä la Maastricht

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Daraus ergibt sich als einfache Folgerung, daß sich die auf dem Weltmarkt bewertete Leistungsfähigkeit Frankreichs weniger gut entwickeln würde als die der tatsächlich marktwirtschaftlichen Länder. Wollen wir in der EU eine solche Wirtschaftspolitik aus dem 17. Jahrhundert; sollen etwa alle auf die dirigistische Wirtschaftspolitik einschwenken? Der penetrant vorgetragene Wunsch nach einem „Wirtschaftsrat" (Eurorat) gegenüber der Europäischen Zentralbank deutet darauf hin. Mithin müßte Frankreich innerhalb der Währungsunion mit mehr oder weniger großen ökonomischen Anpassungsnotwendigkeiten des Realeinkommens an einen zurückbleibenden Produktivitätsstandard zu rechnen haben, die dann wieder „politisch" (im Zweifel also durch Kapitaltransfer) erledigt werden. Darin liegt übrigens ein Grund für die Forderung nach Inflationierung der Währungsunion, weil damit Leistungsnachteile verschleiert werden können. Auch über diese Aussichten müßte wohl noch heftig gestritten werden. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß eine formale Währungsunion in jedem Fall eine unmittelbare, d.h. die ungefederte Anpassung der realen Einkommen an die unterschiedlichen Produktivitätsverhältnisse in den beteiligten Ländern und Regionen unausweichlich erzwingt. Die auf jeden Fall zu erwartenden Realeinkommenseffekte und die Notwendigkeit von vielen und schmerzhaften materiellen Veränderungen in den beteiligten Ländern darf man vor der Öffentlichkeit nicht verharmlosen, verschleiern oder gar verheimlichen. Es wird ein Vertrag geschlossen, von dem man erst hinterher erfährt, worum es sich eigentlich handelt. Das ist unverantwortlich. Eine funktionsfähige Währungsunion erfordert außerdem eine adäquate Politik aller Länder, also eine politische Union. An dem Mangel an übereinstimmender Politik ist denn auch die vorhin erwähnte Lateinische Münzunion eingegangen. Die Historiker berichten, daß es anderen Versuchen, etwa der Deutsch-Österreichischen (im vorigen Jahrhundert) oder der Skandinavischen Münzunion (in diesem Jahrhundert) ähnlich ergangen sei. Ohne erhebliche Schmerzen geht das alles auf keinen Fall. Es wird heftigen Streit, Schweiß und Tränen kosten. Man müßte m. E. schleunigst über Alternativen nachdenken; andere tun das schon. Ich habe freilich nicht gesagt, daß die geschilderten Szenarien alle zusammen oder einzeln und auf jeden Fall mit aller Härte eintreten müssen. Ich habe keine plötzliche Katastrophe vorausgesagt. Möglicherweise werden wir uns von allem mehr oder weniger etwas einhandeln: Wanderung, Senkung des Lebensstandards, Arbeitslosigkeit und hohe Zahlungen. Solche Folgen sind mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Ob das dann schlimm sein wird, soll hier erst einmal dahingestellt bleiben. Aber man bedenke: Wie überall kommt es auch in der Wirt-

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Wolf-Dieter Becker

schaftspolitik niemals so, wie man gerne möchte, daß es kommen soll, sondern es kommt immer nur so, wie es kommen muß. Ich bedaure jedenfalls sehr, keine besseren Perspektiven anbieten zu können.

Währungsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneiderund J. Starbatty © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Zur Europäischen Währungsunion Kurt Biedenkopf Mit Beginn des Jahres 1999 ist die Europäische Währungsunion Wirklichkeit geworden. Elf der 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich damit in einem auf Dauer angelegten Währungsgebiet verbunden, ohne zugleich eine politische Union unter sich zu begründen. Mit dem Vertrag von Maastricht haben sie sich verpflichtet, die Unabhängigkeit der neuen Europäischen Zentralbank zu sichern und für eine am Stabilitätsziel orientierte Geld- und Währungspolitik zu sorgen. Was darunter zu verstehen ist, wurde u. a. durch die Stabilitätskriterien des Vertrages selbst und durch entsprechende Vereinbarungen festgelegt. Wilhelm Hankel hat die Entwicklung zu einer Währungsunion seit der Ratifikation des Vertrages von Maastricht mit Skepsis verfolgt. Manche seiner Einwände und Bedenken habe ich geteilt. Inzwischen wird deutlich, daß sie nicht ohne Berechtigung vorgetragen wurden. Unter dem Eindruck der politischen Schwierigkeiten, die mit Strukturreformen, der Überwindung der Arbeitslosigkeit und der Begrenzung staatlicher Ausgabenpolitik verbunden sind, wächst in mehreren Mitgliedstaaten die Bereitschaft, die ursprünglichen Stabilitätsziele zu relativieren. Die Europäische Zentralbank, so heißt es, dürfe nicht alleinige "Herrin" über die Geldpolitik sein. Sie müsse die Bereitschaft zeigen, die politischen Ziele der Mitgliedsländer der Währungsunion zu unterstützen. Auch die Geldpolitik müsse diesen Zielen dienen. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir gerechtfertigt, noch einmal die Gesichtspunkte vorzulegen, die den Freistaat Sachsen veranlaßt haben, der Währungsunion im Bundesrat am 24. April 1998 nicht zuzustimmen. Wir gingen damals von folgenden Überlegungen aus: Bundestag und Bundesrat werden am 23. und 24. April 1998 darüber entscheiden, für welche Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) die Voraussetzungen für den Eintritt in die dritte Stufe der Europäischen Währungsunion (EWU) gegeben sind. Grundlage der Entscheidungen werden die Regelungen des europäischen Vertragswerkes und die Entschließungen sein, die Bundestag und Bundesrat aus Anlaß der Ratifizierung der Maastricht-Verträge gefaßt haben. Den Entscheidungen beider Häuser kommt sowohl nach ihrem politischen Willen wie nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Maastricht-Verträgen (EU-Urteil) entscheidende Bedeutung zu. Sie binden das Stimmverhalten der Bundesregierung bei der endgültigen Entscheidung des Europäischen Rates über

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die teilnehmenden Staaten am 3. Mai 1998. Die erneute Befassung des Bundestages mit der EWU ist nach dem EU-Urteil zudem Voraussetzung für die Vereinbarkeit der EWU mit dem Grundgesetz. Mit der Bewertung der bisher erreichten Voraussetzungen für den Beginn der dritten Stufe der EWU entscheiden Bundestag und Bundesrat über die Teilnahme Deutschlands und über die Frage, ob im Blick auf die vorgeschlagenen Teilnehmerstaaten zu erwarten ist, daß die EWU eine Stabilitätsgemeinschaft sein wird. Nach dem EU-Urteil ist auch dies Voraussetzung für eine nach deutschem Verfassungsrecht wirksame Zustimmung zur Einführung des EURO. Schon aus diesem Grunde ist es unzulässig, den Entscheidungen beider Häuser jede politische Bedeutung abzusprechen und sie als reine Formalität zu betrachten. Ebenso unzulässig ist das Argument, aus europapolitischen Gründen bestehe kein Entscheidungsspielraum mehr. Über den Beginn der dritten Stufe sei de facto längst entschieden. Eine Abweichung vom eingeschlagenen Weg sei mit kaum kalkulierbaren Risiken für Europa verbunden. I. 1. Soweit derzeit erkennbar, beabsichtigt die Bundesregierung, der sogenannten großen Lösung der EWU zuzustimmen. Danach sollen alle teilnahmewilligen Mitgliedstaaten am Beginn der dritten Stufe und damit an der Einführung des EURO von Anfang an teilnehmen. Nach meiner Überzeugung ist der Beginn der dritten Stufe der EWU im Rahmen der "großen Lösung" zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit den Grundsätzen, die Bundestag und Bundesrat im Dezember 1992 beschlossen haben, und mit dem EU-Urteil nicht vereinbar. 2. Ohne einer abschließenden Bewertung aller vorgeschlagenen Teilnehmerstaaten vorzugreifen, erfüllen insbesondere auch die drei Kernstaaten der EWU, Deutschland, Frankreich und Italien, derzeit noch nicht die Voraussetzungen für den Eintritt in die dritte und endgültige Stufe der EWU, wie sie durch die Entschließungen von Bundestag und Bundesrat präzisiert wurden. Der Beginn der dritten Stufe der EWU ist ohne diese Kernstaaten kaum sinnvoll. Deshalb begründet die Feststellung, daß sie die Voraussetzungen für eine nachhaltige haushalts- und finanzpolitische Stabilität noch nicht erfüllen, im Ergebnis die Notwendigkeit, die endgültige Einführung des EURO zu verschieben. Der Europäische Rat sollte einen entsprechenden Beschluß in Anlehnung an der EG-Vertrag durch die Festlegung eines neuen Datums für den Beginn der dritten Stufe fassen. 3. Eine geregelte Verschiebung hätte nach dem EG-Vertrag bis Dezember 1997

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vom Europäischen Rat beschlossen werden können. Die Staats- und Regierungschefs haben auf ihrem Luxemburger Treffen einen derartigen Beschluß jedoch nicht gefaßt. Seit Beginn dieses Jahres läßt der Vertrag die Änderung des Termins für den Beginn der dritten Stufe durch einen Beschluß nicht mehr zu. Das schließt jedoch nicht aus, auf einen Beginn der dritten Stufe zum 1 . 1 . 1999 dann zu verzichten, wenn die wesentlichen potentiellen Teilnehmerstaaten sich noch nicht ausreichend für eine Stabilitätsgemeinschaft qualifiziert haben. In diesem Sinne kann der Europäische Rat am 3. 5. 1998 beschließen, daß die Voraussetzungen für einen Beginn der EWU von der Mehrzahl der Staaten noch nicht erfüllt werden. 4. Die unzureichende Qualifikation der wichtigsten Teilnehmerstaaten zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht allein auf deren Unfähigkeit zurückzuführen, den in Maastricht beschlossenen Prozeß der Konvergenz zu bewältigen. Die Vertragsbeteiligten sind in Maastricht vielmehr von Annahmen über die europäische wirtschaftliche, soziale und finanzpolitische Entwicklung ausgegangen, die sich nicht realisiert haben. Für die Bundesrepublik hat dies der Finanzminister selbst erklärt. Zur Begründung einer Gesamtverschuldung, die die Grenze von 60% überschreitet, verwies er auf die enormen Belastungen, die Deutschland aus der Wiedervereinigung erwachsen sind und noch entstehen. Sie seien bei der Vereinbarung der Kriterien nicht voraussehbar gewesen. Ob dies, wie der ECOFIN-Rat kürzlich entschieden hat, eine ausreichende Begründung für die Annahme sein kann, das Kriterium Gesamtverschuldung könne als erfüllt angesehen werden, muß geklärt werden. Ähnliches gilt für die Entwicklung der Verschuldung der anderen EU Staaten, für den Anstieg der Arbeitslosigkeit in der EU, für die Auswirkungen der osteuropäischen Entwicklung, für die Verschärfung der demographischen Probleme und für die Folgen der Globalisierung. 5. Die seit 1991 eingetretenen, nicht voraussehbaren gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen haben die Konsolidierung der Haushalts- und Finanzpolitik in den Kernländern der EU nachhaltig erschwert. Die Gesamtverschuldung der Mitgliedstaaten nahm seit Maastricht nicht ab, sondern stieg weiter an. Die mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit schnell gewachsenen Anforderungen an die sozialen Systeme und zunehmende politische Widerstände haben eine rechtzeitige und ausreichende strukturelle Konvergenz unter den Mitgliedstaaten weitgehend verhindert. Die sozialen Systeme der Kernländer sind bisher nicht an die Bedingungen einer EWU angepaßt. Insbesondere sind die Voraussetzungen für die notwendige Flexibilität und Mobilität der Arbeitsmärkte noch nicht geschaffen. Die für eine funktionsfähige Währungsunion notwendige Angleichung der Steuersysteme ist bisher nicht gelungen.

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Wäre die tatsächliche Entwicklung seit 1991 in Maastricht bereits vorhersehbar gewesen, dann hätte man kaum vereinbart, die Voraussetzungen für eine Währungsunion im Rahmen des jetzt gültigen Zeitplans zu erfüllen. Man hätte wohl auch nicht auf die Verbindung von Währungsunion und Politischer Union verzichtet. 6. Vor diesem Hintergrund widerspricht der geplante Beginn einer "großen EWU" nicht nur den Intentionen des EG-Vertrages. Er widerspricht auch dem materiellen Gehalt seiner Kriterien. Er steht im Widerspruch zu den Bedingungen, an die Bundestag und Bundesrat ihre Zustimmung geknüpft haben. Er ist mit politischen Risiken verbunden, die zum Zeitpunkt der Ratifizierung der Maastricht-Verträge weder erkennbar waren noch in Kauf genommen worden wären. Diese Risiken sollten zum Wohle einer weiteren Entwicklung eines integrierten Europas und seiner Friedensordnung auch heute nicht eingegangen werden dürfen. Nicht eine Währungsunion, sondern eine Konfliktunion wäre die voraussehbare Folge einer "großen EWU" zum jetzigen Zeitpunkt. 7. Sollte es zu einer geregelten Verschiebung kommen, dann muß sie mit der klaren Absicht erfolgen, den Prozeß der strukturellen Konvergenz, der weiteren Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und der sozialen Systeme und der Überwindung der Arbeitslosigkeit fortzuführen und zu einem befriedigenden Abschluß zu bringen. Zugleich müssen inhaltlich und zeitlich definierte Fortschritte auf dem Wege zur politischen Union vereinbart werden. Eine Währungsunion ohne politische Union bildet nach wie vor das größte Risiko für den Erfolg dieses bisher bedeutsamsten politischen Projekts Europas. Wir gehen das Abenteuer ein, eine gemeinsame Währung einzuführen, ohne eine gemeinsame Regierung geschaffen zu haben. Der Werner Bericht von 1970, der erste Vorschlag einer EWU, sah diesen Zusammenhang als Notwendigkeit vor. 8. Wird die geregelte Verschiebung mit einem klaren Arbeitsprogramm verbunden, das sich an den heutigen Problemlagen orientiert und keinen Zweifel an der Entschlossenheit der EU zuläßt, nach Ablauf der weiteren Frist die dritte Stufe der EWU zu realisieren, dann werden sich die Auswirkungen der Verschiebung auf die Finanzmärkte in Grenzen halten. Ich teile in diesem Punkt die Auffassung des Sachverständigenrates. Zugleich wird deutlich werden, welche bisherigen Konsolidierungserfolge nachhaltig sind und welche auf kurzfristigen Sonderbedingungen beruhen. Soweit es um das Kriterium der Neuverschuldung geht, ist letzteres bei einer Mehrheit der Teilnehmerstaaten der Fall, auch bei Deutschland.

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II. 1. Mehrheitlich wird von den politisch Verantwortlichen in den Teilnehmerstaaten, der Kommission und dem Europäischen Parlament derzeit die Auffassung vertreten, es sei aus gesamtpolitischen Gründen nicht möglich, eine noch nicht ausreichende Qualifikation Deutschlands, Frankreichs und Italiens für den EURO festzustellen und den Beginn der EWU deshalb zu verschieben. Für eine geregelte Verschiebung fehle es nicht nur an den vertraglichen Voraussetzungen. Sie scheitere auch an den inzwischen geschaffenen Fakten. "Der Zug", so heißt es, "sei längst abgefahren". Der Euro-Prozeß könne ohne gewaltigen Schaden für Europa nicht mehr aufgehalten werden. 2. Folgt man dieser Ansicht, so muß - soweit es um die Willensbildung in Deutschland geht - zunächst erklärt werden, welche Gründe Bundestag und Bundesrat veranlassen, entgegen ihren Zusagen nun doch über die Einführung des EURO nach Gesichtpunkten der politischen Opportunität zu entscheiden. Das Versprechen, genau dies nicht zu tun, wurde von beiden Häusern, im Bundesrat einstimmig abgegeben. Es war, jedenfalls für den Freistaat Sachsen, eine Voraussetzung für die Zustimmung zur Ratifikation der Maastricht-Verträge. 3. Soll nach Gesichtspunkten der politischen Opportunität entschieden werden, dann bedeutet dies: Wir ersetzen die bisher als Voraussetzungen vereinbarten und beschlossenen Bedingungen durch die Erwartung, daß sie im Verlauf der EWU zukünftig geschaffen werden können. Von der EWU erhoffen wir uns die notwendigen Handlungszwänge. Politisch gesehen ersetzen wir Gewißheit durch Hoffnung. Für Deutschland und Europa sind damit Risiken verbunden, die bisher nicht ausreichend diskutiert wurden. Für ihre Bewältigung wird weder in den europäischen Verträgen noch in den einschlägigen Beschlüssen des Europäischen Rates und der Kommission Vorsorge getroffen. Es liegt im deutschen wie im europäischen Interesse, diese Risiken zu erkennen, sie zu minimieren und handhabbar zu machen. Dies kann nur durch eine Präzisierung der Bedingungen geschehen, die mit dem Beginn der EWU beachtet und eingehalten, respektive im Verlauf der kommenden Jahre erst noch eingelöst werden müssen. Eine Verständigung der Teilnehmerstaaten über diese Präzisierungen ist für den dauerhaften Erfolg der EWU unerläßlich. Diese Präzisierungen müßten vom Bundestag und Bundesrat zusammen mit der Zustimmung zum Beginn des EURO im Rahmen der "großen Lösung" beschlossen werden. Die Bundesregierung müßte verpflichtet werden, sie den Vertragspartnern, der Kommission und dem Europäischen Parlament mitzuteilen und mit

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ihrer Zustimmung zur "großen Lösung" zu verbinden. 4. Im einzelnen geht es um folgende Präzisierungen: (1) Aus der deutschen Zustimmung zum Beginn der EWU dürfen sich für Deutschland keine Belastungen durch Transferleistungen zugunsten anderer Teilnehmerstaaten an der EWU ergeben, die ihre Ursache in der EWU haben. Die Belastungen Deutschlands aus Beiträgen und sonstigen Leistungen auf europäischer Ebene dürfen sich nicht erhöhen. (2) Teilnehmerstaaten an der EWU können keinen Anspruch auf Leistungen aus dem Kohäsionsfonds mehr haben. Ihre Qualifikation für die EWU bedeutet zugleich, daß sie den Kohäsionsprozesses erfolgreich abgeschlossen haben. (3) Auch hohe Arbeitslosigkeit in einem Teilnehmerland kann die Verletzung der Stabilitätskriterien nicht rechtfertigen. Deshalb kann sie auch nicht als Rechtfertigung für die Verletzung der Stabilitätskriterien anerkannt werden. Trotz seiner Ergänzung durch das Beschäftigungskapitel muß es bei den Ausnahmeregelungen des EG-Vertrages bleiben, die in Maastricht vereinbart wurden. (4) Der Ausbau einer politischen Union muß auch nach Beginn der EWU fortgeführt werden. Der dauerhafte Zusammenhang zwischen Währungsunion und politischer Union darf nicht aufgegeben werden. In diesem Zusammenhang müssen die Strukturen entwickelt werden, über die die zukünftige europäische politische Union verfügen muß, wenn sie das politische Fundament für eine dauerhaft erfolgreiche EWU bieten soll. Zu ihnen gehören die strukturelle Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips, die institutionellen Reformen der europäischen Organe, die sachgerechte Definition ihrer Zuständigkeiten, die Beschränkungen dieser Zuständigkeiten auf eindeutig übertragene Befugnisse (keine de facto Ausdehnung durch bürokratische Prozesse ohne parlamentarische Legitimation), die Dezentralisation der administrativen Aufgaben als Voraussetzung für mehr Flexibilität und Innovationsfähigkeit der Teilnehmerstaaten und ihrer Regionen und die Stärkung der demokratischen Substanz auf europäischer Ebene, insbesondere durch eine Verbesserung der parlamentarischen Repräsentation der EU-Bevölkerung (one man - one vote). (5) Der Beginn der EWU darf die beschlossene Osterweiterung der EU nicht beeinträchtigen. III.

Meine Position begründe ich im einzelnen wie folgt:

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A. 1. Am 9. Februar 1998 haben rund 160 Wissenschaftler in einer Erklärung dazu aufgefordert, die zweite Phase der EWU zu verlängern, umso den Mitgliedstaaten der EU, insbesondere Deutschland, Frankreich und Italien Gelegenheit zu geben, sich ausreichend auf den EURO vorzubereiten. Insbesondere sollen in der Zeit, die durch eine geregelte Verschiebung des Beginns der dritten Stufe der EWU gewonnen wird, die strukturellen Voraussetzungen für eine nachhaltige Stabilität im gemeinsamen Währungsgebiet geschaffen werden. Sollte es nicht möglich sein, einen Konsens über eine geregelte Verschiebung, insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland zu erzielen, fordern die Wissenschaftler dazu auf, bei der Auswahl der Teilnehmer die Kriterien wirklich strikt und eng anzuwenden. Dies hätte zur Folge, daß sich die EWU im ersten Schritt auf eine kleine Gruppe von Teilnehmerstaaten beschränken würde. Deutschland, Frankreich und Italien würden nicht dazugehören. 2. Die Reaktion der Bundesregierung und weiter Teile der öffentlichen Meinung auf diese Initiative einer großen Zahl angesehener Wissenschaftler - unter ihnen der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesminister der Wirtschaft - halte ich nicht für angemessen. Sie ist geeignet, den Eindruck zu erwekken, daß es der Regierung letztlich nicht auf die stets versprochene strikte Einhaltung der Maastricht-Kriterien, sondern auf die Durchsetzung einer längst gefallenen politischen Entscheidung ankommt. Persönlich teile ich die von den Wissenschaftlern vertretene Auffassung. Sie entspricht nach meiner Überzeugung dem Ergebnis einer strikten und konsequenten Anwendung der Maastricht-Kriterien im Sinne der gleichlautenden Entschließungen des Bundestages und des Bundesrates vom Dezember 1992. Der materielle Gehalt dieser Entschließungen war die innenpolitische Geschäftsgrundlage für die Ratifikation der EWU im Rahmen des Maastricht-Vertrages. Deshalb wurde er - auf Anforderung beider Häuser - von der Bundesregierung den anderen Vertragsbeteiligten, der Kommission und dem Europäischen Parlament zur Kenntnis gegeben. Er gehört darüber hinaus zu den tragenden Gründen des EU-Urteils zur Vereinbarkeit des Maastricht-Vertrages mit dem Grundgesetz. B. Welches waren die Bedingungen, an die seit der Ratifizierung der Maastrichter Verträge die Verwirklichung einer Europäischen Währungsunion, insbesondere die endgültige Entscheidung über die Einführung einer gemeinsamen Währung geknüpft wurden und welches die Maßstäbe, nach denen entschieden werden

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sollte? 1. Bereits zum Zeitpunkt der Ratifizierung der Maastrichter Verträge legten Bundestag und Bundesrat wesentliche Bedingungen für die Entscheidung über den Eintritt in die dritte Stufe der EWU fest. In ihren insoweit wortgleichen Entschließungen vom Dezember 1992 machen sie sich die Besorgnis der Bevölkerung vor einer europäischen Währung zu eigen. Es müsse "alles getan werden", um dieser Besorgnis Rechnung zu tragen. "Die Stabilität der Währung", heißt es in den Entschließungen, "muß unter allen Umständen gewahrt werden". 2. Folgende Bedingungen für den Übergang der EWU zur dritten Stufe wurden beschlossen: (1) Die Stabilitätskriterien müssen eng und strikt ausgelegt werden. (2) Die Entscheidung über eine Teilnahme an der dritten Stufe der EWU "kann nur auf der Grundlage erwiesener Stabilität, des Gleichlaufs der wirtschaftlichen Grunddaten und erwiesener dauerhafter haushalts- und finanzpolitischer Solidarität der teilnehmenden Mitgliedstaaten" getroffen werden. (3) Die Entscheidung "darf sich nicht an Opportunitätsgesichtspunkten, sondern muß sich an den realen ökonomischen Gegebenheiten orientieren". (4) Die Kriterienerfüllung kann nicht nur statistisch gesichert werden. Ihre dauerhafte Erfüllung muß vielmehr aus dem Verlauf des Konvergenzprozesses glaubhaft sein. (5) Bundestag und Bundesrat werden "sich jedem Versuch widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen", die in Maastricht vereinbart wurden. Sie werden "darüber wachen, daß der Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion sich streng an diesen Kriterien orientiert". (6) Bundestag und Bundesrat stellten weiter fest, daß der Übergang zur dritten Stufe der EWU "eine Bewertung durch den Bundestag" (Bundesrat) erfordert. Das Votum "bezieht sich auf dieselbe Materie wie die Bewertung des Rates der Wirtschafts- und Finanzminister und des Rates in der Zusammensetzung der Staatsund Regierungschefs" (Betonungen von mir). (7) Schließlich fordern Bundestag und Bundesrat die Bundesregierung auf zuzusagen, daß sie dieses Votum respektieren und die geplante Vorgehensweise den Vertragspartnern, der Kommission und dem Europäischen Parlament mitteilen werde. Die Bundesregierung entsprach dieser Aufforderung. 3. Den untrennbaren Zusammenhang zwischen EWU und politischer Union hat die Bundesregierung bereits im Dezember 1991 betont. Der Bundeskanzler erklärte eine Währungsunion ohne eine politische Union im Bundestag im Dezember 1991 für "abwegig". Auch später ließ er keinen Zweifel daran, daß eine ge-

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meinsame Währung ohne eine politische Union, letztlich ohne eine gemeinsame Regierung, nicht vorstellbar sei. 4. Seit 1992 und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1993 wurden folgende weiteren Voraussetzungen und Bedingungen für die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung stipuliert: (1) Der Bundesvorstand der CDU beschloß im Januar 1997, die EWU dürfe nicht mit einer Beschäftigungs-Union verbunden werden. In einer gutachtlichen Stellungnahme zu den "Maastricht II Verhandlungen", vertrat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Wirtschaft die gleiche Auffassung. (2) Durch einen Stabilitätspakt unter den Teilnehmerstaaten müsse sichergestellt werden, daß Sanktionen als Folge einer Verletzung der Stabilitätskriterien wirksam, also nach objektiven Kriterien eintreten. Nur so lasse sich eine Politisierung der Geldpolitik verhindern. (3) Vor allem der Bundesbankpräsident betonte wiederholt, der Erfolg der EWU sei untrennbar mit der erfolgreichen Entpolitisierung des Geldwesens verbunden. Eine Politisierung der Geldpolitik werde statt zu einer Währungsunion zu einer Konfliktunion führen. (4) Im Blick auf entsprechende Befürchtungen wurde von der Bundesregierung versichert, die EWU werde in keinem Falle eine Transferunion nach sich ziehen. Deutschland würden deshalb aus der EWU keine höheren Belastungen als die derzeitigen Beiträge zur Europäischen Union erwachsen. (5) Allgemein wird versichert, die gemeinsame Währung werde zu mehr Arbeitsplätzen führen und die vorhandenen sichern, also einen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit in Europa und in Deutschland leisten. 5. Im Juni 1997 faßte Bundeskanzler Kohl eine Aussprache zum EURO im Präsidium der CDU wie folgt zusammen: (1)

Eine Währungsunion ohne Politische Union macht keinen Sinn.

(2) Die Stabilität der Währung ist wichtiger als der Zeitplan. Daran hat sich nichts geändert. (3) Die Entschließungen von Bundestag und Bundesrat aus Anlaß der Ratifikation der Maastrichtverträge müssen beachtet werden. (4) Wir werden nicht im Juni 1997, sondern im Mai 1998 entscheiden, ob es zu einer gemeinsamen Währung kommt. (5)

Drei Prozent müssen drei Prozent bleiben.

(6)

An der Zielsetzung der europäischen Währung muß festgehalten werden.

Diese Feststellungen halte ich auch heute noch für gültig. Insbesondere die Be-

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deutung der Rangfolge von Stabilität und Zeitplan und der Entschließungen von Bundestag und Bundesrat sind jedoch seitdem immer stärker relativiert worden. Zunehmend haben allgemeine politische Erwägungen die ursprünglichen Intentionen des Maastrichter Vertrages verdrängt. 6. In den Jahren seit 1992 hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Bedeutung der Entschließungen von Bundestag und Bundesrat für den weiteren Entscheidungsverlauf zu relativieren oder gänzlich zu leugnen. So wird behauptet, die Voten beider Häuser hätten keinerlei völkerrechtliche Bedeutung und seien schon deshalb irrelevant. Auch innenpolitisch könnten sie keinerlei rechtliche Wirkung entfalten. Im sogenannten Schäuble/Lamers Papier der CDU/CSU Fraktion zur EWU vom Sommer 1997 werden die Entschließungen des Bundestages und des Bundesrates mit keinem Wort erwähnt. Je näher die endgültige Entscheidung über die Teilnehmer an der EWU rückt, umso intensiver werden die Versuche, die Beratungen und Entscheidungen von Bundestag und Bundesrat als reine Formalitäten erscheinen zu lassen, ohne jeden Einfluß auf die längst beschlossene Einführung des EURO. Die Bundesregierung, die Koalition und die Opposition, ebenso wie die für den EURO werbenden Banken und Unternehmen, behandeln die pünktliche Einführung des EURO bereits als vollendete Tatsache. Kritische Nachfrage nach der bona fides Einlösung der Kriterien im Sinne der Zusagen des Bundestages werden weithin als Obstruktion, als Behinderung des europäischen Einigungsprozesses, letztlich als seine Gefährdung bewertet. Der Entscheidungsprozeß, der zur EWU führen soll, wird weniger durch die Parlamente, als durch die europäischen Exekutiven und die Kommission gestaltet. Die parlamentarische Mitwirkung wird weitgehend durch die normative Kraft der bisher geschaffenen Fakten begrenzt. Daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung das Vorhaben mit Mißtrauen und Ängsten begleitet und die Europäisierung ihrer Geldverfassung mehrheitlich ablehnt, ist angesichts dieser Erfahrungen nicht verwunderlich. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Argument an Bedeutung, eine wirkliche Entscheidungsfreiheit des Bundestages, wie sie im EU-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorausgesetzt wird, sei bei der für Ende April vorgesehenen Beschlußfassung de facto nicht mehr gegeben. Die Entscheidung sei längst gefallen. Sie durch den Bundestag zu verändern, sei mit "katastrophalen Folgen für Europa" verbunden (so Bundeskanzler Kohl). Folgt man dieser Bewertung, dann hat die Entscheidung des Bundestages Ende April in der Tat keine eigenständige politische Bedeutung mehr. Die Verwirklichung der EWU und die Einführung des EURO beruhen dann, jedenfalls materiell, auf der Ratifikationsentscheidung von 1992. Diese Entscheidung war nach

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Auffassung des Bundesverfassungsgerichts wegen der Unvorhersehbarkeit des weiteren Verlaufs der geplanten Währungsunion jedoch gerade nicht geeignet, die notwendige Souveränitätsübertragung zu bewirken. C. Die folgenden Kriterien und Voraussetzungen für eine nachhaltig stabile und dauerhafte EWU sind bisher nicht erfüllt: 1. Es ist nicht gelungen, die Währungsunion mit einer politischen Union zu verbinden. Der Vertrag von Amsterdam hat uns der Politischen Union nicht nähergebracht. Eher sind Elemente einer Renationalisierung wichtiger Problemfelder sichtbar geworden. Wir werden deshalb mit der EWU eine gemeinsame Währung einführen, ohne über gemeinsame, demokratisch legitimierte Strukturen zu verfügen, die die wesentlichen Aufgaben einer politischen Union wahrnehmen können. Wir werden uns für gemeinsames Geld ohne die gemeinsame Politik einer gemeinsamen Regierung und ohne ein gemeinsames Volk entscheiden. (1) Die bisherige Überzeugung, eine EWU ohne politische Union sei abwegig, wird nicht länger aufrechterhalten, die Verbindung der beiden wird nicht länger als zwingend angesehen. Statt dessen wird die EWU jetzt mit der Begründung gefordert, sie sei die Voraussetzung für die Entwicklung einer politischen Union. Aus dem krönenden Abschluß der wirtschaftlichen und politischen Integration Europas ist unversehens die Voraussetzung für die politische Integration geworden, aus dem Schlußstein das Fundament. Die Gründe für diesen Paradigmenwechsel wurden den Bürgern bisher nicht erläutert. Dieser Verzicht auf eine gesicherte Verbindung von EWU und politischer Union ist nach wie vor das schwerwiegendste Defizit des Maastricht-Vertrages. In ihm sind die eigentlichen politischen Risiken angelegt, die mit dem "pünktlichen" Beginn des EURO verbunden sind. Sieht man von der EWU ab, so ist nach allgemeiner Ansicht mit einer politischen Union Europas auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Die Verantwortung für die Finanz-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik verbleibt bei den Mitgliedstaaten. Die Bürger werden sie deshalb auch unter dem Regime der EWU für die Entwicklungen in diesen Bereichen in Anspruch nehmen und politisch verantwortlich halten. Durch die EWU werden die Teilnehmerstaaten in der Wahrnehmung dieser Verantwortung jedoch entscheidend beschränkt. Diese Beschränkungen werden die Bürger als Beeinträchtigung des Politischen zugunsten eines ökonomischen Konzeptes, der EWU, wahrnehmen. Der wirtschaftliche und politische Nutzen der EWU wird ihnen, auf absehbare Zeit jedenfalls, nicht so offensichtlich erscheinen, daß sie bereit sein werden, die Folgen der Beschränkungen der politischen Hand-

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lungsspielräume auf nationaler Ebene dafür in Kauf zu nehmen. (2) Weil der EWU die politische Union fehlt, werden sich der integrierte Markt und die Anwendungsbereiche der sozialen und ökologischen Normen zunehmend auseinanderentwickeln. Während die Märkte sich über die nationalen Grenzen hinaus ausdehnen, bleibt der Geltungsanspruch dieser Normen auf den nationalen Rahmen begrenzt. Die Marktkräfte können sich ihnen deshalb zunehmend entziehen. Damit entsteht ein für die soziale Marktwirtschaft bedrohliches Defizit an normativer Bindung der Marktkräfte. Die Europäische Union kann dieses Defizit auch nach Verwirklichung der EWU nicht ausgleichen. Weder der Europäische Rat, noch die Kommission, noch das Europäische Parlament können die sozialen und ökologischen Bindungen ersetzen, die bisher auf nationaler Ebene erfolgreich durchgesetzt wurden. Eine ausdrückliche Normsetzungsbefugnis steht ihnen nicht zu. Sie können deshalb in diesen Bereichen kein dem nationalen vergleichbares Recht setzen. (3) Auf europäischer Ebene bleibt damit nur die Möglichkeit, die nationalen Politiken durch den Europäischen Rat so nachhaltig zu koordinieren, daß eine der Normanwendung durch eine europäische Regierung vergleichbare Wirkung erzeugt wird. Voraussetzung für eine derartige Bindung durch Koordination ist zweierlei: - eine strukturelle Konversion unter den teilnehmenden Mitgliedstaaten, welche die Koordination erleichtert oder erst möglich macht, und - die Bereitschaft der Regierungen, untereinander nicht mit einem Verzicht auf derartige Bindungen um Investitionen zu konkurrieren, die Standortentscheidungen der Investoren also nicht durch Verzicht auf normative Bindungen zu beeinflussen. Das schließt nicht aus, daß die Mitgliedsländer ihre Attraktivität als Investitionsstandorte durch Verbesserung der Rahmenbedingungen generell erhöhen. Es ist unwahrscheinlich, daß diese Voraussetzungen geschaffen werden können. Eine ausreichende strukturelle Konvergenz ist bisher nicht gelungen. Ob sie in der nächsten Zeit erzielt werden kann, ist ungewiß. Viel spricht dafür, daß die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, die für die Konvergenz notwendigen Reformen durchzuführen, nach der Einführung des EURO eher erlahmt. Wahrscheinlicher ist, daß der Versuch unternommen wird, die Geldpolitik zu politisieren. Zahlreiche politische Erklärungen aus den Kernstaaten einer EWU deuten in diese Richtung. Der Stabilitätspakt könnte einen derartigen Versuch nicht verhindern. Er sieht keine automatischen Sanktionen gegen die Verletzung der Stabilitätserfordernisse vor, sondern beschränkt sich auf politische Sanktionsentscheidungen. Mit ihnen ist, auch angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der

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Bedeutung, die seit Amsterdam der Beschäftigungspolitik beigemessen wird, kaum zu rechnen. (4) Ebenso unwahrscheinlich ist es, daß die nationalen Regierungen darauf verzichten werden, um wichtige Investitionsvorhaben zu konkurrieren. Wie die bisherigen Erfahrungen zeigen, werden sie vielmehr bestrebt sein, sowohl im Einzelfall wie auch allgemein auf die Wünsche wichtiger Investoren einzugehen, um beschäftigungswirksame Investitionen in ihre jeweiligen Länder zu lenken. Die Gefahr ist deshalb groß, daß im Kampf um arbeitsplatzschaffende Investitionen die sozialen und ökologischen Dimensionen der Marktwirtschaft auf der Strecke bleiben. Dafür könnten jedoch nicht die Marktkräfte verantwortlich gemacht werden. Die Beschädigung der sozialen Marktwirtschaft wäre vielmehr die Folge der Entscheidung, die Währungsunion ohne eine politische Union zu verwirklichen. Der Verzicht auf die Gleichzeitigkeit von Währungsunion und politischer Union kann somit zu einer Aushöhlung der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft führen. Er kann die demokratische Legitimation wesentlicher wirtschaftspolitischer, sozialpolitischer und ökologischer Grundatzentscheidungen schwächen. Ob diesen Gefahren durch den nachträglichen Aufbau einer politischen Union begegnet werden kann, ist ungewiß. Die zeitliche Abfolge von politischer Integration und Währungsintegration läßt sich eben nicht beliebig umkehren. 2. Die Einlösung der Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrages, insbesondere der Kriterien Neuverschuldung und Gesamtverschuldung, kann aus dem bisherigen Verlauf des Konvergenzprozesses nicht glaubwürdig begründet werden. (1) Das Kriterium Neuverschuldung wird zwar von den Kernländern Deutschland, Frankreich und Italien statistisch erfüllt. Nach Auffassung des Bundestages und des Bundesrates kann die Kriterienerfüllung jedoch nicht nur statistisch gesichert werden. Es kommt vielmehr auf den bisherigen Konvergenzverlauf und auf die erwiesene Stabilität an. Geht man davon und von der Forderung aus, die Kriterien strickt und eng anzuwenden und nicht aufzuweichen, dann ergibt sich, daß das Kriterium "Neuverschuldung 1997 nicht höher als 3%" in den Kernländem nicht erfüllt ist. Unstreitig haben die Kernländer haushaltspolitische Maßnahmen ergriffen, um ihre Neuverschuldung 1997 bei oder unter 3% des BEP zu halten. Charakteristisch für diese Maßnahmen sind die Korrektur des Haushaltsverlaufs durch Verlagerung an sich falliger Ausgaben oder Verpflichtungen auf die Zukunft oder andere Formen der vorübergehenden Entlastung. Derartige Maßnahmen wurden von EUROSTAT oder der Kommission gebilligt oder als vertretbar angesehen. Das kann eine materielle Prüfung der Kriterienerftillung unter dem Gesichtspunkt der Nach-

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haltigkeit jedoch nicht ersetzen. Als nicht nachhaltig müssen alle Maßnahmen und ihre Wirkungen angesehen werden, deren fortdauernde Haushaltswirksamkeit nicht zu erwarten ist. Sie nicht als Erfüllung der Kriterien anzusehen, liegt im Interesse der Stabilität der EWU selbst. Die 1997 demonstrierte Haushaltsdisziplin war politisch vor allem auch deshalb durchsetzbar, weil die politischen Kräfte sich in dem Wunsch vereinigten, das Kriterienziel auf jeden Fall zu erreichen. Die Nachhaltigkeit dieser Demonstration von Haushaltsdisziplin ist damit nicht erwiesen. Sie hätte, nach Sinn und Zweck des Maastricht-Vertrages, über einen längeren Zeitraum bewiesen werden müssen. Genau dies verlangen auch Bundestag und Bundesrat mit ihren Entschließungen. Auf diesen Nachweis darf nicht verzichtet werden. Denn wir müssen damit rechnen, daß die jetzt zurückgestauten Ausgaben und politischen Anforderungen an die öffentlichen Haushalte wirksam werden, sobald das Ziel: Teilnahme am EURO, erreicht ist. Das Gleiche gilt für Maßnahmen, denen die Nachhaltigkeit fehlt, weil die strukturellen Mängel nach wie vor bestehen. Ob sie politisch überwunden werden können, wenn das EURO-Ziel erreicht ist und mit weiteren Sanktionen deshalb nicht emsthaft gerechnet werden muß, ist eher unwahrscheinlich. (2) Das Kriterium Gesamtverschuldung wird von Italien offensichtlich nicht erfüllt. Aus dem Rückgang von 133,5% BIP im Jahre 1994 auf 124,7% kann noch nicht auf einen nachhaltigen Abbau geschlossen werden. Die hohe Verschuldung stellt weiterhin ein erhebliches Risiko dar. Sollten die Zinsen wieder steigen, wäre es schon aus diesem Grunde kaum möglich, die Neuverschuldung unter 3% BIP zu halten. In Deutschland wird das Kriterium leicht überschritten. Das läßt sich mit den besonderen Lasten rechtfertigen, die durch die deutsche Einheit bedingt sind. Die Entwicklung der letzten Jahre deutet jedoch nicht auf einen Abbau der staatlichen Gesamtverschuldung (1991: 41,2%, 1997: 61,8%.) Es liegen bisher auch keine Projektionen in Form einer mittelfristigen Finanzplanung vor, die eine zügige Reduktion der Gesamtverschuldung als realistisch erscheinen ließe. Zudem ist unklar, ob das Ergebnis 1997 nur erzielt werden konnte, weil nennenswerte Staatsschulden nicht einbezogen, "ausgelagert" oder auf andere Weise ausgegliedert wurden. In diesem Falle wäre die Gesamtverschuldung Deutschlands, selbst ohne Berücksichtigung der Pensionsverpflichtungen, höher als ausgewiesen. Da auch solche Staatsschulden aus zukünftigen Staatseinnahmen bedient werden, müssen sie berücksichtigt werden. Ähnliches gilt für Frankeich. Auch hier hat sich die Gesamtverschuldung seit 1991 von den Maastricht-Kriterien wegbewegt, ohne daß der Einheit vergleich-

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bare Einflüsse wirksam waren. Sie stieg von 41,1% BIP im Jahre 1991 auf 57,3% im Jahre 1997 an und soll 58,2% im Jahre 1998 betragen. Dabei muß auch hier geprüft werden, ob Schulden aus der Berechnung ausgegliedert wurden, die den Staatsschulden zuzurechnen sind (wie zum Beispiel Schulden staatlicher Unternehmen, für die der Staat sich verbürgt hat oder Verpflichtungen, die auf kommende Jahre verlagert wurden). 3. Über die Notwendigkeit, die Geldpolitik zu entpolitisieren und damit die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) auch tatsächlich zu gewährleisten, konnte bisher kein belastbarer Konsens erzielt werden. Das zeigt zum einen die fortdauernde Diskussion um die Berufung des ersten Präsidenten der EZB. Allgemein wird seit Amsterdam nicht nur in Frankreich, sondern auch im Europäischen Parlament immer deutlicher eine Priorität der Politik gegenüber der EZB und der gemeinsamen Währung gefordert. Aus Frankreich erreichen uns zahlreiche Äußerungen führender Regierungsmitglieder, daß der EURO nach Amsterdam eine andere Bedeutung angenommen habe und Beschäftigungspolitik nicht an der EZB scheitern dürfe. Im Europäischen Parlament werden Vorschläge diskutiert, die Mitglieder des Direktoriums der EZB schon jetzt nur mit Zustimmung des Europäischen Parlaments zu berufen, sie zu einem späteren Zeitpunkt vom Parlament wählen zu lassen und einer umfassenden Berichts- und Rechenschaftspflicht zu unterwerfen. Angeblich sollen dadurch die demokratische Legitimation der EZB und ihre Unabhängigkeit gestärkt werden. Nachdem im Stabilitätspakt der Sanktionsautomatismus bereits durch die Notwendigkeit politischer Entscheidungen ersetzt worden ist, droht nun auch eine Politisierung der EZB. Die durch solche Forderungen sichtbar gewordenen grundsätzlichen Differenzen zwischen unseren Vorstellungen und denen anderer Mitgliedsländer und Teilen des Europäischen Parlaments sind bisher weder geklärt noch politisch gewürdigt worden. 4. Die Einführung des Euro wird den deutschen Arbeitsmarkt, zumindest in den ersten Jahren, nicht entlasten, sondern weiter belasten. Hoffnungen, den deutschen Arbeitsmarkt durch Schutzmaßnahmen, wie das Entsendegesetz, vor europäischer Konkurrenz schützen zu können, sind illusorisch. Innerhalb des gemeinsamen Währungsgebietes kann es derartige Schutzgesetze nicht geben. Nach Beginn der dritten Stufe der EWU wird sich die Arbeitsteilung innerhalb des gemeinsamen Währungsgebietes zugunsten der Länder mit niedrigeren Arbeitskosten verändern. Betroffen wird davon vor allem die Bundesrepublik. Sie ist auf die Anpassungsprozesse, die sich daraus ergeben werden, weder strukturell noch im Bewußtsein der Bevölkerung vorbereitet. 5. Innerhalb der EWU wird sich ein Regime von Transferleistungen kaum vermeiden lassen. Dies vor allem dann, wenn es der EZB gelingen soll, die gemeinsame

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Kurt Biedenkopf

Währung auch angesichts unterschiedlicher wirtschaftlicher Bedingungen und Anpassungsfähigkeiten in den Mitgliedsländern stabil zu halten. Die sogenannte "non bail-out" Klausel im EG-Vertrag kann dies nicht verhindern. Diese Transfererfordernisse werden vor allem Deutschland belasten. Statt einer Verringerung der Nettoleistungen für die EU, wie sie von der Bundesrepublik derzeit angestrebt wird, werden sich die Lasten erhöhen. Dabei ist noch nicht von den zusätzlichen Anforderungen die Rede, die sich für Deutschland aus der Osterweiterung ergeben. Die zusätzlichen Ansprüche aus politisch notwendigen Transferleistungen werden mit anderen Transferbedürfhissen in Konkurrenz treten, insbesondere mit denen für den Aufbau Ost und mit denen innerhalb des Sozialsystems. Die politischen Probleme, die daraus erwachsen können, sind nur schwer abschätzbar. In jedem Falle werden sie jedoch den europäischen Integrationsprozeß eher belasten als fördern. 6. Die Vorstellung, die gemeinsame Währung werde uns zu Strukturreformen zwingen, zu denen wir bisher aus politischen Gründen nicht in der Lage waren, ist wenig realistisch. In den zurückliegenden Jahren ist es weder in Frankreich und Italien noch in Deutschland gelungen, die Ursachen für eine wachsende Gesamtverschuldung und für eine zu hohe Neuverschuldung nachhaltig zu beseitigen. Da es nicht gelungen ist, die EWU mit einer Politischen Union zu verbinden, müssen die notwendigen Reformen nach der endgültigen Einführung des EURO nachgeholt werden. Ob dies auch gelingen wird, nachdem der Eintritt in die EWU erreicht und das damit angestrebte politische Ziel verwirklicht ist, ist ungewiß. In jedem Falle wird es noch schwieriger sein, die politische Zustimmung für wirkliche Strukturreformen zu gewinnen. Von der EZB können wir kaum erwarten, daß sie die politischen Kosten der notwendigen Reformen alleine tragen kann. Dazu wird sie kaum in der Lage sein. Dem Europäischen Parlament wiederum fehlen für eine solche Aufgabe nicht nur die entsprechenden Zuständigkeiten. In seinem politischen Willen ist auch, jedenfalls bisher, die Stabilitätskultur noch nicht verankert, die der deutschen Tradition der letzten fünfzig Jahre entspricht und aus der die Bundesbank ihre Autorität und die Deutsche Mark ihre Stärke als europäische Leitwährung beziehen. Schlußbemerkung: Die vorgeschlagene geregelte Verschiebung des Beginns der "großen Lösung" ist nach all dem politisch vernünftig und im Blick auf die Kriterien auch geboten. Ist es dennoch nicht möglich, die Einführung des EURO gründlicher vorzubereiten und die dafür notwendige Zeit zu gewinnen, dann sind die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Begrenzung der wirtschaftlichen und politischen Risiken eines verfrühten Starts umso wichtiger. Sie können gewisse Zwänge begründen, die aufgeschobenen Voraussetzungen für die EWU doch noch nachzuholen und damit ihre nachhaltige Stabilität zu unterstützen. Ob dies gelin-

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gen kann, bleibt ungewiß. Ein sicherer Weg zu einer wirklichen Stabilitätsgemeinschaft wird damit nicht eingeschlagen. Er ist nur durch eine geregelte Verschiebung zu haben.

Währungsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Eleven Questions about the European Monetary Union* David I. Fand I would like to focus on 11 issues that we need to consider in assessing the coming European Monetary Union (EMU). I am, as you will see, quite critical of the monetary union. But while I do not accept Chancellor Kohl's assessment of what an EMU will do to unify Europe, I do not question Chancellor Kohl's objective. In fact, I have great admiration for what Kohl is seeking to achieve; but I do have grave doubts that the institution of an EMU will actually further his goal. I want to emphasize this distinction. I believe, and this is point #1, that Chancellor Kohl is worried about what Europe is going to look in one or two generations, a European continent in which a large and powerful Germany—especially after the unification—is surrounded by weak, ineffectual, and declining economies. If you look at German's neighbours they are not very impressive: France is experiencing more and more difficulty with terribly inconsistent objectives: a considerable popular pressure for a larger welfare state and desire by the elites to play an important leadership role in the global economy; Italy is having lots of trouble; there are serious problems in Eastern Europe; Kohl is, I believe, understandably worried about peace—about war and peace. And he is trying to find a way to bring into being a stable, prosperous Europe. While I respect Kohl's objective to achieve a peaceful Europe with a vigorous economy, I dispute the money union is the way to get there. Thus, while I do not doubt Kohl's intended destination, I do question whether the instrument he's using will get him there. 1 Point #2. Let us examine some of the problems in Europe. There are undoubtedly very serious problems in Europe, but they are not monetary problems. Europe's real problems are related to high unemployment, high taxes, jumbo deficits and economic stagnation—arising from Government policies—the rules and the regulations governing the European economy. More precisely, the European economies are bloated and ineffective welfare states and Europe must confront this crucial issue. That the welfare state in Europe has gotten out of hand is documented in two reports issued in May 1997 on this subject. And I would like to relate their conclusions to you. But before I summarize these reports, I want to * I would like to thank Professor James M. Buchanan for many helpful comments and constructive suggestions. Thanks also are due Professor Bemhard Eckwert for his stimulating and probing questions and to Jeremy P. Fand for research assistance. 1 For an illuminating analysis of the issues discussed in this paper see Issing (1996) and Vaubel (1996)

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David I. Fand

mention a related item, published in February 1997, in the London Economist, which focuses a laser-like ray on the relatively advanced state of European stagnation. This is a speech that John Major made in which he made the following comment: In the past 20 years America creates 36 million new jobs of which 5 million are in the public sector, 31 million in the private sector—over 85% in the private sector: in contrast, in the same 20 years Europe created only 5 mill, jobs, with only 1 mill, in the private sector, 20% of the jobs. In other words there is almost no job creation in Europe. This speech by John Major was reported in London Economist. But the two reports that were released in May 1997 give specific details and diagnoses, and are more directly relevant to our theme. The first report, issued by the OECD, fails almost all European government in a report card on unemployment and sharply criticizes countries that have failed to produce labor market reforms needed to create jobs. This report was issued against a backdrop of near record unemployment in France, Germany, Italy and Spain. The OECD is thus taking a more activist stance in telling governments that they must be more decisive in combating Europe's persisting job crisis. The 1997 report, presented at the annual meeting of the 29 OECD-members, singles out for praise the Netherlands, Ireland, New Zealand and Britain because these countries have done the most in recent years to reduce unemployment by making structural reforms. Donald Johnson, Secretary General of the OECD, explained in an interview that the report „is essentially saying that we should let markets work, and that includes the labor market".The 1997 report is a follow up on the recommendations contained in a 1994 report on unemployment that was endorsed by all members nations. The 1994 report recommended making markets more flexible, reducing employer non-wage contributions, reforming welfare and unemployment benefit systems, and easing laws on hiring and firing. A second related report is the annual Global Competitiveness Report. This competitiveness report argues that the continental EU countries still possess outstanding technology, management and infrastructure but these advantages were overwhelmed by the regions inflexible labor market policies, excessive fiscal deficits and a costly legacy of generous social-welfare programs. Europe's powerhouse economy, Germany, slipped from 22nd place to 25th place this year, while this year's greatest gainer was Britain which went from 15th to 7th place. Germany in 25th place is ranked lower than Sweden, France and Israel and just slightly above Spain, Austria and Egypt which is ranked in 28th place.

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These two reports--the OECD report and the Global Competitiveness R e p o r t focus on the real economic problems in Europe: a bloated welfare state; excessive, costly, and time consuming regulations; a swollen bureaucracy which simultaneously hinders innovation and burdens economic growth; a diminished role for markets; very powerful unions; and ineffective labor markets. Europe, of course, also has many currencies with exchange rates that fluctuate. And while fluctuating exchange rates are, admittedly, a negative, they are not the true source of Europe's ecnomie stagnation. And in any event, they cause less difficulties than the alternatives of capital controls, multiple exchange rates and other regulations I will return to this later. Point #3. I consider this issue to be perhaps the most difficult problem that Europe will confront in moving from a floating exchange rate system to a monetary union. Specifically, the adjustment mechanism needed to deal with deficits in an monetary union with fixed exchange rates does not function appropriately in a modern economy where wages and prices are inflexible downward. Assume that a country, because of an asymmetric disturbance, has a deficit. To restore equilibrium the country needs to realign imports and exports. The real adjustment requires an increase in exports and a reduction in imports. Now, in a monetary union—a system where the nominal exchange rate is fixed— the realignment of imports and exports comes about in the following way. The prices of internationally traded goods stay the same, while the prices of domestic goods fall—both measured in home currency prices. Domestic prices fall because, as a result of the trade deficit, the deficit country is losing currency so that its money stock is declining. When the prices of domestic goods fall, a differential develops between the home currency prices of domestic goods and the home currency prices of internationally traded goods. This price differential between domestic goods and internationally traded goods stimulates exports and reduces imports, and this process continues until it eliminates the trade deficit and restores equilibrium. Unfortunately, and this is the weakness of fixed exchange rate monetary system, the prices of domestic goods must fall. More generally, in order to reduce imports and increase exports, the prices of domestic goods and nominal wages will need to fall in the deficit country. But this is a very difficult adjustment to achieve in an advanced capitalist country. It is indeed extremely difficult, if not impossible, to get a reduction in either nominal prices or in nominal wages. Moreover, even in America, where the labor markets are far more fluid and flexible than those in Europe, it is very difficult to bring about a cut in nominal wages or a reduction in prices.

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Now what is the advantage of a floating exchange rate system? Well, the advantage is that instead of generating the differential, in home currency prices, between domestic goods and international goods by domestic goods falling relative to international goods, the differential is achieved in a different way: domestic goods prices stay the same in home currency, but international goods prices increase as a consequence of a declining exchange rate. Note that the real adjustment is still the the same - exports must increase while imports must decline - by means of a differential in home currency prices between domestic goods and international goods; but in a flexible exchange rate monetary system, the differential is brought about by international goods prices rising relative to stable domestic goods prices and not by domestic prices falling relative to stable international prices. This is the entire difference between the fixed exchange rates of a monetary union and the current regime of floating exchange rates and that is why the real adjustment is a lot easier under the current system. The 20th century has taught us is that while the real adjustment for the deficit country ~ the increase in exports and the reduction in imports-is the same whichever international monetary system is operative, it's easier to effectuate the real adjustment in a floating exchange rate monetary system because—and this is crucial —the adjustment does not require a reduction in nominal wages and prices in the deficit country. Finally, we note that is the main defect and the critical reason that the Gold Standard failed; the Gold Standard regime required a reduction in prices od domestic goods in the deficit country (Table 1). Table 1 A Comparison of the Adjustment Mechanism in a Deficit Country under Fixed and Floating Exchange Rates Fixed Exchange Rate System Domestic Goods Deficit Country

Prices fall

Surplus Country

Prices rise

International Goods (Exports & Imports) No change in price No change in price

In the deficit country domestic goods prices must decline; in the surplus country prices of domestic goods rise.

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Flexible Exchange Rate System Domestic Goods

International Goods (Exports & Imports)

Deficit Country

No price change

Prices rise

Surplus Country

No price change

Prices fall

No reduction in domestic goods prices required in deficit country; in the surplus country prices of international goods fall. Point #4. Consider some earlier monetary unions. The most recent example is the monetary union in Germany. When East and West Germany were unified, we had a monetary union which set 1 east mark equal to 1 west mark. At the time Kohl set this 1:1 exchange rate most analysts—including the Bundesbank—thought that perhaps 4:1 might be more accurate-and closer to an equilibrium rate. Indeed, the exchange rate between east-west in the market may have even been as high as 7 or 8:1. In any event, for whatever reason, Kohl decided to set the rate at 1:1. Now if we assume that the market equilibrum rate was approximately 4:1 and the political authorities set the exchange rate at 1:1, they have, in effect, overnight quadrupled the wages of the workers in East Germany. And considering that the labor force in East Germany inherited inefficient, dilapidated plant and obsolete equipment, and then their wages are quadrupled in money terms, it is not surprising to find a frightening increase in unemployment. And that's exactly what we observe. Indeed, recent estimates suggest that the unemployment rate in the former East Germany may be as high as 40%. So this is just one recent example of what can happen when a monetary union is instituted with politically tainted exchange rates. The problem is that when a monetary union is set up, the exchange rate that is selected may not be determined by longer term economic trends but, more often than not, by short run and local politics. Politically it was easier for Kohl to set the exchange rate at 1:1. We all can understand why. Kohl may have concluded that by setting it 1:1, the East Germans may feel a lot better, the West was treating the East with respect; he was being nicer to them, and also, in a sense, increasing their real wealth—Kohl made their currency more valuable—and all of these reasons—including his upcoming election—we can appreciate. But let us reflect on what have been a better policy for East Germany at the time? One could argue that if Kohl was seeking to facilitate in East Germany, an undervaluation is more appropriate than overvaluation. Suppose that God revealed somehow that the true exchange rate is say 4:1, one could argue that even if 4:1 is,

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in the sense of real adjusted purchasing power, the correct rate, perhaps it may be desirable to undervalue the east mark and set it at 5:1 so as to provide the East Germans with an advantage—to give the East german work force a little bit of competitive edge on the exchange rate-in the hope of the rebuilding their economy. But when the political authorities set the exchange rate at 1:1, they overvalued the east mark and essentially priced East German labor out of the market. This is what happens when short run political consideration dominate the setting of exchange rates in a monetary union. Another monetary union was one they had in Italy in 1862, between the North and the South. And I might add the South has still not recovered from that monetary union because the Italian monetary union instituded was not appropriate for South Italy. And the Czechoslovakian monetary union was dissolved in 1994. Point #5. You might ask: Why does a monetary union work in America? We have 50 states, but we don't have 50 currencies, we only have one and it works very well. Why does a single currency work in America? and why would it not work in Europe? This is a very good question. This monetary union works in America for two very important reasons. More precisely, America may, in fact, be fairly close to what economists call an Optimal Currency Area (OCA). Let me illustrate. In the 1990s California suffered a sharper decline than the rest of the country. The USA had a recession in 1990-1991, and California was hit much harder because in addition to the recession it also suffered from a sharp cutback in defense spending. Recall, the Cold War was over, the Berlin Wall came down, and Congress cut defense spending. And since a considerable quantity of defense activity was centered in California, it was disproportionately hard hit by the cutback in defense spending, and its, unemployment rate was higher than the rest of the country. So what happened? Between 1990 and 1994, 1.2 million people left California to find jobs elsewhere. In America we have a very free and fluid market. If you're unemployed, and you're an engineer and your plant closes because of defense cutbacks, and you read the paper and it indicates they are hiring engineers in Florida, Oklahoma, Tennessee and Michigan, New York, Virginia—all you have to do is apply. There is no problem of visas and passports. You don't have to leam a new language, you don't have to learn a new culture, you don't have to leam how to eat new foods, you just take the car and go. It's just that simple. In other words, we have a free labor market, and you do not have that in Europe. In addition to the high labor mobility, we also have, in America, an automatic fiscal stabilizer. High labor mobility and an automatic fiscal stabilizer are two critical conditions for an OCA. I shall illustrate the automatic fiscal stabilizer with reference to California but I could give other examples. Between 1987 and 1991

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California contributed 13.4% of the total take in income taxes. In these years the amount taken in by the Federal government in income taxes from California was approximately 13.4%. But in years with sub-par economic activity such as 19911994, California contributed only 12.5%—because the recovery in California lagged, their income was down and they paid less taxes. This difference between 13.4% and 12.5% amounted to $11 billion in 1994 or approximately $350 per capita. In other words, this was an automatic reduction in taxes for Californianobody had to pass a law, the authorities did not have to go to Brussels and plead with bureaucrats for a remedy-it happened automatically without an administrative or legislative action. Taxes got cut by $350 because income declined. And in addition to this income tax reduction of $350 per capita there were transfer payments because California had a lot of unemployment. So we have this automatic fiscal stabilizer and that helped California pull out of its recession. Unfortunately, this adjustment does not exist in Europe. Europe does not have a free labor market with the high degree of mobility that we have in America, and Europe does not have the automatic fiscal stabilizer. How then will the European countries obtain an adjustment? There are only two mechanisms left. The real adjustment mechanism requires that international goods become more expensive relative to domestic goods in the deficit country in order to stimulate exports and reduce imports. One way to get this adjustment is through a reduction in the nominal exchange rate in the deficit country; and the second way is for prices and wages to fall in the deficit country to stimulate exports and reduce imports. Since these are the only two adjustment mechanisms left, and if a deficit country cannot change the nominal exchange rate because of the monetary union, the only adjustment left is a decline in nominal wages and prices. And as I've said, if there is anything we've learned in the 20th century, it is that a reduction in either nominal w ages or prices is difficult, if not impossible to attain. Point #6. Who favors a monetary union? Well, there are a lot of theories and I am not an expert on this subject. I will relate to you what I've been reading. One theory is that Kohl is worried about Germany, about Europe and about war and peace, but not about economics. And somehow Kohl has convinced himself that this monetary union will lead to a more peaceful Europe. As I said, I admire Kohl for his concern with war and peace; but I don't think peace is more likely with the monetary union. Some argue that French technocrats, worried that France is losing influence in world affairs, strongly support the monetary union. France, these technocrats believe, is not getting the respect, the influence, the power, or the role in the 2

For a probing analysis, see Lawrence B. Lindsey (1996).

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global economy that it rightly deserves. France, in terms of economic power, appears to be at the second or third rank, yet these French technocrats believe that France ought to be playing a major, perhaps dominant, role in European affairs. Somehow the French technocrats think that if they can combine the French administrative and bureaucratic brilliance and the German economic muscle, France will achieve its rightful place in European and world affairs. So that's another group that is alleged to pushing for a monetary union. Some German industrialists are a third group. It is alleged that some German industrialists fear that they cannot compete in the global economy because of the very heavy regulation, the strong labor unions, and the rigid labor markets in Germany. It is extremely difficult, if not impossible, to be competitive in the global economy given these kind of conditions. The European economies are not creating jobs because they have inflexible labor market policies, excessive fiscal deficits and a costly legacy of generous social welfare programs. These conditions are certainly true of Germany. And many German industrialists may fear they cannot compete in the global economy. And they may believe that a closed European economy~a Fortress Europa-would provide them with a relatively high degree of protection. To put it bluntly, while the talk is the talk of monetary union, the walk is the walk of more protectionism. There may be a fourth group. There are said to be people in France who think that if they can set up a monetary union and a common Euro, and then depreciate the Euro sufficiently—a depreciated Euro may enable them to overcome the adverse effects of very strong unions, high labor costs and a lack of competitiveness. These French planners may believe that the only policy left to the European welfare state is to try to depreciate the Euro sufficiently so that they can overcome these negative real factors. Unfortunately, as one country tries to depreciate its currency, the other countries can depreciate theirs too. It may lead to major and dangerous struggles with competitive depreciation. This tactic is not necessarily one that would work. Because the Japanese will recognize what the French are doing, as would the Americans and the other countries. Indeed, that is exactly what happened to us in the 1930s when we had competitive devaluations. Anyway that's another theory that's developed as to who is pressing for the Euro.3 Point #7. And I think this is an important point. Everybody agrees it would be desirable to develop a more integrated market in Europe. Everybody wants more trade, more business, and a freer flow of people, money, goods, and capital. In general terms, everybody is for that. The question is: „Do you need a common currency to facilitate this free flow?" While we all agree that we want a freer flow 3

A thorough discussion of these issues is presented in Connolly (1995).

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of money, of capital, of goods, and more trade, do we need a common currency to do that? Now trade between the United States and Canada offers some interesting lessons. Between the United States and Canada there is a tremendous amount of trade going back and forth. If you look at Quebec and the United States there is also a lot of business back and forth. And if you look at Ontario, another Canadian province right next to Quebec, there is a lot of business between Ontario and the United States. But if you look at Ontario and Quebec, provinces right next to each other, there is almost no business—even though they have the same currency. Why? Although there is a common currency—the Canadian dollar—in Ontario and Quebec, there is very little business. Why? Well I think many of you know why. The Quebecers want to go one way, they don't want to speak English, and they resist anything that has an English tinge. And if they have to get anything with English, they'd rather get it from America than to get it from Ontario. There is very little trade. So here is a dramatic example of where the flow of trade has very little to do with the currencies. So my point is that in order to increase the free flow of money, of goods and of capital you do not need a common currency. Admittedly a common currency may be a plus it was not associated with an impossibly difficult adjustment mechanism 4 . Point #8. And I think that this is another important point that shows some of the problems that we are going to have to face. And I can introduce it best by pointing to a related problem in America. We have the Federal Reserve and Chairman Greenspan. His assignment is to focus on inflation and the macroeconomy. On the other hand we have the Finance Minister, Rubin, who is constitutionally responsible for the external value of the dollar—the exchange rate of the dollar. Now let's assume that Greenspan thinks that the economy is overheating and for macroeconomie reasons it would be desirable to raise interest rates. But if Greenspan does tighten policy, he could also be raising the exchange rate of the dollar. And suppose Rubin thinks that the dollar is high enough. Rubin is under pressure because the Detroit automobile companies are worried about a declining yen while our export industries are worried about the $ getting too high. Now the question is: "Who is really in charge? Does Greenspan have the right to raise interest rates because he thinks the economy is overheating, or does Rubin have the right to say don't raise interest rates because the dollar is already too high and its causing us a lot of jobs". The answer is that this is a difficult question.They are both talking about the same instrument-namely the interest rate-but in one sense 4

See the discussion in Schwartz (1997).

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Greenspan has the right to raise it if the Federal Open Market Committee feels that macroeconomic policy requires it; but on the other hand foreign economic policy—the exchange rate— is constitutionally within the province of the Finance Minister. So, basically, this is an ambiguous area. The way they solve this problem in America is that Greenspan and Rubin meet every Monday morning for breakfast. They have breakfast together and try to work out a coordinated plan. Neither Rubin nor Greenspan want this come to an open fight. Constitutionally this is a very delicate area and obviously they want to avoid that. They basically try to resolve it by the two of them working out a coordinated plan. Now the question is how is this going to work in Europe. In Europe you have a problem because you may have 11 Greenspans and perhaps even 15 Rubins, 15 Greenspans. Identically I did not know this until the very day that I arrived in Germany I read an interesting story in the European edition of the Wall Street Journal—let me summarize what it says. This appeared on May 5th 1997. At a recent conference at the IMF in Washington some participants drew attention to what they regard as a clear institutional deficiency in the EU's current plans. They raised the following question: "What will be the European equivalent of the weekly breakfast between the U.S. Secretary of the Treasury and the Chairman of the Federal Reserve Board?" The questioner was referring to the informal setting for coordination in the United States between the elected government which has responsibilities for taxes and spending, and the independent central bank which sets interest rates. Mr. Edwin M. Truman, the Federal Reserve's top international economist who raised this question, stated that "Europe has not yet answered this question or, more precisely, different Europeans have different answers." Mr. Alexandre Lamfalussy, the former President of the EMI, concedes that the Maastricht treaty does not give any guidance on this point. Like the Bundesbank, he says, the ECB is charged with aiming towards price stability in the Euro area. But governments still retain responsibility for the Euro's exchange rate against other currencies like the dollar and the yen. And there is no clear prescription about how governments, including both those who are participants in the monetary union project, and those who are not, should interact with the ECB. Underlying these concerns are doubts just how solid the future European currency will be. While the ECB will have responsibility for monetary policy, the Maastricht treaty gives governments responsibility for exchanges rate policy, raising the prospect of possible clashes. How things pan out will depend, in part, on who makes up the ECB, and even there the outlook is still far from clear.

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I find it amazing that we're going ahead this far, with a common currency and a monetary union, and this issue has not yet been dealt with explicitly. Point #9: The Brusselization of Europe. I regard this as a very important point. I agree that a common currency has a lot pluses 5 . But suppose you set it up and you do not have an adequate adjustment mechanism. This means that if Spain has a deficit, the adjustment under a fixed rate system may be inadequate. What is going to happen? Well what's going to happen is that every time a problem comes up they're going to have to go to Brussels. The first time, Brussels will say to some of the richer countries why don't you make some loans to Spain and help them out. That's the first time. The second time, it will be a little harder. The third time it will be even more difficult. But sooner or later the Germans are going to say: We're not a bank. We can't keep doing this indefinitely. And furthermore, as long as there is a Brussels, Spain is not going to be forced to make the adjustment the hard way. Because the hard way is going to require prices and nominal wages falling in Spain. The danger is you have an inadequate adjustment and the problem keeps festering on, requiring controls or a devaluation. If my analysis is correct, and I believe it is, the best investment an European can make is to buy real estate in Brussels if the EMU is set up. Because Brussels is going to be growing. And furthermore since Brussels cannot really solve the problem; Brussels will need to create new bureaucracies to deal with it. More problems, more bureaucracy, more Brussels. And I see a further problem. Up to now the mark has been the best currency in Europe. I understand that most people in Germany, perhaps over 80%~prefer the mark and are not happy about the Euro. If you are going to force these people to give up the mark and go to the Euro, and if the Euro has all the problems that I'm talking about-including the very basic issue concerning whether the ECB or the politicians have the authority over the exchange rate - what happens if the French and the Italians and the Spaniards gain enough influence to depreciate the Euro. The representative German citizen is going to wake up and realize that he's been sold a bad bill of goods, that the new currency he has is nowhere near as good as

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Some potential benefits of a common currency in a full monetary union may be indicated. First transaction costs of exchanging currencies would be eliminated. Second, a one time increase in production of perhaps 5% may develop since investors are no longer deterred by exchange rate fluctuations. Third, the convergence of inflation rates may stimulate real output. Fourth, members of the monetary union would no longer need to keep currency reserves against member curencies Fifth, increased trade should follow as concern with currency changes diminishes. Offsetting these benefits are the very considerable costs maintaining a monetary union, evidenced in Great Britain's recent experience in the ERM, and the continuing difficulties in german monetary union. See Goodman (1993).

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David I. Fand

the currency he was forced to give up. I think you are potentially creating very serious problems that the Eurocrats and the pro-EMU advocates should consider. Point #10. What indeed is the best way to implement Chancellor Kohl's vision for a peaceful Europe? It seems to me that the best way to achieve a viable and peaceful Europe is to do what the OECD and Global Competitiveness reports suggest. First and foremost, do something about job creation. It is absolutely clear that Europe has the resources, the talent, and the infrastructure to have healthy job creation. There is no reason in the world why Europe should have an unemployment rate that is twice as high as America's—indeed more than twice as high. The German unemployment rate recently reached levels as high as in 1933. In the United States we're getting below 5% compared to an unemployment rate in Germany of over 12%. And the reasons for the very high unemployment, as analyzed in the two reports I mentioned, are that Europe has inflexible labor market policies, excessive fiscal deficits and a costly legacy of generous social welfare programs. That is the real problem. And until Europe deals with the rigid labor markets, the budget and the welfare state, it is not dealing with the real issue. And by trying to paper it over by assuming a common currency will mitigate the problems of a bloated welfare state is illusory because the monetary union will, in fact, create additional problems rather than solving the existing problem. In my opinion the best way to deal with the real problem of economic stagnation is to follow the recommendations in these reports. Point #11. Will the EMU promote the integration of Europe or will it create problems leading to the Brusselization of Europe? Well, from what I've said up to now it's clear that I think the system lacks an adequate adjustment mechanism and therefore everytime there is an economic imbalance there is going to be a political problem coming up to Brussels, and Brussels will create a new entity to deal with it, the new entity will not really be able to solve the problems and so you'll have another new entity—and this can go on ad infinitum. The real issue is that Europe has unemployment rates more than twice as high as America, attributable to the bloated welfare state, the inflexible labor market policies, and the very high deficits and tax rates, an issue not addressed, and perhaps aggravated, by the introduction of the EMU 6 . And so, in conclusion, my thesis—and here I am going to quote the Bible—The book of Genesis. There is a story how Jacob steals the blessing when Isaac was dying. Rebecca knew that Isaac wanted to give the blessing to Esau. So she dressed Jacob up as hairy as Esau. And then there is the famous line where Isaac says (Isaac is blind): "The voice is the voice of Jacob, but the hand is the hand of 6

See the discussion in Watrin (1996).

Eleven Questions about the Monetary Union

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Esau". And I think that sums up what I think about the EMU. The voice is the voice of Jacob—common currency, integrated markets, free flow of money, goods, people, capital and so on. That's the voice. But the hand is the hand of French technocrats, protection minded industrialists, of bureaucrats, Eurocrats and Brussels. And I think it would be a serious mistake.

Bibliography: Connolly, Bernhard: The Rotten Heart of Europe. The Dirty War for Europe's Money. Faber and Faber, London 1995. Goodman, S. F.: The European Community, MacMillan. 1993. Issing, Otmar: Europe: Political Union through Common Money? Instute of Economic Affairs, London 1996. Lindsey, Lawrence B.: European Currency Union. Ms., 1996. Schwartz, Pedro: Back from the Brink: An Appeal to Fellow Europeans over Monetary Union. Institute of Economic Affairs, London 1997. Vaubel, Roland: The Battle over EMU. Economic Affairs, London 1996. Watrin, Christian: The European Union: Source of Conflict or Cooperation? Paper presented to the Mont Pelerin Society, Vienna 1996.

Währungsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Das Wagnis Euro - kein Bravourstück der Demokratie Liesel Hartenstein I. Bei der Ratifizierungsdebatte zum Maastricht-Vertrag am 2. Dezember 1992 erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl: "Beide Teile des Vertrags - die Politische Union wie die Wirtschafts- und Währungsunion - haben gleiches Gewicht. Eine wirtschaftliche Einigung in Europa ohne eine politische Einbettung ist mit absoluter Sicherheit zum Scheitern verdammt, und genau dies wollen wir nicht." Beifall nicht nur von den Koalitionsabgeordneten, sondern auch von Abgeordneten der SPD-Fraktion.1 Inzwischen ist die europäische Währungsunion im Mai 1998 mit elf Mitgliedsländern beschlossen und besiegelt worden - ohne daß eine Politische Union in Sicht wäre. Die Frage, ob damit ein guter Einstieg in die weitere wirtschaftliche und politische Integration Europas gelungen ist, muß vorerst offenbleiben. Denn die Zweifel sind nicht ausgeräumt, •

ob die Währungsunion zum richtigen Zeitpunkt eingegangen wurde,



ob die gegebenen ökonomischen und finanzpolitischen Voraussetzungentatsächlich tragfähig sind und



ob daraus eine auf Dauer stabile Euro-Währung hervorgehen kann, welche Wachstum und Wohlfahrt in allen Teilnehmerländern fördert und welche zugleich den Wunsch nach einer vertieften politischen Gemeinsamkeit stärkt.

Die Zweifel wurden vielfach und deutlich vorgetragen und mit handfesten Argumenten begründet, voran von kompetenten Finanzwissenschaftlern und Ökonomen, aber auch von Seiten namhafter Politiker, wie zum Beispiel dem sächsischen Ministerpräsidenten Professor Kurt Biedenkopf. Es gelang jedoch nicht, bei den maßgeblichen politischen Entscheidungsträgern und den parlamentarischen Mehrheiten durchschlagend Gehör zu finden. Zu stark hatten sich bereits die Spitzen der Parteien, allen voran der damalige Bundeskanzler, außenpolitisch wie innenpolitisch auf den Euro-Start ab 1. Januar 1999 festgelegt. Nun muß vorneweg festgehalten werden: zu Europa, zu einem gemeinsamen, wirtschaftlich starken und politisch handlungsfähigen Europa gibt es keine Alternative. Die feste Einbindung gerade auch unseres Landes, der Bundesrepublik 1

Prot, des Deutschen Bundestags, 12. Wahlperiode, 126. Sitzung, S. 10825.

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Deutschland, in ein großes - und noch größer werdendes - Europa ist eine absolute Notwendigkeit. Und eine enorme Chance für die Zukunft. Keinem derjenigen, die Fragen gestellt und begründete Kritik an Zeitpunkt und Form des EuroBeschlusses vorgetragen haben, sollte unterstellt werden, daß er von dieser Grundeinsicht abweichen wollte. Für mich persönlich erkläre ich jedenfalls: mit denen, die Einwände gegen den Euro nur als Vorwand benutzen, weil sie in Wahrheit Europa nicht wollen, habe ich nichts zu schaffen. Denn die sind auf der falschen Spur. Ein Zurückrudern in die nicht wieder wünschbare Ära des Nationalstaats darf es nicht geben. Die Bundesrepublik Deutschland hat in dem gemeinsamen Europa ihren angestammten Platz. Nirgendwo sonst. Ein richtiges Ziel im Auge zu haben, ist indessen die eine Sache, den geeigneten Weg zu diesem Ziel zu finden, die andere. Der Kernpunkt, an dem die Zweifel sich entzünden, ist das ins Auge springende Ungleichgewicht zwischen Währungsunion und Politischer Union. Von einem Gleichlauf, wie ursprünglich geplant, kann keine Rede mehr sein. Noch am 6. November 1991 hat Bundeskanzler Kohl im Deutschen Bundestag betont: "Man kann dies nicht oft genug sagen. Die Politische Union ist das unerläßliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur die Deutschlands, lehrt uns, daß die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist."2 Von dieser scheinbar unverrückbaren - und in der Sache auch unverzichtbaren Position hat sich die Bundesregierung Schritt für Schritt verabschiedet. Der Weg zur Politischen Union verliert sich, trotz aller Beteuerungen, im Nebel wohltönender Sonntagsreden. Im Grunde hatte schon der am 7. Februar 1992 unterzeichnete Maastricht-Vertrag das Junktim zwischen Währungsunion und Politischer Union aufgegeben, und zwar auf Drängen Frankreichs. Die Einigung über diesen Punkt sollte auf der Maastricht Ii-Konferenz emeut versucht werden, aber der Amsterdamer Vertrag vom Juni 1997, ohnehin auf weite Strecken eine Ansammlung leerer Hülsen, verließ vollends die vordem als unabdingbar geltende Grundlage. Damit wurde schließlich eine totale Kehrtwende vollzogen. Jetzt galt nicht mehr die sogenannte "Krönungstheorie", wonach die Währungsunion als Tüpfelchen auf dem i den Abschluß einer Politischen Union hätte bilden sollen, vielmehr sollte der Euro jetzt als "Lokomotive" dienen, mit deren Hilfe die weitere wirtschaftliche und politische Union zwangsläufig vorangetrieben würde. Der Euro also als "Patentrezept für alles und jedes"? Für mehr Wachstum, für mehr Arbeitsplätze, für bessere Exportchancen, für die Vorbereitung einer engeren politischen Union? Das stelle nicht nur "die bisher verkündete Integrationslogik auf den

2

Prot, des Deutschen Bundestags vom 6. November 1991.

Das Wagnis Euro - kein Bravourstück der Demokratie

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K o p f ' , sondern überfordere auch das Unternehmen Euro, wie Prof. Reimut Jochimsen treffend bemerkt. 3 Das Ergebnis ist eine Geldunion ohne politischen Unterbau und ohne soziale Flankierung. Damit droht die Währungsunion zu einem Ablenkungsmanöver zu werden, ja sogar zu einer Ersatzhandlung für nicht erreichte politische Ziele.Wenn es geschähe, und zwar sichtbar und deutlich geschähe, daß, schritthaltend mit der Währungsunion, die politische Union Europas aufgerichtet würde, dann stünde das Projekt Euro auf gesünderen Beinen. Die Entscheidung über den Eintritt in eine europäische Währungsunion ist weit mehr als eine Währungsumstellung. Sie ist für die Bundesrepublik das größte und existentiell wichtigste Vorhaben am Ausgang unseres Jahrhunderts. Noch einschneidender als die Schaffung der deutschen Einheit greift sie in die Lebensverhältnisse jedes Einzelnen ein und führt, einmal vollzogen, zu einer unauflösbaren Schicksalsgemeinschaft von 290 Millionen Menschen in elf Nationen. Deshalb ist die Frage wohl berechtigt, ob Europa wirtschaftlich, politisch und kulturell reif genug ist, um diesen entscheidenden Schritt zu tun. Und zwar unumkehrbar. Soll er gelingen, müssen die gemeinsamen Ziele stärker sein als die bislang vorherrschenden nationalen Interessen der einzelnen Mitgliedsländer. Vorrang muß bei den Europäern die Frage haben: was nützt allen am meisten, und nicht: was nützt mir am meisten? Es müßte zum mindesten eine Vorstellung davon geben, wohin Europa will, welche Form der politischen Union angestrebt wird - ja, es müßte nichts Geringeres als eine Vision von Europa geben, die von den Völkern in ihrer Mehrheit bejaht wird. Die Chance Europa ist gewaltig. Sie könnte zu einem Lebens-, Sozial- und Wirtschaftsmodell führen, das globale Bedeutung hätte. Wird diese Chance im richtigen Geiste ergriffen, werden die Vorstellungen auf eine gemeinsame Zukunft hin orientiert, dann könnte sich auch der Euro als konstruktives Element in dieses Konzept eingliedern. Wenn dieser überwölbende Rahmen jedoch fehlt, besteht die Gefahr, daß eine große Idee des 20. Jahrhunderts früher oder später auseinanderbrechen könnte. II. Nicht allein das ursprüngliche Ziel einer engen Verbindung von Politischer Union und Währungsunion wurde aufgegeben, auch die Frage nach der Konvergenz der Wirtschafts- und Finanzpolitiken der EU-Staaten findet keine positive Antwort. 3

Prof. Dr. Reimut Jochimsen, Rede vom 6. Febr. 1998 anläßlich der Präsentation der Neuauflage seines Buches „Perspektiven der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen, Bonn.

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Liesel Hartenstein

Denn sie läßt sich nicht ausschließlich auf die Erfüllung der Stabilitätskriterien reduzieren, schon gar nicht auf diejenigen Kriterien, die - glücklicherweise rundum eingehalten wurden, nämlich niedrige Inflationsrate und niedriges Zinsniveau. Diese Kriterien können insofern nicht den Ausschlag geben, als nach allgemeinem Urteil die Konvergenz gerade in diesen Punkten viel weniger ein Ergebnis intensiver nationaler Stabilitätsbemühungen ist als vielmehr Folge der Globalisierung und des dadurch ausgelösten erheblichen Wettbewerbsdrucks. Der Vertrag von Maastricht verlangt eindeutig, daß die Währungsunion eine Stabilitätsgemeinschaft sein müsse. Also muß geprüft werden, ob seit dem Maastricht-Start von 1992 in den Teilnehmerländern die Voraussetzungen für eine solche Stabilitätsgemeinschaft ernsthaft und zielstrebig geschaffen wurden. Aussagekräftiger als Preisanstieg und Zinsrate sind, was die Stabilitätspolitik anbetrifft, die Kriterien der Staatsverschuldung und der öffentlichen Haushaltsdisziplin. Und hier sieht es wesentlich düsterer aus. Zum einen wurde das Schuldenstandskriterium von maximal 60 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zum Zeitpunkt des Eintritts in die Währungsunion nur von drei Teilnehmerländern eingehalten (Frankreich, Luxemburg und Finnland), von acht aber verfehlt. Daß dabei zwei Länder sind, nämlich Belgien und Italien, die das Doppelte der zulässigen Schuldenlast hinter sich herschleppen (122, 2 bzw. 121,6 %), ist mehr als ein bloßer Schönheitsfehler; dies ruft sogar beim Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank, der sich stets zurückhaltend auszudrücken pflegt, "ernsthafte Besorgnisse" hervor4. Damit aber nicht genug. Gerade große Länder wie Deutschland, Frankreich und auch Spanien erfüllen Maastricht insofern nicht, als ihre Verschuldungsquote seit 1992 eben nicht, wie der Vertrag es fordert, "erheblich und laufend zurückgegangen" (Art. 104c EG-Vertrag) ist, sondern beträchtlich zugenommen hat. Wenn die Bundesbank in ihrer Stellungnahme vorrechnet, welche üppigen Haushaltsüberschüsse die hochverschuldeten Staaten erwirtschaften müßten, um in einem Zeitraum von zehn Jahren überhaupt in die Nähe des Referenzwertes zu kommen, dann entbehren solche Rechnungen nicht eines zynischen Untertons. Ähnliches läßt sich von dem Gerangel um die Einhaltung des zulässigen Haushaltsdefizits von 3,0 % des BIP sagen. Daß dabei die sogenannte kreative Buchführung Pate gestanden hat und vielfältige Tricks angewandt wurden - vom kräftigen Griff nach Einmal-Einnahmen, die auf dem Haben-Konto verbucht wurden, bis zum Verschieben fälliger Tilgungszahlungen in die fernere Zukunft -, dies ist längst ein offenes Geheimnis. An diesem unseriösen Spiel haben sich praktisch alle potentiellen Euro-Kandidaten beteiligt. Schlimmer erscheint jedoch, daß mit 4

Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die Dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, Frankfurt /Main 26. März 1998, S. 20.

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der verengten 3,0%-Diskussion die Frage nach der wirklichen Haushaltsentwicklung und der finanzpolitischen Disziplin der elf Teilnehmerländer völlig verdeckt wurde. Wenn die Schuldenstandsquote zwischen 1992 und 1997 in Deutschland von 44,1 % des BIP auf 61,3 % gestiegen ist, in Frankreich von 39,8 auf 58 %, in Österreich von 58 auf 66,1 % (zwischenzeitlich lag sie 1995/96 sogar über 69 %) und in Spanien von 48 auf satte 68,8 %, dann sind solche Entwicklungen alles andere als Maastricht-getreu, im Gegenteil, sie laufen dem Buchstaben und Geist des Vertrags diametral zuwider. Artikel 109 j des EG-Vertrags fordert nachdrücklich von allen Teilnehmerländern einen "hohen Grad an dauerhafter Konvergenz", wozu neben Preisstabilität "eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand" gehört. Da die europäische Währungsunion eine unauflösbare Solidargemeinschaft ist, setzt sie auch eine auf Dauer angelegte europäische Stabilitätskultur voraus. Nur bei dauerhafter Haushaltsdisziplin und konsequenter Rückführung der Verschuldensquote an den Referenzwert kann der Euro eine nachhaltig stabile Währung, also eine harte Währung werden. Daß neben den mangelnden Fortschritten in Richtung Politische Union, neben der nicht vollzogenen Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitiken der Teilnehmerstaaten (von der Angleichung der Sozialsysteme gar nicht zu reden!) gravierende Defizite bei der Einhaltung der Stabilitäskriterien vorliegen, gibt dem Projekt Euro zusätzliche Risiken auf den Weg. Sollten statt Schuldenabbau deutliche Zuwächse bei der Verschuldungsquote eintreten, sollte gar ein Land, zum Beispiel wegen hoher Arbeitslosigkeit, mit neuen Kreditaufnahmen ganz aus dem Ruder laufen, dann könnten unmittelbar kritische Situationen entstehen. Der Stabilitätspakt stellt nicht, wie vom früheren Bundesfinanzminister Waigel behauptet, einen Sicherheitsanker dar. Denn er enthält keinen Automatismus mehr im Hinblick auf Sanktionen und läßt bedenkliche Ausnahmen zu. Über die Verhängung von Sanktionen und vor allem über deren Verlängerung wird stets im Rat, also politisch, entschieden. Eine weitere Zunahme der Verschuldung eines oder mehrerer Mitgliedsländer hätte unweigerlich Rückwirkungen auf die Geldwertstabilität des Euro. Einerseits läßt Artikel 104 b keinen horizontalen Finanzausgleich, wie ihn die Bundesrepublik unter den Bundesländern kennt, zu, nach dem erklärten Willen der Maastricht-Partner soll auf keinen Fall eine Transferunion entstehen, andererseits kann aber kein Land mehr zu Abwertungen greifen, sobald das Korrekturinstrument der Wechselkursänderungen einmal weggefallen ist. Fazit: alle haften für alle. Die Haushaltsentscheidungen fallen national, und obgleich hohe Neuverschuldungen im Einzelfall noch so begründet sein mögen, haben in Euroland alle gemeinsam die Konsequenzen nationaler Entscheidungen zu tragen. Eine

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wahrlich krumme Konstruktion! - Auch die Europäische Zentralbank (EZB), die bewußt als Stabilitätswächter eingesetzt ist, wird diese Schieflage nicht ausbalancieren können. Zwangsläufige Folge wäre: Der Euro wird weich. III. Die historische Bedeutung des Schrittes zur europäischen Währungsunion kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Wie aber steht es um den politischen Diskurs und die demokratischen Entscheidungswege? Bei der Ratifizierung des Maastricht-Vertrages im Herbst 1992 haben Bundestag und Bundesrat die Problematik dieses Schrittes - Aufgabe der DM und Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung - in ausführlichen Debatten erörtert und dabei zwei namhafte Entschließungen gefaßt. Der Deutsche Bundestag (und gleichlautend der Bundesrat) hat in einer Entschließung vom 2. Dezember 1992 ausdrücklich begrüßt, daß die "Wirtschafts- und Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft" vorgesehen ist. Er stellt fest, daß sie "ein wichtiger Schritt zur Vertiefung der Integration im Rahmen der Europäischen Union (sei), die so bald wie möglich zur Politischen Union ausgestaltet werden sollte."5 Gleichzeitig versichert das Parlament, daß es "die Besorgnisse in der Bevölkerung .... ernst" nehme: "Es muß daher alles getan werden, damit sich diese Sorgen als gegenstandslos erweisen. Die Stabilität der Währung muß unter allen Umständen gewährleistet sein." Zugleich verpflichten sich Bundestag und Länderkammer, "beim Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion die Stabilitätskriterien eng und strikt auszulegen". Es heißt dann weiter: "Die Entscheidung für den Übergang zur dritten Stufe kann nur auf der Grundlage erwiesener Stabilität, des Gleichlaufs bei den wirtschaftlichen Grunddaten und erwiesener dauerhafter haushalts- und finanzpolitischer Solidität der teilnehmenden Mitgliedstaaten getroffen werden. Sie darf sich nicht an Opportunitätsgesichtspunkten, sondern muß sich an den realen ökonomischen Gegebenheiten orientieren. Die Natur der Kriterien bedingt es, daß ihre Erfüllung nicht nur statistisch gesichert werden kann. Ihre dauerhafte Erfüllung muß vielmehr auch aus dem Verlauf des Konvergenzprozesses glaubhaft sein." Dies klingt nahezu prophetisch, so als ob mögliche Tricks und Umgehungsversuche vom Parlament schon vorausgeahnt worden wären und vorsorglich unterbunden werden sollten. Das Parlament verpflichtet sich feierlich: "Der Deutsche Bundestag wird sich jedem Versuch widersetzen, die Stabilitätskriterien aufzuweichen, die in Maastricht vereinbart worden sind. Er wird darüber wachen, 5

Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP vom 2.12.1992, Bundestagsdrucksache 12/3906.

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daß der Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion sich streng an diesen Kriterien orientiert." Und noch einmal die Versicherung: "Die künftige europäische Währung muß so stabil sein und bleiben wie die Deutsche Mark." Dieses Dokument läßt keinen Zweifel daran zu, daß Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung die außergewöhnliche Reichweite des beabsichtigten Schrittes klar erkannt hatten und die volle Verantwortung dafür übernehmen wollten. In Wahrnehmung dieser Verantwortung sichert der Deutsche Bundestag zu, daß er vor der endgültigen Entscheidung über die Währungsunion eine eigene Bewertung vornehmen werde und daß die Bundesregierung für ihr Stimmverhalten auf europäischer Ebene das zustimmende Votum des Deutschen Bundestages einholen müsse. Die Bundesregierung wird aufgefordert "zu erklären, daß sie dieses Votum des Deutschen Bundestages respektieren wird." So weit, so gut. Zu fragen bleibt, ob die Abläufe und die letztendlichen Entscheidungen im Frühjahr 1998 dieser Selbstverpflichtung des Parlaments und der Länderkammer wirklich gerecht geworden sind. Alles in allem genommen muß die Frage leider mit Nein beantwortet werden. Zum einen hat sich der Bundestag ebenso wie der Bundesrat ohne Not unter einen unglaublichen Zeitdruck setzen lassen; zum andern waren die Positionen von seiten der Bundesregierung und der Parteispitzen bereits im Vorfeld so festzementiert, daß für den selbstverantwortlichen Parlamentarier kaum mehr ein Bewegungsspielraum bestand. So rollte im Frühjahr 1998 ein im Grunde beschämendes Schauspiel ab, das dem System der parlamentarischen Demokratie nicht zur Ehre gereicht. Zum Verfahrensablauf: Kaum lagen in der letzten März-Woche die 300 bis 400 Seiten starken Konvergenzberichte der EU-Kommission und des Europäischen Währungsinstituts (EWI) auf dem Tisch, da präsentierten die Fraktionen des Parlaments, einschließlich der SPD-Opposition, auch schon einen Beschluß-Fahrplan, der an Hektik nicht mehr zu überbieten war: 25. März

Konvergenzberichte der EU-Kommission und des EWI

26. März

Vorlage der "Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die Dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion" Frankfurt /Main 26. März 1998 (Stellungnahme der Bundesbank)

27. März

Kabinettsbeschluß über die Konvergenzberichte sowie über die Stellungnahme der Deutschen Bundesbank

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Liesel Hartenstein

Ende März

Zuleitung der Vorlagen an den Deutschen Bundestag und den Bundesrat

2. April

1. Lesung der Regierungsvorlagen im Deutschen Bundestag; Überweisung an sieben (!) mitberatende Ausschüsse

3. April

Öffentliche Anhörung des Finanz- und Europa-Ausschusses mit EU-Währungskommissar Yves-Thibault de Silguy und Bundesbankpräsident Prof. Hans Tietmeyer

4 . - 1 9 . April Osterpause (!) 20. April

Abschließende Beratung der Fraktionen des Deutschen Bundestages

21. April

Schlußberatung des Finanzausschusses

23. April

2. und 3. Lesung in Verbindung mit dem Euro-Einführungsgesetz; Beschlußfassung im Deutschen Bundestag

24. April

Beschlußfassung im Bundesrat

1. Mai

Sondertagung des Ecofin-Rates (Wirtschafts- und Finanzminister der EU) mit Empfehlung über die Teilnehmerstaaten Sondersitzung des Europäischen Parlaments

2. Mai

Festlegung der Teilnehmerstaaten der Währungsunion durch die Regierungschefs der Mitgliedsländer

Wahl des 1. Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) Ein wahrhaft abenteuerlicher Ablaufplan, der den Parlamentariern kaum mehr Zeit zum Atmen ließ, vor allem aber keine Zeit zum Nachdenken. Und diese Zeit wohl auch nicht lassen sollte. Von einer gründlichen Abwägung der Pro- und ContraArgumente und einer nüchtern geführten Debatte konnte keine Rede mehr sein. Hier entschwindet Artikel 38 Grundgesetz, der besagt, daß Abgeordnete "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind, im Dunst vermeintlich übergeordneter Sach- und Fraktionszwänge. Eine maßgebliche Rolle spielte in dem Entscheidungsablauf die Stellungnahme der Deutschen Bundesbank. Darin formulierten die Frankfurter Währungshüter eine Reihe deutlicher Bedenken, vor allem in denjenigen Punkten, in denen die Stabilitätskriterien ganz offensichtlich nicht erfüllt waren, so etwa bei der Verschuldungsquote. Sie weisen ausdrücklich daraufhin, daß "das Schuldenstandskriterium und seine Ausstrahlung auf die Haushaltspolitik in der Konvergenzdiskussion häufig zu Unrecht vernachlässigt worden" sei.6 Auch das Problem der "unionsweit sehr hohen und anhaltenden Arbeitslosenraten" macht den Zentral6

Stellungnahme des Zentralbankrats, a.a.O., S. 17.

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bänkern wegen der möglichen Auswirkungen auf die künftige Stabilitätspolitik Sorge. 7 Dennoch kommen Präsident Tietmeyer und sein Zentralbankrat letztendlich zu dem verblüffenden Ergebnis: "Vor dem Hintergrund der erreichten Konvergenzfortschritte in vielen Mitgliedstaaten und nach Abwägung der noch bestehenden Probleme und Risiken erscheint der Eintritt in die Währungsunion ab 1999 stabilitätspolitisch vertretbar." 8 Damit war der Damm gebrochen, ein Freibrief für eine vorher bereits festgeklopfte politische Entscheidung ausgestellt. Vollmundig hatte die Bundesregierung die Teilnahme Italiens und Belgiens trotz nicht wegzudiskutierender enormer Verschuldungsquoten längst zugesagt. Sämtliche buchhalterischen Manipulationen bei der Erfüllung des 3%-Defizits, an denen sich so gut wie alle Euro-Länder beteiligt hatten, wurden pauschal für rechtens erklärt. Der EU-Währungskommissar Thibault de Silguy verstieg sich bei der Anhörung am 3. April sogar zu der Behauptung, alle elf vorgeschlagenen Teilnehmerländer erfüllten die Anforderungen einer dauerhaften Konvergenz. Wie lautete doch die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 2. Dez. 1992? Die Entscheidung, so in Drucksache 12/3906, "darf sich nicht an Opportunitätsgesichtspunkten, sondern muß sich an den realen ökonomischen Gegebenheiten orientieren." Hier muß gefragt werden, wie ernst das Parlament seine eigenen Beschlüsse nimmt. Vergeblich beschwor der Bundesbankpräsident in der bereits erwähnten Anhörung vom 3. April noch einmal die "emsthaften Besorgnisse" des Zentralbankrats und rechnete den hoch verschuldeten Teilnehmerstaaten Italien und Belgien vor, daß sie künftig pro Jahr 6 % Haushaltsüberschüsse erwirtschaften müßten, um in die Nähe des Referenzwertes zu kommen, und dies 10 Jahre lang; vergeblich beteuerte er, die Aussage seines Hauses, der Beginn der Währungsunion erscheine "stabilitätspolitisch vertretbar", sei nicht gleichbedeutend mit einer Zustimmung zur Mitgliedschaft aller potentiellen Teilnehmerkandidaten - die offizielle Politik griff gleichwohl gierig nach der dargereichten weißen Weste und zog sie sich über. IV. Politische Tabus sind Ausdruck von Schwäche. Wer die offene Debatte, den freien Austausch von Meinungen zu unterbinden versucht, der fürchtet die Niederla-

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Stellungnahme des Zentralbankrats, a.a.O., S. 12. Stellungnahme des Zentralbankrats, a.a.O., S. 20.

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ge.9 Die Tabuisierung des Themas, und erst recht die gewaltsame Tabuisierung des Zeitplans, verstärkt die Vermutung, daß eben das verhindert werden sollte, wozu sich das Parlament sechs Jahre zuvor feierlich verpflichtet hatte: nämlich eine nüchterne, ehrliche, mit Sorgfalt durchgeführte Prüfung der Einhaltung aller Maastricht-Kriterien, bevor grünes Licht zum Euro-Start gegeben wurde. Noch im Oktober 1997 hatte der Bundesbankpräsident eindringlich darauf hingewiesen, daß der Maastricht-Vertrag "vor den Beginn der EWWU ausdrücklich ein Prüfverfahren 'Land für Land'" gesetzt habe.10 Kann schon die Tolerierung einer überstürzten Beschluß-Prozedur im Deutschen Bundestag nicht gutgeheißen werden, denn sie rührt an das Selbstverständnis des Parlaments, so ist aus demokratischer Sicht der versäumte Bürgerdiskurs ein noch gravierenderes Manko. Denn wo der Eindruck erweckt wird, eine öffentliche Diskussion sei gar nicht gewollt, da stellt sich sofort die prinzipielle Frage nach dem Demokratieverständnis. Wenn die Politik sich dergestalt der Auseinandersetzung mit den Bürgern verweigert, und zwar der Auseinandersetzung über ein existentielles Problem, das jeden und jede betrifft - so wie es im Falle der Währungsunion geschehen ist -, und dies über Jahre hinweg, dann ist das Demokratieverständnis in seinem Kern berührt. Eine offene und öffentliche, breit angelegte Debatte, die alle Aspekte der Währungsunion, also sowohl die Chancen als auch die Risiken, rückhaltlos dargestellt hätte, wurde zwischen 1992 und 1997 nicht geführt. Dieses Versäumnis ist nicht entschuldbar. Wer das Argument ins Feld führt, auch der Bürger habe diese Debatte nicht verlangt, sucht die Wahrheit zu verschleiern. Denn zum einen hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom Oktober 1992 den Start-Termin 1. Januar 1999 keineswegs als zwingend, sondern lediglich als "Vorgabe" interpretiert, zum zweiten lagen die Entschließungen der verantwortlichen Gremien Bundestag und Bundesrat vor, welche strikte Einhaltung aller Kriterien versprachen und damit Beruhigung suggerierten, und zum dritten obliegt die Verpflichtung zur Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger eindeutig der Politik. Sie hat dieser Verpflichtung von sich aus nachzukommen. Da der Mangel an Akzeptanz bei der Bevölkerung bereits 1992 bei der Maastricht-Ratifizierung erkennbar war, hätte ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden, um diesen öffentlichen Bürgerdiskurs in aller Breite zu führen. Nicht umsonst hatte Bundesfinanzminister Waigel bei der Debatte im Herbst 1992 versprochen, es werde eine umfassende öffentliche Information geben, um, so wörtlich, "Ablehnung zu überwinden". Und Graf Lambsdorff warnte nahezu prophetisch: "Der Weg nach Europa zur Wirt9

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Vgl. Hans-Ulrich Jorges: Der Kampf um den Euro, Wie riskant ist die Währungsunion? Hamburg 1998, S. 13. Tietmeyer. Währungspolitik und europäische Integration, Vortrag in Karlsruhe am 13.10.1997, S. 13.

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schafts- und Währungsunion und zur Politischen Union darf nicht gegen die Bürger, sondern muß mit ihnen gegangen werden." Auch er forderte eine "viel breiter angelegte Aufklärungskampagne. Es muß wesentlich mehr getan werden als bisher."'! 1992! Genau dies ist jedoch nicht geschehen. Statt Aufklärung und öffentlicher Diskussion wurden Millionen buntfarbiger Hochglanzbroschüren unters Volk gestreut, die allesamt die Vorteile des Euro kritiklos priesen, ohne die Risiken auch nur annähernd sachgerecht zu benennen. Soweit diese Materialien nicht vom Bundesfinanzministerium direkt oder vom Bundespresse- und -informationsamt stammten, waren es reine Werbeschriften der Großbanken, Versicherungen und großen Industrieverbände. Eine Propagandakampagne ersetzt aber gerade nicht den erforderlichen öffentlichen Diskurs, mit interessengesteuerten Werbeslogans "Der Euro spricht deutsch" (Bundesfinanzminister Waigel) werden die Fragen der Bürger nicht beantwortet, die Ängste nicht ausgeräumt. Denn die sind existentieller Natur. Wer auch immer die Entfremdung zwischen Bürgern und Politik beklagt - hier ist ein Negativexempel statuiert worden. Es hat einen kräftigen Keil zwischen Bevölkerung und politische Klasse getrieben und dem Vertrauen in das repräsentative demokratische System sicher nicht genutzt. Nur so konnte letztendlich die groteske Situation eintreten, daß eine fundamentale Entscheidung gegen den Willen von nahezu 80 % der Bevölkerung unseres Landes getroffen wurde. So geschehen am 23 April 1998 im Deutschen Bundestag. Und bestätigt durch die Mehrheit des Bundesrates am 24. April 1998. Vergeblich hatte Vizepräsident Burkhard Hirsch gewarnt: "Man darf mit dem Vertrauen der Wähler nicht spielen."12 Und der sächsische Ministerpräsident, Prof. Biedenkopf, predigte ebenfalls tauben Ohren, als er in seiner Rede im Bundesrat am 24. April erklärte, das Verhalten der Länderkammer sei "völlig unvereinbar mit dem, was wir im Dezember 1992 der Bevölkerung versprochen haben zu tun."13 V. Die Zustimmung zur Einführung des Euro bedeutet gleichzeitig die Abschaffung der DM, die 50 Jahre lang das Markenzeichen für Wiederaufbau und Wohlstand war und die eng mit dem wiedergewonnen Selbstbewußtsein der Deutschen ver11 12 13

Prot, des Deutschen Bundestages 110. Sitzung, 8. Okt. 1992, S. 9337. Hans-Ulrich Jorges, a.a.O. S. 163. Prot, des Bundesrates, 724. Sitzung, 24. April 1998, S 197.

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bunden ist. Die DM hat auch Ost und West rascher zusammengebunden, als es sonst zu erwarten gewesen wäre. Wenn nun darüber entschieden werden soll, ob wir die eigene Währung aufgeben und in eine europäische Währungsunion eintreten, dann wäre eigentlich das angemessene Instrument dafür ein Volksentscheid gewesen. Diese Möglichkeit, wie sie den Dänen, Briten, Schweden und Österreichern offensteht, sieht unser Grundgesetz bedauerlicherweise nicht vor. Es rächt sich jetzt bitter, daß bei der Verfassungsreform im Jahre 1994 die damalige Regierungsmehrheit aus CDU/CSU und FDP die Aufnahme plebiszitärer Elemente ins Grundgesetz abgelehnt und einen entsprechenden Antrag der SPD-Fraktion in den Papierkorb verwiesen hat. Daß dieses Thema gleichwohl ein außerordentliches öffentliches Interesse findet, zeigt die Tatsache, daß dazu mehr als 266 000 Eingaben erfolgten. Kein anderes Thema, das bei der Verfassungsreform zur Debatte stand, hatte eine solche Resonanz. Die direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger durch Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid würde unser repräsentatives System sinnvoll ergänzen. Der Volksentscheid ist zwar in den meisten Kommunalverfassungen und in vielen Landesverfassungen verankert, so in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Schleswig-Holstein sowie in den Verfassungen aller neuen Bundesländer, aber auf Bundesebene ist er den Menschen in Deutschland verwehrt. Wenn irgendwo, dann wäre die Frage, ob die Bundesrepublik in die europäische Währungsunion zum jetzt geplanten Zeitpunkt eintreten solle, das zentrale Thema gewesen, über das die Bevölkerung selbst hätte entscheiden müssen. Eben deshalb, weil alle Betroffene sind. Nur: sie wurden nicht gefragt. Über die Bedeutung einer gemeinsamen europäischen Währung kann kein Zweifel bestehen. Sie ist - nach der Vollendung des Binnenmarkts - ein historischer Schritt zu einer weiteren Integration und damit zu einer gemeinsamen europäischen Zukunft. Von der Notwendigkeit und Richtigkeit eines geeinten Europa war ich, die ich noch Kriegs- und Nachkriegszeit kennengelernt habe, seit der Katastrophe von 1945 unverändert überzeugt. Die Frage kann allein sein, ob der Schritt zur Währungsunion jetzt zum richtigen Zeitpunkt und unter den richtigen Bedingungen vollzogen worden ist. Sollte das Projekt scheitern, dann wäre mehr beschädigt als nur eine Währung. Dann könnte auch die europäische Idee unter den Trümmern begraben werden. Das darf nicht geschehen. Das Schicksal des Euro wird sich in den Augen der Bürger, jedenfalls in der Bundesrepublik, an zwei Fragen entscheiden: erstens an der Frage der Stabilität, also an der Erhaltung des Geldwerts und damit des Lebensstandards, und zweitens an der Frage nach den Arbeitsplätzen. Viel zu lange wurde den Menschen in die Ohren geblasen, der Euro bringe mehr Wachstum und schaffe neue Arbeitsplätze. Erst in letzter Minute gab der damalige Bun-

Das Wagnis Euro - kein Bravourstück der Demokratie

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deskanzler Helmut Kohl zu, der Euro löse unsere Arbeitsmarktprobleme nicht. Diese Einsicht kam zu spät. Viele Stimmen, die zur Besonnenheit mahnten, wurden in den Wind geschlagen, wenngleich das Risiko mit Händen zu greifen war. Allein der verschärfte Wettbewerb und der - gewollte! - direkte Preis- und Kostenvergleich fuhren dazu, daß die Hochlohnländer schlechte Karten haben werden. Von der fehlenden Harmonisierung der Steuer- oder gar der Sozialpolitik erst gar nicht zu reden. Weitere Arbeitsplatzverluste würden Ostdeutschland ganz besonders hart treffen, das eh schon unter hohen Arbeitslosenquoten leidet. Schon 1996 hatte Bundesbankpräsident Tietmeyer ebenso eindringlich wie vorsorglich gewarnt: "Eine unsolide Währungsunion würde bei uns Beschäftigung nicht sichern, sondern gefährden."14 Niemand unter den politischen Entscheidungsträgern wollte daraufhören. Fast 20 Millionen Arbeitslose in der EU sind eine gewaltige Herausforderung. Deshalb ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit heute die Hauptaufgabe aller Politik. Wird diese Aufgabe nicht geschultert, dann könnte am Ende vieles in Gefahr geraten. Auch unsere Demokratie. In einem vielbeachteten Vortrag, den der frühere Verfassungsrichter ErnstWolfgang Böckenförde am 19. Juni 1997 in München gehalten hat, führt er aus: "Eine Ordnung des stabilen Geldes aufzurichten und diese Ordnung den Einwirkungen der Politik zu entziehen, entspricht für Deutschland einer Tradition, die aus der Erfahrung zweier Geldentwertungen hohe Akzeptanz hat. " Im Geldwesen eines Volkes spiegle sich, so legt Böckenförde mit Bezug auf Joseph A. Schumpeter dar, "was dieses Volk tut, will, erleidet, sein gesamtes politisches und soziales Geschehen wie auch seine mentalen Gegebenheiten." Weil dies so ist, sei es schon deshalb "ein waghalsiges Experiment, Geld- und Währungspolitik isoliert, losgelöst von anderen Politkbereichen zu vergemeinschaften, so als ob sie von gesamtpolitischen Gegebenheiten im Sinne eines technisch-funktionalen Konstrukts abstrahierbar wäre".15 Alle großen Entwicklungen auf unserem Kontinent gehen nur noch europäisch oder sie gehen gar nicht. Ein weicher Euro, der ins Schleudern gerät, wäre ebenso fatal wie ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit. In beiden Fällen könnte es zu einer Entsolidarisierung der europäischen Staaten kommen. Dies darf nicht eintreten. Damit wird die Währungsunion zum Prüfstein für die Integrationskraft und den Integrationswillen von mehr als 370 Millionen Europäern. Es bleibt zu hoffen, daß der alte Kontinent seine Prüfung besteht.

14

15

Prof. Dr. Hans Tietmeyer: Europäische Integration und Währungsunion, Rede in der Friedrich-EbertStiftung, Bonn, 26. Sept. 1996. Emst-Wolfgang Böckenförde: Welchen Weg geht Europa? Carl Friedrich von Siemens-Stiftung Themen, Band 65, S. 32/33.

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Liesel Hartenstein

"Europa hat eine einzigartige Zukunftschance: ein Modell zu entwickeln, das humane Gesellschaften zu einem Ökologie- und sozialverträglichen Organismus zusammenfuhrt. Dieses Ziel ist jede Anstrengung wert. Aber dazu braucht man die Menschen. Man muß sie dafür gewinnen und - wenn möglich - dafür begeistern."16 Möge das Wagnis Euro nicht dazu führen, daß diese Chance verbaut wird.

16

Liesel Hartenstein MdB: Rede im Deutschen Bundestag am 23. April 1998; Prot, der 230. Sitzung, S. 21 103 C.

Währungsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Staibatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Die Erosion von Maastricht RolfH. Hasse I.

Paradigmenwechsel

Die wissenschaftliche Kritik an der Realisierung des Vertrages von Maastricht durch die nationalen Regierungen und die Entscheidungen der Gemeinschaftsinstitutionen war in Deutschland besonders ausgeprägt. Der so repräsentierte Sachverstand beeinflußte den Entscheidungsprozeß jedoch kaum, er wurde ob der skeptischen bis ablehnenden Haltung vielmehr heftig gescholten. Nachdem am 2./3. Mai 1998 der Europäische Rat die Entscheidung getroffen hat, daß elf Mitgliedstaaten gemäß Artikel 109j EGV reif seien, eine gemeinsame Währung einzuführen, steht fest, daß die Europäische Währungsunion (EWU) am 1. Januar 1999 beginnt. Mit dieser Entscheidung erlahmte in vielen Ländern zusehends der politische Wille, die wirtschaftliche Konvergenz fortzusetzen. Nach dem politischen Wechsel in Bonn hat sich die wirtschaftspolitische Landschaft tiefgreifend verändert. Nach Abschluß des Vertrages von Amsterdam wurde die Frage aufgeworfen, ob die Aufnahme des Beschäftigungszieles, die Einführung eines eigenen Beschäftigungskapitels und die Gründung eines eigenen, im Vertrag verankerten Beschäftigungsausschusses die wirtschaftspolitische Konzeption von Maastricht verändere. 1 Ferner wurde geprüft, ob für die EWU Probleme entstehen könnten, weil die wirtschaftspolitischen Auffassungen in den einzelnen Mitgliedstaaten, vor allem zwischen Frankreich und Deutschland, gravierende Unterschiede aufwiesen. 2 Der politische Wechsel in Bonn bringt nun die Frontlinien durcheinander. Er wirkt geradezu wie ein Schock auf die bisherigen Vorstellungen über die wirtschafte- und währungspolitische Integration. Es handelt sich von deutscher Seite um einen doppelten Schock: um einen wirtschaftspolitischen und um einen politischen Schock. Der wirtschaftspolitische Schock rührt aus dem Bestreben des deutschen Finanzministers her, die wirtschaftliche Konvergenz zu relativieren, indem der Vorrang der Preisstabilität und der Budgetkonsolidierung in Frage gestellt wird. Es 1

2

Vgl. Hasse, Rolf, Achim Wolter, Gemeinsame Beschäftigungspolitik: Überfallig oder überflüssig? Zeitgespräch: Der Vertrag von Amsterdam, in: Wirtschaftsdienst, Nr. 7, 1997, S. 386 - 389. Brussels' Initiative, Convergence-Coherence-Adjustment, Occasional Papers, Brüssel 1998. Zu beziehen über: Konrad-Adenauer-Foundation, Office for European Relations, Ave. de l'Yser 11, B1040 Brussels.

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Rolf H. Hasse

wird ein Wechsel der Wirtschafts-, Budget- und Geldpolitik in Richtung einer stärkeren Expansion gefordert, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stärken und die Beschäftigung zu fördern. Die bisherige Stabilitätspolitik wird in die Nähe einer Deflationspolitik gerückt. Der politische Schock ist gravierender und möglicherweise nachhaltig negativer für den Integrationsprozeß. Eine expansive Ausrichtung der Wirtschafts-, Budgetund Geldpolitik wird propagiert, ohne explizit die rechtlichen Vorgaben der Verträge von Maastricht und Amsterdam zu beachten; sie werden sogar teilweise mißachtet. Dieser politische Paradigmenwechsel ist am nachhaltigsten daran zu erkennen, daß die maßgeblich politisch Verantwortlichen im Finanzministerium die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank und damit der Europäischen Zentralbank offen und politisch gewollt angreifen. Dies unterminiert die Stabilitätsbedingungen des Integrationszieles „ E u r o p ä i s c h e Wirtschafts- und Währungsunion". Die subtile und offene Unterhöhlung der Wirtschafts- und Währungsverfassung von Maastricht, der frontale Angriff auf die kodifizierte Zielsetzung für die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) sowie die offizielle persönliche Diskreditierung des Bundesbankpräsidenten und der deutschen Geldpolitik als „vordemokratische, absolutistische Politik"3 sind eine neue politische Dimension - wahrlich ein Paradigmenwechsel der deutschen Politik.

II.

Die Konzeption von Maastricht

Der Vertrag von Maastricht hat das Assignment-Problem der Währungs- und Wirtschaftspolitik institutionell unterschiedlich geregelt. Die Zielprioritäten sind nicht symmetrisch, aber keinesfalls konträr gestaltet worden. Für die „währungspolitische Konvergenz" wurde eine zentralisierende Lösung gewählt. Die Geldund Wechselkurspolitik wird auf der Gemeinschaftsebene und damit zentral entschieden. Für die „wirtschaftspolitische Konvergenz" wurde eine stark dezentrale Option bevorzugt: „Die Mitgliedstaaten betrachten ihre Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse und koordinieren sie im Rat nach Maßgabe des Artikel 102a" (Art. 103 Abs. 1 EGV). Da die Wirtschaftspolitik prinzipiell unter nationaler Souveränität verbleibt, sind die ordnungspolitischen Leitlinien und Koordinierungsverfahren von besonderem Interesse. Die Hauptaktionsfelder der Wirtschaftspolitik sind der Güter- bzw. der Binnenmarkt und die Arbeitsmärkte. Prinzipiell kann man zwei Alternativen zur Gestaltung der Anpassungsprozesse unterscheiden: 3

Noè, Claus, Geld ist Politik, Die Zeit, Nr. 45, vom 29. Oktober 1998.

Die Erosion von Maastricht

61

Den funktionellen Ansatz: Anpassungen an Veränderungen erfolgen durch Preis- und Mengenreaktionen auf dem Markt; der Staat unterstützt diese Anpassungsmechanismen durch eine marktorientierte Politik; den staatlich-kompensatorischen Ansatz: Hierbei wird davon ausgegangen, daß die Anpassung über die Märkte nicht ausreichend gelingt oder zu lange dauert; der Staat interveniert, um existierende oder politisch definierte Ungleichgewichte auf den Märkten zu beheben. Der Vertrag von Maastricht enthält eine Priorität zugunsten des Marktansatzes. Vier Aspekte stützen diese These: Die explizite ordnungspolitische Ausrichtung der Wirtschafts- und Währungspolitik, die Beschränkungen des staatlich-kompensatorischen Ansatzes, die direkten vertraglichen Vorgaben für den Ministerrat und schließlich die Ausrichtung der Konvergenzkriterien und die Umkehrung der Prinzipien für den Kapitalverkehr (Konvertibilität als Norm). Der Vertrag kodifiziert diese Elemente der europäischen Wirtschaftsverfassung wie folgt: •



Der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" ist für die Wirtschaftspolitik eine direkte Verpflichtung (Art. 3a Abs. 1). In den entsprechenden Artikeln zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik (Art. 102a und 103) wird diese ordnungspolitische Leitlinie wiederholt und auf alle Träger der Wirtschaftspolitik in der EU erweitert: „... Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird, und halten sich dabei an die in Artikel 3a genannten Grundsätze". Eine identische Formulierung wird für den Träger der gemeinschaftlichen Geldpolitik - das ESZB - in Art. 105 Abs. 1 formuliert sowie in Art. 2 des „Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank". Zusätzlich zur Aufforderung, die „allgemeine Wirtschaftspolitik" zu unterstützen, enthalten beide erwähnten Artikel einen Passus mit gleichem Wortlaut, der als eigenständige Politikorientierung zu bewerten ist: „Das ESZB handelt im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird, und hält sich dabei an die im Artikel 3a dieses Vertrages genannten Grundsätze." Dadurch wird der Grundsatz bekräftigt, der in der Neufassung des Kapitels 4 des EU-Vertrages „Der Kapital- und Zahlungsverkehr" kodifiziert worden ist: „Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten." (Art. 73b) Dieses Beschrän-

Rolf H. Hasse

kungsverbot bindet neben dem ESZB auch und vor allem die politischen Entscheidungsträger in der Wechselkurs- und Kapitalverkehrspolitik. Hervorgehoben werden muß, daß die Einfügung des Beschäftigungszieles in den EU-Vertrag die Ausrichtung der Wirtschafts- und Währungspolitik prinzipiell unberührt läßt. Der Bezugsartikel für die Wirtschaftspolitik - Artikel 3a - bleibt unverändert, lediglich Artikel 2 und Artikel 3 erfahren eine Ergänzung um das Beschäftigungsziel. Eine indirekte Bekräftigung des Marktansatzes ist in den Regelungen zu sehen, die auf nationaler Ebene und auf Gemeinschaftsebene den staatlichkompensatorischen Ansatz einschränken. Hierzu kann gezählt werden: auf der Gemeinschaftsebene die „no bail-out-Regel" des Artikel 104b sowie der sehr enge Rahmen für einen finanziellen Beistand (Artikel 103a) mit seiner doppelten Konditionierung; auf der nationalen Ebene die Budgetkriterien des Artikel 104c, die durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt und seine Verordnungen konkretisiert worden sind. Neben den Obergrenzen schließt die Zielsetzung der Konsolidierung und „gesunder öffentlicher Finanzen" auch Überschüsse ein, um die Verschuldungsquote nachhaltig zu drücken. Eine weitere Ebene, die die breite Verankerung des Marktansatzes im Vertrag von Maastricht und damit für die EWU dokumentiert, sind die Vorgaben, die dem Ministerrat und den Mitgliedstaaten für ihre wirtschafts- und währungspolitischen Entscheidungen gesetzt werden. Der Ministerrat hat bei seinen wirtschafts- und währungspolitischen Entscheidungen nicht nur die Grundsätze der Art. 3a und 103 zu beachten; er wird zusätzlich und direkt auf die Ziele „Preisstabilität" und „gesunde Finanzen" verpflichtet: in Art. 109 Abs. 1 und 2 für die Wechselkurspolitik, bei der die Entscheidungen „in dem Bemühen (stehen müssen), zu einem mit dem Ziel der Preisstabilität im Einklang stehenden Konsens zu gelangen". Noch deutlicher in die Wirtschafts- und Budgetpolitik reicht der Art. 109e, in dem nicht nur die einzelnen Mitgliedstaaten auf „die für die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion notwendige dauerhafte Konvergenz, insbesondere hinsichtlich der Preisstabilität und gesunder öffentlicher Finanzen" (Art. 109e Abs. 2 lit. a) verpflichtet werden. Auch dem Ministerrat werden dieselben Grundsätze als Prüfungskriterien vorgegeben (Art. 109e Abs. 2 lit b). Die Konvergenzkriterien und die Überwachungsaufgaben auf der Gemeinschaftsebene ergänzen den dezentralen Ansatz. Auch wenn die primäre Verantwortung für die Wirtschaftspolitik auf der nationalen Ebene belassen wird, werden Vorgaben formuliert, die als Anpassungsprozesse den Marktansatz

Die Erosion von Maastricht

verlangen und eine nationale und gemeinschaftliche Politik kompensatorischer Interventionen ausschließen.

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staatlich-

Als Zwischenfazit kann man festhalten: Der Vertrag von Maastricht hat bewußt unterschiedliche Lösungen gewählt für die „währungspolitische Konvergenz" und die „wirtschaftspolitische Konvergenz". Für beide Bereiche wurden aber einander entsprechende Grundsätze und Ziele formuliert.

III.

Der Vertrag von Amsterdam: Ergänzung oder Veränderung der Konzeption von Maastricht?

Der Gipfel von Amsterdam hat im Bereich der „wirtschaftspolitischen Konvergenz" zwei Ergebnisse gebracht, deren rechtliche und ordnungspolitische Qualität sehr unterschiedlich ist: Es wurde ein Stabilitäts- und Wachstumspakt beschlossen; es wurde das Ziel der Beschäftigung besonders betont in den Vertrag aufgenommen und eine eigene Beschäftigungskommission geschaffen. Gilt die Konzeption von Maastricht noch? Der Stabilitäts- und Wachstumspakt kann im Sinne einer Kontinuität der Maastrichter Konzeption interpretiert werden. Er will staatlich-kompensatorische Strategien der Wirtschafts- und Budgetpolitiken der Mitgliedstaaten weiter einschränken. Skeptisch muß man das Beschäftigungskapitel beurteilen. Auf der Gemeinschaftsebene zeichnet sich nach dem Sondergipfel in Luxemburg (November 1997) und dem Treffen des Europäischen Rates in Wien (12./13. Dezember 1998) eine zunehmende Neigung ab, staatlich-kompensatorische Politiken auf der Gemeinschaftsebene und in den Mitgliedstaaten einzusetzen. Eine Strategie, die Arbeitsmärkte ähnlich wie die Gütermärkte (Binnenmarkt '92) zu flexibilisieren, ist nicht nur nicht zu erkennen, sie wird politisch sogar ausgeklammert. Vor allem die Vorschläge zur Umgehung der Budgetkriterien, die mit dem Ziel der Beschäftigungsförderung verbunden werden, weisen in diese Richtung.

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Rolf H. Hasse

IV.

Die Europäische Investitionsbank (EIB) als trojanisches Pferd

Die EEB wird in den Mittelpunkt der Aktivitäten des Europäischen Rates gerückt, um beschäftigungspolitische Aktivitäten einzuleiten. Auch der Vorschlag des ehemaligen Ministerpräsidenten von Italien, R. Prodi, die Währungsreserven für die Finanzierung der Beschäftigungspolitik zu nutzen, stützte sich auf das Vehikel EIB. Es wird kaum ein Zufall sein, daß er erst nach dem Wahlsieg der SPD veröffentlicht worden ist. Die Konzentration auf die EIB bzw. auf den „Umweg" über die EBB frappiert. Die politischen Vorteile sind vielfältig. Der wichtigste ist, daß die EIB nicht von Artikel 104c und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt erfaßt wird. Sie kann und soll als Verschiebebahnhof für Aktionen eingesetzt werden, die aufgrund der Budgetrestriktionen nicht über die nationalen Staatshaushalte finanziert werden können. Im Falle einer gemeinschaftlichen Beschäftigungspolitik mit Hilfe der EIB lassen sich zusätzlich folgende Vorteile realisieren: Die Kommission wird diesem Verfahren zustimmen, weil es eine Gemeinschaftsaktion ist und sie darin einen weiteren Schritt sehen kann, die Gemeinschaftsanleihe als eigene Finanzierungsquelle durchzusetzen; die Nutznießer des Kohäsionsfonds, dessen Fortbestand nach dem Eintritt der Mittelmeerländer in die Währungsunion gefährdet ist, können sich mit dieser Politik anfreunden, da die hier entstehende Alternative eine Fortsetzung sowohl der Programme als auch des Mittelzuflusses ermöglichen könnte. Es besteht also eine große politische Koalition, deren Ziele keineswegs identisch sind. Auch bei dem Vorschlag, die Beschäftigung mit Hilfe der Währungsreserven anzuregen, den der damalige italienische Ministerpräsident R. Prodi Ende September 1998 vortrug4, dient die EIB als Vehikel. Er will zwei Elemente verbinden: ein Beschäftigungsprogramm und eine „EU-Wirtschaftsregierung". So kann man zweierlei versuchen: Die materielle Aushöhlung der fiskalischen Konvergenzkriterien und die Durchsetzung einer nachfrageorientierten, staatlich-kompensatorischen Wirtschaftspolitik. Beide Teile erodieren das Konzept von Maastricht. Die wichtigsten Aspekte des Prodi-Vorschlags werden im folgenden skizziert. Sie zeigen, wie groß die Bereitschaft ist, das Konzept von Maastricht zu unterlaufen. Die Bildung der EWU wirft die Frage auf, ob nicht die zusammengefaßten Währungsreserven aller EWU-Mitgliedstaaten zu hoch sind. Dies ist aber in erster Linie abhängig von der Wahl des Wechselkursregimes. Je größer die Präferenz 4

Vgl. La Stampa, 29. September 1998, S. 5.

Die Erosion von Maastricht

65

zugunsten eines Festkurssystems ist, desto höhere Bestände an Währungsreserven sind erforderlich. Wenn man zu der Auffassung gelangt, die gesamten Währungsreserven seien zu hoch, ist damit nur eine Voraussetzung für einen Abbau erfüllt. Weitere Punkte sind zu klären. Wie werden die nationalen Währungsreserven abgebaut (proportional, asymmetrisch)? Welche Arten der Währungsreserven werden abgebaut? Die Sonderziehungsrechte können aufgrund der besonderen Rechtsverhältnisse ebenso wenig eingesetzt werden wie die Ziehungsrechte oder die Goldtranche beim IWF. Der Verkauf von Goldreserven ist nur ertragreich, wenn er zeitlich gestreckt wird; dadurch ist der Einsatz dieser Reserveart ungeeignet für konjunkturelle, d.h. auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogende Maßnahmen. In das Blickfeld geraten daher die Devisenreserven, speziell die Dollarreserven. Zuerst einmal muß formal die Frage geklärt werden, wer Eigentümer der Devisenreserven ist - die Zentralbank oder die Regierung. Neben diesem eher juristischen Aspekt ist der materielle geldpolitische von größerer Bedeutung. Man hört das Argument, die Auflösung der Währungsreserven sei lediglich ein Aktivtausch, der die Passivseite und somit die Zentralbankgeldmenge nicht verändere; daher seien die Geldemission und damit die Unabhängigkeit der Zentralbank nicht beeinträchtigt. Hierin liegt ein schwerwiegender Denkfehler. Aktiv- und Passivseite sind in der Zentralbankbilanz komplementär. Wer das Dispositonsrecht über die Aktivseite (in Struktur und im Volumen) verliert, verliert auch die Gestaltungsmöglichkeit über die Passivseite - direkt und/oder indirekt. Für die Aktivseite werden „Ersatzaktiva" für die Währungsreserven benötigt. Private Aktiva fallen vollständig aus. Neue Staatspapiere darf das ESZB gemäß Artikel 104 nicht entgegennehmen, alte Staatspapiere können die Regierungen nicht anbieten. Staatspapiere sind also aus zwei Gründen keine Option: Einmal aufgrund Artikel 104 und aufgrund des Artikels 104c in Verbindung mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt. In diesem Dilemma wirkt die EIB wie der „deus ex machina" - in Wirklichkeit aber wie ein trojanisches Pferd. Sie wird von den Budgetrestriktionen des Maastrichter und Amsterdamer Vertrages nicht erfaßt. Wenn die EIB also die Währungsreserven gegen eigene Schuldverschreibungen übernimmt, ist der Maastrichter/Amsterdamer Vertrag formal nicht verletzt. Wir wirkt aber ein zusätzlicher Impuls seitens der EIB? Gibt es so viele öffentliche Infrastrukturprojekte oder private Investitionen, die aufgrund eines Mangels an Finanzmitteln nicht realisiert worden sind? Diese keynesianische Annahme hat bisher noch niemand gemacht. Wenn dagegen die EIB die Mittel zu günstigen Zinskonditionen in die Märkte schleust, dann haben diese Maßnahmen ein Sub-

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Rolf H. Hasse

ventionselement und beeinträchtigen die Geldpolitik und dadurch direkt auch die verbriefte funktionelle Unabhängigkeit der EZB/des ESZB. Der Vertragskonflikt wäre gegeben. Soll auf diesem Wege die Zinssenkungspolitik durchgesetzt werden, ohne formal die Unabhängigkeit der EZB/des ESZB anzugreifen? Dabei sind Portofolioaspekte und Wechselkursreaktionen noch nicht berücksichtigt. Ebenso bleibt unberücksichtigt, wie der Umtausch der Dollarreserven in den USA abgewickelt wird, welche Zins- und Wechselkurseffekte dort eintreten können.5

V.

Eine Zwischenbilanz

In der Geschichte der europäischen Integration gibt es keinen Präzedenzfall, indem so massiv von einer zuvor verhandelten und kodifizierten Politik abgewichen werden soll. Weder Frankreichs Politik des leeren Stuhls in den 60er Jahren noch die Budgetverhandlungen der Regierung Thatcher reichen in die Nähe dieses Paradigmenwechsels. In Deutschland gibt es ebenfalls keine Vorläufer - vor allem nicht in den Positionen über die EWU und die Wirtschafts- und Währungspolitik. Die „ökonomistische" Position galt seit dem „Werner-Bericht" nahezu unverändert. Sie hat sich als ökonomisch tragfähige Strategie am Markt und über den Vertrag von Maastricht auch in der Politik durchgesetzt. So schien es wenigstens. Um so erstaunlicher, daß der nachhaltigste Vertreter dieser Integrationskonzeption - Deutschland - nun eine Kehrtwendung einleitet, obwohl die rechtlichen Grundlagen dem entgegenstehen. Also wird die Methode der schrittweisen Umgehung und Aushöhlung selber praktiziert. Wo wird Protest laut? Sollte diese Strategieänderung gelingen, sind sogleich Irritationen und längerfristig Entwicklungen zu befürchten, die von den Intentionen des EU-Vertrages für die EWU abweichen. Die zu erwartende voluntaristische Lenkungspolitik wird sich in Opposition zu den internationalisierten Güter- und Finanzmärkten stellen. „Macht oder ökonomisches Gesetz", der alte von Eugen von Böhm-Bawerk skizzierte Konflikt, wird die Politik beherrschen. Krisenhafte Entwicklungen sind vorprogrammiert Man sollte sich nicht der Täuschung hingeben, daß die 1998/1999 günstigen konjunkturellen sowie monetären Bedingungen ein Dauerzustand seien. Die Sonderfaktoren (Verbesserung der Terms of trade, Rohstoffpreisverfall, Ölpreise auf dem Niveau von Dezember 1974, günstige asynchrone Konjunkturverläufe in Europa und den USA) verlieren bereits an Kraft; die EU-Mitgliedstaaten werden sich bald 5

Vgl. Hasse, Rolf, Politische Attacken auf Maastricht - Elemente eines Wechsels der Paradigmen in Politik und Wirtschaftspolitik, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Heft 3, 1998 (im Druck).

Die Erosion von Maastricht

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mit ungünstigen Entwicklungen konfrontiert sehen. Eine staatlich-kompensatorische Politik wird sich dann als ein Integrationshemmschuh herausstellen, eine Abkehr vom Konzept von Maastricht ist sie ohnehin.

Währungsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion Gunnar Heinsohn

und Otto

Steiger

„Insbesondere in ihrer Funktion als Geschäftsbank kann sich eine Zentralbank niemals Risiken erlauben, die in keinem Verhältnis zu ihrem Eigenkapital stehen.

I.

Die traditionelle Sicht der lender of last resort responsibility der Zentralbank und ihre blinden Flecken

Daß Zentralbanken ihren Existenzgrund in der lender of last resort responsibility haben, ist weitgehend bekannt. Daß sie diese Funktion aber nur zuverlässig erfüllen können, wenn sie wie eine solide Geschäftsbank arbeiten, wird in der Nationalökonomie nur selten diskutiert. Eine solide Geschäftsbank zu sein, bedeutet ja, daß Kredite nicht nur gegen marktübliche, d.h. gleichgewichtige Zinsen, sondern vor allem auch gegen gute Eigentumstitel der Schuldner als Sicherheiten vergeben werden. Auch eine solide Zentralbank nimmt also selbst in ihrer lender of last resori-Funktion nur solche Geschäftsbanken als Schuldner an, die ihr dafür erstklassige - und darüber hinaus marktfähige - Sicherheiten abtreten müssen. Deshalb wird bei Ausfall solcher Schuldner eine solide Zentralbank jederzeit imstande sein, ihre Banknoten (ihre Passiva) durch Verkauf der ihr verpfändeten guten Sicherheiten wieder aus dem Umlauf zu ziehen. Für den Fall, daß es bei diesem Verkauf zu einem Preisverfall der Vermögenswerte kommen sollte, sorgt sie durch entsprechende Rücklagen vor, oder sie trägt diesem Risiko durch eine relativ niedrige Bewertung ihrer Aktiva Rechnung. Die traditionelle Begründung für die lender of last resort responsibility geht davon aus, daß (i) Geschäftsbanken nur einen Teil des bei ihnen eingezahlten Bargeldes als Reserven halten (fractional-reserve banking) und (ii) daß die Zentralbank die Ausgabe des Bargeldes kontrolliert.2 Der erste Punkt bezieht sich darauf, daß der von Banken als Reserve gehaltene Bruchteil der Depositen oder Sichtguthaben ihrer Einleger deren geschäftsüblichen Abhebungen entspricht, d.h. der Umwandlung von diesen, jederzeit fälligen Forderungen auf Bargeld in Bargeld selbst. Geschäftsbanken können in Zahlungschwierigkeiten geraten bzw. illiquide werden, wenn ihre Einleger - aus welchen 1 2

Vgl. R H . HAWTREY, The Art of Central Banking, London: Longmans,1932, Kap. 4, S. 126. Zum neuesten Stand vgl. T M. HUMPHREY, „Lender of Last Resort", in. D. GLASNER, Hg., Business Cycles and Depressions: An Encyclopedia, New York: Garland, 1997, Sp. 391a-392b

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Gunnar Heinsohn und Otto Steiger

Gründen auch immer - mehr Depositen als üblich in Bargeld umwandeln wollen. Das gesamtwirtschaftliche Problem eines solchen Abzugs besteht nun darin, daß jeder plötzliche Anstieg der Nachfrage nach Bargeld die sogenannte gesamtwirtschaftliche Geldmenge Ml um ein Vielfaches verringert. Unter Ml wird dabei die Summe aus Bargeld und Sichtguthaben verstanden. Die Forschung zum sogenannten Geldmultiplikator hat nun gezeigt3, daß die Banken als Gesamtsystem ein Vielfaches der nicht als Kasse bzw. bar gehaltenen Einlagen ihrer Gläubiger ausleihen können. Die Kredite der Banken sind also nicht einfach auf die Höhe des bei ihnen deponierten Bargeldes abzüglich der Barreservehaltung beschränkt. Sie werden vielmehr durch Multiplikation des ihnen anvertrauten Bargeldes mit der Inversen der Rate Reserven zu Depositen der Banken bzw. - in seiner erweiterten Form - mit der Inversen dieser Rate plus der Rate Bargeldhaltung zu Depositen der Nichtbanken bestimmt.4 Entsprechend führt ein Abziehen von Bargeld - also eine Umwandlung von Sichtguthaben in Bargeld - zu einer Kreditkontraktion um ein Vielfaches dieses Betrages, wobei sich der „Geldmultiplikator" allerdings verringert. Da eine solche Kreditkontraktion leicht zu einer gesamtwirtschaftlichen Kontraktion führen kann, muß die Zentralbank als einziger Bargeldproduzent - und das ist der zweite Punkt der konventionellen Begründung - die Geschäftsbanken mit zusätzlichem Bargeld versehen, so daß Ml sich insgesamt nicht verringert. Da mit der gestiegenen Bargeldhaltung der Nichtbanken der „Geldmultiplikator" geringer geworden ist, werde die zusätzliche Bargeldmenge auch nicht zu einer Erhöhung von Ml - mit dann möglichen Inflationsgefahren - führen. Diese Gefahren würden auch dadurch vermieden, daß das zusätzliche Bargeld nur zu einem „Strafzins" 5 vergeben werde. Das bedeute aber nicht, daß insolvente Banken sich diese Gelder gegen über dem Marktzins liegenden Zinsen besorgen könnten, da es nicht um den Schutz einzelner Banken - oder gar um die öffentliche Absicherung privater Risiken ( m o r a l hazard) - gehe, sondern um die gesamtwirtschaftlichen Gefahren einer monetären Kontraktion.

3

4

5

Zum letzten Stand dieser Forschung vgl. T M. HUMPHREY, „Derivative Deposit Theory of Banking", in: The New Palgrave Dictionary of Money & Finance, London: Macmillan, 1992, Bd. 1, Sp. 643b645a. Sind £=Kredite der Banken, C=Bargeld, das Banken von Nichtbanken erhalten, r=Bargeldreserve/Kredite der Banken und c=Bargelddhaltung/Depositen der Nichtbanken, dann ist der einfache „Geldmultiplikator" gleich Mr, d.h. jede Einheit C, die die Banken von den Nichtbanken erhalten, kann eine um Mr vervielfachte Einheit K an Krediten schaffen: K = [l/(r)] C. Entsprechend ist der erweiterte „Geldmultiplikator" gleich 1 Ir+c und K=[M(r+c)]C. Vgl. T.M. HUMPHREY, „Lender of Last Resort", in: D. GLASNER, Hg., Business Cycles and Depressions: An Encyclopedia, New York: Garland, 1997, Sp. 391a-392b/392a.

Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion

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Das konventionelle Zusammenziehen von Bargeld und Sichtguthaben zur sogenannten Geldmenge Ml verkennt, daß Sichtguthaben bei Geschäftsbanken nur Forderungen auf Bargeld, also einen in Zentralbankgeld denominierten Titel darstellen und eben nicht das nur von der Zentralbank schaffbare Geld selbst, das aus ihren Banknoten und den bei ihr gehaltenen Sichtguthaben besteht. Beim Abziehen von Depositen, d.h. beim Umwandeln der Forderung auf Bargeld in Bargeld selbst, kommt es gesamtwirtschaftlich durchaus nicht zu einer Verringerung der Menge an Zentralbankgeld, sondern von Sichtguthaben bei Geschäftsbanken und damit zu einer Kontraktion ihres Kreditvolumens. Deshalb ist der „Geldmultiplikator" korrekt als Kreditmultiplikator des Geschäftsbankensystems zu bezeichnen. Schwerer wiegt die Unfähigkeit des herrschenden Zentralbankdenkens, eine überzeugende Begründung dafür zu liefern, warum nur solventen Illiquiden Geld, nicht jedoch insolventen Illiquiden solche Liquidität verschafft werden soll. Die Begründung, man wolle ein makroökonomisches Problem - wie die mögliche Kontraktion der Wirtschaft durch Kontraktion der „Geldmenge" - verhindern, nicht jedoch ein mikrökonomisches durch den Schutz einzelner gescheiterter Banken, verschlägt nicht. Mit Recht haben Befürworter eines solchen Individualschutzes vorgebracht, daß auch Zusammenbrüche von einzelnen Insolventen zu ähnlichen Kettenreaktionen führen können.6 Auch der durchaus häufige Verweis auf Walter BAGEHOT, der als - uns noch beschäftigender - Begründer der lender of last resort responsibility auf guten Sicherheiten (good collateral) von zu rettenden Institutionen beharrt hat, bedeutet keineswegs, daß die Rolle solcher Sicherheiten verstanden wäre. Im Gegenteil, man wirft BAGEHOT sogar vor7, daß er keine präzisen Richtlinien für die Unterscheidung solventer von insolventen Institutionen geliefert und obendrein übersehen habe, daß es ein zeitraubender Prozeß sei, diesen Unterschied zu ermitteln. Selbst die Brisanz von BAGEHOTS Hinweis, daß die Zentralbank bei der Bereitstellung zusätzlicher Liquidität die Gefahr von Verlusten unbedingt vermeiden müsse, wird lediglich so ausgedeutet, als ob sie es nicht nötig habe, schlechte Geg

schäfte zu machen. Die wirklichen Gründe für das Einfordern von Sicherheiten werden uns im weiteren zu beschäftigen haben. 6

7

8

Vgl. M D. BORDO, „The Lender of Last Resort. Alternative Views and Historical Experience", in: Federal Reserve Bank of Richmond Economic Review, Januar/Februar 1990, S. 18-27/21. Vgl. etwa G. GARCIA und E. PLAUTZ, The Federal Reserve: Lender of Last Resort, Cambridge/Mass.: Ballinger, 1988, Kap. 5, S. 101. Vgl. T M. HUMPHREY, „The Classical Concept of the Lender of Last Resort", in: Federal Reserve Bank of Richmond Economic Review, Januar/Februar 1975, S. 2-9 / insbesondere 8 f.

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Gunnar Heinsohn und Otto Steiger

II.

Warum eine Zentralbank ihrer Verantwortung als lender of last resort nur gerecht werden kann, wenn sie sich auch wie eine solide Geschäftsbank verhält

In der traditionellen Behandlung der lender of last resort responsibility weiß man zwar, daß nur Zentralbanken Geld produzieren können, es wird aber der Nexus zwischen der Produktion von Sicherheiten und der Produktion von Geld übersehen. Seine Besonderheit liegt darin, daß in einem zweistufigen Bankensystem die Geschäftsbanken kein Geld und die Zentralbanken keine Sicherheiten produzieren können, letztere aber Sicherheiten verlangen, wenn sie den Geschäftsbanken Geld zur Verfügung stellen. Geschäftsbanken können über Sicherheiten - Eigentumstitel aller Art - verfugen, also solvent in dem Sinne sein, daß ihre Verbindlichkeiten ihre Forderungen nebst ihrem Eigenkapital nicht überschreiten, aber dennoch illiquide werden. Die mögliche Illiquidität ist in der Tat dem bereits oben behandelten Umstand geschuldet, daß Banken nur einen Bruchteil der von ihren Gläubigern bei ihnen deponierten Gelder als Kasse bzw. bar halten, während der überwiegende Teil als Sichtguthaben, d.h. als jederzeit fallige Forderungen auf Bargeld bei ihnen steht. Obwohl die Ratio dieses Verhaltens gesehen wird, bleibt sie unthematisiert. Sie liegt darin, daß eine bloße Geldhaltung - anders als das Halten einer Forderung auf Geld - keinen Ertrag bringt. Um dem Zinsanspruch ihrer Gläubiger genügen zu können, müssen die Geschäftsbanken deshalb ihrerseits verzinsliche Forderungen auf Geld produzieren, also Kredit geben bzw. Schuldner finden. Was heißt das? Die Geschäftsbank muß Schuldner, die selbst über gute Sicherheiten verfugen, für den Abschluß eines zu verzinsenden Kreditkontrakts gewinnen. Zusätzlich muß sie in der Lage sein, für diesen Kontrakt mit hinreichendem Eigenkapital zu haften. Eine Geschäftsbank kann nun illiquide werden, aber solvent bleiben, wenn ihre Gläubiger Depositen abziehen, die von der Geschäftsbank vergebenen Kredite aber keineswegs „faul" sind, ihre Schuldner die Forderungen der Geschäftsbank gegen sie also erfüllen können. Das bedeutet nicht nur die Fähigkeit dieser Schuldner zu Zins und Tilgung, sondern auch, daß die von ihnen verpfändeten Sicherheiten keinen Wertverlust erleiden und - falls dies doch geschieht - durch Nachschuß kompensiert werden können. Eine solvente Geschäftsbank verfugt also über Titel in einem Wertumfang, der neben ihrem Eigenkapital - mindestens dem ihrer laufenden Verbindlichkeiten Zins- und Tilgungsansprüche ihrer Einleger, d.h.. Gläubiger - entspricht. Sie ist also nicht überschuldet. Dennoch kann sie in einer Liquiditätskrise in die Lage kommen, Sichtguthaben auf Verlangen nicht zu jeder Zeit bzw. nicht zu einem

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bestimmten Zeitpunkt in Zentralbankgeld umzuwandeln. Das liegt dann daran, daß sie ihre Forderungen nicht mit der gebotenen Schnelligkeit in Zentralbankgeld verwandeln, also verkaufen kann. Hier nun ist die Zentralbank gefordert. Sie tritt als der rettende schnelle Käufer auf. Sie erwirbt also die Sicherheiten der solventen, aber illiquiden Bank und bringt dadurch zusätzliches Zentralbankgeld in Umlauf. Die Schnelligkeit der Versorgung mit gutem Geld soll panikerzeugende Liquiditätsengpässe im Bankensektor verhindern. Nun steigen in der Liquiditätskrise die Zinsen. Auch die schnellstmöglich mit Liquidität versorgte Geschäftsbank muß den jetzt hohen Marktzins zahlen. Dieser ist aber keineswegs als „Strafzins" aufzufassen, wie die herrschende Lehre annimmt. Vielmehr sollen durch den Verzicht auf jede Zinsvergünstigung die übrigen Marktteilnehmer von einer paniktypischen Reaktion, also von der unnötigen Beschaffung zusätzlicher Liquidität abgeschreckt werden. Die Zentralbank „muß daher in panischen Zeiten wie andere Banken handeln, also freigebig und kräftig aus ihrer Reserve dem Publicum Vorschüsse machen; und für sie gilt demnach auch, wie für alle anderen Banken die Regel, daß, wenn diese Vorschüsse überhaupt gemacht werden, diese möglichst ihrem Zweck entsprechen müssen. Dieser ist, die Panik zu unterdrücken." Was B A G E H O T S moderne Interpreten als Strafzins, also einen über dem Marktzins liegenden Satz mißdeuten, macht er in seiner wirklichen Bedeutung durch seine erste lender of last resort-Regel verständlich: „Erstens. Es darf bloß gegen sehr hohe Zinsen ausgeliehen werden. Diese wirken als schwere Strafe auf unvernünftige Furchtsamkeit und verhindern die größte Menge von Ansprüchen solcher Personen, die kein Geld nothwendig brauchen. Diese Erhöhung muß sofort im Beginn einer Panik eintreten, so daß sie sofort als Strafe wirke und Niemand aus bloß müßiger Furcht borge, ohne dafür gut zu bezahlen, und so auch die Bankreserve möglichst geschützt werde."w Es ist nun der Schutz der Reserve bzw. des Eigenkapitals der Zentralbank, der in den modernen Erörterungen überhaupt nicht behandelt wird. Sie steht bei B A G E H O T auch im Zentrum seiner zweiten lender of last resort-RsgeY. „Zweitens. Gegen diese hohen Zinsen muß auf alle guten Banksicherheiten ganz nach den Ansprüchen des Publicums reichlich ausgeliehen werden. Die Ursache ist einfach. Der Zweck ist, Alarm zu beschwichtigen und ihn nicht zu verursachen oder zu 9

10

Vgl. W. BAGEHOT, Lombard Street: Der (1873), aus dem Englischen übersetzt von F. Kap. 7, S. 102. Vgl. W BAGEHOT, Lombard Street: Der (1873), aus dem Englischen übersetzt von F. Kap. 7, S. 102 f.; unsere Hervorhebung.

Weltmarkt des Geldes in den Londoner Bankhäusern v. HOLTZENDORFF, Leipzig: H. Härtung & Sohn, 1874, Weltmarkt des Geldes in den Londoner Bankhäusern v. HOLTZENDORFF, Leipzig: H. Härtung & Sohn, 1874,

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erhöhen. Er wird aber gerade hervorgerufen, wenn irgend Jemandem Geld gegen gute Sicherheiten verweigert wird. [...] Dabei dürfen in der Tat keine Vorschüsse gemacht werden, durch welche die Bank [von England] letztlich Verluste macht. "n So entschieden nun BAGEHOT bei beiden Regeln vor der Gefahr des Verlustes der Reserven der Zentralbank warnt, so wenig trifft seine Begründung den wirklichen Gehalt dieser Bedrohung. Immerhin aber weiß er, daß man nicht das Vertrauen des Publikums untergraben darf: „Es ist bekannt, daß die Bank von England in gewöhnlichen Zeiten auf sogenannte gute Sicherheiten freigebig Geld gibt. Solche Sicherheiten werden dann verpfändet und sind leicht umzusetzen. Dadurch wird die Beunruhigung solventer Kaufleute und Bankiers beschwichtigt." 12 BAGEHOT ahnt also, daß solvente Eigentümer zögern werden, ihre guten Titel anzubieten, wenn insolvente Konkurrenten mit schlechten Titeln ebenso gut an Liquidität gelangen können. 13 In der Hauptsache jedoch verfällt BAGEHOT in einen eher medizinischen Jargon. Er unterscheidet zwischen „ ,ungesunden' Leuten" und „ ,gesunden' Leuten." 14 Erstere würden „schlechte Wechsel und schlechte Sicherheiten" einlieferen, letztere hingegen „gute Sicherheiten". Ließe man die schlechten Sicherheiten der „ungesunden" Leute durchgehen, dann müßten die „gesunden" Leute den Eindruck gewinnen, daß Bankrotteure von nun an auf Rettung rechnen könnten, ihr moral hazard also auch noch belohnt würde. Es ist keineswegs ein Zufall, daß BAGEHOT aufgrund seiner vagen Krankheitsterminologie bis heute als Kronzeuge dafür herangezogen wird, daß man auf keinen Fall moral hazard unterstützten dürfe.15 Darin aber liegt die Hauptgefahr des 11

Vgl. W. BAGEHOT, Lombard Street: Der Weltmarkt des Geldes in den Londoner Bankhäusern (1873), aus dem Englischen übersetzt von F. v. HOLTZENDORFF, Leipzig: H. Härtung & Sohn, 1874, Kap. 7, S. 103. Der hervorgehobene Satz ist unsere Übersetzung. HOLTZENDORFFS Übersetzung dieses zentralen Arguments BAGEHOTs bietet eine entstellende Verharmlosung: „Natürlich braucht die Bank nichts gegen unsichere Sicherheiten auszuleihen"; vgl. W. BAGEHOT, Lombard Street: A Description of the Money Market (1873), London: Smith, Elder& Co., 1915, 14. Auflage, Kap. 7, S. 188: „No advances indeed need be made by which the Bank will ultimately lose." 12 Vgl. W. BAGEHOT, Lombard Street: Der Weltmarkt des Geldes in den Londoner Bankhäusern (1873), aus dem Englischen übersetzt von F. v. HOLTZENDORFF, Leipzig: H. Härtung & Sohn, 1874, Kap. 7, S. 103. 13 Vgl. zu dieser Verweigerangshaltung H.-J. STADERMANN, Monetäre Theorie der Weltwirtschaft, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1996, Kap. 8, S. 127-149, insbesondere S. 141-148. 14 Vgl. W. BAGEHOT, Lombard Street: Der Weltmarkt des Geldes in den Londoner Bankhäusern (1873), aus dem Englischen übersetzt von F. v. HOLTZENDORFF, Leipzig: H. Härtung & Sohn, 1874, Kap. 7, S. 103. 15 Vgl. typisch R. M. SOLOW, „On the Lender of Last Resort", in: Ch.P. KINDLEBERGER und J.-P. LAFFARGUE, Hg., Financial Crises: Theory, History, and Policy, Cambridge: Cambridge University Press, 1982, S. 237-248, insbesondere S. 243-246.

Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion

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Hereinnehmens schlechter Sicherheiten nicht. Diese berührt vielmehr den Schutz des Geldes vor Entwertung. In welcher Lage befindet sich eine Zentralbank, die in der Panik umgehend Liquidität bereitgestellt hat? Sobald die Liquiditätsengpässe sich gelegt haben, kann sie bei Fallieren ihrer Schuldner durch Verkauf der von ihnen hereingenommenen guten Sicherheiten die zusätzliche Liquidität leicht wieder aus dem Umlauf ziehen bzw. einschränken. Packt sie die verpfändeten Titel, die „leicht umzusetzen" sind, auf ihren Tresen, dann eilen die Leute mit Geld herbei, um sie zu erwerben. Hätte die Zentralbank nun schlechte Titel hereingenommen, könnte mit diesen nur ein Teil der in Umlauf gebrachten Noten wieder stillgelegt bzw. vernichtet werden. Es würde also unbesichertes Geld umlaufen. Für seinen Rückkauf müßte die Zentralbank dann Eigenkapital einsetzen, also Verluste an der Substanz erleiden. Es erginge ihr nicht anders als einer Geschäftsbank, die bei jedem fallierenden Schuldner, der ihr wertlose Sicherheiten verpfändet hat, mit Eigenkapital einspringen muß. Hätte die Zentralbank Liquidität nur gegen Zins, aber ganz ohne Sicherheiten in Umlauf gebracht, dann hätte sie Geld aus Nichts geschaffen. Mit diesem Nichts würde sie dann überhaupt keine Noten wieder aus dem Umlauf ziehen können. Sie hätte sich dann den Angriffen der „Gesundheitspolizei" des Geldwesens, also der internationalen Spekulation ausgesetzt, die letzlich zur Abwertung ihrer Währung führen müssen. Die Spekulanten wissen um das schlecht besicherte Geld. Deshalb beginnen sie damit, sich in ihm zu verschulden. Umgehend verkaufen sie dann das aufgenommene Geld gegen besser besicherte Währungen. Durch dieses permanente Angebot des schlecht gesicherten Geldes wird es - in der anderen Währung ausgedrückt - immer billiger mit der Folge einer Steigerung des einheimischen Preisniveaus. Gegen diese Entwertung kann die betroffene Zentralbank nur durch Nachfrage nach ihrem eigenen Geld vorgehen, also dadurch, daß sie es einer Verknappung unterwirft. Wollte sie diese allein über den Zins erreichen, dann müßte sie ihn in einem Ausmaß erhöhen, der die Strangulation der eigenen Wirtschaft zur Folge hätte, die zwei- oder dreistellige Zinssätze nicht erwirtschaften könnte. Der zweite bzw. einzig bankmäßige Weg besteht für die Zentralbank darin, ihre Währung aus dem Umlauf zu ziehen, sie also in dem Umfang gegen ihre guten Titel aufzukaufen, wie die Spekulation sich in ihr verschuldet. Fehlen dafür die Titel, dann stürzt die Währung unweigerlich ab. Die Spekulanten können dann mit einem viel kleineren Volumen der gut besicherten Währungen, in die sie die angegriffene umgetauscht haben, ihre Schulden bezahlen und so ihren Spekulationsgewinn erzielen.

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Das HAWTREY'sche Wort von der Zentralbank als Geschäftsbank sollte nun nachvollziehbar werden. Die guten Sicherheiten bei der normalen Refinanzierung wie auch bei der Notrefinanzierung von illiquiden, aber solventen Geschäftsbanken dienen nur sekundär der Abwehr von moral hazard. Sie dürfen niemals als nur beiläufig zu erwähnende Facette der Zentralbankkunst abgetan werden: Sie sind ihr A und O. Ungeachtet der Gleichrangigkeit guter Sicherheiten für Geschäftsbanken und Zentralbanken unterscheiden sich letztere von ersteren dadurch, daß sie den Wert des von ihnen herausgegeben Geldes zu sichern haben. Das bedeutet insbesondere, daß „uneinbringbare, in Refinanzierungsgeschäften genutzte Forderungen in Zentralbanksystemen stets von den Einlieferern der Papiere abzuschreiben sind, [also] der Zentralbank als Folge davon in fast jedem Fall der Rückfluß der emittierten Geldmenge sicher"16 ist. Das war früher beim Wechsel und ist heute beim Wertpapierpensionsgeschäft der Fall. Die Zentralbank muß also vermeiden, daß ihre Aktiva Risikoaktiva sind. Solche Aktiva entstehen, wenn sie bei der Herausgabe von Geld Wertpapiere der Geschäftsbanken definitiv (outright) kauft. In diesem Fall ist die Zentralbank gezwungen, den Kurs dieser Titel auf eigene Rechnung zu stabilisieren, d.h., es wird ihr unmöglich, einen Verfall der Kurse durch Zinsänderungen zu kompensieren. Vielmehr ist sie gezwungen, den Kurs durch den Kauf weiterer Papiere zu stabilisieren, also um den Preis eines erhöhten Geldangebots, das den Zins senkt und die Inflationserwartungen steigert. Darüber hinaus gibt es Aktiva wie Gold und Devisen, deren Risiken nicht so leicht auszuschließen sind. Das gilt insbesondere für Devisen, die - anders als bei einer Geschäftsbank - nicht durch Gegengeschäfte abgesichert werden können, da sich in diesem Fall die Zentralbank der Möglichkeit berauben würde, mit ihnen jederzeit intervenieren zu können. Hier kann die Zentralbank aber durch Bewertungen zum Anschaffungs- und nicht zum Marktpreis bzw. durch besondere Rückstellungen für den Fall eines Absinkens dieser Positionen unter den Anschaffungspreis mögliche Wertverluste weitgehend kompensieren. Diese Besonderheiten der Zentralbankkunst sind aber nichts anderes als eine Modernisierung der zweiten BAGEHOTschen Regel. Er war ja nicht allein über den Verlust von Reserven der Bank von England im Inland besorgt. Auch die Gefahr des Abflusses ihres Eigenkapitals - damals also ihres Goldver-

16

Vgl. H.-J. STADERMANN, „Wesentliche Eigenschaften der Währung und des Geldes", in: H. RIESE und T. ROY, Hg., Geld, Zins und Eigentum in der Geldwirtschaft, Marburg: Metropolis, 1999, im Druck, Abschnitt 5.

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mögens - ins Ausland hat er ausdrücklich durch seine beiden Regeln abwenden wollen.17 Nun wird B A G E H O T s zweite Regel über die Bedeutung guter Sicherheiten, die zu seiner Zeit als private Handelswechsel am sogenannten Diskontfenster der Zentralbank präsentiert werden mußten, heutzutage als nachrangig angesehen. Das liegt daran, daß Zentralbankgeld heute in vielen Ländern - insbesondere in den USA - ganz überwiegend gegen Staatstitel geschaffen wird. Private Handelswechsel werden als sogenannte borrowed base für die Schaffung von Zentralbankgeld dem Inneren der Wirtschaft zugeordnet. Staatstitel hingegen werden als sogenann18 te non-borrowed base „als außerhalb der Wirtschaft geschaffene Titel gesehen." Entsprechend glaubt man, daß B A G E H O T S „offenes Diskontfenster" durch ein „offenes Offenmarktfenster" ersetzt worden sei. Daher könne eine mangelnde Bereitschaft der Vermögenseigentümer, gute private Sicherheiten anzubieten, immer durch die Emission von Staatstiteln ausgeglichen werden. In der Tat kann ein staatliches Wertpapier der sicherste und liquideste Titel sein. Das liegt aber nicht daran, daß er von Eigentumstiteln aus dem Innern der Ökonomie abgetrennt ist. Ganz im Gegenteil! Schuldtitel, die eine Regierung herausgibt, sind selbstredend Eigentumstitel. Die Vorstellung, daß ein Eigentumstitel nur bei Individuen liegen könne, wohingegen Staatstitel in jedem Falle etwas ganz anderes seien, ist mithin nicht haltbar. Nicht mit spezifiziertem Eigentum unterlegte Staatstitel enthalten nämlich Zinszusagen, die von ihm als Steuergläubiger mit Hilfe seiner Einzugsgewalt aus dem Einkommen oder dem Vermögen der Bürger bedient werden. Solche Titel sind also mit dem Eigentum aller Bürger unterlegt. Solange Staatstitel also lediglich in einem Volumen geschaffen werden, dessen Zinsbedienung das Steueraufkommen nur wenig beansprucht, sind diese Titel gerade deshalb erstklassig, weil sie allemal sicherer bedient werden können als selbst solche sehr starker privater Unternehmen, für deren Leistung viel weniger Potential einsteht als die Gesamtsumme aller Eigentumspositionen in einem Staatsgebiet. Man könnte also sagen, die wichtigste Eigentumspotenz des Staates besteht in seiner Steuergewalt. Sie ist dadurch definiert, daß er in das Eigentum der Bürger eingreifen darf. Wenn diese Potenz in Zweifel steht, werden sich die Staatstitel nicht länger verkaufen lasssen. Dadurch wird dann offenkundig, wie unlöslich die

17

18

Vgl. W. BAGEHOT, Lombard Street: Der Weltmarkt des Geldes in den Londoner Bankhäusern (1873), aus dem Englischen übersetzt von F. v. HOLTZENDORFF, Leipzig: H. Härtung & Sohn, 1874, Kap. 2, S. 30. Vgl. S.H. AXILROD und H C . WALLICH, „Open-Market Operations", in: The New Palgrave Dictionary of Money and Finance, London: Macmillan, 1992, Bd. 3, Sp. 74b-77a/77a.

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Titel mit dem „Inneren" der Wirtschaft verbunden sein müssen. 19 Es ist also nicht die absolute Höhe der öffentlichen Defizite bzw. der Schulden eines Staates, die zur Herabstufung seiner Bonität fuhren. Hohe Defizite und Schulden können mit Triple A einhergehen, während viel geringere Defizite und Schulden nicht einmal ein Single B einbringen, wenn in der betroffenen Nation bei den Bürgern nichts zu holen ist. Nicht durch Bürgereigentum unterfütterte Staatstitel sind also genauso „schlechte" Sicherheiten wie diejenigen der „ungesunden" Privatleute, vor denen BAGEHOT gewarnt hat. Deshalb müssen solche Titel von einer Zentralbank, die eine harte, also gut besicherte bzw. verteidigungsfähige Währung emittieren will, zurückgewiesen werden.

III.

Verfugt die Europäische Währungsunion über eine Zentralbank, die als solide Geschäftsbank funktionieren kann?

In der Diskussion über die Europäische Währungsunion (EWU) ist ganz überwiegend davon ausgegangen worden, daß die gemeinsame Währung, der Euro, im Prinzip nichts anderes sein werde als eine europäische D-Mark. So wie die Bundesbank dank ihrer politischen Unabhängigkeit für eine harte D-Mark gesorgt habe, so werde die Europäische Zentralbank (EZB) aufgrund des Maastrichtvertrags dieses ebenfalls tun können. Ihr sei über Artikel 107 die gleiche Unabhängigkeit garantiert. Überdies würde die Erfüllung der fünf Maastrichtkriterien Konvergenz zu niedrigen Inflations- und Zinsraten, stabile Wechselkurse sowie vertretbare öffentliche Haushaltsdefizite und Staatsverschuldungen - schon aus 20 sich heraus für einen stabilen Euro sorgen. 19

Das zeigt sehr schön der jüngste Fall des russischen Staates, der seine schwache Stellung als Steuergläubiger durch serienweise Ausgabe von immer neuen Staatsanleihen - sogenannten GKO - zu immer kürzeren Laufzeiten und mit immer höheren Abschlägen kompensieren wollte. Trotz jährlicher Renditen von zuletzt über 40% ließen sich die GKO aber immer schwerer absetzen. Als bereits ein Drittel des ohnehin defizitären Haushalts für den Schuldendienst wegging, mußte die Regierung praktisch ihre Zahlungsunfähigkeit erklären, indem sie am 17. August 1998 für ausstehende GKO im Wert von 40 Mrd. Dollar und 25 Mrd. an weiteren kurzfristigen Schulden ein Moratorium anordnete; vgl. J. METIKE und R. KRUMM, „Rußland: ,Am Rande des Abgrunds' ", in: Der Spiegel, Nr. 35 vom 24.8.1998, S. 124-128/125. 20 Das war auch die wesentliche Argumentation für die beiden entscheidenden Dokumente, die dem Beschluß der europäischen Regierungen in Brüssel vom 2. Mai 1998 über den endgültigen Start der Währangsunion mit 11 Teilnehmern am 1. Januar 1999 zugrunde lagen: (i) EUROPÄISCHES WÄHRUNGSINSTITUT, Konvergenzbericht: Nach Artikel 109 j des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vorgeschriebener Bericht, Frankfurt am Main: EWI, 25. 3. 1998 sowie (ii) DEUTSCHE BUNDESBANK, „Stellungnahme des Zentralbankrates zur Konvergenzlage in der Europäischen Union im Hinblick auf die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, Frankfurt am Main, vom 26. März 1998", in: Deutsche Bundesbank: Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 21 vom 30. 3. 1998, S. 1-8.

Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion

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Bereits das Brüsseler Gerangel um den Posten des Präsidenten der EZB vom 2. Mai 1998 hat gezeigt, daß von einer politischen Unabhängigkeit kaum gesprochen werden kann. Dieser Eindruck hat sich nach dem deutschen Regierungswechsel im Oktober 1998 dadurch verstärkt, daß der neue Finanzminister Oskar LAFONTAINE - und dann auch Bundeskanzler Gerhard SCHRÖDER - ganz unverblümt dekretierte, daß die EZB nicht nur für Preisstabilität, sondern auch für Beschäftigung und Wachstum verantwortlich sein müsse. LAFONTAINE hat auch bereits angedeutet, daß im Notfall das öffentliche Defizit über die Maastrichtgrenzen hinauszutreiben sei. Der italienische EU-Kommissar Mario MONTI hat ihn umgehend darin bestärkt, indem er vorschlug, bei der Berechnung des Haushaltsdefizits zwischen staatlichen Ausgaben für Konsum und Investition zu unterscheiden. Diesen Vorschlag hat Carlo Azeglio CIAMPI, der ehemalige Präsident der Banca d'Italia und Finanzminister in der neuen italienischen Regierung unter Massimo D'ALEMA, aufgenommen. Er hat Interpretationsflexibilität des Maastrichtvertrages in diesem Punkt angemahnt, so daß über eine Neudefinition des Vertrages 21 Wachstum und Beschäftigung angekurbelt werden könne. Bereits einige Wochen früher hatte der inzwischen gestürzte italienische Ministerpräsident Romano PRODI vorgeschlagen, die gewaltigen Währungsreserven der Nationalen Zentralbanken (NZBs), von denen bekanntlich 80 Prozent nicht an die EZB übertragen werden müssen, für Beschäftigungsprogramme einzusetzen. Darin wurde er umgehend vom französischen Finanz- und Wirtschaftsminister Dominique STRAUSS22 KAHN bestärkt. Auch diesen Plan vertritt CLAMPI inzwischen ganz offensiv. All das bewegt die Gemüter, berührt das Funktionieren einer Währung aber nur am Rande und läßt die entscheidenden Größen für eine harte Währung innerhalb eines dezentralen Zentralbanksystems, wie es das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) darstellt, gänzlich außer Acht. Unter diesen steht (i) die Qualität, d.h. Marktfähigkeit der Sicherheiten, gegen die Geld emittiert wird, auf der höchsten Rangstufe. In einem dezentralen System stellen aber auch (ii) die Macht der Zentrale für die Umsetzung einer einheitlichen Geldpolitik und (iii) die Existenz eines lender of last resort für die Stabilisierung des finanziellen Systems nicht minder wichtige Größen dar. Über die Ohnmacht der EZB als Zentrale des ESZB haben erstmals die Autoren .. 23 dieses Beitrages - im Juli 1997 - die Öffentlichkeit zu informieren versucht. Bis 21

22

23

Vgl. J. BLITZ und w . MÜNCHAU, „Ciampi Backs Calls for Flexible Targets", in: Financial 13.11. 1998, S. 1.

Times,

Vgl. C A. CIAMPI, „Europa spielt va banque: Die Zentralbanken müssen auch mal Gas geben", Interview in: Welt am Sonntag, Nr. 46 vom 15.11.1998, S. 47 f. Vgl. G. HEINSOHN und 0 . STEIGER, , A Weak Bank Means a Weak Euro", in: The Wall Street Journal Europe, Nr. 125 vom 31.7.1997, S. 6. Vgl. DIES., „Wie mächtig wird die Europäische Zen-

80

Gunnar Heinsohn und Otto Steiger

heute wird nur selten darüber berichtet, daß die EZB nur einen Bruchteil der Aktiva der NZBs erhält und womöglich - außer über Devisengeschäfte - gar keine Euros emittieren wird. Gemäß Artikel 30 der Satzung des ESZB und der EZB werden der EZB lediglich Währungsreserven bis zu einer Höhe von 50 Milliarden Euros übertragen. Da vorerst nur 11 der 15 EU-Mitglieder an der Währungsunion teilnehmen, ist diese Ausstattung zunächst sogar auf nur knapp 40 Milliarden Euros beschränkt worden. Dabei sollen diese Aktiva zu Markt-, aber nicht zu Anschaffungspreisen der jeweiligen NZBs bilanziert werden. Nach den strengen Bewertungskriterien der Bundesbank würde dies bedeuten, daß die EZB-Aktiva höchstens 27 Milliarden Euros bzw. 54 Milliarden DM wert wären. Da aber allein die Bundesbank zum 31.12.1997 über Aktiva in Höhe von 381 Milliarden DM verfugte, bedeutet dies, daß die Ausstattung der EZB gerade einmal 14 % der Bundesbankaktiva beträgt. Da die Aktiva der Bundesbank wiederum gut 30% der Aktiva aller 11 Mitglieder der EWU ausmachen, verfügt die EZB also nur über knapp 5% des gesamten Aktivavolumens der EWU.24 Der ganz überweigende Teil der Eurobanknoten wird von den NZBs über Offenmarktgeschäfte emittiert werden, von denen die EZB ausgeschlossen ist. Diese Tatsache ist nicht nur unbekannt geblieben, sondern - wie durch Beschluß des ESZB-Rates (irreführend als Rat der EZB bezeichnet) vom 11. September 1998 noch einmal bekräftigt - obendrein dadurch verschleiert worden, daß die Emissionsbanken auf den Euronoten nicht kenntlich gemacht werden. Bewußt hat man die Regelung des amerikanischen Zentralbankensystems, des Federal Reserve, verworfen, das jede seiner 12 Zentralbanken verpflichtet, die von ihr emittierten Dollarnoten eindeutig zu kennzeichnen. Ebenso ist weithin unbekannt geblieben, daß die Geldpolitik nicht etwa vom EZBDirektorium, sondern vom 17-köpfigen ESZB-Rat beschlossen wird. In diesem stehen die 6 EZB-Direktoren gegenüber den 11 NZB-Präsidenten automatisch in der Minderheit. Insbesondere Daniel GROS und Martin SEIDEL haben sich unserer 25

Aufklärung über einige dieser Sachverhalte angeschlossen , ohne das gesagt werden könnte, daß die Öffentlichkeit dadurch wirklich sensibilisiert worden ist. tralbank?", in: Wirtschaftsdienst: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Bd. 78, Nr. 5, Mai 1998, S. 277283. 24 Vgl. ausführlich G. HEINSOHN und O. STEIGER, „Die Achillesfersen des Euro: Nicht marktfähige Sicherheiten und machtlose Europäische Zentralbank", in: H.-J. STADERMANN und O. STEIGER, Hg., Herausforderungen der Geldwirtschaft, Marburg: Metropolis, 1999 (im Druck), Abschnitt 5. 25 Vgl. (i) D. GROS, „Mehr Gewicht für die Europäische Zentralbank: Die nationalen Notenbanken dürfen nicht zu viele Kompetenzen in der Ausführung der Geldpolitik behalten", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 101 vom 2.5.1998, S. 15; (ii) M. SEIDEL, „Die Euro-Zentralbank ist nicht nach Vorbild der Bundesbank gestaltet", in: Frankfurter Rundschau, Nr. 233 vom 8.10.1998, S. 12; (iii) DERS., „Europa spielt va banque: Die Politiker meinen, der Vertrag stehe zu ihrer Disposition", Interview in: Welt am Sonntag, Nr. 46 vom 15.11.1998, S. 47 f.

Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion

81

Selbst der Präsident der Bundesbank, Hans TIETMEYER, hat noch Anfang 1998 behauptet, daß der Aufbau des ESZB dem System der Bank deutscher Länder (BdL) - bis 1957 Vorgänger des Systems Bundesbank - ähneln würde, obwohl auch damals schon die Landeszentralbanken (LZBs) nur ausführende Organe der 26

BdL waren. Erst kürzlich hat er, ohne seine gravierende Fehleinschätzung zu revidieren, dann wieder etwas ganz anderes und durchaus Richtigeres gesagt. Er hat nun beklagt, daß das ESZB wesentlich dezentralisierter als das System Bundesbank sei und selbstredend die nachgeordnete Rolle der deutschen LZBs überhaupt nicht mit der enormen Macht der europäischen NZBs verglichen werden 27 könne. Während T I E T M E Y E R aber immer noch von der E Z B spricht, wenn er eigentlich das E S Z B meint, hat der Präsident der Banca d'Italia, Antonio F A Z I O , gut verstanden, daß man immer nur vom ESZB sprechen dürfe, von der ja die 28 EZB nur ein kleiner Teil sei. Auf die nicht marktfähigen Sicherheiten, gegen die zwischen Lissabon und Helsinki Euros emittiert werden dürfen, haben die Autoren erstmals im Mai 1997 29 aufmerksam gemacht. Unter den Euro-Experten hat uns bisher nur der hier zu 30

ehrende Wilhelm

HANKEL

durch das Aufgreifen unserer Argumentation ermutigt.

Für die Refinanzierung im ESZB gibt es zwei Gruppen teilweise 3 1 absteigender Güte, Sicherheiten der „Kategorie-1" und der „Kategorie-2". Bereits die „Kategorie-1 -Sicherheiten" sind - obwohl ausdrücklich auf marktfähige Schuldtitel beschränkt - keinesfalls so risikoarm wie etwa die von der Bundesbank für die DM-Emission verlangten Titel. Wie bei der Bundesbank sollen im ESZB vor allem Wertpapierpensionsgeschäfte durchgeführt werden, das heißt Transaktionen mit Rückkaufvereinbarung, bei denen das Risiko einer Wertverschlechterung der hereingenommenen Papiere bei den Geschäftsbanken bleibt. Entgegen der bisherigen Praxis der Bundesbank sollen die NZBs jedoch ohne jede Einschränkung 26

27

Vgl. H. TIETMEYER, „Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank", in: Deutsche Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 10 vom 13. 2. 1998, S. 1-5/2.

Bundesbank:

Vgl. W. MÜNCHAU, „ECB: Subservience or an Identity of Its Own?", in: Financial S. 3. Vgl. J. BLITZ, „Hawk among the Doves", in: Financial Times, 10.11.1998, S. 15.

Times.

19. 3.11.1998,

29

Vgl. G. HEINSOHN und O. STEIGER, „Kategorie-2-Sicherheiten: alarmierende Defekte im zukünftigen ESZB", in. Wirtschaftsdienst, Bd. 77, Nr. 5, Mai 1997, S. 265-267. Vgl. ausführlicher DIES., „Die Achillesfersen des Euro: Nicht marktfähige Sicherheiten und machtlose Europäische Zentralbank", in. H.-J. STADERMANN und 0 . STEIGER, Hg., Herausforderung der Geldwirtschaft, Marburg: Metropolis, 1999 (im Druck), Abschnitt 3. 30 Vgl. W . HANKEL, W. NÖLLING, K.A. SCHACHTSCHNEIDER UND J. STARBATTY, Die Euro-Klage: Warum die Währungsunion scheitern muß, Reinbek: Rowohlt, 1998, S. 168-170. 31 Vgl. EUROPÄISCHE ZENTRALBANK, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3: Allgemeine Regelungen für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des ESZB, Frankfurt am Main: EZB, September 1998, S. 38-42.

82

Gunnar Heinsohn und Otto Steiger 32

auch definitive und damit für das ESZB risikoreiche Ankäufe von Wertpapieren tätigen dürfen. Noch alarmierender mutet die Zulassung bestimmter Vermögenswerte in den „Kategorie-2-Sicherheiten" an, deren Güte - anders als die der „Kategorie-1" nicht etwa von der EZB, sondern von den NZBs zwischen Lissabon und Helsinki, Dublin und Rom geprüft werden.33 Gleichwohl sind diese national zu prüfenden Sicherheiten genauso grenzüberschreitend nutzbar wie die Sicherheiten der „Kategorie-1". Es sind neben marktfähigen Schuldtiteln auch nicht marktfähige Titel sowie an einem geregelten Markt gehandelte Aktien. Emittenten dürfen sowohl der private Sektor als auch die öffentliche Hand sein. Neben den aufgrund ihrer hohen Volatilität risikoreichen Aktien sind es vor allem „nicht marktfähige Schuldtitel [der] öffentlichen Hand"34, die als Gefahr für die Stabilität des Euro angesehen werden müssen. Mittlerweile sind unsere früheren Befürchtungen über die Rolle nicht marktfähiger Staatstitel bei der Emission des Euro noch verstärkt worden. Die EZB hat im September 1998 - anders als noch ihr Vorgänger, das Europäische Währungsinstitut (EWI) - hinnehmen müssen, daß solche Titel von den NZBs nicht einmal bekannt gemacht zu werden brauchen: „Die nationalen Zentralbanken können beschließen, bei nicht marktfähigen Kategorie-2-Sicherheiten in den Veröffentlichungen ihrer nationalen Kategorie-2-Verzeichnisse keine Angaben zur einzelnen Emissionen, Emittenten, Schuldnern oder Garanten zu machen."35 Was ist zehn Wochen vor Beginn der EWU über die „Kategorie 2-Sicherheiten" bekannt geworden? Bis zum 23. Oktober 1998 haben lediglich die Zentralbanken von Deutschland, Frankreich und Österreich Listen der refinanzierungsfahigen nicht marktfähigen „Kategorie 2-Sicherheiten" vorgelegt. Dabei begrenzt die Bundesbank diese Titel auf private Handelswechsel und Kreditforderungen von Banken an Handel und Industrie. Aktien werden nicht aufgelistet. Ausdrücklich 32

33

Vgl. EUROPÄISCHE ZENTRALBANK, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3: Allgemeine Regelungen für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des ESZB, Frankfurt am Main: EZB, September 1998, S. 41. Vgl. EUROPÄISCHE ZENTRALBANK, Die einheitliche für die geldpolitischen

34

35

Instrumente

Geldpolitik

in Stufe 3: Allgemeine

Regelungen

und Verfahren des ESZB, Frankfurt am Main: EZB, September

1998, S. 41 und 44. Vgl. EUROPÄISCHE ZENTRALBANK, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3: Allgemeine Regelungen für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des ESZB, Frankfurt am Main: EZB, September 1998, S. 44 (Tabelle 4). Vgl. EUROPÄISCHE ZENTRALBANK, Die einheitliche Geldpolizik in Stufe 3: Allgemeine Regelungen für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des ESZB, Frankfurt am Main: EZB, September 1998, S. 41, Fn. 40, unsere Hervorhebung. Der gleichnamige Bericht des EWI, in dem diese Passage noch fehlt, stammt vom September 1997.

Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion

83

ausgeschlossen hat sie die im EZB-Bericht erlaubten Titel staatlicher Institutionen. 36 Darüber hinaus hat sie auch schon Bewertungsabschläge festgelegt: 2% für 37 Handelswechsel und 20% für Kreditforderungen. Die Österreichische Nationalbank will ebenfalls private Handelswechsel als „Kategorie 2-Sicherheiten" zulassen. Allerdings will sie ganz generell Kredite an nichtfinanzielle Körperschaften akzeptieren, ohne daß staatliche dabei ausgeschlossen werden. Die Banque de France scheint ähnlich verfahren zu wollen, ohne daß allerdings private Handelswechsel aufgeführt würden, die dort schon lange nicht mehr zur Refinanzierung genutzt werden können. Von Bewertungsabschlägen ist bei diesen beiden Zentralbanken nichts bekannt. Insofern ist bisher lediglich der Bundesbank unter den 11 NZBs zu bescheinigen, daß sie auch in der EWU wie eine solide Geschäftsbank zu handeln vermag. Die EZB selbst als 12. Bank braucht hier nicht weiter zu interessieren, da sie ohnehin von den entscheidenen bankmäßigen Operationen am Offenen Markt ausgeschlossen ist. Die EZB rechtfertigt die prekären Sicherheiten damit, daß sie für die „nationalen 38

Finanzmärkte und Bankensysteme von besonderer Bedeutung sind." Ihr Vorgänger, das EWI, hatte noch unverblümter auf „unterschiedliche nationale Finanzstrukturen und Zentralbankgepflogenheiten"39 Rücksicht genommen. Es pries die Zulassung von als weich zu bezeichnenden „Kategorie-2-Sicherheiten" als besonderen Vorzug des ESZB, „ein breites Spektrum von Sicherheiten"40 verwenden zu können. Bei einem breiten Spektrum denkt man an ein solides Fundament, in Wirklichkeit ist aber das glatte Gegenteil der Fall. Denn die Solidität einer Währung kann nur einen ganz eng gezogenen Bonitätsrahmen ertragen, keineswegs aber irgendwelche nationalen Gepflogenheiten. Anders als das EWI, das Anfang 1997 noch glaubte, das Risiko finanzieller Verluste für das ESZB durch die Hereinnahme von „Kategorie-2-Sicherheiten" lediglich durch „feste Abschläge" begrenzen zu können 41 , hat die EZB inzwischen einen umfangreichen Katalog 36

Vgl. DEUTSCHE BUNDESBANK, „Kategorie-2-Sicherheiten", Schreiben an den Deutschen und Giroverband, 30.7.1998, 3 S./2.

37

Vgl. DEUTSCHE BUNDESBANK, „Allgemeine Regelungen für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des Europäischen Systems der Zentralbanken'", in: Informationsbrief zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, Nr. 15, Oktober 1998, S. 5-22/18.

Sparkassen-

38

Vgl. EUROPÄISCHE ZENTRALBANK, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des ESZB, Frankfurt 1998, S. 41. 39 Vgl. EUROPÄISCHES WÄHRUNGSINSTITUT, Die einheitliche Geldpolitik Frankfurt am Main: EWI, Januar 1997, S. 21. 40 Handlungsrahmens, Vgl. EUROPÄISCHES WÄHRUNGSINSTITUT, Die einheitliche Geldpolitik Handlungsrahmens, Frankfurt am Main: EWI, Januar 1997, S. 20. 41 Vgl. EUROPÄISCHES WÄHRUNGSINSTITUT, Die einheitliche Geldpolitik Handlungsrahmens, Frankfurt am Main: EWI, Januar 1997, S . 24.

3: Allgemeine Regelungen am Main: EZB, September in Stufe 3: Festlegung

des

in Stufe 3: Festlegung

des

in Stufe 3: Festlegung

des

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Gunnar Heinsohn und Otto Steiger

von Maßnahmen zur Risikokontrolle vorgelegt. Er reicht von Sicherheitsmargen über Berwertungsabschläge und Schwankungsmargen, Obergrenzen für Emittenten und zusätzliche Garantien bis hin zum Ausschluß bestimmter Sicherheiten.42 Dabei fällt allgemein auf, daß immer nur dem ESZB, das keine Rechtspersönlichkeit darstellt, diese Risikokontrolle zukommen soll. Welche Institution jedoch mit Rechtsverbindlichkeit diese Entscheidungen trifft, wird offen gelassen. Alles deutet daraufhin, daß jede NZB für sich diese Kontrolle durchfuhrt. Wie das aber bei europaweit operierenden Banken praktiziert werden soll, bleibt unerhellt. Es gibt schlichtweg kein europäisches Aufsichtsamt für das Kreditwesen. Schlimmer jedoch, es fehlt eine Instanz, welche die lender of last resort responsibility übernehmen kann.

IV.

Verfügt das Europäische System der Zentralbanken über einen lender of last resort?

Der Auschluß der ohnehin gering ausgestatteten EZB von Offenmarktoperationen impliziert, daß sie im ESZB keinesfalls die Rolle eines lender of last resort wahrnehmen kann. Das ist bisher überhaupt nicht beachtet worden. Der entscheidende Existenzgrund einer Zentralbank, eben lender of last resort zu sein, ist weder im Maastrichtvertrag noch in den Dokumenten des EWI und der EZB berücksichtigt worden. Daraufhat erst im September 1998 der Internationale Währungsfonds hingewiesen: „Mit der Rolle des lender of last resort hat man in der EWU keine Institution beauftragt. Folglich gibt es keinen zentralen Bereitsteller oder Koordinator sofort benötigter Liquidität im Falle einer Krise." 43 Wie wird nun in anderen Zentralbanksystem die Rolle des lender of last resort wahrgenommen? Wir betrachten dabei nur das System Bundesbank und das Federal Reserve System, weil der Eindruck verbreitet ist, das ESZB sei ihnen ähnlich. In dem nur auf den ersten Blick dezentralen deutschen Zentralbanksystem, in dem die LZBs lediglich als weisungsgebunde Hauptverwaltungen fungieren, legt die Bundesbank durch ihr Direktorium die Anforderungen an die Sicherheiten fest, die mit der Ausnahme privater Handelswechsel44 marktfähig und in öffentlichen Verzeichnissen aufgelistet sein müssen. Die Beschlüsse über die Geldpolitik er42

43

44

Vgl. EUROPÄISCHE ZENTRALBANK, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3: Allgemeine Regelungen für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des ESZB, Frankfurt am Main: EZB, September 1998, S. 45-50. Vgl. CH. ADAMS, D.J. MATHIESON, G. SCHINASI UND B. CHADHA, International

Capital

Markets:

Developments, Prospects, and Key Policy Issues, Washington, DC: International Monetary Fund, September 1998, Kap. V, S. 106. Diese werden aber durch die Haftung von mindestens 2, in der Regel jedoch von 3 als zahlungsfähig bekannten Gläubigern besonders gesichert.

Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion

85

folgen im Zentralbankrat, dem auch die Präsidenten der LZBs mit Sitz und Stimme angehören. Gleichwohl hat das Direktorium die Macht, auch ohne Rückfrage beim Rat jederzeit mit den Aktiva der Bundesbank am Offenen Markt zu intervenieren. Für die lender of last mvor/-Funktion im weitesten Sinne hat das System Bundesbank eine dreifache Verteidigungslinie aufgebaut, in der die Bundesbank selbst nicht einmal explizit erscheint: 1. das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen, 2. die Liquiditäts-Konsortialbank sowie 3. die Einlageversicherung und notfalls - öffentliche Fonds. In die Konsortialbank, an der die Bundesbank selbst nur 30% der Kapitals hält, hat sie sich besonders starke Geschäftsbanken als Partner geholt. Wenn das Bundesaufsichtsamt solvente, d.h. nicht überschuldete, sondern mit gesunden Titeln versehene, momentan aber illiquide Institutionen ausfindig gemacht hat, dann veranlaßt die Bundesbank ihre starken Konsortialpartner, solche gesunden Titel der gefährdeten Banken zu kaufen und sie so wieder liquide zu machen. Sie läßt also diese die eigentliche lender of last re.vort-Funktion erfüllen. Dahingegen dienen Einlageversicherung und öffentliche Fonds zur Rettung insolventer, also überschuldeter Banken, was nicht unbedingt zur lender of last resort-Funktion gehört. Selbst wenn in jedem EWU-Mitgliedsland eine Liquiditätskonsortialbank wie in Deutschland existierte, müßte jede einzelne gegenüber der Liquiditätskrise einer europaweit operierenden Bankengruppe hilflos bleiben. Momentan gibt es nicht einmal in jedem EWU-Land eine solche Konsortialbank und schon gar keine gemeinsame. Die EZB mit ihrer minimalen Ausstattung und einer Personalstärke, die bei gut 3% der Bundesbank liegt (500 zu 15000), ist von vornherein auf eine solche Aufgabe nicht ausgerichtet worden. Im amerikanischen Federal Reserve System, das anders als die Bundesbank aber wie das ESZB - ein genuin dezentrales Zentralbanksystem darstellt, erfüllt die Federal Reserve Bank of New York in Kooperation mit dem Board of Governors - dem Direktorium des Systems - und dem Offenmarktausschuß - seinem Zentralbankrat - die Aufgaben, für deren Erfüllung im ESZB eine vergleichbare Institution glatt vergessen worden ist. Die Qualität der Sicherheiten setzt einheitlich für alle 12 Zentralbanken das Board of Governors fest. Heute sind das im wesentlichen marktfähige Staatspapiere Treasury Bills und Treasury Bonds. Die Geschäftsbanken, die sich bei den einzelnen Federal Reserve Banks refinanzieren, werden in Zusammenarbeit mit dem Federal Financial Institutions Examination Council (FFIEC) nach einheitlichen Regeln überwacht. Für amerikanische Geschäftsbanken gelten dabei ähnlich strenge Regeln wie für deutsche, wenn sie illiquide sind. Sie müssen ausdrücklich vorab als „eligible to borrow" registriert sein - und zwar nach Regeln des Board

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Gunnar Heinsohn und Otto Steiger

of Governors. Sie besagen, daß nur mit erstklassigen Titeln ausgestattete bzw. für ihre Solvenz bekannte Institutionen überhaupt an das Diskontfenster herangelassen werden: „All discount window credit must be secured to the satisfaction of the Federal Reserve [which] ensures that the value of collateral pledged to secure a discount window loan exceeds the amount of the loan." 45 Die FFIEC wiederum arbeitet mit der Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC) zusammen, die als zentrale Einlagenversicherung für Banken in allen Bundesstaaten fungiert und - ähnlich wie die deutsche Einlagenversicherung auch für insolvente Geschäftsbanken zuständig ist. Eine vergleichbare Institutionen fehlt wiederum in der EWU. Die einheitliche amerikanische Geldpolitik wird im Offenmarktausschuß beschlossen. Dieser setzt sich sich aus den 7 Direktoren des Board, dem Präsidenten der Federal Reserve Bank of New York als ständigem Mitglied und 4 Präsidenten der übrigen 11 Zentralbanken auf rotierender Basis zusammen. Die herausragende Position des New Yorker Präsidenten erklärt sich daraus, daß seine Bank als weitaus aktivastärkste die Beschlüsse am Offenen Markt exekutiert. Wie das Bundesbankdirektorium kann auch der Board jederzeit über die New Yorker Bank intervenieren. Wäre das ESZB wie das Federal Reserve System strukturiert, dann würden die 6 Direktoren der EZB mit dem Präsidenten der mächtigsten NZB - der Bundesbank - als ständigem Mitglied und drei weiteren NZB-Präsidenten auf rotierender Basis die Geldpolitik formulieren. Die Direktoren brauchten dann keine eigene Bank, sondern könnten über die Bundesbank jederzeit am Offenen Markt intervenieren. In Amerika wird die lender of last ra-ort-Funktion ebenfalls von der Federal Reserve Bank of New York wahrgenommen. Das bewies sie am 22. September 1998, als sie die Rettungsaktion für den Hedge-Fund Long-Term Capital Management (LTCM) koordinierte. Ganz ähnlich wie die Bundesbank verfügte sie bereits im Vorfeld über eine Verteidigungslinie. Sie stellte also keine eigenen Mittel zur Verfügung, sondern veranlaßte 14 nationale und ausländische Geschäftsbanken zur Bereitstellung von umgehend benötigter Liquidität. Es braucht jetzt nicht mehr besonders betont zu werden, daß in der EWU für eine solche Rettungsaktion keine Instanz zur Verfügung steht.

45

V g l . BOARD OF GOVERNORS OF THE FEDERAL RESERVE SYSTEM, The Federal

Reserve

System:

Purposes & Functions, Washington, DC: Board of Governors of the Federal Reserve System, Publication Services, 8. Auflage, Dezember 1994, S. 20 und 46.

Zentralbankkunst und Europäische Währungsunion

87

V. Was haben wir in der ersten Periode (1999 bis 2002) von der Europäischen Währungsunion zu erwarten? Die am 1. Januar 1999 beginnende Periode der EWU ist dadurch gekennzeichnet, daß der Euro als ein einheitliches Zentralbankgeld noch nicht existiert. Das dürfen die NZBs und die EZB erst ab 1. Januar 2002 emittieren. Bis dahin wird jede NZB weiterhin ihre nationale Währung emittieren, also französische Francs, DM, Peseten, Lire etc. Der Euro existiert nur insofern, als diese nationalen Währungen in einer festen Parität zum Euro und damit auch zueinander stehen. Die EWU ist vorerst also nichts weiter als eine Währungsunion mit fixierten Wechselkursen. Sie ist darüber hinaus eine Union, die in einem gemeinsamen Rat - und eben nicht durch das Direktorium der EZB - eine einheitliche Geldpolitik formuliert, die am Ziel der Preisstabilität orientiert sein soll. Wie dieses Ziel unter der gleichzeitigen Verpflichtung, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EWU - also auch die in den einzelnen Nationen - zu unterstützen, durchgeführt werden soll, bleibt offen. Sicher ist allerdings, daß die Umsetzung der ESZB-Vorgaben nicht eingeklagt werden können. Wie die beschlossene einheitliche Geldpolitik konkrekt umgesetzt werden soll, bleibt den einzelnen NZBs weitgehend überlassen. Das gilt insbesondere für die Zulässigkeit nicht marktfähiger Schuldtitel der öffentlichen Hand bei der Emission von Euronoten. Hier zeichnet sich bereits jetzt eine unterschiedliche Praxis ab, da sicher nur wenige NZBs dem Beispiel der Bundesbank folgen werden, die für sich diese Möglichkeit kategorisch ausgeschlossen hat. Selbst wenn Geschäftsbanken sich weigern sollten, nicht marktfähige Staatspapiere anzukaufen und an ihre NZB weiterzureichen, so können staatliche Banken ohne weiteres solche Ankäufe tätigen. Und staatlichen Banken ist in Artikel 21 der Satzung des ESZB und der EZB - in Übereinstimmung mit Artikel 104 des Maastrichtvertrages ausdrücklich das Privileg eingeräumt worden, bei ihren NZBs zur Refinanzierung unbeschränkt vorstellig zu werden: „Kreditinstitute in öffentlichem Eigentum [...] werden von der jeweiligen nationalen Zentralbank und der EZB, was die Bereitstellung von Zentralbankgeld betrifft, wie private Kreditinstitute behandelt." Die EWU wird zunächst also eine Währungsunion sein, in der trotz fester Wechselkurse und einheitlicher Geldpolitik die verschiedenen nationalen Währungen nach unterschiedlichen Qualitätskriterien emittiert werden - und daran ändert sich auch nach dem 1. Januar 2002 nichts, wenn jede NZB ihre eigenen Euros herausgeben darf. Eine starke Zentrale, die solche Aufweichungsunterschiede verhindern könnte, wird es ebensowenig geben wie eine Zentrale zur Verhinderung einer die nationalen Grenzen überschreitenden - Liquiditätskrise.

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Gunnar Heinsohn und Otto Steiger

Über die Gefahren für die Stabilität des Euros und des finanziellen Systems in Euroland muß man also nicht nur spekulieren. Vielleicht hilft aber ein Rückblick auf die Geschichte des Federal Reserve System, das in den ersten 20 Jahren seiner Existenz ähnlich disparat dezentralisiert war wie das ESZB. Erst die Weltwirtschaftskrise 1929-1933 führte dazu, die Dezentralität zugunsten einer starken Zentrale weitgehend aufzuheben. Seitdem konnten die Prinzipien erstklassiger Sicherheiten und der lender oflast resort responsibility - Zentralbankkunst also erzwungen werden. Europa hat von dem amerikanischen Vorbild bisher nichts lernen wollen. Das könnte sich auch nach einer weiteren Krise nur dann ändern, wenn die Europäische Union aus einer losen Föderation von Staaten zu einem Bundesstaat würde. Dafür spricht gegenwärtig aber so wenig, daß eine Krise eher zur Auflösung der EWU führen wird.

Währungsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Währungsreform, Kriminalität und Korruption Schlagschatten einer Erfolgsgeschichte Udo Kollatz In seinen „Heldensagen der Wirtschaft" hat Wilhelm Hankel die großen Denker und die großen Macher vorgeführt. Naturgemäß auf Beispiele beschränkt. Auf den Ebenen unterhalb des Olymps, in den Sphären der Halbgötter und niederen Heroen ist manches nachzutragen. Währungsreform und Geldumstellung haben für Betroffene ein anderes Gesicht als für die Strategen auf dem währungspolitischen Leitstand. Das ermutigt, dem Jubilar gewisse Spätfolgen der Währungsreform von 1948 sowie mentale Unterschiede von Geschäftsleuten und Beamten zu unterbreiten, die auch im Zeichen des EURO Bedeutung behalten. Beides geschieht aus der Perspektive des Ermittlungsrichters im Bestechungskomplex beim Fernmeldetechnischen Zentralamt der Post (FTZ) Ende der fünfziger/ Anfang der sechziger Jahre. Ähnliche Vorfälle in Beschaffungsstellen der Bundeswehr in Koblenz erregten seinerzeit größeres Aufsehen. Aber ermittlungstechnische Zufalle gewährten beim FTZ in Darmstadt den tieferen Einblick in ansonsten mit Fleiß verborgene Strukturen.

I.

Beobachtungen und Erfahrungen

Die fachliche Debatte, Urteile und Abhandlungen drehten sich damals vor allem um den „Ermessensbeamten". Wann begeht jener Beamte eine mit besonders schwerer Strafe bedrohte Dienstpflichtverletzung, der nach Ermessen befinden, d.h. mehrere ,gichtige" Entscheidungen treffen kann, wenn er sich im Zusammenhang damit von einem Interessenten persönliche Vorteile gewähren läßt? Da die Pflichtverletzung darin liegt, daß dieser Beamte sich nach außen hin als käuflich hinstellt1, braucht man ihm ein pflichtwidriges Amtsgeschäft als unmittelbare Gegenleistung für den erhaltenen Vorteil dann nämlich nicht mehr nachzuweisen. Das ist für Staatsanwälte und Strafrichter wichtig. Praktische Relevanz hatte die Unterscheidung u.a. bei den Verjährungsfristen. Vorteilsgewährung oder - auf Seiten des Beamten - Vorteilsannahme verjähren in fünf Jahren. Bei pflichtwidrigen Amtshandlungen des Beamten betrug die Verjährungsfrist damals 10 Jahre (§ 67 Abs. 1 StGB a.F.). Diese Frist wurde bei der Strafrechtsreform verkürzt. Auf die Konsequenzen komme ich zurück. 1

Sog. Unrechtsvereinbaiung, ausfuhrlich dazu BGHSt 15, 352 = NJW 61, 886.

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Udo Kollatz

Hier sollen vor allem wirtschaftliche, soziologische und kriminologische Aspekte aufgezeigt werden. Wie konnte es dazu kommen, warum und wie hat das funktioniert? Welche Schlüsse ergeben sich daraus für den künftigen EURO-Standort Deutschland? Lagerhaltung alten Stils Heutzutage gilt als besserer Ökonom, wer die geringsten Lagerbestände hat. Moderne Datenverarbeitung ermöglicht die genaue Kontrolle des jeweiligen Bestandes und des Bedarfs. Minimale Kapitalbindung in „toten" Beständen ist Trumpf. In einer staatlich gelenkten und kontrollierten Wirtschaft gelten andere Prioritäten. Ein größeres Lager von Ersatzteilen, Hilfsmitteln oder zum Tausch geeigneten Gegenständen ist dort die Voraussetzung der betrieblichen Existenz schlechthin. Die mit dieser Lagerhaltung verbundenen Kosten fallen demgegenüber kaum ins Gewicht. Das war so im Westen Deutschlands bis zur Währungsreform im Jahre 1948; das galt im Osten Deutschlands bis zur Wende im Jahr 1990. Das Halten „schwarzer" Bestände konnte zwar als Wirtschaftssabotage bestraft werden, wurde aber auch toleriert. Von außen her war die Lagerhaltung zudem nur begrenzt zu kontrollieren. Vorherrschendes Organisationsmittel waren Karteikarten, auf denen Bestände, Zu- und Abgänge vermerkt wurden. Ähnlich wie in einer Bibliothek ein Buch für den Besucher nicht vorhanden ist, wenn die Karteikarte im Katalog fehlt und - vorübergehend oder auf Dauer - an anderer Stelle verwahrt wird, vermochten Betriebsprüfer Manipulationen bei Lagerbeständen nur selten aufzudecken. Währungsreform 1948 und DM-Eröffnungsbilanz Im verkürzenden Rückblick sieht es so aus, als ob die drei westlichen Alliierten ihren Besatzungszonen 1948 die Währungsreform verordneten, daß Ludwig Erhard mutig die Bewirtschaftung aufhob, das gute neue Geld zum einzigen Bezugschein erklärte und damit die soziale Marktwirtschaft auf ihre nicht mehr zu bremsende Siegesbahn setzte. In der Realität war das mühsamer. Fast 5 Monate nach der Währungsreform, am 3. November 1948, stand die bis zur Etablierung der Bundesrepublik oberste deutsche Autorität, der Wirtschaftsrat, vor der Notwendigkeit, ein „Gesetz gegen Kompensationen" zu erlassen2. Das stellte Tauschhandel zwischen gewerblichen Unternehmungen unter Strafe und verbot

2

VWG 1948, 116.

Währungsreform, Kriminalität und Korruption - Schlagschatten einer Erfolgsgeschichte

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Lieferverträge, die erst später durch Abschluß korrespondierender Verträge über Gegenlieferungen honoriert werden sollten. Natürlich haben solche Verbote nicht die Marktwirtschaft gemacht. Aber sie haben - als es nötig war - für zusätzlichen Schub gesorgt, um der Marktwirtschaft über Startschwierigkeiten hinwegzuhelfen. Ziel des Gesetzgebers war es ja nicht, möglichst viele Leute ins Gefängnis zu bringen. Aber indem Tauschverträge gesetzlich verboten wurden, waren sie zivilrechtlich unwirksam. Von Tauschabreden, die man nicht durchsetzen kann, läßt man besser die Finger. Also vereinbarte alle Welt notgedrungen - wie politisch erwünscht - Geldzahlungen unter Benutzung der neuen, knappen Währung. Das Gesetz gegen Kompensationen ist obsolet, als Beispiel guter Wirtschaftspolitik jedoch unvermindert aktuell: Ich verweise auf das Desaster, das amerikanische Berater in Rußland angerichtet haben, weil sie naiv voraussetzten, daß die Einführung der Geldwirtschaft anstelle von Planwirtschaft als Selbstläufer funktionieren müsse. Daß und wie planwirtschaftlich erprobte Betriebsleiter alter Schule so etwas Neumodisches durch eine im Experten-Modell nicht vorkommende Tauschwirtschaft auf betrieblicher Ebene nachgerade spielend auszuhebein vermochten, warum sie das versuchen würden, ja versuchen mußten, war in Chicago oder Harvard unbekannt. Diese Berater-Ignoranz hat die russische Bevölkerung doppelt zu bezahlen: Einmal mit dem Verlust an Zeit und Volksvermögen durch nicht funktionierende Reformen, denen begleitender Flankenschutz versagt blieb, weil solcher Flankenschutz unter falschen Axiomen als überflüssig desavouiert war 3 . Zum anderen mit weit größeren Opfern, die eine Stabilisierung auf jetzt niedrigerem Niveau künftig erfordern wird, falls sie überhaupt noch gelingt. In den Westzonen dauerte es nach der Währungsreform noch über ein Jahr, bis das Gesetz über die Eröffnungsbilanz in Deutscher Mark und die Kapitalneufestsetzung (D-Markbilanzgesetz) vom 21. August 1949 vom Wirtschaftsrat erlassen wurde 4 . Der 1. Bundestag war zwar schon gewählt, hatte sich aber noch nicht konstituiert. Nach dem D-Markbilanzgesetz mußten die Unternehmen ein Inventar und eine Eröffnungsbilanz auf den 21. Juni 1948 (Stichtag der Währungsreform) erstellen. Dabei konnte Vorratsvermögen nach dem Wiederbeschaffungswert (Neuwert) am 31. August 1948 bewertet werden. Zahlenmäßige Veränderungen, insbesondere die Auflösung stiller Reserven begründeten zwar keine Steuerpflicht. Aber - so § 73 Abs. 1 Satz 3 - „Die Heranziehung zu einem späteren Lastenausgleich bleibt 3

4

Vgl. Marshall 1 Goldman, Lost Opportunity, Why Economic reforms in Russia have not worked, New York/ London 1994, insbes. S. 104 f.; 184. VWG 1949, 279 ff.

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Udo Kollatz

vorbehalten". Kaufmännische Vorsicht blieb demnach angeraten. Auch wenn es später so schlimm nicht kam: Wer etwas über den Krieg gerettet hatte, fürchtete den drohenden Lastenausgleich mindestens ebenso sehr, wie andererseits diejenigen, die alles verloren hatten, inbrünstig auf den Lastenausgleich hofften. Außerdem waren die neuen handelsrechtlichen Wertansätze künftig maßgebliche steuerliche Ausgangswerte. Das alles wirkte - ex ante! - durchaus ambivalent. Neue Märkte in alten Strukturen Die Kriegszerstörungen im Fernmeldewesen waren groß. Der zuvor dominierende Anbieter, die Firma Siemens, konnte ihre früheren Fertigungsstätten in Berlin nur allmählich wieder in Gang bringen; der Aufbau des Unternehmens in Bayern band Kräfte und brauchte Zeit. Kleine und mittlere Zulieferer, die den Krieg einigermaßen glimpflich überstanden hatten, ergriffen angesichts des großen Bedarfs ihre Chance: Wer vorher z.B. nur Einzelteile für Telefone geliefert hatte, versuchte jetzt, der Post komplette Telefone anzudienen. Wer vorher Nebenstellen-Anlagen produziert hatte, konnte sich mit Geschick und Glück vielleicht auf die Ebene hochhangeln, auf der man zum Bau von größeren Vermittlungsstellen und Knotenämtern zugelassen war. Neue und bessere technische Lösungen waren auf allen Ebenen gefragt. Die Unternehmen mußten also in den alten Standards lieferfähig sein und brauchten darüberhinaus für Neuerungen aller Art, insbesondere für neue Produkte höherer Baustufen, die technische Qualitätsprüfung durch die Post (Bestätigung der Systemverträglichkeit etc.). Hinzu kam in bestimmten Fällen eine besondere Preisprüfung. Für das alles war das FTZ zuständig. Schwarzgeld wird heiß Viele Unternehmen hatten nach der Währungsreform irgendwo schwarze Bestände. Das konnte man - vor allem in kleinen bis mittleren Betrieben, wo es außer dem Chef, der treuen Chefsekretärin und dem erprobten Buchhalter kaum Wissensträger gibt - einige Zeit durchhalten. Aber allmählich wuchs die Gefahr, daß bei einer Steuerprüfung auffiel, daß im Unternehmen mehr Waren oder Gelder kursierten, als nach den Büchern vorhanden sein durften. Andererseits war auch der private Verbrauch nicht beliebig zu steigern, ohne daß Fragen aufkamen. Ein vernünftiger Unternehmer wird bestrebt sein, Problemlagen, in die er nolensvolens durch die besonderen Umstände von Krieg, Nachkriegszeit und Währungs-

Währungsreform, Kriminalität und Korruption - Schlagschatten einer Erfolgsgeschichte

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reform geraten war, allmählich zu bereinigen 5 . Die Reduzierung solcher Risiken lag umso näher, je mehr sich die allgemeine Lage im Zeichen des Wirtschaftswunders besserte. Zudem waren Steuern, Tarife, Lastenausgleich und Marktdaten mittlerweile kalkulierbar. Aber wie die Bereinigung vollziehen, ohne dabei in Fallen zu tappen, die man vermeiden mußte? - Es ist hier nicht mit Zahlen und Namen zu belegen, aber es gab zahlreiche so typische Abläufe, daß man von Verhaltensmustern sprechen kann. Da keine Firmenleitung gutes, wenn auch schwarzes Geld einfach wegwirft, nur um es endlich los zu werden, wollte man die heißer werdenden Gelder schon gerne eliminieren, zugleich aber doch so einsetzen, daß sie dem Unternehmen unverfänglich! - weiterhin dienten. Warum sich damit nicht das Wohlwollen eines Beamten des FTZ erkaufen, der für das Unternehmen wichtig war? Das löste uno actu mehrere Probleme: 1. die Mittel waren aus dem internen Kreislauf entfernt; man brauchte nicht mehr zweigleisig zu denken und zu handeln; 2. die Bindung eines wichtigen Partners wurde gefestigt; 3. Diskretion blieb gewahrt; es mochte gemeinsame Erinnerungen geben, aber keinen Auszahlungsbeleg beim Unternehmen und keine Quittung beim Empfanger; 4. ein Dauervorteil für das Unternehmen war etabliert, ohne daß es von Fall zu Fall noch besonderer Anstrengungen unter Inkaufnahme zusätzlicher Risiken bedurft hätte: allein die zügige(re) Zulassung eines technisch einwandfreien neuen Bauteils bot beachtliche Vorteile; schneller(er) Marktzutritt war Geld; Gewißheit über allfallige Auftragsvolumina und deren Zeithorizonte erleichterte kostensparende innerbetriebliche Dispositionen ungemein. Offene Hände Direkt korrumpierende Angebote an Angehörige des öffentlichen Dienstes sind in Deutschland riskant. Erst wenn sich der einzelne Amtsträger oder eine ganze Zielgruppe bei vorsichtig tastenden Versuchen als empfänglich erwiesen hat, darf man deutlicher werden. Ein in dieser Richtung ungutes Behördenklima hatte sich im FTZ entwickelt. Das war - wie ein direktes Gegenbeispiel belegt - keineswegs zwangsläufig. In derselben ehemaligen Kaserne, in der damals das FTZ untergebracht war, residier5

Andererseits haben Teile eines 1948 verheimlichten Vorratsvermögens noch 50 Jahre später (!) des formellen Bilanzzusammenhanges wegen den Bundesfinanzhof beschäftigt (Urt v. 28.04.98. NJW 98, 1798 f.).

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te eine weitere Behörde der Post. Aber dort, beim Posttechnischen Zentralamt (PTZ), konnten keinerlei Empfänglichkeiten festgestellt werden, obwohl das PTZ dieselben Beschaffungsaufgaben, Modellprüfungen, Zulassungen und Preisprüfungen für den Bereich der „gelben" Post vorzunehmen hatte wie das FTZ auf dem Fernmeldesektor. Auch das PTZ war erst nach dem Krieg nach Darmstadt übersiedelt. Im Behördenaufbau und in der Besoldungsstruktur glichen sich FTZ und PTZ wie ein Ei dem anderen. An Versuchen und Versuchungen dürfte es auch im PTZ nicht gefehlt haben. Aber dank straffer Leitung durch korrekte Vorgesetzte auf allen Ebenen hatten sich fragwürdige Klimazonen im PTZ nicht einzuschleichen oder gar auszubreiten vermocht. Im FTZ dagegen erbat sich der Leiter der Beschaffungsabteilung von einer Lieferfirma ein unbefristetes unverzinsliches Darlehen von DM 7.000.-, was damals dem Preis eines Autos der gehobenen Mittelklasse entsprach6. Auch das wirkte - in anderem Sinn - beispielgebend. Das hatte folgenden Hintergrund: Im FTZ existierten auf der mittleren und oberen Führungsebene bis unmittelbar unter die Behördenleitung aus Studien-, Ausbildungs- und Kriegszeiten zahlreiche persönliche Kontakte zu ehemaligen Kollegen, die jetzt in der Wirtschaft tätig waren. Mancher war in der Nachkriegszeit als Außenseiter in der Behörde untergekommen, wieder andere, die ursprünglich im öffentlichen Dienst gewesen waren, hatten den Wiedereinstieg verpaßt. Diese Durchmischung resultierte nicht aus unterschiedlichen Qualifikationen oder politischen Belastungen der NS-Zeit. Praktische Gesichtspunkte spielten eine große Rolle, z.B. ob die Familie ausgebombt war, wo sie wieder ein Dach über dem Kopf gefunden hatte, wohin man aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde und eine Zuzugsgenehmigung hatte, ob man in der sowjetischen Besatzungszone oder in Ostberlin wohnen bleiben konnte u.a.m. Meistens half eine Art Kameraderie, Hemmschwellen zu überwinden: Warum soll ich Dir nicht ein wenig unter die Arme greifen, wenn ich es in der Wirtschaft finanziell heute leichter habe als Du bei der Behörde? Wir kennen uns doch schon von früher, da brauchst Du wirklich keine Bedenken zu haben, da ist doch nichts Schlimmes dabei! Sag' mir ruhig, wenn Du etwas Bestimmtes brauchst. Ich helfe Dir gerne, aus alter Freundschaft. Wie auch immer, im FTZ fand man bald nichts mehr dabei, wenn die Herren von der Industrie sich bei opulenten Bewirtungen, Übernahme von Reisespesen, Geschenken zum Geburtstag und zu Weihnachten sowie allerlei Zuwendungen für

6

Einzelheiten des Sachverhalts NJW 61, 2025 sowie (leicht gekürzt, aber ebenfalls unter ausdrücklicher Nennung des FTZ) BGHSt 16, 208.

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gute Zwecke als durchaus großzügig erwiesen. Immer im Zeichen menschlicher Sympathie, persönlicher Freundschaft und alter Verbundenheit. Doch Firmenunterlagen und interne Reiseberichte sprachen eine andere Sprache. Mochte die Notiz „Amtmann X braucht eine Kinderhose Gr. 9" von peinlicher Komik sein, es gab Beispiele nachgerade tragischer Desillusionierung. Da schrieb ein Beamter an eine Finna, daß ihn bei den Geschenken zu Weihnachten trotz Betonung persönlicher Freundschaft ein gewisses Unbehagen nie ganz verlassen hätte. Nachdem er auch nach seiner Pensionierung weiterhin so großzügig bedacht werde, sei er endlich beruhigt; jetzt stehe fest, daß die enge Verbindung mit dienstlichen Funktionen nichts zu tun hatte. Dieses Dankschreiben, das die Kriminalbeamten bei der Firma sicherstellten, zierte ein wütender Vermerk: Welcher Trottel denn die Pensionierung des X verschlafen habe, so daß es zu der absolut unnötigen Ausgabe noch gekommen sei? Wer sich bei einer Behörde einkauft, muß mit Umsicht vorgehen, Störfaktoren ausschalten, sie zumindest vorausschauend neutralisieren. Eines der Hauptprobleme ist der Neid der Kollegen (und der Kollegen-Frauen!), wenn es einem unter ihnen bei gleicher Besoldung wirtschaftlich erkennbar besser geht. Auf die zum Schutz plötzlich ausgebrochenen Wohlstandes aufgebauten Legenden und die zur Verschleierung benutzten subtilen Techniken ist hier nicht einzugehen. Gefährlicher für das Behörden-Klima ist das Faktum, daß Korruption aus immanenter Logik zur Ausbreitung tendiert. Je mehr mitmachen, desto sicherer wird der einzelne sich fühlen. Beamte sind zur Amtsverschwiegenheit verpflichtet, aber untereinander durchaus gesprächig. Ein Geschenk (von Bargeld abgesehen!) bereitet ja erst dann rechte Freude, wenn man es anderen zeigen kann. Das wiederum kann Gefahren heraufbeschwören. Beispielsweise erfreuten sich Musikschränke damals großer Beliebtheit, meistens halbhohe Schränke in Gelsenkirchener Barock, die Rundfunkapparat, Plattenspieler und ein Fach für Schallplatten enthielten, in Luxusausfuhrung zudem eine Hausbar. Eine Firma hatte 4 Musikschränke geordert. Die 3 in Luxusausführung ließen sich schnell jenen Beamten zuordnen, mit denen es die Firma zu tun hatte. Der einfache Musikschrank war jedoch an eine Angestellte gegangen, bei der es keine Berührungspunkte mit der Firma gab. Aber diese Angestellte hatte früher, als die Geschenke gemacht wurden, zusammen mit den anderen in demselben Dienstzimmer gesessen. Also wurde sie von der Firma vorsorglich lieber mitbedacht, wenn auch weniger aufwendig, nur damit es über Weihnachtsgeschenke nicht zu Getratsche kam: Für die Frau wohl kein

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Ein dafür typischer Fall ist in BGHSt 15, 286 = NJW 61, 472 dokumentiert.

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Bestechungsdelikt, weil es bei ihr keinen Bezug zu einer Amtshandlung gab, aber für den bei der Behörde damals herrschenden Geist durchaus charakteristisch. Verhaltensmuster Der Erlaß eines Haftbefehls, d.h. die Anordnung von Untersuchungshaft, setzt dringenden Tatverdacht voraus. Außerdem muß ein Haftgrund gegeben sein. Als Haftgründe nennt das Gesetz Fluchtgefahr sowie Verdunkelungsgefahr. Wo Koruptionsfalle aufgedeckt werden, sind fast immer Unterlagen manipuliert, frisiert oder beseitigt; einsetzende Ermittlungen pflegen hektische Aktivitäten zur Tilgung restlicher Spuren auszulösen; Verdunkelungsgefahr - und damit ein Haftgrund - liegt praktisch immer vor. Wurden Verdächtige tatsächlich in U-Haft genommen, zeigten sich bemerkenswerte Unterschiede. Die Verhaftung eines Beamten im Zuge der Ermittlungen rund um das FTZ blieb nie verborgen. Da brach eine vor Kollegen und Nachbarn gepflegte bürgerliche Fassade zusammen. Fast immer gab es großes Geschrei in der Zeitung. Auch über die späteren Gerichtsverfahren mit ihren öffentlichen Hauptverhandlungen wurde ausführlich berichtet. Bei Vorstandsmitgliedern, Geschäftsführern oder Inhabern involvierter Firmen sah das anders aus. Wenn die Kriminalbeamten den Betroffenen festnahmen, war ein Köfferchen in der Regel längst gepackt. „Rufen Sie bitte meine Frau an und sagen Bescheid, daß ich heute nicht zum Essen komme. Ich muß ganz dringend geschäftlich verreisen. Es kann einige Tage dauern," lautete die gängige Weisung an die Sekretärin, gegen die selbst die Polizei nichts einzuwenden hatte. Nach einer Nacht in der Runde-Turm-Straße (dort war früher die Haftanstalt, heute stehen da Gebäude der Technischen Hochschule) und einem Gespräch mit seinem Verteidiger ließ sich der Deliquent dem Haftrichter vorführen. Es gab dann durchweg ein sauberes Geständnis zu richterlichem Protokoll, exakt auf der Linie, daß die Verdunkelungsgefahr bei dem, was die Staatanwaltschaft vorwerfen und nachweisen konnte, ausgeräumt war. Mithin mußte der Haftbefehl aufgehoben werden. Kennzeichnend war die geschäftsmäßig kühle, sehr diskrete Bewältigung eines unerfreulichen Vorgangs. In der Öffentlichkeit kam es zu Vorwürfen: Offensichtlich würden nur Beamte verhaftet, die Unternehmer blieben ungeschoren; von entsprechenden Maßnahmen gegen sie sei keine Rede. Das mit der Rede stimmte durchaus, das mit den Maßnahmen keineswegs. Nur die Reaktion auf die Maßnahmen war eine andere. Auch bei der späteren Bestrafung gab es deutliche Unterschiede. Mit einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe, zumal auf Bewährung, konnte man als Mann der Wirtschaft

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fertig werden. Das war lästig, aber - anders als beim Beamten, der in der Regel den Dienst quittieren mußte - nicht existenzberohend. Ein Ausreißer Nur bei einem, allerdings großen Fisch auf Seiten der aktiven Bestecher gab es einen anderen Verlauf. In dem damals mittelgroßen Unternehmen hatte der Inhaber eine Geheimbuchhaltung als Sonderkonto angelegt; alle Ausgabenbelege dazu waren im Verwendungsziel anonym oder lauteten auf ihn selbst. Die Daten seiner Geschäftsreisen nach Darmstadt oder geschäftlichen Besprechungen mit Angehörigen des FTZ sowie die Art des Aufwandes ergaben deutliche Verdachtsmomente. Wer macht sich selbst schon unentwegt Geld- oder Sachgeschenke? Ausgaben werden aber erst dann strafrechtlich relevant, wenn sie - nachweisbar! - in die Hände eines Angehörigen des Öffentlichen Dienstes gelangt sind. Die Kontounterlagen waren beschlagnahmt, aber die Staatsanwaltschaft konnte sie nicht entschlüsseln. Auch die Steuerprüfer blitzten ab. „Ach, Sie wollen wohl Geld?" sagte der Firmenchef, als diese in den Betriebsausgaben herumzustochern begannen, die über das Sonderkonto verbucht waren. „Das können Sie natürlich haben. Mit Zinsen und Zuschlägen. Ich stellte Ihnen den Scheck für die Finanzkasse gleich aus." Damit war der Fiskus als Interessent für die Entschlüsselung der Belege ausgeschaltet. Als einen seiner Verteidiger hatte dieser Firmenchef vorsorglich einen Rechtsanwalt gewonnen, der früher einmal bei der Staatsanwaltschaft tätig gewesen war und dort Auslieferungssachen bearbeitet hatte. Das ist ein Spezialgebiet. Die Kriterien, nach denen Staaten Delinquenten ausliefern, divergieren erheblich. Als der Empfang größerer Beträge durch Geständnis der bestochenen Beamten als strafbare Handlung bewiesen, das Geheimkonto also insoweit entschlüsselt war, erwirkte die Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen den Firmenchef. Im Unternehmen und in seiner Wohnung wurde er nicht angetroffen. Die Polizei verfolgte eine Spur Richtung Schweiz und Italien. Dort war aber nur der Fahrer mit dem Auto unterwegs, den man zur Ablenkung auf diese Tour geschickt hatte. Der Chef selbst war inzwischen auf anderen Wegen nach Holland gelangt. Die Niederlande waren das einzige Land in Westeuropa, das bei den Delikten, die im Haftbefehl standen, die Auslieferung ablehnte. Da saß unser Unternehmer im sicheren Holland und leitete seine Firma von dort aus. Das ging eine ganze Weile gut, zum Ärger der Darmstädter Staatsanwaltschaft. Ob nun dem Firmenchef allmählich dämmerte, daß sich die Konkurrenz

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zwar nicht so clever, in der Sache aber klüger verhalten hatte und im Ergebnis damit besser gefahren war, mag dahinstehen. Nach einiger Zeit gab es Friedensfühler. Der Ausreißer erklärte sich bereit, zur Vernehmung nach Deutschland zu kommen. Dazu wurde ihm ein Geleitbrief ausgestellt, d.h. freies Geleit gemäß § 295 StPO zugesichert. Nachdem ein saftiger Strafbefehl das Verfahren abgeschlossen hatte, konnte der Firmenchef unbehelligt in Deutschland weiterarbeiten. Das Unternehmen hat sich unter seiner direkten Leitung günstig entwickelt. Die von ihm eingewickelten Beamten dagegen hatten ihre Anstellung und alle bisher erdienten Pensionsansprüche verspielt. Fazit -

Strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft und die Verfügbarkeit von Schwarzgeld erleichterten es in den fünfziger Jahren, unternehmerische Ziele auch durch aktive Bestechung maßgeblicher Amtsträger in den deutschen Behörden zu verfolgen. - Eine Empfänglichkeit auf Seiten der Beamtenschaft war keineswegs generell gegeben. Wo allerdings Hemmschwellen, vor allem bei Vorgesetzten, erst einmal überwunden oder kriminogene Usancen eingerissen waren, erfaßte die Korruption sehr schnell ganze Behördenbereiche. -

Da Bestechung nach bestem Vermögen getarnt, verheimlicht und abgesichert wird, setzen Ermittlungen - wenn überhaupt - relativ spät ein und gestalten sich schwierig; bis zur Aufdeckung waren viele Fälle einfacher Bestechung im FTZ bereits verjährt.

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In bestimmten Konstellationen war ein Zugriff auf Täter im Ausland ausgeschlossen, zumindest sehr erschwert.

-

Strafrechtliche Maßnahmen und deren Nebenfolgen wirkten sich bei überführten Beamten wesentlich härter aus als auf Seiten der Unternehmer. Vermutlich hat die Resonanz der damaligen Strafverfahren in Bonn, Darmstadt, Koblenz und anderen Orten dazu beigetragen, daß Bestechungsdelikte in der Bundesrepublik Deutschland in den folgenden Jahrzehnten Seltenheitswert besaßen. Erst in jüngster Zeit - nachdem Erinnerungen verblaßt und neue Generationen in die Ämter eingerückt sind? - wurden Skandale größeren Ausmaßes bekannt, zunächst wiederrum vornehmlich bei technischen Verwaltungen, die Aufträge auf Sektoren mit geringer Markttransparenz vergeben, wie z.B. kommunale Tiefbauämter.

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II.

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Folgerungen für den EURO-Standort Deutschland

Geschichte wiederholt sich nicht; trotzdem kann man aus Erfahrung lernen. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß es gegenwärtig in einer deutschen Behörde so zugehen könnte wie weiland im FTZ. Es ist aber auch nicht auszuschließen, daß in modischem Gewände - vergleichbare Erscheinungen wiederkehren. Die Einführung des EURO ist keine Währungsreform. Aber in ihrem Schatten lauern größere Probleme als damals in den vergleichsweise harmlosen Restbeständen der Zwangswirtschaft. Verfügen wir über das Instrumentarium, ihnen angemessen zu begegnen? Haben wir mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Internationalen Bestechung (IntBestG) vom 10. September 98 8 und dem EU-Bestechungsgesetz (EUBestG) vom gleichen Tage 9 bereits das Nötige getan? Gewachsene Potentiale - Leichteres Abtauchen Der EURO wird die Schattenwirtschaft nicht beseitigen. Die Bekämpfung der Geldwäsche kann das stets virulente Korruptionspotential, das in illegal vagabundierenden Geldern steckt, nicht austrocknen. Das aktuelle Schwarzgeldvolumen resultiert ja nicht nur aus lokalen Dienstleistungen oder nicht gestellten Handwerksrechnungen, sondern aus Rauschgifthandel und ähnlich großräumig angelegten Aktivitäten organisierter Kriminalität. Deren Fonds dürften die Umstellung der nationalen Währungen auf den EURO unbeschadet überstehen. Wie die jüngste Erfahrung lehrt, hat auch der Geldumtausch im Zuge der deutsch-deutschen Währungsunion des Jahres 1990 weder die sog. Vereinigungskriminalität noch das Einbunkem beträchtlicher Vermögen der SED zum späteren Einsatz im neuen Währungsgebiet verhindert. Kriminogenes Geldvolumen läßt sich im Rahmen der EWU künftig noch ungehinderter zu jedem Zweck an jeden beliebigen Ort verfügen. Großbeträge, die man in der EWU nicht erst wechseln muß, werden bei Bedarf nachgerade überall zur Hand sein, auch um damit grenzüberschreitend Einluß auf Politiker und öffentliche Bedienstete zu nehmen. Es ist deshalb ein wichtiger Schritt, daß die Bestechung von ausländischen Amtsträgern, Richtern, Abgeordneten, Soldaten und Funktionsträgern bei der EU und internationalen Organisationen nach dem IntBestG und dem EUBestG ebenso unter Strafe gestellt wird wie vergleichbare

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Gesetz zu dem Übereinkommen vom 17. Dezember 1997 über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr, BGBl II, 2327. Gesetz zu dem Protokoll vom 27. September 1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, BGBl. II, 2340.

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Taten im Inlandsbereich10. Auf der anderen Seite können kriminell eingesetzte Gelder in den Händen der Empfänger leichter diffundieren, als das unter den engen Lebensverhältnissen der Nachkriegszeit möglich war. Eine soziale Kontrolle durch Nachbarn und Kollegen findet kaum noch statt. Selbstverwirklichung ist Trumpf. Das Ferienhäuschen auf der iberischen Halbinsel oder an den finnischen Seen kann in Wirklichkeit - mit Unterstützung interessierter Seite - zur überaus konfortablen Villa mutiert sein, ohne daß hierzulande ein Hahn danach kräht. Der Gemeinsame Markt und die damit nicht identische EURO-Zone sind mit dem Staatsgebiet, d.h. dem Geltungsbereich der einschlägigen Gesetze nicht kongruent. Bei aufkommendem Verdacht werden Polizei und Justiz kaum noch synchron ermitteln können, falls Schmiergelder zwar innerhalb desselben Wirtschaftsraumes und Währungsgebietes, dabei aber nicht innerhalb desselben Staatsgebietes eingesetzt wurden. Ermittlungserfolge hängen jedoch in hohem Grade davon ab, daß möglichst gleichzeitig auf der Aktiv- und der Passivseite vorgegangen wird. Abnehmende Entdeckungsgefahr pflegt wiederum die Resistenz gegen allfallige Versuchungen merklich zu verringern, auch im deutschen öffentlichen Dienst. Erleichterungen im internationalen Rechtshilfeverkehr - wie von IntBestG und EUBestG vorgesehen - können hilfreich sein; sie greifen aber erst bei konkret belegtem Verdacht. Sauberkeit der Verwaltung als Standortvorteil Bei der Debatte über den Standort Deutschland wird gerne verdrängt, daß die deutsche Wirtschaft, selbst wenn alle Auswüchse zurückgeschnitten sind, die Konkurrenten mit den noch niedrigeren Löhnen und den noch niedrigeren Lohnnebenkosten nicht aus dem Felde schlagen wird. Einen Wettlauf nach unten können wir nicht gewinnen. Auch mit billigen Rohstoffen können wir nicht konkurrieren. Komparative Vorteile gibt es auf anderen Gebieten. Standortvorteile sind z.B.: unsere ausgezeichnete Infrastruktur, die relativ größere Sicherheit, Rechtssicherheit und - unser Thema! - Korrektheit des öffentlichen Dienstes. Funktionierende Institutionen reduzieren Transaktionskosten. Das ist ein Pfund, mit dem sich wuchern läßt.

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Die komplizierte Kasuistik ist hier nicht auszubreiten; maßgeblich bleibt das Prinzip.

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Ansatzpunkt Wirtschaft? Moralische Appelle, Verhaltenskodices für die Wirtschaft sowie einschlägige Verbote sind nützlich, aber nicht ausreichend. Wird z.B. in allen Industrieländern die steuerliche Abzugsfahigkeit von nützlichen Abgaben bei Exportgeschäften beseitigt, die in sogenannten Bakschisch-Ländern zur Akquisition von Aufträgen als unerläßlich gelten, mag das die allgemeine Moral heben. Aber das egalisiert lediglich die Kalkulationsbasis der anbietenden Firmen. Fortan müssen alle Konkurrenten etwaige Bestechungsgelder gleichermaßen dem versteuerten Gewinn entnehmen, ohne daß der eine diese Zahlungen als betrieblichen Aufwand abziehen kann, während das dem anderen verwehrt bleibt. Mit dieser Egalisierung, soweit sie steuertechnisch überhaupt funktioniert, ist jedoch die Korruption auf Seiten der Bakschisch-Nehmer nicht eliminiert. Dem unterbezahlten Zöllner oder Polizeibeamten in einem Land der Dritten Welt ist es völlig egal, wie die von ihm erpreßten Gelder in den Industrieländern verbucht werden. Er braucht das Geld, weil er mit seiner Familie hungern muß, wenn er es nicht nach Hause bringt, nach Abzug der Anteile, die seine Vorgesetzten bei ihm abkassieren. Im übrigen belegen die Vorgänge beim FTZ, daß gesetzliche Verbote, existierende Strafandrohungen und die Nichtanerkennung der Aufwendungen als Betriebsausgaben 11 der Korruption kaum im Wege standen. Auch aus anderen Gründen bietet der Ansatzpunkt Wirtschaft keine befriedigende Lösung: Für Unternehmen ist (aktive) Bestechung eine professionell-rationale Angelegenheit. Man praktiziert sie, wo man glaubt, zu diesem Mittel greifen zu müssen und - mit vertretbarem Risiko - greifen zu können. Ein Verhaltenskodex der Wirtschaft müßte zudem von der WTO, der EU und anderen Gremien beschlossen werden; mehr als ein Kompromiß ist dabei nicht zu erwarten. Ein solcher Kompromiß mag nützlich sein. Aber er reicht niemals aus, um einen speziellen Standortvorteil für Deutschland zu sichern. Ansatzpunkt Dienstrecht? In der Bundesrepublik verfügen wir über den immensen Standortvorteil eines pünktlich und auskömmlich bezahlten öffentlichen Dienstes. Wie hoch das einzuschätzen ist, zeigt der Blick nach Rußland einerseits und in Entwicklungsländer andererseits. Die Voraussetzungen, unseren öffentlichen Dienst auch in Zukunft einigermaßen frei von Korruption zu halten, sind vorhanden. Allgemeine Arbeits11

Konditioniert geregelt durch § 4 Abs. 5 Nr. 10 EStG (eingefugt mit StÄndG 95); zuvor resultierte die faktische Nichtanerkennung bei Inlandsfallen in der Regel aus dem Umstand, daß der Empfanger der Betriebsausgabe nicht ordnungsgemäß benannt war.

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losigkeit und starke Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt haben die subjektive Wertschätzung für einen gesicherten Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst noch gesteigert. Die Bürger sind zwar - wie zunehmende Schwarzarbeit signalisiert - durchaus nicht abgeneigt, den Staat hier und dort um Steuern zu prellen. Aber unter einer korrupten Verwaltung leben, das will niemand. Keine Gewerkschaft, kein Beamtenverband könnte dafür plädieren, aus sozialen Erwägungen etwa Maßnahmen zu unterlassen, die die Sauberkeit des öffentlichen Dienstes stärken. Das wären nämlich keine Sonderopfer, die dem öffentlichen Dienst zugemutet würden, sondern das ist - in unserem Staatsverständnis - eine Stärkung seines Wesenselementes. Deshalb ist mit diesem Ansatz mehr zu erreichen als mit Appellen an die Wirtschaft. Was käme in Frage? Dazu muß Bestehendes überprüft und Neues auf seine Systemgerechtigkeit abgeklopft werden. Hierfür zwei Beispiele: 1. Nach § 24 Abs. 1 Nr. 1 BRRG endet das Beamtenverhältnis, wenn der Beamte wegen einer vorsätzlichen Tat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wird. Das war schon zu Kaisers Zeiten so. Freilich wurden seinerzeit 12

einschlägige Delikte generell härter bestraft als heute . Also ist die damalige Balance nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Ein modernes Recht des öffentlichen Dienstes sollte deshalb die Beendigung des Beamtenverhältnisses bei einschlägigen Delikten auch bei Verurteilungen, die weniger als ein Jahr betragen, zum Regelfall machen. Ausnahmen, die aber immer besonders begründet und gerechtfertigt werden müßten, könnten zugelassen werden. 2. Abflachung von Hierarchien? Darüber kann man natürlich reden. Aber wäre dann nicht das moderne Vier-Augen-Prinzip, die Zweitunterschrift unter voller Mitverantwortung des Mitunterschreibenden ein notwendiges Korrelat bei allen Verwaltungsbescheiden und öffentlichen Aufträgen? Darüber hört man leider zu wenig. Eine systematische Überprüfung des Rechts des öffentlichen Dienstes, für die hier nicht Raum ist, würde zu zahlreichen weiteren Anregungen führen. Die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union sowie weitere Schritte zur Harmonisierung stehen einer systematischen Überprüfung, gegebenenfalls Verschärfung des Rechts des öffentlichen Dienstes, nicht entgegen. Zwar kann nichtdeutschen EUBürgern bei entsprechender Qualifikation der Eintritt in den deutschen öffentlichen Dienst nur noch ausnahmsweise mit der Begründung verwehrt werden, daß ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit fehle. Aber wer hier in den öffentlichen Dienst eintritt, wäre keinesfalls berechtigt, nach Gepflogenheiten zu handeln, die in seinem Heimatland vielleicht üblich, in Deutschland dagegen verpönt sind. 12

Das hat Rückwirkungen auf das Disziplinarrecht, auf die noch eingegangen wird.

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Strafgesetze und Disziplinarordnungen unterliegen nicht der Harmonisierung. Darauf gestützte Maßnahmen bleiben EU-konform, solange sie auf Bürger aus anderen EU-Mitgliedstaaten, auf Männer und Frauen nicht schärfer angewendet werden als auf Deutsche auch. Generell schärfere Maßnahmen eines Staates sind keine verbotene Diskriminierung, solange sie auf alle seiner Jurisdiktion unterstehenden Delinquenten gleichermaßen angewandt werden, auch in den Sonderbereichen des IntBestG und des EUBestG.

Flankenschutz durch Strafrecht Die im StGB formulierten Tatbestände sind im Prinzip ausreichend. Ergänzungen im Zuge der Strafrechtsreform, wie z.B. die stärkere strafrechtliche Verantwortung des Vorgesetzten gemäß § 357 StGB, werden sich bewähren. Handlungsbedarf könnte es jedoch bei den Verjährungsfristen geben. Bestechungsdelikte werden von den Beteiligten nach bestem Vermögen getarnt. Es gibt keinen nach außen erkennbaren Verlust wie bei Diebstahl oder Raub, Erpressung oder Entführung. Es gibt kein Opfer, das die Tat unverzüglich meldet oder anzeigt. Ermittlungen werden oft erst ausgelöst, wenn sich der Schmierfleck im Laufe der Zeit allmählich so ausgebreitet hat, daß es merklich stinkt. Die praktische Ermittlungsarbeit wird im Vergleich zu früher noch schwieriger und langwieriger, wenn einerseits Staatsgebiet, Wirtschaftsgebiet und Währungsgebiet nicht mehr kongruent sind, während andererseits die Freizügigkeit über die Staatgrenzen hinweg verschleiernde Transaktionen nicht nur erleichtert, sondern geradezu nahelegt. Nach § 78 a StGB beginnt die Verjährung, sobald die Tat beendet ist. Die Strafrechtsreform hat die Verjährungsfristen vereinheitlicht. Sie betragen heute auch in den Fällen schwerer Bestechung (bei pflichtwidriger Amtshandlung) nur noch fünf Jahre, so wie in den anderen Konstellationen auch. Verjährungsfristen von fünf Jahren erscheinen bei den heutigen Gegebenheiten als zu kurz. Bei den - unter einfacheren Voraussetzungen - anlaufenden Emittlungen im FTZ waren viele Vorgänge bereits verjährt, bis sie aufgedeckt werden konnten 13 . Bestraft wurden Ermessensbeamte, die höheren Chargen also, weil die 13

Lehrreich ist der eingangs zitierte Fall BGHSt 16, 208 = NJW 61, 2025. Ein Beamter hatte sich 1953 von einer Firma ein unbefristetes und unverzinsliches Darlehen von DM 7.000,- geben lassen (damals etwa der Preis eines Autos der gehobenen Mittelklasse). Die Sache wurde im Zuge der allgemeinen Ermittlungen 1959 aufgedeckt. Der BGH hat das Verfahren wegen Veijährung eingestellt. Begründung: Die Tat (=Geldhingabe/Annahme) war bereits 1953 beendet Das Belassen des Geldes als unbefristetes zinsloses Darlehen habe eher einen geringeren Unrechtsgehalt gehabt, als wenn die Summe sofort geschenkt worden wäre Da aber eine solche Schenkung auf alle Fälle inzwischen verjährt

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Verjährungsfrist bei ihnen seinerzeit 10 Jahre betrug. Nur sie waren noch zu fassen14, obwohl organisierte Kriminalität und Auslandsbezüge damals keine Rolle spielten, obwohl Staatsgebiet, Wirtschaftsgebiet und Währungsgebiet noch kongruent waren und obwohl die bestochenen Bediensteten kaum die Möglichkeit hatten, die Früchte ihrer Taten weit weg von der Heimat im Ausland zu genießen. Leider gibt es keine aussagekräftige Statistik, in welchem Ausmaß Bestechungsdelikte unter den heutigen Lebensverhältnissen bereits verjährt sind, bevor sie Aufmerksamkeit erregen und Ermittlungen auslösen. Hätte es damals eine generelle Verjährung schon in 5 Jahren gegeben, wie das heute der Fall ist, wäre es im FTZ-Komplex und den anderen Beschaffungsskandalen kaum noch zu Verurteilungen gekommen. Das Leitbild vom deutschen Beamten hätte sich nach solchen Erfahrungen anders entwickelt. Eine Zukunftsvision, nach der die Deutschen national und nunmehr auch international in Bestechungssachen eifrig ermitteln, aber letztlich kaum noch zur Bestrafung kommen, weil bis dahin das Meiste verjährt ist, erscheint vor diesem Hintergrund als realistisch. Auch die für leichtere Fälle noch kürzeren Verjährungsfristen im Disziplinarrecht von zwei und drei Jahren verhindern, daß Maßnahmen angesichts routinierter Tarnung noch rechtzeitig greifen 15 . Damit ist die deutliche Wamfunktion ausgeschaltet, die benötigt wird, um den Anfängen zu wehren. Wird andererseits in gravierenden Fällen eine Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr verhängt, die - nach derzeitigem Beamtenrecht - das Beamtenverhältnis nicht automatisch beendet, dient dieses im Umkehrschluß oft als Argument, dann auch im Disziplinarverfahren von der Entfernung aus dem Dienst abzusehen: Wenn es so schwerwiegend gewesen wäre, hätte ja wohl der Strafrichter schon entsprechend reagiert. Man muß diese Rückkoppelungseffekte mit ins Auge fassen, wenn man den in einem integren öffentlichen Dienst liegenden Standortvorteil auf Dauer absichern will. Unangemessen kurze Verjährungsfristen wirken wie ein im Voraus gewährter Ablaß zum Nulltarif. Denn die Täter können sich viel eher zutrauen, die Sache

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sei, müsse das für die (weniger schlimme) Zuwendung eines Darlehens, das weiterbestehe, erst recht gelten. Deshalb war der Status des Ermessensbeamten so umkämpft. Es ging dabei nicht um ein etwas höheres oder niedrigeres Strafmaß, sondern um „alles" oder „nichts". Wo die Verteidigung die Einordnung des Delinquenten als Ermessensbeamter zu Fall brachte, mußte das Verfahren wegen der schon nach 5 Jahren eingetretenen Veijährung eingestellt werden. Die Einleitung eines Strafverfahrens hemmt den weiteren Ablauf der disziplinarrechtlichen Veijährungsfrist gemäß § 4 Abs. 3 BDO nur dann, wenn das Strafverfahren vor Ablauf dieser Frist eingeleitet wurde. Das ist in sich logisch, greift aber bei Dienstvergehen der hier in Rede stehenden Art zu kurz.

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gemeinsam jedenfalls solange unter dem Teppich zu halten, bis eine - durchaus überschaubare - Frist überstanden ist. Es war gut gemeint, aber wirklichkeitsfremd, bei der Strafrechtreform eine angebliche Privilegierung des Bestechers zu beseitigen und ihn der gleich hohen Strafandrohung und damit der gleich langen (kurzen) Verjährungsfrist zu unterstellen wie den bestochenen Beamten. Das festigt die Solidarität der Delinquenten, die es doch gerade bei diesen stets im Dunkel stattfindenden Delikten zu mindern und aufzubrechen gilt. Das Übereinkommen vom 17. Dezember 1997, das mit dem IntBestG ratifiziert wurde, enthält in Art. 6 folgende Anregung: Die für die Straftat der Bestechung eines ausländischen Amtsträgers geltenden Verjährungsfristen sehen einen angemessenen Zeitraum für die Ermittlung und Verfolgung dieser Sraftat vor. Im Inland wie im Ausland brauchen wir soviel Zeit, daß effektive Ermittlungen einsetzen können, bevor Verjährung eintritt. Es wäre fatal, wenn der Gesetzgeber die zur Sicherung dieses deutschen Standortvorteils erforderlichen Schritte verschläft. Sie sind im Zeichen des EURO noch dringender geworden.

Währungsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Regierungswechsel in Deutschland und die Währungsunion aus der Sicht Großbritanniens David Marsh I. Die europäische Landschaft wird umgepflügt. Nicht zum ersten Mal ist Deutschland Epizentrum eines europäischen Wandels. Die Bundestagswahl hat eine politische Wende herbeigeführt, die in der bald 50-jährigen deutschen Nachkriegschronik ihresgleichen sucht. Zum ersten Mal wurde ein amtierender Bundeskanzler vom Wählervolk direkt in die Opposition geschickt, und eine Regierung durch eine völlig neue Koalition ersetzt. Ministerialhierarchien und Amtsbürokratien werden vollkommen ausgewechselt; ein Grüner präsidiert im Weltsaal des Auswärtigen Amtes; in der Fiskal- und Währungspolitik scheint sich ein Paradigmenwechsel bis hin zu einer neokeynesianischen Politik der sozialen Umverteilung und der Nachfrageankurbelung anzubahnen. Die neue politische Konstellation in Deutschland und in Europa wird auch Konsequenzen für die Wirtschafts- und Währungsunion haben. Zwar kann die europäische Konjunkturdelle der letzten Jahre jetzt als überwunden gelten, doch bleibt die konjunkturelle Erholung relativ schwach, zumal die Perspektiven für das kommende Jahr wegen der Abflachung des US-Wachstums und der erneuten Krisenerscheinungen in Rußland sowie in einer Reihe von Transformationsländern und Zweitweltökonomien getrübt werden. Ein solch weitreichendes Unterfangen wie die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zu einer Zeit wirtschaftlicher Schwäche in Europa zu vollenden, erfordert sowohl einen tiefgehenden Glauben an die selbstheilende Kraft fester Wechselkurse als auch die Überzeugung, daß der neue Währungsraum über die notwendige Widerstandskraft verfügen wird, um externe Schocks oder interne Fehlleistungen ohne das Korrekturinstrument der Wechselkursanpassung abzufedern. II.

Revolutionen haben den Ruf, ihre Kinder zu fressen; es ist daher wenig verwunderlich, daß nach dem Abgang von Helmut Kohl keiner der Hauptarchitekten der Währungsunion die Ingangsetzung seines Werkes als aktiver Staatsmann miterleben wird. Es gehört zu den vielen ironischen 'faits divers' des Maastrichter-

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Prozesses, daß in den beiden wichtigsten Mitgliedsländern des Eurogebiets, Deutschland und Frankreich, die Geschäfte jetzt von zwei linken Politikern, Gerhard Schröder und Lionel Jospin, übernommen wurden, die in der Vergangenheit Zweifel an der Realisierung des gemeinsamen Geldes hatten oder unangenehme Konsequenzen für die Arbeiterschaft sahen. Schröder selbst hat mit löblicher Konsistenz die Ansicht vertreten (meines Erachtens zu recht), daß die Einführung des neuen Geldes mit großen Fragezeichen behaftet sei, u.a. weil sie aufgrund der weiteren Rationaliserungsbestrebungen der europäischen Industrie zu mehr Arbeitslosigkeit in den beiden Kernländern führen könne. Die vor einigen Monaten geäußerte, von manchen Kritikern als unangebracht und als nestbeschmutzend angeprangerte Schröder'sehe Bezeichnung des Euro als 'kränkelnde Frühgeburt' trifft den Nagel auf den Kopf. Der neue Bundeskanzler wird jetzt nicht nur seine Euro-Auffassungen diplomatischer zu fomulieren haben, sondern auch den Erfolg des neuen Geldes mit Beharrlichkeit verfolgen müssen. Ein unerwartetes Gelingen des neuen Geldes im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit würde Schröder, Politiker wie er ist, natürlich für sich verbuchen. Ein etwaiges Scheitern (an das ich als Vertreter eines Landes, das der bedeutendste Handelspartner des Euro-Raums sein wird, erst gar nicht denken mag) wird Schröder seinem Vorgänger anlasten, weil dieser überambitioniert gewesen sei und es ihm an Durchblick gemangelt habe. Der mangelnde Bezug zur neuen europäischen Währung mag für die Impertinenz, mit der das Schröder-Team in den ersten Wochen nach der Wahl die europäischen und bundesdeutschen Währungshüter gescholten hat, mitentscheidend gewesen sein. Auch wenn der Versuch des neuen Finanzministers Oskar Lafontaine für legitim gehalten werden kann, für den Umgang mit einer mächtigen, vollkommen unerprobten Notenbank neue Spielregeln zu setzen, ist seine Kampagne sicherlich übertrieben. Glaubt er tatsächlich, mit einer Zinssenkung um einen Viertelprozentpunkt durch die Bundesbank würden sich die strukturpolitischen Reformmaßnahmen zur Linderung der Arbeitslosigkeit erübrigen? Oder stellt die Einschüchterungskampagne ein Versuch dar - für den Fall, daß die hauseigenenen Rezepte gegen die Arbeitslosigkeit nicht taugen Ablenkungsmanöver bereits jetzt in Gang zu bringen und potentielle Sündeböcke aufzuspüren? III. Es ist eine Ironie, daß Tugenden wie die unantastbare Unabhängigkeit der Notenbank, die lange Zeit von den Deutschen mit Verbissenheit verteidigt wurden, von der neuen Regierung in Frage gestellt zu werden scheinen. Jetzt erscheint die

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traditionelle von Paris aus entfesselte, gegen den vermeintlichen Frankfurter Fetisch ,Monetarismus' gerichtete politique alternative noch pikanter; sie erreichte mit der kurzlebigen französischen Initiative von 1997/98, den Gouverneur der Banque de France, Jean-Claude Trichet, als Kandidat für die Präsidentschaft der Europäischen Zentralbank zu ernennen, ihren provisorischen Höhepunkt. Wenn Lafontaine im letzten Frühjahr Finanzminister gewesen wäre - so dürfen wir annehmen dann wäre Trichet und nicht der Holländer Wim Duisenberg in den europäischen Währungssattel gehoben worden. Auf jeden Fall hat die Bundesregierung seit dem 27. September der neuen christlich-demokratisch geführten Opposition eine kaum erhoffte Gelegenheit serviert, sie als Störenfried der Stabilität zu desavouieren. Diese Episode führt vor Augen, daß im Vergleich zu den potentiellen Problemen nach der Einführung der neuen Währung die vorangegangenen Schwierigkeiten des Maastrichter-Prozesses einem Kinderspiel ähneln könnten. Großbritannien wird bestärkt in der Annahme, daß es zumindest einige Jahre ohne großen Schaden dem Währungsverbund fernbleiben könne. Erwartungen und Versprechungen zur Währungsunion sind ohnehin mit Vorsicht zu genießen. Vor der Proliferation nie zu erfüllender Hoffhungen und Illusionen muß eindringlich gewarnt werden. Die Währungsunion kann nur gelingen, wenn dem Festzurren der Wechselkurse eine ausgesprochene Flexibilität auf Arbeits-, Produkt- und Kapitalmärkten gegenübersteht. Wenn viele Länder weder die nachhaltige Konvergenz noch die notwendige Flexibilität aufweisen, würde die Währungsunion mehr Nachteile als Vorteile bringen. Die geplanten währungspolitischen Neuerungen sind in unserer Geschichte ohne Vorbild. Aus dem 'kränkelnden Kind' muß ein strammer Bursche und starker Kämpfer werden. Aber die neuen Stiefväter täten gut daran, viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit walten zu lassen, um das Gedeihen zu gewährleisten. IV. Für Deutschland ist dies ein fast beispielloser politischer Herbst gewesen. In unserem Zeitalter der Medien, wo Image alles ist und sich Politik oft auf fernsehwirksame Bilder oder Sound-Bites reduzieren läßt, sind wir in den Wochen seit der Bundestagswahl atemlose Zeugen einer kurzschlußartigen Beschleunigung der politischen Ereignisse geworden. Das Brautpaar Gerd und Oskar ist gerade erst am Altar angelangt, und schon sind die Flitterwochen vorbei. Wir haben an der Aufblähung, der Demontage und schließlich der Selbstentlassung eines Ministers teilgenommen - des glücklosen Jost Stollman -, bevor er überhaupt Minister ge-

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worden ist. Eine Steuerreform wurde verkündet, verteidigt, verworfen und verurteilt, und dann als quasi-irrelevant ad acta gelegt, bevor die neuen Minister und die Staatssekretäre die Amtsgeschäfte übernommen hatten. Noch merkwürdiger: der neue Finanzminister, der offensichtlich in Anbetracht der europäischen Harmonisierung sein bisher eher bescheiden wirkendes Ministerium mit einer dem britischen Treasury oder dem französischen Ministère de l'Economie et des Finances vergleichbaren Machtfülle ausstatten will, hat sich noch vor seiner formalen Designierung mit den Hohen Priestern der Bundesbank angelegt. Da in den vergangenen Jahren derartige verbale Angriffe auf die Bundesbank eher eine kontraproduktive Wirkung erzielt haben, dürften wir erwarten, daß die Zinsen in Deutschland etwas länger auf dem Herbst-Niveau ausharren werden, als dies ansonsten ohne den Frechen-Oskar-Effekt der Fall gewesen wäre. Doch finden Veränderungen und Verwerfungen nicht nur in Deutschland, sondern auch in der weiteren Welt statt. Die wirtschaftlichen Turbulenzen in den 'emerging markets' werden von zusätzlichen Zeichen eines Gezeitenwechsels begleitet: dem Verlust an politischer Autorität des amerikanischen Präsidenten und dem Linksruck in den meisten Mitgliedsländern der Europäischen Union. War vor sieben Jahren zur Zeit des Maastrichter Vertrags die Mehrheit der europäischen Regierungen von christlich-demokratischer Prägung, so verbleibt heute nur noch José Maria Aznar in Madrid als alleinregierender Vertreter konservativer Orientierung in den Schaltzentralen der europäischen Macht. Durch diese Entwicklung haben sich Struktur und Symmetrie der europäischen Machtkonstellation weitgehend verändert. Die Zeiten des exklusiven bilateralen, sich mit allem befassenden und alles regelnden deutsch-französischen Clubs im Herzen der europäischen Gemeinschaft sind vorbei. Der Schulterschluß in der Euro-Finanz- und Währungspolitik zwischen Lafontaine und Strauss-Kahn darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in Europa die persönlichen und geopolitischen Affinitäten und Präferenzen der neuen deutschen Regierung viel multilateraler angelegt sind, als dies zuvor der Fall war. Als Kohl vor 10 Jahren Mitterrand ankündigte oder (besser gesagt) androhte, er sei der letzte europäische Bundeskanzler, wollte er aus ihm naheliegenden Gründen den großen westlichen Nachbar auf die Möglichkeit aufmerksam machen, ohne Führung durch den treuen Helmut könne Deutschland unter Umständen von der Nato und der westlichen Allianz abdriften. In der neuen Konstellation jedoch treibt Deutschland als Konsequenz der KohlNachfolge nicht von Europa, sondern von Frankreich ab. Dies bedeutet freilich nicht, daß Deutschland sich jetzt auf Partnersuche befindet, um Frankreich zu ersetzen. Meiner Auffassung nach werden vereinfachte Hoffnungen einzelner britischer Tagträumer, wonach die berühmte Achse Paris-Bonn nun durch eine Art

Regierungswechsel in Deutschland und die Währungsunion aus der Sicht Großbritanniens

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Triumvirat mit Beteiligung der Briten ersetzt werde, nicht in Erfüllung gehen. In der Formulierung neuer Prioritäten scheinen die neuen Machtinhaber die Interessenlage einer Reihe von Nachbarn und nicht nur die Frankreichs in Betracht zu ziehen. Angesichts der Brisanz der EU-Erweiterungsthematik und des Wechsels der neuen Machtzentrale nach Berlin ist eine Politik der gezielten Berücksichtigung der Länder Mittel- und Osteuropas zu erwarten und zu begrüßen. V. Eine objektive Betrachtung der Währungsunion muß selbstverständlich die möglichen Vorteile miteinbeziehen. Der Wegfall der Wechselkursschwankungen und die Vereinfachung des Zahlungsverkehrs werden den europäischen Binnenmarkt untermauern und ausbauen. Durch die Vertiefung der Kapitalmärkte können die Finanzierungskosten für Investitionen in ganz Europa gesenkt werden. Aufgrund des vereinheitlichten Kapitalmarkts werden Investmentbanken ihr Fachwissen, ihren Erfahrungschatz und ihre Produktpalette in Sachen 'Aktienkultur' ausdehnen. Von einem bestimmten Blickwinkel aus gesehen scheint die Realisierung der Währungsunion sogar der Vollendung eines Traums gleichzukommen. Damit wird nicht nur eine für Wachstum, Beschäftigung und Investitionen förderliche Eliminierung der Wechselkursrisiken in Europa möglich, sondern auch die Einbettung des wiederverereinigten Deutschlands in ein stabiles, verstärktes europäisches Rahmenwerk - mit der Folge, daß der Kontinent für die politischen Zielsetzungen des kommenden Jahrhunderts, vor allem für die Integration der vom sowjetischen Imperium befreiten Länder Mittel- und Osteuropas, viel besser gewappnet sein könnte. Mit dem Maastrichter Vertrag haben jedoch die Politiker eine Reihe von Ergebnissen herbeizuführen versucht, die in den letzten Jahren auf andere Weise oder aus anderen Gründen zustande kamen. Eine Vorgabe Maastrichts, die Beherrschung der Inflation, ist inzwischen aufgrund des durch die Globalisierung erfolgten wirtschaftlichen Konkurrenzdrucks erzielt worden. Eine weitere Vorgabe, nämlich die Zähmung der durch die Wiedervereingung emeut als dominant erscheinenden Deutschen, ist inzwischen - zumindest zeitweilig - wegen des Reformstaus, den sukzessive Bundesregierungen zu verantworten haben, und wegen der Schwierigkeiten des wirtschaftlichen Aufholprozesses in Ostdeutschland verwirklicht worden. Die wirtschaftlichen Korrekturmaßnahmen, die bisher in den meisten Ländern zur Erfüllung der Maastrichter Kriterien vorgenommen wurden, reichen noch nicht

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aus, die Konvergenz in Europa nachhaltig aufrechtzuerhalten. Im Hau-RuckVerfahren zur Währungsunion sind - auch in Deutschland - vielerlei Einmalmaßnahmen und sonstige Rechentricks zur Kriterien-Erfüllung eingesetzt werden. Vor sieben Jahren galt die Devise, daß der Euro nur in Kraft gesetzt würde, wenn ein konsequenter politischer und wirtschaftlicher Reformkurs vorangetrieben würde. Heute wird diese Konditionalität auf den Kopf gestellt. Jetzt wird behauptet, daß notwendige Reformmaßnahmen - wie die Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt, der Abbau von Subventionen und der noch bestehenden Handelshemmnisse oder das Vorantreiben der Politischen Union - aufgrund politischer Unzulänglichkeiten nur durchsetzbar seien, wenn der Euro erst einmal da sei. Die Vermutung liegt nah, daß hier das Pferd von hinten aufgezäumt wird. Allein durch die Einführung des Euro läßt sich in Europa kein einziger Arbeitsplatz schaffen oder sicherstellen. Erhöhter Wettbewerb und größere Markttransparenz - an sich durchaus wünchenswerte Entwicklungen - werden manche bisher relativ geschützten Bereiche in Schwierigkeiten bringen. Dies könnte sogar zur Folge haben, daß Arbeitsplätze ab- statt aufgebaut werden. Es wäre fatal, wenn in einzelnen Mitgliedsländern die Währungsunion als Sündenbock für wirtschaftliche und politische Fehlschläge oder Tendenzen dienen würde, deren Ursachen nicht in der Politik der Europäischen Zentralbank, sondern im Lande selbst lägen. Da es mit der Akzeptanz der neuen Währung fast überall hapert, müssen die europäischen Regierungen befürchten, daß ihnen technische oder wirtschaftliche Probleme bei der Einführung des neuen Geldes über den Kopf wachsen und größere politische Schäden zufügen könnten. VI. Ruhigere Wechselkursverhältnisse zu anderen größeren internationalen Währungsblöcken als automatisches Ergebnis der Währungsunion bereits vorwegzunehmen, wäre töricht, denn die Geschichte der Turbulenzen zwischen Dollar und Yen führt vor Augen, daß größere Währungsräume manchmal mehr und nicht weniger im Mittelpunkt spekulativer Geld- und Kapitalströme stehen können. Die Anfälligkeit der Exportindustrie des neuen Eurogebiets wird jedoch stark sinken, denn ein Großteil der ehemaligen Exportmärkte der EU-Länder gelten fortweg als Binnenmarkt. Das Ringen um die Währungsunion geht mit einem nicht weniger heiklen Thema einher: die Umstrukturierung der europäischen Wirtschaft und des sozialen Netzes, um die Wettbewerbsfähigkeit in einer Zeit der immer intensiveren Internationalisierung zu verstärken und längerfristig abzusichern. Es stimmt bedenklich, daß

Regierungswechsel in Deutschland und die Währungsunion aus der Sicht Großbritanniens

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eine Reihe strukturell notwendiger Maßnahmen in verschiedenen EUMitgliedsländern teilweise oder ausschließlich mit dem Verweis auf Maastricht getroffen und anschließend der Bevölkerung so "verkauft" worden sind. Die schmerzlichen Reformmaßnahmen, die in Frankeich, Deutschland und anderswo eingeleitet werden, sind nicht primär im Interesse der Erfüllung der Maastrichter Kriterien zu rechtfertigen, sondern vielmehr aufgrund der immer schwierigeren Haushaltslage der Länder selbst und der härteren Konkurrenzbedingungen am Weltmarkt. Der Versuch, besonders in Deutschland und Frankreich, das Projekt der gemeinsamen Währung als Werkzeug des wirtschaftlichen und sozialen Wandels zu nutzen, kann nur zu Mißerfolg führen; denn ein Unterfangen, das bereits bei vielen Bürgern auf mangelnde Begeisterung stößt, wird nicht beliebter, wenn man es an andere noch weniger schmackhafte Verabreichungen kettet. Da in den meisten Ländern der Europäischen Union das Verlangen nach weitergenden fiskalpolitischen Beschneidungen spürbar zurückgegangen ist, ist nicht zu erwarten, daß der besonders von deutscher Seite geforderte Stabilitätspakt für die Zeit nach der Währungsunion restriktiv gehandhabt wird. Der Sanktionsmechanismus wirkt nicht überzeugend, da die letzte Entscheidung dem Ministerrat vorbehalten bleibt. Wie vielerorts bereits geschrieben wurde: Hier sollen Sünder über Sünder richten. Man kann sich ausmalen, daß dabei in aller Regel eine Absolution ohne Buße herauskommen wird. In diesem Sinne stimmt das Fehlen einer weitgehenderen Politischen Union bedenklich. Eine Vereinheitlichung der Geldpolitik impliziert eine enge Koordinierung in der Haushaltspolitik. Die historische Erfahrung lehrt, daß eine Währungsunion normalerweise die politische Union voraussetzt und nicht umgekehrt. Eine dauerhaft abgesicherte Währungsunion erfordert im gemeinsamen Währungsgebiet ein einheitliches System für die Allokation finanzieller Ressourcen, was eine gemeinsame Haushalts- und Steuerpolitik sowie weitgehende Solidarität der Steuerzahler in den verschiedenen Regionen des Währungsgebiets voraussetzt. Bei der deutsch-deutschen Währungsunion im Juli 1990 war die politische Union vom Oktober 1990 zwar nicht vollendet, aber bereits völkerrechtlich vereinbart und abgesegnet. In Maastricht wurde das zuerst von Kohl geltend gemachte Junktim zwischen Politischer Union und Währungsunion aufgrund des Widerstands anderer Mitgliedsländer (z.B. Frankreichs) fallengelassen. Es wurde zumindest von deutscher Seite angenommen, daß die zwischen März 1996 und Juni 1997 stattfindende Regierungskonferenz ("Maastricht-Ii") Nachbesserungen bringen würde. Daraus ergab sich - wie wir 1997 beim Amsterdamer-Gipfeltreffen erlebt haben - nichts. Überall in Europa hat die Bereitschaft nachgelassen, Kompetenzen nicht nur in der Finanzpolitik, sondern auch in anderen empfindlichen Gebieten

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wie in der Verteidigungs-, Asyl- oder Immigrationspolitik an supranationale europäische Instanzen abzugeben. Die Währungsunion wird ohne eine breit angelegte politische Union starten - auch ohne einen gemeinsamen Fahrplan dorthin. Sie wird auf absehbare Zeit ohne eine solche auskommen müssen. Längerfristig gesehen, auch wenn der Euro kein rauschender Erfolg wird, werden die währungspolitische Integration und die wirtschaftspolitische Konvergenz in Europa weiterhin zunehmen; denn die Internationalisierung der Geld-, Kapitalund Handelsströme auf unserem Kontinent und unserer immer kleiner werdenden Welt lassen überhaupt keine andere Wahl.

Währungsunion und Weltwitschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Der Euro und die Rente Bert Rürup Eine gemeinsame europäische Währung ist kein Wert bzw. Ziel an sich. Der Wert einer EU-Währung resultiert ausschließlich aus ihren Instrumentalfunktionen und zwar zum einen hinsichtlich einer wirtschaftlichen Effizienzsteigerung durch eine Reduzierung der Transaktionskosten im allgemeinen und einer Verringerung der Wechselkursabhängigkeiten im besonderen und zum anderen hinsichtlich einer Beschleunigung der noch defizitären politischen Annäherung bzw. Integration. Ökonomischen und integrationspolitischen Sinn machte daher von Beginn an eine europäische Währungspolitik eigentlich nur dann, wenn sie von Anfang an möglichst viele Länder umfaßt. Bei einer „kleinen" Lösung wären die Effizienzgewinne nur gering und die Gefahr einer ökonomischen wie politischen Spaltung bzw. Desintegration groß gewesen. Die „große" Lösung hat diesen integrationspolitischen Nachteil nicht, dürfte aber größere Stabilitätsprobleme mit sich bringen. Ob und in welchem Maße die beschlossene „große" Währungsunion sich als Spaltpilz erweisen wird oder ein Katalysator für die Integration im Bereich der Sozialpolitik werden kann, soll anhand der Alterssicherung bzw. der Spannungsfelder - Lebensstandardsicherung versus Mindestsicherung und - Beitrags- versus Steuerfinanzierung diskutiert werden. Die Systeme sozialer Sicherung, wie sie sich im Laufe der letzten hundert Jahre in den jeweiligen westeuropäischen Volkswirtschaften entwickelt haben, sind ein grundlegender und integrativer Bestandteil aller dieser Staaten geworden. Trotz vieler Gemeinsamkeiten handelt es sich jedoch um weitgehend eigenständig entwickelte Systeme, die große Unterschiede im Detail aufweisen - weniger in der Risikoabdeckung, aber dafür mehr in den Leistungsvoraussetzungen. Dessen ungeachtet können alle Systeme der sozialen Sicherung in EUMitgliedstaaten als erwerbsarbeits- bzw. lohnzentriert charakterisiert werden, da die Leistungen sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach von den jeweiligen i. a. R. lohnabhängigen Vorleistungen abhängen. Unterschiede bestehen allerdings bei der Verteilung der Finanzierungslasten zwischen dem Staat, den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern. Diese unterschiedliche Relation zwischen Steuer- und Beitragsfinanzierung hat nun direkte Folgen für die Arbeitskosten bzw. für die

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Grenzkosten der Arbeit, die sich bekanntlich aus den zwei Elementen Direktentgelt und Personalzusatz- oder Lohnnebenkosten zusammensetzen. Was bedeutet dies für die deutschen Sozialrenten vor dem Hintergrund des EURO? 1. Produktivitäts- und damit Kostenunterschiede im allgemeinen und Arbeitskosten bzw. Lohnstückkostendifferenzen im besonderen schlagen sich - trotz einer im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung zu beobachtenden und beschleunigenden Emanzipation der Finanzsphäre bzw. der internationalen Geldströme von der realen Ökonomie - in den Wechselkursen nieder bzw. werden in den Wechselkursen berücksichtigt. Aus diesem Grunde war es überraschend, daß es bei der Festsetzung der dann unwiderruflichen Währungsparitäten bzw. dem Umrechnungsverhältnis Ende April 1998 zwischen den auslaufenden nationalen Währungen und dem EURO kein wahrnehmbares „Gerangel" gegeben hat, da zu erwarten gewesen wäre, daß jedes Mitgliedsland mit einer - zumindest leicht - unterbewerteten Währung und damit mit einem Wettbewerbsvorteil in die EWWU hätte eintreten wollen. Mit der Festlegung des Wechselkurses wurden die wettbewerbsrelevanten Kosten bzw. Produktivitäts - und Kostendifferenzen festgeschrieben. Kommt es nun - aus welchen Gründen auch immer - zu Veränderungen bei den Lohnstückkosten, fallen in einer Währungsunion Wechselkursanpassungen oder die nationale Zinspolitik als Puffer aus. Und käme es zum Beispiel aus Gründen der demographischen Entwicklung zu einer Beitragssatzerhöhung in der GRV und damit ggf. zu einer Arbeitskostensteigerung, dann müßte diese - wenn nicht ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und damit Arbeitsplätzen die Folge sein soll - unmittelbar an anderer Stelle national ausgeglichen werden. Dieses Problem der Produktivitäts- bzw. Kostendifferenzen bzw. ihrer Veränderung ist um so geringer, je homogener die makroökonomischen und demographischen Rahmendaten der Mitgliedstaaten der EWWU sind und je näher die sozialpolitischen Leistungsstandards und damit die gesamtwirtschaftlichen Sicherungssysteme aneinander liegen. Die ursprünglichen Sozialleistungen bzw. deren Kosten der Sozialsysteme sind im Umrechnungskurs berücksichtigt. Würden diese Leistungen beispielsweise vermindert oder auch nur durch eine Umfinanzierung von z. B. versicherungsfremden Leistungen verschoben, ergäbe sich ein Wettbewerbsvorteil für das betroffene Land. Würden dagegen lohnabhängige Sozialabgaben im Zuge einer Harmonisierung erhöht werden, ergäbe sich unmittelbar ein Wettbewerbsnachteil. D. h. eine Währungsunion ist mehr eine wirksame Bremse für eine Harmonisierung der bei-

Der Euro und die Rente

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tragsfinanzierten sozialen Versicherungssysteme nach oben und eher ein Katalysator einer Harmonisierung nach unten. 2. Noch wichtiger - insbesondere für die deutsche Rentenversicherung - dürfte allerdings das folgende sein: Durch die EWWU wird eine bisher nicht vorhandene und nicht bekannte Transparenz auch hinsichtlich des nationalen Lohnniveaus und Arbeitskosten geschaffen. Im Hochlohnland Deutschland werden diese „neuen" Informationen - denn die durch die Einheitswährung erzeugte Transparenz ist von anderer Qualität als die heute durch den „Taschenrechner" herstellbare - mit Sicherheit von Seiten der Arbeitgeber tarifpolitisch instrumentalisiert mit der Folge, daß der Druck auf die Löhne bzw. Arbeitskosten steigen und die Reallohndynamik auf jeden Fall geringer als unter dem Regime der DM sein wird. Der Demaskierungseffekt der EWWU wird auf der einen Seite lohnkostendämpfende Konsequenzen in den Hochlohnländern und damit insbesondere in Deutschland haben, aber wahrscheinlich auch die Durchsetzung von Forderungen nach vergleichsweise höheren Lohnforderungen in den Niedriglohnländern erleichtern. Die Befürchtung, daß - nach den „sicheren" Freisetzungen im Banken- und Versicherungsbereich - der EURO die Gefahr einer darüber hinaus steigenden Unterbeschäftigung mit sich bringt, basiert auf der Annahme, daß es den deutschen Gewerkschaften gelingt, die gegenwärtigen Reallohnpositionen der Beschäftigten zu verteidigen bzw. zu verbessern. Sollte es stattdessen zu der prognostizierten relativen Lohn(kosten)senkung kommen, dürfte diese Entwicklung insbesondere für die Rentner eher „betrüblich", für die Träger der Rentenversicherung daher eher „erfreulich" sein. Denn dieser Demaskierungseffekt bzw. dessen lohndämpfenden Konsequenzen wirken einer Erhöhung des aktuellen Durchschnittsentgeltes und damit einer Steigerung der Bestandsrenten entgegen und sind damit im Vergleich zum Status Quo ausgabendämpfend, während über den gleichen Demaskierungseffekt positive Impulse auf die Beschäftigung und damit die Zahl der Beitragspflichtigen und das Beitragsaufkommen ausgehen werden. Zusammenfassend wird man daher sagen können, daß mit der Einführung des EURO der Druck auf die Tariflöhne zunehmen wird und es damit zu - im Vergleich zum DM-Regime - geringeren (realen) Rentensteigerungen - möglicherweise sogar Nullrunden oder gar (realen) Negativrunden - kommen wird, andererseits aber die Zahl der Beitragszahler und damit über die versicherungpflichtige Lohnsumme des Beitragsaufkommen positiv beeinflußt werden dürfte.

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In einer offenen Volkswirtschaft gibt es drei Beschäftigung und Wachstum bestimmende Preise - den Lohnsatz, - den Wechselkurs und - den Zins. Da und wenn in einer Währungsunion der Wechselkurs entfällt und der Zins einer nationalen Steuerung entzogen ist, bedeutet dies, daß über den Lohn bzw. über die Arbeitskosten größere Anpassungsleistungen im Interesse insbesondere des Beschäftigungszieles zu erbringen sind bzw. flexibler auf die etwaige Änderungen der Rahmendaten reagiert werden muß. Dies ist bei der derzeitigen Beitragsfinanzierung jedoch nicht der Fall. Vielmehr sind die Lohnnebenkosten, die aus den Sozialversicherungsbeiträgen resultieren, eher als Fixkostenblock gegeben. Mit der Einheitswährung steigt nun aber nicht nur die Transparenz, sondern es wird auch die Wettbewerbsintensität im allgemeinen und die Bedeutung der Arbeitskosten bzw. Lohnstückkosten als konkurrenzentscheidende Größen im besonderen zunehmen. Da und wenn dem so ist, wird die EWWU sowohl die steuerfinanzierten als auch die auf eine Mindestsicherung angelegten Systeme gegenüber beitragsfinanzierten und lebensstandardsicheren „begünstigen" und zwar deshalb, weil nach Maßgabe des Anteils der Steuerfinanzierung die Preisverzerrungen zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital geringer sind als bei beitragsfinanzierten Systemen. Will Deutschland sein Sicherungsziel nicht aufgeben und diesen „Wettbewerbsnachteil der lohnsenkenden Beitragsfinanzierung" verringern, bieten sich - sieht man einmal von allgemeinen Leistungssenkungen ab - eine Erhöhung des Anteils der Steuerfinanzierung ggf. durch eine regelgebundene Erhöhung des Bundesbeitrages zur Rentenversicherung an, und insofern sind die von der neuen Bundesregierung angestrebten Umfinanzierungen zu begrüßen. Im Gegensatz dazu stellen die in der jüngsten Zeit wieder verstärkt diskutierten Wertschöpfungsbeiträge im Zeitalter der Globalisierung dagegen keine zukunftsbezogene Antwort auf die aktuellen und zukünftigen Probleme unseres sozialen Sicherungssystems dar.

Wähningsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Demokratiedefizite in der Europäischen Union Karl Albrecht

I.

Schachtschneider

Demokratie als Republik

Nur eine Republik kann demokratisch sein, aber eine Republik muß auch demokratisch sein; denn die Demokratie ist der Staat des Volkes, nicht etwa die Herrschaft des Volkes, die es weder gibt noch jemals gab noch geben kann. Das Volk kann frei sein, mehr oder weniger, oder beherrscht werden. Herrschaft wird immer nur von Wenigen ausgeübt, heute von der politischen Klasse, vor allem der Parteienoligarchie. Wenn der Begriff der Demokratie griechisch und damit substantiell verstanden wird, ist er identisch mit dem lateinischen Begriff der res publica, die res populi sein soll, um der Menschheit des Menschen zu genügen. Die öffentliche, nämlich die allgemeine Sache soll Sache des Volkes sein. Der Staat des Volkes dient dem Allgemeinen, dem, was alle angeht, dem gemeinen Wohl, welches, wie es die Logik der Freiheit gebietet, die Sache aller, die Sache des Volkes, ist. Die allgemeine Sache wird vom Volk verantwortet. Verantworten kann und soll das Volk nur, was nach seinem Willen geschieht. Die volonté générale, der allgemeine Wille, muß den Staat regieren, wenn der Staat eine Republik oder eben ein Volksstaat, eine Demokratie, sein soll. Einen Willen haben, heißt frei sein, oder: Freiheit ist die Autonomie des Willens, d. h. der Wille ist aus sich selbst heraus Gesetz1. Nur der homo noumenon, der Vernünftige also, hat einen Willen und ist darin frei; denn er ist unabhängig von allen sinnlichen, also von allen äußerlich erfahrbaren Determinanten, insbesondere ist er "unabhängig von eines anderen nötigender Willkür" (Kant)2, also äußerlich frei. Seine innere Freiheit, seine Sittlichkeit, ist sein Vermögen, die Welt so zu gestalten, daß die Menschen, alle Menschen, ihrem Wesen gemäß, also in Würde, leben können, d. h. frei sind. Die Sittlichkeit und somit die allgemeine Freiheit kann nur gemeinschaftlich verwirklicht werden. Alle Menschen, die zusammenleben, müssen ihr Handeln darauf einschränken, daß niemand in seiner Freiheit, aber auch niemand in seinem Leben, in seiner körperlichen Integrität oder in seinem Eigentum verletzt wird. Der Grundsatz des gemeinsamen Lebens ist: neminem laede. Das kann nur durch das allgemeine Gesetz als das Gesetz 1

1

Dazu und zum Folgenden K. A. Schachischneider, Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, 1994, insb. S. 275 ff., 325 ff, 410 ff., 441 ff. Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel, Bd. 7, S. 345.

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Karl Albrecht Schachtschneider

aller geleistet werden. Das allgemeine Gesetz nämlich ist das Gesetz jedes Bürgers und damit das Gesetz jedes Menschen, der dort, wo er zu Hause ist, um der Menschenwürde willen als Bürger geachtet werden muß. Frei sind die Bürger somit dadurch und nur dadurch, daß ihr Wille ihr Handeln bestimmt. Ihren Willen machen die Bürger in den allgemeinen Gesetzen verbindlich. Das Gemeinwesen freier Menschen muß folglich ein Bürgerstaat sein, der dadurch qualifiziert ist, daß der Wille aller, formuliert im allgemeinen Gesetz, alle verbindet, wie Jean-Jacques Rousseau die Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit konzipiert hat. Dadurch ist der "Staat (civitas) die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" (Kant/. Das Rechtsgesetz aber kann nur hervorgebracht werden, wenn alle Bürger guten Willens sind, die richtigen Gesetze zu erkennen und zu beschließen. Richtig sind die Gesetze, welche auf der Grundlage der Wahrheit das Richtige für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit möglich machen, die Gesetze nach universalisierbaren, verallgemeinerungsfahigen Maximen also. Das verlangt nach Sittlichkeit der Bürgerschaft. Diese setzt den guten Willen aller voraus, alle anderen als Bürger zu respektieren und anzuerkennen, daß jeder Mensch Zweck an sich ist, Subjekt und nicht Objekt der Zwecke anderer, daß eben alle Gottes Kinder sind. Dieser gute Wille ist die Moralität, welche ein gemeinsames Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ermöglicht. Das Gesetz der Sittlichkeit ist das Sittengesetz, der kategorische Imperativ, der lautet: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" (Kant)4. Sittlich zu handeln ist moralisch Pflicht. Die Moralität ist die Haltung, welche die Politik bestimmen muß, wenn eine Republik gelingen soll; denn Politik ist "ausübende Rechtslehre" (Kant)5. Die Republik ist auf die Repräsentation angewiesen. Die Repräsentanten des Volkes in den Ämtern, die Abgeordneten, die Beamten und die Richter, sind somit Vertreter des ganzen Volkes in dessen Sittlichkeit6. Ihre Amtsmaxime ist der kategorische Imperativ. Sie sind ihrem Gewissen als dem Gerichtshof der Sittlichkeit verpflichtet und gerade darum an die Gesetze gebunden. So steht in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, daß die Abgeordneten ihrem Gewissen unterworfen sind. Darum sind sie unabhängig und an Weisungen nicht gebunden. Die Gewissensbindung ist nichts anderes als die Pflicht zur Sittlichkeit, sei es bei der Gesetzgebung, sei es bei dem Gesetzesvollzug. Die Bürger und ihre Vertreter in den staat3 4 5 6

Metaphysik der Sitten, S. 431. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel, Bd. 6, S. 51. Zum ewigen Frieden, ed. Weischedel, Bd. 9, S. 228 ff. Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff., auch zum Folgenden.

Demokratiedefizite in der Europäischen Union

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liehen Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung müssen den guten Willen zur ethischen und juridischen Legalität haben, d. h. den guten Willen, das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit Wirklichkeit werden zu lassen. Dadurch wird ein Gemeinwesen frei, nämlich sittlich oder eben praktisch vernünftig. Dadurch ist der Staat ebenso ein Rechtsstaat wie ein Freistaat, also ein Bürgerstaat, eine Republik oder eine Demokratie. Dadurch wird Wirklichkeit, was Abraham Lincoln und mit ihm die aufgeklärte Moderne postuliert hatten: die Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk7. Dieses Postulat ist nicht alteuropäische Nostalgie. Es ist vielmehr das fundamentale Prinzip der Menschheit. Darum steht am Anfang der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen." Wenn dieses Weltrechtsprinzip Wirklichkeit sein soll, müssen die Menschen in Republiken leben können, die das demokratische Prinzip bestmöglich verwirklichen. Wenn das Weltrechtsprinzip Wirklichkeit ist, ist auch das Ethos der Christen (und nicht nur der Christen) verwirklicht, nämlich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr" (3. Mose 19,18). Das Postulat, welches sowohl das christliche Ethos als auch das Weltrechtsprinzip Wirklichkeit werden lassen kann, hat Kant mit dem kategorischen Imperativ formuliert. Die Wirklichkeit sieht anders aus:

II.

Gemeinschaftliche Staatlichkeit der europäischen Völker

Selbst nach Auffassung des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 wird die Gemeinschaftspolitik von den nationalen Parlamenten demokratisch legitimiert8. Die Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaften der Europäischen Union werden durch die Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten begründet. Die gemeinschaftliche Ausübung der Staatsgewalt durch die Organe der jeweiligen Gemeinschaft ist nicht eigenständig legitimiert, ja diese Gemeinschaften sind nach Auffassung des Bundesverfas7

8

Government of the people by the people for the people, vgl. auch Art. 2 Abs. 5 der Verfassung der Republik Frankreich vom 4. Oktober 1958: "Ihr Grundsatz ist: Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk." BVerfGE 89, 155 (184 ff ).

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sungsgerichts nicht einmal ein Staat oder auch nur ein Bundesstaat9, sondern ein "Verbund demokratischer Staaten", ein "Staatenverbund"10. Die Gemeinschaften der Union gehören jedoch zur Staatlichkeit der Unionsvölker und sind als solche funktional staatlich und somit als Institutionen Staaten". Dennoch ist deren Staatlichkeit mangels eigener hinreichender demokratischer Legitimation, die nur auf allgemeinen, gleichen und freien Wahlen beruhen kann, wesentlich von den Mitgliedstaaten legitimiert. Die Gemeinschaftsorgane haben Teil an der mitgliedstaatlichen Ausübung der Staatsgewalt und gehören auch gerade deswegen zur mitgliedstaatlichen Staatlichkeit, die freilich gemeinschaftlich ausgeübt wird. Allein diese Sicht genügt dem Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Die Staatsgewalt muß auch vom Volke ausgehen, wenn die Völker in Freiheit leben wollen und somit als Republiken demokratisch verfaßt sein sollen. Die Europäische Union und deren Gemeinschaften sind nicht die staatliche Organisation eines Volkes, weil ein solches Volk weder besteht noch gar verfaßt ist. Es ist auch nicht zu erkennen, daß sich ein solches Volk der Europäer entwickelt. Das dürfte an den verschiedenen Sprachen der europäischen Völker, aber auch an dem politischen Willen derselben scheitern. Jedenfalls ist ein solcher Wille von keinem europäischen Volk erklärt. Visionen einzelner Politiker sind nicht schon der Wille eines Volkes. Ein Binnenmarkt schafft genauso wenig ein Volk wie eine einheitliche Währung. Die Union ist eine Gemeinschaft von Völkern, die bestmöglich als "Föderalism freier Staaten" (Kant)12, also als Republik von Republiken verfaßt ist. Nur ein verfaßtes Volk aber kann demokratisch legitimieren. Nur ein Volk kann als Demokratie, als Volksstaat, organisiert sein, weil ein Volk unvermeidlich eine Schicksalsgemeinschaft ist, deren existentielle Staatlichkeit Sache des Volkes sein muß, wenn das demokratische Prinzip gewahrt bleiben soll. Demgemäß muß das Volk existentielle Befugnisse in der eigenen Verantwortung belassen, insbesondere die Verfassungshoheit, aber genauso eine substantielle Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungshoheit, also das wesentliche Wort in Sachen des Rechts. Existentiell sind auch die Ökonomie und die Ökologie, so daß um des demokratischen Prinzips willen weder die Wirtschafts-, Sozial- und Währungsho9 10 11

u

BVerfGE 89, 155 (188); auch BVerfGE 22, 293 (296) u. ö. BVerfGE 89, 155 (184, 186, 188 ff.). Dazu und zum Folgenden K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union. Ein Beitrag zur Lehre vom Staat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag über die Europäische Union von Maastricht, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 f f , insb. S. 87 f f ; ders., Die Republik der Völker Europas, ARSP-Beiheft 71, 1997, S. 153 ff. Zum ewigen Frieden, S. 208 ff.

Demokratiedefizite in der Europäischen Union

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heit, noch die Umwelthoheit aus der Verantwortung eines Volkes entlassen werden darf. Dieses Prinzip der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung schließt eine gemeinschaftliche Politik der in einer Union verbundenen Völker keinesfalls aus, ganz im Gegenteil: Eine solche ist nicht nur von der Lage gefordert, weil alle Europäer, ja weitgehend alle Menschen dieser Erde, ein Schicksal teilen, also zusammenleben, sondern Pflicht, weil alle, die aufeinander einwirken können, unter einem gemeinsamen Recht leben sollen, welches sicherstellt, daß niemand dem anderen Unrecht tut. Nur so können die Menschen frei sein. Aber das Recht muß demokratisch legitimiert, also das Recht jedes Volkes sein. Darum müssen die Völker gemäß ihren Verfassungsgesetzen, die republikanisch sein sollen, das Recht setzen können, aber die Verträglichkeit ihres Rechts mit dem der anderen Völker, mit denen sie in Gemeinschaft leben, suchen. Das Instrument der gemeinschaftlichen Rechtsetzung sind die völkerrechtlichen Verträge, wie sie Grundlage der Europäischen Union sind. So dogmatisiert im Grundsatz auch das Bundesverfassungsgericht die Europäische Union und deren Gemeinschaften im Maastricht-Urteil, wonach die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen den "Rechtsanwendungsbefehl" aussprechen, der die Geltung des Gemeinschaftsrechts begründet, die Zustimmungsgesetze, welche durch "gegenläufigen Akt" auch wieder aufgehoben werden dürfen, weil die Völker die "Herren der Verträge" sind13. Die Staatlichkeit kann durchaus auf verschiedenen Ebenen institutionalisiert werden, wie die Bundes- und die Kommunalstaatlichkeit in Deutschland zeigen. Jede staatliche Ebene muß aber eigenständig demokratisch gestaltet, also von einem Volk oder einer Bürgerschaft legitimiert sein, um dem demokratischen Prinzip der Republik zu genügen. Das führt zu dem Verfassungsprinzip der Einheit der Gebietshoheit mit der demokratischen Legitimation, d. h. die Hoheitlichkeit eines Gebietes ist nicht demokratisch legitimiert, wenn sie nicht von einem Volk oder Teilvolk getragen wird, sei es auch nur für begrenzte staatliche Aufgaben und Befugnisse. Demokratische Legitimation der Staatlichkeit ist nichts anderes als die Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit derer, die in dem Gebiet leben, für welches der Staat handelt. Jede Staatlichkeit muß, um legal zu sein, von allen, für welche sie eingerichtet ist, getragen sein, d. h. sie muß den allgemeinen Willen der jeweiligen Bürgerschaft verwirklichen. Sonst sind die Menschen nicht frei; denn Freiheit sind nicht die vom Staat gewährten Rechte der Willkür, welche Freiheiten genannt werden, sondern Freiheit ist die Autonomie des Willens, also die eigene (und zugleich allgemeine) Gesetzgeberschaft. Solche die Staatlichkeit tragenden Bürgerschaften können die Bürger einer Stadt, die eines Landes als 13

BVerfGE 89, 155 (190).

124

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eines Gliedstaates, die eines Bundesstaates wie Deutschland oder auch die der Europäischen Union sein. Die Europäische Union aber ist nicht als Bürgerschaft verfaßt, obwohl ihre Gemeinschaften für alle Unionsbürger verbindliche Rechtsakte, nämlich Richtlinien, Verordnungen u. a., erlassen. Die demokratische Legitimation oder eben die Freiheitlichkeit wahren die Gemeinschaftsorgane somit dadurch, daß sie den Willen der verbundenen Völker verwirklichen. Die Europäische Union ist strukturell exekutiv, aber doch Staat, weil sie zur Verwirklichung der gemeinschaftlichen Staatlichkeit institutionalisiert ist. Dieser Staat ohne echtes Parlament kann nur demokratisch sein, wenn seine Rechtsakte von den verbundenen Völkern legitimiert sind; denn nur echte Parlamente vermögen ein Volk demokratisch zu repräsentieren, soweit nicht die Völker plebiszitär (unmittelbar demokratisch) über ihr Recht abstimmen. Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes in den Erkenntnissen des Rechts14. Die Verbindlichkeit der stellvertretenden Erkenntnisse des Parlaments ist der allgemeine Wille des Volkes. Diese Rechtsetzung ist zugleich repräsentativ und identitär, repräsentativ in der Sittlichkeit der Erkenntnis des Rechts und identitär im Willen jedes einzelnen Bürgers, daß die verabschiedeten Rechtserkenntnisse der Vertreter des ganzen Volkes für alle verbindlich sein sollen. Das allgemeine Gesetz ist das Gesetz, welches alle wollen. Jede Politik muß um des Rechts willen parlamentarisch verantwortet sein, wenn sie nicht unmittelbar vom Volk beschlossen wird. Die Gemeinschaftspolitik, welche nicht eigenständig von einem wirklichen Gemeinschaftsparlament verantwortet wird, muß darum hinreichend von den nationalen Parlamenten verantwortet werden, wie das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil festgestellt hat15.

III.

Demokratische Integration

1. Das demokratisch fundierte Prinzip des nationalen Parlamentsvorbehalts der Gemeinschaftsrechtsetzung verbietet Ermächtigungen der Gemeinschaftsorgane, die so weit gefaßt sind, daß ihre Ausübung mangels Bestimmtheit nicht mehr voraussehbar und dadurch nicht von den nationalen Parlamenten verantwortbar ist. Demgemäß ist das Prinzip der begrenzten Ermächtigung ein Eckstein des Gemeinschaftsrechts, wie ihn das Maastricht-Urteil, angelehnt an Art. 3 b Abs. 1 EGV, richtig eingesetzt hat16. Dieses Prinzip verlangt, daß die Gemeinschaftspolitiken hinreichend bestimmt in den Gemeinschaftsverträgen materialisiert werden,

14 15 16

K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff., insb. S. 707 ff., auch zum Folgenden. BVerfGE 89, 155 (184 ff). BVerfGE 89, 155 (187 f., 188 ff., 191 ff).

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125

damit die nationalen Parlamente mittels ihrer Zustimmungsgesetze die Verantwortung für die Gemeinschaftspolitik übernehmen können. Allerdings kann keine Rede davon sein, daß das Prinzip der begrenzten Ermächtigung in der Gemeinschaftspraxis eingehalten werde. Der Sache nach wird ein Prinzip offener Ermächtigungen praktiziert, welches die Verantwortbarkeit der Gemeinschaftspolitik durch die nationalen Parlamente unterläuft 17 . Die Ermächtigungsnormen der verschiedenen Politiken sind nicht nur weit formuliert, sondern den denkbar weiten Zielen der Union und der Gemeinschaften werden Ermächtigungen zu Aufgaben und Befugnissen abgewonnen, welche das Bundesverfassungsgericht veranlaßt haben, die Achtung der Grenze zwischen Vertragsauslegung und Vertragsgestaltung anzumahnen 18 . Nach Art. 235 EGV kann sich die Gemeinschaft sogar durch einstimmigen Beschluß des Rates auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der Versammlung durch geeignete Vorschriften die erforderlichen Befugnisse verschaffen, wenn diese im Vertrag nicht vorgesehen sind, aber für eine Tätigkeit der Gemeinschaft erforderlich erscheinen, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen. Neben dieser kleinen Ermächtigungsnorm, die angesichts der Weite der Ziele der Gemeinschaft Politiken derselben ermöglicht, welche mangels Vorhersehbarkeit von den Völkern nicht mehr demokratisch legitimiert sind, hatte der Unionsvertrag in Art. F Abs. 3 eine große Ermächtigungsklausel vorgesehen, nach der die Union sich mit den Mitteln ausstatten durfte, "die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Poltiken erforderlich sind". Das Bundesverfassungsgericht hat diese Klausel, welche an das Ermächtigungsgesetz von 1933 denken läßt, als bloße Erklärung "politisch-programmatischer Absicht" beiseite geschoben 19 , so daß sie jedenfalls gegenüber Deutschland als Vertragsgrundlage neuer Aufgaben und Befugnisse (vorerst) nicht genutzt werden kann. Ob diese demokratiedogmatisch begründete Erkenntnis vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben wird, steht dahin. Wären die Ermächtigungen eng und würden diese demgemäß vom Gerichtshof praktiziert, ließe sich die demokratische Legitimation der Rechtsakte der Gemeinschaft auf Grund der nationalen Zustimmungen zu den Gemeinschaftsverträgen schwerlich bestreiten, abgesehen von den echten supranationalen Wirkungsfeldern der Gemeinschaft, wie vor allem dem der Währungsunion, welche ihrer Eigenart gemäß keine Mitwirkung der nationalen Verfassungsorgane an der Gemeinschaftspolitik erlauben.

17

K. A. Schach tsehne ¡de r/A Emmerich-Fritsche/Th. C. W Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, 751 ff.; vgl. auch Th. C. W. Beyer, Die Ermächtigung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, Der Staat 35 (1996), S. 189 ff. 18 BVerfGE 89, 155 (210). " BVerfGE 89, 155 (194 ff).

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2. Soweit die Ermächtigungen hinreichend bestimmt und dadurch die darauf gestützte Gemeinschaftspolitik national durch die Zustimmung zu den Verträgen verantwortet ist, bleibt das demokratische Prinzip deshalb gewahrt, weil die nationalen Repräsentanten jedenfalls in dem maßgeblichen Rechtsetzungsorgan, dem Rat, mitwirken und durch nationale Entscheidungen der unmittelbar demokratisch legitimierten Legislative gebunden werden können. Freilich werden dadurch nur die Abstimmungen des nationalen Vertreters im Rat demokratisch legitimiert, obwohl prinzipiell alle Amtswalter eines staatlichen Organs der demokratischen Legitimation bedürfen, um dessen Rechtsakte zu rechtfertigen20. Dieses demokratische Defizit ist aber um der Gemeinschaftlichkeit der Rechtsakte willen hinzunehmen, weil schließlich alle Mitgliedstaaten Einfluß auf die Rechtsakte haben müssen, so daß es im Staatenverbund unmöglich ist, daß alle Organwalter der Gemeinschaft von allen Völkern gewählt werden. Sonst müßten alle Regierungsmitglieder, die im Rat mitwirken, von allen Völkern, zumindest mittelbar, gewählt werden. Das würde allemal den einheitlichen Staat begründen. Die Völker verlören ihre Selbständigkeit. Dieses demokratische Defizit wird somit durch das Integrationsprinzip gerechtfertigt21, jedenfalls im Rahmen begrenzter Ermächtigungen. Immerhin bedürfen die Mitglieder der Kommission, die allerdings gegenüber den Mitgliedstaaten unabhängig sind (Art. 157 EGV), des Einvernehmens aller nationalen Regierungen (Art. 158 EGV). 3. Die demokratische Legitimation der Gemeinschaftsrechtsakte würde durch ein durchgängiges Prinzip der Einstimmigkeit von Ratsbeschlüssen gestärkt. Darunter würde allerdings die Effizienz der Gemeinschaft leiden. Mit der Zahl der an der Union beteiligten Völker steigt die Notwendigkeit der Mehrheitsregel, obwohl diese die politischen Verhältnisse vor allem dadurch tiefgehend verändert, daß es Bündnisse der einen zu Lasten der anderen ermöglicht, welche der Minderheit den Einfluß auf die Politiken nimmt, die auch in ihren Ländern verbindlich werden. Die Mehrheitsregel ist somit nur legitim, wenn sie der Verwirklichung der praktischen Vernunft dient, d. h. den kategorischen Imperativ achtet. Die Mehrheitsregel darf rechtens nur zur Entscheidung zwischen unterschiedlichen Erkenntnissen dessen, was Recht ist, dienen, nicht zur Durchsetzung der Interessen der Mehrheit gegen die der Minderheit. Bündnisse zu Lasten Dritter sind durchgehend sittenwidrig, nicht nur Kartelle. Die Mehrheitsregel ist eine prozedurale Hilfe, um divergente Erkenntnisse entscheidbar zu machen, nicht aber ein Mittel, um Macht zuzuteilen, die Interessen durchzusetzen erlaubt. Das gilt demokratiedogmatisch allgemein22, wird aber zum Schaden der Republik kaum geachtet. Auch das Bun20 21 22

BVerfGE 47, 253 (275); vgl. auch BVerfGE 52, 95 (112, 120, 130); 83, 60 (72); 89, 155 (182). I. d. S. BVerfGE 89, 155 (182 ff ). K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 105 ff., auch S. 637 ff, 707 ff.

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desVerfassungsgericht hat der Mehrheitsregel Grenzen gesetzt. Wenn nämlich Verfassungsprinzipien oder elementare Interessen eines Mitgliedstaates durch einen Rechtsakt der Gemeinschaft belastet werden, verbietet es "das Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme aus der Gemeinschaftstreue", den betroffenen Mitgliedstaat zu überstimmen 23 . Dieses prozedurale Prinzip ist der Praxis des Luxemburger Kompromisses von 1966 erwachsen und wird meist vertraulich praktiziert. Jeder Mitgliedstaat reklamiert, welchen Rechtsakten er nicht zuzustimmen bereit ist. Das veranlaßt die Suche nach einem Kompromiß. Gegebenenfalls lassen sich Regierungen im Rat mit Augurenlächeln überstimmen, um der Öffentlichkeit ihres Landes vorzutäuschen, sie hätten dessen Interessen wahrgenommen, und signalisieren, daß sie rechtliche Bedenken nicht vor den Europäischen Gerichtshof tragen werden, wohl wissend, daß dieses Gericht im Zweifel und regelmäßig die Politik der Kommission unterstützt, welche schließlich den jeweiligen Rechtsakt vorgeschlagen haben muß. 4. Angesichts der weiten Ermächtigungen ist die demokratische Legitimation der exekutivistischen Ratsmitglieder und damit der nationalen Regierungen, welche den im Rat agierenden Ministern das Abstimmungsverhalten vorschreiben dürfen, defizitär. Dieses Defizit könnten die nationalen Parlamente oder die nationalen Legislativorgane ausgleichen, wenn und insoweit diesen ein bestimmender Einfluß auf die Regierungspolitik in europäischen Angelegenheiten zusteht. Der Europaartikel des Art. 23 GG läßt sich, so unklar er formuliert ist, dahingehend interpretieren. Nach Absatz 2 Satz 2 dieser Vorschrift hat die Bundesregierung den Bundestag und den Bundesrat "umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Angelegenheiten der Europäischen Union zu unterrichten", nach Absatz 3 Satz 1 hat sie dem Bundestag "Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union zu geben" und nach Satz 2 dieses Absatzes die "Stellungnahme des Bundestages zu berücksichtigen". Der Bundesrat ist nach Maßgabe der Absätze 4 bis 6 des Art. 23 GG an der Willensbildung des Bundes in Angelegenheiten der Europäischen Union zu beteiligen. Auch seine Stellungnahmen sind zu berücksichtigen. Wenn die Länder im Schwerpunkt die (nationalen) Gesetzgebungsbefugnisse haben, die Einrichtungen ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist die Auffassung des Bundesrates sogar maßgeblich zu berücksichtigen (Abs. 5, S. 2). Die Intensität der Berücksichtigungspflicht ist strittig. Zum einen soll die Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union das letzte Wort haben, so daß die Stellungnahmen der Gesetzgebenden Häuser sie nicht binden 24 . Zum anderen sollen diese Stellungnahmen die Bundesregierung binden können, wenn die Bun23 24

BVerfGE 89, 155 (184). R. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 1996, Art. 23, Rdn. 116 ff.

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desregierung dies mit einem oder beiden Gesetzgebenden Häusern vereinbart hat25. Das gebietet das Prinzip der Organtreue. Dahingehend hat sich auch das Bundesverfassungsgericht sowohl im Maastricht-Urteil als auch im Euro-Beschluß eingelassen26. Für eine weitgehende Bindungswirkung der Stellungnahmen spricht spezifisch das demokratische Prinzip, weil diese Bindung das demokratische Defizit der exekutivistischen Gemeinschaftsrechtsakte mildert. Der Bundestag hätte zwar die Möglichkeit, den Bundeskanzler und damit die Bundesregierung durch konstruktives Mißtrauensvotum nach Art. 67 Abs. 1 GG abzulösen oder sogar auf Grund des Prinzips der ständigen Freiwilligkeit der Integration in die Europäische Union das Zustimmungsgesetz zu dem betroffenen Gemeinschaftsvertrag aufzuheben27, aber beide Maßnahmen sind derart weitreichend, daß sie in der Praxis nicht in Betracht kommen, um einen bedenklichen Rechtsakt zu verhindern. Darum müssen die Einflußmöglichkeiten der Gesetzgebenden Häuser spezifisch auf die europäische Rechtsetzung um des demokratischen Prinzips willen gestärkt werden. Allemal ist die Bundesregierung gebunden, wenn eines der Häuser rechtliche Bedenken gegen einen Rechtsakt der Gemeinschaft beschließt28. Über derartige Bedenken darf sich die Bundesregierung nicht hinwegsetzen dürfen. Sie muß vielmehr in Analogie zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG bei diesen Meinungsverschiedenheiten das Bundesverfassungsgericht um Klärung des Rechts bemühen. Die Verantwortung der Legislative für das Recht darf nicht angetastet werden, solange nicht das Bundesverfassungsgericht Recht gesprochen hat. Dieses zumindest verfassungskonforme Verständnis der Verantwortung des Parlaments und auch der Länderkammer in Gemeinschaftssachen mindert das Demokratiedefizit, zumal die wichtige Politik weitgehend Sache der Europäischen Union geworden ist, allemal im Wirtschaftsrecht. Bald wird auch das Sozialrecht wesentlich integriert sein. Nicht nur die demokratische Legitimation leidet unter der Exekutivität der Gemeinschaftspolitik, sondern auch das Prinzip der gewaltenteiligen Funktionenordnung29, welches als Baustein eines Rechtsstaates ebenfalls demokratisch begründet ist.

25

26 27

28

29

Dazu näher (in diesem Sinne) K. A. Schachtschneider, Die Verantwortlichkeit des Bundesrates beim Schritt zur dritten Stufe der Währungsunion, 1998, bisher unveröffentlicht. BVerfGE 89, 155 (191); Euro-Beschluß, S. 35. BVerfGE 89, 155 (190); K. A. Schachtschneider, Existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 101 f.; ders./A. Emmerich-Fritsche/Tk C. W. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, 758 f. K. A. Schachtschneider, Die Verantwortlichkeit des Bundesrates beim Schritt zur dritten Stufe der Währungsunion. Dazu K. A. Schachtschneider, Das Rechtsstaatsprinzip der Republik, Lehrstuhlskript, 4. Aufl. 1992, S. 45 ff., 54 ff., 66 ff.

Demokratiedefizite in der Europäischen Union

IV.

129

Demokratiewidriger Parteienstaat

Deutschland ist mehr als die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Parteienstaat. Die deutsche Parteienstaatlichkeit muß bedacht werden, wenn das "Demokratiedefizit in der Europäischen Union" erörtert wird; denn alle Staatsgewalt soll vom Volke ausgehen. Was nutzen jedoch Befugnisse der Gesetzgebenden Häuser, insbesondere die des Parlaments, im Parteienstaat? Der Parteienstaat, der sich zu einem nahezu absolutistischen Caesarismus des oder der Parteiführer entwickelt hat, hat die Republik substantiell entparlamentarisiert30 und damit das Gemeinwesen entdemokratisiert. Immerhin gibt es noch gewisse Kräfte, welche die Macht der Parteienoligarchie einschränken, solange die Möglichkeit besteht, die herrschenden Parteien abzuwählen und solange es noch parteiunabhängige Institutionen gibt, wie im wesentlichen die Universitäten, zum Teil die Medien, zum Teil die Kirchen, im begrenzten Umfang durchaus die Verwaltungen, zunehmend weniger aber auch die Unternehmen. Das Oppositionsprinzip jedoch hat versagt. Wenn es um wichtige politische Entwicklungen geht, wirkt die politische Klasse zusammen. Der Streit der Lager ist weitestgehend nur Mittel, um die Wählerschaft zur Teilnahme an der Wahl zu bewegen, weil die Wahlbeteiligung noch immer die wesentliche Legitimation für die politische Klasse ist. Dieser geht es um Ämter und Pfründen, nicht wesentlich um das gemeine Wohl. HansHerbert von Arnim hat die Verhältnisse des entwickelten Parteienstaates in Deutschland trefflich vorgeführt, etwa 1997 in seinem Buch "Fetter Bauch regiert nicht gern". Es gibt keine Demokratie ohne echten Parlamentarismus, weil demokratische Politik im bürgerschaftlichen Gemeinwesen prinzipiell repräsentativ gestaltet wird. Die Wirklichkeit des demokratischen Prinzips steht und fällt mit einem Parlamentarismus im Sinne des Art. 38 Abs. 1 GG. Dieser darf durch die Mitwirkung von Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes, die Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG zuläßt, nicht verfälscht werden. Die Parteien sollen auch lediglich "mitwirken" dürfen, nicht aber die Bürgerschaft von der Politik ausschließen. Dahin hat sich jedoch die Parteiendemokratie in Deutschland entwickelt. In den Parteien aktiv sind allenfalls 0,5 % der Bürgerschaft, d. h. 99,5 % der Bürger im Lande haben auf die Politik keinen Einfluß, abgesehen davon, daß sie durch die Wahlen das vermeintlich geringere Übel an die Stelle des größeren setzen dürfen. Immer bleibt es die sehr kleine politische Klasse, welche das Land beherrscht. Der Föderalismus in Deutschland hat, mit gewissen Eigenständigkeiten des Freistaates Bayern, fast nur noch parteienstaatliche Funktion und ermöglicht der gesamten politischen Klasse, hinrei30

Dazu K. A. Schachtschneider, den.

Res publica res populi, S. 772 ff., auch S. 1045 ff., auch zum Folgen-

130

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chend mit Ämtern und Pfründen versorgt zu werden. Wenn auch die Mehrheitsparteien nicht so agieren können, wie sie wollen, wenn im Bundesrat, der föderalen Länderkammer, die Opposition die Mehrheit hat, so entlastet eine solche Situation doch die gesamte Parteienoligarchie von der Verantwortung, die sie so ungern übernimmt, weil sie die Befähigung zur Verantwortung meist gar nicht hat. Die "organisierte Verantwortungslosigkeit"31 ist ja eine Entwicklung des Parteienstaates und könnte und müßte von den maßgeblichen Organwaltern beseitigt werden. Diese aber sind Parteifunktionäre, welche um ihrer Positionen willen gerade nicht bereit sind, Verantwortung auf sich zu nehmen. Das ist im Parteienstaat systembedingt, so daß die Parteienklausel im Grundgesetz als systemwidrig kritisiert werden muß, jedenfalls soweit sie Grundlage des entwickelten Parteienstaates ist. Die Weimarer Reichsverfassung kannte eine solche Parteienklausel denn auch nicht. Der Parteienstaat ist die Verfallserscheinung der Republik; denn die Parteien sind ihrem Begriff und ihrem Wesen nach parteilich32. Sie sind der Rechtserkenntnis nicht fähig, weil sie Bündnisse der Macht und des Vorteils sind. Rechtserkenntnisse, die vornehmste Aufgabe der Parlamente, setzen aber bestmögliche Befähigung und größtmögliche Unabhängigkeit zur Erkenntnis des Rechts voraus. Wichtigstes Qualifikationsmerkmal ist die Fähigkeit zur Sittlichkeit, welche jedoch durch die Bündnisse erstickt wird. Der Parteienstaat bringt systembedingt eine Negativauslese in die Parlamente und mittels der Ämterpatronage in die Ämter der Exekutive und der Judikative. Das Interesse an der "Beute", an Ämtern, Pfründen und sonstigen Vorteilen, ist nicht der Hintergrund, der Erkenntnisse des Rechts fördert. Ganz im Gegenteil, er verhindert diese. Werner Maihofer, der es wissen muß, hat von "der Deformation und Perversion von Prinzipien der Demokratie, wie der Republik im Parteienstaat der Gegenwart", gesprochen33. Richtig ist das Schlagwort: Parteien verhindern die Demokratie, nicht etwa das umgekehrte Schlagwort: Ohne Parteien keine Demokratie. Das letztere Schlagwort bestimmt aber die Demokratiedogmatik in Deutschland, jedenfalls die vermeintlich demokratische Praxis34. Wenn die Demokratie als Staatsform der Freiheit, also als Republik, begriffen wird, sind die festgefügten Parteien im Sinne des § 2 ParteienG Hindernis von Demokratie und Republik und damit Hinderais der allgemeinen Freiheit. Der Parteienbegriff des Art. 21 GG muß republikgemäß interpretiert werden. Das schließt festgefügte Parteien, die durch Führerschaft und 31

32 33

34

H.-H. von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse - selbstbezogen und abgehoben, 1997, S. 147 ff. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1060 ff., auch zum Folgenden. Abschließende Bemerkung der Herausgeber, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 1709. Vgl. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1054 ff.

Demokratiedefizite in der Europäischen Union

131

Gefolgschaft definiert sind und deren Maxime die Geschlossenheit ist, aus. Parteien dürfen nur offene Gesprächskreise sein, die sich um bestmögliche Erkenntnis des Rechts bemühen und Kandidaten für die Wahlämter vorschlagen. Es verletzt augenscheinlich den Anstand, daß sich die Parteimitglieder gegenseitig vorschlagen und gegen ihre eigene Einsicht die Mitglieder ihrer Partei als amtsgeeignet propagieren. Solange freilich das Verhältniswahlsystem mit den Sperrklauseln nicht wegen seiner Verfassungswidrigkeit 35 geändert ist und ein Verfahren der Kandidatenaufstellung eingerichtet ist, welches dem demokratischen Prinzip genügt, wird sich nichts ändern, zumal der Parteienstaat durch die untragbare 5 %Sperrklausel nicht nur gestützt, sondern geradezu begründet wird. Allemal verletzt das Verhältniswahlsystem das Prinzip der Unmittelbarkeit der Wahl 36 . Man mag aber auch nicht von einer Freiheit und Gleichheit der Wahl sprechen, solange die Parteien und damit die kleine Gruppe der politischen Klasse das faktische Nominationsmonopol hat37 und solange unehrliche Propaganda Grundlage der Wahlen ist. Der spröde Wahlakt ist das Minimum formaler Demokratie, aber noch keineswegs eine materiale Demokratie, wie sie das Freiheitsprinzip fordert. Karl Jaspers hat das bereits in den 60er Jahren dargelegt und die Entwicklung der Demokratie zur Parteienoligarchie vorausgesagt, aber auch davor gewarnt, daß die Parteienoligarchie sich zur Diktatur entwickeln könne 38 . Verschiedene Politiken der politischen Klasse sind diktatorisch, besser despotisch, insbesondere die EuroPolitik, die gegen den Willen des Volkes durchgesetzt worden ist. Eine Volksabstimmung über die Währungsunion ist dem deutschen Volk verweigert worden. Nicht einmal Rechtsschutz wurde den Bürgern Deutschlands eingeräumt. Die Euro-Politik wird immer eine Politik im Unrecht sein. Falls die Währungsunion ökonomisch scheitert, wird sie Deutschland politisch destabilisieren und den Versuch eines freiheitlichen Gemeinwesens, einer Republik, in Gefahr bringen. Wenn die Verfassung nicht in Ordnung ist, ist eine ordentliche Politik nicht zu erwarten. Demokratie und Republik sind überaus anspruchsvolle Staatsund Regierungsformen, welche die Rechtlichkeit des gemeinsamen Lebens sichern sollen. Das heißt aber, die Sittlichkeit des kategorischen Imperativs verwirklichen. Ohne Moralität der Politiker kann Politik nicht zum Recht finden. Politische Bündnisse und bürgerliche Sittlichkeit aber sind ein Widerspruch. Das wesentliche Demokratiedefizit ist der entwickelte Parteienstaat. Dieses Defizit schlägt auf die Europäische Union durch und verstärkt deren demokratische Män-

35

36 31 38

K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1147 f. mit Hinweisen auf die entgegengesetzte herrschende Meinung, insb. die ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 1, 208 (247 ff ). K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1148, Fn. 468. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 677. Wohin treibt die Bundesrepublik?, 10. Aufl. 1988, S 141 ff.

132

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gel, die (zusammengefaßt) aus der exekutivistischen Struktur folgen. Das europäisierte Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts ist keine Demokratie. Diese Kritik soll durch einige besondere Aspekte ergänzt werden.

V.

Demokratiewidrige Integration zum europäischen Großstaat

In Europa entsteht ein Bundesstaat, ohne daß die beteiligten Völker das wollen. Jedenfalls ist deren Wille, in einem gemeinsamen existentiellen Staat zu leben und die existentielle Staatlichkeit ihrer Völker aufzugeben, nicht erklärt. Das setzt Verfassungsreferenden in jedem der beteiligten Völker voraus, welche die Entscheidung zur Abstimmung der Völker stellen, ob sie ihre nationale zu Gunsten einer europäischen existentiellen Staatlichkeit beenden wollen. Die Verfassungshoheit des Volkes ist das Fundament der Demokratie. Jedes Volk hat das Recht der Selbstbestimmung, wie das in vielen völkerrechtlichen Verträgen anerkannt ist39. Die Wirtschafts- und Währungsunion, die geradezu zwangsläufig die Sozialunion nach sich zieht, ist der Hebel, mit dem die politische Union, der existentielle europäische Staat, erzwungen werden soll, weil jedenfalls die Währungsunion ohne politische Union nach fast allgemeiner Einsicht erfolglos bleiben muß40. Nachdem die deutsche Politik, vor der Währungsunion eine politische Union zu schaffen, in Maastricht gescheitert war, hat die politische Klasse in Deutschland unter Führung des Bundeskanzlers die Krönungs- durch die Hebeltheorie ersetzt und eine Währungsunion akzeptiert, welche um ihres Erfolgs willen die politische Union nach sich ziehen soll. Mit dieser Politik ist die existentielle Staatlichkeit jedenfalls Deutschlands aufgegeben. Die Deutschen sind nicht einmal gefragt worden, ob sie eine Währungsunion befürworten. Eine dahingehende Volksabstimmung wäre nach aller Erwartung gescheitert. Deswegen ist sie auch nicht durchgeführt worden. Die Integrationspolitik vergewaltigt das deutsche Volk. Anderen Völkern ist wenigstens die Abstimmung über die Währungsunion zugestanden worden. Ob sie wußten, daß sie mit der Zustimmung zur Währungsunion ihre existentielle Staatlichkeit in Frage stellen, steht dahin. Die existentielle Staatlichkeit wird Opfer der ökonomischen Zwänge einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Das ist erklärter Wille der politischen Klasse und widerspricht nach allen Umfragen je-

39

40

Etwa Art. 55 Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945; Art. 1 Abs. 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966; Art. 1 Abs. 1 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966; Korb 1, VIII der Schlußakte von Helsinki vom 1. August 1975. Dazu und zum Folgenden W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die EuroKlage. Warum die Währungsunion scheitern muß, rororo aktuell, 1998, S. 25 ff., 247 ff.

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denfalls dem Willen der großen Mehrheit der Deutschen. Der Wille Deutschlands hätte in einem Verfassungsreferendum geklärt werden können und müssen. Die Integrationspolitik mißachtet den Willen des Volkes sogar bei der fundamentalen Frage der eigenen existentiellen Staatlichkeit. Krasser kann das demokratische Prinzip nicht verletzt werden. Dieser Verfassungsbruch wird dadurch kaschiert, daß die weitentwickelte, jedenfalls intendierte, existentielle Staatlichkeit Europas nicht zugestanden wird. Auch das Bundesverfassungsgericht leugnet, daß Europa ein Staat oder ein Bundesstaat sei. Die Erkenntnis, daß der Schritt in die europäische existentielle Staatlichkeit jedenfalls mit der Währungsunion gemacht ist, wird zurückgedrängt, weil sie gebieten würde, die weitere Integration zurückzustellen, insbesondere die Währungsunion. Nicht einmal die vertraglichen Voraussetzungen für den Beginn der dritten Stufe der Währungsunion sind eingehalten worden41. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die EuroKlage als "offensichtlich unbegründet" verworfen und damit den Bürgern Rechtsschutz gegen die Vertragsverletzung und damit gegen die Beendigung der existentiellen Staatlichkeit Deutschlands, ohne daß das deutsche Volk dazu seinen Willen hat äußern dürfen, mittels einer grundrechtsminimierenden neuen Dogmatik verweigert n . Die vertragliche (notwendige) Voraussetzung der einheitlichen Währung, die Konvergenz gemäß Art. 109 j Abs. 1 EGV, war nicht erfüllt, so daß die Währungsunion nicht nur Unrecht, sondern nach dem Selbstverständnis des Vertrages ökonomisch zum Scheitern, ihre vierte Stufe, verurteilt ist43. Das Grundgesetz verankert die existentielle Staatlichkeit Deutschlands in Art. 20 GG, die wegen der schon genannten Unabänderlichkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers steht44 und damit dem volksfernen Integrationismus der politischen Klasse Grenzen zieht. Die Führer Europas haben aber gegen den Willen jedenfalls der Deutschen und wohl auch der meisten anderen Völker Europas die Integration der Gemeinschaft zu einem existentiellen Großstaat zu ihrem Ziel gemacht.

VI.

Entdemokratisierung durch entstaatlichende Integration

1. Der Großstaat Europa wird nicht nur unter Mißachtung des demokratischen Prinzips von der politischen Klasse ertrotzt. Er wird auch dem demokratischen 41 42

43

44

W. Hankel u. a, Die Euro-Klage, S. 214 ff Euro-Beschluß, S. 26 ff. 29 ff.; dazu meine Kritik, Der Euro-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, in: IHI-Schriften 9 (1998), S. 19 f f , insb. S. 22 ff. (auch im Internet: www.wiso.uni-erlangen.de/WiSo/Wirecht/oere/). Dazu W. Hankel u. a., S. 192 ff, 214 ff, 247 ff, auch S. 25 ff; K. A. Schachischneider, Der EuroBeschluß des Bundesverfassungsgerichts, S. 43 ff. Dazu K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 75 ff.

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Prinzip keine Entfaltungschancen lassen, weil dieses mit dem Prinzip der kleinen Einheit verbunden ist. Weder der Föderalismus noch das Subsidiaritätsprinzip gewährleisten die Wirklichkeit der Republik als freiheitlicher Demokratie, wenn die Wirtschafts-, Währungs- und vor allem Sozialpolitik von einem Großstaat verantwortet werden. Jeder Staat ist dem Zwang, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse seiner Bürger zu fördern, unterworfen. Die Entwicklung Deutschlands beweist das. So steht es auch in den Gemeinschaftsverträgen (Art. 2 EGV, Art. 158 EGV in der Fassung von Amsterdam). Transferleistungen und vor allem ein europaweiter Finanzausgleich werden den sozialen Ausgleich in der Union zu bewerkstelligen haben. Ob die wirtschaftliche und vor allem die soziale Homogenität der europäischen Völker hinreicht, um die politische Union zu verwirklichen, ist mehr als fragwürdig. Jedenfalls wird der Großstaat Europa nicht demokratisch sein, weil das demokratische Prinzip nicht schon durch die Wahl eines Parlaments verwirklicht wird. Vielmehr muß die sittliche Einheit möglich sein, welche ein diskursives Miteinander voraussetzt, in dem das beste Argument die Politik bestimmt. Wenn die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse allzu heterogen sind, können nur gegenläufige Interessen die Verhältnisse bestimmen, so daß ein interessenhafites Mehrheitsprinzip politisch bestimmend wird. 2. Die Heterogenität wird politisch durch die privatisierende Deregulierung nivelliert, welche die Bewältigung der Lebensverhältnisse den Unternehmen, Banken und Versicherungen überläßt. Wie sich deutlich zeigt, ermöglicht das privatistische Lebensverhältnisse, in denen die soziale Frage vernachlässigt wird, ohne daß die Entstaatlichung die größere Leistungsfähigkeit sicherstellt. Vielmehr gewinnen typisch privatistische Gegebenheiten die Oberhand. Dazu gehören auch Korruption und Kriminalität, ohne daß behauptet werden soll, daß staatliche Amtswalter davon verschont wären. Die staatlichen Organe, Behörden und Gerichte, sind aber die Institutionen, in denen privatistische Interessen zurückgedrängt werden können, während ein Übermaß an privattypischer Bewältigung der Lebensverhältnisse der sozialen Realisation widerstreitet. Das demokratische Prinzip ist untrennbar mit dem Sozialprinzip verbunden, welches um der Autonomie des Willens jedes Bürgers willen dessen Selbständigkeit zu fördern gebietet45. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind eine Einheit, welche nur in der durch die allgemeine Freiheit definierten Demokratie als einer Republik Wirklichkeit finden kann. Die kleine Einheit aber ist ein Strukturprinzip des Republikanismus. 3. Die Reduzierung der nationalen Staatlichkeit mindert die demokratische Realisation, weil die Gemeinschaften der Europäischen Union über keine eigenständige demokratische Legitimation verfügen. Jede Übertragung nationaler Hoheitsrechte auf die Europäische Union vergrößert somit das Demokratiedefizit. Selbst das 45

Dazu K. A. Schachischneider, Res publica res populi, S. 234 ff.

Demokratiedefizite in der Europäischen Union

135

Bundesverfassungsgericht hat, als es sich der integrationistischen Ideologie noch nicht gänzlich gebeugt hatte, festgestellt, daß um der demokratischen Legitimation willen "dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben müssen" 46 , daß aber "durch den Umfang der eingeräumten Aufgaben und Befugnisse und die im Vertrag geregelte Form der Willensbildung in der Europäischen Union und den Organen der Europäischen Gemeinschaften die Entscheidungs- und Kontrollzuständigkeit des Deutschen Bundestages noch nicht in einer Weise entleert ist, die das Demokratieprinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärt, verletzt" 47 , und daß "die im Unionsvertrag vorgesehene Einräumung von Aufgaben und Befugnissen europäischer Organe dem Deutschen Bundestag noch hinreichende Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischen Gewicht beläßt" 48 . Das Gericht hatte freilich die Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaften und der Union nur knapp skizziert und die Kompetenzfülle der Gemeinschaft nicht wirklich ausgelotet 49 . Die Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaften sind nicht nur überaus weit formuliert, sie werden darüber hinaus extensiv interpretiert, und die Ziele der Gemeinschaften werden, wie schon angedeutet, auf der Grundlage des Art. 235 EGV zur Grundlage weiterer Befugnisse genutzt. Die Sachzwänge vor allem der Wirtschafts- und Währungsunion werden zu einer weiteren Unitarisierung des sogenannten Staatenverbundes führen, so daß die existentielle Staatlichkeit der Union nicht mehr bestritten werden wird. Das Prinzip der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse wird die Entwicklung zum existentiellen Staat mit umfassender Verantwortung für die Wirtschaft, die Währung und das Soziale50 zur Folge haben. Daß die Europäische Union sich zum Bundesstaat entwickelt, wird kaum noch bestritten. Das wird vielmehr bezweckt, vor allem durch die Politik der Währungsunion. Spätestens mit der Einführung der einheitlichen Währung, dem Beginn der dritten Stufe der Währungsunion also, verlieren die Völker wesentliche Elemente ihrer existentiellen Staatlichkeit 51 und damit die nationalen Parlamente ihr substantielles Gewicht. Damit werden die Nationen wesentlich entdemokratisiert. Diese Entwicklung ist von anderen entdemokratisierenden Politiken begleitet, insbesondere von der weitreichenden Deregulierung der Rechtsordnung, die

46 47 48 49

50 51

BVerfGE 89, 155 (186). BVerfGE 89, 155 (181). BVerfGE 89, 155 (207). Dazu K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche/Th. C. W. Beyer, JZ 1993, 751 ff.; Th. C. W. Beyer, Der Staat, 35 (1996), S. 189 ff., insb. S. 195 ff. Dazu J. Ringler, Die Europäische Sozialunion, 1997. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 129 ff.

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Folge der unmittelbaren Wirkung der Grundfreiheiten52 (der Warenverkehrs-, der Dienstleistungs-, der Niederlassungs- und der Kapitalverkehrsfreiheit) ist, zumal die Grundfreiheiten vom Europäischen Gerichtshof mit großer Intensität durchgesetzt werden. Demgegenüber ist die gemeinschaftsrechtliche Regulierung der Lebensverhältnisse zögerlich, weil jedenfalls hohe Standards die Leistungsfähigkeit der schwächeren Volkswirtschaften überfordern und niedrige Standards nicht nur Deregulierung bedeuten, sondern auch die Völker der Mitgliedstaaten mit hohem Standard in ihrer Entwicklung zurückwerfen, durchaus auch Deutschland. Der vielgerühmte Wettbewerb der Systeme bewirkt in der Union die Nivellierung der Staatlichkeit und damit die Nivellierung der demokratischen Realisation. Ein Beispiel ist die Steuerpolitik. Die Reduzierung des Steueraufkommens hat notwendigerweise Konsequenzen für die soziale Realisation. Verschiedene Zwänge in der Union haben somit entdemokratisierende Effekte. Maßgebliche Kräfte begrüßen das, weil der Privatismus durch die Entstaatlichung gestärkt und damit die Verwirklichung der weltweiten Kapitalinteressen chancenreicher wird und bereits geworden ist. Das mag eine vorübergehende Phase der Integrationsentwicklung sein, die von einer sozialistischen Phase abgelöst werden könnte, wenn die Europäische Union über die entsprechenden politischen Strukturen verfugen sollte. Derzeit wird der Einfluß der Völker auf ihre Lebensverhältnisse gemindert. Diese Entwicklung wird von einem Verfall der Wirkkraft der demokratischen Idee begleitet. Die Demokratie wird von verschiedenen Seiten mächtig bedrängt, so daß sich allmählich eine revolutionäre Situation aufbaut. Das Bundesverfassungsgericht hat dem das demokratische Prinzip verwirklichenden nationalen Parlamentarismus noch ein substantielles Gewicht beigemessen, weil neben dem "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung" auch das Subsidiaritätsprinzip53 und das Verhältnismäßigkeitsprinzip54 die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten wahren55. Alle drei Aspekte sind irrig. Das Prinzip der Einzelermächtigung ist durch die offenen Ermächtigungsklauseln in sein Gegenteil verkehrt, das Subsidiaritätsprinzip wird nicht ernsthaft durchgesetzt, ja von wichtigen Mitgliedstaaten nicht einmal verstanden, geschweige denn vom Europäischen Gerichtshof judiziert, und das Verhältnismäßigkeitsprinzip als ein allgemeines 52

53

54

55

Seit EuGH - Rs. 26/62 (van Gend/Loos), Slg. 1963, 1 ff., st. Rspr.; vgl. 77t Oppermann, Europarecht, 1990, Rdn. 536 ff., K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, DSWR 1-2/1999, 17 ff. Zum gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzip H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip: Strukturprinzip einer europäischen Union, 1993; vgl. auch K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 85 mit weiteren Hinweisen. Dazu A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung - Dogmatische Grundlegung, Funktionen und Anwendungsformen - mit Beiträgen zu einer gemeineuropäischen Grundrechtslehre sowie zum Lebensmittelrecht, 1999. BVerfGE 89, 155 (207 ff).

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137

Prinzip des rechten Maßes hat (jedenfalls in der Praxis) keine hinreichende Relevanz für die Verteidigung der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten 56 .

VII.

Europäischer Gerichtshof als demokratiewidrige Ordnungsmacht

1. Die Entmachtung und damit Entdemokratisierung der Mitgliedstaaten ist auch eine Folge der durchgreifenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der sich nicht auf die Klärung von Vertragsstreitigkeiten beschränkt, wie Art. 164 EGV in dem demokratischen Prinzip gemäßer restriktiver Interpretation verstanden werden könnte, sondern allgemein Rechtsklärung praktiziert. Zum einen hat der Gerichtshof die Grundfreiheiten entgegen der Intention des Vertrags über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zum unmittelbar anwendbaren Recht erklärt, so daß sich jeder Bürger in jedem Verfahren auf die Grundfreiheiten berufen darf und nicht lediglich die Mitgliedstaaten untereinander verpflichtet sind, die Grundfreiheiten zu verwirklichen 57 . Das hat die Wirkung der Grundfreiheiten potenziert und vor allem dem Gerichtshof die Möglichkeit gegeben, tiefgreifend in die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten einzugreifen. Die Hoheit der Völker über ihr Recht ist dadurch weitestgehend verloren gegangen und das demokratische Defizit dadurch wesentlich erhöht. Der Gerichtshof entfaltet eine eigenständige Rechtsordnung, welche das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten ebenso verändert wie das Verwaltungs-, das Privat- und vor allem das Wirtschaftsrecht. Vor allem hat sich der Gerichtshof auf das Drängen des Bundesverfassungsgerichts in den Solange-Entscheidungen 58 zu einem Grundrechtsgericht erklärt, obwohl nicht einmal ein Grundrechtstext vorlag. Textlos, aber orientiert an der europäischen Grundrechtstradition und an der europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten reklamiert der Gerichtshof, Grundrechtsschutz zu geben und ist in dieser Befugnis durch Art. F Abs. 2 EUV bestätigt worden. Allerdings hat der Gerichtshof noch nicht ein einziges Mal zu erkennen vermocht, daß ein Gemeinschaftsrechtsakt grundrechtswidrig im eigentlichen Sinne sei59. Der Grundrechtsschutz, ein wesentlicher Baustein der materialen Demokratie, deren Zweck nichts anderes ist als die Verwirklichung des Rechtsprinzips, ist beim Europäischen Gerichtshof in schlechten Händen, weil der Grundrechtsschutz die Integration eher hemmen würde, der Gerichtshof sich jedoch als deren Motor betätigt. Das ist selbst dem Bundesverfassungsgericht zu

56 57 58 59

Dazu A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Teil D, 1. Kap. Vgl. die Hinweise in Fn. 51. BVeifGE 37, 271 ff.; 73, 339 ff. Vgl. dazu A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Teil D, 3. Kap.

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weit gegangen, so daß es seine Judikatur, keinen Grundrechtsschutz gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten zu geben60, revidiert hat und im Maastricht-Urteil versprochen hat, den "unabdingbaren" Grundrechtsstandard, d. h. den Wesensgehalt der Grundrechte, auch gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten zu verteidigen und in einem "Kooperationsverhältnis" mit dem Europäischen Gerichtshof, der den Grundrechtsschutz in allen Einzelfällen leisten solle, für die Verwirklichung der Grundrechte Sorge zu tragen6'. Freilich hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Euro-Beschluß dieses Versprechen verletzt und den Bürgerschutz gegenüber der fraglos rechtswidrigen, weil vertragswidrigen, Einführung des Euro mit dem rechtlosen Argument verweigert, daß die Verantwortung für die allgemeine Entwicklung "im Bereich rechtlich offener Tatbestände zwischen ökonomischer Erkenntnis und politischer Gestaltung Entscheidungsverantwortung von Parlament und Regierung" sei62. Mit der Minimierung des Grundrechtsschutzes ist die Republik empfindlich geschwächt worden. Es gibt aber keine Demokratie ohne Rechtsstaat, wie es auch keinen Rechtsstaat ohne Demokratie gibt {Jürgen Habermas)63. 2. Der Europäische Gerichtshof hat die Befugnisse eines Verfassungsgerichts erobert, und ein Verfassungsgericht ist funktional ein wesentlicher Gesetzgeber. Der Gerichtshof entbehrt der demokratischen Legitimation. Nur eine enge Bindung an den Vertragstext vermag das demokratische Defizit des Gerichtshofs auszugleichen. Der Gerichtshof soll "die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages sichern" (Art. 164 EGV), nicht aber sich zur höchsten Instanz des Rechts aufschwingen. Die Verbindlichkeit der Erkenntnisse des Gerichtshofs, welche vom Gemeinschaftsrecht durchaus zurückhaltend geregelt ist, hat mittels deren Akzeptanz durch die nationalen Gerichte eine außerordentliche Stärkung erfahren. Der Gerichtshof ist keine internationale Schlichtungsstelle, sondern quasi oberstes Verfassungsorgan der Europäischen Union mit gottgleicher Allmacht. Demokratisch legitimiert ist der Gerichtshof schon deswegen nicht, weil jeder Mitgliedstaat nur einen Richter stellt, so daß die große Mehrheit der Richter weder von den streitbeteiligten Mitgliedstaaten, noch gar von den Bürgern, die vor dem Gerichtshof prozessieren, demokratisch legitimiert sind, obwohl sie "von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen" ernannt werden (Art. 167 Abs. 1 EGV). Dadurch sind sie zwar nicht gänzlich ohne demokratische Legitimation in ihr Amt berufen, aber doch keinesfalls ausreichend demokratisch 60 61 62 63

BVerfGE 22, 31 (92); 22, 293 (295); 37, 271 (283, 285 ff.); insb. BVerfGE 58, 1 (27). BVerfGE 89, 155 (175). Euro-Beschluß, S. 34. Die Einbeziehung des anderen, Studien zur politischen Theorie, 1996, S. 251, 293.

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legitimiert, weil die Regierungen als Exekutivorgane spezifisch Richter nicht demokratisch zu legitimieren vermögen. Die außerordentlich mächtigen Richter des Europäischen Gerichtshofs müßten entweder die Zustimmung aller Völker haben oder die Zustimmung aller nationalen Parlamente und zusätzlich in einem geeigneten Verfahren von den Richterschaften der Mitgliedstaaten vorgeschlagen werden, wenn überhaupt ein supranationales Gericht gebildet werden soll. In Frage käme auch ein internationales Gericht, das als ein gemeinsames Gericht der Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten eingerichtet werden könnte. Derzeit reicht die demokratische Legitimation für die politische Macht des Europäischen Gerichtshofs in keiner Weise. 3. Die Wirkung des Gerichts ist denn auch, wenn man sie am Demokratieprinzip mißt, verheerend. Das Gericht verändert die Rechtsordnung und damit die Lebensverhältnisse in der Europäischen Union mit großem Eifer und durchaus tiefgreifend, oft überraschend. Wenn das Gericht den Willen der Völker, nämlich das Recht erkennt, ist das allenfalls zufällig. Meist verfolgt das Gericht schlicht das von der Kommission definierte Gemeinschaftsinteresse. Die nationalen Legislativen und darum auch die nationalen Parlamente sind somit nicht nur durch die Übertragung der Gesetzgebungshoheit auf die Gemeinschaften der Europäischen Union entmachtet, sondern auch durch die deregulierende Wirkung der Grundfreiheiten (aber auch anderer Gemeinschaftsprinzipien) und vor allem durch die Praxis des Europäischen Gerichtshofs. Das vergrößert das Demokratiedefizit. Mehr als die Hälfte der legislativen Tätigkeit von Bundestag und Bundesrat ist Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien, für die sich die Einrichtung der Gesetzgebenden Häuser nicht lohnt. Im übrigen ist die Gesetzgebung nicht nur an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden, die ihr systembedingt keinen allzu großen Spielraum läßt, sondern auch an die geradezu dirigistische Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ganz abgesehen von den Bindungen an die Fraktionsvereinbarungen, Parteitagsbeschlüsse und Weisungen der Parteiführer. Insgesamt in Deutschland von einem demokratischen Parlamentarismus zu sprechen, ist Euphemismus, der zur Legitimation des längst entdemokratisierten Regierungssystems propagiert wird.

VIII. Unechter Unionsparlamentarismus ohne demokratische Wahlen 1. Das Europäische Parlament begründet keine demokratische Legitimation. Es vertritt nicht ein Unionsvolk, sondern die Unionsvölker. Das Parlament ist nicht demokratisch gewählt, nämlich nicht allgemein und gleich. Ihm fehlen die wesentlichen Rechte eines Parlaments, wenn es auch bis an die Grenze dessen mit Befugnissen ausgestattet worden ist, was mit der existentiellen Staatlichkeit der

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Völker noch vereinbar ist. Allenfalls stützt das Parlament die demokratische Legitimation der Gemeinschaften, die wesentlich von den nationalen Parlamenten legitimiert werden würden, wie das Bundesverfassungsgericht meint64. Wenn nämlich das Europäische Parlament ein echtes Parlament mit substantiellen Parlamentsrechten wäre, wäre die Europäische Union ein existentieller Staat, freilich ein Staat ohne hinreichendes Verfassungsgesetz. Die Gemeinschaftsverträge sind ein solches Verfassungsgesetz nicht65 und schon gar nicht die Verfassung der Europäer66. Die Versammlung der Vertreter der Völker, welche Art. 4 und Art. 137 EGV propagandistisch "Europäisches Parlament" nennen, ist kein eigentliches Parlament. Wenn die allgemeine Freiheit durch einen existentiellen europäischen Staat verwirklicht werden sollte, müßte dieser einen echten Parlamentarismus einrichten; denn die Vertretung des ganzen Volkes bei der Erkenntnis des Richtigen für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit, die Erkenntnis der Recht schaffenden Gesetze also, durch Abgeordnete, die um der repräsentativen Sittlichkeit willen ausschließlich ihrem Gewissen verantwortlich sind, ist ein unverzichtbares Postulat einer bürgerlichen Verfassung der allgemeinen Freiheit67: "Eine wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen" (Kant)6%. Ein echter Parlamentarismus der Union stößt zur Zeit auf unüberwindbare Verfassungsgrenzen, weil er die Europäische Union zu einem existentiellen Staat machen würde69. Das setzt aber ein staatsbegründendes Verfassungsgesetz voraus, welches die existentielle Staatlichkeit der Völker aufheben würde. Das geht, wenn das Recht gewahrt werden soll, nur mit Zustimmung der Völker. Notwendiges (wenn auch nicht hinreichendes) Kriterium eines echten Parlamentarismus ist die Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments. Davon ist das Europäische Parlament weit entfernt, wie schon angesprochen wurde. In begrenzten Politikbereichen, die im Vertrag von Amsterdam erweitert werden, ist ihm ein negatives Veto einge64 65 66

67 68 69

BVerfGE 89, 155 (184). A. A. EuGH - Rs. 224/83 (Les Verts/Parlament), Slg. 1986, 1365. Zum Unterschied der Verfassung als der allgemeinen Freiheit der miteinander lebenden von den Verfassungsgesetzen als den Grundgesetzen der Staaten K. A. Schachtschneider Sozialistische Schulden nach der Revolution. Kritik der Altschuldenpolitik. Ein Beitrag von Recht und Unrecht, 1996, S. 29 ff., auch S. 50 ff. K. A. Schachtschneider, Res puplicares populi, S. 637 ff., 707 ff., 772 ff. Metaphysik der Sitten, S. 464. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 114 ff., Folgenden.

Menschen (O. Gast), zur Lehre

auch zum

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räumt, das aber die absolute Mehrheit der Mitglieder des Parlaments erfordert (Art. 189 b Abs. 2 EGV). Das Parlament hat nicht einmal das Gesetzesinitiativrecht. Es bleibt eine Versammlung von Vertretern der Völker70. 2. Ohne unionsweites egalitäres Wahlrecht aller Unionsbürger ist eine Gemeinschaftsgesetzgebung eines Unionsparlaments, die nicht kompetenziell auf die Ausführung der Politik der Völker gemäß dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung beschränkt ist, ohne demokratische Legitimation. Demokratische Legitimation kann nur aus egalitären Wahlen erwachsen71. Wahlen, die trotz einheitlicher Wahlprinzipien die grundsätzliche Gleichheit der Wähler, d. h. vor allem die Gleichheit des Einflusses jedes Wählers auf das Parlament, nicht wahren, sind nicht egalitär und verletzen dadurch die allgemeine Freiheit. Solange die Zahl der Vertreter der Völker im Europäischen Parlament nicht von der Zahl der Bürger des jeweiligen Volkes abhängt, solange also das Europäische Parlament vom föderalen Prinzip dominiert ist und ein Vertreter Luxemburgs etwa 65.000 und ein Vertreter Deutschlands etwa 800.000 Bürger vertritt, ist das Parlament nicht nur nicht egalitär gewählt, sondern im freiheitlichen Sinne keine Vertretung des ganzen Volkes, also kein echtes Parlament; denn die Bürger müssen wegen der Gleichheit in der Freiheit gleichheitlich vertreten sein. Die Wahlen müssen im übrigen so verfaßt sein, daß die Parlamentarier nicht mehr Vertreter der Völker, sondern abgeordnete Vertreter des ganzen Unionsvolkes, also aller Unionsbürger, sind. Die nationalen Elemente müßten aus einem echten Unionsparlament verdrängt sein. Das Bundesverfassungsgericht meint, die "stützende Funktion" des Europäischen Parlaments ließ sich verstärken, "wenn es nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gemäß Art. 138 Abs. 3 EGV gewählt würde und sein Einfluß auf die Politik und die rechtsetzenden europäischen Gemeinschaften wüchse"72. Art. 138 Abs. 3 EGV intendiert "allgemeine unmittelbare Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten". Das wären die egalitären Wahlen. Das Wahlrecht ist die eigentliche Staatsverfassung, wenn das gewählte Parlament echter Gesetzgeber ist. Ein Verfassungsgesetz schafft ein Volk und einen Staat im existentiellen Sinne; denn, wie schon gesagt, "ein Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" (Kant)73. Einer egalitären Wahlverfassung steht somit die existentielle Staatlichkeit der Völker entgegen, so daß ein echter Parlamentarismus und damit eine eigenständige demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament solange ausgeschlossen sind, als die Euro70

71 72 73

Zum Parlamentarismus der Gemeinschaft K. A. Schachtschneider, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, Lehrstuhlskript, 1997, § 7, S. 156 ff. BVerfGE 1, 203 (247, 249); 4, 31 (39 f.); 4, 375 (393 f.); 11, 266 (272); 11, 351 (360 f.); st. Rspr. BVerfGE 89, 155 (186). Metaphysik der Sitten, S. 431.

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päische Union nicht durch ein Verfassungsgesetz der Unionsbürger zum existentiellen Staat gemacht wurde. Alle Völker der Union müßten entscheiden, daß sie ihre existentielle Staatlichkeit einschränken oder beenden, um mit allen verbundenen Bürgerschaften einen Staat im existentiellen Sinne zu begründen. Alle Bürger der Union müßten eine Schicksalsgemeinschaft74, nicht nur eine weitgehende Markt- und Wettbewerbsunion sowie eine Währungsunion und in Grenzen eine Sozialunion (neben anderen gemeinsamen Politiken) wollen, sondern die Vereinigten Staaten von Europa, den großen Staat Europa, der die Nationalstaaten der alten Völker aufhebt. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seine sibyllinische Formulierung vom "Zusammenwachsen der europäischen Nationen"75 integrationistische Hoffnungen geweckt, ohne die staatsrechtlichen Voraussetzungen und auch Folgen zu erörtern, die aber gefordert sind, wenn die Leitentscheidung aufklärerischer Gemeinwesen, denen alle europäischen Staaten nach dem Selbstverständnis der Europäischen Union selbst verpflichtet sind, nämlich die allgemeine Freiheit (Präambel des Unionsvertrages, 3. Erwägungsgrund, Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte), beachtet werden soll. Die weitere Integration der Union setzt den echten Parlamentarismus der Union, dieser aber das egalitäre Unionswahlrecht und dieses den existentiellen Unionsstaat und zugleich ein Unionsvolk voraus, welche nur durch eine Unionsverfassung geschaffen werden könnten, denen alle Völker in Verfassungsreferenden zustimmen. Es gibt keinen echten Parlamentarismus in der Europäischen Union und es wird diesen im Europa der Völker nicht geben. Aber nur ein Europa der Völker wird ein Europa der Bürger sein können. Ein existentieller Staat Europa wird wegen seiner Größe ein Europa der Herren und der Untertanen sein. Dahin entwickelt sich die europäische Integration spezifisch wegen ihres Demokratiedefizits.

IX.

Demokratiewidriges Herkunftslandprinzip

1. Im europäischen Gemeinschaftsrecht hat sich, gestützt auf die Cassis-de-DijonRechtsprechung76, das Herkunftslandprinzip durchgesetzt77. Dieses Prinzip besagt, daß die Legalität von Waren und Dienstleistungen sich grundsätzlich nach den 74

75 76

77

Vgl. J. Isensee, Europa - die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, S. 109. BVerfGE 89, 155 (185 f.). EuGH - Rs. 120/78 (Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 649 ff.; dazu A. Emmerich-Fritsche, Einfuhrung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, Skript des Lehrstuhls für Öffentliches Recht/Schachtschneider, 1997, S. 75 ff. A. Emmerich-Fritsche, ebd., S. 83 f f ; Th. C. W. Beyer, Rechtsnormanerkennung im Binnenmarkt. Zur Interpretation von Art. 100 b des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Spannungsfeld von Äquivalenzgrundsatz, Prinzip des gemeinschaftsrechtlichen Mindestrechtsgüterschutzes und mitgliedstaatlicher Regelungskompetenz, 1998, S. 28 ff.

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Gesetzen des Landes bestimmt, aus denen die Ware oder die Dienstleistung stammt. Allerdings sind die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, welche bemüht sind, einheitliche Standards durchzusetzen, zu beachten. Das Herkunftslandprinzip beruht somit auf der gegenseitigen Anerkennung der Wirtschaftsordnungen und fördert dadurch die Wahrnehmung der Grundfreiheiten, insbesondere der Warenverkehrs- und der Dienstleistungsfreiheit. Wenn Lieferanten oder Dienstleister aus anderen Mitgliedstaaten die höheren Standards eines Empfängerlandes der Ware oder Dienstleistung einhalten müßten, wären sie im Wettbewerb mit inländischen Unternehmern im Nachteil, weil diese auf die höheren Standards eingerichtet sind. Insbesondere wären die Lieferanten und Dienstleister veranlaßt, in unterschiedlichen Standards zu produzieren und zu leisten, was die Kosten erhöht und im Wettbewerb benachteiligt. Hohe Standards verursachen höhere Kosten. Das Herkunftslandprinzip bewirkt eher eine Nivellierung der Standards und nimmt dadurch Rücksicht auf die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten mit geringerer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, die regelmäßig mit geringeren Standards verbunden ist. Das Herkunftslandprinzip fördert somit den Wettbewerb und die Wettbewerbschancen der Mitgliedstaaten mit niedrigeren Standards. Die Mitgliedstaaten mit hohen Standards müssen dafür in Kauf nehmen, daß auch in ihren Ländern Waren und Dienstleistungen niedrigeren Standards legal sind. Das trifft vor allem Deutschland. Es liegt auf der Hand, daß die Anerkennung der Standards der Herkunftsländer den Verzicht auf die Verbindlichkeit der eigenen Rechtsordnung für Waren und Dienstleistung aus anderen Ländern der Union bedeutet, weil die Rechtsordnungen der Herkunftsländer maßgeblich werden. Die inländischen Unternehmen dürfen sich zwar auf die ausländischen Standards für ihre im Inland hergestellten Waren und geschaffenen Dienstleistung nicht berufen, weil ein Grundsatz der Inländergleichbehandlung (Verbot umgekehrter Diskriminierung) sich (noch) nicht durchgesetzt hat78, sie haben aber das Recht, in den Mitgliedstaaten mit niedrigeren Standards zu produzieren und ihre Dienstleistungen vorzubereiten. Das ergibt sich aus der Niederlassungsfreiheit. Im Inland behauptet sich durch das Herkunftslandprinzip eine Rechtsordnung, welche die Bürgerschaft nicht gewollt hat. Das ist vor allem für Lebensmittel und umweltlich empfindliche Güter fragwürdig. Die Gesundheitspolitik zieht allerdings die Harmonisierung vor. Jedenfalls wird das Demokratiedefizit erhöht, weil die Bürgerschaft auf die Rechtsordnungen des Herkunftslandes der Waren und Dienstleistungen keinen Einfluß hat und weil die Notwendigkeit einheitlicher Standards in der Gemeinschaft die Harmonisierungsbefugnisse derselben akti78

EuGH - verb. Rs. 35 und 36/82 (Morson-Jhanjan/Niederländischer Staat), Slg. 1982, 3723 ff.; Th. Oppermann, Europarecht, Rdn. 1429.

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viert, welche sie in verschiedenen Sonderregelungen und allgemein in Art. 100 a EGV vorfindet. Mittels des Herkunftslandprinzips leben wir zunehmend in einer Ordnung, auf die wir keinen oder nur den geringen Einfluß haben, den das Gemeinschaftsrecht zuläßt. Insbesondere ist das Gemeinschaftsrecht, wie dargestellt, exekutivistisch und dadurch demokratisch defizitär. Dieser Mangel wird durch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung79 nicht ausgeglichen. Wenn auch die Republikanität aller Mitgliedstaaten anzuerkennen ist, zumal die Verwirklichung demokratischer Standards Voraussetzung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist, die sich "zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit" bekennt (3. Erwägungsgrund des Maastricht-Vertrages), so hat das Herkunftslandprinzip doch wettbewerbspolitische Gründe. 2. Nicht nur die Rechtsordnungen, denen Waren und Dienstleistung genügen müssen, sind dem Einfluß der Mitgliedstaaten (abgesehen von dem gemeinschaftlichen Einfluß) entzogen, sondern auch und vor allem die Administration der Legalität, die Verwaltung also. Das demokratische Prinzip gebietet, daß jeder staatliche Amtswalter durch eine ununterbrochene Kette von Berufungsakten in seinem Amt vom Volk legitimiert ist80. Auf die Auswahl der Amtswalter in anderen Mitgliedstaaten hat kein Mitgliedstaat Einfluß, so daß der Gesetzesvollzug bei der Prüfung der Waren und Dienstleistung auf ihre Legalität nicht demokratisch legitimiert ist. Systematische Untersuchungen der Waren und Dienstleistungen scheiden aus; allenfalls Stichproben werden den Bestimmungsländern zugestanden81. Die Legalität, d. h. die Sicherheit der Waren und Dienstleistungen, ist vornehmlich Sache der Administration. Mittels des Herkunftslandprinzips werden somit auch, verdinglicht in den Waren- und Dienstleistungen, die administrativen Verhältnisse, etwa die Korruption, von dem Herkunftsland in das Bestimmungsland exportiert. Nicht nur die entwickelten Standards, die auch wirtschaftlich leistbar sein müssen, geraten unter den Druck der Wettbewerbsordnung der Gemeinschaft, sondern auch das demokratische Prinzip. Die Wirtschaftsunion minimalisiert den Bürgerstaat.

X.

Europäische Währungspolitik ohne demokratische Einbindung

1. Die wirtschaftlich existentielle Währungspolitik der Europäischen Union wird der demokratischen Einbindung entbehren. Das Bundesverfassungsgericht hat 79 80 81

Dazu Th. C. W. Beyer, Rechtsnormanerkennung im Binnenmarkt, S. 25 ff. BVerfGE 47, 253 (275). Vgl. EuGH - Rs. 124/81 (Kommission/Vereinigtes Königreich, UHT), Slg. 1983, S. 203 ff., insb. S. 236, Rdn. 18; EuGH - Rs. C-186/88 (Kommission/Deutschland), Slg. 1989, S. 3997 ff., insb. S. 4010 f., Rdn. 4 ff., 8; A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Teil E, 5. Kap. II, 1.

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zugestanden, daß "die Einflußmöglichkeiten des Bundestages und damit der Wähler auf die Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch europäische Organe ... nahezu vollständig zurückgenommen" seien, "soweit die Europäische Zentralbank mit Unabhängigkeit gegenüber der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten ausgestattet" werde (Art. 107 EGV). "Diese Einschränkung der von den Wählern in den Mitgliedstaaten ausgehenden demokratischen Legitimation berührt das Demokratieprinzip, ist jedoch als eine in Art. 88 Satz 2 GG vorgesehene Modifikation dieses Prinzips mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar ... Diese Modifikation des Demokratieprinzips im Dienste der Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösungsvertrauen ist vertretbar, weil es der - in der deutschen Rechtsordnung erprobten und, auch aus wissenschaftlicher Sicht, bewährten - Besonderheit Rechnung trägt, daß eine unabhängige Zentralbank den Geldwert und damit die allgemeine ökonomische Grundlage für die staatliche Haushaltspolitik und für private Planung und Disposition bei der Wahrnehmung wirtschaftlicher Freiheitsrechte eher sichert als Hoheitsorgane, die ihrerseits in ihren Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmitteln wesentlich von Geldwert und Geldmenge abhängen und auf die kurzfristige Zustimmung politischer Kräfte angewiesen sind. Insofern genügt die Verselbständigung der Währungspolitik in der Hoheitskompetenz einer unabhängigen Europäischen Zentralbank, die sich nicht auf andere Politikbereiche übertragen läßt, den verfassungsrechtlichen Anforderungen, nach denen das Demokratieprinzip modifiziert werden darf' 8 2 . Das demokratische Prinzip wird also entgegen Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, den Art. 79 Abs. 3 GG für unabänderlich erklärt, und auch entgegen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, der die deutsche Integration in die Europäische Union davon abhängig macht, daß die Union (u. a.) dem demokratischen Grundsatz verpflichtet ist und bleibt, um einer überzogenen Unabhängigkeit des Europäischen Systems der Zentralbanken und insbesondere der Europäischen Zentralbank willen aufgegeben. Auch die Europäische Union bekennt sich, wie gesagt, zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit, hält aber dieses Bekenntnis in den näheren Vertragsregelungen nicht durch; denn die genannten Grundsätze führen zu dem Prinzip der politischen Freiheit als der Autonomie des Willens, welches nur in der Republik als der Einheit von Demokratie und Rechtsstaat Wirklichkeit zu finden vermag. Während die Deutsche Bundesbank durchaus in das System der staatlichen Willensbildung eingebunden ist, hat die Europäische Zentralbank zwar in dem Uni82

BVerfGE 89, 155 (207 ff.).

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onsvertrag nicht nur ihre Einrichtung, sondern auch ihre Ordnung, nämlich ihre Zielsetzung einer einheitlichen, stabilen Währung, ihre Aufgaben (Art. 105 EGV) und weitgehend ihre Instrumente gefunden, ist aber doch, abgesehen von der Bindung an den Vertrag, durch Art. 107 EGV mit einer außerordentlichen Unabhängigkeit ausgestattet. Immerhin kann die Wahrung der primärrechtlichen währungspolitischen Ordnung gerichtlich durchgesetzt werden83. Der Kern der Politik der Europäischen Zentralbank (wie auch des Europäischen Systems der Zentralbanken) ist jedoch nicht judiziabel, nämlich die währungspolitischen Beschlüsse, von denen das wirtschaftliche Schicksal der Union und der Unionsvölker abhängt. Der Europäische Zentralbankrat ist, einmal eingesetzt, niemandem mehr verantwortlich, sondern nur der Sache der einheitlichen, stabilen Wärung (6. Erwägungsgrund der Präambel des EUV). Die Unabhängigkeit der Bundesbank hat nach herrschender Meinung keinen Verfassungsrang84. Sie beruht auf § 12 BBankG, der jedenfalls vor der Novellierung des Art. 88 GG zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stand. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ist im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft verankert und kann nur durch einen neuen Vertrag der (z. Z.) 15 Mitgliedstaaten aufgehoben werden. Das würde im übrigen dem (neuen) Art. 88 S. 2 GG widersprechen, dem das Bundesverfassungsgericht gerade die Rechtfertigung des demokratischen Defizits der Europäischen Zentralbank abgerungen hat. Die Bundesbank ist aber in ihren Zielen, Aufgaben, Mitteln und auch in ihrer Einrichtung vom einfachen Gesetz abhängig, so daß die Legislative jederzeit in die Ordnung und Arbeit der Bundesbank eingreifen und dieser eine Politik in ihrem Sinne oktroyieren kann. Das wäre zwar, solange nicht außerordentliche Lagen die Ingerenz nahelegen, nicht klug, aber doch rechtmäßig. Die letzte Verantwortung für die Währungspolitik Deutschlands hat die Legislative, insbesondere der Bundestag. Die Deutsche Bundesbank ist (war) somit hinreichend, ja sachgerecht demokratisch eingebunden. Das Europäische System der Zentralbanken besteht demgegenüber aus den unabhängigen nationalen Zentralbanken (Art. 7 des 3. Protokolls), welche einen erheblichen Einfluß auf die Währungslage der Euro-Länder haben. Die Europäische Zentralbank, einmal errichtet und eingerichtet, darf durch kein demokratisch legitimiertes Organ beeinflußt werden, nicht einmal durch Gemeinschaftsorgane (Art. 107 EGV), außer bei Verletzungen des Gemeinschaftsvertrages durch den Europäischen Gerichtshof. Durch Gemeinschaftsrechtsakte können zwar in begrenztem Umfang die Instrumente der Währungspolitik geändert werden. Das muß aber die 83

84

Vgl. Art. 173 Abs. 1 und 3, Art. 175 Abs. 4 und Art. 177 Abs. 1 lit. b) EGV, aber auch Art. 35 des 3. Protokolls über die Satzung des europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank. BVerwGE 41, 334 (354 ff ); H. H. Hahn, Währungsrecht, 1990, S. 261 ff.; vgl. P. J. Tettinger, in: Sachs, GG, Rdn. 6 zu Art. 88.

Demokratiedefizite in der Europäischen Union

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Europäische Zentralbank selbst empfehlen (Art. 41 des 3. Protokolls). Die Europäische Zentralbank wird ihre Aufgaben und Befugnisse ohne jede demokratische Einbindung wahrnehmen können. Hinzu kommt, daß die Mitglieder des maßgeblichen Europäischen Zentralbankrates, dessen Beschlüsse die nationalen Wirtschaften und die Vermögen der Bürger ruinieren können, die aber auch die nationale Sozialpolitik konterkarieren kann (usw.), nur in äußerst geringem Umfang national und damit demokratisch legitimiert sein werden; denn die Präsidenten der jeweiligen nationalen Zentralbanken sind geborene Mitglieder der Europäischen Zentralbank (Art. 109 a EGV), werden aber von den Mitgliedstaaten ausgewählt und im übrigen durch Art. 14 des 3. Protokolls in ihrer persönlichen Unabhängigkeit gestärkt. Lediglich die Mitglieder des Direktoriums werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs einvernehmlich ausgewählt und ernannt, aber auch nur auf Empfehlung des Rates, der hierzu das Europäische Parlament und den EZB-Rat anhört (Art. 109 a Abs. 2 EGV). Das Direktorium verfügt jedoch im Europäischen Zentralbankrat nicht über die Mehrheit. Die nationale Legitimation in einem Mitgliedstaat schafft nun einmal keine demokratische Legitimation, ein Amt für ein anderes Land auszuüben. Auch der Rat der Europäischen Zentralbank beschließt grundsätzlich mit einfacher Mehrheit (Art. 10 Abs. 2 des 3. Protokolls), so daß die Vertreter jedes Mitgliedstaates überstimmt werden können. Diese wirklich supranationale Einrichtung des Europäischen Systems der Zentralbanken steht somit außerhalb des demokratischen Legitimationssystems, obwohl es hervorragende politische Bedeutung für die Völker hat. 2. Das Bundesverfassungsgericht hat die "Modifizierung" des demokratischen Prinzips mit dem Gebot der Wissenschaftlichkeit der Geldpolitik zu rechtfertigen versucht. Diese Argumentation verrät ein grundsätzliches Mißverständnis des demokratischen Prinzips. Die Erfahrung der Völker lehrt, daß die freiheitliche Demokratie oder eben die Republik die beste Staats- und Regierungsform ist, um die Sachlichkeit zu gewährleisten. Sachlichkeit ist Wissenschaftlichkeit. Das demokratische Prinzip wird durch praktische Vernunft, d. h. Sittlichkeit als die Achtung des kategorischen Imperativs, verwirklicht. Das setzt den Respekt vor den bestmöglichen Theorien von der Wirklichkeit als der menschenmöglichen Wahrheit voraus. Nur eine Politik, die das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit sicherzustellen versucht, entspricht dem Recht. Das zu gewährleisten, wird die Gleichheit in der Freiheit anerkannt, weil die politische Ungleichheit Unsachlichkeit, nämlich Parteilichkeit, mit sich bringt und den sachgerechten, also gerechten, Interessenausgleich gefährdet. Es gibt keinen Grund, irgendeinen Bürger von der Politik auszuschließen; denn die Politik betrifft das Leben aller. Nur sein eigener Wille vermag den Bürger zu binden. Darum muß ein bestmögliches Procedere

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Karl Albrecht Schachtschneider

geschaffen werden, um den allgemeinen Willen hervorzubringen. Ohne allseitige Sittlichkeit, die, wie schon am Anfang gesagt, allseitige Moralität erfordert, ist nicht zur Sachlichkeit der Politik zu finden. Politik ist eben ausübende Rechtslehre. Der Politik geht es um Erkenntnis von Recht. Gerade diese Erkenntnis erfordert den allgemeinen Diskurs des Volkes, erfordert den Bürgerstaat, die Republik oder eben den Volksstaat, die Demokratie. Es gibt keinen Gegensatz von Sachlichkeit und Demokratie. Vielmehr ist die Demokratie Voraussetzung des Rechtsstaates. Der aber soll der Staat der Sachlichkeit sein. Keine Politik darf sich aus der demokratischen Einbindung lösen. Wenn das für erforderlich gehalten wird, erweist das nur, daß die politischen Institutionen im übrigen nicht mehr demokratisch sind. So ist denn auch die Wirklichkeit des Parteienstaates und die Wirklichkeit der Europäischen Union, in der nicht das Volk "durch das Volk" regiert, sondern vor allem die politische Klasse, die vorgibt, "für das Volk" zu regieren, aber doch vor allem ihre eigenen Interessen verfolgt. Das Vertrauen in die Amtswalter ist allzu oft enttäuscht worden, als daß die Völker auf die Demokratie verzichten könnten. Res publica res populi.

Währungsunion und Weltwirtschaft (hrsg. von W. Nölling, K. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 1999

Der neue europäische Wechselkursmechanismus und die MOE-Staaten Wolf Schäfer 1. Mit Beginn der 3. Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) am 1. Januar 1999 wurde der Wechselkursmechanismus des alten Europäischen Währungssystems (EWS) abgeschafft. Gleichzeitig wird den vier EUMitgliedstaaten, die den Euro zunächst nicht einfuhren (Dänemark, Griechenland, Großbritannien, Schweden) ein neuer Wechselkursmechanismus (WKM II) angeboten, mit dessen Hilfe sie eine Anbindung ihrer Währungen an den Euro gestalten können. 1 Grundlage ist ein diesbezüglicher Vertrag zwischen der Europäischen Zentralbank (EZB) und den vier nationalen Zentralbanken der nicht dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Mitgliedstaaten. Dänemark und Griechenland nehmen von Anfang an am WKM II teil, Dänemark mit einer Bandbreite von ± 2,25% und Griechenland von ± 15%. 2. Die Teilnahme am WKM II ist grundsätzlich freiwillig, aber als obligatorisch wird sie für diejenigen Länder angesehen, die die Einführung des Euro in absehbarer Zeit anstreben ("Pre-Ins"), weil sie gemäß Art. 109j EGV das Konvergenzkriterium einer mindestens zweijährigen abwertungsfreien Mitgliedschaft im WKM mit "normaler" Bandbreite erfüllen müssen. Ob es sich hierbei um eine Bandbreite von ± 2,25% oder ± 15% handelt, ist seit der Erweiterung der Bandbreiten im August 1993 umstritten. 3. Die Standardbandbreite des WKM II beträgt ± 15% um den Leitkurs jeder Währung zum Euro, der damit die Funktion der Ankerwährung im System übernimmt. Neben der Möglichkeit der offiziellen Festlegung einer engeren Bandbreite als ± 15% gibt es für "Pre-Ins" auch die Möglichkeit, mit der EZB informell eine engere Wechselkursanbindung zu vereinbaren (die nicht veröffentlicht werden darf). Leitkursänderungen können flexibler als im alten EWS vorgenommen werden, und zwar über das Recht aller Beteiligten, ein vertrauliches Verfahren zur Überprüfung der Leitkurse einzuleiten. Dies bedeutet, daß der EZB und den nationalen Zentralbanken ein Initiativrecht zu Wechselkursänderungen eingeräumt wird, was einer Entpolitisierung von Leitkursänderungen entgegenkommt. 4. Man kann darüber streiten, ob es angesichts der Erfahrungen mit dem WKM des alten EWS eines neuen WKM II überhaupt bedarf. Dies soll hier jedoch nicht 1

Vgl. Deutsche Bundesbank (1998), S. 19 - 25.

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Wolf Schäfer

thematisiert werden, weil die diesbezüglichen Entscheidungen nun einmal getroffen worden sind. Vielmehr steht hier die Frage im Mittelpunkt, welche Revelanz dieser WKM II für die mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) hat. Dabei gilt es zunächst, die MOEL zu klassifizieren. Da gibt es die Gruppe der bereits in Beitrittsverhandlungen mit der EU stehenden MOEL - also die drei VisegradLänder Polen, Tschechien und Ungarn sowie Slowenien und Estland -, sodann die zweite Gruppe der Länder, mit denen Beitrittsverhandlungen vorbereitet werden Bulgarien, Lettland, Litauen und Rumänien - und schließlich die Gruppe der übrigen, deren EU-Anbindung noch nicht konkret geplant bzw. als grundsätzlich wohl unrealistisch zu bezeichnen ist (z. B. Rußland). Für unsere Fragestellung ist vor allem die erste Gruppe der zukünftigen EU-Mitgliedstaaten von Interesse, die hier ebenfalls als "Pre-Ins" behandelt werden sollen. Welche monetäre Anbindungsstrategie an die EWWU bzw. den WKM II könnte für diese Gruppe adäquat sein? Grundsätzlich geht es um die Gestaltung des Wechselkurs-arrangements dieser Länder bis zur Einführung des Euro, wobei die Zielrichtung wohl darin bestehen müßte, nach der EU-Aufnahme am WKM II zu partizipieren, um aus diesem Mechanismus heraus die Einführung des Euro vorzunehmen. Dabei müßte eine solche Heranführungsstrategie grundsätzlich auf Basis einer Konvergenzstrategie der MOEL selbst und nicht auf Basis einer Interventions-strategie der EZB erfolgen. Dies ist wichtig, weil das Primärziel der EZB, die Sicherung der Preisstabilität im Euro-Währungsraum, nicht interventionsbedingt gefährdet werden darf. 5. Es kommt mithin darauf an, daß die MOEL nicht durch eine zu frühe Bindung ihrer Währungen an den Euro die Interventionsanforderungen im Rahmen des WKM II stabilitätsgefährdend überhöhen. In einem solchen Fall ist zwar ohnehin vorgesehen, daß die prinzipiell automatischen und unlimitierten obligatorischen Interventionen ausgesetzt werden können, aber es stellt sich doch grundsätzlich die Frage nach dem adäquaten Wechselkursarrangement der MOEL in bezug auf den Euro. Zwei Alternativen der von den MOEL praktizierten Wechselkursarrangements kommen hier ins Blickfeld: die Wahl einer Auslandswährung bzw. eines Währungskorbs als nominaler Anker oder als realer Anker2. Während ein nominaler Anker (Nominalpeg) die feste Bindung der heimischen Währung an eine Auslandswährung bedeutet (z. B. Currency board), stellt ein realer Anker (Realpeg) nicht auf die Konstanz des nominalen, sondern des realen Wechselkurses ab. Beide Arrangements haben unterschiedliche Implikationen. Diese lassen sich gut veranschaulichen, wenn man folgenden Modellrahmen heranzieht.

2

Kein MOEL hat sich für völlig flexible Wechselkurse entschieden. Vgl. u. a. Schäfer (1998), S. 173.

Der neue europäische Wechselkursmechanismus und die MOE-Staaten

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6. Das Zwei-Sektoren-Modell eines MOEL habe folgende Struktur:

(1)

p = a p T + (1 - a ) p N ;

0 < a