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German Pages 62 Year 2019
Frederick Cooper Von der Sklaverei in die Prekarität?
re:work. Arbeit global – historische Rundgänge
herausgegeben von Andreas Eckert und Felicitas Hentschke
Band 1
Frederick Cooper
Von der Sklaverei in die Prekarität? Afrikanische Arbeitsgeschichte im globalen Kontext
Die kleine Buchreihe re:work. Arbeit global - historische Rundgänge dient dazu, eine öffentliche Vortragsreihe, die re:work lectures des Internationalen Forschungskollegs „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“, kurz re:work, an der HumboldtUniversität zu Berlin, zu dokumentieren und für die Arbeitsgeschichte im deutschsprachigen Raum nachhaltig zugänglich zu machen. re:work ist ein für den Zeitraum von 2009 bis 2021 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Forschungsprogramm (Käte Hamburger Kollegs).
ISBN 978-3-11-061531-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061810-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061542-5
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data 2018965081 Bibliografische Information der Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutsche Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Übersetzung aus dem Englischen: Tim Jack Photographien: Maurice Weiss Redaktion: Andreas Eckert und Felicitas Hentschke Lektorat: Lilly Kempf und Sebastian Marggraff Interview: Ralf Grötker Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
www.degruyter.com
re:work Arbeit global - historische Rundgänge Als uns das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Ende 2008 mitteilte, dass das Projekt „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ als eines der insgesamt zehn Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kollegs – später Käte Hamburger Kollegs - zur Förderung angenommen worden sei, ahnten wir noch nicht, dass wir am Anfang eines großen akademischen Abenteuers standen. Das BMBF hatte uns mit diesem neuen Format die Möglichkeit gegeben, ein innovatives Forschungsprogramm zu entwickeln und jährlich zehn bis fünfzehn Forscher und Forscherinnen aus allen Teilen der Welt einzuladen, um mit uns gemeinsam in Berlin über das Thema „Arbeit“ zu diskutieren. Doch bevor wir die ersten Ausschreibungen verschicken konnten, plagten wir uns mit der Frage, wie man in wenigen Sätzen unser neues Forschungszentrum erklären könnte. Nach langen Gesprächen mit unserem Grafiker sowie Kollegen und Kolleginnen wurde ein „Spitzname“ gefunden, der nun international in einschlägigen Zirkeln die Runde gemacht hat – re:work. In dem Wort re:work stecken unter anderem die drei Begriffe Re-flektion, Revision und Re-imagination: Wir nutzen den Freiraum, der uns gegeben worden ist, um Experimente zu wagen, und neue Wege zu gehen, um über „Arbeit“ nachzudenken. Zunächst einmal: Das Thema „Arbeit“ war alles andere als neu, als wir unsere Arbeit mit re:work begannen. Insbesondere von den 1960er bis in die frühen 1980er Jahre war die Geschichte der Arbeit und der Arbeiterbewegung hierzulande ein wichtiges Forschungsthema. Im Zentrum des Interesses stand dabei Deutschland, gegebenenfalls noch der nordatlantische Raum. Die Mehrzahl der Studien handelte vom Aufstieg des Kapitalismus, der Lohnarbeit zu einem Massenphänomen machte, von Industrialisierung und Urbanisierung. Dies ging einher mit der semantischen Verengung des Konzepts Arbeit auf Erwerbsarbeit. Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften waren prominente Themenfelder, Arbeiterkultur im weitesten Sinne bildete einen weiteren Schwerpunkt. Zunehmend etablierten sich Genderperspektiven. In den späten 1980er Jahren hatte Arbeit als Forschungsgegenstand jedoch weitgehend seine Attraktivität verloren. Viel war vom „Ende der Labour History“ zu lesen. Mitte der 1990er Jahre kursierte in Historikerkreisen der Witz, wer möglichst wenig Studierende in seinen Seminaren haben wolle, solle sie Freitagnachmittags anbieten, und möglichst zum Thema „Arbeit“. https://doi.org/10.1515/9783110618105-001
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Diese Zeiten sind vorbei. Arbeit ist wieder en vogue. Die Finanzkrise, generationelle Konflikte um den Zugang zu Arbeit, der Aufstieg informeller und prekärer Beschäftigungsverhältnisse auch in den westlichen Industrieländern sowie die durch rapiden technologischen Wandel geprägten Veränderungen der Arbeitswelt sind einige der Bereiche, die gesellschaftliche und akademische Debatten zum Thema Arbeit neu befeuert haben. Und nicht zuletzt mit dem Einzug der Globalgeschichte und dem damit verknüpften neuen Interesse an der nichteuropäischen Welt veränderte sich auch hierzulande der Blickwinkel auf den Forschungsgegenstand. Vor diesem Hintergrund wurde es möglich, gängige Prämissen in Frage zu stellen und neu auf „Arbeit“ zu schauen. Wenn beispielsweise in Afrika nur etwa 14% der Bevölkerung in einem formalen Lohnarbeitsverhältnis stehen, was tun die anderen 86%? Wie müssen wir unsere Fragen stellen, um angemessen auf diese Umstände zu reagieren? Bei re:work haben wir uns auf die Reise gemacht und Spezialisten und Spezialistinnen zum Thema Arbeit aus dem sogenannten „Globalen Süden“ getroffen - von China und Indien über Brasilien, Kenia und Mali, bis nach Tadschikistan und Marokko. Wir haben sie gefragt, wie sie Arbeit definieren, auf welchen Grundannahmen ihre Forschung fußt, welche Quellen sie benutzen, wohin ihre Diskussionen führen. Es haben sich auf dieser Reise einige Kernthemen herauskristallisiert, welche die Debatten bei re:work bis heute prägen: Arbeit und Nicht-Arbeit, freie und unfreie Arbeit, die kritische Reflexion der Vorstellung von „Normalarbeitsverhältnissen“, aber auch die Beziehungen zwischen verschiedenen Lebensphasen und der Arbeit. Diese Themen werden nicht zuletzt in Forschungskontexten außerhalb der westlich dominierten Forschungslandschaft lebhaft diskutiert werden und prägen zunehmend unser Nachdenken über Arbeit. Diese kleine Buchreihe, eine Sammlung von Vorträgen, die im Rahmen der Vortragsreihe re:work Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten wurden, möchte diese Debatten aufgreifen, einige neuere Ansätze und kritische Perspektiven in der Erforschung von Arbeit vorstellen und auf diese Weise das wissenschaftliche Gespräch, das im Umfeld von re:work seit nunmehr zehn Jahren geführt wird, auf kompakte Weise zugänglich machen. Andreas Eckert und Felicitas Hentschke
re:work (v.l.n.r.): Felicitas Hentschke (Programmleitung), Jürgen Kocka (Permanent Fellow), Andreas Eckert (Direktor)
Inhalt Andreas Eckert 1 Einleitung Frederick Cooper Von der Sklaverei in die Prekarität? Afrikanische Arbeitsgeschichte im globalen Kontext 5 Gesprächsführung: Ralf Grötker Ab vom vorgezeichneten Weg: Ein Interview mit Frederick Cooper 39
Lebenslauf Frederick Cooper ReM ReM Club
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Käte Hamburger Kollegs
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Buchreihe Work in Global and Historical Perspective
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Andreas Eckert
Einleitung
Die Mehrzahl der Historiker, vermutete der britische Kollege David Cannadine an der Princeton University einmal, publizierten so wenig, weil sie vollauf damit beschäftigt seien, die Werke jener Kollegen zu lesen, die viel schreiben. Der nach Stationen in Harvard und der University of Michigan in Ann Arbor an der New York University lehrende Frederick Cooper jedenfalls, hervorgetreten durch zahlreiche grundlegende Werke zur Geschichte Afrikas, des Kolonialismus und der Imperien, versorgt die Zunft seit vier Jahrzehnten mit reichlich gewichtigem Lesestoff. Schon seine frühen monografischen Studien zur Sklaverei und dem komplexen, nie gradlinig verlaufendem Übergang von unfreier zu freier Arbeit in Afrika zeichnen sich durch die für sein gesamtes Œuvre charakteristische Verbindung von intensiven Quellenstudien mit der originellen Reflexion von Begriffen und Theorien aus. In der 1980 publizierten Monografie From Slaves to Squatters stellte er am Beispiel Kenias und Sansibars heraus, dass Sklaven keineswegs immer nur passive Opfer der Geschichte gewesen sind. Sklaven, so Cooper, bestimmten ihren Alltag insbesondere in kultureller und religiöser Hinsicht weitaus stärker als damals gängige Forschungsansichten konzedieren wollten. „Arbeit“ war für Cooper auch ein wesentlicher Schlüssel zur Erklärung der Dekolonisation südlich der Sahara. In einer Studie zur kenianischen Hafenstadt Mombasa (On the African Waterfront. Urban Disorder and the Transformation of Work in Colonial Mombasa, 1987), vor allem aber in seinem 1996 publizierten voluminösen Buch Decolonization and African Society. The Labor Question in French and British Africa legte er dar, dass dem Scheitern kolonialer Projekte zur Transformation afrikanischer Arbeitswelten ebenso wie den Streiks, militanten Arbeiterbewegungen und der Bildung von Gewerkschaften für das Ende der Kolonialherrschaft eine wichtige Rolle zukam. Zugleich stellte er klar, dass sich die Arbeitskämpfe keineswegs umstandslos dem antikolonialen Nationalismus zuordnen lassen. Nationale und soziale Fragen standen vielmehr häufig in einem Spannungsverhältnis. Im vorliegenden Essay über die Arbeitsfrage in der Geschichte Afrikas zieht Cooper einen düsteren Vergleich: Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit darauf verzichtet, sowohl die weibliche als auch die männliche Form der jeweils angesprochenen Personengruppe zu benutzen. Die männliche Form bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts. Wenn z.B. von Wissenschaftlern gesprochen wird, sind immer auch Wissenschaftlerinnen gemeint. Der umgekehrte Fall gilt nicht. https://doi.org/10.1515/9783110618105-002
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wurden Millionen von Afrikanern über den Atlantik zwangsverschifft, um auf Plantagen in den Amerikas zu schuften. Viele starben während der Überfahrt. Heute ergreifen zahlreiche Afrikaner selbst die Initiative und überqueren auf der Suche nach Arbeit das Meer. Und viele lassen dabei ihr Leben. Die Migranten der früheren Jahrhunderte wurden zur Mobilität gezwungen. Die gegenwärtigen Migranten seien in gewisser Weise jedoch die „Freiesten der Freien“. Sie gingen freiwillig von Afrika nach Europa, unter großen Anstrengungen und mit großem Risiko. Was frühere und heutige Wanderungen gleichwohl verbinde, sei die Ungleichheit globaler ökonomischer Beziehungen. Der Sklavenhandel und die Arbeitsmigration des einundzwanzigsten Jahrhunderts seien beide das Resultat der intensivierten Verbindungen und zugleich wachsenden Disparitäten zwischen verschiedenen Weltteilen. Die Etappen afrikanischer Mobilität vollzogen sich vor dem Hintergrund des Übergangs von Imperien zu einer recht instabilen Welt der Nationalstaaten. Cooper und seine Ehefrau Jane Burbank vertreten in ihrem in viele Sprachen übersetzen Buch zu den Imperien der Weltgeschichte die provokante These, dass der Nationalstaat angesichts der Dauerhaftigkeit von Reichen als „ein kaum wahrnehmbares Blinken am historischen Horizont“ erscheine und keineswegs die zwangsläufige Folge des Niedergangs von Imperien war. In seiner Monografie Citizenship Between Empire and Nation. Remaking France and Remaking French Africa, 1945-1960 (2014), einer afrikanisch-französischen Verflechtungsgeschichte der Staatsbürgerschaft, vertieft Cooper diese Thematik und zeigt, dass frankofone westafrikanische Politiker der Entkolonialisierung wie Léopold Sédar Senghor politische Unabhängigkeit nicht unbedingt in der Form von Nationalstaaten zu realisieren suchten. Ihnen schwebte vielmehr die Partizipation in einem egalitären föderalen Frankreich vor, eine Vision, die sich nicht durchsetzen konnte und bald in Vergessenheit geriet. Wissenschaftler, die alten Wein in neuen Schläuchen zu kredenzen suchen oder der selbstverliebten Theoretisierung ohne empirische Bodenhaftung frönen, riskieren zuweilen Coopers polemischen Gegenwind. So hat er in seiner Essaysammlung Colonialism in Question (2005, dt. als Kolonialismus denken, 2012) die im Trend liegende Kolonialismusforschung einer kritischen Musterung unterzogen. In diesem Zusammenhang beklagte er den Konformitätsdruck in den Sozialund Kulturwissenschaften durch akademische Hierarchien, vermeintlich „unbedingt erforderliche“ Methodologien und einen theoretischen Konservatismus. Einst provokative Konstrukte oder Schlüsselkategorien wie Identität, Globalisierung und Moderne hätten sich – nicht nur in der Kolonialismusforschung – allzu oft in Klischees verwandelt. „Arbeit“ ist für Cooper eine zentrale Kategorie, um die lange Geschichte der Beziehungen zwischen Europa und Afrika aufzuschlüsseln. Diese Beziehungen
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waren nicht nur von Ausbeutung geprägt, sondern reflektieren ebenso eine lange Geschichte vergeblicher Unterwerfung. Der Kolonialismus, betont Cooper, war nämlich keineswegs in der Lage, sich Afrikaner in einer Weise dienstbar zu machen, wie es Planer und Militärs, Kaufleute und Missionare, Wissenschaftler und Lehrer wünschten. Afrikanische Räume und soziale Strukturen boten machtvolle Widerstandsmittel gegen die Versuche, Kontrolle über Arbeit zu erlangen. Auf lange Sicht, darauf verweist Cooper mit Nachdruck, mussten Afrikaner die Konsequenzen dafür tragen, dass sie so schwer auszubeuten waren. Der Preis für den erfolgreichen Widerstand gegen die Logik von Ausbeutung und Akkumulation ist hoch. Afrika hat ihn nicht nur im Niedergang seiner wirtschaftlichen Bedeutung und in Form zunehmender Verletzlichkeit gezahlt. Als mindestens ebenso „kostspielig“ erweist sich die Repräsentation von Afrika als „verlorenem Kontinent“. Cooper plädiert - nicht nur im vorliegenden Text - eindringlich dafür, die Vorstellung, Afrika sei ganz „anders“ als der Rest der Welt, rasch zu revidieren. Andreas Eckert
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Von der Sklaverei in die Prekarität? Afrikanische Arbeitsgeschichte im globalen Kontext¹ In jüngster Zeit hat das Interesse an einer afrikanischen Geschichte der Arbeit wieder zugenommen. Nach einem ersten Höhepunkt in den 1970er Jahren war das Interesse der Historikergemeinde im Laufe der 1980er Jahre wieder verebbt. Die jüngste Umkehr dieses Trends geht allerdings mit einer neuen Perspektive einher. Veränderungen akademischer Herangehensweisen laufen nicht isoliert ab. So wird die Vergangenheit Afrikas 2015 anders gesehen als 1975, größtenteils auch, weil die afrikanische Gegenwart eine andere ist. Es ist auch nicht einfach eine afrikanische Geschichte, denn Afrika ist ein Teil der Welt und die Afrikaforschung ist ein Teil der akademischen Welt. Diesen Text verfasse ich sowohl vom Standpunkt des an Ideengeschichte, Politik- und Sozialgeschichte interessierten Historikers, als auch als Zeuge, denn das Arbeitsfeld ist jung genug und ich alt genug, um das Auf, das Ab und jetzt das erneute Auf des Forschungsinteresses an einer afrikanischen Geschichte der Arbeit in meiner wissenschaftlichen Laufbahn erlebt zu haben.
Die Arbeitsgeschichte der 1970er: Produktion einer afrikanischen Arbeiterklasse? In den 1970ern interessierten sich Forscher nicht nur für die Alleinstellungsmerkmale der afrikanischen Geschichte – und die einfache Tatsache, dass der Kontinent überhaupt eine eigene Geschichte hatte –, sie fragten auch nach Afrikas Platz in der Welt. Lassen sich spezifisch afrikanische Formen der Arbeit identifizieren? Gibt es besondere Beziehungen zwischen Afrika und der kapitalistischen Welt? Sicherlich kommt man nicht um die Erkenntnis umhin, dass „Arbeit“ eine schier unüberschaubare Zahl von Formen annehmen kann. Sie ist letztlich all das, was in einem beliebigen Kontext eine beliebige Sache, beziehungsweise, mit den
Dieser Text ist eine überarbeitete Fassung meines Aufsatzes, der in Beyond the Margins: The Political Economy of Life in Modern Africa erschienen ist. Herausgegeber des Bandes ist Wale Adebanwi, veröffentlicht wurde er von James Curry. https://doi.org/10.1515/9783110618105-003
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Begriffen von Marx gesprochen, einen Gebrauchswert hervorbringt.² Dieses Konzept von Arbeit impliziert ein Beziehungsgeflecht aus der Produktion von Konsumgütern für andere und der Produktion eines Tauschwerts sowie auch die Systematisierung regionaler, nationaler oder globaler Strukturen, die es einigen ermöglicht, dass andere etwas von Wert für sie produzieren. Auf theoretischer Ebene mindestens ebenso bedeutsam ist für den Marxismus die konzeptuelle Dimension des Kapitalismus, die Frage danach, was kapitalistische Konzepte verbergen, aber auch offenlegen, d.h. in diesem Fall also das ideologische Wirken, das eine Beziehung zwischen Menschen in eine Beziehung zwischen Dingen verwandelt. Arbeit im Kontext des Kapitalismus unterliegt der Vorstellung von „Arbeitskraft“ als einer Ware wie jeder anderen, ohne Rücksicht darauf, dass der Ursprung dieser Ware in menschlicher Anstrengung und menschlichem Willen liegt. Ein solcher Rahmen basiert auf der Fiktion, dass die Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten bzw. nicht arbeiten, von unpersönlichen Marktkräften und nicht durch die Handlungen von Individuen oder Gruppen bestimmt werden und einem Rechtssystem, welches Eigentums- und Besitzrechte völlig losgelöst von der Geschichte, die diese erst hervorgebracht hat, durchsetzt.³ In den 1970er Jahren und bis in die 1980er hinein, war „Making“ das bedeutsamste Wort in der Forschung zu Arbeit in Afrika und eine direkte Referenz auf E. P. Thompsons berühmtes, 1963 veröffentlichtes Buch Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse (The Making of the English Working Class). ⁴ Afrikanisten wollten zeigen, dass auch Afrikaner Arbeiter sein konnten und die Titel – und häufig auch die Inhalte – dieser Arbeiten präsentierten einen linearen Blick auf die Geschichte. Während dieser Zeit stieg die Zahl der einer Lohnarbeit nachgehenden Menschen in Afrika stetig. Und zunehmend sahen sich diese selbst als Arbeiter, sie organisierten Gewerkschaften und streikten, so wie sie fanden, dass es richtige Arbeiter eben tun sollten.⁵ Lohnarbeiter in einigen der anfälligsten Branchen – Bergarbeiter, Eisenbahner, Hafenarbeiter – erzielten einige bedeutende Erfolge und brachten afrikanischen Arbeitern die Zugeständnisse, die Arbeiter in Europa bereits erstritten hatten: Anerkennung von Gewerkschaften, lebensunterhaltsichernde Löhne und ein Rentensystem.
Atkins (1993). Linden (2008); Lucassen (2006). Thompson (1963). Sandbrook/Cohen (1975); Crisp (1984); Lubeck, (1986); Higginson (1989). In Hinblick auf meine Kritik des „Produktionsmodells“ möchte ich hinzufügen, dass dies alles qualitativ hochwertige Arbeiten waren, die viel dazu beitrugen, die Grundsteine einer afrikanischen Arbeitsgeschichte zu legen.
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Während ein Ansatz in der Arbeitsforschung ein universales, faktisch jedoch auf einer vereinfachten Sicht der europäischen Geschichte basierendes Modell postulierte und darauf bestand, Afrika einen Platz innerhalb dieses Modells zuzuweisen, stießen Historiker und Ethnologen immer wieder auf Widersprüche. Einige der frühesten und besten Arbeiten Urbaner Anthropologie ließen darauf schließen, dass die Entwicklungsmuster nicht geradewegs in Richtung einer am europäischen Vorbild orientierten Zukunft führten: Das, was Afrikaner mit an den Arbeitsplatz brachten, hatte mindestens soviel Gewicht wie die fragmentierten, konfliktgeladenen und von Unvorhersehbarkeit geprägten Gesellschaften der späten Kolonial- und frühen Unabhängigkeitszeit.⁶ Einigen Forschern diente die Andersartigkeit außereuropäischer Arbeitsregime als Ausgangspunkt für eine Theoriebildung, die ebenso stark verallgemeinerte, wie dies auch beim Proletarisierungsmodell der Fall war. Die Weltsystemtheorie postulierte eine feinsäuberliche Trennung zwischen Arbeitsformen im „Zentrum“ und in der „Peripherie“ sowie hybriden Formen in der „Semiperipherie“. Marxistische Theoretiker argumentierten, dass sich kapitalistische Arbeitsbeziehungen in Teilen Afrikas nur entwickeln konnten, weil nicht-kapitalistische Verhältnisse in anderen Teilen die Reproduktionskosten trugen, das heißt, die Kinder großzogen, sich um die Alten und weitere nicht für Lohn arbeitende Personen kümmerten und so die Kosten der Lohnarbeit im Vergleich zu einer vollständig proletarisierten Wirtschaft vergünstigten. Keiner dieser theoretischen Ansätze ließ den Arbeitern viel Raum, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Aber genau dies, die eigene Geschichte zu schreiben, fürchteten die kolonialen Regime am meisten: dass Arbeiter nicht verfügbar sein könnten, wenn sie gebraucht wurden, beziehungsweise, dass sie streiken könnten, wenn sie zu sehr gebraucht wurden, während sie dabei jedwede ihnen in ihren urbanen oder ländlichen, kapitalistischen oder nicht-kapitalistischen sozialen Beziehungen zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzen.⁷ Es fehlte ein Bewusstsein für die Flüchtigkeit und Vielfalt der Formen politischer und sozialer Beziehungen im Afrika der 1970er Jahre. Arbeiter investierten ihr Einkommen in kleine eigene Unternehmen oder in landwirtschaftliche Familienbetriebe. Frauen eroberten sich Nischen, produzierten und verkauften in den Städten bzw. produzierten auf dem Land und junge Männer entdeckten, dass es einträglicher sein konnte, für „Big Men“ in einem System der Klientelbezie Eines der innovativsten und aufschlussreichsten Werke dieser Art stammt von Balandier (1955), aber das Thema ist für die urbane ethnographische Forschung der 1950er und 1960er Jahren ganz allgemein von zentraler Bedeutung. Wallerstein (1974); Meillassoux (1975). Diese Werke standen im Fokus meines Artikels: Cooper (1981) 1– 86.
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hungen Dienste zu übernehmen, als selber für Lohn zu arbeiten. Die Bedeutung staatlichen Handelns wurde ebenfalls unterschätzt, insbesondere die Art, mit der afrikanische politische Eliten, die sich auf organisierte Arbeiter als Bastion gegen koloniale Regime gestü tzt hatten, später versuchten, dieselben Arbeiter zu kooptieren und jede soziale Bewegung zu unterdrü cken, die sie nicht direkt kontrollieren konnten. Ökonomisch waren die ehemaligen Kolonien in der ersten Phase nach der Unabhängigkeit zu Wachstumsschüben in der Lage, insbesondere beim Güterexport. Allerdings waren die langfristigen Möglichkeiten für die Kapitalakkumulation durch die nationale Bourgeoisie wie auch für ausländische Konzerne aufgrund der Schwierigkeiten beschränkt, sich in der Weltwirtschaft behaupten zu müssen, die gegen sie gestrickt war.⁸ Weil afrikanische Machthaber bemüht waren, den Daumen auf jenem Wirtschaftssektor zu halten, den sie am besten kontrollieren konnten (der Schnittstelle zwischen der Binnenökonomie und den globalen Märkten, die die Politik jedoch zu einem Nullsummenspiel machte), wiederholten sich die gewalttätigen Konflikte über die Kontrolle dieser Schnittstelle in weiten Teilen Afrikas und verschlechterten dabei die Akkumulationsbedingungen zusätzlich.⁹ Weder die Proletarisierungsthese noch Argumente, die Strukturen in Hinblick auf deren Funktion fü r den globalen Kapitalismus beleuchteten, konnten die Unbeständigkeit und das Stottern der Ökonomien Afrikas in den 1960er und 1970er Jahren hinreichend erklären. Dasselbe gilt für die Krise, die auf die globale Rezession, auf die Kontraktion der Märkte für afrikanische Exporte und auf die Bereitschaft internationaler Finanzorganisationen afrikanische Ökonomien lieber abzuschreiben, als sie zu stützen, folgte. „Strukturanpassungen“ untergruben gerade die Sektoren der afrikanischen Ökonomien, in denen Arbeitsverhältnisse am stabilsten geworden waren und Arbeiter angemessene Gehälter und eine Rente erwarten konnten. Sie brachten zudem drastische Einschnitte bei staatlichen Leistungen, die jüngere Generationen gebraucht hätten, um die Fähigkeiten zu erwerben, sich überhaupt in einer im Wandel begriffenen globalen Ökonomie behaupten zu können. Das Zusammenspiel zwischen einem zerbrechlichen Staat, der sich vor allem auf die Überwachung der Schnittstelle zur globalen Ökonomie beschränkte, und dem Willen der Weltwirtschaft, den Großteil des Kontinents abzuschreiben, offenbarte die Beschränktheit von Erklärungsansätzen, die im-
Jerven (2010) 127– 154. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten hat Colin Leys sowohl die Position eingenommen, dass die Form der kapitalistischen Entwicklung in Kenia hochgradig von externer Kontrolle abhängig war, als auch die Position, dass sie ein relativ autonomes Muster der kapitalistischen Entwicklung durchlaufen konnte. Leys (1974) und Leys (1978) 241– 266. Zur Kontrolle über die Schnittstelle, siehe Cooper (2002).
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plizit davon ausgingen, dass die Kategorie „Arbeit“ keiner weiteren Erklärung bedurfte.
Auf der Suche nach neuen Konzepten Auf der Suche nach neuen Kategorien entwickelten einige Forscher in den 1970er Jahren das Konzept des „informellen städtischen Sektors“.¹⁰ Das Konzept ist auch nach 2010 noch in Gebrauch. Für einige, die dieses Konzept gebrauchen, ist die „Informalisierung“ ein globales Phänomen. Einige Afrikanisten bestehen jedoch darauf, dass „die Wirtschaften Afrikas zu den informellsten der Welt gehören“.¹¹ Nicht-entlohnte und weder durch Gesetze regulierte noch durch soziale Regelungen oder Behörden geschützte Tätigkeiten wurden, obgleich sie kein neues Phänomen waren, zunehmend sichtbar. Als das Prinzip des männlichen Alleinernährers an Kraft verlor und es immer weniger entlohnte Vollzeitstellen gab, übernahmen Frauen für die Ernährung ihrer Familien häufig eine zunehmend wichtige Rolle. Der „informelle städtische Sektor“ war zwar ein inspirierendes, aber dennoch unpräzises Konzept: Weder beschränkte sich der informelle städtische Sektor auf die Stadt, noch war er informell, da die Beziehungen zwischen Produzenten komplex und oft hochgradig organisiert waren. Ein wirtschaftlicher Sektor war er streng genommen auch nicht, vielmehr überlappten sich hier verschiedene ökonomische Tätigkeiten. Das Spezifische dieser Tätigkeiten war, dass sie nicht etwa aufgrund ihrer ökonomischen Rolle oder Struktur, sondern negativ im Kontext staatlicher Regulierung oder vielmehr des Fehlens einer solchen definiert wurden.¹² Eine entlohnte Vollzeitanstellung für die Dauer eines Arbeitslebens, so schien es, wurde nicht zur Norm, sondern verlor vielmehr zunehmend an Bedeutung, eine Entwicklung, die sich keinesfalls auf Afrika oder das ausgehende 20. Jahrhundert beschränkte. Die konzeptuellen Werkzeuge zur detaillierten Analyse dieser verschiedenen Formen waren schwerer zu fassen. Welche Beziehungen hatten die „Big Men“ zu den verschiedenen Gruppen von Marktverkäufern, Straßenverkäufern, Lehrlingen, Bettlern und Kleinbetrieben, über die sie ein unterschiedliches Maß an Kontrolle ausübten? Bildeten diese prekärbeschäftigten Arbeiter eine Art „Reservearmee der Unterbeschäftigten“, die den Reichen, In der Forschung geht der Gebrauch dieses Begriffs auf Keith Hart zurück, Hart (1973) 61– 89. Für einen späteren und ausgefeilteren Gebrauch des Konzepts siehe Tripp (1997). Meagher (2016) 483 – 497. Das Zitat stammt von Seite 485. Zu diesen Fragen siehe meine Einleitung zu Cooper (1983).
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Regierungsbeamten, die sich auch anderen Tätigkeiten widmeten, oder gar Leuten, die nur wenig mehr als sie selbst hatten, zur Verfügung standen? Welches waren die Schnittstellen zwischen Unternehmern und staatlichen Stellen oder vielleicht zu Beamten, die sich öffentliche Aufträge privat aneigneten? Zwar entstanden während der 1980er und 1990er Jahre zahlreiche empirische Studien, die sich mit solchen Fragen beschäftigten. Aber sie fassten alles unter dem Label „informeller städtischer Sektor“ zusammen und das half nicht bei der Beantwortung der eigentlichen Fragen.¹³ So manche Forscher fanden im Agieren dieses vage definierten Sektors nicht nur Grund zur Klage über den Verlust an Stellen mit angemessenen Gehältern und guten Karriereaussichten, sondern auch für Optimismus, ob der Energie und dem Geschick zahlloser Kleinunternehmer. Wer allerdings genau davon profitiert und was diese Energie und dieses Geschick ändern, ist jedoch nicht klar. Ein junger Mann, der in den 1970er Jahren kleine Packungen mit Erdnüssen auf den Straßen Dakars oder in den 2000er Jahren Telefonkarten mit geringen Guthabenwerten verkauft, hat eine Nische, weil seine Arbeit so wenig wert ist, dass es sich für Unternehmer lohnt, ihn anzustellen, um armen Menschen Dinge zu verkaufen, die zu größeren Ausgaben nicht in der Lage sind. Das Geschäftsmodell basiert auf der „Zerstückelung einer Tätigkeit in immer kleinere Häppchen“. Das Etikett zur Bezeichnung dieser Situation spielt dabei keine Rolle, denn es bleibt die Frage, ob dies als Schritt hin zu einer dynamischeren wirtschaftlichen Zukunft gesehen werden kann oder als Symptom einer immer stärkeren Selbstbezogenheit.¹⁴ Forscher zum Thema Arbeit motiviert seit langem die Idee, dass sich eine Arbeiterklasse herausbilden könnte, die die eigene Zukunft in die Hände nimmt. In großen Teilen Afrikas war nach den Enttäuschungen in der Phase unmittelbar nach Erlangung der Unabhängigkeit und insbesondere während der in den 1970er Jahren einsetzenden Wirtschaftskrise jedoch ein Gefühl der Desillusionierung vorherrschend. Einzig in Südafrika gab es ein fortwährendes Interesse an der
Wie Jan Breman verdeutlicht, ist „Informalität ein klassenübergreifendes Phänomen, strukturiert durch Ausbeutung auf verschiedensten Ebenen“. Breman (2013) 136. Ferguson (2015) 106. Die These von der „Basis der Pyramide“ (bottom-of-the-pyramid) stammt von Business-Schulen und basiert auf dem Argument, wonach Afrika dem globalen Kapitalismus eigentlich viel zu bieten hat. Ein großes Reservoir billiger Arbeitskräfte ließe sich anzapfen und multinational aufgestellte Händler von Produkten, die sich in kleine Einheiten aufteilen lassen, könnten auch den Markt relativ armer Menschen anvisieren, wenn sie zum Verkauf auf schlechtbezahlte Mittelsleute zurückgreifen könnten. Diese Geschäftsstrategie beruht darauf, viele Afrikaner als Unternehmer (tatsächlich jedoch als verschleierte Arbeiter) und Konsumenten zu gewinnen. Es ist sehr fraglich, ob dies einen Beitrag zu einem strukturellen Wandel oder der Reduktion von Armut sein kann. Siehe Meagher (2016) 483 – 497 sowie Dolan/Rajak (2016) 514– 529.
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Erforschung der Geschichte der Arbeit. Der Fortbestand weißer Vorherrschaft und die Rolle der Arbeiterbewegung im Widerstand gegen diese boten Intellektuellen einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass eine Zukunft mit mehr Möglichkeiten zumindest vorstellbar war und auch erkämpft werden müsse. Für viele andere Historiker allerdings war die Reaktion auf die entmutigende Realität der sie umgebenden Arbeitswelt die Hinwendung zu anderen Themen. Der Anthropologe Jean Copans beschwerte sich über das völlige – oder zumindest teilweise – Verschwinden des Interesses an der Arbeitsforschung in den Sozialwissenschaften.¹⁵ Das Phänomen beschränkte sich nicht allein auf die Afrikanistik. Gelegentlich wird diese Abkehr von der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte als cultural turn, als Hinwendung zur Kulturwissenschaft bezeichnet – wieder so ein unglücklich gewählter Begriff, der auf die Tendenz in der Wissenschaftsgemeinde verweist, der Herde zu folgen, unabhängig von der Richtung, die sie nehmen mag.Während der 1990er und den frühen 2000er Jahren studierten Afrikanisten dann häufig Fragen wie Männlichkeit, sie schienen aber keinerlei Interesse mehr zu haben, danach zu fragen, was Männer taten, wenn sie arbeiteten. Seit 2008 gibt es Anhaltspunkte für eine Wiederbelebung, insbesondere durch die Arbeiten der bei re:work versammelten Forscher, die Kompilation neuester Forschungsarbeiten in International Labor and Working Class History (2014) und dank des Bandes zur Arbeitsgeschichte der Internationalen Arbeitsorganisation ILO.¹⁶
Querverbindungen und die Zweideutigkeit des Begriffs „freie“ Arbeit Allmählich wurden sich Forscher einer scheinbar neuen Entwicklung bewusst. Afrika exportierte Menschen, insbesondere seit dem erneuten Aufschwung der Wirtschaft in Europa und Nordamerika, den es in Afrika so nicht gegeben hat. Für große Teile der Bevölkerung so mancher afrikanischer Länder wurden die Rücküberweisungen der Migranten an ihre Familien überlebenswichtig.¹⁷
Copans (2014) 25 – 43. Forscher zu Südafrika bewahrten, was keine Überraschung ist, im Allgemeinen ein größeres Interesse an Arbeitsgeschichte und Arbeitsforschung als ihre Kollegen mit geographisch anderen Forschungsinteressen. Labor (2014). Durch die Vorstellung der Studien in dieser Ausgabe der Zeitschrift verweisen die Herausgeber Franco Barchiesi und Stefano Belluci auf das gesunkene und dann wieder gestiegene Interesse an Arbeitsgeschichte. Zur wachsenden Anzahl von Veröffentlichungen zum Thema Rücküberweisungen, siehe: Gupta u. a. (2009) 104– 115.
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An dieser Stelle scheint es angebracht, einen Blick auf die längere Geschichte der Beziehungen zwischen Afrika, Europa und dem amerikanischen Kontinent zu werfen, ein Thema, dem die Arbeitsteilung zwischen Forschern bislang nicht wirklich gerecht wurde, da eine Gruppe von Spezialisten zur „Sklaverei“ arbeitete, während andere sich der Geschichte der „Arbeit“ widmeten. Aus einer längerfristigen Perspektive betrachtet, gab es einen bedeutenden Wandel in der Rolle, die Afrikaner für die Kapitalakkumulation außerhalb des Kontinents spielten. Um 1700 oder 1800 wurden Afrikaner zwangsweise über den Atlantik zur Arbeit auf die Sklavenplantagen verschleppt. Viele starben auf dem Weg. Im Jahr 2000 liegt die Initiative bei den Afrikanern, die auf der Suche nach Lohnarbeit das Mittelmeer in Richtung Spanien oder Italien bzw. den Atlantik in Richtung der kanarischen Inseln überqueren. Viele sterben auf dem Weg. Früher wurden die Migranten gezwungen, heute gehören sie, in gewisser Weise, zu den Freiesten der Freien: Nicht nur verlassen sie Afrika freiwillig in Richtung Europa, sie nehmen dafür auch große Anstrengungen in Kauf und gehen große Risiken ein. Im 19. Jahrhundert rebellierten viele Sklaven afrikanischer Herkunft oder flohen von den Plantagen. Heute versuchen viele afrikanische Arbeiter, die ohne Papiere in Europa leben, ihrer Abschiebung zu entgehen. In Europa arbeitende Afrikaner leben, wie auch viele in Afrika selbst, unter prekären Bedingungen, aber es ist eine für kapitalistische Ökonomien typische Prekarität, die „Wahl“ zwischen Arbeit und Verhungern. Vertreibung, das den Bedingungen von Migrationsregimen Ausgeliefertsein, die Notwendigkeit, neue soziale Netzwerke zu etablieren, und die Möglichkeiten von Unternehmern, die Verwundbarkeit von Menschen auszunutzen, die nicht über die von Staaten heute verlangten Papiere verfügen, potenzieren diese Prekarität noch zusätzlich. „Prekarität“ ist zum neuen Modethema der Arbeitsforschung geworden.¹⁸ Scheinbar markiert das Konzept den Übergang von einer Phase, in der das Kapital danach strebte sicherzustellen, auf vorhersehbare und systematische Weise Mehrwert von einer großen, wachsenden und für das Kapital potenziell gefährlichen Arbeiterschaft extrahieren zu können, hin zu einer Situation, in der ein zunehmender Teil der Arbeiter überflüssig und entbehrlich geworden ist. Kritiker des Begriffs Prekarität monieren vor allem, dass er ganz allgemein Kennzeichen
Ein weiteres derzeit gebräuchliches Konzept ist adverse incorporation, das darauf verweisen soll, dass es noch kein Überangebot an Arbeitskräften gibt, dass das globale Kapital also weiterhin versucht, neue Arbeiter für seine Sphäre zu gewinnen, dies jedoch nur, solange die Löhne niedrig sind, keine Sozialleistungen gezahlt werden und den meisten Arbeitern keine großen Perspektiven geboten werden. Durch den Rückgriff auf „Subunternehmer, Outsourcing, Prekarisierung und Arbeitskräftevermittlung“ kann das Kapital Arbeitskraft günstig ausbeuten. Siehe zum Beispiel Meagher (2016) 490 – 493.
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kapitalistischer Arbeitsverhältnisse und nicht das Merkmal einer bestimmten Phase der Wirtschaftsgeschichte sei.¹⁹ Relative Arbeitsplatzsicherheit und angemessene Sozialleistungen sind in kapitalistischen Systemen Ausnahmen, die die Regel bestätigen, und als solche Ergebnis einer besonderen globalen Konstellation im 20. Jahrhundert. Heute, nach Auflösung dieser Konstellation, stehen auch deren soziale Errungenschaften weltweit unter Beschuss. Wo kritische Geister heute vor den Gefahren der Prekarisierung warnen, verweisen ihre Gegner auf die für kapitalistische Wirtschaftssysteme nötige Flexibilisierung. Was 1800 und 2000 verbindet, ist die Ungleichheit innerhalb der globalen wirtschaftlichen Zusammenhänge. Der Sklavenhandel des 18. und des 19. Jahrhundert liegt ebenso wie die Arbeitsmigration des 21. Jahrhundert in der Herstellung von Verbindungen zwischen ungleichen Erdteilen wie natürlich auch in den Ungleichheiten selbst begründet. Können unsere konzeptuellen Werkzeuge sowohl den andauernden Exodus afrikanischer Arbeitskräfte aus Afrika, als auch die Verschiebung von einer erzwungenen Migration hin zu einer Situation fassen, in der Afrikaner selbst die Initiative ergreifen und im Sinne von François Manchuelle „willige Migranten“ werden?²⁰ Für eine umfassende Antwort ist hier zwar kein Platz, zumindest soll jedoch auf die konzeptuellen Schwierigkeiten eingegangen werden, die es zu bedenken gilt. Zunächst handelt es sich nicht um eine Abfolge von Arbeitsregimen, sondern um komplexe und sich verschiebende Beziehungsmuster. Ein aktueller Trend in der Geschichte der Arbeit ist die Aufweichung der Trennung zwischen „freier“ und „erzwungener“ Arbeit. Schwieriger zu greifen ist dabei die „freie“ Arbeit, da sie mehr ideologisches Konstrukt als Beschreibung ist. Im 19. Jahrhundert überließen die Staaten Europas es nicht einfach dem Markt, sicherzustellen, dass stets eine hinreichend große und disziplinierte Arbeiterschaft verfügbar war. Positive Arbeitsanreize waren begleitet von starken staatlichen Zwangsinstrumenten wie Gesetze zur Regelung des Verhältnisses zwischen Arbeitern und Unternehmern, strafrechtliche Sanktionen für das Verlassen einer Arbeitsstelle und Gesetze gegen die Herumtreiberei. In den Kolonialreichen erfanden Herrschende und Unternehmer neue Wege zur Unterdrückung und Kontrolle der Arbeiter. Diese umfassten die Verfrachtung von Menschen aus Indien, China und anderen Ländern auf weit entfernte Plantagen, die sie unter Rückgriff
Marcel van der Linden verweist auf die lange Geschichte der Prekarisierung und den jüngsten Anstieg von Personen in dieser Kategorie in reichen wie armen Ländern. Linden (2014) 9 – 21. Siehe auch Standing (2011). Zu einer Kritik von Standings Variante des Konzepts, siehe Breman (2013) 130 – 138. Manchuelle (1997).
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auf den Fetisch des Arbeitsvertrages als „frei“ definierten.²¹ In noch einem weiteren Punkt war die Unterscheidung zwischen Freien und Sklaven entscheidend: Sie war ein ideologischer Akt, der Sklavenarbeit als Kategorie eingrenzte und besteuerbar machte. Diese ideologische Unterscheidung war selbst ein Grundstein kapitalistischer Entwicklung. Selbst während der Hochphase des Sklavenhandels im frühen 19. Jahrhundert übernahmen Nicht-Sklaven in Afrika – rekrutiert und überwacht durch ein klientelistisches und auf Verwandtschaft beruhendes System – wesentliche Aufgaben. Teilweise ist die Dynamik afrikanischer Gesellschaften der Tatsache geschuldet, dass führende Personen immer Männer finden und anwerben konnten, die sich freiwillig oder unfreiwillig von ihren Gemeinschaften gelöst hatten. Ihre „Arbeit“ konnte genauso Krieg wie der Warentransport oder Handel sein, und die vorherrschenden Beziehungen waren nicht notwendigerweise die zwischen einem anonymen Individuum und einem anonymen Arbeitgeber. Es handelt sich hierbei um ein Kontinuum von Formen der Aneignung von Arbeitskraft, von Arbeit als vermarktbare Ware, die käuflich erworben wird, bis hin zu Sklaverei und anderen auf Abhängigkeitsbeziehungen beruhenden Formen der Aneignung. Die Arbeit als solche nahm dabei auch unterschiedliche Formen an: in Haushalten etwa, wo Männer und Frauen, Jungen und Mädchen unter Aufsicht arbeiteten und dabei einen gleichen Anteil der Früchte ihrer Arbeit erhielten bzw. nicht erhielten. Im Verlauf seines Lebens konnte ein Mensch von einer dienenden in eine herrschende Position aufsteigen oder als Individuum langfristig in der dienenden Position verbleiben. Schuldknechtschaft und Verpfändung sind weitere Möglichkeiten der Arbeitskräftegewinnung. Die Möglichkeiten, die Menschen haben, Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen zu nehmen, von der Bezahlung ganz zu schweigen, variieren dabei stark. Anhand einiger Beispiele haben Historiker gezeigt, wie vergleichsweise arbeitnehmerfreundliche Arbeitsmodelle ausbeuterische Züge annehmen konnten, insbesondere im Kontext expandierender Märkte.²² Afrika war nie isoliert und es gab eine sich lange Zeit überlappende Produktion für lokale, regionale und internationale Märkte. Ein Bewusstsein für das ideologische Wirken der Kategorien „frei“ und „erzwungen“ sollte einer Untersuchung dieses Komplexes nicht im Wege stehen. Vorsichtig sollten wir auch dabei sein, Afrika als Einheit zu betrachten. Verallgemeinernd lässt sich zwar argumentieren, dass die relativ geringe Bevölkerungsdichte auf einem Großteil des Kontinents und die Fähigkeit von Menschen,
Stanziani (2009) 351– 358; ders. (2014). Solch eine Verschiebung war das Thema meiner ersten Forschungsarbeit Plantation Slavery on the East Coast of Africa, Cooper (1977). Allgemeiner siehe Stanziani (2014).
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in solch einem Kontext relativ starke Verwandtschaftsbindungen zu etablieren, den Eliten in großen Teilen Afrikas die Ausbeutung „ihrer“ jeweiligen Bevölkerung erschwerten. Jedoch hilft gerade die hoch differenzierte Natur dieser Eigenheiten bei der Erklärung der Machtungleichgewichte auf dem afrikanischen Kontinent, die wiederum mit den Machtasymmetrien auf globaler Ebene interagierten. Aufstrebende Machthaber konnten geografische Gegebenheiten nutzen, die eine höhere Bevölkerungsdichte, den Zugang zu Fernhandelsrouten oder zeitlich befristete Ungleichgewichte in der Größe bzw. dem Zusammenhalt von Netzwerken boten, um mehr Anhänger um sich zu scharen, mehr Frauen zu heiraten oder mehr Sklaven zu fangen und so die Ausdifferenzierung innerhalb einer afrikanischen Gesellschaft zu akzentuieren. Solch ein Prozess konnte jedoch lokale Gemeinden oder Familiengruppen wiederum zum Wegzug bewegen. An einigen Orten wurden die Machtverhältnisse in der Folge externalisiert: Es wurde attraktiver, auf Arbeitskräfte von außerhalb des politischen Gebildes, das ein König etablierte, zurückzugreifen.²³ Der externe Sklavenhandel, dessen Route zunächst viele Jahrhunderte lang durch die Sahara und ab dem 15. Jahrhundert dann auch über den Atlantik ging, funktionierte als Ventil und verminderte die Risiken bei der Überwachung der Sklaven, allerdings auf Kosten der Möglichkeit einer direkten Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. In dem Maße, in dem einige westafrikanische Königreiche die militärischen, verwaltungstechnischen und rechtlichen Institutionen zur Reproduktion eines solchen Systems schufen, versuchten sie häufig, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wechseln. Das Aufeinandertreffen westafrikanischer und westzentralafrikanischer Gesellschaften ‒ mit ihren Tendenzen zu extern orientierten Machtbeziehungen und einer externen Bereitstellung von Arbeitskräften ‒ mit dem wachsenden Arbeitskräftebedarf der Karibik im Kontext eines globalen Konkurrenzkampfes zwischen rivalisierenden imperialen Mächten brachte eine perfide Dynamik hervor, die es nicht derart extern orientierten Gesellschaften schwer machte, die Fähigkeit zu entwickeln, ihre Bevölkerung vor der Versklavung zu retten.²⁴ In Cooper (1981) 1– 86; Bayart (1999) 217– 267. Eine neue Reihe von Forschungsarbeiten konzentriert sich auf die Mechanismen, anhand derer der Sklavenhandel überhaupt funktionieren konnte. Hierzu gehören die Netzwerke, die die Herkunftsorte der Sklaven mit den Häfen verbanden, wo sie eingeschifft wurden, und die selber als Schnittstelle zu den Netzwerken in Portugal und anderen europäischen Staaten fungierten und als System den Transport von Menschen, Gütern und Kapital über den Atlantik übernahmen. Green (2012); Nwokeji (2010); Heywood/Thornton (2007). Ohne imperiale Mächte hätte sich so ein System vermutlich nie entwickeln können, weil die zuckerrohrproduzierenden Inseln, auf denen sich die meisten Sklaven wiederfanden, Schutz vor konkurrierenden Mächten, Piraten und Sklavenaufständen brauchten. Die Quellen für frische Sklaven lagen, mit der bedingten Ausnahme der Region Angola und Kongo und einiger weiterer Enklaven, außerhalb der von euro-
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einigen der Regionen, insbesondere die küstennahen Westafrikas bestanden lange Zeit mächtige, militaristische, sklavenexportierende Reiche, in anderen Regionen stiegen Staaten auf, bekämpften einander und brachen wieder zusammen. Beide Dynamiken brachten jeweils Tausende von Sklaven hervor. Als Großbritannien im 19. Jahrhundert andere europäische Nationen dazu brachte, gegen den Sklavenhandel vorzugehen, fürchteten einige afrikanische Herrscher, dass der Verlust ihres externen Ventils zu einem Verlust von Kontrolle führen könnte.²⁵ Einige dieser politischen Gebilde passten sich jedoch an und exportierten von nun an von Sklaven angebaute Waren anstelle der Menschen, die diese Waren produzierten. Mitte des 19. Jahrhunderts geriet der innerafrikanische Sklavenhandel in den Fokus der europäischen Bewegungen gegen die Sklaverei und diente schließlich als Argument zur Legitimierung der Kolonisierung. Sklavenarbeit interessierte die Kolonialmächte jedoch mehr auf ideologischer Ebene, weniger wichtig schien ihnen die Auseinandersetzung mit deren komplexen Praxis. Sie verstanden durchaus, dass ihre eigene politische Stabilität und ihr eigenes ökonomisches Überleben von den Beziehungen zu den Eliten abhingen, deren gewalttätige Praktiken sie verurteilt hatten. Nicht immer erkannten sie, dass Sklaven die Dinge zuweilen in die eigenen Hände nahmen und die zahlreichen Risse im Kontrollapparat kolonialer Regime und ihrer afrikanischen Mittelsmänner zur Migration oder zum Kampf für ein neues Gleichgewicht zwischen Autonomie und Abhängigkeit nutzten. Auf dem Großteil des afrikanischen Kontinents, der von Sklaverei und Sklavenhandel unberührt geblieben war, führte die Frage nach der relativen Autonomie der Landwirte – angesichts eines Kolonialstaats mit höchst ungleicher Präsenz und afrikanischer Eliten mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten, das System zu ihren Gunsten zu manipulieren – zu einem Flickenteppich ökonomischer Modelle. Es gab Inseln von europäisch kontrollierten Plantagen und Bergwerken, unter deren Einfluss meist auch die umliegenden Gebiete standen, aus denen die benötigten Arbeitskräfte rekrutiert wurden. Es gab Gebiete, in denen afrikanische Bauern ausgeklügelte Systeme der Arbeitskräftebeschaffung für die Produktion von Kakao, Kaffee, Palmöl und anderen Waren entwickelten und beträchtlichen Wohlstand und Macht akkumulierten. In anderen Regionen boten sich kaum Möglichkeiten zum Verkauf der Ernteerträge und die Menschen sahen sich gezwungen, entlohnten Tätigkeiten nachzugehen, um importierte Waren kaufen und ihre Steuern bezahlen zu können. Schließlich gab es die weiten Gepäischen Mächten annektierten Gebiete. Sowohl europäische als auch afrikanische Länder versuchten die Kontrolle über den Handel zu haben, während die Händler oft versuchten, ihre Geschäfte jenseits imperialer Grenzen zu machen. Für ein neueres Werk zur Abschaffung der Sklaverei, siehe Everill (2012).
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biete, in denen Menschen zwar ihrer Ausbeutung entgehen, dafür aber kaum Überschuss produzieren konnten. In der Kolonialzeit waren weder „freie“ noch „erzwungene“ Formen der Arbeit eindeutig kategorisierbar, auch wenn etwa im Kongo unter König Leopold oder beim Bau der Kongo-Ozean-Bahn in Französisch-Äquatorialafrika offener Zwang und Brutalität doch sehr offensichtlich waren. Die Frage nach der Kategorisierung ist selbst Teil der Geschichte. Die Kolonialregime hielten sich über ihre Rekrutierungspraktiken bedeckt. Meist hing die Rekrutierung von imperialen, häufig als Chiefs bezeichneten Mittelsmännern ab, die genauso versuchten, das koloniale System zu manipulieren, wie dieses System sie manipulierte. Dabei stellten die Kolonialregime die benötigte Arbeit häufig entweder als die „traditionell“ einem Chief geschuldete Arbeit, als Äquivalent zu einem Wehrdienst oder aber als Lektion über den Wert von Arbeit dar, die letztlich den Menschen in Afrika allgemein zu Gute kommen würde.²⁶ Die eigentliche Rekrutierung war ein schmutziges, im Dunkeln verlaufendes Geschäft. Ein britischer Beamter in Kenia fasste es einmal so zusammen, dass die Rekrutierung von Arbeitskräften von einem lokalen Chief zugunsten weißer Siedler „davon abhing, inwieweit er zur Überschreitung seiner Weisungsbefugnis gebracht werden konnte“.²⁷ Direkt ließen sich kritische Fragen zu Arbeitskräften somit nicht stellen. Dennoch wurde das Spiel mit der Kategorisierung weitergetrieben. Missionare und humanitär gesinnte Gruppen stritten für eine Definition und Eliminierung von Zwangsarbeit aus dem Repertoire der Kolonialmächte, deren Definition dann allerdings meist relativ eng ausfiel. Die Beschwörung einer jahrhundertealten Tradition der Gegnerschaft zur Sklaverei abstrahierte die Dichotomie zwischen freier und erzwungener Arbeit vom komplexen Geflecht aus Macht und sozialen Beziehungen, in dem sich die Arbeiter tatsächlich befanden.²⁸ Ideologisch hatte dieser Abstraktionsprozess Gewicht: Nicht zu Zwangsverhältnissen erklärte Formen waren von Kritik freigesprochen. Kritiker verwiesen allerdings darauf, dass ein Verbot von Zwangsarbeit implizit davon ausging, dass es so etwas wie freie Arbeit gab, dass es Menschen gab, die unabhängig von Gemeinschaften und Kultur selbstständig auf dem Arbeitsmarkt freie Entscheidungen treffen konnten. Dies setzte voraus, obwohl das niemand je so gesagt hätte, dass der Kapitalismus Afrika bereits verwandelt hatte. Fall (1993). Cooper (1980). Alexander Keese leitete ein von der European Research Council finanziertes, ambitioniertes Programm zur Erforschung von Zwangsarbeit in Afrika. Siehe auch Allina (2012); Higgs (2012); Keese (2013) 238 – 258; Bandeira Jerónimo (2015).
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Die Menschen in Afrika widersetzten sich nicht grundsätzlich allen Formen von Lohnarbeit. Sie konnte einem jungen Mann den Ausbau seines Hofs oder das Pflanzen von Bäumen ermöglichen, sie war dann eine Phase innerhalb eines Lebenszyklus, der aus ökonomischer Perspektive verschiedene Tätigkeitsformen umfasste. Einige bäuerliche Betriebe konnten, indem sie für den Export pflanzten, einen gewissen Wohlstand erreichen. Sie heuerten dann in unterschiedlichen Formen Verwandte, Personen im Klientelverhältnis und Pächter als Arbeitskräfte an, mit anderen Worten, sie griffen auf Formen der Arbeitskräftemobilisierung zurück, die sich nicht leicht in Kategorien von „Kapitalismus“ oder „kleinbäuerliche Landwirtschaft“ fassen lassen.²⁹ Häufig entwickelten Afrikaner eigene familiäre Konstellationen. So brachten Frauen die Arbeit ein, die die lohnabhängigen Arbeitskräfte am Leben hielt, spielten eine größere Rolle in der Landwirtschaft, als es die herrschenden Regime vorsahen, und waren Teil von Migrationsbewegungen, um patriarchalen Machtstrukturen zu entfliehen.³⁰ So etwas wie eine Neuauflage erlebte die Zwangsarbeit im Namen der Bekämpfung Hitlers während des Zweiten Weltkriegs.³¹ Obwohl sich Frankreich und England nach dem Krieg offiziell von Zwangsarbeit distanzierten, kam sie als Arbeitsdienst für den Bau neuer Dörfer in Kenia, Algerien und andernorts wieder, als Tausende vertrieben wurden, um sie von Guerillabewegungen fernzuhalten. Auch in Programmen zum Bodenschutz wurde auf Zwang zurückgegriffen und dieser legitimiert, weil er helfe, Afrikaner vor ihren angeblich rückständigen landwirtschaftlichen Praktiken zu bewahren. Derartige Programme riefen wütende, in manchen Fällen gewaltsame Reaktionen hervor.
Konzepte für eine Definition von Arbeiterklasse Unterdessen spielten insbesondere Frankreich und Großbritannien eine neue Variante des Kategorisierens. Hatten die Kolonialmächte vor dem Krieg zwar akzeptiert, dass Afrikaner arbeiteten, waren sie noch lange nicht willens, sie deswegen gleich als Arbeiter anzuerkennen. Diese Sichtweise spiegelte sich nicht nur im Rückgriff auf Zwangsarbeit wider, sondern auch im Fehlen jeglichen Versuchs, Lohnarbeit als soziales Problem zu betrachten, das staatliche Interventionen zur Regulierung der „Arbeitsbeziehungen“ oder der „Wohlfahrt“ voraussetzte, wie sie
Berry (1993). Rodet (2014) 107– 123. Vickery (1989) 423 – 437.
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so charakteristisch für die Staaten Westeuropas Mitte des 20. Jahrhunderts waren. Ein typisches Beispiel aus den Zwischenkriegsjahren war die Weigerung einiger britischer Kolonien, ein „Arbeitsministerium“ einzurichten, denn, so das Argument der Beamten, der Arbeitsmarkt ließe sich schließlich auch von der „Abteilung für Eingeborenenfragen“ regeln. Dieser Ansatz änderte sich während und unmittelbar nach dem Krieg rapide, als Streikwellen in Häfen, bei der Eisenbahn und in Bergwerksstädten die Beamten mit der realen Existenz von Arbeitern konfrontierten. Obwohl britische Beamte beispielsweise auf die ersten Bergarbeiterstreiks Ende der 1930er Jahre zunächst damit reagierten, die Arbeiter wieder in vermeintlich traditionelle Stammesstrukturen zu pressen, indem sie sie etwa zwangsweise in ihre Herkunftsdörfer deportierten und Chiefs in Bergarbeiterstädten ernannten, wurde sehr bald deutlich, dass die Arbeiter nicht mehr in dieses Schema hineinpassten.³² Sowohl die französischen als auch die britischen Regierungen suchten nach einer neuen Strategie zur klaren Definition einer Lohnarbeiterklasse und der Entwicklung von Institutionen, die das Wohl dieser Klasse fördern und sie überwachen würden. Beamte beschrieben ihre Arbeit nicht als die Schaffung eines Proletariats, sondern als „Stabilisierung“. Konkret bedeutete dies, die Männer, die für Löhne arbeiteten, auch als echte Arbeiter zu behandeln, die vermutlich ihr gesamtes Leben in den Bergwerken oder bei der Eisenbahn arbeiten würden. Sie mussten mit ihren Familien leben und für deren Unterhalt aufkommen können, weit entfernt von der angenommenen Rückständigkeit des Dorflebens und unter den wachsamen Augen von Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern, Lehrern und Bürokraten. Im Prinzip gestanden die Beamten auf diese Weise ein, dass es außer vielleicht auf sehr lange Sicht, nicht möglich war, die gesamte afrikanische Gesellschaft auf Grundlage eines Konzepts von Arbeit neu aufzubauen, wie es, zumindest der Vorstellung nach, im kapitalistischen Europa praktiziert wurde. Allerdings war es möglich, genau dies für einen kleinen, aber wichtigen Teil der afrikanischen Bevölkerung zu tun. Dass dies der Fragmentierung afrikanischer Gesellschaften weiter Vorschub leisten würde, wurde zwar nicht als ein großer Sprung, aber doch als Schritt in Richtung einer „Modernisierung“ Afrikas gesehen. Solche Programme brachten jedoch nicht notwendigerweise die eng umrissene Arbeiterklasse hervor, die Beamte sich wünschten. Der „männliche Alleinernährer“ konnte sein Gehalt nutzen, um damit die Bemühungen seiner Frau als Kleinhändlerin zu unterstützen, selbst versuchen, sich von der Lohnarbeit zu befreien, oder er konnte, anstatt sich zum akulturellen Stadtbewohner kolonialer
Diese Absätze basieren auf Cooper (1996).
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Fantasien zu machen, versucht sein, ein „Big Man“ zu werden, wie es den Traditionen seiner Vorfahren und Verwandten entsprach. Zwischen den Kategorien „Gender“ und „Arbeit“ bestanden in der Praxis sehr viel komplexere Beziehungen, als sich dies koloniale „Reformer“ vorstellten. Nie wurde eine klare Grenze gezogen zwischen denjenigen, die in dieser kolonialen Vorstellung dazugehörten, und denjenigen, die außen vor blieben.³³ So oder so war Stabilisierung nicht gleichbedeutend mit Proletarisierung. Vielmehr spiegelte sich in ihr die Tatsache wider, dass sich kapitalistische Produktionsverhältnisse im Marx’schen Sinne im ländlichen Raum in Afrika nicht ausgebreitet hatten, sondern stattdessen auf wenige kleine Orte konzentriert blieben. Die Regierungen der späten Kolonialzeit strebten nach einer vollständigen Kontrolle über die Arbeiter ihrer Regionen und waren bemüht, deren Verbindungen zum rückständigen Hinterland zu kappen, in der Hoffnung, dass eine derart isolierte Arbeiterklasse geordnet und produktiv sein würde. Daher überrascht es kaum, dass die Arbeiter in stabilisierten Branchen (Eisenbahner, Bergarbeiter und Hafenarbeiter) ihre strategische Position häufig zur immer vehementeren Einforderung von höheren Gehältern und besseren Arbeitsbedingungen nutzen konnten. Zudem schuf die hochgradig differenzierte Wirtschaft der späten Kolonialzeit sowohl Spannungen zwischen Afrikanern als auch zwischen Afrikanern und Regierungsvertretern. Ursprüngliche Akkumulation, die erst die Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus schuf, ist eine der viel zu selten genutzten Kategorien marxistischer Theoriebildung. In seinem Kapitel zu diesem Thema im Kapital argumentiert Marx weit weniger abstrakt als im Rest des Textes und er bietet darin eine historische Analyse der Wurzeln des Kapitalismus in Großbritannien, wobei das Hauptaugenmerk auf der Vertreibung der Bauern vom Land und den rechtlichen und behördlichen Strukturen liegt, die diesen sozialen, politischen und erzwungenen Prozess durchsetzten.³⁴ Mit dem Konzept der ursprünglichen Akkumulation im Hinterkopf lässt sich der Fokus auf spezifische Prozesse in Afrika lenken, durch die Menschen produktive Ressourcen (Land, produktive Plantagen und Knotenpunkte auf den Handelsrouten) an sich rissen und andere vom Zugang zu diesen ausschlossen. In Südafrika ging die Entfremdung vom Land weiter als andernorts. Zwei Faktoren komplizierten den Prozess zusätzlich: seine rassische Aufladung und die Fiktion, dass Afrikaner die Integrität prä-kapitalistischer Gesellschaften bewahrten. An anderen Orten gab es bestimmte Regionen, in denen es zu einer solchen Entfremdung kam, insbesondere dort, wo der unterschiedliche Zugang zu Land und anderen Ressourcen sich komplizierter gestaltete als in der
Lindsay (2003); Rodet (2014) 107– 123. Marx (1977) Kapitel 26 – 33.
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Form der einfachen Dichotomie zwischen „Landentfremdung“ und „Allmende“.³⁵ An wieder anderen Orten gelang es Afrikanern, sich – mit unterschiedlichen Graden von Autonomie und Sicherheit sowie im zeitlichen Verlauf ihres Lebens oder dem Bestand ihrer Familien – zwischen Lohnarbeit und Landwirtschaft im Kontext von Familie und Gemeinschaft zu bewegen. Während der letzten Jahrzehnte begannen die regierenden Eliten und ausländische Investoren damit Land aufzukaufen, ohne es jedoch notwendigerweise intensiv produktiv zu nutzen. Das hat dazu geführt, dass eine große Zahl von Menschen nun weder die Sicherheit haben, die ihnen der Zugang zu Land im Rahmen von Familienstrukturen und Gemeinschaften früher geboten hatte, noch eine realistische Möglichkeit, sich durch Lohnarbeit zu ernähren.³⁶ Brachte die klassische „Proletarisierung“ in Teilen Europas eine dynamische kapitalistische Wirtschaft hervor, die es Arbeitern schließlich ermöglichen sollte, Anspruch auf einen größeren Anteil des produzierten Mehrwerts geltend zu machen, blieb die „Stabilisierung“ im afrikanischen Kontext selber instabil. Nach der Unabhängigkeit war die Lage des afrikanischen Hinterlandes aufgrund der fehlenden Infrastruktur und des Mangels an Investitionen bei einem Bevölkerungswachstum, das über den Produktivitätszuwächsen lag, aussichtslos, weil die Gebiete, aus denen früher Arbeiter rekrutiert worden waren, auf einmal mehr Migranten produzierten als die stabilisierten Branchen einstellen konnten. Diese Migranten waren gewillt zu arbeiten, aber sie mussten dafür immer weiter wegziehen, sogar bis nach Europa, wo in den 1950er Jahren die Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft zu steigen begann. Während der französischen „Trente Glorieuses“, den drei Jahrzehnten im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg, in denen die Wirtschaft florierte, waren französische Politiker wenig darüber besorgt, dass Menschen aus den französischen Kolonien, die zu der Zeit volle Bürgerrechte genossen, ihre Rechte nutzten und in der französischen Metropole Arbeit suchten. Erst später, mit dem Abschwung der Weltwirtschaft und dem Aufkommen eines zunehmend restriktiven Verständnisses von Staatsbürgerschaft, wurden die Hürden gegen eine solche Migration erhöht.³⁷ Beim Konzept Prekarität ist gerade an dieser Stelle Vorsicht geboten. Der Schutz, den Arbeiter in Europa (und zu einem weitaus geringeren Grad in den USA) genießen, ist das Produkt besonderer Umstände des 20. Jahrhunderts. Hierzu zählen nicht zuletzt Macht und potenzielle Gefährlichkeit von Arbeiterbewegungen, die Angst vor der sozialistischen Alternative, die Ausbreitung des Langsam entstehen immer mehr Arbeiten zum Thema Land in Afrika. Eine wichtige Publikation aus jüngster Zeit ist die Arbeit von Lentz (2013). Goldstein/Udry (2008) 981– 1022. Manchuelle (1997); Cooper (2014).
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Massenkonsums und die Versuche der Elite insbesondere in demokratischen Gesellschaften, klassenübergreifende Koalitionen zu etablieren und etwas zu fördern, das die Franzosen gerne „Solidarität“ nennen. Heute ist dieses Modell bedroht: zunehmend sind Arbeitsverträge zeitlich befristet und Sozialleistungen werden im Namen der „Sparpolitik“ oder „flexibler Arbeitsmärkte“ in Frage gestellt. Dennoch werden die Errungenschaften der Sozialdemokratie mit viel Aufwand verteidigt und die Schlacht ist noch nicht verloren.³⁸ Selbst Bewegungen der extremen Rechten verteidigen häufig den Wohlfahrtsstaat, dessen Leistungen dann aber nur einer eng definierten Bürgerschaft zu Gute kommen sollen. Einigen Beobachtern zu Folge liegt die Schuld für die neue Situation bei der Konkurrenz aus China. Aber in China steigen der Lebensstandard und die nach europäischen Standards gemessen immer noch niedrigen Gehälter. Gut möglich, dass chinesische Arbeiter weniger unter Prekarität leiden und Afrikaner dafür mehr.³⁹ Wie dem auch sei, müssen wir uns die teils erfolgreichen Kämpfe von Arbeiterbewegungen vor Augen halten, die die Unterstützung der politischen Bewegungen ihrer Zeit fanden: für Mindestgehälter, Familienleistungen, Renten, das Recht, sich einer Gewerkschaft anzuschließen und das Recht auf Streik. Die Kämpfe um diese Rechte fanden in Europa im frühen 20. Jahrhundert und in Afrika in den 1940er und 1950er Jahren statt, während sie in China möglicherweise im 21. Jahrhundert bevorstehen. Sofern „Prekarität“ heute irgendeine Bedeutung hat, dann als das Gegenteil von „Stabilisierung“. Wie James Ferguson besonders eindrücklich beschrieb, hatten Bergarbeiter in Sambia in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit allen Grund zur Annahme, dass sie einen gewissen Grad an wirtschaftlicher Absicherung erreicht hatten und davon ausgehen konnten, die Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen und selbst eine Rente zu erhalten. Der Staat unterminierte jedoch die Gewerkschaften, die ein gewisses Maß an kollektiver Absicherung geboten hatten, die Inflation fraß die Löhne auf und Strukturanpassungen beseitigten die Renten und Sozialleistungen, mit denen Arbeiter gerechnet hatten. Der Zusammenbruch des Bergbaus und darauf folgend der massive Stellenabbau stahlen Arbeitern die Zukunft, die die Stabilisierung versprochen hatte, und führten zu weit verbreiteter Verbitterung. Noch schlimmere Konsequenzen blieben vielen Bergarbeitern erspart, weil sie sich nie ganz in die Stabilisierungskategorie hatten zwängen lassen
Breman/Linden (2014) 920 – 940. Wie Eli Friedman argumentiert, hat staatliche Repression in China zwar die Entwicklung einer Arbeiterbewegung verhindern können, nicht aber, dass der effektive Widerstand von Arbeitern Unternehmen zu Zugeständnissen zwang und so den Staat zur Verabschiedung arbeitnehmerfreundlicherer Richtlinien brachte. Friedman (2014) 1001– 1018. Zu den unterschiedlichen Erfahrungen mit Arbeit in chinesischen Unternehmen in Afrika, siehe: Lee (2009) 647– 666.
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und sich deshalb, durch Familienbande und Landbindung, Zugang zu Ressourcen außerhalb der „formalen“ Wirtschaftsstrukturen Sambias bewahrt hatten.⁴⁰ In Südafrika fand eine Proletarisierung stärker statt als in allen anderen afrikanischen Länder südlich der Sahara, es setzte sich aber eine auf Rassentrennung gegründete Form des Kapitalismus durch. Die Fiktion, dass Afrikaner weiterhin „Stammesangehörige“ seien, die nur zeitweise arbeiteten, wurde bis zum Ende der Apartheid zunehmend unhaltbar, allerdings entwickelten und akzentuierten sich die Unterschiede innerhalb der afrikanischen Bevölkerung seit 1994 weiter. Südafrika muss heute einen Umgang mit seiner Nicht-Arbeiterklasse finden, die nicht von den Möglichkeiten profitiert, die das Südafrika der PostApartheid-Ära bietet. In der Tat laufen Arbeiter im Niedriglohnsektor ebenso wie migrantische Arbeiter Gefahr, zu Bürgern zweiter Klasse zu werden, da in der Vorstellungswelt der regierenden Eliten Südafrikas die Bürgerschaft und der Wert eines Menschen mit produktiver Arbeit zusammenhängen, die es nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung gibt. Manche argumentieren, der südafrikanische Staat müsse sich von der Gleichsetzung von Lebensunterhalt und Würde mit Arbeit freimachen und stattdessen über Mechanismen wie das Grundeinkommen nachdenken, das Menschen ein Auskommen sichert, unabhängig davon, ob sie arbeiten oder nicht.⁴¹ Selbst ein solches Argument geht allerdings davon aus, dass die einzig gesellschaftlich notwendige Arbeit diejenige ist, für die das Kapital auch zu zahlen bereit ist. Ende der 1990er Jahre sah sich die ILO unter Druck und nannte ihr neues Programm Decent Work Agenda („Agenda für menschenwürdige Arbeit“), wodurch sie faktisch die weite Verbreitung menschenunwürdiger Arbeit zugab. Laut der ILO wird Arbeit menschenwürdig, wenn es „Stellen mit produktiver Arbeit gibt, die ein faires Einkommen ermöglichen, Sicherheit am Arbeitsplatz und soziale Absicherung der Familien bieten, bessere Aussichten für die berufliche Weiterentwicklung und soziale Integration gewähren, Arbeitern ermöglichen, ihre Sorgen zu äußern, sich zu organisieren und an den Entscheidungen beteiligt zu sein, die ihre Leben betreffen, sowie die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen gewährleisten“.⁴² Offen bleibt indes, ob die ILO plausible Ansätze gegen die Beschneidung der Sicherheit und Würde von Arbeitern anzubieten hat.
Ferguson (1999). Barchiesi (2011); Ferguson (2015). Meagher (2016) 487 und andere hinterfragen die Prämisse, wonach das Kapital in Afrika nicht mehr so viele Arbeiter benötige, und argumentieren, dass das Kapital für Arbeiter neue Aufgaben findet, solange diese billig sind, insbesondere im Kontakt zu Kunden mit beschränkten Mitteln. Das Originalzitat stammt von der Internetseite der ILO. International Labour Organization (o. J.)
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Die Geschichte der heutzutage prekär Beschäftigten ist keine von weit verbreitetem Elend, obwohl es auch davon einiges gibt. Vielmehr ist es eine Geschichte der Ungleichheit und Differenzierung sowohl innerhalb afrikanischer Gesellschaften als auch zwischen diesen und dem Globalen Norden. Bei einer Fahrt durch die wachsenden Vorstädte Dakars sieht man zahlreiche zweistöckige Häuser, von denen an einigen seit Jahren gebaut wird. Es offenbart sich eben nicht eine bloße Dichotomie zwischen den luxuriösen Villen einer kleinen Elite und dem Elend der Slums. Ein großer Teil der Bauarbeiten wird von Senegalesen bezahlt, die in Frankreich, Italien, den USA und andernorts arbeiten und Geld nach Hause schicken. Die Sufi-Bruderschaft Muridiya hat es Migranten ermöglicht, sich insbesondere als Händler ein Leben im Ausland aufzubauen, und sie ermöglichte führenden Marabouts und den Gemeinden um die große Moschee von Touba die Akkumulation eines ansehnlichen Wohlstands.⁴³ Einige dieser Arbeiter erhielten in Frankreich eine Aufenthaltsgenehmigung oder nahmen vor der strikteren Regulierung der Immigration in den 1970er Jahren die französische Staatsbürgerschaft an. Andere können Frankreich aus Angst, dass sie nicht wieder einreisen können, nicht verlassen. Afrikaner in Frankreich, die Papiere haben, genießen die Leistungen des französischen Wohlfahrtsstaates. Sie stehen auf der glücklicheren Seite des Grabens zwischen den europäischen und afrikanischen Arbeitsmärkten, auch wenn beide menschlich verbunden bleiben.
Schlussfolgerungen Ungleichheit ist nicht einfach eine Frage der Summe verschiedener Kategorien: Oberschicht, Mittelklasse, Unterklasse, Festangestellte und prekär Beschäftigte. Vielmehr geht es um Beziehungen. Menschen ohne Ressourcen suchen Patrone und einflussreiche Personen suchen wiederum Klienten. Solche asymmetrischen Beziehungen finden sich auf jeder Gesellschaftsstufe, ob bei Bettlern, die von ausbeuterischen Unternehmern organisiert werden, bei Taxi- und Busfahrern, die Zugang und Schutz bedürfen, oder bei Geschäftsleuten, die einen Vertrag abschließen möchten oder eine Konzession benötigen. Und obgleich vertikale Verbindungen weiterhin eine zentrale Rolle einnehmen, gehören sie zu den von der
Beth Buggenhagen schreibt von „globalen Kreisläufen“ (global circuits) von Senegalesen und betont, dass es sich nicht um die Bewegung anonymer Arbeitskräfte handelt, sondern um organisierte Formen, die in enger Verbindung zu den Netzwerken der Muridiya stehen, in denen Migranten sowohl als Händler als auch als Arbeiter aktiv sind und enge Verbindungen nach Senegal unterhalten, insbesondere zum spirituellen Zentrum der Muridiya Touba. Buggenhagen (2012).
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Forschung – die davon ausgeht, dass Menschen in Einklang mit den ihnen zugewiesenen Kategorien agieren – häufig außer Acht gelassenen politischen Dimensionen.⁴⁴ Sind Forscher, geschweige denn politische Entscheidungsträger, überhaupt in der Lage, den Wandel asymmetrischer Beziehungen zu verstehen? Können sie zwei Faktoren Rechnung tragen, die die meisten Theorien übergehen, nämlich der Bedeutung konkreter historischer Konstellationen und der Rolle, die Politik und soziale Kämpfe haben? Vielleicht betont die Vorliebe von Sozialwissenschaftlern, eine „Ära“ säuberlich von der darauffolgenden zu trennen, also etwa die fordistische von der post-fordistischen Ära der kapitalistischen Produktionsweise, zu sehr kohärente Übergänge und zu wenig die überlappenden, umkämpften und unbeständigen Arbeitsformen. Dabei könnten die für unsere Zeit charakteristischen Querverbindungen helfen, ein größeres Bewusstsein zu schaffen, sowohl für die sozialen Kosten des Kapitalismus in seiner aktuellen Form als auch für die Bemühungen, die Mächtigen herauszufordern. Die Frage der Arbeit bleibt eine zutiefst politische Frage. Neo-Abolitionisten verweisen auf „die heutige Sklaverei“ und auf „Kinderarbeit“ in Afrika. Dies sind sicherlich wichtige Themen, die Schwierigkeit besteht allerdings darin, sich ihnen zu widmen, ohne dabei in die Falle zu tappen, sie schlicht als eine weitere Eigenart afrikanischer Kultur zu behandeln.⁴⁵ Sind das kulturelle oder strukturelle Probleme? Afrikanische oder globale? Geht es um politisch fehlgeleitete Entscheidungen afrikanischer Regierungen oder um die Verwüstungen des globalen Kapitalismus? Wie lässt sich verstehen, dass in einer Region wie dem Sahel, der niedrige Status und die Verwundbarkeit einiger Menschen dazu führt, dass sie wie Sklaven ausgebeutet werden, während andere aus freien Stücken, wenn man das so nennen mag, ihr Leben riskieren, indem sie versuchen, auf einem kleinen Boot bis nach Sizilien zu gelangen und in Europa entlohnte Arbeit zu finden?⁴⁶ Dies führt uns immer wieder zu der Frage nach den Bedingungen, unter denen Afrika mit dem Rest der Welt verbunden ist. Es bestehen zahlreiche Wechselwirkungen zwischen Forderungen an den Staat – im Namen der Bürgerrechte – und Forderungen an das Kapital – von Seiten der Arbeiter. Im Laufe eines Lebens gibt es in Hinblick auf Familien und Gemeinden Überlappungen zwischen „formal“ und „informell“ Beschäftigten, zwischen „Prekariat“ und „Angestellten“. Politisches Handeln ergibt sich aus Beziehungen von Menschen zu den Produktionsmitteln und zueinander. Und
Fourchard (2011) 40 – 56. Eine komplexere Sicht auf Kinderarbeit findet sich in Spittler/Bourdillon (2012). Rossi (2015).
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politische Beziehungen überschreiten die Grenzen von Kategorisierungen. Eine Analyse der Netzwerke, Mobilisierung und der Entwicklung von Institutionen über Kategoriengrenzen hinweg wird die erfolgreichen Bewegungen der Vergangenheit und die Möglichkeiten für die Zukunft verstehen helfen. „Prekarität“ und „Flexibilität“, „Zwang“ und „Freiheit“ sind stumpfe Instrumente, wenn es um ein Verständnis der Sicht von Menschen auf Lohnarbeit, auf ihre Verwundbarkeit als Arbeiter und auf die Bedeutung von Arbeit im Laufe ihres Lebens sowie der Sicht, die die Eliten auf sie haben, geht. Das Marx'sche Konzept der doppelten Freiheit – Freiheit von Zwang und Freiheit vom Eigentum an Produktionsmitteln – war ironisch gemeint und sollte aufzeigen, was die Ideologie freier Arbeit verbarg, nämlich dass die Vorstellung, wonach Menschen auf dem Arbeitsmarkt eine freie Wahl haben, in Wirklichkeit ein Fetisch ist. Sie ist eine symbolische Struktur, die komplexe Machtbeziehungen verbirgt, die bestimmte Möglichkeiten eröffnen, während sie andere ausschließen. Die Erforschung von Arbeit im kolonialen Afrika legt nahe, dass die kolonialen Herrscher schließlich verstanden haben, insbesondere in den 1940er Jahren, dass sie sich nicht auf Fetische verlassen konnten. Sie waren allerdings für eine Analyse der verschiedenen Arbeitswelten, aus denen die Afrikaner kamen und die sie für sich selbst innerhalb des kolonialen Systems aufbauten, nicht gut gerüstet. Afrikanische Arbeiter erteilten ihnen Lektionen und allmählich verstanden sie, dass sie über den sozialen Kontext nachdenken – und diesen zu manipulieren versuchen – mussten, dem die Arbeiter entstammten und in dem sie arbeiteten, Familien bildeten und ihr Leben lebten. Ihre Hoffnung, für afrikanische Lohnarbeiter eine neue Welt aufbauen zu können, indem sie diese aus ihrem afrikanischen Kontext herausnahmen, war eine weitere Illusion, aber es war eine Illusion, die Arbeiterbewegungen eine Zeit lang für Forderungen nach gerechten Löhnen und Sozialleistungen nutzen konnten. Schließlich schloss das koloniale Konzept der Arbeiterklasse die Mehrheit der Arbeitenden aus. Gleiches gilt für das post-koloniale Konzept. Die Anzahl der Menschen, auf die im post-kolonialen Afrika die Beschreibung Lohnarbeiter zutrifft, stieg nicht wie erwartet an, während die Kategorie der Ausgeschlossenen, der informell und prekär Beschäftigten, immer weiterwuchs. Diese Kategorien zeigen und verdecken gleichermaßen die Lebensumstände und Kämpfe der Männer und Frauen, die Afrikas Arbeiter sind. Es ist fruchtbarer mit Kategorien zu arbeiten, als bei der Arbeit in ihnen zu verharren.
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Gesprächsführung: Ralf Grötker
Ab vom vorgezeichneten Weg: Ein Interview mit Frederick Cooper Ein Interview über die Afrika-Begeisterung der Studierenden in den 1960er Jahren, Ideologiekritik und klassenübergreifende soziale Beziehungen als tragendes Konstruktionselement der Gesellschaft Kolonialismus mag einem vielleicht als eher spezielles oder randständiges Thema der Geschichte erscheinen. Sie sind Experte für Koloniale Studien. Wie würden Sie jemandem, der nicht vom Fach ist, Ihre akademische Disziplin schmackhaft machen? Der Kolonialismus ist so etwas wie die dunkle Rückseite der Geschichte. Ganz sicher handelt es sich nicht um eine randständige Angelegenheit. Wenn man sich mit dem Kolonialismus befasst, bekommt man eine Vorstellung davon, was in Teilen von Asien, Südamerika und in der Karibik passiert ist. Außerdem erfährt man auch etwas über die Geschichte von Europa und Nordamerika. Für die Geschichtswissenschaft war die Entdeckung, wie vielfältig und wie eng Europa und Nordamerika mit ihren Kolonien verflochten waren, geradezu ein Durchbruch. Natürlich gibt es auch heute noch eine Tendenz, die vermeintlich vom Schandfleck der kolonialen Vergangenheit bereinigte Gegenwart quasi als den Normalzustand zu betrachten. Alles andere erscheint so gesehen als Nebengleis, das ohne größere Bedeutung für die historische Entwicklung ist. Das ist ein ziemlich verzerrtes Bild. Koloniale Studien kehren gewissermaßen ein Problem an den Tag, das in jeder Art von Gesellschaft besteht: das Problem von Beziehungen, die von Ungleichheit geprägt sind. In der kolonialen Situation ist dieses Problem lediglich besonders akut. Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Kolonialen Studien zu befassen? Am Anfang meiner akademischen Karriere betrachtete ich mich nicht als Kolonialhistoriker, sondern als Afrikahistoriker. Mein erstes Buch handelte von Ostafrika im 19. Jahrhundert, also von der Periode vor der Kolonisierung durch die Briten. Meine Generation von Studierenden sah sich irgendwie dazu verpflichtet, sich dafür stark zu machen, dass Afrika tatsächlich eine Geschichte hatte – dass Afrika nicht nur ein Forschungsgegenstand für Anthropologen war, sondern auch für Historiker. Afrikageschichte war kein Fach, das Universitäten in Nordamerika oder Europa, die etwas auf sich hielten, unter ihrem Dach haben wollten. Später schlug das Pendel dann ins andere Extrem. Afrikageschichte erlangte eine gehttps://doi.org/10.1515/9783110618105-004
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wisse Popularität, wurde aber vor allem als Black History verstanden – als Widerstand gegen die herkömmliche Geschichtsschreibung weißer Menschen in Afrika. Das hat mich geprägt. Als ich aber mein zweites größeres Forschungsprojekt begann, aus dem sich dann später mein zweites Buch entwickelte, wurde mir klar, wie unangemessen es ist, Afrikageschichte auf die Geschichte von Schwarzen zu reduzieren. Ich fing an, stärker über zwischenmenschliche Beziehungen nachzudenken und begriff soziale Interaktionen zunehmend als einen Zugang zur Erforschung dieses Teils der Welt. Warum hatten Sie sich überhaupt für Afrika und Afrikageschichte interessiert? Das hatte viel mit der politischen Situation in den 1960er Jahren zu tun. Ich war während der Zeit des Vietnamkrieges Studienanfänger an der Universität Stanford. Themen wie Unterdrückung oder Befreiung und von Ungleichheit geprägte Beziehungen zwischen verschiedenen Teilen der Welt – für uns junge Leute waren das die Hauptthemen, über die wir nachdachten. Tatsächlich wusste ich zu jener Zeit herzlich wenig über Afrika und Südostasien. Aber ich hatte eine Meinung. Südostasien befand sich in meinen Augen in einem fürchterlichen Durcheinander, und Schuld daran war der amerikanische Imperialismus. In Lateinamerika war die Situation wegen der dortigen stark ausgeprägten Klassengesellschaft festgefahren. Afrika hingegen erschien uns als eine Art Tabula rasa – mit seinen gerade in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten, seinen jungen und dynamischen politischen Anführern, und jeder Menge Möglichkeiten, die sich öffneten, weil der Kontinent nicht länger unter der kolonialen Knute stand. Mich motivierte das, an der Universität ein Seminar über afrikanische Politik zu belegen. Es dauerte allerdings nur wenige Wochen, bis mein Professor mir meine naive Vorstellung von Afrika als einer Art Tabula rasa gründlich ausgetrieben hatte. Von dem Moment an konnte ich nicht mehr loslassen. Wann sind Sie das erste Mal nach Afrika gereist? Das war im Sommer 1970, nach meinem ersten Jahr im Hauptstudium. Eine europäische Studentenorganisation bot damals billige Charterflüge an. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf und reiste nach Nairobi. Wenig später besuchte ich die kenianische Küstenregion, den Norden von Tansania und Uganda. Nachdem ich ein wenig herumgereist war, wurde mir klar, dass ich weniger an einem mutmaßlich ursprünglichen Afrika interessiert war, als vielmehr am kosmopolitischen Teil Ostafrikas. Über diesen Weg konnte ich die Komplexität afrikanischer Geschichte erfassen.
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In dem vorliegenden Essay „Von der Sklaverei in die Prekarität?“ kritisieren Sie die sogenannte Proletarisierungsthese. Nach dieser These ist die ökonomische Entwicklung auf dem afrikanischen Kontinent in ihrer frühen Phase vor allem durch die Herausbildung einer Arbeiterklasse geprägt. Hervorstechendes Merkmal dieser Klasse ist, dass deren Angehörige sich nur noch durch Lohnarbeit über Wasser halten können, weil sie alle anderen Möglichkeiten verloren haben… Die Proletarisierungsthese war ein Kind jener Zeit, in der ich anfing, mich mit der Geschichte der Arbeit in Afrika zu befassen. Das war Mitte der 1970er Jahre. Die meisten afrikanischen Staaten hatten gerade erst zehn Jahre Unabhängigkeit hinter sich. Der Weg in die Unabhängigkeit wurde als Fortschrittsgeschichte wahrgenommen. Insbesondere politisch linksstehende Wissenschaftler hatten den Ehrgeiz zu zeigen, wie sich die Geschichte Afrikas den Haupttrends der Weltgeschichte anpasste. Sie glaubten, Afrika bewege sich auf einem linearen Pfad von der zunehmenden Abhängigkeit von Lohnarbeit und der Bildung eines Bewusstseins als Arbeiterklasse bis zur Gründung von Gewerkschaften und der Organisation von Streiks. Am Ende sollte der Aufstand gegen das Kapital stehen. Das jedenfalls war die Erwartung. Tatsächlich gibt es eine Menge historisches Material, mit dem sich zumindest der erste Teil der These belegen lässt. Auf der anderen Seite gibt es viele Quellen, die das nicht bestätigen. Sichtbar wurde dies vor allem nach den 1970er Jahren. Weder die weltweite Rezession, die mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auch in Afrika einherging, noch die so genannten Strukturanpassungsprogramme zur Bekämpfung der Krise waren mit dem von der Proletarisierungsthese vorgezeichneten Weg zu vereinbaren. In der Forschung wurde man dann mehr und mehr darauf aufmerksam, dass auch in den Jahren vor der Krise die afrikanische Wirtschaft sich nicht schnurstracks in Richtung Proletarisierung bewegt hatte. Der ganze Bereich der Arbeit umfasste doch mehr als bloß Lohnarbeit. Arbeiter bevorzugten beispielsweise häufig nur temporäre Phasen abhängiger Beschäftigung, um sich Freiräume zu schaffen, in denen sie auch auf andere Weise und in anderen Bereichen wirtschaftlich tätig werden konnten. Auch die Verhältnisse innerhalb der Familien und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren komplizierter als es die Rolle des Mannes, der das Geld nach Hause bringt, hergab. Während Sie die marxistisch geprägten Theorien von unabänderlichen Trends in der wirtschaftlichen Entwicklung ablehnen, verteidigen Sie einen anderen Aspekt des marxistischen Ansatzes: die Ideologiekritik. Sie behaupten, dass die Unterscheidung zwischen freier und unfreier Arbeit weniger eine analytische Unterscheidung darstellt, sondern vor allem ein ideologisches Werkzeug ist. Warum?
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Eines der Rätsel für Historiker, die sich mit der Epoche der Sklaverei befassten, war: Warum nahm Großbritannien eine Führungsrolle in einer Kampagne ein, die sich zuerst gegen den Sklavenhandel, dann gegen die Sklaverei selbst richtete? Zum Hintergrund: Das britische Parlament verbot im Jahr 1807 britischen Staatsbürgern, sich am Sklavenhandel zu beteiligen. 1833 wurde die Sklaverei in den britischen Kolonien abgeschafft. Eine gängige Erklärung hierfür war, dass die Sklaverei am Anfang des 19. Jahrhunderts schlicht nicht mehr profitabel erschien. Das Problem mit diesem Ansatz ist jedoch, dass die Erklärung mit den historischen Tatsachen nicht zu vereinen ist. Tatsächlich verursachte die Abschaffung der Sklaverei in der britischen Karibik einen großen Boom von durch Sklaven produziertem Zucker in der spanischen Kolonie auf Kuba. Ein anderer, weiter ausholender Erklärungsansatz interpretiert die britische Initiative gegen die Sklaverei als ideologisch motivierte Intervention mit dem Ziel, die soziale Ungleichheit zu legitimieren, welche mit der Lohnarbeit einhergeht. Die Geschichte geht so: In der traditionellen, feudalen Gesellschaft waren höhere und niedrigere Stände zwar durch klare Linien voneinander getrennt; nichtsdestoweniger garantierte die soziale Ordnung Stabilität und ermöglichte auch langfristige Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Wie kann man es rechtfertigen, diese traditionelle und akzeptierte Ordnung zu zerstören, indem man an ihre Stelle ein System setzt, dass allein aus Markt-Transaktionen zwischen Käufern und Verkäufern von Arbeitskraft besteht? Die Aufgabe, die Lohnarbeit als neue moralische Ordnung zu etablieren, schien schier unlösbar unter dem Umstand, dass man zugleich zugeben musste, dass de facto nicht die unsichtbare Hand des Marktes, sondern purer Zwang die legitime Ursache für krasse Ungleichheit war, zumindest in den Teilen des britischen Imperiums – den Teilen nämlich, wo Sklaverei praktiziert wurde. Die Sklaverei musst also abgeschafft werden, um die kapitalistische Gesellschaftsordnung schlüssig verkaufen zu können. Und aus genau diesem Grund musste auch eine eindeutige Linie zwischen freier Arbeit und Sklaverei gezogen werden. Nicht, weil eine solche klare Linie in der Realität existierte – sondern um die ideologische Erzählung passend zu machen. Aber ist die Linie zwischen freier und unfreier Arbeit nicht dennoch so etwas wie eine Basisunterscheidung? Wenn man sich die sozialen Beziehungen in der Realität anschaut, ist es oft schwer, eine solch klare Unterscheidung zu ziehen. Es gab beispielsweise auch nach der Abschaffung der Sklaverei immer noch Gesetze, die die Beziehungen zwischen Herren und Knechten regelten – vom Staat geförderte Mechanismen, die aus vermeintlich freier Arbeit eine nicht vollständig freie Arbeit machten. Auf dem Arbeitsmarkt gab es Schuldverträge, mit denen Individuen über lange Zeit an einen bestimmten Arbeitgeber gebunden werden konnten. Das kommt der Skla-
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verei ziemlich nahe. Je näher man sich solche Vor-Ort-Arbeitsbeziehungen anschaut, umso größer wird der Graubereich, den man vorfindet. Es ist wirklich eher aus ideologischen Gründen, dass die Unterscheidung zwischen freier und unfreier Arbeit so rigoros verteidigt wurde. Sollte man dann so weit gehen, die Unterscheidung zwischen freier und unfreier Arbeit einfach aufzugeben? Die Unterscheidung ist natürlich immer noch für viele Zwecke nützlich – beispielsweise, wenn man es ganz klar machen will, dass Sklaverei und andere Formen unfreier Arbeit stigmatisiert werden sollten. Für Menschen, die Opfer derartiger Praktiken sind, hat das essentielle Bedeutung. Aber die Unterscheidung war eben auch ein nützliches Werkzeug in den Händen der Kolonialmächte, um die Botschaft zu verkaufen: „Schaut, diese Afrikaner sind es, die die Sklaverei praktizieren. Wir befreien sie von der Sklaverei, indem wir eine Ökonomie schaffen, die auf dem Wert von freier Arbeit basiert!“ Was ich sagen will: Indem man alles, was nicht Sklaverei im engen Sinne ist, als „freie Arbeit“ rechtfertigt, kann man viele repressive Praktiken unter den Teppich kehren. Das passiert auch heute. Viele mit Zwang einhergehende Praktiken kommen verkleidet daher, als Markt-Transaktionen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Was ist die Rolle des Historikers im Umgang mit solch zweischneidigen Kategorien wie der Unterscheidung zwischen freier und unfreier Arbeit? Auf der einen Seite will man wissen, was zum Beispiel um 1830, um 1920 oder im Jahr 2016 unter bestimmten Begriffen verstanden wurde und wird. Man muss darauf achten, dass ein Begriff wie „freie Arbeit“, wie wir ihn heute verwenden, für Leute vor hundert Jahren nicht unbedingt dasselbe bedeutet hat. Gleichzeitig müssen wir als Historiker natürlich Begriffe und Kategorien verwenden. Wir wollen Geschichte so vermitteln, dass sie auch verstanden werden kann. Dazu braucht es Vereinfachungen. Und wir möchten Vergleiche ziehen können. Ich bin der Letzte, der sagen würde, dass jeder historische Moment als Einzelfall betrachtet werden muss, nur in seinem eigenen Kontext und in seiner vollen Komplexität. Im Gegenteil: Wir möchten auch Vorgänge analysieren, die räumlich weit verstreut und in unterschiedlichen Kulturen und sozialen Organisationsformen ablaufen. Und wir möchten umfangreiche Prozesse in den Blick nehmen, die viel Differenzierung und Komplexität beinhalten. Hilft uns beispielsweise die Beschäftigung mit Entwicklungen im britischen Imperium, die Geschichte des portugiesischen Kolonialismus besser zu verstehen? Solche Vergleiche sind möglicherweise nicht eins zu eins, sondern eher asymmetrisch. Doch auch dann können sie aufschlussreich sein. Für alle Formen des Vergleichs brauchen wir übergreifende Kategorien. Das ist unsere Aufgabe: Wir müssen mit der notori-
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schen Instabilität von Konzepten klarkommen, ohne dabei gleichzeitig die Werkzeuge über Bord zu werfen, die wir für unsere Analysen brauchen. Sie betonen, dass es wichtig sei, Beziehungen und Netzwerke besonders zwischen ungleichen Akteuren zu untersuchen. Warum? Sozialwissenschaftler neigen dazu, horizontalen Kategorien gegenüber vertikalen Kategorien den Vorzug zu geben. Eine der wichtigsten horizontalen Kategorien ist sicherlich die Klasse. Wir sprechen davon, dass Gesellschaften durch Klassen strukturiert werden und stellen uns das Sozialwesen als eine Art Kuchen mit verschiedenen Schichten vor. Eine Frage, welche dieses Bild aufwirft, ist: Wie kann eine obere Klasse entstehen, die es schafft, die unteren Klassen zu disziplinieren? Eine andere Frage ist, wie Arbeiter oder wie Bauern es schaffen, Anforderungen gegenüber der tonangebenden Klasse geltend zu machen. Viel schwieriger als die Beantwortung dieser Fragen jedoch ist es, die Beziehungen zwischen Menschen in überlegenen Positionen zu solchen in untergeordneten Positionen zu verstehen. Herr-Knecht-Beziehungen sind dafür ein Beispiel oder Generationenbeziehungen zwischen Alten und Jungen, Beziehungen am Arbeitsplatz, zwischen Sklaven und Sklavenhaltern in der Kolonialzeit. Diese vertikalen Verbindungen sind ein tragendes Konstruktionselement innerhalb vieler verschiedener Gesellschaften. Wenn man zum Beispiel vom Dorf kommt und in eine afrikanische Stadt zieht, muss man schauen, wie man es schafft, einigermaßen zurechtzukommen.Vielleicht hilft es einem, sich mit Menschen zusammen zu tun, die in der gleichen Situation sind. Das können etwa Menschen aus dem gleichen Landesteil sein. Oder man sucht sich einen Beschützer oder Fürsprecher, einen patron. Im Extremfall ist ein solcher Beschützer ein einflussreicher Politiker, der seine Anhänger dazu bringen kann, auf die Straße zu gehen oder wer-weißwas zu tun. Vielleicht ist es auch nur der Vorstand eines Haushaltes in der Nachbarschaft, dem es ein klein wenig besser geht als einem selbst. Sie betonen die Wichtigkeit, auch die Veränderung solcher vertikalen Beziehungen im Zeitverlauf zu untersuchen. Wie stellt man das an? Ich glaube nicht, dass große Datenbanken einem hier helfen werden. Es gibt aber viele narrative Darstellungen von sozialen Bewegungen, die vormachen, wie eine solche Untersuchung aussehen kann. Zum Beispiel die Revolution auf Haiti im ausgehenden 18. Jahrhundert. Freie Schwarze und unfreie Sklaven haben Seite an Seite gekämpft. Zeitweise haben Verfechter der Ersten Französischen Republik zur Dynamik des Revolutionsgeschehens beigetragen. Der Hauptgrund für den Erfolg dieser Revolution in ihren frühen Jahren lag vor allem in ihrer vielschichtigen Organisation, die die gesellschaftlichen Schranken überwand. Nur auf diese Weise – und vielleicht mit ein wenig Hilfe von Gelbfieber und Malaria – konnte
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eine Bewegung entstehen, die stark genug war, um sich innerhalb der Ersten Französischen Republik zu behaupten und Napoleons Bestreben, die Sklaverei wieder einzuführen, die Stirn zu bieten. Wenn man eine komplexe Narrative der Revolution auf Haiti verfasst, wird man über genau diese sozialen Bewegungen quer durch die gesellschaftlichen Gruppierungen hinweg schreiben müssen. Wie kann man diesen Ansatz auf die koloniale Situation übertragen? Wenn man vertikale Beziehungen im Zeitverlauf betrachtet und analysiert, wie sich diese Beziehungen parallel zu Strukturen in der Politik und auf dem Arbeitsmarkt in Afrika verändern, dann zeigt das daraus resultierende Bild eine Gesellschaft, die, beginnend mit den 1940er und 1950er Jahren, sich in Richtung eines Regimes immer stärkerer Regulierung bewegt. Nicht soziale Beziehungen, sondern gesetzliche Vorschriften sind hier das vorherrschende Strukturmerkmal. Gleichzeitig ist eine Bewegung in die entgegengesetzte Richtung zu erkennen. Mit der Instabilität der afrikanischen Staaten, die sich in den 1960ern zeigte, und mit den Strukturreformen in den 1970er und 1980er Jahren wurde das Patronat wieder attraktiver. Sicherlich: Patronat bedeutet die Fortführung von sozialer Ungleichheit – in Afrika ebenso wie in anderen Gegenden der Welt. Aber es ist immer die Frage, welche Alternativen es gibt. In einigen Fällen ist das, was ein Patron anbieten kann, anderen Optionen meilenweit überlegen! In demokratischen Gesellschaften hingegen mit regelgeleiteten und auf Chancengleichheit ausgerichteten Strukturen kann man zumindest darauf hoffen, dass man es auch zu etwas bringt, wenn man einfach nur seine Rolle als Bürger gut ausfüllt.
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Lebenslauf Frederick Cooper Frederick Cooper ist Professor für Geschichte an der New York University. Zuvor lehrte er an der University of Michigan und der Harvard University. Seine frühen Forschungen konzentrierten sich auf Sklaverei und Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert in Ostafrika. Das Studium von Interaktion und Konflikt an bestimmten Orten weckte sein Interesse für die sich verändernde Natur des kolonialen Denkens und Handelns, die in diese Prozesse einfloss, was zu einer vergleichenden Untersuchung der Arbeitsfrage in Französisch- und Britisch-Afrika führte. Cooper begann auch ein Projekt zur Geschichte und Anthropologie des Kolonialismus mit der Anthropologin Ann Stoler. Sein Interesse an der Sozialtheorie führte ihn dazu, Essays über Schlüsselkonzepte zu schreiben, die in den Sozial- und Geisteswissenschaften weit verbreitet sind – Identität, Moderne und Globalisierung – und er arbeitete mit Jane Burbank an einem Projekt, das sowohl der nationalen als auch der modernen Verzerrung der meisten historischen Studien mit einer Studie über die dauerhafteste Form der politischen Organisation in der Weltgeschichte begegnet. In jüngster Zeit hat er in Frankreich und Senegal Archivforschungen über Staatsbürgerschaft und Dekolonisierung in Französisch-Afrika durchgeführt und sich weiter mit dem Verhältnis von Staatsbürgerschaft, Arbeit, Ungleichheit und Differenz beschäftigt. Er war Fellow am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences, am Wilson Center, am Rockefeller Study Center in Bellagio, am Institut d’Études Avancées de Nantes und am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er war außerdem Gastprofessor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, der École Normale Supérieure, der Université de Paris VII und Sciences Po Bordeaux. Er erhielt Stipendien von der National Endowment for the Humanities, der Guggenheim Foundation und der ACLS sowie Buchpreise von der African Studies Association, der World History Association und der American Historical Association. Frederick Cooper verbrachte 2015/16 ein akademisches Jahr am Forschungskolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ (re:work) und forschte zu dem Thema Reflections on Citizenship and Labour in Global Perspective.
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Lebenslauf Frederick Cooper
Publikationen (Auswahl) Citizenship, Inequality, and Difference: Historical Perspectives. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2018. Citizenship between Empire and Nation: Remaking France and French Africa, 1945 – 1960. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2014. Africa in the World: Capitalism, Empire, Nation-State. Cambridge, MA: Harvard University Press, 2014. mit Jane Burbank. Empires in World History: Power and the Politics of Difference. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2010. Colonialism in Question: Theory, Knowledge, History. Berkeley, CA: University of California Press, 2005. Africa since 1940: The Past of the Present. Cambridge: Cambridge University Press, 2002. mit Ann Stoler. Hrsg. Tensions of Empire: Colonial Cultures in a Bourgeois World. Berkeley, CA: University of California Press, 1997. Decolonization and African Society: The Labor Question in French and British Africa. Cambridge: Cambridge University Press, 1996. From Slaves to Squatters: Plantation Labor and Agriculture in Zanzibar and Coastal Kenya, 1890 – 1925. New Haven, CT: Yale University Press, 1980.
re:work Impressionen 2
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Der ReM ReM Club
ReM ReM Club ‒ Remember Re:work Members Der ReM ReM Club ist eine Initiative des Käte Hamburger Kollegs „Arbeit und Lebenslauf in globaler Perspektive“ an der Humboldt-Universität zu Berlin, kurz re:work. ReM ReM steht für „Remember Re:work Members“. Der ReM ReM Club ist in erster Linie ein Alumni Verein und mit dem Zweck gegründet, um einen Austausch mit aktiven und ehemaligen re:work Fellows zu ermöglichen, gemeinsame Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Der Verein lebt durch die Ideen und Beiträge seiner Mitglieder. Sämtliche Spenden werden zu 100 Prozent für re:work-nahe Aktivitäten verwendet, wie zum Beispiel Workshops, Publikationen, thematische Exkursionen und kulturelle Veranstaltungen. Wir sind für jede finanzielle Unterstützung dankbar! Spendenkonto: IBAN: DE09 1001 0010 0889 0081 06 SWIFT/BIC: PBNKDEFF Postbank Hamburg Der ReM ReM Club e.V. ist vom Amtsgericht Berlin (Charlottenburg) als gemeinnützig anerkannt. Spendenbescheinigungen können ausgestellt werden. Sie wollen Mitglied werden? Bitte schreiben Sie uns: [email protected] Weitere Informationen finden Sie hier: http://remember-rework.de *** ReM ReM Club ‒ ReMember Rework Members e.V. Georgenstr. 23 D ‒ 10117 Berlin Steuernummer: 27 676 / 51430 Vereinsregisternummer: VR 34517
Käte Hamburger Kollegs
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Käte Hamburger Kollegs Im Jahr 2007, dem Jahr der Geisteswissenschaften, startete das deutsche Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF) die Initiative „Freiraum für die Geisteswissenschaften“. Sie bot neue Möglichkeiten, geisteswissenschaftliche Leistungen auf nationaler und internationaler Ebene sichtbar herauszustellen und voranzutreiben. Zwischen 2007 und 2011 wählte ein internationales Expertengremium neben re:work neun weitere Käte Hamburger Kollegs zu folgenden Themen: Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (Bauhaus-Universität Weimar) Verflechtungen von Theaterkulturen (Freie Universität Berlin) Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) Morphomata. Genese, Dynamik und Medialität kultureller Figurationen (Universität zu Köln) Rachel Carson Center für Umwelt und Gesellschaft (Ludwig-Maximilians-Universität München) Imre Kertész Kolleg: Europas Osten im 20. Jahrhundert: Historische Erfahrungen im Vergleich (Friedrich-Schiller-Universität Jena) Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa (Ruhr-Universität Bochum) Recht als Kultur (Universität Bonn) Politische Kulturen der Weltgesellschaft/Centre for Global Cooperation Research (Universität Duisburg-Essen)
Buchreihe
Work in Global and Historical Perspective The series Work in Global and Historical Perspective is edited by Andreas Eckert (Humboldt University of Berlin), Mahua Sarkar (Binghamton University), Sidney Chalhoub (Harvard University), Dmitri van den Bersselaar (Leipzig University), and Christian De Vito (University of Bonn). Work in Global and Historical Perspective is an interdisciplinary series that welcomes scholarship on work/labour that engages a historical perspective in and from any part of the world. The series advocates a definition of work/labour that is broad, and especially encourages contributions that explore interconnections across political and geographic frontiers, time frames, disciplinary boundaries, as well as conceptual divisions among various forms of commodified work, and between work and ‘non-work’.
Nitin Varma Edited by Andreas Eckert GLOBAL HISTORIES OF WORK COOLIES OF CAPITALISM Assam Tea and the Making of Coolie Labour Volume Volume , ca. S. , ca. S. HC € . [D] / HC € . [D] / RRP US $ . / RRP US $ . / RRP £ . RRP £ . ISBN ---- ISBN ----
https://doi.org/10.1515/9783110618105-007
Edited by Mahua Sarkar WORK OUT OF PLACE
Volume , ca. S. HC € . [D] / RRP US $ . / RRP £ . ISBN ----
Work in Global and Historical Perspective
Edited by Felicitas Hentschke, James Williams TO BE AT HOME House, Work, and Self in the Modern World Volume Volume , approx. pp., fig. , pp., c images. HC € . [D] / HC € [D] . / RRP US $ . / RRP US $ . / RRP £ . RRP £ .* ISBN ---- ISBN ---- Adrian Grama LABORING ALONG Industrial Workers and the Making of Postwar Romania
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Ju Li ENDURING CHANGE The Labor and Social History of One Third-front Industrial Complex in China Volume , approx. pp., fig. HC € . [D] / RRP US $ . / RRP £ . ISBN ----
re:work Impressionen 3
re:work Impressionen 4