Die Berliner Schule im globalen Kontext: Ein transnationales Arthouse-Kino 9783839452486

Die Berliner Schule gilt als die wichtigste Strömung im deutschen Kino seit den 1970er Jahren. Gleichzeitig kann sie als

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German Pages 414 Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Danksagungen
Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus
1 Die Berliner Schule und Filme von Frauen
2 Gender, Genre und die (Un-)Möglichkeit der romantischen Liebe
3 Reflexionen über das Gegenkino und (nicht-)nationale Strategien
4 »Das Leben ist voller schwieriger Entscheidungen«
5 Kino als Digest, Kino als Verdauung
6 Daheim gibt es nicht
7 Die Kräfte des Milieus
8 Neue Globale Wellen
9 Gegabelte Zeit
10 Jenseits von Berlin
11 Die Politik der Berliner Schule und darüber hinaus
12 Bilder des Laufens in den Filmen von Benjamin Heisenberg
13 Von früh an Gespenster
14 Die Entstehung des Jetzt
15 Auf dem Weg zu einer Ästhetik der Weltlosigkeit
Mitwirkende
Personen- und Filmindex
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Die Berliner Schule im globalen Kontext: Ein transnationales Arthouse-Kino
 9783839452486

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Marco Abel, Jaimey Fisher (Hg.) Die Berliner Schule im globalen Kontext

Film

Marco Abel (Dr. phil.), geb. 1969, ist Professor für Anglistik und Filmwissenschaft an der University of Nebraska, USA. Seine Monographie The Counter-Cinema of the Berlin School (Camden House, 2013) wurde von der German Studies Association mit dem DAAD Preis für das beste Buch ausgezeichnet (2014). Im Herbst 2019 war er Dirk Ippen Fellow an der American Academy in Berlin. Jaimey Fisher (Dr. phil.), geb. 1970, ist Professor für Germanistik und Filmwissenschaft an der University of California, Davis, USA, wo er auch das UC Davis Humanities Institute leitet. Er studierte an der Stanford University, promovierte an der Cornell University und war Juniorprofessor an der Tulane University in New Orleans. Neben mehreren Stipendien des DAAD bezog er das Bundeskanzler-Stipendium der Alexander-von-Humboldt Stiftung.

Marco Abel, Jaimey Fisher (Hg.)

Die Berliner Schule im globalen Kontext Ein transnationales Arthouse-Kino Aus dem Englischen übersetzt von Valentina Djordjevic

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Übersetzung: »Die Berliner Schule im globalen Kontext. Ein transnationales Arthouse-Kino«, herausgegeben von Marco Abel und Jaimey Fisher. Erstveröffentlichung unter dem Titel »The Berlin School and Its Global Contexts«. Erschienen bei Wayne State University Press, Detroit © 2018 (Alle Rechte vorbehalten). Ins Deutsche übersetzt mit freundlicher Genehmigung von Wayne State University Press. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Angela Schanelecs: »Der traumhafte Weg« Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5248-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5248-6 https://doi.org/10.14361/9783839452486 Buchreihen-ISSN: 2702-9247 Buchreihen-eISSN: 2703-0466 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagungen ....................................................................... 7 Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus Marco Abel und Jaimey Fisher............................................................. 9

1

Die Berliner Schule und Filme von Frauen Hester Baer .......................................................................53

2

Gender, Genre und die (Un-)Möglichkeit der romantischen Liebe Derek Cianfrances Blue Valentine (2010) und Maren Ades Alle anderen (2009) Lisa Haegele ...................................................................... 77

3

Reflexionen über das Gegenkino und (nicht-)nationale Strategien Der Neue Österreichische Film und die Berliner Schule Robert Dassanowsky ............................................................... 97

4

»Das Leben ist voller schwieriger Entscheidungen« Bilder des Kampfes für ein besseres Leben in Henner Wincklers Lucy und Kelly Reichardts Wendy and Lucy Will Fech ..........................................................................121

5

Kino als Digest, Kino als Verdauung Corneliu Porumboius Metabolism (2013) und das Kino der Berliner Schule Alice Bardan ..................................................................... 145

6

Daheim gibt es nicht Christian Petzold, die Berliner Schule und Nuri Bilge Ceylan Ira Jaffe ......................................................................... 167

7

Die Kräfte des Milieus Angela Schanelecs Marseille und das Erbe von Michelangelo Antonioni Inga Pollmann .................................................................... 189

8

Neue Globale Wellen Abbas Kiarostami und die Berliner Schule Roger F. Cook .................................................................... 213

9

Gegabelte Zeit Ulrich Köhler/Apichatpong Weerasethakul Michael Sicinski ..................................................................235

10

Jenseits von Berlin Die Berliner Schule und die Ästhetik der Fadheit Lutz Koepnick .................................................................... 257

11

Die Politik der Berliner Schule und darüber hinaus Terrorismus, Verweigerung und Trägheit Chris Homewood.................................................................. 281

12

Bilder des Laufens in den Filmen von Benjamin Heisenberg Französische Tendenzen Brad Prager ..................................................................... 305

13

Von früh an Gespenster Jugend, Arbeit und der intensivierte Körper in den Arbeiten von Christian Petzold und den Dardenne-Brüdern Jaimey Fisher ....................................................................327

14

Die Entstehung des Jetzt New-Wave-Filme in Berlin und Buenos Aires Gerd Gemünden................................................................... 351

15

Auf dem Weg zu einer Ästhetik der Weltlosigkeit Béla Tarr und die Berliner Schule Roland Végső.....................................................................373

Mitwirkende ....................................................................... 393 Personen- und Filmindex ......................................................... 400

Danksagungen

Danksagung für die englische Edition Die Idee für dieses Buch entstand schon vor einiger Zeit – um die Jahre 2010–11, als wir beide an unseren jeweiligen Monografien arbeiteten: Marco Abel über die Berliner Schule als Ganzes und Jaimey Fisher über Christian Petzold. Kurz darauf beschlossen wir, uns konkreter mit der aufkommenden kritischen Auseinandersetzung um die Berliner Schule zu beschäftigen, vor allem mit der Frage, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich für die Filme dieser Gruppe interessieren, mit ihnen umgehen und wie die Filme als »gute Objekte« einer Filmwissenschaft des deutschen Films fungieren. Diese Auseinandersetzung mündete 2013 in einem Panel mit dem Titel »Good Objects and Their Discontents: The Berlin School and the Current State of German Film Studies« im Rahmen der Konferenz der Modern Language Association, das wir organisiert hatten und an dem auch Lutz Koepnick und Nora Alter teilnahmen. Wir danken beiden für ihre anregenden und provokanten Thesen, die uns dazu gebracht haben, dieses Projekt tatsächlich weiterzuverfolgen. »Tatsächlich« geschah dann im Jahr 2014, als wir diesen Band dem Verlag der Wayne State University anboten und anfingen, um Beiträge zu bitten. Auf der Konferenz der German Studies Association 2015, in deren Rahmen wir einen dreitägigen Workshop zum Thema »Die Berliner Schule im globalen Kontext« organisierten, hatten wir dann die Gelegenheit, Ideen für eine ganze Reihe von Essays zu entwickeln, die schließlich in diesen Band aufgenommen wurden. Wir danken jedoch allen Kollegen und Kolleginnen, die an diesem Workshop teilgenommen haben; auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die hier nicht vertreten sind, hatten einen maßgeblichen Einfluss an der endgültigen Gestaltung. Darüber hinaus möchten wir ausdrücklich Will Mahan dafür danken, dass er uns bei der Formatierung der Beiträge geholfen hat, sowie Annie Martin von der Wayne State University Press für die großartige Unterstützung, die sie diesem Projekt angedeihen ließ. Wir danken auch Barry Keith Grant, dem Herausgeber der Reihe »Contemporary Approaches to Film and Media« an der Wayne State University, für seine sachkundige Anleitung. Ein großer Dank geht auch an alle unsere Kolleginnen und Kollegen – viele von ihnen gute Freunde –, die uns über die Jahre

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Die Berliner Schule im globalen Kontext

als unermüdliche Gesprächspartner über die Berliner Schule zur Verfügung standen, sei es auf Konferenzen und speziell organisierten Workshops oder in privaten Gesprächen, indem sie uns angeboten haben, Materialien zu lesen und Feedback zu den Rohfassungen unserer Texte zu geben. Nicht zuletzt möchten wir uns bei unseren Autorinnen und Autoren für ihre hervorragende Arbeit bedanken: Die Berliner Schule im globalen Kontext: Ein transnationales Arthouse-Kino würde es ohne Euch nicht geben!

Danksagung für die deutsche Edition Wir bedanken uns sehr herzlich bei Krystian Woznicki, der im Sommer 2018 als erster an uns herangetreten ist, um uns die Idee einer Übersetzung von The Berlin School and Its Global Contexts vorzuschlagen. Mit seiner großzügigen Hilfe kamen wir dann mit Jakob Horstmann vom transcript Verlag in Verbindung, der seitdem mit großer Kompetenz dieses Übersetzungsprojekt betreut hat. Wir bedanken uns beim Verlag der Wayne State University, der uns erlaubt hat, dieses Übersetzungsprojekt mit dem transcript Verlag auf die Beine zu stellen. Des Weiteren bedanken wir uns auch für die finanzielle Unterstützung, die unsere Arbeitgeber uns gewährleistet haben. Im speziellen bedanken wir uns bei beim College of Arts and Sciences der University of Nebraska – Lincoln für einen ENHANCE Grant und bei dem College of Letters & Sciences der University of California, Davis für seine großzügige Unterstützung dieser Übersetzung. Unser größter Dank geht natürlich an Valie Djordjević für, wie wir finden, eine äußerst gelungene Übersetzung.

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus Marco Abel und Jaimey Fisher

Ende 2013 zeigte das Museum of Modern Art (MoMA) in New York City eine große Ausstellung mit Werken zeitgenössischer deutscher Regisseure und Regisseurinnen, die mit der sogenannten Berliner Schule verbunden sind. Angesichts der überragenden Bedeutung, die dem MoMA als kultureller Institution weltweit zukommt, kann man diese zweiwöchige Veranstaltung als einen Meilenstein in der Geschichte dieser Filmbewegung ansehen. Dass das MoMA genau zu dieser Zeit beschlossen hatte, beträchtliche Ressourcen einzusetzen, um die Werke dieser Filmemacher und Filmemacherinnen zu präsentieren, war jedoch kein Zufall. In den vorangegangenen zehn Jahren wurden die Filme der Berliner Schule weltweit zunehmend anerkannt und gefeiert. Das belegen die zahlreichen Retrospektiven in Ländern wie England, Griechenland, Portugal, der Schweiz, Brasilien, Kanada und den Vereinigten Staaten; Sondervorführungen und Gastauftritte bei den großen Filmfestivals (Cannes, Venedig, Berlin, Toronto, New York, Locarno, San Sebastián, Rom) sowie die zunehmende Aufmerksamkeit, die die Filmemacher/-innen sowohl bei Filmwissenschaftlern und Filmwissenschaftlerinnen in Nordamerika und Europa (insbesondere, aber nicht nur, in Frankreich, Großbritannien und Spanien) als auch in der breiteren internationalen Gemeinschaft der Filmfans erfahren haben. Letzteres lässt sich etwa daran festmachen, dass Filme der Berliner Schule auf den Titelseiten bekannter Filmzeitschriften präsentiert wurden, zum Beispiel von der renommierten kanadischen Filmzeitschrift Cinema Scope, die Christian Petzolds Phoenix (2014) (61 – Winter 2014) und Maren Ades Toni Erdmann (2016) (67 – Sommer 2016) auf dem Cover zeigte, oder dem US-amerikanischen Magazin Film Comment, das ebenfalls Ades weithin gefeierten Film bejubelte, den die Filmkritikerin Amy Taubin als »zeitgenössisches Äquivalent zu Jean Renoirs La règle du jeu« bezeichnet hat (Taubin 2016: 32). Sowohl die Ausstellung im MoMA als auch die wachsende Aufmerksamkeit der breiteren filmwissenschaftlichen und cinephilen Gemeinschaft auf der ganzen Welt waren für uns wichtige Anstöße dieses Buch zusammenzustellen. Diese Anthologie von fünfzehn filmwissenschaftlichen Aufsätzen analysiert die Berliner Schule daraufhin, wie sie vom internationalen Film beeinflusst wurde und wie sie wiederum auf ihn zurückwirkt – einerseits um diese bedeutende Bewegung des

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Marco Abel und Jaimey Fisher

internationalen Kunstkinos zu beschreiben, andererseits um sie in einen Kontext zu stellen, der das internationale Engagement der europäischen und insbesondere der deutschen Filmwissenschaft vorantreibt. (Tatsächlich war die Rolle der Berliner Schule für die deutsche bzw. germanistische Filmwissenschaft ein weiterer wichtiger Anstoß für unsere Arbeit, wie wir im nächsten Abschnitt erörtern werden.) Auch wenn unser Sammelband natürlich auf den bereits veröffentlichten Studien über die Berliner Schule aufbaut – Marco Abels The Counter-Cinema of the Berlin School (Camden House, 2013; Gewinner des GSA Book Prize 2014), das Berlin School Glossary: An ABC of the New Wave in German Cinema herausgegeben von Roger F. Cook, Lutz P. Koepnick, Kristin Kopp und Brad Prager (Intellect Books, 2013), der Katalog der MoMA-Ausstellung The Berlin School: Films from the Berliner Schule (2013) und Jaimey Fishers Christian Petzold (University of Illinois Press, 2013) –, lösen wir uns bewusst davon. Die vier genannten Untersuchungen beleuchten die Berliner Schule vor allem als deutsches Phänomen – als eine Gruppe von Filmen, die hauptsächlich im Kontext der deutschen (Film-)Geschichte und Kultur zu betrachten sind. Dagegen versucht der vorliegende Sammelband, über eine solche eng gefasste, nationale Betrachtungsweise hinauszugehen, und die Debatte über den wohl bedeutendsten Moment des deutschen Filmschaffens seit dem Neuen Deutschen Film der 1970er Jahre zu öffnen und unter einem breiter gefächerten, globaleren Blickwinkel zu fassen. Ein solcher Ansatz kann unserer Meinung nach die Berliner Schule zu einer Fallstudie für das zeitgenössische Kunstkino in der ganzen Welt machen und grundlegend aufzeigen, wo das internationale Kunstkino in diesem bestimmten historischen Moment steht, in dem die Digitalisierung der Produktion, des Vertriebs und der Rezeption das Filmwesen als Ganzen verändert. Unser Sammelband ist nicht nur von den jüngsten Tendenzen in der Filmwissenschaft (den »transnational turn«) beeinflusst, sondern auch von Christoph Hochhäusler, dem vielleicht leidenschaftlichsten Wortführer der Berliner Schule, der in seinem Beitrag zum MoMA-Katalog darauf besteht, dass »die Berliner Schule, trotz des Namens auf dem Etikett, kein spezifisch deutsches Phänomen ist. Überall auf der Welt erkunden Filmemacherinnen und Filmemacher verwandtes Terrain. In Österreich (Jessica Hausner), in Argentinien (Lisandro Alonso, Lucrecia Martel), in den Vereinigten Staaten (Lance Hammer, Kelly Reichardt), in Japan (Naomie Kawase, Hirokazu Kore-eda) und an vielen anderen Orten« (Hochhäusler 2013: 25). Der vorliegende Band beschäftigt sich mit einigen der genannten, aber auch anderen Filmemacherinnen und Filmemachern aus der ganzen Welt, darunter So Yong Kim (Korea/USA, Text von Hester Baer); Derek Cianfrance (USA, Text von Lisa Haegele); Jessica Hausner (Österreich, Text von Robert Dassanowsky); Kelly Reichardt (USA, Text von Will Fech); Corneliu Porumboiu (Rumänien, Text von Alice Bardan); Nuri Bilge Ceylan (Türkei, Text von Ira Jaffe); Abbas Kiarostami (Iran, Text von Roger Cook); Apichatpong Weerasethakul (Thailand, Text von Michael Si-

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

cinski); Tsai Ming-liang (Taiwan, Text von Lutz Koepnick); Steve McQueen (Großbritannien, Text von Chris Homewood); die Dardenne-Brüder (Belgien, Text von Jaimey Fisher); Lisandro Alonso und Lucrecia Martel (Argentinien, Text von Gerd Gemünden) und Béla Tarr (Ungarn, Text von Roland Vésgő). Zwei weitere Beiträge zeichnen die Verbindungen zwischen den Filmen der Berliner Schule und einigen ihrer Vorläufer im internationalen Kunstkino nach: Michelangelo Antonioni (Text von Inga Pollmann) und François Truffaut und Tony Richardson (Text von Brad Prager). Da sich die Regisseurinnen und Regisseure der Berliner Schule häufig auf diese zeitgenössischen Filmemacher und auch auf eine Reihe »klassischer« Regisseurinnen aus aller Welt beziehen – viele davon tauchen in der eng mit der Schule verbundenen Zeitschrift Revolver auf –, hoffen wir, dass die Auseinandersetzung mit einem so mannigfaltigen Werkspektrum dazu führt, dass sich unsere Auffassung der Berliner Schule neu ausrichtet und ihre Beziehung zum internationalen Film mehr Aufmerksamkeit erhält als bisher. Zusammengefasst versucht Die Berliner Schule im globalen Kontext: Ein transnationales Arthouse-Kino das deutschsprachige Kino wieder stärker in die Debatten über internationales und transnationales Kino einzubinden. Da die überwiegende Mehrheit der Filme auf DVD mit englischen Untertiteln (teilweise auch in weiteren Sprachen) erhältlich ist und die Veröffentlichungen von vier vielbeachteten Büchern über die Gruppe in den letzten Jahren dafür gesorgt haben, dass ein lebhafter kritischer Diskurs entstanden ist und der Korpus an wissenschaftlicher Literatur1 zu den Filmemachern und Filmemacherinnen öffentliche Aufmerksamkeit genießt, sind wir der Meinung, dass dies der perfekte Zeitpunkt ist, um neue Wege zu beschreiten und bei der Untersuchung dieser spannenden Filmbewegung neuen Stimmen Gehör zu verschaffen. Diese neuen Stimmen steuern auf der einen Seite ihr erhebliches Expertenwissen über das globale Kino zum Gespräch bei und bereichern damit unser Verständnis der Berliner Schule. In einem globaleren Sinne tragen sie gleichzeitig dazu bei, ein differenzierteres Verständnis des Kunstkinos auf der ganzen Welt zu entwickeln.

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Zu diesem wachsenden Korpus gesellt sich ein Sonderdossier mit Aufsätzen über die Filme von Christian Petzold, das wir für Senses of Cinema, einem seit langem bestehenden OnlineFilmmagazin aus Melbourne, Australien, herausgegeben haben. Unser Dossier besteht aus neun Beiträgen und ist in der September-Ausgabe 2017 des Magazins erschienen. Es sei auch noch Olivia Landrys Movement and Performance in Berlin School Cinema (University of Indiana Press, 2020) erwähnt, ein wichtiger Beitrag, der nach der Veröffentlichung unseres Buchs im Jahr 2018 erschienen ist.

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Marco Abel und Jaimey Fisher

»Die Berliner Schule«: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Die Berliner Schule nahm ihren zaghaften Anfang zu Beginn der 1990er Jahre, als die erste Generation der Gruppe – Christian Petzold, Angela Schanelec und Thomas Arslan – an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin (dffb) unter Harun Farocki und Hartmut Bitomsky studierte. Zu Beginn der Zweitausender Jahre, als einige deutsche Filmkritiker/-innen den Begriff »Berliner Schule« prägten, entwickelte sich zwischen diesen Filmemachern und Filmemacherinnen und ihren Filmen nach und nach ein gewisser ästhetischer und intellektueller Zusammenhalt. Das Label »Berliner Schule« umfasst inzwischen nicht nur Regisseure und Regisseurinnen dieser ersten Generation, sondern auch eine neue, etwas jüngere Gruppe von Filmemachern und Filmemacherinnen wie Christoph Hochhäusler, Maren Ade, Benjamin Heisenberg, Ulrich Köhler, Valeska Grisebach, Henner Winckler und Maria Speth. Viele dieser Regisseure und Regisseurinnen gehören zum Kreis um die Filmzeitschrift Revolver – die von Hochhäusler und Heisenberg mitbegründet wurde und weiterhin von ihnen in Zusammenarbeit mit anderen Filmemachern herausgegeben wird. Die Zeitschrift hat weiteres interessantes Material für diesen Band geliefert. Viele ihrer Texte und Interviews beschäftigen sich mit den führenden Persönlichkeiten des zeitgenössischen internationalen Films – darunter auch viele der oben genannten Regisseure und Regisseurinnen – und unterstreichen damit das Interesse und die Zugehörigkeit der Berliner Schule zu einem internationalen Kino. Unabhängig der sehr realen Auswirkungen des Begriffs »Berliner Schule« in der Vergangenheit und Gegenwart – das schiere institutionelle Gewicht der MoMAAusstellung hat den Status der Berliner Schule in der Filmgeschichte unwiderruflich gesichert –, eine (vielleicht unvermeidliche) Frage begleitet sie jetzt schon seit mehr als einem Jahrzehnt. Sie besteht darin, ob sie jemals als Schule existiert hat oder nicht. Wir wollen die Debatte darüber, was die Berliner Schule ist, oder ob sie noch existiert oder überhaupt jemals existiert hat, nicht erneut aufrollen, da zu diesem Thema bereits viel Arbeit geleistet wurde.2 Da aber aus dem Titel unseres Bandes – und seinem Kernfokus – klar hervorgeht, dass wir eine Existenz der Berliner Schule annehmen, wollen wir uns mit dem scheinbar offensichtlichsten Einwand gegen das Etikett befassen: Ob sie je eine »Schule« ist oder war. Was ist also eine Schule? Eine naheliegende Eigenschaft einer Schule ist, dass sie Lehrer und Schüler hat – was im Zusammenhang mit der Berliner Schule die Frage aufwirft, wer die Lehrer und wer die Schüler sind. Während man bei einzelnen Regisseurinnen oder

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Für eine umfassende Darstellung dessen, was die Berliner Schule »ist« (oder war), siehe insbesondere die Einleitung zu The Counter-Cinema of the Berlin School (Abel 2013), die auf einem früheren, in Cineaste veröffentlichten Aufsatz basiert. Zur Frage, ob die Berliner Schule noch existiert oder nicht, siehe Abel 2019.

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

Regisseuren auf den einen oder den anderen Lehrer verweisen könnte – Farocki und Bitomsky für die erste Generation, die Experimentalfilmer Rüdiger Neumann und Klaus Wyborny für Köhler und Winckler oder die zeitgenössischen österreichischen Filmemacher Michael Haneke und Ulrich Seidl für Grisebach –, wäre es unmöglich, einen gemeinsamen »Schulleiter« für alle zu finden. Wie bereits erwähnt, haben die Regisseure und Regisseurinnen, die in diese Schublade gesteckt wurden, die als Kritikererfindung begann, nicht einmal die gleichen Filmschulen besucht: Zwar studierten Petzold, Schanelec und Arslan, wie eingangs schon erwähnt, zusammen an der dffb in Berlin; Hochhäusler und Heisenberg allerdings trafen sich als Studierende an der Hochschule für Film und Fernsehen München, wo auch Ade immatrikuliert war;3 Köhler und Winckler lernten sich als Studierende an der Hochschule für bildende Künste Hamburg kennen; Grisebach studierte an der Filmakademie Wien zusammen mit einigen Filmemacherinnen wie Barbara Albert und Jessica Hausner, die mit der österreichischen Filmproduktionsgesellschaft Coop 99 verbunden sind; und Speth besuchte die Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg »Konrad Wolf« (ab 2014 Filmuniversität Babelsberg »Konrad Wolf«). Mit »Schule« kann also sicherlich keine real existierende physische Institution wie die dffb gemeint sein, und ebenfalls sollte der Begriff nicht als Ausdruck einer gemeinsamen intellektuellen Herkunft oder Entwicklung verstanden werden. Wenn wir uns jedoch genau anschauen, wie Schulen aus der Perspektive derjenigen, die sie besuchen, tatsächlich funktionieren, so können wir feststellen, dass sie in den seltensten Fällen homogen sind und stattdessen von Bestrebungen gekennzeichnet sind, die in verschiedene Richtungen weisen: Die Lernenden besuchen zeitweise gemeinsam die gleichen Klassen, aber sie finden sich auch mit anderen in neuen Klassen zusammen. Eine andere Möglichkeit, den Begriff »Schule« begrifflich zu fassen, würde also darin bestehen, die transversalen Bewegungen über die gesamte Einrichtung hinweg zu beobachten – Bewegungen, die einerseits die Lernenden an verschiedenen Punkten, in verschiedenen Kontexten und zu verschiedenen Zeiten zusammenbringen, um sie danach wieder zu trennen, Verbindungslinien abschneiden, Disjunktionen erzeugen, aber nur, um neue Verbindungen entstehen zu lassen, mit anderen Lernenden, in anderen Kontexten, zu anderen Zeiten. Man mag irgendwann wieder mit der »ursprünglichen« Gruppe zusammenkommen, aber die Beziehungen zwischen den Teilnehmenden werden sich im Vergleich zur Vergangenheit qualitativ verändert haben – ob all der neuen Einsichten, Erkenntnisse, Tendenzen, Vorlieben und Neigungen, die sich seit dem Moment der Trennung und in der Zeit entwickelt haben, in der man mit einer neuen Gruppe von Lernenden verbunden war. Eine Schule muss also nicht zwingend 3

Zu der Zeit, als die beiden Männer sich kennenlernten und zusammenzuarbeiten begannen, war Ade allerdings noch nicht dort eingeschrieben.

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Marco Abel und Jaimey Fisher

so zu verstehen sein, dass sie die Unterschiede zwischen den Lernenden einebnet, die für ihre Beziehungen untereinander so wesentlich zu sein scheinen. Dass die Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule häufig die Befürchtung geäußert haben, dass dieses Label vor allem dazu diente, ihre Individualität als Filmemacher und Filmemacherinnen und die Besonderheit ihrer Filme einzuebnen, ist natürlich nachvollziehbar und oft sogar gerechtfertigt, dann nämlich, wenn die Filme lediglich als Beispiel für die Berliner Schule als Ganzes diskutiert werden, und nicht als singuläre Ausdrucksformen, die den »Schulhof« auf ihre eigene Art durchlaufen haben. Wenn wir jedoch die immanente Logik dessen anerkennen, was eine »Schule« ist und wie sie funktioniert – so wie wir sie gerade skizziert haben –, können wir diese Angst vor der Ent-Individuation einfach als negativen Ausdruck dessen betrachten, was in Wirklichkeit eine positive Logik von Affinitäten ist, die die einzelnen Körper, die den Schulhof bevölkern, miteinander verbindet.4 Schließlich ist die Schulzeit oft vom Wunsch bestimmt, dazuzugehören, den eigenen Platz in der Gemeinschaft zu finden; gleichzeitig ist sie vom starken Verlangen geprägt, die eigene Individualität geltend zu machen, herauszufinden, wer man eigentlich ist. Unsere These ist, dass im Hinblick auf die Berliner Schule und die damit verbundenen Regisseure und Regisseurinnen der Wunsch, ein freundschaftliches Verhältnis zueinander zu pflegen – nicht nur aufgrund wahrgenommener intellektueller und ästhetischer Neigungen, sondern natürlich auch wegen des gemeinsamen institutionellen Kontexts (der deutschen Filmindustrie und des Status’ des deutschsprachigen Films innerhalb des internationalen Films) –, immer dem Begehren untergeordnet war, den eigenen Platz unter den eigenen Bedingungen zu etablieren, sei es auf dem Schulhof der Berliner Schule oder dem des internationalen Kinos. Meistens greifen Filmwissenschaftlerinnen und Kritiker darauf zurück, die Berliner Schule auf rein stilistischer Ebene zu beschreiben, wobei sie die Verwendung von bestimmten formalen Mitteln in den betreffenden Filmen betonen: »[L]ange Einstellungen, der Einsatz von Totalen, kühl präzise Bildkomposition, eine gewisse Besonnenheit des filmischen Tempos, der spärliche Gebrauch nichtdiegetischer Musik, die poetische Verwendung von diegetischem Ton und – sehr häufig – der Einsatz von unbekannten Darstellern oder sogar Laien, die anscheinend danach ausgewählt wurden, wer sie in der Realität ›sind‹, statt danach, welche darstellerischen Fähigkeiten sie haben«, wie Marco Abel in seinem frühesten Versuch schrieb, einen kritischen Rahmen für das bessere Verständnis dieser Filme zu schaffen (Abel 2008b). Wir würden weiterhin an dieser stilistischen Beschreibung der Filme festhalten, da sie eine angemessene Antwort gibt, wenn 4

Für einige Beispiele von Regisseuren und Regisseurinnen der Berliner Schule, die ihre Abneigung oder zumindest ihr Unbehagen gegenüber dem Label zum Ausdruck bringen, siehe Kapitel 4 von Abels The Counter-Cinema of the Berlin School (2013).

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

jemand wissen will, wie diese Filme aussehen oder sich »anfühlen«. Und obwohl nur wenige oder gar keine der Filme, die die Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule gedreht haben, jede einzelne dieser Stilkomponenten verwenden, nutzen viele, wenn nicht sogar die meisten von ihnen, mehr als eine an zentraler Stelle. So charakterisierte Hochhäusler beispielsweise die Filme von Grisebach und Ade, die häufig auf lange Einstellungen zurückgreifen, sich im Großen und Ganzen weigern, nicht-diegetischen Sound zu verwenden, und die Handlungen ihrer Filme nur gemächlich fortschreiten lassen, als »zarten Realismus«.5 Auch Köhler hat betont, dass Ades Filme insofern etwas aus dem üblichen Berliner-Schule-Schema herausfallen, als sie »mehr an Psychologie und weniger an der Sprache des Kinos interessiert« zu sein scheinen als viele andere Filme der Berliner Schule (zitiert in Suchsland 2011), die in der Regel den psychologisierenden Erzählweisen, die sowohl im Mainstream als auch im Independent-Kino vorherrschen, misstrauisch gegenüber stehen. In dieser Hinsicht drückt Petzolds Behauptung, dass ihm das »Kino der Identifikation auf die Nerven« geht, ein Gefühl aus, das viele der Filmemacher und Filmemacherinnen der Gruppe verbindet (zitiert in Abel 2008a). Doch gerade Petzold nutzt viele der ästhetischen Merkmale, die die Berliner Schule anscheinend definieren, auf ungewöhnliche Weise, denn im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen und Kolleginnen arbeiten seine Filme explizit mit und in der Tradition des Genrekinos, wie Fisher argumentiert hat (Fisher 2013). Petzolds Filme haben in dieser Hinsicht viel mit denen Heisenbergs gemeinsam, dessen drei bisherige Filme ebenfalls produktiv durch die Brille des Genrekinos betrachtet werden können – sei es die Kumpelkomödie in seinem jüngsten Film Über-Ich und Du (2014), der Thriller in seinem Debüt Schläfer (2005) oder das Untergenre des Bankräuber-Films (Heist Movie), für das Der Räuber (2010) ein gutes Beispiel ist. Petzolds und Heisenbergs Post-Genre-Versuche unterscheiden sich grundlegend von der Arbeitsweise von Petzolds ehemaliger dffb-Kommilitonin Angela Schanelec, die mit ihren Filmen so weit von Genrekino-Attitüden entfernt ist wie sonst niemand im Werkkosmos der Berliner Schule.6 Ihre Filme wiederum zeigen – gemeinsam mit denen Arslans – den vielleicht stärksten französischen Einfluss, und das nicht nur, weil viele von ihnen zumindest teilweise in Frankreich spielen, etwa Plätze in den Städten (1998), Mein langsames Leben (2001), Marseille (2004) und Orly (2010). Sowohl Schanelec als auch Arslan ließen sich – vor allem in ihren frühen Werken – von der

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Aus einem Interview, dass Marco Abel mit Christoph Hochhäusler 2006 führte: »Das Seltene und Kostbare« auf Filmtext.com (Mai 2006). Original offline, zugänglich über Archive.org: https://web.archive.org/web/20060820021349/www.filmtext.com/start.jsp?mode=3 &thema=I&key=33. Vgl. auch Abel 2007. Orly (2010) könnte vielleicht als Beitrag zum Subgenre »Flughafenfilm« durchgehen.

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Marco Abel und Jaimey Fisher

zweiten Generation der französischen Nouvelle Vague inspirieren, etwa von Jean Eustache und Maurice Pialat, aber auch von jemandem wie Robert Bresson.7 Henner Wincklers Filme hingegen könnte man in dem gemeinsamen Werkkorpus, der sonst nur an seinen Rändern als der realistischen Tradition zugehörig beschrieben wird, als die »realistischsten« ansehen.8 Seine Filme arbeiten mit Laiendarstellern, setzen auf unvermittelte Intimität und eine quasi-dokumentarische Darstellung des Alltagslebens, und zeichnen sich vor allem durch die unbeirrbare Weigerung aus, seine Protagonisten und Protagonistinnen dem Publikum zur Beurteilung auszuliefern. Dadurch finden seine beiden Filme Klassenfahrt (2003) und Lucy (2006) den größten Nachhall in Grisebachs Mein Stern (2001) und Sehnsucht (2006), aber auch in denen von Köhler, auch wenn Köhlers drei Filme in einem anderen – nämlich in einem gut-bürgerlichen und wohlhabenden – sozioökonomischen Milieu spielen, während Wincklers Filme in der unteren Mittelklasse und Arbeiterschicht angesiedelt sind.9 Darüber hinaus dürften Köhlers Bungalow (2002), Montag kommen die Fenster (Montag, 2006) und Schlafkrankheit (2011) die filmische Technik der langen Einstellung weiter auf die Spitze getrieben haben als alle anderen Filme der Berliner Schule. Ebenso charakteristisch ist Köhlers Tendenz, dem Publikum die Erfüllung des gängigen Wunsches nach (psychologisierenden) Erklärungen für die Figuren eines Films zu verweigern – das geht so weit, dass die scheinbar realistische Inszenierung so übersteigert wird, dass sie fast unmerklich in etwas Fremdes, Geheimnisvolles umschlägt. Diese besondere Qualität verbindet seine Filme vor allem mit denen des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul, der einer der Haupteinflüsse für Köhler ist. Auch Petzolds Filme konfrontieren ihr Publikum bisweilen mit subtilen Einbrüchen von »Jenseitigkeit« – etwa durch das Krächzen einer Krähe oder dem auffallend lauten Rauschen des Windes etwa in Yella (2007) oder Barbara (2012). Aber vielleicht ist es Hochhäusler, der die Erwartungen seines Publikums hinsichtlich ihrer Fähigkeit, sich den Film narrativ zu erschließen, gezielt unterläuft. Hochhäusler strukturiert seine Erzählungen absichtlich auf eine Weise, dass die Zuschauer/-innen selbst die »dichte Beschreibung« (den narrativen Kontext) des Films 7

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Arslans Filme selbst sind jedoch nicht frei von Genre-Einflüssen. Gold ist zum Beispiel ein Neo-Western, Im Schatten (2010) ein Policier, der an die klassischen Polizeithriller Jean-Pierre Melvilles erinnert, und selbst sein früher Film Dealer (1999) bezieht sich auf Bressons frühen Krimi-Klassiker Pickpocket (1959). Und Helle Nächte (2017) verwendet Elemente des Roadmovies. Wir sollten allerdings vorsichtig sein, Wincklers Filme in die Schublade des realistischen Films zu stecken, insbesondere in die des »repräsentationalen Realismus«, wie Abel in seinem Aufsatz in Senses of Cinema deutlich macht. Vgl. Abel 2015. 2019 kam Wincklers dritter Film Das freiwillige Jahr heraus, den er zusammen mit seinem langjährigen Freund Ulrich Köhler geschrieben und gefilmt hat. Für Köhler war diese Zusammenarbeit sein fünfter Spielfilm, da er vorher noch In My Room (2018) herausgebracht hat.

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

erschaffen oder – wahrscheinlicher – daran scheitern müssen. Dadurch werden sie allerdings eher mit ihrem eigenen Begehren konfrontiert, als dass sie ein echtes Verständnis der Figuren oder der Erzählung des Films erreichen. Es ist daher nur folgerichtig, dass er sich irgendwann der Tradition des Verschwörungsthrillers zuwenden würde, wie in seinem jüngsten Werk Die Lügen der Sieger (2014), das noch mehr als sein Vorgänger Unter dir die Stadt (2010) »die Wirtschaft ins Visier nimmt, die dank eines sorgfältig, fast wissenschaftlich vervollkommneten Einflussnetzes die Regierungspolitik diktiert« (Weissberg 2014).10 Wie diese Zusammenfassung einiger der wichtigsten Tendenzen in den Filmen der Berliner Schule zeigt, wird diese »Schule« tatsächlich mindestens genauso durch die Unterschiede zwischen den individuellen Interessen, ästhetischen Vorlieben und aktuellen Anliegen der Filmemacher/-innen definiert wie durch etwaige Ähnlichkeiten. Und doch können wir daran auch die Schnittpunkte sehen, an denen ihre filmischen Wege aufeinandertreffen – die Art und Weise, wie ihre Filme den Schulhof der Berliner Schule durchschreiten, Verbindungen herstellen und Affinitäten ausdrücken, aber auch, wie diese Affinitäten und Kreuzungen selbst zu Knoten werden, die schließlich bei anderen Filmemachern und Filmemacherinnen der Gruppe ein Echo finden. Egal, wie unterschiedlich der jeweilige Auteur diese filmischen Techniken einsetzt, die von der Kritik (zu Recht oder Unrecht) als »Look« der Berliner Schule kodifiziert wurden: Eine ihrer Auswirkung ist eine bestimmte Langsamkeit des filmischen Wesens, mit der diese Filme ihr Publikum konfrontieren – was diese, je nach Gusto, als aufregenden Kunstgriff oder als unerträgliche Langeweile erleben. Ein treffendes Beispiel dafür ist etwa Arslans Helle Nächte, der bei seiner Premiere bei den Berliner Filmfestspielen 2017 die Kritik stark gespalten hat. Doch so bedeutsam diese filmische Ausdrucksform für die Berliner Schule ist – sie ist im zeitgenössischen internationalen Film kaum einzigartig. In der Tat stellt die überwältigende affektive Empfindung, die man beim Betrachten der meisten Filme der Berliner Schule erlebt, sie ganz klar in den Kontext jener breiteren Entwicklung im zeitgenössischen internationalen Film, die unser Autor Ira Jaffe mit dem Begriff des »langsamen Kinos« (Slow Cinema) überzeugend analysiert hat (Jaffe 2014; siehe auch Koepnick 2014). Wenn man einige der Einflüsse der besprochenen Regisseure und Regisseurinnen betrachtet – zu denen, je nachdem, wen man fragt, Abbas Kiarostami (Winckler), Sang-soo Hong (Köhler), Hsiao-hsien Hou (Arslan) und natürlich Weerasethakul (für fast alle) gehören, um nur einige zu nennen –, sollte es kaum verwundern, dass die deutschsprachigen Filme an allgemeineren Tendenzen des zeitgenössischen internationalen Kunstkinos teilhaben, wie unser Band zu zeigen versucht.

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Hochhäuslers nächste zwei Filmprojekte, Sterben lernen (2023) und Aus dem Leben der Echsen (2024), sind auch wieder im Genre des Thrillerfilms angesiedelt.

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Die Gefahren des »guten Objekts« Der Fokus auf die Einbettung der Berliner Schule in den Kontext des internationalen Kunstkinos soll selbstverständlich nicht verleugnen, dass die Filme genealogisch mit ihren Vorgängern im deutschen Film verbunden sind. Tatsächlich können neuere Aufsätze von Jaimey Fisher und Christina Gerhardt fruchtbare Forschungsansätze eröffnen und die Geschichte des deutschen Kinos neu einordnen, indem sie diese durch die filmische Linse einer Gruppe von deutschen Filmemachern und Filmemacherinnen betrachten, deren filmhistorisches und filmästhetisches Bewusstsein seit dem Neuen Deutschen Film der späten 1960er und 70er Jahre nicht erreicht wurde. Fisher zeigt etwa die Gemeinsamkeiten zwischen Petzolds Phoenix (2014) und Rainer Werner Fassbinders Die Ehe der Maria Braun (1979) (Fisher 2017), während Gerhardt Verbindungen zwischen den Filmen aufspürt, die in den Anfangsjahren der dffb entstanden sind, und denen von Filmemachern und Filmemacherinnen der Berliner Schule wie Petzold, Arslan und Schanelec, die wiederum bei einigen dieser frühen dffb-Schüler wie Harun Farocki und Hartmut Bitomsky gelernt haben (Gerhardt 2017). Analog dazu könnte man den Einfluss von Ernst Lubitsch auf Hochhäuslers Filme aufnehmen, den letzterer oft genug selbst anerkannt hat, und sogar andere, vielleicht subtilere Beziehungen aufgreifen, die die Filmemacher und Filmemacherinnen der Berliner Schule mit ihren Vorgängern verbinden, wie zum Beispiel mit denen der sogenannten Neuen Münchener Gruppe der mittleren bis späten 1960er Jahre, wie Klaus Lemke und Rudolf Thome.11 Doch obwohl es unbestreitbar ist, dass die Untersuchung der Berliner Schule als Teil einer viel länger zurückreichenden deutschen Filmgeschichte fruchtbar sein könnte, haben wir uns in diesem Band vor allem aus zwei Gründen für ein anderes Vorgehen entschieden. Zum einen kommt man beim Lesen von Interviews mit den Protagonisten und Protagonistinnen der Berliner Schule nicht umhin, zu bemerken, dass viele von ihnen betonen, dass sie in der Regel nicht mit deutschen Filmen aufgewachsen sind (einige, wie Hochhäusler, behaupten sogar, deutsche Filme lange so gut wie ganz ignoriert zu haben – in seinem Fall bis in die späte Jugend oder ins sogar junge Erwachsenenalter hinein). Das Beharren darauf, die deutschen Verbindungslinien in den Vordergrund und die internationalen Einflüsse in den Hintergrund zu rücken, erscheint uns daher problematisch, nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass es bisher kaum Analysen der Berliner Schule im internationalen Kontext gibt. Außerdem – und dies ist der zweite Grund, warum wir den Schwerpunkt dieses Buchs weg vom nationalen Kontext der Berliner Schule gelegt haben – ist das Beharren darauf, die Berliner Schule rein als Phänomen des deutschen Filmschaffens zu interpretieren, bereits innerhalb der germanistischen 11

Vgl. Marco Abel, Mit Nonchalance am Abgrund: Das Kino der ›Neuen Münchner Gruppe‹ (1964–1972) (transcript Verlag, 2023).

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

Filmwissenschaft, wo die Werke der Berliner Schule bisher am stärksten rezipiert wurden, als problematische intellektuelle Rahmung erkannt worden.12 Unsere vorrangige Hoffnung für diesen Band besteht darin, das Gespräch über die Berliner Schule über die engeren Grenzen einer germanistischen Filmwissenschaft hinaus zu öffnen; trotzdem wäre es falsch, die entscheidende Rolle zu ignorieren, die diese Gruppe von Filmemachern und Filmemacherinnen in den letzten zehn Jahren im und für das Fach gespielt hat. Wie Lutz Koepnick, einer der Autoren in unserem Band, bei verschiedenen Gelegenheiten polemisch argumentiert hat, unter anderem in seinem Aufsatz »German Cinema Now«, der in der Zeitschrift German Studies Review erschienen ist und eine Bestandsaufnahme des deutschen Films der letzten Jahre versucht, sind die mit der Berliner Schule verbundenen Filmemacher/-innen in der Germanistik (und germanistischen Filmwissenschaft) zu den »neuen guten Objekten der akademischen Forschung geworden: ein seriöses Kino, das die formelhaften und volkstümlichen Effekte des populären Films, egal ob aus Hollywood oder Deutschland, verweigert« (Koepnick 2013: 654). Die polemische Provokation von Koepnicks Argument besteht darin, dass es seinen Preis haben könnte, von Seiten der deutschen Filmwissenschaft den Filmen der Berliner Schule implizit den Status eines »guten« Objekts zuzuschreiben – eine Meinung übrigens, die auch Sabine Hake in ihrem Beitrag »Contemporary German Film Studies in Ten Points« in derselben Ausgabe der German Studies Review teilt. Wir gehen davon aus, dass die beiden Autorinnen – jedenfalls zum Teil – deshalb mit diesem jüngsten Aufstieg der Berliner Schule in der deutschen Filmwissenschaft unzufrieden sind, weil sie sich der Kosten einer solchen Dominanz für das Fach bewusst sind: dass nämlich das Ergebnis der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, die der Berliner Schule seit Mitte der 2000er Jahre zuteil wurde, dazu geführt hat, dass Wissenschaftler/-innen, die sich damit als Forschungsgegenstand beschäftigen, eine Art Rückzug angetreten sind und die kollektiven intellektuellen Energien der germanistischen Filmwissenschaft auf diese »guten Objekte« konzentriert haben. Die Sorge dabei besteht darin, dass Wissenschaftler/-innen dadurch – unbeabsichtigt – verhindern, dass ähnliche Kraftanstrengung aufgewendet werden, um die germanistische Filmwissenschaft nach vorne zu bringen; wichtiger wäre, »die deutsche Filmwissenschaft zu ermutigen, an den übergreifenden Debatten der internationalen Filmwissenschaft teilzunehmen« (Koepnick 2013: 660). Unserer Interpretation nach ist die Absicht von Koepnicks und Hakes Einwänden, auf zwei unterschiedliche Probleme aufmerksam zu machen: Zum einen, dass die postulierte Übernahme der deutschen Filmwissenschaft durch die geschlossene wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf die Filme der Berliner Schule diese in 12

Wir beziehen uns hier speziell auf die im anglo-amerikanischen Raum angesiedelten German-Studies-Programme, in denen das Gros der Filmwissenschaft, die sich mit deutscher Filmgeschichte beschäftigt, zu Hause ist.

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die Vergangenheit zurückgeworfen hat, nämlich in die Tradition des Autorenkinos des Neuen Deutschen Films der 1970er Jahre und der mittlerweile anachronistischen Auseinandersetzung mit einer modernistischen Filmästhetik und der allgegenwärtigen Frage nach der nationalen Identität. So argumentiert Hake, wenn sie schreibt, dass »gegenwärtige Arbeiten über die Berliner Schule mit ihrer Tendenz, eng am zu analysierenden Material zu bleiben und sich hartnäckig weiterhin mit Fragen der nationalen Identität, der Erinnerung und der Geschichte zu beschäftigen, das Nationale als strukturierende An-/Abwesenheit in ihre Definitionen des audiovisuellen Stils, des affektiven Modus und der sozialen Relevanz wieder einschreiben« (Hake 2013: 644–45). Zweitens, dass dieser Effekt der Aussicht entgegenstehen könnte, die germanistische Filmwissenschaft in das dritte Jahrtausend zu katapultieren, sie in etwas anderes als eine germanistische Filmwissenschaft zu verwandeln – damit wollen wir sagen als eine nur auf deutsche Filme fokussierte Filmwissenschaft oder eine German Studies, die sich nur auf Film (anstatt auch auf neue Medien usw.) konzentriert. Wie Koepnick schreibt: »Während wissenschaftliche Arbeiten schnell dabei waren zu diskutieren, wie sich die Filme der Berliner Schule mit der Wirklichkeit der neoliberalen Deregulierung auseinandersetzen, wurden die Filme selbst weitgehend als Teil eines größtenteils in sich geschlossenen und unabhängig gewachsenen kulturellen Projekts begrüßt, bei dem es nicht nötig war, es in einem größeren internationalen Kontext zu verorten.« (Koepnick 2013: 654) Die Folgen dieses wissenschaftlichen Versagens – wenn man es nicht gar Engstirnigkeit nennen könnte – bestehen für Koepnick darin, dass die deutsche Filmwissenschaft es unterlässt, »sich [gründlicher] mit den Filmen auseinanderzusetzen, die die Werke der Filmemacher und Filmemacherinnen der Berliner Schule außerhalb des engen Horizonts der deutschen Filmgeschichte und gegenwärtigen Filmkultur widerspiegeln, beeinflussen und herausfordern«. Wie aus seinem Beitrag zu unserem Band hervorgeht, können solche analytischen Unzulänglichkeiten seiner Meinung nach nicht nur dadurch berichtigt werden, dass man einen stärkeren Fokus auf das »Verhältnis der Berliner Schule zu den sich wandelnden Formen des Kunstkinos nach dem Ende des normativen Konzepts des nationalen Kinos« legt, sondern diese Korrektur sei auch notwendig, um besser zu begreifen, was »der Platz des Nationalen im internationalen Austausch von experimentelleren und nach neuen Ästhetiken suchenden Arbeiten mit bewegten Bildern heute ist«. (Koepnick 2013: 654) Etwas respektlos könnte man sagen, dass zumindest ein Teil der Unzufriedenheit mit den »guten Objekten« der Berliner Schule wohl in dem heimlichen Verdacht gründen könnte, den Koepnick und Hake (und andere?) hegen, nämlich dass die anhaltende breite Aufmerksamkeit der deutschen Filmwissenschaft für die Berliner Schule die wissenschaftliche Analogie zu dem darstellen könnte, was das »alte Europa« für den guten alten ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld darstellte: eine rückschrittliche Denkweise, die vorgibt, eine mo-

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

ralisch überlegene Position zu verteidigen, aber damit lediglich ihre Furcht verrät, sich an eine schöne neue Welt anpassen zu müssen, in der die Weltkarte der Beziehungen in einem solchen Ausmaß neu gezeichnet wurde, dass traditionelle Bündnisse, Überzeugungen und Einstellungen ihren Einfluss auf die Gegenwart verloren haben und nun den neuen und zukunftsgerichteten Kräften, die »Rummy« als das »neue Europa« identifiziert hat, im Wege stehen. In unserem Fall wäre die Analogie zu diesem »neuen Europa« natürlich so etwas wie die digitalen Medienwissenschaften oder allgemeiner Screen Studies, spannende neue wissenschaftliche Kontexte, zu denen die germanistische Filmwissenschaft, wie Koepnick und Hake argumentieren, keinen Zugang erhalten wird, wenn sie nicht anfängt, »die Bandbreite an Orten und Medien zu berücksichtigen, die das internationale Kunstkino heute ausmachen und die über den Bereich des traditionellen filmischen Vorführsaals, der Projektion und der Leinwand hinausgehen« (Koepnick 2013: 654). Um bei der zugegebenermaßen etwas schiefen Analogie zu bleiben: Während das »alte Europa« der germanistischen Filmwissenschaft weiterhin an die große Leinwand, ihre Geschichte und die damit verbundenen ästhetischen Praktiken, Setzungen und sogar Utopien glaubt, nimmt das »neue Europa« die Tatsache, dass für immer mehr Menschen der Kinosaal mit seiner großen Leinwand und seiner charakteristischen Zuschauersituation nicht mehr die vorherrschende Umgebung darstellt, in der sie bewegten Bildern begegnen und sie rezipieren, als gegeben und möchte sich damit auseinandersetzen. Und wenn letzteres tatsächlich so stimmt (und vieles spricht dafür), dann gibt es gute Gründe, den großspurigen Behauptungen, die über die »guten Objekte« der Berliner Schule zirkulieren, gegenüber misstrauisch zu sein – zum Beispiel der Behauptung über das widerständige Potenzial dieser Filme (die wir beide in unseren jeweiligen Büchern aufgestellt haben). Wenn die meisten Menschen, die auf bewegte Bilder stoßen, dies nicht mehr oder zumindest nicht mehr primär in den Kinosälen der Vergangenheit tun, sondern zu Hause, wenn sie durch fünfhundert Fernsehkanäle zappen und gleichzeitig YouTubeVideos auf ihren Laptops anschauen, oder unterwegs, wenn sie beim Laufen oder Autofahren auf ihren Smartphones nebenbei reinschauen, ganz zu schweigen von Videoinstallationen in Museen, in die die Zuschauer/-innen rein- und rausspazieren, dann liegt es nahe, dass der neueste Stand der Filmwissenschaften tatsächlich nicht mehr die Filmwissenschaften sind, weder germanistische noch andere nationale Wissenschaften. Für diejenigen, die ein gewisses Maß an Unzufriedenheit mit den »guten Objekten« der Berliner Schule empfinden, ist eine Frage wahrscheinlich am dringlichsten: Wie beeinflusst diese Art des Filmemachens und die kritische Aufmerksamkeit, die sie genießt (zumindest in der deutschen Filmwissenschaft, aber auch darüber hinaus, dadurch belegt, dass das MoMA sie seiner Aufmerksamkeit wert erachtete, oder dass die international ausgerichtete Zeitschrift Senses of Cinema eine Reihe von Arbeiten über die betreffenden Filmemacher/-innen veröffentlicht

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hat), die Zukunft eines Gegenstands der Filmwissenschaft, das wohl zu den institutionell marginalisiertesten gehört: das deutschsprachige Kino.13 Denn während so gut wie jedes andere nationale Kino in den filmwissenschaftlichen Abteilungen mit Forschenden vertreten ist, verdankt das deutschsprachige Kino seine wissenschaftliche Existenz fast ausschließlich den Ressourcen, die die germanistischen Institute und Studienprogramme zu bieten haben. Das zeigt sich auch daran, dass heute, rund vier Jahrzehnte nach dem Ende des Neuen Deutschen Films von Fassbinder, Wim Wenders, Werner Herzog, Margarethe von Trotta und anderen, kaum noch wissenschaftliche Forschung über den deutschsprachigen Gegenwartsfilm in die wichtigen filmwissenschaftlichen Zeitschriften Eingang findet – das gilt insbesondere (aber nicht nur) für Forschung, die sich nicht für diejenigen deutschen Filme interessiert, die sich mit den großen historischen Katastrophen des Landes im 20. Jahrhundert auseinandersetzen. Paradoxerweise könnte also ausgerechnet das, was der deutschen Filmwissenschaft als »neuester Stand« verkauft wird (und von ihr gerne und ohne Widerstand gekauft wird – möglicherweise, weil sich die Wissenschaftler/-innen für ihr Interesse an der Berliner Schule nicht mehr kleinlaut entschuldigen müssen, wie es der Fall war, als sie das, was Eric Rentschler »Konsenskino« (cinema of consensus) genannt hat [Rentschler 2000], oder die jüngste Welle der Totalitarismusfilme untersuchten und darüber allerhand Interessantes herausfanden), derzeit als trojanisches Pferd funktionieren. Es könnte seinen heimtückischen Einfluss direkt durch das Tor der deutschen Filmwissenschaft schmuggeln und damit die Öffnung des Faches umkehren, die seit der deutschen Vereinigung 1990 durch die Einführung kulturwissenschaftlicher Methoden und einer in letzter Zeit vermehrten transnationalen Ausrichtung stattgefunden hat. Bevor die Berliner Schule an unserem kritischen Horizont auftauchte, war die germanistische Filmwissenschaft zunehmend nach außen gerichtet. Sie untersuchte zum Beispiel, wie sich deutschsprachige Unterhaltungsfilme zu den internationalen Entwicklungen in dem Bereich verhielten und wie sie sogar Teil dieser Entwicklungen waren. Sie war generell darauf bedacht, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit von der lange vorherrschenden Gewohnheit wegzulenken, sich deutschen Filmen als deutsche Filme, die sich in erster Linie um Deutschland drehen, zu nähern. Dies hat dazu geführt, dass das Feld eine nachdrücklich transnationale Perspektive angenommen hat – was grundsätzlich eine zu begrüßende Entwicklung ist. So kann es sein, dass diejenigen, die unzufrieden mit der aktuellen Entwicklung um das, was als »gutes Objekt« in der

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Neben unserem Petzold-Dossier hat Senses of Cinema auch ein Interview mit Hochhäusler (Abel 2007) und eins mit Grisebach (Gemünden 2019), einen Essay über Winckler (Abel 2015), einen Essay über Grisebach (Richter 2002) und den Überblicksartikel »Die Berliner Schule – eine Collage« von Michael Baute, Ekkehard Knörer, Volker Pantenburg, Stefan Pethke, Simon Rothhöler (Baute et al. 2010) veröffentlicht.

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

deutschen Filmwissenschaft gilt, sind, befürchten, dass dieser Fortschritt zurückgedreht würde. Ein Grund dafür liegt vielleicht auch darin, dass der Diskurs um die Berliner Schule von Fragen der Filmästhetik und ihrer nationalen Besonderheit beherrscht wird, in anderen Worten von den mutmaßlich einschränkenden und akademisch veralteten Begrifflichkeiten der nationalen Filmwissenschaft.14 Aus dieser Perspektive betrachtet scheinen die gegenwärtigen »guten Objekte« der deutschen Filmwissenschaft – und vielleicht noch stärker ihre systematische wissenschaftliche Untersuchung – eine Reaktion gegen diese Öffnung und gegen die wissenschaftliche Dezentrierung des deutschen Films anzuzeigen. Es liegt nicht fern zu befürchten, dass diese »guten Objekte« die kollektive intellektuelle Tatkraft dazu verleiten, dem süßen Gefühl der Nostalgie zu folgen und zu einer älteren Version der deutschen Filmwissenschaft zurückzukehren, deren kritische Ausrichtung eher dem Autorenfilm zugeneigt und national geprägt war, eine Tradition, die eng mit den beiden »goldenen Zeitaltern« des deutschen Kinos verbunden ist: dem Weimarer Kino von F. W. Murnau und Fritz Lang und, in jüngerer Zeit, dem Neuen Deutschen Film der 1970er. Kurzum, die Investitionen in den wissenschaftlichen Diskurs, die die Berliner Schule als »gutes Objekt« entworfen haben, mögen von manchen als beunruhigende Überinvestitionen gewertet werden. Die Dringlichkeit, mit der diese Unzufriedenheit sich äußert, zeigt die Sorge, dass eine solche Überinvestition einen erheblichen Preis haben könnte: dass nämlich die »guten Objekte« der Berliner Schule der Rattenfänger der germanistischen Filmwissenschaft im dritten Jahrtausend sind. Die Einwände von Koepnick und Hake sind nicht von der Hand zu weisen – sind sie es doch, die uns, wie oben schon erwähnt, zu diesem Band inspiriert haben, nicht zuletzt deshalb, weil wir Hakes Beobachtung über die »Insellage der deutschen Filmwissenschaft innerhalb der zeitgenössischen Film- und Medienwissenschaft, die sowohl in den etablierten Fachbereichen als auch in neuen Untersuchungsgebieten keine Bedeutung hat«, teilen (Hake 2013: 645).15 Wir würden

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Um nur einige Studien zu nennen, die sich dem deutschen Kino aus einer transnationalen Perspektive nähern, seien hier Bergfelder 2005; Gemünden 2008; Halle 2008; Hake 2012 sowie der Sammelband von Schindler und Koepnick 2007 genannt. Hake beklagt außerdem, dass »sich nur wenige Film- und Medienwissenschaftler außerhalb der deutschen Fachbereiche mit deutschen Themen beschäftigen«, was zu »einer spürbaren Abwesenheit der gegenwärtig interessantesten Debatten in der Filmwissenschaft, einschließlich der Einbeziehung des Films in die Filmkulturen und seiner Auswirkungen auf künstlerische Praktiken und Formen des Kulturkonsums« (Hake 2013: 645) in der deutschen Filmwissenschaft führe. Bei der Zusammenstellung dieses Bandes haben wir uns bemüht, auch Stimmen außerhalb der deutschen Ressorts einzubeziehen. Da wir die Stichhaltigkeit von Hakes Beobachtung aus erster Hand erfahren haben, freuen wir uns besonders darüber, dass ein Drittel unserer Autoren und Autorinnen nicht auf den deutschen Film spezialisiert ist: Bardan, Fech, Jaffe, Sicinski und Végső haben weder ihre institutionelle Heimat in den

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uns freuen, wenn unser Band dazu beitragen kann, diesen unglücklichen Zustand zu beenden. Wir stimmen aber auch mit Gerd Gemünden überein, einem anderen Autor dieses Bandes, der darauf aufmerksam macht, dass ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Arbeiten über die Berliner Schule bereits festgestellt hat, dass »im Gegensatz zum Neuen Deutschen Film, der sich selbst als ›legitimer‹ Vertreter der ›guten‹ deutschen Filmkultur verstand (oder jedenfalls gedrängt wurde, sich so zu verstehen), den mit der Berliner Schule verbundenen Filmemachern und Filmemacherinnen klar ist, dass eine solche Haltung in der neoliberalen deutschen Gegenwart keinen Sinn ergibt«. Gemünden fügt hinzu, dass »die Bewegung [der Berliner Schule] zwar eine fast zwanghafte Bestandsaufnahme des heutigen Deutschlands vornimmt, sich aber nicht als Teil eines nationalen Kinos versteht« (Gemünden 2016: 548). Deshalb unterstützt Gemünden die Einsprüche von Koepnick und Hake, nicht ohne jedoch einen entscheidenden Vorbehalt hinzuzufügen, nämlich dass die Herangehensweise, für die sie eintreten – »die intellektuellen Denklinien der deutschen Filmwissenschaft mit den übergreifenden Debatten der internationalen Filmwissenschaft zu verbinden« (Koepnick 2013: 660) – »notwendigerweise auf den bisherigen Forschungen zur Berliner Schule aufbaut und ohne sie undenkbar wäre« (Gemünden 2016: 548). Unser Band versucht, genau das zu tun, was Gemünden im Sinn hat: auf dem aufzubauen, was die wissenschaftlichen Debatten bisher erreicht haben – und zwar die Verbindung zwischen den Filmen der Berliner Schule und theoretischen Fragen über Bewegtbilder herzustellen und damit zu zeigen, wie sensibel diese Filmemacher/-innen auf aktuelle philosophische und politische Debatten darüber reagieren, wie Bilder das Sinnliche aufteilen und umverteilen, um es mit Jacques Rancière zu sagen (Abel 2013); dem Irrglauben entgegenzuwirken, die Berliner Schule sei gegen das Genrekino und damit zu zeigen, wie tief sie in die Geschichte des internationalen Films eingebettet ist (Fisher 2013)16 und nicht zuletzt zu zeigen, dass die Berliner Schule keine monolithische Gruppe ist, die mit einer einheitlichen Idee des Kinos arbeitet. Damit können wir unseren Blick auf diese Filme öffnen und eine Vielzahl von Themen, Ideen, Anliegen und Provokationen entdecken, die einer reduzierten, auteur-zentrierten Lesart dieser Filmemacher/-innen und Filme entgegenwirken – und darüber hinaus der Aufforderung von Koepnick und Hake folgen, die darin besteht, die Praxis der Filme der Berliner Schule (und warum sie so interessant sind, dass sie überhaupt

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germanistischen Fakultäten, noch ist das deutsche Kino ihre primäre wissenschaftliche Kompetenz. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass Valeska Grisebachs viel gefeierter dritter Film Western (2017), der – wie sein Titel schon sagt – vom Western-Genre inspiriert wurde, seine Uraufführung im Rahmen der Sektion »Un Certain Regard« der Filmfestspiele von Cannes erleben durfte.

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

zu »guten« Objekten geworden sind) mit dem internationalen Kunstkino auf neue Weise zu verbinden, die bisher so noch nicht formuliert wurde.

Die seltsamen Reisen des Kunstkinos: Institutionelle Eigenschaften und ästhetische Herangehensweisen Wie also kann man in diesem spezifischen Rahmen, den dieses Buch vorgibt, nachvollziehen, wie die Art von Kunstkino funktioniert, auf die sowohl Koepnick und Hake, aber auch die Filmemacher/-innen der Berliner Schule selbst anspielen? Wie kann man seine institutionellen Eigenschaften und ästhetischen Herangehensweisen verstehen? Einer der vier Schlüsselaspekte des Kunstkinos – die von Rosalind Galt und Karl Schoonover vorgeschlagen wurden – ist, dass solche Filme auf Reisen gehen, das heißt, über ihren heimischen Kontext hinaus draußen in der Welt rezipiert werden und Wirkung erzielen (Galt/Schoonover 2010: 7). Dieser Aspekt des Reisens ist allerdings keine ausreichende Definition für diese Filme und wie sie funktionieren: Mainstream-Hollywood-Filme »reisen« zweifellos weiter und haben eine weitaus breitere Wirkung auf ihr Publikum. Deshalb möchten wir darüber hinaus hervorheben, dass die sogenannten Kunstfilme auf ganz besondere Weise reisen – in Nischenmärkte und hochdifferenzierte Öffentlichkeiten. Gerade diese Vorstellung einer differenzierten und doch kosmopolitischen Öffentlichkeit, einer hochspezialisierten und doch nachdrücklich offenen Sphäre, steht im Mittelpunkt unseres Unterfangens in diesem Band, da diese Filme – sowohl aus der Berliner Schule als auch aus anderen filmischen Kontexten – in ständigem Austausch stehen. Die Interaktionen und wechselseitigen Beeinflussungen zwischen den Filmen, die in diesem Band behandelt werden, zeigen die Relevanz und Funktionsweise einer solchen grenzüberschreitenden Öffentlichkeit. Beispielsweise beleuchtet Gemünden in seinem Aufsatz für diesen Band, wie dieser Austausch beim sogenannten Neuen Argentinischen Film stattfindet, nämlich indem einige Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule mit ihren argentinischen Kollegen und Kolleginnen direkt in Verbindung getreten sind. Diese Gespräche wiederum wurden durch Veröffentlichungen in Zeitschriften und verschiedenen (öffentlichen) Veranstaltungen gefestigt und begleitet. Robert Dassanowsky stellt ähnliche Entwicklungen für einen anderen Kontext dar, nämlich wie die Regisseure und Regisseurinnen des Neuen Österreichischen Films mit denen der Berliner Schule verbunden sind. Hester Baer wiederum diskutiert, wie eine aufstrebende grenzüberschreitende Film- und Fernsehkultur von Frauen auf die spezifischen neoliberalen Bedingungen zu reagieren versucht, unter denen heute Filmemachen stattfindet, indem sie das Ethos der Zusammenarbeit aufgreift und die Tradition des feministischen Gegenkinos wiederbelebt. Für viele der zur Diskussion stehenden Filme und ihre Macher/-innen gilt, egal ob sie aus Deutschland oder anderswo

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stammen, dass sowohl die fertigen Filme als auch die Menschen, die an ihnen mitarbeiten, einerseits Teil einer Gemeinschaft des Kunstkinos sind, die rund um die Welt verteilt ist, andererseits durch ihre Arbeit diese Gemeinschaft erst herstellen. Wir verwenden hier den Begriff »rund um die Welt« statt »weltweite Öffentlichkeit«, weil dieser Austausch, egal ob er persönlich oder in den unterschiedlichen Medien stattfindet, eindeutig spezialisiert ist und nicht die gesamte Welt betrifft – obwohl andererseits jede Öffentlichkeit in irgendeiner Weise spezialisiert ist. Der vielleicht stärkste Beweis, dass eine solche Gegenöffentlichkeit – wenn auch fragmentiert – tatsächlich als dauerhaftes Phänomen existiert, ist der Wanderzirkus der »großen« Filmfestivals. Nicht nur Thomas Elsaesser, Dudley Andrew, Marijke de Valck, Galt und Schoonover haben in jüngster Zeit über die engen und konstituierenden Verbindungen zwischen Kunstkino und Filmfestival nachgedacht (im vorliegenden Band sind es Baer, Fisher und Gemünden, die diese Verbindung einer näheren Betrachtung unterziehen).17 Das erklärt sich unserer Meinung nach dadurch, dass diese Wissenschaftler/-innen ein Gefühl dafür haben, wie das internationale Kunstkino funktioniert: Die Festivals nehmen den kosmopolitischen, aber auch den nationalen oder lokalen Charakter der Filme und ihrer Regisseure und Regisseurinnen auf (ihre Mobilität und ihre Verwurzelung im Lokalen). Gleichzeitig feiern sie sowohl das Mainstream-Genrekino als auch das Kunstkino, wobei sich letzteres häufig gegen das erstere definiert. Es wird oft übersehen, wie Festivals Mainstreamfilme und Kunstfilme (die vielleicht absichtliche gegen jene polemisieren) gleichberechtigt nebeneinander präsentieren und damit in einen Dialog bringen, so wie sie es auch mit Filmen aus unterschiedlichen Ländern der Welt tun. Damit unterscheiden sich Festivals in bemerkenswerter Weise von der Museumswelt, die weitgehend für ihr eigenes, fest abgegrenztes Nischenpublikum (gebildet, wohlhabend bis reich) arbeitet, während Festivals bewusst unterschiedliche Sektionen für unterschiedliche Zielgruppen zusammenstellen. Durch die Zusammenstellung von Programmen, in denen Filme mit unterschiedlicher finanzieller Ausstattung und unterschiedlichen künstlerischen Ambitionen nebeneinander gezeigt werden, beschwören Festivals unvermeidlich Vergleiche zwischen den verschiedenen Herangehensweisen und Maßstäben herauf. Dadurch dienen sie als Sinnbild und Verkörperung sowohl für die unterschiedlichen institutionellen Eigenschaften und Strukturen als auch für die ästhetischen Herangehensweisen des Kinos, beides unverzichtbare Komponenten eines jedes einzelnen Films. Nicht alle der hier vorgestellten Filmemacher/-innen hatten ihren Durchbruch auf Festivals, aber viele von ihnen, und das Filmfestival zeigt die relevanten Mechanismen solcher Filme auf, sowohl die institutionellen als auch die ästhetischen. Die Festivals heben die »Nachbarschaft« eines Filmes hervor – wie es Petzold einmal bezeichnet 17

See Elsaesser 2005; Andrew 2010, insbesondere vii-xii; Valck 2007; sowie Galt und Schoonover 2010.

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

hat –, nämlich den Kontext von Produktion, Vertrieb und Rezeption eines filmischen Kunstwerks (siehe Fisher 2013: 132). Die Nachbarschaft für viele dieser Filme ist die spezialisierte Nischenöffentlichkeit des Kunstkinos, in der die einzelnen Filme aufeinander verweisen. Wenn wir uns mit der anhaltenden Relevanz von Filmfestivals als kulturellem Phänomen befassen, möchten wir auf eine scharfsinnige Beobachtung von B. Ruby Rich hinweisen, als sie darauf aufmerksam machte, dass Filmfestivals im digitalen Zeitalter eine merkwürdige Beharrlichkeit zeigen, etwas, das unserer Meinung nach auch Auswirkungen auf das Kunstkino (und den vorliegenden Band) hat. In ihrem Aufsatz »Why Do Film Festivals Matter?« räumt Rich zwar ein, dass eine der grundlegenden Aufgaben von Festivals heute eindeutig überholt ist, nämlich ihr Status als geografischer Ort, an dem Filminteressierte gleichzeitig einen ganzen Schwung physischer Filmkopien, deren Transport teuer und aufwändig ist, anschauen können (Rich 2013: 157). Der digitale Vertrieb – mit seinen ScreenerDVDs und dem allgegenwärtigen Video-Streaming – hat diese frühere Funktion überflüssig gemacht. Festivals bleiben laut Rich trotzdem bestehen, weil sie einen Ort bieten, an dem sich Interessierte versammeln und über ein kulturelles Produkt sprechen können, das ihnen am Herzen liegt: Im hitzigen Wettbewerb um Aufmerksamkeit bieten Festivals einen Knotenpunkt, der interessierten Zuschauern und Zuschauerinnen Raum gibt, Zeit, Aufmerksamkeit und Konzentration aufzubringen, auch wenn die betreffenden Werke rund um die Uhr verfügbar sein könnten (Rich 2013: 164). Natürlich wäre es möglich, die entsprechenden Gespräche genauso wie die Vorführungen online stattfinden zu lassen, aber es ist bemerkenswert, dass dies nicht oder zumindest nicht in der gleichen Weise stattfindet: Die Möglichkeiten der Online-Kommunikation haben den physischen Akt des Zusammenkommens und Miteinanderredens nicht überflüssig gemacht, genauso wie die zügellose Deterritorialisierung durch die Informationstechnologie den geografischen Ort Silicon Valley für die digitale Wirtschaft nicht irrelevant gemacht hat. Egal wie weitläufig, eingebunden und akzeptiert digitale Netzwerke sind, sie benötigen weiterhin ihre Knotenpunkte in der »realen Welt«, die sie daher auch erzeugen und pflegen.18 Viele der Filme, die unsere Autoren und Autorinnen in diesem Buch diskutieren, bahnten sich ihren (schwierigen) Weg zu einem (etwas) breiteren Publikum und einer (wenn auch lückenhaften) internationalen Sichtbarkeit mithilfe von Festivals und anderen Formen des öffentlichen Diskurses (ebenfalls Aspekte ihrer »Nachbarschaft«). Es ist bemerkenswert, dass sowohl Fachpublikationen wie Hollywood Reporter, Variety und Screen International, Filmmagazine wie Cineaste, Film 18

Die neuen Medientechnologien haben allerdings auch dazu beigetragen, wenn es nicht sogar ermöglicht, dass das Interesse für Filmkunst eine gewaltige Wiedergeburt erlebt, vgl. Shambu 2014.

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Comment und Cahiers du Cinéma sowie neuere, rein online zugängliche Medien wie IndieWire, Senses of Cinema und das deutsche Critic.de, ganz zu schweigen von Blogs wie das einflussreiche Girishshambu.net, alle umfassend über Festivals berichten. Diese Festivalberichte und -reportagen spielen eine große Rolle im Diskurs über und für die Förderung des künstlerischen Films. Hinzu kommen Filmarchive, Kinematheken, kommunale und Programmkinos auf der ganzen Welt, die für viele der betreffenden Regisseure und Regisseurinnen als regelmäßige Treffpunkte dienen und weltweit ganz klar als Orte einer gemeinschaftlichen Öffentlichkeit markiert sind. Natürlich findet eine solche Öffentlichkeit heute zu großen Teilen – auch was die investierte Zeit angeht – online und auf Fernsehbildschirmen oder Computerdisplays statt, auf denen DVDs abgespielt oder Videos aus dem Netz gestreamt werden, aber ein wesentlicher Teil dieser vielfältigen Gemeinschaft bleibt weiterhin, wie Daniel Dayan in einem Text über seine Erfahrungen auf dem Sundance Film Festival (Dayan 2013: 47–48) richtig bemerkte, das geschriebene Wort, denn – und das möchten wir betonen – das öffentliche Gespräch über Filme ist für die Filmemacher/-innen, die beim Film Beschäftigten und das Filmpublikum immer noch von großer Bedeutung (offensichtlich ebenfalls für Kritiker/-innen und Wissenschaftler/-innen, wenn auch ihre Rolle eine bescheidenere ist). Insgesamt handelt es sich um eine Öffentlichkeit über verschiedene Medien hinweg, die durch die ständige Veröffentlichung von und den Dialog zwischen diesen kulturellen Produkten getragen wird. Ein Film – aber auch eine historische Filmreihe oder Retrospektive – kann auf einem Festival Premiere feiern, dort zuerst diskutiert werden (zunächst in persönlichen Gesprächen, dann wahrscheinlich online), dann im Programm eines kommunalen Kinos oder Filmvereins gezeigt werden, bis er schließlich auf ein Laptop heruntergeladen wird – wobei sich der Kreis des Publikums in jeder dieser Stufen erweitert. Thomas Elsaesser hat in einem einflussreichen Aufsatz beschrieben, wie Filmfestivals inzwischen das wichtigste alternative Vertriebsnetz außerhalb von Hollywood bilden (Elsaesser 2005: 93–108), das sowohl für den europäischen als auch für den internationalen Film von besonderer Bedeutung ist – vor allem für jene Filme, die nicht über die weitreichenden (und entsprechend kostspieligen) Vertriebsund Marketingkanäle und -netzwerke verfügen, von denen Hollywood weltweit profitiert. Elsaessers Argumentation ist auf einige Kritik gestoßen (vgl. Iordanova 2013: 109, und Roddick 2013: 185–90), in erster Linie, weil die betreffenden Autoren und Autorinnen der Meinung zu sein scheinen, dass der Begriff »alternatives Vertriebsnetz« eine Art kommerziell konkurrenzfähigen Vertriebsmodus impliziert, den Festivals (die in der Regel erhebliche staatliche und institutionelle Subventionen und Sponsorengelder benötigen) ganz sicher nicht bieten. Man müsste schon sehr naiv sein, um ernsthaft anzunehmen, das Kunstkino, das sich oft als Gegenmodell zum Hollywood-Mainstream darstellt, könnte in diesem ungleichen Kampf kommerziell konkurrieren, jedenfalls solange dieser Kampf anhand von Zuschau-

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erzahlen und Kasseneinnahmen entschieden wird (Wood 2007: 25). Auf der anderen Seite ist es offensichtlich, dass ein Festival eine Art Vertrieb darstellt, wo Filme einem Publikum präsentiert werden, das sie sonst nicht erreichen würden. Die Verbreitung und Präsentation wird dabei von anderen Wertesystemen beherrscht – nicht allein vom finanziellen Erfolg an der Kinokasse, sondern genauso von einem möglichen künstlerischen Wert, das heißt einer eher immateriellen Währung. Ein Beispiel dafür ist der phänomenale weltweite Erfolg von Maren Ades Film Toni Erdmann, der mit mehr als 900.000 Zuschauern zum bisher größten Kassenschlager der Berliner Schule in Deutschland geworden ist. Als er bei den Filmfestspielen in Cannes im Wettbewerb uraufgeführt wurde – was für deutsche Filmproduktionen in den letzten Jahrzehnten eine Rarität darstellt –, feierten Kritiker/-innen Ades dritten Spielfilm schnell als besten Film des Festivals (er gewann am Ende jedoch nicht die Goldene Palme). In der Folge wurde er weltweit mehrfach ausgezeichnet und für den besten fremdsprachigen Film bei den Academy Awards 2017 – den Oscars – nominiert.19 Diese Art von doppelter Buchführung – dass nämlich sowohl die finanziellen Einnahmen als auch der künstlerische Anspruch und Wert (so umstritten letztere auch sein mögen) zählen – spielt für künstlerisch ambitionierte Filme nicht nur im Rahmen von Filmfestivals eine Rolle, sondern auch in einer anderen, aber gleichwertigen Umgebung vieler dieser Filme, nämlich dem Fernsehen, dessen Bedeutung für ihre Produktion und ihren Vertrieb häufig vernachlässigt wird (es ist schon erstaunlich, dass beispielsweise Begriffe wie »Fernsehen« oder »TV« im Einführungstext eines Standardwerks wie Global Art Cinema [2010] von Galt/Schoonover nicht vorkommen). Diese beiden Umgebungen des Kunstkinos – das Filmfestival und das Fernsehen – verweisen darauf, dass die betreffenden Werke sich in komplexen Zusammenhängen bewegen und betonen, dass ihre Natur grundlegend aus zwei unterschiedlichen Elementen besteht, die nicht immer zusammenpassen. Zu diesen doppelten Grundmauern gehört neben den Kasseneinnahmen als Eckpfeiler das künstlerische Prestige, eine Eigenschaft, die die Filme für die schon genannte kosmopolitische Öffentlichkeit erst attraktiv macht.

Die anhaltende, nagende dynamische Kraft des Begriffs der Nation und des »nationalen« Kinos: Angela Schanelecs Film Der traumhafte Weg (2016) Neben der Darstellung der institutionellen und ästhetischen Vielfalt des Kunstkinos – und wie diese Vielfalt entsteht, interagiert und dadurch erst zu so etwas wie dem Genre des Kunstkinos gerinnt – bildet das Festival als Institution auch 19

Vgl. Gerd Gemünden (2021).

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ein nützliches Mittel, um den Status der Nation und des sogenannten nationalen Kinos heute zu verstehen. Die jüngsten politischen Ereignisse in Großbritannien, Russland, Frankreich und den Vereinigten Staaten zeigen, dass die Nation als politische oder kulturelle Kraft noch lange nicht verschwunden ist; vielmehr scheint das allgemeine Bewusstsein für die nationale Identität in Wellen stattzufinden (auch hier arbeiten Galt und Schoonover [2010: 13] die komplexe Dynamik des Verhältnisses von Filmen zu ihrer nationalen Identität nicht ausreichend aus). Festivals versuchen in diesem Zeitalter der ausufernden Koproduktionen die heikle Frage, welcher »Nationalität« ein Film nun angehört, auf unterschiedliche Weise zu beantworten: Cannes beispielsweise hat die Verbindung eines Films mit einer bestimmten Nation ganz abgeschafft, während Berlin und Locarno bei vielen Filmen nationale Identitäten per Schrägstrich zu langen Wortketten aneinanderreihen – was den zunehmend hybriden Identitäten der Menschen in einer globalisierten Welt entspricht. Indem Festivals ein weites Spektrum an Filmen nebeneinander in ihren Programmen präsentieren, kann man gut vergleichen, auf welche Weise Filme mehr oder weniger »national« sein können, sowohl was die angestrebte Zielgruppe als auch was den Inhalt betrifft (wobei diese beiden Aspekte normalerweise miteinander verbunden sind). Filme können ein lokales, regionales, nationales oder internationales Publikum anstreben und die Formen der Ansprache entsprechend anpassen (Higson 2002; Finney 2002). Zu diesen Formen der Ansprache gehören Sprache und Dialekt, aber auch, wie Hjort gezeigt hat, bestimmte Themen (Hjort 2000: 106, 111), die supranational, national oder subnational stattfinden können. Um Beispiele zu nennen: Französisch-englischsprachige Produktionen wie Luc Bessons Le Cinquième Élément (Das fünfte Element, 1997) oder Pierre Morels Taken (96 Hours, 2008) können am supranationalen Ende lokalisiert werden, während das bayerische Kino mit Filmen wie Thomas Kronthalers Die Scheinheiligen (2001) und Marcus Rosemüllers Wer früher stirbt, ist länger tot (2006) für subnationale Produktionen stehen. Solche Mechanismen in der Publikumsansprache zeigen, dass der Begriff der Nation künstlich, das heißt diskursiv konstruiert ist, aber sie unterstreichen auch seine anhaltende Bedeutung: Wenn Künstler/-innen – und Filmkünstler/-innen sind davon nicht ausgenommen – die Art ihrer Ansprache bestimmen und anpassen müssen, je nachdem welches Publikum sie sich wünschen und vorstellen, dann sind sie gezwungen, sich bewusst mit den unterschiedlichen Formen der lokalen, nationalen oder transnationalen Ansprache auseinanderzusetzen und sie entsprechend einzusetzen.20 Solche Arten der Ansprache haben sicherlich,

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Doru Pop versteht die Regisseure der Neuen Rumänischen Welle auf genau diese Weise und argumentiert, dass ihre beachtlichen Festivalerfolge viel damit zu tun haben, dass sie für ein grundsätzlich europäisches Kino produzieren, weil ihre Filme für ein transnationales Publikum gemacht sind: »Dieser Wunsch, sich in den europäischen ›gemeinsamen Markt der Ideen‹ einzufügen und auf die Bedürfnisse eines gesamteuropäischen Bezugssystems ein-

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

wie Randall Halle angemerkt hat, auch mit Finanzierungsarten und Förderungsmöglichkeiten zu tun (die ebenfalls auf allen diesen Ebenen funktionieren: lokal, regional, national, supranational), sie sind aber nur ein Aspekt davon, wie Andrew Higson klargestellt hat (vgl. Halle 2008: 22–24; Higson 2002). In Angela Schanelecs Film Der traumhafte Weg (2016), der 2016 im internationalen Wettbewerb von Locarno (Concorso internazionale) Premiere hatte, kann man gut erkennen, wie diese vielfältigen Formen der nationalen und transnationalen Ansprache funktionieren. Viele Filmkritiker/-innen haben kommentiert, dass Schanelecs Film mit seiner elliptischen Erzählweise und der von Bresson inspirierten Spielweise seiner Schauspieler/-innen und Montage schwer zu fassen sei, aber ein zentrales Element des Films wird oft übersehen, nämlich der oben dargelegte Modus der nationalen und transnationalen Ansprache. Schanelec gehört (wie oben erwähnt) zum Kern der ersten Welle der Berliner Schule und arbeitet seit langem quasi über (nationale) Grenzen hinweg, wie Filme wie der Kurzfilm Prag, März 1992 (entstanden während ihrer Studienzeit), Plätze in den Städten, Mein langsames Leben, Marseille und Orly zeigen. Der traumhafte Weg führt dies weiter und beginnt mit einer emphatischen Aussage darüber, wie das Nationale mit dem Transnationalen verflochten ist. Dazu nutzt der Film eine klare Form der nationalen Ansprache, die gleichzeitig transnational – also über staatliche Grenzen hinweg – und international – zwischen verschiedenen Staaten – funktioniert, vor allem durch das deutschbritische Paar (Theres und Kenneth), das 1984 durch Griechenland reist. Als sie sich mit ihrer Gitarre auf den Bürgersteig setzen und ein Lied singen, vermutlich um sich ein paar Drachmen für ihre (durchaus klischeebeladene »Nordeuropäer fahren in den Süden«-)Reise zu verdienen, sieht man, dass Schanelec noch stärker als in ihren früheren Filmen die politischen Aspekte der Nation und des Transnationalen heraufbeschwört: Um das Paar wirbelt die turbulente Geräuschkulisse einer Wahl zum Europa-Parlament und evoziert im vermeintlichen Ursprungsland der westlichen Demokratie wogende Wahltransparente und Politgesänge (Abb. 0.1). Diese Wahl, die in der Eröffnungssequenz von Der traumhafte Weg gezeigt wird, war das zweite Mal, dass Griechenland das Europa-Parlament wählte, aber das erste Mal, dass es mit dem Rest der EU abstimmte (der offizielle Beitritt Griechenlands zur damaligen Europäischen Gemeinschaft fand 1981 statt, die Europawahl aber schon 1979). Auf diese Weise stellt der Film die längere Geschichte der Beziehungen Griechenlands zur EU in den Vordergrund – was auch deshalb erwähnenswert ist, da er in der Zeit um 2010 konzipiert und gedreht wurde, als Griechenland mit der Europäischen Gemeinschaft (und Deutschland als wichtigem Ansprechpartner) über die schwierigen (und wie viele meinen drakonischen) Maßnahmen der EU im Rahmen des griechischen Rettungsschirms verhandelte. Zudem scheint er zugehen, ist grundlegend für das Verständnis der ›neuen Welle‹ rumänischer Regisseure.« (2010: 26) Siehe auch Bardan in diesem Band.

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mit dem Paar Theres und Kenneth auf zwei der vermeintlichen Triebfedern der EU hinzuweisen, nämlich Deutschland und Großbritannien. Schanelecs Film, der übrigens seine Premiere auf einem Festival hatte, verweist auf einen politischen Prozess (Wahl) sowie auf die demokratische Öffentlichkeit (Transparente, Wahlslogans) rund um eine Wahl, die über das Nationale als identitätsstiftendes Element hinausgeht, auch wenn die Figuren (deren Nationalitäten die langfristigen Spannungen rund um diese Prozesse hervorheben) nicht explizit über Politik diskutieren. Dafür scheinen sie zu verträumt. Es scheint, als Schanelecs Der traumhafte Weg angesichts des üblichen Kunstkino-Publikums sowohl auf eine nationale als auch eine transnationale Ansprache kalibriert ist – und zwar in einem in ihrer bisherigen Arbeit noch nie dagewesenen Ausmaß.21

Abbildung 0.1: ›Der traumhafte Weg‹

Diese doppelte Art, den Begriff der Nation aufzurufen, taucht später im Film in zwei wichtigen Szenen auf. Etwa zwanzig Minuten nach Beginn des sechsundachtzigminütigen Films hat Kenneth Theres in Deutschland verlassen und findet sich mit seiner kranken Mutter und seinem blinden Vater im Vereinigten Königreich

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Zu Schanelecs eigener Sicht auf die Dinge vgl. ihr Interview, das sie anlässlich der nordamerikanischen Premiere von Der traumhafte Weg beim Toronto International Film Festival gab: https://mubi.com/notebook/posts/a-film-in-fragments-angela-schanelec-discusses-th e-dreamed-path (letzter Zugriff 20. Mai 2022).

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

wieder, wo er darüber nachdenkt, was er wegen des Zustands seiner Mutter unternehmen soll, die wahrscheinlich dauerhaft im Koma liegt. Während dieser Szene läuft auf dem Fernseher hinter ihnen ein deutlich hörbarer Bericht über DDRBürger, die über Ungarn in die Bundesrepublik fliehen wollen. Zuschauer können dadurch wahrscheinlich erkennen, dass die Szene im Jahr 1989 spielen muss, dem Jahr, als die DDR ins Wanken geriet und schließlich zusammenbrach, als Tausende von Ostdeutschen zunächst über Ungarn und dann über die Tschechoslowakei nach Westdeutschland flohen. Ungarns Hilfe bei der Flucht der DDR-Bürger steht im offensichtlichen Gegensatz zu dem feindlichen, oft brutalen Vorgehen der ungarischen Regierung gegenüber Flüchtlingen aus dem Nahen Osten in jüngster Zeit; die Szene erinnert aber auch an die lange Geschichte der deutschen Flüchtlinge in alle Welt (ein Thema übrigens, das im gleichen Jahr in Locarno in der Sektion »Piazza Grande« behandelt wurde – mit Maria Schraders Spielfilm Vor der Morgenröte (2016), der dem österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) auf seiner unfreiwilligen Wanderung während des zweiten Weltkriegs durch Argentinien, Brasilien, den Vereinigten Staaten und dann wieder zurück nach Brasilien folgt). Indem Schanelec Staatsgrenzen und ihre Überwindung durch Flüchtlinge in den Vordergrund stellt – und dadurch, wenn auch als Ellipse, die Geschichte Deutschlands während des Nazi-Regimes heraufbeschwört, als seine eigenen Staatsbürger/-innen zu Verfolgten wurden, die von anderen Nationen Unterstützung suchten –, setzt sie sich mit dem Begriff der Nation, seiner Geschichte, seiner territorialen Verfasstheit und seiner Veränderbarkeit auseinander. Damit steht Der traumhafte Weg Thomas Arslans Film Gold (2013) nahe, der zu einer ähnlichen Zeit entstand und der gleichzeitig »national« und nicht-national ist – oder eher national und jenseits der Nation –, aber auch Maren Ades Toni Erdmann, die ihre zentrale Geschichte über eine Vater-Tochter-Beziehung aus dem heimischen Deutschland nach Rumänien »verlegt«, wo die Tochter als neoliberale Unternehmensberaterin arbeitet, sowie Grisebachs Western, der wie Toni Erdmann die unternehmerische Präsenz von Deutschen in Osteuropa beleuchtet.22 Die zweite Szene: In den letzten dreißig Minuten springt Der traumhafte Weg in der Zeit (wie in einem Traum) ohne erzählerisches Getöse und ohne filminterne Hinweise: Kenneth sitzt in der Sonne, im Freien und weithin sichtbar, vor einem U-Bahn-Eingang auf einem weiten Platz vor dem Berliner Hauptbahnhof. Dieser Bahnhof (aus Glas und Stahl heraufbeschworen aus dem älteren und viel kleineren Lehrter Stadtbahnhof) wurde 2006 eröffnet, sodass die Schlusssequenz des Films irgendwann nach diesem Zeitpunkt spielen muss, wahrscheinlich während oder nach der Finanzkrise 2008–9, die die EU ins Wanken gebracht hat. Aufgrund von Schanelecs erzählerischer Strategie, durch den Film hinweg mit zeitlichen Ellipsen 22

In diesem Zusammenhang sei auch Christian Petzolds Transit (2018) erwähnt, der erst nach der Originalveröffentlichung unseres Buchs erschien.

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zu arbeiten, wissen die Zuschauer/-innen nicht, wie der anscheinend obdachlose Kenneth dorthin kam, auf einen zentralen öffentlichen Platz (nur ein paar hundert Meter vom Kanzleramt und Reichstag entfernt) in einer Stadt, die von vielen als politische Hauptstadt Europas angesehen wird. Aber der Film scheint einen Hinweis auf den Verlauf seines Wegs zu geben, als er Theres sieht, die sich ihm hier, auf dem Bahnhofsvorplatz, nähert, und offensichtlich bewegt ist von dieser physischen Erinnerung in ihre gemeinsame Vergangenheit (Abb. 0.2).

Abbildung 0.2: ›Der traumhafte Weg‹

Vielleicht hat er auf diesem vielbesuchten Platz auf sie gewartet, dreißig Jahre nachdem die Zuschauer/-innen sie zusammen in Griechenland gesehen hatten? An diesem Punkt könnte ihnen auffallen, dass beide die gleiche Kleidung und die gleiche Frisur tragen wie in der Eröffnungssequenz in Griechenland 1984: Der namensgebende »traumhafte Weg« windet sich scheinbar von jenem entscheidenden Moment – der vollen Teilnahme Griechenlands an der Europäischen Gemeinschaft, die bald Union heißen wird – bis zu diesem, der deutsch-englischen Wiederbegegnung einer Liebe aus der Vergangenheit im Herzen der neuen Hauptstadt Deutschlands. Der kollektive Traum, mit dem der Film begonnen hat, ist eng verflochten mit dem privaten Traum der Liebe zwischen diesem inter- und transnationalen Paar. Bei der Diskussion über diesen letzten Teil auf der Pressekonferenz zum Film in Locarno erklärte Schanelec, dass sie sich immer schon für die Plätze einer Stadt

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

interessiert habe – das heißt in der Erweiterung für den öffentlichen Raum, der die alt-griechische Agora als Ort der Begegnung und der Politik in Erinnerung ruft. Auf diese Weise bilden die Eröffnungs- und Schlusssequenz eine Schleife und verweisen aufeinander, indem die Wahlveranstaltung in Griechenland auf einem öffentlichen Platz durch die private Begegnung auf dem Bahnhofsvorplatz in Deutschland ersetzt wird, als Theres scheinbar gleichgültig an Kenneth vorüberläuft. Die Begegnung hat sie eindeutig berührt, wie die Zuschauer/-innen später sehen, als sie zu Hause ist. Sie handelt aber nicht, und er fällt im Folgenden vollständig in ein Loch der Verzweiflung. Eine eindeutige Lesart der »Botschaft« des Films mag in der Tat nicht greifbar sein, aber die Art und Weise, wie er bei der nationalen und transnationalen Ansprache operiert, kann eindeutig festgemacht werden: Es ist ein Film, der mit Nachdruck die »Nation« als solche thematisiert, der nationale Politik und Themen benennt, aber diese Nation ebenfalls in ihrem weiteren Zusammenhang verstanden haben möchte. Der traumhafte Weg ist also ein nationaler Film – in dem Sinne, dass er sich an ein bestimmtes Publikum wendet, indem er den nationalen Diskurs in den Vordergrund stellt; gleichzeitig jedoch öffnet er sich in seiner Produktionsgeschichte wie auch in seinem ästhetischen Ansatz für die weite Welt. Er reist sowohl buchstäblich (für seine Premiere auf einem Festival im Süden Europas) als auch in der Erzählung des Films (für seine Protagonisten und Protagonistinnen) in verschiedene Länder und macht damit sowohl die kosmopolitische Reise des Kunstkinos als auch seine anhaltende Auseinandersetzung mit nationalen Traditionen, Geschichten und Neigungen deutlich.

Ein reiches Mosaik des zeitgenössischen globalen Kunstkinos Diese einleitenden Bemerkungen bis hierhin sollen einen grundlegenden Kontext für die folgenden Aufsätze herstellen. Auch wenn wir nicht behaupten wollen, dass jeder unserer Beiträge direkt auf die Themen eingeht, die wir in unseren bisherigen Ausführungen angesprochen haben, sind wir doch der Meinung, dass jeder Beitrag in diesem Band von den beiden Hauptkontexten geprägt ist, die wir bisher skizziert haben: der Rolle des deutschen Kinos im internationalen Kunstkino und der Rolle der Festivalszene, die dafür gesorgt hat, dass die Filme der Berliner Schule durch Filme aus aller Welt beeinflusst werden konnten. Es ist natürlich nicht überraschend, dass die Beiträge diese Zusammenhänge auf ihre jeweils eigene Weise aufgreifen, da unsere Autoren und Autorinnen Fragen der Filmästhetik und -politik, der thematischen Anliegen und der geschichtlichen Einflüsse der Filme quantitativ und qualitativ unterschiedlich aufgreifen. Auch die methodischen Ansätze der vergleichenden Aufsätze – von denen die meisten um zwei Fallstudien herum organisiert sind: ein Film der Berliner Schule und ein anderer aus dem internationalen Kunstfilm – sind sehr unterschiedlich. Einige Beiträge betrachten die Filme

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von einem bestimmten theoretisch-philosophischen Standpunkt, andere von einer eher historischen Perspektive aus, während wieder andere auf das Verfahren des Close Reading, des präzisen, nachspürenden »Lesens«, setzen, um neue Erkenntnisse über die zur Diskussion stehenden Filme zu gewinnen. Zusammengenommen ergeben die fünfzehn Beiträge unseres Erachtens ein detailliertes Mosaik des zeitgenössischen internationalen Kunstkinos, das die Berliner Schule als eine bisher meist übersehene Größe offenbart – als aktive Teilnehmerin am Gespräch über das weltweite, künstlerisch ambitionierte Kino, weil ihre Protagonisten und Protagonistinnen gleichzeitig aktive Konsumentinnen dessen sind, was ihre Kolleginnen auf der ganzen Welt produzieren, und auch den kritischen Diskurs drum herum verfolgen und an ihm teilnehmen. Hester Baers Text nähert sich der Berliner Schule aus einer feministischen Perspektive, indem er Regisseurinnen wie Ade, Grisebach und Speth in den Kontext einer neuen weiblichen Film- und Fernsehkultur der Gegenwart stellt, die ihrerseits ihre Wurzeln im Gegenkino des Frauenfilms der 1970er Jahre hat. Indem sie eine Verbindung herstellt zwischen den deutschen Filmemacherinnen und ihren Kolleginnen der gleichen Generation in den Vereinigten Staaten wie Kelly Reichardt und So Yong Kim, argumentiert Baer, dass »[d]ie Arbeiten einer ganzen Reihe von transnational arbeitenden Regisseurinnen und Produzentinnen […] zu einer lebendigen zeitgenössischen Bewegung [gehören], die sowohl Darstellungspraktiken als auch Produktionsweisen neu mit Bedeutung füllen möchte, die historisch mit dem Frauenkino verbunden sind.« Genauso wie die anderen Texte in diesem Band stellt Baer klar, dass die Filme dieser Regisseurinnen weder durch eine einheitliche Ästhetik definiert sind noch darauf reduziert werden können, dass sie von Frauen gemacht sind. Was ihre filmischen Arbeiten jedoch gemeinsam haben, meint Baer, ist ihr Kampf gegen »die anhaltende (und erneute) Marginalisierung von Frauen in der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer Darstellungen im Film«. Diese Marginalisierung ist ein konstitutiver Bestandteil des Gewebes des Neoliberalismus, so Baer, das wesentlich die Bedingungen bestimmt, wie Filmemacherinnen heute ihrer Kunst nachgehen können – die gleiche Sichtweise übrigens, die sowohl Abel in seiner Monografie über die Berliner Schule als auch Fisher in seinem Buch über Petzold einnehmen, die Baer aber argumentativ ausweitet und verkompliziert, indem sie einen deutlichen Schwerpunkt darauf legt, die Stellung von Frauen sowohl in der Berliner Schule als auch im internationalen Kunstkino zu beleuchten. Letztlich schlägt Baer vor, dass »die Filme der Berliner Schule als zeitgenössische Medienassemblagen verstanden werden [können], die verschiedene Produktions- und Rezeptionsformate (analog und digital; Film, Fernsehen und Streaming) sowie multiple transnationale und nationale Filmgenres und -bewegungen miteinander verbinden […], um ein internationales Publikum von Cineasten und Cineastinnen auf breiter Basis anzu-

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

sprechen. Ein solches Modell«, schreibt Baer weiter, »trägt dazu bei, konzeptuell zu fassen, wie Filme der Berliner Schule – und das internationale Kunstkino im Allgemeinen – fest in kommerzielle Mainstream-Strukturen eingebettet sein und sie gleichzeitig in Frage stellen können.« Lisa Haegeles Analyse von Maren Ades Alle Andren (2009) und Derek Cianfrances Blue Valentine (2010) zielt in die gleiche Richtung. Haegele zeigt, wie eine transnational vergleichende Perspektive auf diese beiden »Post Romance«-Filme enthüllt, dass beide Filme zwar eine erzählerische Alternative zum traditionellen Hollywood-Liebesfilm bieten, die deutsche Arbeit allerdings »neue Möglichkeiten für den zeitgenössischen Liebesfilm [eröffnet]«, während der US-Film letztlich als »wehklagende Trauerrede auf ein ausgedientes Genre« daherkommt. Beide Filme sind nach Haegeles Ansicht fest in die »kommerziellen Mainstream-Strukturen« eingebettet, von denen Baer vorher in ihrem Essay gesprochen hat; beide zeigen jedoch, dass der Hollywood-Film mit seinen vorgeschriebenen Geschlechterrollen und der Nivellierung aller Klassenunterschiede durch die romantische Liebe mit den chaotischen und komplexen Wahrheiten von heutigen »Beziehungen« im neoliberalen Zeitalter in höchstem Maße inkompatibel ist. Trotzdem ist es letztlich eher Alle Andren als Blue Valentine, der es schafft, sowohl das Mainstream-Genre des Hollywood-Liebesfilms als auch den neoliberalen Kontext in Frage zu stellen – wobei dieser Kontext erst die Voraussetzung herstellt, weshalb dieses Genre weiterhin eine so große Popularität genießt. In Anlehnung an Fishers Argument, dass Petzold in seinen Filmen Elemente verschiedener Genres aufnimmt, mit ihnen arbeitet und sie gerade nicht ablehnt – ein häufiges Missverständnis nicht nur von Petzolds Filmen, sondern auch von den Filmen einiger seiner Kollegen und Kolleginnen –, stellt Haegele in ihrer geschickten Analyse die »dominierende Auffassung in Frage, dass Ades Protagonisten und Protagonistinnen – wie viele Figuren in den Filmen der Berliner Schule – im Zeitalter des Neoliberalismus und der Postindustrialisierung einander ›entfremdet‹ und ›sozial isoliert‹ sind«. Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung, so Haegele, wird uns erst durch den transnationalen Vergleich in ihrem Aufsatz zugänglich. Die drei Essays von Robert Dassanowsky, Will Fech und Alice Bardan nehmen Abels Darlegungen über die spezifische Ästhetik der Berliner Schule auf, erweitern sie in ihren Analysen ausgewählter Filmemacher/-innen der Berliner Schule und Regisseuren und Regisseurinnen aus anderen Teilen der Welt aber produktiv. Dassanowsky zeigt, wie eine der engeren Bezugsgruppen der Berliner Schule – die Regisseure und Regisseurinnen des Neuen Österreichischen Films, darunter Jessica Hausner und Julian Roman Pölsler – die leidige Frage des »nationalen« Kinos ganz anders angehen als ihre Altersgenossen und -genossinnen jenseits der Grenze, zum Beispiel Benjamin Heisenberg. Dassanowsky zeigt, dass sich der Neue Österreichische Film letztlich »der filmischen ›Nationenbildung‹ [widersetzt], […] sich aber dennoch als ›national‹ [versteht], insofern er die Unterordnung der österreichi-

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schen Kultur und des österreichischen Films unter internationale Definitionen des ›Deutschen‹ ablehnt«, nicht zuletzt durch die Hinwendung zu anderen Themen, als wir sie in Filmen der Berliner Schule finden, wie etwa Alltagsfaschismus. Doch obwohl Dassanowsky beträchtliche Unterschiede zwischen dem Neuen Österreichischen Film und der Berliner Schule feststellt, wenn es um die Themen ihrer Filme geht, deutet er an, dass die den Österreichern eigene Vorstellung von Realismus Einfluss auf die der Berliner Schule hatte. So erläutert er: »Während die Berliner Schule österreichische und in Österreich ausgebildete Filmemacher/-innen vor allem mit ihren filmtheoretischen Strategemen beeinflusst hat, gibt es Hinweise dafür, dass die metaphysischen Aspekte, die die Wahrnehmung direkt in Frage stellen und aus dem österreichischen magischen Realismus stammen (der selbst einer Mischung aus Surrealismus und katholischer Mystik entspringt), dem charakteristischen a-repräsentationalen, meditativen Realismus der Berliner Schule einen zusätzlichen Aspekt hinzugefügt haben.« Der Begriff des »a-repräsentationalen Realismus« wurde von Abel (2008b) erstmals in die Debatte über die Berliner Schule eingeführt, um zu verhindern, dass die Filme auf eine weitere Spielart des »realistischen« Kinos im Sinne des Arthouse-Films reduziert werden. Will Fech setzt sich ebenfalls mit der Debatte über die Rolle des »Realismus« in den Filmen der Berliner Schule sowie im zeitgenössischen internationalen Film auseinander und vergleicht auf fruchtbare und subtile Weise die Filme von Kelly Reichardt, der vielleicht bekanntesten US-amerikanischen Independent-Filmemacherin der Gegenwart, und die von Henner Winckler, der in der Vergangenheit zum Kern der Berliner Schule gezählt, aber seither in den Darstellungen über die Schule ins Abseits geschoben, wenn nicht gar vollständig vergessen wurde, wie Abel in seinem Essay über Winckler (2015) darlegt. Fech verortet seinen Vergleich im Umfeld des wahrscheinlich einflussreichsten (und umstrittensten) Beitrags in der kritischen Debatte zum gegenwärtigen Kino im letzten Jahrzehnt, nämlich A. O. Scotts Diagnose, dass wir ein Wiederaufleben des realistischen Kinos erleben, das er als »Neo-Neorealismus« (2009) bezeichnet. In seiner überzeugenden Antwort auf diese Debatte geht Fech bei der Analyse von Reichardts Werk wesentlich nuancierter vor als Scott in seiner Diskussion. Bei der Gegenüberstellung von Reichardts und Wincklers Filmen stellt er fest, dass ihre »Filme wichtige Differenzen aufweisen, die auf die Unterscheidung zwischen Verfremdungseffekt und gegenständlichem Realismus zurückzuführen sind«. Anders gesagt stellt Fechs Analyse den Begriff des Realismus selbst in Frage: »Während der Realismus vorgibt, Entsprechungen zwischen der Filmwelt und der realen Welt zu erzeugen, wie unvollkommen oder künstlich sie auch sein mögen, damit wir uns leichter mit den Figuren oder Situationen auf der Leinwand identifizieren können, so zwingt die Verfremdung die Zuschauer/-innen dazu, ihre alltäglichen Wahrnehmungen über die Realität zu hinterfragen, um das Vertraute wieder fremd erscheinen zu lassen.« Folgen wir seiner Lektüre von Filmen wie Wincklers Lucy (2005) und Reichardts Wendy und Lucy

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

(2008), so finden wir bei genauer Betrachtung ihrer Filmästhetik, dass der jeweilige (nationale) Kontext Einfluss darauf hat, wie die beiden Filmemacher/-innen jeweils »unterschiedliche Arten von Bilder des Kampfes für ein besseres Leben« imaginieren – bei dem Reichardt im Vergleich zu Winckler eher auf eine Form des repräsentationalen Neorealismus setzt, um die Anstrengungen ihrer Protagonisten und Protagonistinnen zu zeigen, während Wincklers »realistische« »ästhetische Strategie der Entdifferenzierung« (Abel 2015) mehr in Richtung »Entdramatisierung« geht, eine Tendenz, die wir bei vielen Filmen der Berliner Schule beobachten können, wenn auch bei weitem nicht bei allen (man denke zum Beispiel an die eher genreorientierten Filme von Petzold, aber auch an die Filme von Ade, darunter Toni Erdmann). Alice Bardan untersucht die Berliner Schule ebenfalls aus einer ästhetischen Perspektive, indem sie ihre Filme mit einem Paradebeispiel der sogenannten rumänischen Nouvelle Vague in Beziehung bringt, die wohl die angesagteste der neuen europäischen Kinobewegungen der letzten zwanzig Jahre ist, – mit Corneliu Porumboius Când se lasă seara peste Bucuresti sau metabolism (When Evening Falls on Bucharest or Metabolism, 2013). Bardan reagiert auf den Vorwurf, der oft sowohl gegen Porumboius Arbeit als auch gegen die Arbeiten der Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule erhoben wird, dass sie unpolitisch oder jedenfalls nicht ausreichend explizit politisch seien, und zeigt in ihrer Analyse, wie Porumboius Film, genau wie viele Filme der Berliner Schule, darunter auch die von Petzold und Arslan, auf eine Reihe von Reframings setzt und somit »eine Art des Sehens inszeniert, die ihn letztlich komplexer und politischer macht, als es zunächst scheinen mag«. Bardan zeigt überzeugend, dass sowohl »Porumboiu und die Filmemacher/innen der Berliner Schule die Frage nach dem filmischen Realismus […] nicht als einen Weg [verstehen], profilmische Ereignisse möglichst wirklichkeitsgetreu einzufangen, sondern als eine Einladung an die Zuschauer/-innen, sich auf eine Ästhetik der Entdeckung einzulassen.« Der entscheidende Punkt ihrer Argumentation, die übrigens entlang der gleichen Linien verläuft wie Fechs Analyse der Rolle des Realismus in Reichardts und Winklers Filmen, ist die Verbindung zwischen der Frage nach der Ästhetik dieser Filme (beziehungsweise ihrer Macher/-innen) mit der nach der politischen Positionierung. Bardan verteidigt die Filme letztlich gegen ihre Kritiker/-innen und argumentiert, dass ihre (jeweilige) »politische Positionierung […] im Zusammenhang mit der Auffassung gelesen werden [muss], dass die Fähigkeit der Kunst zum Politischen in ihrer ästhetischen Natur liegt, nicht in ihrem Vermögen, (didaktische) Botschaften zu vermitteln.« Ein weiterer Beitrag, der sich mit dem Verhältnis zwischen ästhetischem Ausdruck (und seinen Themen) und politischer Botschaft auseinandersetzt, ist der von Ira Jaffe. Jaffe beleuchtet das Werk des großen zeitgenössischen Meisters des türkischen Kinos, Nuri Bilge Ceylan, und untersucht, wie seine Filme im Verhältnis zu den Filmen der Berliner Schule, vor allem Petzolds, die Besonderheit der Auseinan-

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dersetzung mit den »sozialen, politischen und ökonomischen Realitäten« in ihren jeweiligen Ländern widerspiegeln. Mit besonderem Augenmerk auf der Prävalenz des Motivs der »Heimatlosigkeit« in Ceylans Arbeit – nicht so sehr tatsächliche Heimatlosigkeit im Sinne von Flucht und Vertreibung als vielmehr der psychische und emotionale Zustand, ohne Heimat zu sein, das Gefühl zu haben, nicht dazuzugehören, nicht in der Lage zu sein, sich als Teil einer Familie oder eines sozialen Umfeld zu fühlen – beschreibt Jaffe einen entscheidenden Unterschied zwischen Ceylans gefeierten Filmen, die viele Preise bei den Filmfestspielen in Cannes gewonnen haben, und denen der Berliner Schule, insbesondere Petzolds. Er argumentiert: »Aber während sowohl Petzolds als auch Ceylans Figuren deplatziert und vielleicht sogar gespenstisch erscheinen, egal wo sie sich befinden, bewegen sich Petzolds Figuren doch eher in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort; sie sind damit in eine bestimmte wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung eingebunden, nämlich in die des Neoliberalismus in Deutschland nach der Vereinigung.« Im Gegensatz dazu, schreibt Jaffe, sind die Protagonisten in Ceylans Filmen »zurückgezogener, unartikulierter, lethargischer und zielloser – der Gesellschaft und einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung und Ideologie entfremdet, mit dem Ergebnis, dass ihre Heimatlosigkeit eine eher übergreifende und unveränderbare Qualität hat«. Es wäre interessant, Ceylans eigene Behauptung, dass seine Filme eher an existenziellen als an politischen Fragen interessiert sein könnten, zusätzlich zu hinterfragen. Jedoch ist sicherlich schon das reine menschliche Dasein – allein was es überhaupt bedeutet zu sein – mit politischen Fragen durchsetzt, sodass die vermeintlich metaphysischen und ahistorischen Aspekte von Ceylans Filmen sehr wohl recht aufschlussreich über die sozialen und politischen Bedingungen der spezifischen kulturellen Situation, in der er seine Filme macht, berichten könnten. Aber Jaffes Schlussfolgerung, dass ein Filmemacher wie Petzold sich letztendlich mehr auf »spezifische soziale Bedingungen« konzentriert, während Ceylan ein größeres Interesse an »den eigentlichen Grundlagen der menschlichen Existenz« zeigt, ist schlussendlich treffend und eröffnet darüber hinaus interessante Perspektiven auf das Vermächtnis von Filmemachern wie Ingmar Bergman, Carl Theodor Dreyer, Yasujirō Ozu und Michelangelo Antonioni im Kontext des zeitgenössischen internationalen Kunstkinos. Im Anschluss wendet sich daher Inga Pollmann in ihrem Beitrag zu diesem Band dem Werk Antonionis zu und versucht, genealogische Verbindungen zwischen ihm und den Werken der Berliner Schule im Kontext des internationalen Kunstkinos zu entdecken und zu beschreiben. Vergleichbar mit Brad Prager, der in seiner Analyse von Heisenbergs Film Der Räuber ein historisches Vorbild (Truffaut) aufruft, benutzt Pollmann Antonionis Film Professione: Reporter (Beruf: Reporter, 1975), um ästhetische Strategien der Filmemacher/-innen der Berliner Schule, insbesondere in Schanelecs Film Marseille, deutlich zu machen. Indem Pollmann den analytischen Begriff des »Milieus« anwendet – und dabei den Unterschied zwi-

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schen Milieu als Ort und Milieu als Netzwerk von Beziehungen ausarbeitet –, legt sie dar, wie die »Berliner Schule mit Antonionis ästhetischen Strategien [umgeht], die eine tieferliegende Krise hinauf an die Oberfläche der Dinge holen, [um] ihre Konstellation und ihre Interaktion mit Figuren, die entweder nicht wissen, was sie wollen, und sich treiben lassen, oder unerbittlich von leeren Begierden und Wünschen vorwärts getrieben werden.«. Genauso wie Baers Beitrag – und die jeweiligen Monografien von Abel und Fisher – verknüpft Pollmann die ästhetischen Strategien, die sie bei Antonioni vorfindet und in einem Film wie Marseille in ihrer politischen Konsequenz ausgearbeitet sieht, mit ihrem immanenten politischen Potenzial im Zeitalter des Neoliberalismus. Ausgehend von einer scharfsinnigen und originellen Lesart von Foucaults Darstellung der neoliberalen Ökonomie – »die Wissenschaft der Systematizität von Reaktionen auf die Variablen der Umgebung« – führt Pollmann aus, dass Schanelec, indem sie sich an Antonionis ästhetische Strategien anlehnt, »in ihren Bildern eine Art experimenteller Problematologie statt einer (normativen) Epistemologie erzeugt, also eine Ästhetik, die sich auf Reibungspunkte, Missverständnisse und Fehlanpassungen konzentriert – eine Ästhetik, die dem erkenntnistheoretischen Ansatz von Canguilhem bis Foucault und Deleuze entspricht«. Und es ist dieser ästhetische Ansatz, der »die Lücken zwischen dem Milieu und den Handlungen – beziehungsweise deren Fehlen – der Protagonistinnen und Protagonisten« sichtbar macht und letztlich »von den Zuschauern und Zuschauerinnen auch eine andere Art des Sehens« erfordert: »Da die Erzählung es nicht erlaubt, in sie einzutauchen; die Protagonisten und Protagonistinnen es nicht zulassen, sich ohne weiteres mit ihnen zu identifizieren; und der Bildaufbau und die Inszenierung unseren Blick und Zugang einschränken, müssen die Zuschauer/-innen mit dem Bildregime als Ganzes in Verbindung treten.« Folglich sind die Zuschauer/-innen direkt mit der »Macht des neoliberalen Milieus« konfrontiert und können die Härte »des Mediums, der Umgebung, in dem sich die Protagonisten und Protagonistinnen bewegen, […], aber auch ihren unbewussten Widerstand gegen diese Kräfte« unmittelbar betrachten. Indem die Filme der Berliner Schule sich in die Genealogie des internationalen Kunstkinos – hier verkörpert durch Antonionis Werk – einordnen und dessen Verfahren nutzen, »entlarven [sie] das zeitgenössische [neoliberale] Milieu und manifestieren ihr politisches Potenzial«. Pollmanns vergleichendes Argument, dass das neoliberale Milieu, das gegenwärtig das »Sinnliche« (das, was wir sehen, fühlen und wahrnehmen können, wie Jacques Rancière es ausdrückt) aufteilt, in den Mittelpunkt stellt, knüpft direkt an Bardans Darstellung dazu an, wie die Filme der Berliner Schule (und die von Porumboiu) das Sinnliche in ein neues gedankliches Bezugssystem setzen – reframen – und damit neu aufteilen. Ihre neuartige Interpretation verfolgt insofern eine ähnliche Strategie wie die von Roger Cook, der die »autonomen ästhetischen Strategien« der Filme von Abbas Kiarostami, dem verstorbenen Großmeister des

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iranischen Kinos, und Ulrich Köhler, Filmemacher der Berliner Schule, auf ihre Verfahren abklopft. Wie Pollmann, die anregend die Rolle des Tons in den von ihr besprochenen Filmen analysiert, argumentiert Cook, dass die Filme »ästhetische Strategien anwenden, um subversiv nicht nur die Ebene der expliziten Botschaften, sondern auch der visuellen Wahrnehmung zu unterwandern«. Mit anderen Worten: Cook steuert uns über das visuelle Wirkungsvermögen der Bilder der Filme hinweg, um uns dazu anzuregen, über ihre haptische Funktionsweise nachzudenken und sie zu wertschätzen. Wie Pollmann und Bardan widerspricht Cook der Kritik über die angeblich unpolitische Natur der Filme. Genauso wie Jaffe und Pollmann richtet Cook den etablierten Diskurs über die Berliner Schule neu aus, indem er sich einem Filmemacher zuwendet, dem oft unterstellt wird, er beschäftige sich im Großen und Ganzen mit »existenziellen« Themen. Cook nähert sich seinem Vergleich, indem er sich mit den neuesten Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften und dem Kognitivismus befasst (dabei aber die etablierte kognitivistische Filmwissenschaft, wie sie von David Bordwell und anderen verbreitet wird, hinter sich lässt, deren Kognitivismus, so Cook, zu sehr an das Bewusstsein gebunden ist). Parallel zu Fechs differenzierter Darstellung der Rolle des Realismus in Reichardts und Wincklers Filmen argumentiert Cook, dass die »globale Neuen Welle des unabhängigen Filmschaffens […] den Realismus als Genre neu aufnimmt und auf vielfältige und unterschiedliche Weise ausgestaltet« – ein Realismus, den wir nicht richtig einordnen können, wenn wir nicht sorgfältiger untersuchen, wie die ästhetischen Strategien der Filme »Veränderungen auf der Ebene des Affekts anzustoßen«. Mit Blick auf die Rolle, die die »indirekte freie subjektive Perspektive« in den von ihm analysierten Filmen spielt, weist Cook darauf hin, dass die »[i|hre mikropolitischen Interventionen festgelegte Empfindungsmuster, die sich in die Tiefen der subphänomenalen Intensitäten und die Höhen der Materialität des Denkens erstrecken [stören]«. Interessanterweise lenkt uns Cooks Darstellung wieder einmal von der Untersuchung dessen, wie diese Filme das Sinnliche neu aufteilen, auf verblüffende Weise dazu, methodologische Veränderungen vorzunehmen – dahin, Film durch die Linse dessen zu betrachten, was Abel in Anlehnung an Deleuze als eine Logik des A-Repräsentationalismus (Abel 2013: 14–21) genannt hat. Das heißt, dass die Bilder und Klänge der Filme – und ihre haptische Kraft – in erster Linie nicht etwas bezeichnen oder »bedeuten«, sondern affektiv wirken; sie tun dem Zuschauer etwas an. Cook geht in seinem Argument von den Erkenntnissen in der Neurowissenschaften der letzten Jahrzehnte aus und kommt dabei zu dem Schluss, dass die »Realität, die dem Publikum der Filme der Berliner Schule und Kiarostamis geboten wird, von einem virtuellen, prothetischen Bewegtbild aus[geht], das die gewohnten Sehweisen auf der Ebene der affektiven und sensomotorischen Reaktionen stört und die Subjektivität in den unbewussten, instinktiven Registern des Selbst verändert«. Bei seinem Eingriff geht es also nicht nur darum, wie wir verstehen, was die Berliner Schule ist oder was sie

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

tut, sondern er plädiert für eine spezifische Methodik, die sich in ihrer Betonung des Affekts zwar mit dem eher deleuzeanisch als neurowissenschaftlich geprägten a-repräsentationalistischen Ansatz von Abel überschneidet, aber letztlich in eine etwas andere Richtung geht. Michael Sicinskis Essay über die Filme von Ulrich Köhler Montag kommen die Fenster und Schlafkrankheit – letzterer wurde bei den Berliner Filmfestspielen mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet – greift die ungewöhnliche Weise auf, wie Köhler seine Affinität zu dem thailändischen Filmemacher und Installationskünstler Apichatpong Weerasethakul, der 2010 in Cannes mit der Goldenen Palme d’Or ausgezeichnet wurde, immer wieder betont. In Interviews erzählt Köhler, wie Apichatpong ihn »enorm beeinflusst« habe, insbesondere sein Spiel mit der schwer fassbaren Beziehung zwischen (vermeintlichen) materiellen Realitäten und (oft realeren) mystischen Ebenen von Selbst und Welt. Sicinski untersucht insbesondere, wie ein zentraler Aspekt dieser schwer fassbaren Grenze zwischen realer und mystischer Welt das ist, was James Quandt als Apichatpongs Interesse an der »gegabelten Zeit« charakterisiert hat, die die Koexistenz verschiedener zeitlicher »Wirklichkeiten« in einem einzigen Moment ermöglicht, während sie gleichzeitig eine einfache Ursache-Wirkung-Logik zwischen ihnen verneint. In Filmen wie Sud sanaeha (Blissfully Yours, 2002), Sud pralad (Tropical Malady, 2004), Loong Boonmee raleuk chat (Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben, 2010) und Rak ti Khon Kaen (Cemetery of Splendor, 2015) unterbricht Apichatpong die erwartete Kontinuität der Zeit mit unvorhergesehenen zeitlichen Brüchen. Solche abrupten Einschnitte zeigen ebenso überraschende narrative Verschiebungen an, wie etwa die Einführung neuer Figuren (à la Wong Kar-Wai), aber auch völlig neuer Spezies, Epochen und spiritueller Welten. Für Sicinski besteht eine der bezeichnenden Parallelen zwischen den beiden Filmemachern vor allem in ihrem Umgang mit dem Anspruch auf vermeintlich politische Aussagen in Filmen: Köhler verfasste einen viel zitierten kurzen Essay »Warum ich keine ›politischen‹ Filme mache« (2007), und beide Filmemacher vermeiden in ihrem Werk weitgehend konventionelle politische Festlegungen zugunsten einer »umfassenden Neudefinition der Realität«. In Köhlers Filmen Bungalow, Montag kommen die Fenster und Schlafkrankheit sind die Zäsuren vielleicht nicht so abrupt – und einer Traumlogik folgend – wie bei Apichatpong, aber sie sind ähnlich rätselhaft und trotzen der klassischen Erzähllogik und Erwartungshaltung.23 Wie Sicinski untersucht Lutz Koepnick in seinem Beitrag die Verbindungen der Berliner Schule zum ostasiatischen Kino. Im Besonderen konzentriert er sich dabei auf die Gemeinsamkeiten in der Ästhetik von Filmen ostasiatischer Filmemacher/-innen wie Tsai Ming-liang und denen der Berliner Schule wie Schanelec und Köhler, die gerne mit langen Einstellungen und einer elliptischen Erzählweise 23

Diese Aussage trifft sicherlich auch auf Köhlers In my Room zu.

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arbeiten. Koepnick untersucht zwei zentrale Aspekte dieses übergreifenden ästhetischen Ansatzes des »andauernden Betrachtens« (»durational looking«), den er als transnational übergreifende Struktur sieht: erstens die Entscheidung für eine Ästhetik der »Fadheit«, wie sie in der Arbeit von François Jullien skizziert wird, und zweitens den Einfluss von Videoinstallationen in Galerien und Museen und deren zeitbasierten und zuschauerorientierten künstlerischen Verfahren. Koepnick vergleicht beispielsweise eine vierzehnminütige Einstellung in Tsais Jiao you (Stray Dogs, 2013) mit Schanelecs Weigerung, sich in Filmen wie Mein langsames Leben, Marseille und Orly an die etablierten Regeln zu halten, wie man im Film Geschichten erzählt. Er zeigt, wie beide Filmemacher/-innen es vermeiden, nach ihren langen Einstellungen den Gegenschuss zu zeigen und es bevorzugen, mit statischen Bildkompositionen und nicht psychologisch motivierten Figuren zu arbeiten. Diese filmischen Strategien tragen zu dem bei, was Koepnick als einen Modus der »faden Zuschauerschaft« bezeichnet, der die »strukturierenden Unterscheidungen und affektiven Manipulationen«, wie sie im Mainstream-Kino zu sehen sind, umgeht. Tsai (in Stray Dogs sowie in Bu san [Goodbye, Dragon Inn, 2003]), Schanelec (vor allem in Orly) und Köhler (in Bungalow) zeigen, wie sich diese »interessenlosen« Zuschauer/-innen – die ebenso die Räume von Museen und Galerien bevölkern – gegen den Modus des emotional aufwühlenden, polarisierenden, wertenden und permanenten Zuschauens, das von den gegenwärtigen Medien gefördert wird, durchsetzen kann. Auch andere Beiträge befassen sich mit den politischen Positionen, die in den Filmen der Berliner Schule auf eine komplexe, herausfordernde, allerdings auch elliptische Weise zum Ausdruck kommen. Chris Homewood beschäftigt sich mit Steve McQueen, eine der bekanntesten Figuren des zeitgenössischen europäischen Films, und betrachtet die Gemeinsamkeiten zwischen ihm und einigen Filmen der Berliner Schule, insbesondere Petzolds Die innere Sicherheit (2000) und Hochhäuslers Falscher Bekenner (2005) in Bezug auf ihre politische Aussage. Als McQueen 2008 in Cannes mit Hunger – einem Film über den Hungerstreik von Bobby Sands, einem Mitglied der terroristischen Untergrundorganisation IRA in Nordirland Anfang der 1980er Jahre – seinen viel beachteten Durchbruch erzielte, war er bereits ein anerkannter Video- und Installationskünstler. Es ist dabei bemerkenswert, dass sowohl Petzold als auch Hochhäusler auf ähnliche Weise wie McQueen in ihren Filmen darüber reflektieren, wie – scheinbar konterintuitiv – aus einer Seinsweise der persönlichen Unangepasstheit politischer Widerstand entsteht. Auch wenn die Verbindung zu Hochhäuslers Falscher Bekenner weniger offensichtlich sein mag, sieht Homewood in allen drei Filmen den gegenwärtigen Zustand der Politik und Wirtschaft am Werk, wobei bei McQueen und Petzold die Auseinandersetzung mit der Geschichte eines Extremismus im Vordergrund steht, der gegenwärtig in den Hintergrund des öffentlichen Interesses gerückt ist. Für Homewood entfalten alle diese Filme einen Modus der Trägheit und Bewegungslosigkeit; sie lehnen gleich-

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zeitig den politischen Kontext um sie herum ab und denken über die Anforderungen des heutigen Wirtschaftssystems nach, das uns allen abverlangt, in ständiger Bewegung zu bleiben, ohne den Sinn zu hinterfragen. Im Gegensatz dazu betrachtet Brad Prager in seinem Essay über die Filme von Benjamin Heisenberg nicht so sehr die Politik der Trägheit, sondern vielmehr die der Bewegung und Mobilität in den Filmen der Berliner Schule. Viele Autoren und Autorinnen – sowohl aus der Filmwissenschaft als auch der Filmkritik – haben das Motiv des Autos und seine Allgegenwart in der Berliner Schule analysiert. Dagegen stellt Prager die Figur des Langstreckenläufers, die den Wunsch verkörpert, einen Widerstand gegen den Status quo in einem geschichtlichen Moment zu artikulieren, in dem kollektive politische Handlungsmöglichkeiten weniger denn je vorstellbar sind, geschweige denn aktiv angerufen werden können. Darüber hinaus verknüpft diese Figur die Filme Heisenbergs mit einem zentralen Motiv im europäischen Kunstkino, etwa der (frühen) Nouvelle Vague in Frankreich oder der British New Wave. Für Prager ist der Langstreckenläufer ein Einzelgänger, der es ablehnt, sich den herrschenden Werten anzupassen und der läuft, um den nagenden Forderungen der Gesellschaft nach Konformität und Mittäterschaft zu entfliehen. Dieser Hang zum Laufen diente im europäischen Kunstkino sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien als zentrales Motiv: Prager nennt die berühmte Laufsequenz mit dem Standbild-Finale von Truffauts Les quatre cents coups (Sie küßten und sie schlugen ihn, 1959) und die Art und Weise, wie der Läufer in Richardsons The Loneliness of the Long Distance Runner (Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, 1962) ein politisches Unbehagen über eine zunehmend konsumorientierte Welt repräsentiert. Heisenbergs bekanntester Film, Der Räuber (2010), verwendet einen laufenden Protagonisten auf ähnliche Weise als politische Metapher. Allerdings, so Prager, drehen sich auch einige seiner früheren Arbeiten sowie andere Filme der Berliner Schule um die Frage, wie sich Bewegung mit Politik überschneidet. In Heisenbergs Schläfer (2005) beispielsweise wird Bewegung, sei es im Videospiel oder beim GokartFahren, zu einem wichtigen Mittel, um die politische und persönliche Beziehung zwischen einem Deutschen und seinem Kollegen aus dem Nahen Osten, der des Terrorismus verdächtigt wird, zu verhandeln. Wie Homewood und Prager geht auch Jaimey Fishers Essay über das bahnbrechende Werk von Petzold und den Dardenne-Brüdern davon aus, dass die althergebrachten politischen Handlungsmöglichkeiten gescheitert sind, ihre Bedeutung verloren haben oder gar nicht mehr existieren. Fisher weist darauf hin, dass die frühen Karrieren und der Aufstieg an die Spitze des Kunstkinos bei den Dardenne-Brüdern und Petzold parallel verliefen. Alle drei erlangten Anerkennung durch Arbeiten, die sich damit beschäftigten, ein durchdringendes Gefühl der Nachgeborenheit zu einem vergangenen gesellschaftlichen und politischen Aufbruch, der zuvor die kollektive Imagination ganz ausgefüllt hatte, ins Verhältnis zu setzen. Für die Dardennes war es der Wechsel von sozialkritischen Dokumentarfilmen zu

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Spielfilmen, die in der deindustrialisierten Wallonie ihren Schauplatz haben. In ihrer belgischen Heimatregion haben nicht nur die Industrie selbst, sondern auch die Organisationen der Arbeiterschaft und Politik dauerhaft an Bedeutung verloren (zu sehen zum Beispiel in La promesse [Das Versprechen, 1996] und Rosetta [1998]; beide Filme hatten prominente Auftritte in Cannes). Für Petzold – der ebenfalls aus einer deindustrialisierten Region stammt, die sowohl sinnbildlich als auch geografisch nicht so weit von der Heimatregion der Dardennes entfernt ist – ist der relevante politische und ästhetische Hintergrund die prägende Zusammenarbeit mit Harun Farocki und die Aufarbeitung der Nachwirkungen des linksextremistischen Terrors der RAF in den 1970er Jahren (in Die innere Sicherheit [2000], Wolfsburg [2003] und Gespenster [2005]). In ihren Filmen konzentrieren sich diese Filmemacher darauf, die Beziehung von Körpern zu den sich rapide verändernden Bedingungen der Arbeit zu beschreiben und die Auswirkungen, die dies vor allem auf junge Menschen hat, die in einer sich radikal wandelnden Umgebung erwachsen werden und eine prekäre Reife erreichen müssen. Diese Veränderungen führen sowohl bei den Dardennes als auch bei Petzold dazu, dass sie eine ausgeprägte künstlerische Sprache entwickelt haben, die eng an dem haptischen Potenzial des Kinos orientiert ist, aber bewusst die sozioökonomischen Veränderungen und deren politische Folgen kontextualisiert. Gerd Gemünden bringt in seinem Text zwei Bewegungen der »neuen Welle« der jüngeren Zeit in einen Dialog – die Berliner Schule und das Neue Argentinische Kino, die in einem ungewöhnlichen Ausmaß die gegenseitigen Einflüsse anerkennen, auch wenn die filmischen Ähnlichkeiten mehr in die eine als in die andere Richtung zu fließen scheinen. Verschiedene Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule (insbesondere Hochhäusler und Köhler) haben die Filme der Argentinier/-innen Lucretia Martel und Lesandro Alonso als Einflüsse genannt; die argentinische Filmzeitschrift Las naves nennt den deutschen Revolver als bestimmende Inspiration. Der Beitrag von Gemünden zeichnet die Parallelen zwischen diesen beiden losen Gruppen von Filmemachern und -macherinnen nach, einschließlich ihrer institutionellen Geschichte (zum Beispiel die Bedeutung von Filmfestivals und die Herausforderungen bei der Finanzierung) sowie ihre jeweiligen Reaktionen auf die Explosion der neoliberalen Politik in den 1990er Jahren und deren Folgen rund um die Welt (wobei das Los Argentiniens und das Deutschlands im Laufe dieser Entwicklungen sehr unterschiedlich war). Gemünden entdeckt zwar »bemerkenswerte Parallelen« zwischen den beiden Bewegungen, geht aber auch einer heikleren Frage nach, nämlich der nach einer Universalität des Kunstkinos im Sinne einer Auseinandersetzung mit (und der Verwendung von) einer universellen Filmsprache, die in ihrer Reise um die Welt gut übersetzt werden kann. Auf der anderen Seite wird diese Universalität zumindest teilweise ausgeglichen, indem die Nationalität der Filme betont wird, das heißt, durch ihre Auseinandersetzung mit den jeweiligen nationalen Geschichten, Kulturen und Themen.

Einleitung: Die Berliner Schule und darüber hinaus

Solche nationalen Themen können sich laut Gemünden jedoch überschneiden, wie etwa in Martels La mujer sin cabeza (Die kopflose Frau, 2008) und Petzolds Wolfsburg, die beide einen Unfall mit Fahrerflucht, bei dem die Schuldfrage nicht eindeutig geklärt ist, benutzen, um allgemeinere Fragen nach Klasse und ihren Auswirkungen zu untersuchen. Andererseits haben Themen wie das plötzliche Verschwinden von Menschen und die Verschleierung von Verbrechen in Argentinien völlig andere, landesspezifische Resonanzen. Mit Lesandro Alonsos Jauja von 2014 greift ein etablierter Regisseur einer bisher gegenwartsorientierten und neorealistischen Bewegung die komplexen historischen Hinterlassenschaften seines Landes auf und beruft sich dabei offensichtlich auf Werner Herzogs einflussreichen Klassiker des Neuen Deutschen Films Aguirre, der Zorn Gottes (1972). Parallel dazu wenden sich Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule in jüngerer Zeit Filmen zu, die weitgehend vernachlässigte Momente der deutschen Geschichte untersuchen, sei es die deutsche Migration nach Nordamerika in Arslans Gold oder die frühe Nachkriegszeit in Petzolds Phoenix. Am Ende des Bandes wendet sich Roland Végső einem anderen »existentialistischen« Filmemacher zu, dessen Karriere sich zu großen Teilen mit der von Kiarostami überschneidet: dem Ungarn Béla Tarr. Végsős Vorgehen bei der Analyse von Tarrs Filmen – insbesondere seinem letzten Meisterwerk A torinói ló (Das Turiner Pferd, 2011), das er mit Schanelecs Marseille und Arslans Gold zusammen bringt –, stützt sich auf sein eigenes philosophisches Werk über den Begriff der Weltlosigkeit.24 Wie Cook möchte Végső uns dazu bringen, die Berliner Schule nicht nur im Vergleich zu anderen internationalen Kunstfilmpraxen zu positionieren, sondern genauso ernsthaft Überlegungen bezüglich unserer Methodik anzustellen. In seinem Fall sind es nicht die exakten Wissenschaften – i.e. die Naturwissenschaften –, sondern die lange Tradition der Kontinentalphilosophie (die Martin Heidegger und Hannah Arendt mit neueren Philosophen wie Alain Badiou verbindet), die unsere Sichtweise auf die vorliegenden Filme bestimmt. Mit der Feststellung, dass »[l]aut einer weit verbreiteten These […] sich die grundlegende soziale Erfahrung der gegenwärtigen Zeit am besten durch das Paradox der Weltlosigkeit beschreiben [lässt]« – »die geteilte Erfahrung des Verlustes einer gemeinsamen Welt« genau in dem Moment, in dem »die Moderne uns durch verschiedene technische Erfindungen scheinbar einander näher gebracht hat« –, stellt Végső uns vor die interessante Frage, ob wir angesichts des Zwiespalts, dass »einerseits die Kunst als Widerstand gegen die Weltlosigkeit und andererseits als ästhetischer Ausdruck der selben« verstanden werden kann, überhaupt von so etwas wie einer Ästhetik der Weltlosigkeit sprechen können. Mit anderen Worten bittet uns Végső – in seinem Text und in seinem größeren philosophischen Projekt zur Weltlosigkeit – darüber nachzudenken, welche Bedingungen für die Möglichkeit, so etwas wie einen ästhetisch fun24

Roland Végső, Worldlessness After Heidegger (University of Edinburgh Press, 2020).

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dierten Widerstand zu formulieren, heute bestehen müssten, in einer Zeit, in der viele Menschen das Gefühl haben, keinen Zugang zu einer gemeinsamen Welt zu haben. Seiner Ansicht nach sollten »die Filme der Berliner Schule im Kontext dieser gesellschaftlichen Diagnose bezüglich der Paradoxien der modernen Weltlosigkeit interpretiert werden […]. Es wäre keine Übertreibung zu behaupten, dass so gut wie jeder Film, der von dieser Gruppe von Regisseuren und Regisseurinnen geschaffen wurde, ein Versuch ist, sich mit bestimmten Aspekten dieses Narrativs auseinanderzusetzen.« Tarr dient in Végsős Analyse als fruchtbarer Hintergrund für seine Untersuchung der Berliner Schule – insbesondere der Filme von Arslan und Schanelec – nicht nur, weil Tarrs Werk wohl zu der »konsequentesten Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Weltlosigkeit« gehören mag, sondern auch, weil sowohl Tarrs Filme als auch die der Berliner Schule letztlich auf »dieselbe geschichtliche Realität reagieren: das Ende des Kalten Krieges und der Aufstieg einer neuen kapitalistischen Weltordnung«, ungeachtet der unterschiedlichen gesellschaftlichen Erfahrungen, die Tarrs Filme von denen seiner Kollegen und Kolleginnen der Berliner Schule unterscheiden. Végső spekuliert provozierend im Schlussargument seines Essays – das zugleich als Schlusswort unseres Bandes dient –, ob möglicherweise das »Berlin«, das den Filmen der Berliner Schule als Signifikant gemeinsam ist, in ihnen als ontologischer Ort in einer Weise funktioniert, die daran anknüpft, wie Tarrs Filme »die konkrete Universalität Osteuropas als eine Art ›ontologischer Ort‹« artikulieren. Durch die direkte Konfrontation der sozialen Bedingungen der Weltlosigkeit, die die zeitgenössische Subjektivität definiert, so Végső, rücken die Filme der Berliner Schule durch ihre bestimmende ästhetische Strategie – nämlich durch ihre »Tendenz zur Räumung des Feldes der Repräsentation« – in den Vordergrund, wie »Berlin den spezifischen (historisch und kulturell konkreten) Standpunkt darstellt, von dem aus eine existenzielle Katastrophe erstmals sichtbar wird«. Letztlich, so Végső, kann man die Filme so lesen, dass sie das existenzielle Drama »der inhärenten Spaltung [inszenieren], die die deutsche Identität im Zeitalter der radikalen Weltlosigkeit von sich selbst trennt«. Hier werden Politik und Metaphysik, das Soziale und Existenzielle, als gleichzeitig inkommensurabel und nicht als voneinander unabhängig zu denkende Überlegungen sichtbar gemacht. Damit bringt Végsős Aufsatz überzeugend die Reihe von Essays in unserem Band zusammen, die sich gleichzeitig mit der Ästhetik und Politik der Filme der Berliner Schule beschäftigen.

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1 Die Berliner Schule und Filme von Frauen Hester Baer

Am Ende von Maren Ades Debütfilm Der Wald vor lauter Bäumen (2003) sitzt die Lehrerin Melanie Pröschle am Steuer eines Autos und weint unkontrolliert. Während ihr Fahrzeug die Autobahn entlangrast, klettert Melanie plötzlich aus dem Fahrersitz nach hinten auf den Rücksitz, wo sie aufhört zu weinen und ihr Gesicht dem Sonnenlicht zuwendet, das durch das Autofenster fällt. Indem sie buchstäblich den Fahrersitz verlässt, verweigert Melanie ihre Teilnahme an einer gesellschaftlichen Ordnung, in der sie während des gesamten Films für sich keinen richtigen Platz gefunden hat und die von ihr verlangt, ein unternehmerisches Modell ihres Selbst zu entwerfen, dessen sie unfähig ist. Während wir den Zusammenstoß erwarten, der nie stattfindet, verweilt die Kamera fast unerträglich lange auf Melanie. Ade bricht damit mit der realistischen, dokumentarischen Ästhetik, die den Film bisher geprägt hatte, und erzeugt beim Zuschauer ein tiefes Gefühl der Unsicherheit und des Unbehagens (Abb. 1.1). Das ergreifende Bild von Melanie, die auf dem Rücksitz eines fahrerlosen Autos ins Unbekannte rast, stellt einen Schlüsselmoment für die aufstrebende Filmund Fernsehkultur von Frauen dar, die Gegenstand dieses Kapitels ist. Die Werke einer ganzen Reihe von transnational arbeitenden Regisseurinnen und Produzentinnen gehören zu einer lebendigen zeitgenössischen Bewegung, die sowohl Darstellungspraktiken als auch Produktionsweisen neu mit Bedeutung füllen möchte, die historisch mit dem Frauenkino verbunden sind. Die beschriebene Szene aus Ades »Situationstragödie« (Berlant 2011) steht sinnbildlich für Melanies Weigerung, den an sie gestellten Erwartungen zu entsprechen, aber auch dafür, dass sie für sich keine anderen Handlungsmöglichkeiten sieht, die es ihr erlauben würden, eine aktivere Form des Widerstands zu entwickeln. Die Szene ist ein Beispiel dafür, wie zeitgenössische Frauenfilmproduktionen geschlechtsspezifische Subjektivität im neoliberalen Kapitalismus darstellen, kritisieren und letztendlich erst sichtbar machen.1 Das Interesse dafür, welche Auswirkungen das neoliberale Wirtschaftsdenken auf das Leben von Frauen und Kindern hat und wie sich geschlechtsspe1

Berlant (2011) nutzt den Genrebegriff »Situationstragödie«, um Szenen zu beschreiben, in denen »die Figuren ausweglos in einer Art der Verzweiflung verstrickt sind, die weder existenziell noch heroisch ist, sondern den Anstrengungen des Alltagslebens im Kapitalismus

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zifische Erfahrungen im 21. Jahrhundert verändert haben, verbindet die Arbeiten von Maren Ade und ihren Kolleginnen Barbara Albert, Valeska Grisebach, Jessica Hausner, Angela Schanelec und Maria Speth mit denen von Filmemacherinnen weltweit, darunter – um nur einige prominente Beispiele zu nennen – Andrea Arnold, Claire Denis, So Yong Kim, Lucrecia Martel und Kelly Reichardt.2 Ihre Filme zeichnen sich dadurch aus, dass sie präzise beobachtete Geschichten erzählen, unterschiedliche Erfahrungen von Geschlecht, Sexualität und Intimität eröffnen und die Prekarität des gegenwärtigen Lebens in den Mittelpunkt stellen. Formal geht das zusammen mit der Verwendung einer minimalistischen Ästhetik und – das ist entscheidend – damit, dass die Frauen selbst die Produktionsmittel kontrollieren. Obwohl die Arbeiten dieser Filmemacherinnen weder ausschließlich durch die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht definiert sind noch eine gemeinsame ästhetische oder politische Absicht verfolgen, zeigen und kritisieren sie die anhaltende (und erneute) Marginalisierung von Frauen in der gegenwärtigen Gesellschaft und der filmischen Darstellung.

Abbildung 1.1: Die Unsicherheit der Gegenwart: Melanie (Eva Löbau) verlässt den Fahrersitz in Maren Ades ›Der Wald vor lauter Bäumen‹ (2003).

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geschuldet ist« – eine Beobachtung, die die Filme von Maren Ade und den anderen hier besprochenen Regisseurinnen perfekt einfängt (290, Fn. 18). Dass ich die österreichischen Regisseurinnen Albert und Hausner in diese Liste einbeziehe, ergibt sich aus der ästhetischen Nähe und der engen finanziellen Zusammenarbeit, die sie seit langem mit den mit der Berliner Schule verbundenen deutschstämmigen Regisseurinnen pflegen und auf die ich später im Text näher eingehe.

1 Die Berliner Schule und Filme von Frauen

Die Entstehung von Medienkonglomeraten und die zeitgenössische Film- und Fernsehkultur von Frauen Der Zusammenschluss von Medienverlagen zu immer größeren Gruppierungen ist seit den 1980er Jahren ein wesentlicher Aspekt der Neoliberalisierung in den Industrienationen auf beiden Seiten des Atlantiks. Er ist das Ergebnis der Deregulierung der Medienindustrien und der unternehmensfreundlichen gesetzlichen Regelungen, die den Weg für vereinfachte Fusionen und Übernahmen ebneten. Die von US-amerikanischen und europäischen Megakonzernen dominierten Medienkonglomerate haben dazu geführt, dass in der Nachrichten- und Kulturindustrie massiv Arbeitsplätze abgebaut wurden, darunter viele Jobs von Frauen und Minderheiten. Wie der »Women and ICT Status Report 2009« der Europäischen Kommission dokumentiert, sind Frauen heute in der europäischen Medienindustrie stark unterrepräsentiert und diejenigen, die noch dort arbeiten, leiden unter einem deutlichen Lohngefälle und werden deutlich niedriger entlohnt als ihre männlichen Kollegen (Europäische Kommission 2010). Die Situation in den Vereinigten Staaten ist ähnlich – auch dort haben Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen begonnen durch Recherchen, Licht auf die grassierende Ungleichheit und Diskriminierung in Medienunternehmen zu werfen. Die Zusammenschlüsse in der Medienindustrie haben die geschlechtsspezifischen Unterschiede sowohl ökonomisch als auch ideell durch den Abbau von Arbeitsplätzen von Frauen und den Verzicht auf Gleichbehandlungsmaßnahmen verschärft. Infolgedessen hat die Zentralisierung in den Medien die Anzahl der verschiedenartigen Stimmen, die in den Medien Ausdruck finden können, verkleinert und damit die Vielfalt der künstlerischen Darstellungen und der politischen Perspektiven in den Mainstream-Medien reduziert. Die feministische Medienwissenschaftlerin Carolyn Byerly hat eine Reihe von Maßnahmen empfohlen, um die Marginalisierung von Frauen und Minderheiten in den Führungsstrukturen von Medien anzugehen und ihre Beteiligung zu sichern, darunter »politischen Aktivismus, alternative Medien und Veränderungen bei den gesetzlichen Vorgaben« (Byerly 2014: 109). Sie fragt treffend: »Wo kann sich Differenz letztendlich in irgendeiner Form äußern, wenn große Medienunternehmen das Sagen haben? In der Vergangenheit haben alternative Medien (einschließlich Medien von Frauen) diesen Zweck erfüllt, wobei jedoch ihre Reichweite stets begrenzt war.« (111) Byerly betont, wie wichtig die Perspektiven von Frauen und Minderheiten sind, um das kritiklose Einverständnis in Frage zu stellen, das durch die Mainstream-Medien verbreitet wird. In den deutschsprachigen Ländern Europas existiert heute – genauso wie in Nordamerika – eine dynamische alternative feministische Medienszene, die sich jedoch weitgehend auf den Bereich von unabhängigen Zeitschriften, Zines, Blogs und Social-Media-Plattformen beschränkt; der Forschungsbericht »Gender

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and Media Activism: Alternative Feminist Media in Europe« beschreibt diese Publikationen als »meist kleinteilig, gemeinschaftlich produziert, heterotopisch, basierend auf subkulturellen Strukturen und Kompetenzen, ironisch, interventionistisch und vergänglich« (Zobl/Reitsamer 2014: 241). Alternative feministische Medienproduktion ist typischerweise kurzlebig und flüchtig, wird von kleinen subkulturellen Gruppen produziert und rezipiert und ist zum größten Teil von externen Finanzierungsstrukturen unabhängig. Während diese feministische Medienkultur auf der Mikroebene weiterhin wächst und gedeiht, weisen Studien immer wieder darauf hin, dass auf der Makroebene vor allem auf den Entscheidungsebenen die Beteiligung von Frauen an der Medienproduktion insgesamt zurückgeht. In Europa sind heute nur noch ein Drittel der Entscheidungspositionen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und ein Viertel der Positionen im privaten Sektor mit Frauen besetzt, was eine direkte Folge der Konglomeratbildung in den Medien ist (Ross 2014: 327–28). Noch schlimmer ist die Situation im Spielfilmsektor. In Deutschland stellen Frauen jährlich fast die Hälfte der Absolventinnen von Filmschulen, aber sie führen nur bei etwa einem Fünftel der Spielfilme Regie. Zudem erhalten Filmemacherinnen nur etwa zehn Prozent der verfügbaren Fördermittel, die für die Spielfilmproduktion in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle spielen (Prommer/Loist 2015: 3–4). Die Erklärungen für diese Diskrepanz sind unterschiedlich, jedoch weisen Kommentatoren darauf hin, dass die Subventionsprogramme des Bundes kommerziell orientierte Projekte prominenter männlicher Regisseure gegenüber den weniger formelhaften Projekten von Frauen bevorzugen. Die Filmjournalistin Ellen Wietstock argumentiert jedoch, dass Geschlechterparität in der Filmförderung nicht bedeutet, »dass die Frauen bestimmte Themen bearbeiten, es geht darum, dass sie alles bearbeiten können, was sie wollen, jedes Genre, jedes Format« (Wietstock 2014: 489). Die folgende Untersuchung der Bedeutung der materiellen und künstlerischen Arbeit in der aufstrebenden Film- und Fernsehkultur von Frauen, die von den Regisseurinnen der Berliner Schule und ihren internationalen Kolleginnen praktiziert wird, bewegt sich in diesem Kontext. Beflügelt durch die digitalen Technologien, die neue Zugangsmöglichkeiten zu Produktion, Vertrieb und Rezeption eröffnet haben, haben diese Filmemacherinnen neue Produktionsmodelle entwickelt, die auf Zusammenarbeit über unterschiedliche Strukturen hinwegsetzten. Ade (Mitbegründerin des Produzentinnenkollektivs Komplizen Film), Grisebach (Mitglied bei Komplizen Film), Albert und Hausner (Mitbegründerinnen der Produktionsfirma Coop99) und Speth (Gründerin der Produktionsfirma Madonnen Film) haben preisgekrönte Filme geschrieben, inszeniert und produziert, die die Grenzen zwischen dokumentarischem und fiktionalem Stil verwischen und neue, von der digitalen Medienästhetik beeinflusste Formen des Realismus entwickeln. Diese Filme sind nicht nur auf ein Medium beschränkt, sondern finden ihr Publikum an verschiede-

1 Die Berliner Schule und Filme von Frauen

nen Orten wie Kinos, Fernsehen und in Streaming-Formaten, und schließen dabei durchaus auch Mainstream-Medienplattformen ein. Gleichzeitig greifen diese von Frauen inszenierten und produzierten Filme auf Traditionen des feministischen Gegenkinos zurück, das in den 1970er und 80er Jahren in Deutschland und Österreich entstanden ist. Sie beleben diese Traditionen wieder, was sich in der Produktionsweise, der Ästhetik und den Geschichten zeigt, die mit neuen Darstellungsformen von Geschlecht, Sexualität, Ethnizität und Nationalität auf der Leinwand experimentieren. Es ist jedoch auffallend, dass die meisten dieser Filmemacherinnen den Feminismus explizit ablehnen und Verbindungen zwischen dem Erbe des feministischen Kinos und ihrer eigenen Filmpraxis leugnen. In einem Essay mit dem Titel »Feministisch sein war uncool« stellt Ade beispielsweise unmissverständlich fest: »Unter meinen Lieblingsfilmen überwiegen die von Regisseuren.« Sie erklärt: Wenn zu meiner Zeit an der Filmhochschule eine Studentin gesagt hätte »Ich bin Feministin«, wäre das uncool gewesen. Ich hätte damit verbunden, dass jemand sich auf eine bestimmte Art gegen Männer stellt und das Gefühl hat, sich wehren zu müssen, sprich: ein Opfer zu sein. Auch heute würde ich mich nicht als Feministin bezeichnen, weil ich den Begriff überfrachtet finde, aber ich denke mittlerweile sehr in diese Richtung. (Ade 2014: 423) Ades Essay zeigt, wie ihre Erfahrungen in der Filmwelt – insbesondere als Produzentin, das heißt als Frau, die mit großen Geldsummen umgeht – sie davon überzeugt haben, dass so etwas wie eine »gläserne Decke«, die Frauen am beruflichen Aufstieg hindert, doch existiert. Dennoch lehnt Ade weiterhin den Feminismus als Selbstbeschreibung ab.3 Diese Ablehnung ist symptomatisch für das, was Angela McRobbie als undoing des Feminismus – dem Rückgängigmachen seiner Erfolge – in neoliberalen Gesellschaften bezeichnet hat, in denen das Hochhalten von Werten wie Wahlmöglichkeiten, Ermächtigung und Individualismus den Feminismus einerseits als Selbstverständlichkeit, andererseits aber als unnötig erscheinen lässt, obwohl Frauen weiterhin mit erheblichen Hindernissen konfrontiert sind, wenn sie beruflich aufsteigen wollen – in der Filmindustrie nicht anders als im Rest der Gesellschaft (McRobbie 2016). Vielen anderen feministischen Wissenschaftlerinnen folgend stellt McRobbie fest, dass die neoliberale Kultur durch eine Vermengung einander widersprechender Ideen und Bedeutungen gekennzeichnet ist, eine Art

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Kürzlich hat sich Ade für ein Quotensystem ausgesprochen, um die Gleichstellung von Frauen in der Filmproduktion zu unterstützen. Sie hat damit dem »Pro Quote Regie«-Netzwerk, das 2014 von einer Gruppe deutscher und österreichischer Regisseurinnen ins Leben gerufen wurde, eine starke Stimme hinzugefügt.

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von »zweifacher Verwicklung« von Liberalisierungstendenzen und neokonservativen Werten, die sich vor allem bei Geschlechterrollen, sexuellen Beziehungen und Familienstrukturen manifestieren (17). Auf der einen Seite bietet der neoliberale Diskurs der individuellen Entscheidung, Flexibilisierung und Mobilität beispiellose Chancen, normative Rollen zu dekonstruieren und traditionelle soziale Strukturen in einer Weise aufzulösen, die scheinbar ermächtigend sind. Auf der anderen Seite erzeugt eine Politik der Umverteilung, in der Ressourcen von unten nach oben verschoben werden, eine Situation permanenter Unsicherheit, die Minderheiten unverhältnismäßig stark betrifft. Diese paradoxe Situation führt zu dem, was Rosalind Gill die »postfeministische Sensibilität« genannt hat, die in der neoliberalen Kultur vorherrscht und die sich in den bekannten Topoi in der weltweiten Medienproduktion des 21. Jahrhunderts zeigt, wie zum Beispiel […] der Vorstellung, dass Weiblichkeit eine körperliche Eigenschaft ist; der Verlagerung von der Objektivierung zur Subjektivierung; der Betonung von Selbstüberwachung, Selbstkontrolle und Selbstdisziplin; dem Fokus auf Individualismus, Wahlmöglichkeiten und Ermächtigung; der Dominanz des Makeover-Paradigmas – der Rundumerneuerung der eigenen Person; dem gleichzeitigen Äußern von feministischen und antifeministischen Ideen; dem Wiederaufleben der Vorstellung, dass es natürliche Geschlechtsunterschiede gibt; einer ausgeprägten Sexualisierung der Kultur; und einer Betonung der Konsumkultur und der Kommodifizierung von Differenz. (Gill 2007: 255) Trotz ihrer Abkehr vom Feminismus machen die hier untersuchten Filmemacherinnen allesamt Filme, die die von Gill identifizierte postfeministische Sensibilität darstellen, über sie nachdenken und sie schließlich widerlegen. Sie tun dies auf mindestens zwei Arten: erstens durch die Entwicklung eines hybriden Produktionsmodells, das es ihnen erlaubt, kommerzielle Formen der medialen Repräsentation gleichzeitig zu nutzen und zu kritisieren; und zweitens durch filmische Verfahren und Geschichten, die Geschlechterbilder zeigen, die nicht konform mit dem Mainstream gehen, und die Prekarität des Lebens im Neoliberalismus demonstrieren. Obwohl diese Filme die Ästhetik des feministischen Kinos ablehnen, zehren sie doch oft davon. Den Feminismus abzulehnen, aber gleichzeitig sein Vermächtnis weiterzuführen, ist charakteristisch für die Paradoxien der neoliberalen Kultur – und der Grund dafür, dass Kritiker/-innen Fragen über Geschlecht und Sexualität in den Filmen der Berliner Schule im Besonderen und im internationalen Kunstkino im Allgemeinen so unaufmerksam behandelt haben. Um das politische Filmschaffen im Zeitalter des Neoliberalismus adäquat einordnen zu können, ist es jedoch entscheidend, sowohl die Geschlechterpolitik in zeitgenössischen Filmproduktionen von Frauen als auch das feministische Erbe, das ihnen zugrunde liegt, zu verstehen.

1 Die Berliner Schule und Filme von Frauen

Die Berliner Schule, der Neoliberalismus und das Frauenkino Die Entwicklung der Berliner Schule verlief parallel zur Ausbreitung des Neoliberalismus in Deutschland und Europa, eine Kongruenz, die grundlegend ist, um ihre Überlegungen zu den veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen, der formalen Sprache und den narrativen und politischen Inhalten ihrer Filme zu verstehen. Tatsächlich ist die internationale Entwicklung hin zum Neoliberalismus zentral für das Verständnis des Beitrags der Berliner Schule zum zeitgenössischen Kino. Jyostna Kapur und Keith B. Wagner fordern in diesem Zusammenhang aufgrund der weltweiten Verbreitung neoliberaler Politik und der strukturellen Verflechtungen des internationalen Kinos einen Ansatz, der »die Art und Weise untersucht, in der noch das geringste Filmschaffen der lokale Ausdruck einer globalisierten Integration ist« (Kapur/Wagner 2011: 6). Erscheint die Interpretation der filmischen Praxis der Berliner Schule in einem neuen Licht, wenn sich die Aufmerksamkeit darauf richtet, wie diese Filmbewegung die globalen Kräfte und Ströme innerhalb des besonderen lokalen und nationalen Kontextes des deutschen Kinos neukonfiguriert hat? Zumindest könnte es uns dazu bringen, genauer zu untersuchen, wie die Filmemacher/-innen der Berliner Schule materiell in die Filmproduktion eingreifen. Untersuchungen der Berliner Schule haben generell ihren Status als Gegenkino betont, als eine »Art des Filmemachens, das sowohl die Handlung und das Tempo des konventionellen Erzählkinos als auch die Lebenswelt, die es hervorgebracht hat, hinterfragt und sich ihr widersetzt« (Cook et al. 2013: 1). Durch die Betonung ihres ästhetischen – und damit auch politischen – Widerstands gegenüber der Mainstream-Kultur stellen Kritiker/-innen das Filmschaffen der Berliner Schule als grundlegend oppositionell dar, als eine Wiederbelebung der avantgardistischen Versuche des Neuen Deutschen Films, bei dem Filmemacher/-innen mit ästhetischen Formen und kollektiver Herangehensweise experimentiert haben (Abel 2013: 10). Ohne die künstlerischen Errungenschaften der Berliner Schule in Frage zu stellen, möchte ich dazu einwenden, dass die Kategorisierung dieser Filme als Gegenkino dazu führen kann, dass wir das erfolgreiche transnationale und intermediale Produktionsmodell übersehen, das sie fest in der neoliberalen Medienlandschaft positioniert.4 Der Kulturwissenschaftler Stuart Hall macht darauf aufmerksam, dass die Ideologien der Gegenwart dadurch gekennzeichnet sind, dass sie widersprüchliche Tendenzen miteinander verknüpfen. Deshalb ist es notwendig, neue Ansätze zu finden, um die Paradoxien der zeitgenössischen Kultur konzeptionell zu fassen (Hall 2011: 713). Tatsächlich wird unser Denken über die ästhetischen Formen und politischen Investitionen des zeitgenössischen Films

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Zu diesem Punkt siehe Baer 2013.

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durch die Tatsache behindert, dass Filme heutzutage nicht mehr so einfach innerhalb eines konventionellen Systems von Gegensätzen zu verstehen sind, die unser Verständnis von Kultur lange geprägt haben (z.B. Kunstfilm/Unterhaltung, Kino/ Fernsehen, Kunst/Kommerz, intellektuell/populär, international/national, Widerstand/Komplizenschaft, alternativ/Mainstream). Vielmehr weisen zeitgenössische Filme diese einander scheinbar entgegenstehenden Eigenschaften oft gleichzeitig auf. In diesem Kontext können die Filme der Berliner Schule als zeitgenössische Medienassemblagen verstanden werden, die verschiedene Produktions- und Rezeptionsformate (analog und digital; Film, Fernsehen und Streaming) sowie multiple transnationale und nationale Filmgenres und -bewegungen miteinander verbinden (um nur einige zu nennen: Neorealismus, Slow Cinema, Neuer Deutscher Film und feministisches Kino, aber auch zunehmend populäre Formen und Genres wie den Thriller, den Western, den Heimatfilm und sogar den Historienfilm), um ein internationales Publikum von Cineasten auf breiter Basis anzusprechen.5 Ein solches Modell trägt dazu bei, konzeptuell zu fassen, wie Filme der Berliner Schule – und das internationale Kunstkino im Allgemeinen – fest in kommerzielle Mainstream-Strukturen eingebettet sein und sie gleichzeitig in Frage stellen können. Zum zweiten könnte uns ein Neudenken des internationalen politisch-wirtschaftlichen Kontextes des Filmschaffens der Berliner Schule dazu veranlassen, die starke Betonung auf den Auteur – den Filmemacher oder die Filmemacherin als Künstler/-in – zu überdenken, die die meisten Analysen dieser Filme geprägt und ihre Rezeption bestimmt hat. Durch diese Wiederbelebung des Auteurismus – ein Konzept, das mit neoliberalen Diskursen des Individualismus konform geht und sie sogar verstärkt – erscheinen diese Filme als Beispiele für die ästhetische Leistung individueller Künstlerpersönlichkeiten, die in einem spezifischen national-kulturellen Kontext gegründet sind, anstatt die Gemeinsamkeiten (in Bezug auf Genre, Form, Stil, Geschichte sowie Produktionsmittel) mit anderen Film- und Fernsehbewegungen hervorzuheben, vor allem mit anderen Filmen, die das Leben im Neoliberalismus darstellen, darauf reagieren und Widerstand leisten. Der einhellige Nachdruck, der auf den Begriff »Berliner Schule« und die einzelnen Künstlerpersönlichkeiten, die ihm zugehörig betrachtet werden, gelegt wird, war zwar zweifellos entscheidend für die internationale Anerkennung des deutschen Gegenwartskinos, hat aber auch die Aufmerksamkeit von der größeren (transnationalen, politischen) Bedeutung dieser Filmpraxis abgelenkt.

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Dies zeigt sich in der vieldiskutierten Entwicklung der Filmemacher/-innen der Berliner Schule (u.a. Thomas Arslan, Valeska Grisebach, Christoph Hochhäusler, Christian Petzold) hin zum Genrekino und zunehmend auch zum historischen Film.

1 Die Berliner Schule und Filme von Frauen

Dies gilt sicherlich auch für die Regisseurinnen der Berliner Schule, deren Filme als Teil einer internationalen Bewegung gesehen werden können, die außerhalb der großen Filmstudios stattfindet und die Patricia White als »neue Form eines weiblichen Kinos der Beobachtung« benannt hat. Diese Arbeiten – für die beispielhaft Filmemacherinnen wie Kim und Reichardt stehen – weisen sowohl formale und ästhetische Ähnlichkeiten als auch Gemeinsamkeiten in ihrer materiellen Produktionsweise auf und stellen »einen transnationalen, generationenübergreifenden, vielformatigen Schauplatz des weiblichen Filmschaffens [dar], das, obwohl es auf Finanzierungs-, Vertriebs- und Rezeptionsmuster reagiert, die von kommerziellen Formaten bestimmt sind, trotzdem ebendiese Strukturen in Frage stellen« (White 2009: 154). Obwohl die Filme inhaltlich und stilistisch sehr unterschiedlich sind, legen die ästhetischen und materiellen Gemeinsamkeiten doch »die anhaltende Relevanz des Konzepts des Frauenkinos [nahe]. Dieses ist gekennzeichnet durch den Zugang von Frauen zu den Produktionsmitteln, das Bekenntnis dazu, Geschichten über Frauen zu erzählen, und die Zuschauerinnen und Zuschauer in ihren diversen geschlechtsspezifischen Erfahrungen innerhalb einer sich verändernden gesellschaftlichen Öffentlichkeit ernst zu nehmen« (155). White argumentiert, dass die Entwicklung eines kritischen Rahmens, um die Filme von Regisseurinnen wieder in einen Dialog miteinander zu bringen, einen Gewinn darstellt, auch wenn sowohl Filmemacherinnen als auch Filmwissenschaftlerinnen dies in den letzten Jahren oft als Schubladendenken oder als Festschreibung auf essentialistische Identitätskategorien angesehen haben. Alison Butler argumentiert, dass das Frauenkino »in keinem der filmischen oder nationalen Diskurse, die es bewohnt, ›zu Hause‹ ist, sondern dass es immer ein flektierter Modus ist, der die Konventionen der etablierten Traditionen aufnimmt, überarbeitet und in Frage stellt« (Butler 2002: 22). Während Frauenfilme typischerweise gleichzeitig in unterschiedlichen nationalen oder Gruppenkontexten angesiedelt sind (z.B. amerikanisches Independent-Kino; Berliner Schule), argumentiert Butler, dass sie »in ihren anderen Kontexten nicht vollständig aufgehen«. Erst die Kategorie »Frauenkino« ermöglicht es, bestimmte charakteristische Eigenheiten dieser Filme zum Vorschein kommen zu lassen, die sonst womöglich unsichtbar blieben; auf diese Weise kann die Kategorie dazu dienen, die künstlerische Sicht einer marginalisierten Gruppe in den Vordergrund zu stellen und damit gerade keine essentialistische Perspektive zu stützen. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht nachvollziehbarer, wieso es wesentlich ist, dass wir die Arbeiten von Filmemacherinnen wie Ade, Arnold, Kim, Grisebach, Reichardt und Speth als Frauenkino betrachten. Denn nur so können wir nachvollziehen, wie sie sich mit der neoliberalen Gegenwart auseinandersetzen. Ihre Filme haben gemeinsam, dass sie die veränderten Strukturen geschlechtsspezifischer Subjektivität und Intimität in der neoliberalen Gegenwart zeigen und auf eine Weise hinterfragen, die feministische, queere, antiheteronormative und an-

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tirassistische Kontexte aufruft. Gleichzeitig gibt ihre bewusste Beteiligung an der gesamten Kette des Filmemachens eine eindrucksvolle Antwort auf die Frage, welchen anhaltenden Hindernissen sich Filmemacherinnen im Zeitalter der weltweiten Medienkonzentration gegenübersehen.

Zeitgenössische Filmproduktionen von Frauen: Materielle Interventionen und Affinitäten Die Filmproduktionskollektive Coop99, mitgegründet von Barbara Albert und Jessica Hausner, und Komplizen Film, mitgegründet von Maren Ade, sind wichtige Maßnahmen gegen die Prozesse der Medienkonzentration, indem sie gezielt die finanziellen Bedingungen für Filmemacherinnen im deutschsprachigen Europa verbessern wollen. Dabei greifen sie auf Strategien der deutschen feministischen Filmbewegung der 1970er Jahre zurück, die erfolgreich die Zahl der Frauen auf allen Ebenen der Filmwirtschaft erhöhen konnte, indem sie die Kategorien von Filmverleih und -rezeption veränderte. Ein Beispiel dafür ist die Verleihfirma Basis-Film (gegründet 1974), die schon damals die kreative Freiheit und die Rechte der einzelnen Filmemacher/-innen in den Mittelpunkt stellte, zugleich aber eine kollektive Führung und gemeinschaftliche Produktionsstrukturen aufbaute, um ihnen zum Erfolg zu verhelfen. Sie definierte damit das Konzept des Autorenfilms neu, um Filme von Frauen zu fördern, ohne sie in eine Schublade zu stecken (Elsaesser 2005: 222). In ähnlicher Weise fördern die erfolgreichen unabhängigen Produktionsstrukturen, die von den Filmemacherinnen der Berliner Schule aufgebaut wurden, Filme von Frauen, die kollektives Filmemachen und künstlerische Unabhängigkeit zusammenbringen. Die österreichische Firma Coop99 wurde 1999 von Albert und Hausner zusammen mit dem befreundeten Regisseur Antonin Svoboda und dem Kameramann Martin Gschlacht gegründet. Das Unternehmen versteht sich »als Plattform einer neuen Filmemacher-Generation in Österreich«, bei der »[s]ämtliche Projekte für Authentizität, persönliche Stellungnahme und individuelle Machart« stehen.6 Das Gesamtprogramm von Coop99 setzt sich mit der sich wandelnden ethnischen, nationalen und religiösen Zusammensetzung der österreichischen und europäischen Gesellschaft auseinander, mit besonderem Schwerpunkt auf die Geschichte und die Auswirkungen der Balkankriege der 1990er. Von den 33 Arbeiten, die Coop99 seit seiner Gründung produziert hat,7 ist knapp die Hälfte von Regisseurinnen gedreht

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Siehe »Profil« auf der Website der Firma, https://www.coop99.at/wp/profile-2/?lang=en (letzter Zugriff 26. Mai 2022). Alle Zahlen in diesem Abschnitt beziehen sich auf den Entstehungszeitpunkt dieses Textes 2016.

1 Die Berliner Schule und Filme von Frauen

und in 19 Filmen arbeiten Frauen als Produzentinnen mit, was das Engagement des Unternehmens bezüglich der Gleichstellung der Geschlechter belegt. Dazu gehören neben Spielfilmen von Albert und Hausner auch Filme der bekannten feministischen Künstlerinnen Pipilotti Rist und Shirin Neshat sowie Koproduktionen mit Komplizen Film, darunter die jüngsten Filme von Ade und Grisebach. Ade gründete Komplizen Film im Jahr 2000 zusammen mit Janine Jackowski, ihrer Kommilitonin an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film.8 Die Firma hat seitdem zwanzig Filme produziert, dreizehn davon mit Frauen als Regisseurinnen und fünfzehn mit Produzentinnen. Durch Komplizen Film hat Ade für sich eine erfolgreiche Karriere als Produzentin aufgebaut, die es ihr erleichtert hat, ihre eigenen Filme zu realisieren. Neben ihren eigenen Filmen Der Wald vor lauter Bäumen, Alle anderen (2009) und Toni Erdmann (2016), bei denen sie auch als Produzentin fungierte, hat Ade zahlreiche Filme ihrer Kollegen und Kolleginnen produziert, darunter Filme von Benjamin Heisenberg und Ulrich Köhler sowie anderer wichtiger Regisseurinnen wie Albert, Grisebach, Sonja Heiss und Vanessa Jopp. Ade und Grisebach haben intensiv zusammengearbeitet, was man auch daran sieht, dass Grisebach als Beraterin bei Alle anderen genannt wurde und Ade Grisebachs Western (2017) produzierte. Obwohl sie nicht innerhalb eines Produzentenkollektiv arbeitet, hat Maria Speth einen ähnlichen Weg eingeschlagen wie die anderen Regisseurinnen, die mit der Berliner Schule verbunden sind, und 2008 ihre eigene Produktionsfirma Madonnen Film gegründet. Ihre beiden letzten Filme, den Dokumentarfilm 9 Leben (2011) und den Spielfilm Töchter (2014), hat sie über die Produktionsfirma produziert, was es ihr ermöglichte, ihre einzigartige Vision für diese beiden miteinander verbundenen Projekte zu verwirklichen. Kooperation ist für die Arbeit dieser Filmemacherinnen (und für die Berliner Schule im Ganzen) von entscheidender Bedeutung. Ade, Albert, Grisebach, Hausner und Speth arbeiten oft mit der gleichen kleinen Gruppe von Schauspielern und Schauspielerinnen, Kameraleuten, Casting-Direktoren, Cutterinnen und anderen technischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zusammen. Diese Entscheidung weist auf eine bewusste Bemühung hin, ein eingespieltes Team aufzubauen, das die formal-ästhetischen Vorlieben der Berliner Schule versteht und sie mitgestaltet – und ist ebenfalls ein gutes Mittel, um Kosten zu sparen.

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Im Jahr 2010 wurde der Produzent Jonas Dornbach in das Produktionsteam aufgenommen. Komplizen-Film beschreibt seinen Produktionsschwerpunkt wie folgt: »Wir produzieren zeitgenössische Filme und Serien, die ein Wagnis eingehen. Wir produzieren lokale Inhalte für ein internationales Publikum und arbeiten mit Kreativen zusammen, die sich durch einzigartige Handschriften auszeichnen. Wir glauben an den Aufbau langfristiger Beziehungen zu DrehbuchautorInnen, RegisseurInnen und unseren Partnern.« Siehe http://komplizenfilm.d e/d/komplizen.html (letzter Zugriff 25.5.2022).

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Die Arbeit mit ihren eigenen Produktionsfirmen ermöglicht es den genannten Regisseurinnen, ihre filmischen Ideen zu entwickeln und neue Projekte zu verwirklichen, indem sie die Kontrolle über alle Aspekte des Filmemachens in ihrer Hand halten. Ade hat in einem Interview erklärt, dass Produzentenkollektive die klassische Beziehung zwischen Regisseur/-in und Produzent/-in verwischen, indem sie kreative Zusammenarbeit ermöglichen und einen produktiven Austausch fördern; an einer Produktion mitzuarbeiten, wird Teil des kreativen Prozesses: »Mir ist wichtig, dass ich einen Überblick habe, weil ich finde, dass Entscheidungen der Produktion – wie man etwas macht und wofür man das Geld ausgibt – auch immer kreative Entscheidungen sind.« (Frölich 2009: 29) Das Produzieren hat Regisseurinnen wie Ade und Speth die Möglichkeit gegeben, an Entscheidungen über Finanzierung und Vertrieb mitzuwirken. Allerdings ist das von ihnen verfolgte unabhängige Modell sowohl mühsam als auch prekär, wie die relativ langen Zeiträume zwischen ihren jeweiligen Spielfilmen zeigen. Sie sind darauf angewiesen, ihre Finanzierung aus verschiedenen Quellen zu sichern – aus einer Kombination von internationalen Koproduktionen, regionalen Filmförderungen, privaten Investoren, Vertriebsvereinbarungen und Fernsehgeldern. Insbesondere der deutsch-französische Sender Arte und die Sendereihe Das kleine Fernsehspiel des ZDF haben in der Vergangenheit eine entscheidende Rolle bei der Förderung von Filmen der Berliner Schule gespielt. Ihre Low-Budget-Filme (mit durchschnittlichen Kosten von ein bis zwei Millionen Euro) liefen in den europäischen Kinos meist nur mit wenigen Kopien, wo sie nicht zuletzt aufgrund geringer Werbebudgets nur selten viele Zuschauer angezogen haben.9 Im Fernsehen haben sie ihre Sache jedoch außerordentlich gut gemacht – viele führten die Quoten für ihre Sendeplätze an und sicherten sich große Marktanteile (8–15 Prozent, was weit über eine Million und manchmal mehrere Millionen Zuschauer bedeutet) (Gupta 2005). Diese Filme sind weder formal noch inhaltlich »für das Fernsehen gemacht« – was sich auch daran festmachen lässt, dass sie meist auf 35-mm-Film gedreht sind. Trotzdem ist die Ausstrahlung und die Rezeption im Fernsehen für das Produktionsmodell der Filme von entscheidender Bedeutung, um ihr Publikum zu erreichen. Dazu gehört die internationale Verbreitung zunächst auf Festivals oder in Museen (über untertitelte Kopien) und später das Heimkino und digitale Plattformen, insbesondere Streaming-Dienste. Um zukünftige Förderungen in Deutschland und eine internationale Verbreitung zu sichern, ist neben anderen Filmprei-

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Ades Alle anderen ist eine Ausnahme: Bei seinem Erscheinen in Deutschland sahen ihn 187.000 Kinobesucher/-innen – eine ungewöhnlich hohe Zahl für einen Film der Berliner Schule, die ihr Nachfolger Toni Erdmann mit über 860.000 Zuschauern noch übertreffen konnte. Toni Erdmann kam erst in die Kinos, als die erste Version dieses Textes schon geschrieben war, und veranschaulicht par excellence die hier analysierten materiellen und ästhetischen Entwicklungen.

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sen der Erfolg auf Festivals besonders wichtig. Ades erster Film Der Wald vor lauter Bäumen gewann einen Sonderpreis der Jury in Sundance und wurde für den Deutschen Filmpreis nominiert. Diese Erfolge ebneten den Weg für die Finanzierung und die Vertriebsvereinbarungen für ihren zweiten Film Alle anderen, der zunächst auf den Berliner Filmfestspielen gezeigt wurde und wiederum mehrere Preise gewann, und für ihren dritten Spielfilm Toni Erdmann, der in Cannes seine Premiere hatte und anschließend für einen Oscar nominiert wurde. Auch Speths Spielfilm Madonnen gewann mehrere Preise auf Festivals und half ihr, den Dokumentarfilm 9 Leben zu finanzieren, der wiederum mit dem Förderpreis der DEFA-Stiftung beim Leipziger Dokumentarfilmfestival ausgezeichnet wurde, sodass sie ihren nächsten Film Töchter realisieren konnte. Während der Produktionskontext für Filmemacherinnen außerhalb der deutschsprachigen Länder Europas nicht durch die gleiche Gemengelage von Förderquellen bestimmt wird, auf die die Filmemacherinnen der Berliner Schule zurückgreifen können, haben Andrea Arnold, So Yong Kim und Kelly Reichardt ähnliche Strategien verfolgt, um ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Kontrolle über den jeweiligen Prozess des Filmemachens, dem gelegentlichen Vorstoß in die Mainstream-Medien und der Attraktivität für ein internationales Publikum von Kinogängern und Kinogängerinnen. Internationale Festivals sind dabei für ihren Erfolg entscheidend: Die ersten beiden Filme der britischen Regisseurin Andrea Arnold Red Road (2006) und Fish Tank (2009) hatten beide in Cannes Premiere, wo sie jeweils den Preis der Jury gewannen. Wie Ade gewann die in Korea geborene und in den USA lebende Regisseurin So Yong Kim einen Sonderpreis der Jury in Sundance für ihren ersten Spielfilm In Between Days (2006); ihre nachfolgenden Filme Treeless Mountain (2008), For Ellen (2012) und Lovesong (2016) wurden auf zahlreichen Festivals gezeigt. Auch die Karriere der US-Regisseurin Kelly Reichardt erhielt durch den Gewinn des Großen Preises der Jury in Sundance für ihren Spielfilm River of Grass (1994) Starthilfe; ihre zahlreichen nachfolgenden Filme sind Stammgäste bei verschiedenen Festivals. Wie White erklärt: »Filmfestivals sind wesentlich für die Zirkulation von Filmen von Frauen und halten sie in gewissem Umfang am Leben« (White 2009: 153). Jedoch ermöglicht erst der Kinostart eine Rezeption jenseits des Festivals und der eingeschränkten Aufnahme durch ein kleines spezialisiertes Publikum – und dieser wird aufgrund der Auswirkungen der Medienkonzentration, insbesondere weil viele unabhängige Verleiher aufgehört haben zu arbeiten, immer schwieriger. Wie im Fall der Filmemacherinnen der Berliner Schule spielen Kollaborationen für Arnold, Kim und Reichardt eine entscheidende Rolle, gegen diese Situation anzugehen. Sie haben geholfen, die Filme zu finanzieren, Verleihverträge zu finden und ein Publikum zu erreichen. Arnolds Debütfilm Red Road war Teil der »Advance Party«-Reihe, einer miteinander verschränkten Film-Trilogie, die von Mitgliedern der »Dogme 95«-Bewegung konzipiert wurde; Zentropa Entertainment, die Dog-

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me 95 angegliederte Produktionsfirma, koproduzierte den Film. Arnold, die ihre Karriere als Fernsehschauspielerin und Moderatorin begann, hat regelmäßig für das Fernsehen Regie geführt, was ihr den Einstieg in den Regieberuf erleichterte. Zuletzt führte Arnold bei vier Folgen der gefeierten Amazon-Serie Transparent Regie, die selbst ein Beispiel für den Diskurs um die audiovisuelle Produktion von Frauen heute ist. Der Showrunner der der Serie Joey (damals Jill) Soloway hat sich bemüht, ein weitgehend weibliches Team zusammenzustellen und Frauen als Regisseurinnen zu beauftragen. Soloways Medienkampagne hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie wichtig es ist, schon bei den Produktionsstrukturen die Bedeutung von Geschlecht und Gender zu beachten. Soloway hat damit den Begriff des »weiblichen Blicks« in der Diskussion über die formalen und ästhetischen Konzepte, die die Grundlage für die feministischen und LGBTQ+-Themen von Transparent bilden, neu belebt. Ohne Zugang zu der Art von Subventionsprogrammen, die europäischen Filmemacherinnen zur Verfügung stehen, finanzieren Kim und Reichardt ihre Filme nur stückweise und stützen sich dabei auf eine Kombination aus privatem Kapital und künstlerischer Förderung. Kim hat eng mit anderen unabhängigen nordamerikanischen Filmemachern und Filmemacherinnen zusammengearbeitet, insbesondere mit ihrem Ehemann, dem Regisseur Bradley Rust Gray, der bei mehreren ihrer Filme mitgeschrieben und sie koproduziert hat. Kim und Reichardt haben regelmäßig Ideen ausgetauscht und sich auch auf materieller Ebene bei der Produktion ihrer Filme unterstützt, auch wenn ihre Zusammenarbeit nicht durch ein Produktionskollektiv wie Komplizen Film formalisiert ist. Reichardt half Kim für In Between Days, einen Verleihvertrag mit Kino International, ihrem eigenen Verleih, abzuschließen, und Reichardts Produktionsteam aus Old Joy (2006) arbeitete mit Kim an Treeless Mountain (White 2009: 157). Wie die Regisseurinnen der Berliner Schule haben Kim und Reichardt sowohl mit den gleichen Crewmitgliedern als auch Schauspielern und Schauspielerinnen gearbeitet. Um ein breiteres Publikum für ihre Low-Budget-Filme (so hat zum Beispiel Wendy und Lucy [2008] nur 200.000 Dollar gekostet) zu erreichen, hat sich Reichardts Strategie, mit A-List-Hollywood-Schauspielern und Schauspielerinnen, insbesondere Michelle Williams, zusammenzuarbeiten, als entscheidend herausgestellt. Obwohl weder Reichardt noch Kim bisher direkt für das Fernsehen gearbeitet haben, waren Sendevereinbarungen mit dem Fernsehsender Sundance Channel (jetzt SundanceTV) für die Verbreitung der Arbeiten beider Filmemacherinnen sehr wichtig. Kim hat sich mit ihrem Kurzfilm »Spark and Light«, den sie für die Reihe »Women’s Tales« der Modefirma Miu Miu gedreht hat, um ein breiteres Publikum bemüht. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Kurzfilmen von Regisseurinnen, die »die Weiblichkeit im 21. Jahrhundert kritisch würdigen«

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und zu dessen Teilnehmerinnen auch Lucrecia Martel und Agnes Varda gehören.10 Die Entwicklung von materiellen Strukturen und Praktiken der Zusammenarbeit der hier besprochenen Regisseurinnen und Produzentinnen – die zunächst einmal dazu dienen, das Filmemachen von Frauen heute zu erleichtern – bilden darüber hinaus einen wichtigen Eingriff in die transnationale Medienlandschaft im Zeitalter der Medienkonzentration.

Die Situationstragödie: Formale und thematische Verwandtschaften in zeitgenössischen Filmen von Frauen Die vergleichbaren Produktionsmodelle und parallelen Finanzierungstrukturen des zeitgenössischen unabhängigen Filmschaffens von Regisseurinnen spiegeln sich auch auf der Ebene der ästhetischen und erzählerischen Gemeinsamkeiten. Dazu gehört auf formaler Ebene ein Bekenntnis zu einer »Ästhetik der Reduktion«, die sich durch eine allgemeine Ökonomie der Langsamkeit und der Vorliebe für den Einsatz langer Einstellungen, abrupter Schnitte, Umgebungston und minimaler Dialoge auszeichnet (Abel 2013: 15). Diese reduzierten Geschichten mit nur wenigen Charakteren und minimaler Handlung stellen vor allem das Alltagsleben ihrer Figuren in den Mittelpunkt. Außerdem weisen sie ein starkes Gespür für die Verortung der Figuren in einem bestimmten Kontext und ergänzen dies oft durch eine besondere metanarrative oder selbstreflexive Aufmerksamkeit für weibliche Perspektiven, Blicke und Erzählsituationen. Die Filme verweigern sich einem geschlossenen Ende und weisen eine offene polysemische Form auf, die fordert, dass die Zuschauer/-innen sich an der Konstruktion von Bedeutung beteiligen. In diesem Sinne erinnern sie an Teresa de Lauretis’ Beschreibung der Rezeptionsästhetik, die feministische Filmemacherinnen wie Helke Sander praktizieren, »bei der die Zuschauerin die primäre Bezugsperson des Films ist – primär in dem Sinne, dass sie von Anfang an da ist, eingeschrieben in das Projekt der Filmemacherin und sogar in die Entstehung des Films« (De Lauretis 1987: 141). Die Geschichten dieser Filme stellen oft junge, meist weibliche Protagonistinnen in den Mittelpunkt, die mit der Forderung nach Selbstoptimierung und Selbstmanagement hadern, mit der Frauen im Spätkapitalismus unverhältnismäßig stärker konfrontiert werden: »In viel größerem Maße als Männer sind Frauen gefordert, an ihrem Selbst zu arbeiten und es umzugestalten, jeden Aspekt ihres Verhaltens zu regulieren und alle ihre Handlungen als Ergebnis einer freien Entscheidung darzustellen« (Gill/Scharff 2011: 7). Die im Folgenden besprochenen aktuellen Filme von Regisseurinnen erzählen Geschichten über Frauen, die versuchen, diesem Modell des optimierten Individuums zu entsprechen, aber daran 10

Vgl. https://www.miumiu.com/en/women_tales/7/film (letzter Zugriff 25.5.2022).

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scheitern. Dadurch stellen sie die Probleme zur Diskussion, die entstehen, wenn angestrebte Normativität und verhinderte Handlungsfähigkeit in einer Epoche, die durch widersprüchliche Rollenerwartungen und -anforderungen definiert ist, aufeinandertreffen. In ihrem Buch Cruel Optimism entwickelt Lauren Berlant ein neues Modell für die Betrachtung sowohl der ästhetischen Produktion der Gegenwart als auch der jüngeren Geschichte und konzentriert sich dabei auf die Frage, warum Menschen an normativen Paradigmen festhalten, selbst wenn diese ihnen schaden. Berlant stellt fest, dass Prekarität und Unsicherheit heutzutage die vorherrschenden Erfahrungen sind, und beschreibt, wie die Vorstellung vom »guten Leben« in der globalisierten Wirtschaft des heutigen Europas und der Vereinigten Staaten zusammengebrochen ist – also Werte wie insbesondere »sozialer Aufstieg, Arbeitsplatzsicherheit, politische und soziale Gleichheit und aktive, dauerhafte zwischenmenschliche Intimität« (Berlant 2011: 3). Diese Fantasien wurden durch das ersetzt, was Berlant »grausamen Optimismus« nennt, ein Begriff, der beschreibt, »wenn etwas, das man sich wünscht, tatsächlich ein Hindernis für das eigene Gedeihen ist« (1). Grausamer Optimismus legt die Schäden offen, die das neoliberale Gebot anrichtet, dass persönliche Ermächtigung, Selbstoptimierung und eine unternehmerische Einstellung zum Erfolg führen. Zu den neuen Genres der Gegenwart, die Berlant beschreibt, gehört das hybride Genre der »Situationstragödie: die Verbindung zwischen Tragödie und Situationskomödie, in der Menschen dazu verflucht sind, ihre Makel regelmäßig immer wieder auszuleben, ohne zu lernen, sich zu verändern, erlöst zu werden, auf die nächste Stufe zu gelangen oder zu sterben« (Berlant 2011: 176).11 Im Gegensatz zur Situationskomödie, in der »die Welt uns die Art von Raum zur Verfügung stellt, der uns befähigt zu bestehen«, konzentriert sich die Situationstragödie auf einzelne persönliche Episoden, die von den Anstrengungen des Alltagslebens im Kapitalismus geprägt sind (177). Berlants Vorstellung von grausamem Optimismus als charakteristischer Ausdrucksform der Gegenwart kann uns dabei helfen, die gattungsmäßigen Gemeinsamkeiten bei den zeitgenössischen Filmproduktionen von Frauen zu beschreiben: Nämlich als Situationstragödien, die zeigen, wie die Figuren hartnäckig Ziele verfolgen, die ihrem Wohlergehen entgegenarbeiten. Diese Filme machen die Unsicherheit der Gegenwart greifbar, indem sie entweder die Auswirkungen der wirtschaftlichen Unsicherheit insbesondere für junge Frauen und Kinder in den Mittelpunkt stellen oder die zunehmende Prekarisierung von Geschlechts- und Sexualidentitäten und Familienstrukturen oder beides

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Berlant entwickelt ihre Konzeption der Situationstragödie durch die Analyse der Filme der Dardenne-Brüder, die die hier diskutierten Frauenfilmproduktionen formal und thematisch beeinflusst haben. Speth hat direkt mit den Dardennes zusammengearbeitet, die wiederum ihren Film Madonnen koproduziert haben.

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betonen (alle der hier besprochenen Filmemacherinnen haben sich angelegentlich mit diesen ineinandergreifenden Formen der Prekarisierung auseinandergesetzt). Sie spüren dem Niedergang der hergebrachten Kleinfamilienstrukturen im Neoliberalismus nach und der Art und Weise, wie dieser Niedergang durch das Fehlen von Betreuungsangeboten durch den Sozialabbau noch verstärkt wird. Vor allem machen sie die Auswirkungen sichtbar, die diese paradoxe Situation für Frauen hat, die besonders anfällig für neoliberale Ansprüche sind. Die Filme drehen sich um Figuren, die den geschlechtsspezifischen Erwartungen nicht entsprechen, die neue Formen der Bindung suchen, weil sie traditionelle Beziehungen meiden oder daran scheitern, oder denen die Initiative oder die Mittel fehlen, um Verantwortung für sich selbst, ihr Handeln und oft auch für ihre Kinder zu übernehmen.

Abbildung 1.2 und 1.3: Verantwortung verweigern: Die Protagonistinnen Aimie (Jiseon Kim) in So Yong Kims ›In Between Days‹ (2006) und Lynn (Sabine Timoteo) in Maria Speths ›In den Tag hinein‹ (2001)

Sowohl inhaltlich als auch formal nehmen diese Filme das Motto der feministischen Filmbewegung der 1970er und 80er Jahre auf: »Andere Geschichten erzählen und Geschichten anders erzählen.« Ihre Filme zeigen aber weder direkte Formen des politischen Protests (zum Beispiel die »Take back the night«-Demonstrationen) noch behandeln sie politische Themen (wie etwa Abtreibung oder Kinderbetreuung) in einer Weise, die direkt emanzipatorisch-politische Narrative bedienen, noch stellen die Regisseurinnen mit ihren Filmen politische Forderungen. Trotzdem lenken diese Filme unsere Aufmerksamkeit auf die internen Widersprüche des Neoliberalismus, indem sie weibliche Figuren porträtieren, die sich nicht in neoliberale Diskurse der persönlichen Verantwortung und Selbstverwirklichung einbinden lassen (Abb. 1.2). Für Protagonistinnen wie Aimie in Kims In Between Days, Lynn in Speths In den Tag hinein (2001), Mia in Arnolds Fish Tank und Wendy in Reichardts Wendy and Lucy führt der Druck des Alltags und das Festhalten am Traum vom guten Leben von Intimität oder Wohlstand immer wieder zu Episoden, die man als Situationstra-

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gödien charakterisieren kann. Diese Figuren lassen sich durch die Nicht-Orte der heutigen Städte treiben und versuchen beharrlich Beziehungen zu knüpfen und Ziele zu erreichen, die ihnen letztendlich Schaden zufügen. Egal, ob sie nun Bildungschancen oder Zukunftshoffnungen eintauschen für das trügerische Versprechen einer intimen Verbindung in der Gegenwart, wie Aimie und Lynn, oder ob sie in der Gegenwart in Gefahr geraten, weil sie auf eine ungewisse zukünftige Erlösung hinarbeiten, wie Mia und Wendy –, die Misere der Figuren verdeutlicht die Konturen dieses »grausamen Optimismus«, indem sie zeigt, dass in einer Situation, die von Unsicherheit bestimmt ist, so etwas wie freie Entscheidung illusionär ist. In In Between Days tritt Aimie, ein koreanisches Mädchen, das vor kurzem nach Toronto eingewandert ist, von einem Englisch-für-Ausländer-Sprachkurs zurück und verwendet die zurückerstattete Kursgebühr, um ein teures Armband für ihren Freund Tran zu kaufen, der ihre einzige Hoffnung darstellt, die sprachliche und soziale Isolation zu überwinden. Im deutschen Film In den Tag hinein (der englische Titel The Days Between ist dem von Kims Film recht ähnlich) zündet Lynn, eine in Berlin lebende junge Frau, beiläufig einen Stapel Kartons in der Wohnung ihres Freundes David an, stiehlt Essen von der Familie ihres Bruders und entfremdet sich von ihrem Umfeld, um eine Affäre mit einem japanischen Austauschstudenten einzugehen, mit dem sie sich nur non-verbal verständigen kann. In Fish Tank verfolgt die 15-jährige Mia den Traum Tänzerin zu werden, der für sie ein Weg hinaus aus der britischen Sozialbau-Siedlung, in der sie lebt, und eine Flucht vor der Chancenlosigkeit, für die ihre alkoholsüchtige, alleinerziehende Mutter steht, bedeutet. Als sie die Hilfe des Freundes ihrer Mutter in Anspruch nimmt und ihm den Tanz zeigt, durch den sie hofft, ein Engagement als Tänzerin zu bekommen, vergewaltigt er sie, und die Szene der angestrebten Normativität wird als Ort des Leids entlarvt. In Wendy und Lucy reist Wendy quer durch die USA nach Alaska, in der Hoffnung, einen gut bezahlten Job in einer Fischkonservenfabrik zu bekommen, aber als ihr Auto auf dem Weg zusammenbricht, zeigt der Film nicht nur die schiere Prekarität von Wendys Situation, die sie in die Gefahr bringt, sondern auch den grausamen Optimismus der scheinbar allgemeingültigen Vorstellungen, wie ein gutes Leben aussehen muss, insbesondere den Traum vom Wohlstand durch den Zug nach Westen, dessen Mythos in den USA immer noch Wirkung hat. Alle diese Filme machen unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen und ansonsten verdeckte geschlechtsspezifische Aspekte der heutigen Zeit sichtbar, indem sie unkonventionelle weibliche Figuren in den Mittelpunkt stellen und kinematografische und schnitttechnische Mittel verwenden, die nicht darauf abzielen, Emotionen zu erzeugen, und nicht moralisierend wirken möchten. Speth, die, ebenso wie Reichardt, in ihren Filmen auch am Schnitt beteiligt ist, hat beschrieben, wie sie beim Schreiben und bei der Gestaltung jeder einzelnen Einstellung darauf achtet, »weder moralisch zu werten noch in eine bestimmte Richtung zu emotionalisieren. […] Den Raum, den ich der Figur eröffne, ist daher ein Raum für

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den Zuschauer.«12 Speths Filme entwerfen eine Landkarte der Gegenwart, nicht indem sie formale Erzählkonventionen aufrufen, die darauf abzielen, Emotionen zu erzeugen, sondern indem sie beim Publikum eine Erfahrung der Verlegenheit und des Unbehagens erzeugen, die uns emotional und intellektuell herausfordert und uns die Paradoxien des modernen Lebens empfinden und darüber nachdenken lässt. Diese Strategie teilen auch die anderen hier betrachteten Filmemacherinnen. In In Between Days wird Aimies Sehnsucht nach emotionaler Nähe durch eine Reihe von Voiceovers dargestellt, die als Nachrichten an ihren abwesenden Vater gedacht sind. Sie werden auf der visuellen Ebene von langen Einstellungen der trostlosen Landschaften rund um die Wohnsiedlung begleitet. Die Plattitüden im Stil von Grußkarten stellen vergebliche Kommunikationsversuche dar, was durch das Auseinanderfallen von Ton und Bild in diesen Sequenzen noch betont wird. In Fish Tank eröffnet Mias leidenschaftslose Beobachtung der Welt um sie herum – eingefangen mit einer Videokamera, die sie sich ausgeliehen hat, um sich beim Tanzen zu filmen – durch ein metakinematografisches Spiel mit dem weiblichen Blick Betrachtungsräume. Bei Wendy und Lucy ist es der Schauspielstil, der der Sentimentalität widersteht und die Unsicherheit spürbar macht, wie Reichardt beschreibt: »Ich denke, die Art und Weise, wie Michelle [Williams] die Figur der Wendy darstellt, ist entscheidend – sie fühlt sich in ihrem sozialen Umfeld nie wohl, und das hilft, die Dinge nicht zu kitschig und sentimental werden zu lassen« (Wood 2014). In der Tat geht es in diesen Situationstragödien entscheidend darum, Situationen sozialer Unbeholfenheit und/oder extremen Unbehagens auf der Ebene der Erzählung und der Form zu erzeugen, um damit die Zuschauer/-innen zu erreichen. Es gibt viele Figuren, die sozial unbeholfen sind oder sich in gesellschaftlichen Situationen unwohl fühlen, unter anderem bei In den Tag hinein und In Between Days, sowie in Arnolds Red Road, Speths Madonnen, Ades Der Wald vor lauter Bäumen und Alle anderen und in Grisebachs Sehnsucht (2006). Viele Filme präsentieren äußerst verstörende Szenen von Kindern, die verlassen werden oder Gewalt ausgesetzt sind, darunter Fish Tank, Madonnen und Kims Treeless Mountain. Die Bilder von Frauen, die Gewalt ausüben – vor allem gegen Kinder, aber auch gegen Eigentum, gegen andere oder sich selbst – zeigen die folgenschweren Auswirkungen, die geschlechtsspezifische Ablehnung in den Stresssituationen annehmen kann, die in Filmen wie In den Tag hinein, Fish Tank und Töchter dargestellt werden. Bilder körperlicher Unbeholfenheit sind ebenfalls weit verbreitet, nicht zuletzt in den angespannten Sexszenen, die ein bekanntes Kennzeichen der Filme der Berliner Schule

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Interview mit Maria Speth, DVD-Veröffentlichung von Madonnen, Berlin: Filmgalerie 451, 2008. Vgl. https://www.peripherfilm.de/madonnen/interview.htm (letzter Aufruf 25. 5.2022).

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sind, ebenso wie der Einsatz weiblicher Körper, die normativen Schönheitsidealen widerstehen.13 Rita, die Hauptfigur in Madonnen, ist Mutter von fünf Kindern verschiedener Väter und bringt weiterhin Kinder auf die Welt, obwohl sie eigentlich nicht in der Lage oder willens ist, für sie zu sorgen. In einer frühen Szene spürt Rita ihren biologischen Vater, mit dem sie nie viel Kontakt hatte, und seine neue Familie in Belgien auf. Sie freundet sich mit ihrem jugendlichen Halbbruder an, der ihr dabei zusieht, wie sie ihren kleinen Sohn J.T. auf der Couch stillt. Als er sie fragt, wie Muttermilch schmeckt, erlaubt Rita dem Teenager, sie zu kosten; gerade als er beginnt, an ihrer Brust zu saugen, betritt seine Mutter den Raum. Diese Szene steht beispielhaft dafür, wie sich Ritas Entscheidungen als Mutter sowohl auf der Beziehungs- als auch auf der körperlichen Ebene als peinlich und unbequem erweisen – sowohl im Kontext der Erzählung als auch für die Zuschauer/-innen von Speths Film, die Zeuginnen einer Reihe von Tabubrüchen werden. Madonnen schildert die sich entwickelnde Beziehung von Rita zu Marc, einem in Deutschland stationierten afroamerikanischen Soldaten, der ihr die Stabilität einer komfortablen Wohnung und regelmäßiger Mahlzeiten bietet, sich um ihre kunterbunte Kinderschar kümmert und ihr Zuneigung entgegenbringt. Aber wie im Verhältnis zu ihren Kindern ist Rita nicht in der Lage oder willens, eine wirklich intime Beziehung zu Marc aufzubauen. Sie nimmt lieber die inhärenten Widersprüche eines prekären Lebens auf sich, anstatt sich normativen Regimen der Selbstregulierung, der persönlichen Verantwortung und heteronormativen Familienbeziehungen zu unterwerfen. Rita zeigt ihre Liebe zur Unabhängigkeit, indem sie Marc ablehnt. Diese Entscheidung ist jedoch ein Hindernis für ihr eigenes Wohlergehen, aber vor allem für das Vermögen ihrer Kinder zu gedeihen und behütet zu sein – in einer feindseligen Welt und einer unsicheren Umgebung, in denen sie und viele der anderen Figuren, die diese Filme bevölkern, zu leben versuchen: Gefängnisse, Wohnsiedlungen, verlassene Spielplätze und schäbige Parks. Während sich das Milieu von Grisebachs Sehnsucht deutlich von dem der anderen hier besprochenen Filme unterscheidet, gibt es in Sehnsucht ebenfalls zahlreiche Szenen, die das Unbehagen der Zuschauer/-innen eskalieren lassen – durch eine Kombination aus langen Einstellungen, die peinliches oder unangenehmes Verhalten zeigen, und abrupten Schnitten, die verhindern, dass wir das Geschehen auf der Leinwand verstehen. Wie der Titel »Sehnsucht« andeutet, ist dies ein Film, dessen zentrales Thema die Affektbeziehung zwischen Menschen ist. Er erzählt den Verlauf der Dreiecksbeziehung zwischen dem Schlosser und freiwilligen Feuerwehrmann Markus, seiner Frau, der Hausfrau Ella, und der Kellnerin Rose – Figuren, die alle nach einem geeigneten Objekt für ihre Sehnsucht suchen, 13

Für eine ausführliche Diskussion über Unbehagen (»awkwardness«) in den gegenwärtigen kulturellen Ausdrucksformen im feministischen Kontext vgl. Smith-Prei/Stehle 2016.

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aber daran scheitern.14 Diese Situationstragödie betont das Aufeinandertreffen von Alt und Neu, wie es die Figuren einer kleinen Stadt in Ostdeutschland erleben, wo traditionelle und sich wandelnde Familienstrukturen und Geschlechterrollen buchstäblich aufeinanderprallen. Das Ende des Films ist sowohl eine metanarrative Reflexion über das Erzählen, die die Figur der weiblichen Erzählerin in den Mittelpunkt stellt, als auch eine Einladung an die Zuschauer/-innen, sich an der Bedeutungsgebung zu beteiligen. Wenn die Jugendlichen auf dem Spielplatz darüber diskutieren, ob sie die im Film erzählten Ereignisse tragisch, komisch oder romantisch finden, ist das eine explizite Einladung dazu, über das peinliche, unangenehme Genre der Situationstragödie nachzudenken. Ades Filme sind besonders bemerkenswert für die Art und Weise, wie sie Situationen der Peinlichkeit und der geschlechtsspezifischen Verweigerung in den Mittelpunkt stellen, die sowohl unerklärlich als auch verstörend sind. In Der Wald vor lauter Bäumen scheitern Melanies unbeholfene Versuche, sich im Klassenzimmer zu etablieren, Kontakt zu ihren neuen Kolleginnen und Kollegen aufzunehmen und neue Freundschaften zu knüpfen, in einer Weise, die sich Melanie selbst anscheinend nicht erklären kann. Während ihre Bemühungen um Selbstoptimierung ins Stocken geraten, fühlt sich die Betrachterin zunehmend unbehaglich und schaudert beim Ansehen von Melanies Unfähigkeit, sich selbst zu kontrollieren, ihr Verhalten anzupassen und eine Identität zu erschaffen, die den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Melanie fehlen zunehmend die Mittel, um als Lehrerin, Kollegin oder verantwortungsbewusste Erwachsene aufzutreten: Sie schleicht sich von der Schule weg, als sie die Kontrolle über ihre Klasse verliert; sie isst im Wandschrank zu Mittag, um zu vermeiden, ihren Kollegen und Kolleginnen über den Weg zu laufen; und ihre einst sorgfältig dekorierte Wohnung liegt plötzlich in Trümmern, ein äußeres Zeichen für die Unordnung in ihrem Inneren. Das ambivalente Ende des Films, in dem – wie wir schon gesehen haben – Melanie den Fahrersitz verlässt, während ihr Auto die Autobahn hinunter rast, betont ihre prekäre Position in einer neoliberalen Ordnung, in der sie keinen Platz für sich findet; gleichzeitig versetzt es auch die Zuschauer/-innen in eine Position der Unsicherheit, die immer stärker wird, je länger die Szene andauert. Etwas Ähnliches geschieht in Ades Alle anderen, einem Film, der mit großer Detailgenauigkeit und Präzision sowohl die Unsicherheit, die durch das Nebeneinander von gewandelten und traditionellen Geschlechternormen im Neoliberalismus entsteht, als auch die Folgen dieser Unsicherheit für die Handlungsfähigkeit des und der Einzelnen sichtbar macht. Alle anderen folgt dem Paar Gitti und Chris, beide in ihren Dreißigern, während eines Urlaubs auf Sardinien und zeigt, wie beide Figuren damit kämpfen, die fließenderen Geschlechterrollen, in denen sie leben,

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Siehe auch Abels Analyse des Affekts im Film Sehnsucht (2013: 230–48).

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an die Anforderungen ihrer heterosexuellen Beziehung, ihres Berufslebens und ihrer Freundschaften anzupassen. Als sie einem anderen Paar, Hans und Sana, begegnen, deren beruflichen Erfolg und normativere Geschlechterbeziehung Chris attraktiv findet, beginnen er und Gitti konventionelle Geschlechterrollen anzunehmen. Für Gitti wird es jedoch zunehmend unerträglich, ihre eigenen Erwartungen mit den bemerkenswert hartnäckigen Anforderungen der Heteronormativität in Einklang zu bringen. Sie versucht zunächst zu entkommen, indem sie das Musiklabel, bei dem sie als Pressefrau arbeitet, bittet, sie nach Deutschland zurückzurufen, jedoch entdeckt Chris ihre Täuschung. In der letzten Szene des Films bricht Gitti auf den Boden zusammen und liegt bewegungslos da, während Chris zunehmend in Panik gerät, dass sie ohnmächtig geworden oder sogar gestorben ist. Gitti ignoriert das anhaltende Klingeln ihres Handys mit dem Anruf ihrer Agentur und das Weinen von Chris und liegt schlaff und reaktionslos auf dem Boden des Ferienhauses. In dieser Szene wird Gittis Untätigkeit angesichts der persönlichen Beziehungen und der beruflichen Anforderungen als eine Form der Renitenz dargestellt, als eine geschlechtsspezifische Art der Verweigerung, die seltsam und beunruhigend ist. Wie Ade selbst über »Der Wald vor lauter Bäumen« erklärt: »Ich konnte kein Ende [für den Film] im Realismus, in der Realität finden, also hatte ich das Gefühl, dass ich die Realität hinter mir lassen müsste« (Abel 2013: 257).15 Indem Ades Filme zunächst eine ästhetische Position des Realismus einnehmen und sich dann wieder davon entfernen, spiegeln sie auf formaler Ebene die Unsicherheit der Gegenwart wider, die ihre Erzählungen strukturiert; gleichzeitig arbeiten sie auf einer affektiven Ebene, um dieses Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen. Die Unbehagen hervorrufenden Filme der hier diskutierten Filmemacherinnen bieten keine Lösungen und keine Auflösung, keinen Fortschritt und keine Katharsis. Stattdessen bieten sie unbeholfene, peinliche und beunruhigende Bilder, die uns manchmal zusammenzucken und zurückschrecken lassen, zu anderen Zeiten aber Fragen aufwerfen oder Zweifel aufkommen lassen. Indem sie bei den Zuschauern und Zuschauerinnen Unbehagen und Unsicherheit hervorrufen, machen diese Filme die inhärenten Widersprüche des Neoliberalismus greifbar. Gleichzeitig stellen die hier beschriebenen transnationalen Filmproduktionen von Frauen sowohl materiell als auch ästhetisch die Entstehung geschlechtsspezifischer Formen der Verweigerung dar, die auf die Pattsituation reagieren, in der wir uns heute befinden. Der Zugang zu den Mitteln der audiovisuellen Produktion, den diese Filmemacherinnen über kollaborative Praktiken sicherstellen, schafft eine Plattform, die darauf abzielt, unangenehme und unbequeme Bilder geschlechtsspezifischer Subjektivität einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen.

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Für eine Diskussion dieses Endes siehe auch Abel (2013: 256–59).

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2 Gender, Genre und die (Un-)Möglichkeit der romantischen Liebe Derek Cianfrances Blue Valentine (2010) und Maren Ades Alle anderen (2009) Lisa Haegele

Sowohl der amerikanische Independent-Film Blue Valentine von Derek Cianfrance (2010) als auch der Berliner-Schule-Film Alle anderen (2009) von Maren Ade behandeln schwierige Liebesbeziehungen von jungen Paaren Ende Zwanzig bis Anfang Dreißig. Anders als die konventionellen Hollywood-Romanzen lösen Blue Valentine und Alle anderen in ihren Darstellungen von Liebe und Sexualität bei ihrem jeweiligen Publikum eher unangenehme Gefühlsreaktionen aus und lenken die Aufmerksamkeit auf die Performativität der Geschlechterrollen, die ihre Protagonisten und Protagonistinnen glauben, erfüllen zu müssen. Anstatt versöhnliche, wohltuende Erzählungen von unerschütterlichem Verlangen und glückseliger heterosexueller Romantik zu bieten, stellen diese Filme die Wirren und Mehrdeutigkeiten heutiger Beziehungen in den Vordergrund. Sie stehen daher repräsentativ für das, was Antje Ascheid als das »Post-Romance«-Genre identifiziert hat, das sich im amerikanischen Independent-Kino der 1990er Jahre zu entwickeln begann und seitdem zu einem internationalen Arthouse-Phänomen geworden ist (Ascheid 2013: 249). Genauer gehören die Filme zur dystopischen Spielart der Post-Romance, die die »destruktiven Aspekte romantischer Beziehungen« auf eine zynische oder skeptische Weise thematisiert (248). Während sowohl der US-amerikanische als auch der deutsche Film mit einer Art von Realismus arbeiten, der eher beunruhigend wirkt, und beide Liebesgeschichten im Hollywood-Stil ablehnen, werde ich in diesem Essay wichtige Unterschiede zwischen den beiden Filmen herausarbeiten, die zeigen, dass Ades Film einen innovativen Entwurf bietet, wie filmische Liebesgeschichten in Zukunft aussehen könnten. In Übereinstimmung mit Ascheids Behauptung, dass viele deutsche Post-Romance-Filme dystopische mit utopischen Elementen verbinden (250), zeigt der hier vorgenommene, transnationale Vergleich auf, wie Alle anderen eine utopischere Vision des zeitgenössischen Liebesfilms sichtbar macht; eine

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Vision, die in einigen der weniger optimistischen Lesarten der Filme der Berliner Schule in der jüngsten Zeit übersehen wurde.1

Eine unmögliche Liebe: Blue Valentine Derek Cianfrances Blue Valentine schildert die scheiternde Beziehung zwischen Cindy (Michelle Williams) und Dean (Ryan Gosling), einem jungen Paar aus der Arbeiterschicht, das in einer kleinen Stadt in Pennsylvania um sein Überleben kämpft. In der Eröffnungssequenz frühstücken Cindy und Dean in aller Eile mit ihrer fünfjährigen Tochter Frankie, bevor Cindy zur Arbeit eilt. Als Cindy während ihrer Mittagspause die Arbeit verlässt, um Frankies Schulaufführung anzuschauen, sieht sie Megan, den Familienhund, der am Morgen verschwunden war, tot am Straßenrand liegen. Sie teilt Dean die schlechte Nachricht mit, der ihr vorschlägt, die Nacht in einem – wie sie es nennt – »miesen Sex-Motel« zu verbringen, um sich von der Realität der Situation abzulenken. Nervös und erschöpft widersetzt sich Cindy zunächst der Idee, gibt aber schließlich nach. An dieser Stelle – und während des gesamten Films zeigen uns Rückblenden immer wieder Cindys und Deans erste Begegnung und sich entwickelnde Liebe, die in scharfem Kontrast zu den tristen und trüben Bildern von Cindys und Deans Gegenwart stehen. Dean, der in der Vergangenheit als Umzugshelfer arbeitet, trifft Cindy in einem Altersheim, wo sie ihre Großmutter besucht. Sie verlieben sich und als Cindy entdeckt, dass sie ein Kind von ihrem gewalttätigen Ex-Freund erwartet, überzeugt Dean sie, ihn als Vater des Kindes anzunehmen. Am Ende des Films heiratet das Paar in einem Gerichtsgebäude, während sich die heutige Cindy und der heutige Dean nach einem heftigen Streit an Cindys Arbeitsplatz trennen. In der letzten Einstellung entfernt sich Dean von seiner Frau und Tochter, während um ihn herum Feuerwerkskörper explodieren, untermalt vom Schlusssong der Indie-Rockband Grizzly Bear. Während der Abspann rollt, sehen wir eine Abfolge nostalgischer Fotos des jüngeren und glücklicheren Paares auftauchen, unterlegt mit einer Animation explodierender Feuerwerkskörper. Die vielleicht auffälligste Gemeinsamkeit von Blue Valentine und der Filmsprache der Berliner Schule ist das langsame Tempo und der bedachtsame Realismus, 1

Vgl. etwa Cook, Koepnick und Prager 2013: Indem die Autoren die »Malaise« und »Sinnlosigkeit des modernen Lebens« betonen, die viele Filme der Berliner Schule prägen, beschreiben sie die Protagonisten und Protagonistinnen der Filme als »trübsinnige Depressive«, die sich im Zeitalter des Neoliberalismus damit abgefunden haben, ihr Leben in »Schwermut und Sinnlosigkeit« zu fristen (1, 12–17). Während ein Gefühl des Verlusts und der Leere in der Tat zentral für die Ästhetik der Berliner Schule ist, werde ich mich in diesem Text mehr auf die utopischen Impulse bei der Darstellung von Liebe und emotionaler Bindung in Ades Film konzentrieren.

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der seine Aufmerksamkeit darauf richtet, normale Menschen in ihrem normalen Leben zu zeigen. Insbesondere die Eröffnungssequenz erinnert in ihrer eindringlichen Qualität an die Berliner Schule. Während auf einem schwarzen Bildschirm der Vorspann erscheint, hören wir Grillen zirpen, das Krächzen einer Krähe und ein kleines Mädchen, das verzweifelt einen Namen ruft, der wie »Da-da« klingt. Die erste Einstellung zeigt dann das Mädchen, das sich später als Frankie entpuppt, allein auf einem Feld auf der linken Seite des Bildausschnitts stehen, hinter ihr ein dichter Wald. Der nächste Schnitt zeigt uns eine windige, leere Straße, während wir weiterhin die widerhallenden Rufe des Mädchens aus dem Off hören. Unser Blick auf das Ende der Straße wird von Bäumen begrenzt, die von oben, links und rechts in das Bild ragen, was das Gefühl von Verlust und Entfremdung verstärkt, das auch in Frankies Rufen zum Ausdruck kommt. Dann schneidet die Kamera auf ein beklemmendes Bild eines blassrosa Plastikpferdes in einem Unkrautfeld vor dem dunkelgrünen, undurchdringlichen Wald. Indem die Anfangssequenz die Kargheit und die Abwesenheit menschlichen Lebens betont, kündigt sie schon die Entfremdung und Leere an, die die Beziehung zwischen den Protagonistinnen des Films prägt. So wie in den Filmen der Berliner Schule die geisterhaften Räume die gescheiterten Beziehungen und sinnentleerten Verbindungen zwischen den Figuren (vgl. Kaussen 2013: 147–56) spiegeln, so beschwören Frankies unbeantwortete Rufe in einer öden Landschaft die emotionale Leere, die inzwischen zwischen ihren Eltern besteht. Obwohl wir später feststellen, dass Frankie nicht »Da-da«, sondern »Megan«, den Namen des vermissten Familienhundes, gerufen hat, lässt die Sequenz auch die traumatische Trennung Frankies von ihrem Vater aufscheinen, als er sie und Cindy am Ende des Films verlässt. Blue Valentine verfolgt einen realistischen Ansatz, den der Filmkritiker der New York Times A. O. Scott in seinem Artikel »Neo-Neo Realism« (2009) als übergreifenden Stil im jüngeren amerikanischen Independent-Kino identifiziert hat. Genau wie die Filme, die Scott beschreibt, verwendet Blue Valentine »lange, ruhige Aufnahmen«, um das gewöhnliche Leben von Menschen aus der Arbeiterklasse an realen US-amerikanischen Schauplätzen darzustellen. Neben der minimalen Nutzung von Kunstlicht und der Fähigkeit der Schauspieler und Schauspielerinnen zur Improvisation (Silberg 2012) tragen das Fehlen von nicht-diegetischer Musik in Cindy und Deans Gegenwart, die häufige Verwendung von Handkamera und Schärfeverlagerung zu der realistischen Ästhetik des Films bei. Da unsere Sicht oft durch Objekte, die in der Nähe der Kamera stehen, versperrt wird, positioniert uns der Film als fast schon körperlich als Voyeure der Ereignisse auf der Leinwand und erzeugt dadurch die unangenehmen Formen des Affekts, die den Film vorantreiben. Meistens fühlen wir uns den Protagonisten zu nahe, als ob wir uneingeladen in ihren privaten Raum eindringen. Als Cindy Dean bei Frankies Schulaufführung vom Tod ihres Hundes erzählt, zeigt die Kamera sie abwechselnd in Nahaufnahme, wobei Dean Cindy in ungläubigem Schock anstarrt, während Cindy schluchzend

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ihre Hände vor ihr Gesicht hält. Während wir Cindy in extremer Nahaufnahme weinen sehen, flüstert Dean: »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst das verdammte Tor zumachen?« Die Kinder beginnen das patriotische Lied »My Country, Tis of Thee« zu singen und bilden damit einen ironischen Kontrast zum Schmerz des Paares, der auf die Herausforderungen und unvermeidlichen Fehlschläge anspielt, die zwangsläufig auf Menschen aus der US-amerikanischen Arbeiterschicht zukommen, wenn sie versuchen, Lohn- und Familienarbeit und andere häusliche Verpflichtungen miteinander zu vereinbaren. Ähnlich kompromisslos zeigt sich die Kamera, als Dean Cindy im Auto ausfragt, wie die Begegnung mit ihrem Ex-Freund im Spirituosenladen abgelaufen ist. Cindy und Dean werden von der Kamera, die sich zwischen ihnen befindet, in extremer Nahaufnahme gezeigt, was ihre Nervosität in dieser Situation betont. Infolgedessen entsteht auch bei uns ein intensives Gefühl des Unbehagens und der Verlegenheit, da wir einem sehr privaten Moment dieses Paares beiwohnen, in dem sie ihre innere Verletzlichkeit und Unsicherheit aus nächster – unangenehmer – Nähe offenbaren.

Abbildung 2.1: Unerotische Duschszene in ›Blue Valentine‹

Die sexuelle Begegnung von Cindy und Dean – bei der sie beide betrunken sind – in einem Motelzimmer, das im Science-Fiction-Stil eingerichtet ist und bezeichnenderweise »Future Room« genannt wird – zwingt uns dazu, das Scheitern der Beziehung des Paares unmittelbar mitzuerleben und ähnelt dabei den qualvoll unbeholfenen und erfolglosen sexuellen Anbahnungen der Figuren in den Filmen der Berliner Schule (Richardson 2013, S. 41–49). Neonblaues und rotes Licht, das von den Metalltüren und -wänden reflektiert wird, beleuchtet das dunkle, beeng-

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te und irritierende Zimmer. Es gibt keine Fenster, wie Cindy enttäuscht bemerkt, und das sich drehende Bett, der grelle Schein der Neonlichter, die Reflexionen der Metalloberflächen und die mehrfachen Spiegelungen rufen ein Gefühl von Schwindel und Desorientierung hervor. Als Cindy die Drinks zubereitet, steht sie in einer Türöffnung und wird auf beiden Seiten von Metallwänden eingeschlossen; dahinter sehen wir ihr Spiegelbild. Das klaustrophobische Gefühl bleibt bestehen, als Dean zu ihr unter die Dusche tritt und versucht, sie zum Sex zu überreden. Als er das Badezimmer betritt, zeigt die Kamera Cindy in Nahaufnahme, wobei ihr Gesicht vom Duschkopf durch eine verschwommene blaue vertikale Linie getrennt ist, die durch die Mitte des Bildes geht. Dadurch sieht es so aus, als ob sie auf der linken Seite eingesperrt ist. Dean geht daraufhin an der Kamera vorbei und in die Dusche hinein. Dabei betritt er die nächste Einstellung von links und beginnt, Cindys Hals und Gesicht zu streicheln, wobei sein Körper über ihrem emporragt, während ihre Augen geschlossen sind (Abb. 2.1). Cindys Verletzlichkeit wird durch die Beleuchtung in der Szene betont: Während Deans Gesicht und seine Schultern in einen dunkelblauen Schatten geworfen sind, wird Cindys Gesicht vom neonroten Licht des Duschkopfes beleuchtet. Eine verwirrende wabenförmige Reflexion bildet eine weitere Ebene und schiebt sich vor unseren Blick auf das Paar. Cindy, die offensichtlich kein Interesse an Sex hat, bewegt sich weg von Dean und tritt hinter ihn. Als sie sich wieder umdreht, beugt sich Dean zu ihrem Becken hinunter und beginnt, in einer Nahaufnahme ihre Oberschenkel und ihr Gesäß zu streicheln, woraufhin Cindy sagt: »Genug.« Diese Szene bildet einen scharfen Kontrast zu einer späteren Szene, in der in der Rückblende die jüngere Cindy kichert und Dean liebevoll umarmt, als sie Oralsex haben. Deans zweiter Versuch, im Motelzimmer mit Cindy Sex zu initiieren, bereitet beim Zuschauen sogar noch mehr Unbehagen und hat die MPAA2 möglicherweise dazu veranlasst, dem Film die ursprüngliche NC-17-Bewertung zu verleihen.3 Dean liegt betrunken auf dem Boden und gibt vor, nicht aufstehen zu können. Er ruft Cindy zu Hilfe, die ebenfalls betrunken ist und auf dem Drehbett liegt. Als Cindy zu ihm hinüber taumelt, um ihm zu helfen, zieht er sie zu sich herunter, dreht sie herum und flüstert ihr zu: »Du bist so schön.« Cindy lacht leise, spuckt ihn an und schiebt sein Gesicht von ihrem weg. Wie in der Duschszene überwältigt Deans Körper in dieser Szene die Einstellung auf eine Weise, die Cindys Gefühl 2

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Anm. der Übersetzerin: Die MPAA ist ein US-amerikanischer Verband der Filmindustrie, der auch die Altersempfehlungen für Filme festlegt. In Deutschland ist dafür die freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) zuständig. NC-17 entspricht der FSK-Bewertung »Ab 18« und R »Ab 16«. Cianfrance glaubt selbst, dass diese Szene zur ursprünglichen Bewertung des Films als NC-17 geführt haben könnte. Etwa einen Monat vor der Veröffentlichung des Films legten Cianfrance und sein Anwalt erfolgreich Berufung gegen das Urteil ein, was zu der endgültigen R-Bewertung führte, vgl. Watkins 2015.

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des In-der-Falle-Sitzens verstärkt. In einer Nahaufnahme mit der Kamera auf Bodenhöhe küsst Dean Cindy, die darauf reagiert, indem sie seinen Kopf gewaltsam an den Haaren zurückzieht. Er zuckt zurück und murmelt: »Scheiße! Autsch. Was machst du da? Hm? Was ist los? Komm her!«, und knöpft Cindys Bluse auf, um ihre entblößte Brust zu küssen. Anstatt ihn wieder wegzustoßen, macht Cindy eine Faust und bringt sie in einer Geste des Selbstschutzes zu ihrer Brust. In einer extremen Nahaufnahme zieht sie eine angeekelte Grimasse und bewegt ihren Mund in Form des Wortes »Au«, während sie ihre Hand als Faust über ihre Augen hält. Dann zieht sie Deans Kopf noch einmal zurück und beginnt, ihn zu ohrfeigen. Verletzt und frustriert meint Dean, dass er Zuneigung verdiene, weil er sie liebe und gut zu ihr und Frankie sei. An diesem Punkt gibt Cindy nach und zieht ihren Slip aus, damit Dean Sex mit ihr haben kann. In den folgenden holprigen Einstellungen, die aus nächster Nähe und in ungewöhnlichen Perspektiven geschossen wurden, schließt Cindy in leidvoller Erduldung fest die Augen. Schließlich zieht sich Dean zurück und sagt: »Ich kann das so nicht, verdammt noch mal. Diesen ›Du kannst meinen Körper haben‹-Scheiß will ich nicht. Ich will dich. Ich werde das so nicht machen. Was willst du? Dass ich dich vergewaltige? Ist es das, was du willst? Willst du, dass ich dich schlage?« Cindy bittet ihn erst, damit aufzuhören, um dann spöttisch zu antworten: »Ja, schlag mich. Das ist es, was ich will, Baby. Schlag mich.« Als sie sich vom Boden erhebt, schlägt und ohrfeigt sie ihn, während er ruhig erwidert: »Ich werde das nicht tun. Ich werde das verdammt noch mal nicht tun, okay? Es ist mir scheißegal, wie sehr du es willst. Ich werde es nicht tun. Ich werde es nicht tun. Okay? Ich liebe dich.« In dieser Szene und während des gesamten Films sind wir gezwungen, die Auflösung einer Ehe aus schmerzlichster Nähe zu beobachten, was in uns Gefühle der Verlegenheit und des Ekels hervorruft. Während der Sex in den Filmen der Berliner Schule zwar angestrengt und unbefriedigend ist, so treibt Blue Valentine die Darstellung ins Extrem: Der schlechte Sex darin ruft ein fast unerträgliches Unbehagen hervor. Das steht im Gegensatz zum emotional befriedigenderen Hollywood-Liebesfilm, bei dem Sexszenen normalerweise gefühlsbetont sentimental oder erotisch sind. Blue Valentine ist daher ein Nachruf sowohl auf die Beziehung eines Paares als auch auf den HollywoodLiebesfilm selbst, eines eingeführten Genres, das aber den komplexen und herausfordernden Realitäten von Liebesbeziehungen heute – vor allem in der Arbeiterschicht – nicht mehr gerecht wird. In Gegensatz zu der gegenwärtigen Geschichte von Cindy und Dean repräsentiert die Vergangenheitsebene, die die Geschichte des jüngeren, glücklicheren Paares erzählt, die konventionelle Hollywood-Romanze mit ihren Farben, ihrer aufmunternden Musik und ihren Wohlfühlmomenten, die aber, wie der Film suggeriert, letztlich nicht aufrechterhalten werden kann. Mit anderen Worten: Das Scheitern der Beziehung zwischen Cindy und Dean steht dafür, dass diese vorgeblich allgemeingültige, typische Liebesgeschichte in Wirklichkeit unerreichbar ist. Dean gibt in einem Gespräch mit einem Kollegen nach seiner

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ersten Begegnung mit Cindy zu, dass seine Vorstellung der Wirklichkeit von Filmen geprägt ist: »Vielleicht habe ich zu viele Filme gesehen. Liebe auf den ersten Blick? Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich sie schon kannte.« Deans Hoffnung auf eine Wirklichkeit im Hollywood-Stil wird noch einmal in einer anderen Szene veranschaulicht, als er Frankie versichert, dass Megan weggegangen ist, um ein »Filmhund« zu werden, obwohl er weiß, dass der Hund tot ist. Als Frankie ihn fragt, ob er Megan gefunden hat, zögert er, bevor er antwortet: »Nein … aber ich dachte, vielleicht ist sie nach Hollywood gegangen, um ein Filmhund zu werden. Was meinst du? Glaubst du, dass sie nach Hollywood gegangen ist, um ein Filmhund zu werden? Sie sieht gut genug aus dafür, oder?« Dean glaubt an die Wunschbilder, die Hollywood verspricht, um die Hoffnung auf eine bessere und weniger schmerzhafte Realität nicht zu verlieren. Während er Frankie erzählt, dass Megan losgezogen ist, um ein Hollywood-Star zu werden, richtet sich die Kamera auf Cindy auf dem Fahrersitz des Autos. Sie trägt eine Sonnenbrille, um ihre Tränen zu verbergen, und schaut ernst nach unten. Diese Aufnahme unterstreicht die Diskrepanz zwischen der Realität im Hollywood-Stil, an der Dean für seine Tochter festhalten will, und den harten Wahrheiten, mit denen das Paar konfrontiert ist. Blue Valentine veranschaulicht, wie Hollywoods Verständnis von feststehenden Geschlechterrollen zusammen mit der damit zusammenhängenden Behauptung, dass Klassenunterschiede durch die romantische Liebe eingeebnet werden, mit den chaotischen und komplexen Wahrheiten heutiger Beziehungen vollkommen unvereinbar ist. Während Dean an einer romantischen Vorstellung der Ehe festhält und glaubt, dass die Liebe immer siegen wird, erwartet Cindy von Dean, dass er den idealistischen geschlechtsspezifischen Erwartungen an einen Ehemann entspricht, der emotional verklemmt und von beruflichem Ehrgeiz zerfressen ist. Beim Abendessen in ihrem Motelzimmer fragt Cindy Dean, was seine Lebensziele sind und drängt ihn herablassend dazu, sein »Potenzial« zu verwirklichen. Verärgert bittet Dean sie im Gegenzug zu erklären, was sie mit »Potenzial« meine. Die ehemalige Medizinstudentin Cindy scheint Dean, der der Arbeiterklasse angehört, für die finanziell prekäre Situation, in der sie sich befindet, verantwortlich zu machen – und für ihr eigenes Versagen, ihr »Potenzial« zu erreichen. Hätte Dean nicht angeboten, die Rolle von Frankies Vater zu übernehmen, hätte Cindy vielleicht die Abtreibung, die sie in Erwägung zog, vorgenommen und damit ihre Karriereziele verwirklicht. Anders als in Hollywood-Filmen wie der romantischen Komödie Pretty Woman (Garry Marshall 1990) werden die Klassenunterschiede in der Liebesbeziehung zwischen Cindy und Dean nicht nivelliert, sondern bleiben unverrückbar bestehen, was zu Missverständnissen und Ressentiments führt. Bei ihrem letzten Streit an Cindys Arbeitsort maßregelt Cindy Dean bitter: »Ich bin mehr Mann als du«, worauf Dean defensiv zurückruft: »Was soll das überhaupt heißen? Was heißt überhaupt, ein Mann sein? Dann werde ich ein Mann sein, du willst also, dass ich ein

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Mann bin?« Er fängt an, im Büro Gegenstände umherzuwerfen und schreit dabei: »Bitte sehr. Ich bin ein Mann. Ich bin ein echter Mann, schau her«, während Cindy verächtlich wiederholt: »Nein, ich bin jetzt der Mann!« Was an dieser Stelle in diesem Post-Romance-Film deutlich wird, ist, dass die festen Geschlechterrollen und -erwartungen der typischen Hollywood-Liebesfilme von Gestern durcheinandergeraten sind, eine Behauptung, die dadurch unterstrichen wird, dass Cindys Krankenhauskleidung sowohl in Rosa als auch in Blau gehalten ist, genauso wie die Szenen im Sex-Motel unterschiedliche Lichtfarben einsetzen. Weder Cindy noch Dean sind »der Mann«, oder sie sind es beide – die heteronormativen Erwartungen, die in so vielen Liebesfilmen festgeschrieben sind, sind mit den unvermeidlich komplexen und instabilen Geschlechteridentitäten in echten Liebesbeziehungen nicht zu vereinbaren. Die Sehnsucht nach einem Liebesmodell, das der Vergangenheit angehört – mit seinen Sonnenuntergängen, seiner bedingungslosen Liebe und der durch nichts zu erschütternden Leidenschaft zwischen den Geschlechtern –, führt dazu, dass sich Cindy und Dean in einer Beziehung wiederfinden, die nur Enttäuschung, Unglück und unbefriedigenden Sex bringen kann. Erlebnisse, die früher als romantisch und erotisch empfunden wurden, sind heute von unbeholfenen und unsicheren Formen des Gefühls durchdrungen. Wenn im Abspann in warmes Licht getauchte Farbfotos von Cindy und Dean aus den frühen Tagen ihrer Beziehung über die Leinwand laufen, umrahmt von explodierenden Feuerwerkskörpern, dann verkörpern sie eine nostalgische – wenn auch etwas zynische – Hommage an den typischen Hollywood-Liebesfilm.

Neue Liebesversuche: Alle anderen Als Blue Valentine im Jahr 2010 in die Kinos kam, verglichen US-amerikanische Filmkritiker/-innen den Film sofort mit Maren Ades Alle anderen, der im Vorjahr erschienen war. Vor allem stellten sie thematische Überschneidungen zwischen den Filmen fest, wie Martin Morrow in einem Artikel für CBC News erläuterte: »Wie Alle anderen nimmt Blue Valentine eine gescheiterte Beziehung unter die Lupe und untersucht jede einzelne ihrer Zuckungen« (Morrow 2011). In einem Sound on Sight Radio-Podcast, der die beiden Filme miteinander verglich, bezeichneten die Kritiker/-innen Alle anderen als das »europäische Äquivalent« zu Blue Valentine (Sound on Sight Radio 2011). Doch während der Film von Cianfrance laut Sound on Sight Radio typisch »amerikanisch« sei, mit seiner dramatischen Erzählung einer Liebesgeschichte vom euphorisierenden Anfang bis zum schmerzhaften Ende, bei der alles dazwischen weggelassen wird, biete der deutsche Film ein komplexes psychologisches Porträt der alltäglichen Interaktionen eines jungen Paares ohne dramatische oder sentimentale Ausschmückung. Tatsächlich kam Alle anderen bei den meisten Kritiker besser weg – wegen seiner »ruhigen, aufmerksamen Ehrlichkeit« (Seattle

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Times 2011) und »anregenden Klarheit« verglichen mit der »billigen Sentimentalität« (Scott 2010) bei Blue Valentine. Während der US-amerikanische IndependentFilm in einer wehmütigen Hommage die These aufstellt, dass das Genre selbst obsolet geworden ist, schlägt der deutsche Film neue Wege und Möglichkeiten vor, wie Liebesfilme in Zukunft aussehen könnten. In einer überraschenden Umkehrung dessen, was man von amerikanischen und europäischen Filmen normalerweise erwartet, bietet Ades Post-Romance-Film einen weitaus optimistischeren Blick auf die Beziehung zwischen ihren Protagonisten und Protagonistinnen im Besonderen und auf die Zukunft des Liebesfilms im Allgemeinen. Dieser Vergleich stellt die dominierende Auffassung in Frage, dass Ades Figuren – wie so viele in den Filmen der Berliner Schule – im Zeitalter des Neoliberalismus und der Postindustrialisierung einander »entfremdet« und »sozial isoliert« sind (Cook et al. 2013). Ähnlich wie am Anfang von Blue Valentine scheint die erste Szene in Alle anderen eine junge Familie beim Frühstück zu zeigen. Während Gitti (Birgit Minichmayr) versucht, ein kleines Mädchen zu überreden, etwas zu essen, spielt Chris (Lars Eidinger) auf dem Wohnzimmersofa mit einem Baby, das auf seinem Schoß liegt. Bald schon stellen wir aber fest, dass Chris’ Schwester die Mutter der Kinder ist und dass Gitti, eine Bandmanagerin, und Chris, ein erfolgloser Architekt, auf Sardinien im Ferienhaus von Chris’ Mutter Urlaub machen. Zu Chris’ Bestürzung trifft das Paar in einem Lebensmittelgeschäft zufällig seinen erfolgreicheren Kollegen Hans und dessen schwangere Frau Sana. Widerwillig nehmen Chris und Gitti die Einladung von Hans und Sana zum Abendessen am gleichen Abend an. Beim Essen kommt es zum Streit zwischen Hans und Gitti, die Chris beherzt gegen Hans’ herablassende Bemerkungen verteidigt. In Verlegenheit gebracht wendet sich Chris gegen Gitti und beginnt, sich von ihr emotional zu entfernen. Als die beiden Paare sich das nächste Mal zum Abendessen treffen – diesmal im Ferienhaus der Mutter –, bleibt Gitti zunächst ruhig und zurückhaltend, bis sie Sana mit einem Küchenmesser bedroht und ihr befiehlt, mit Hans das Haus zu verlassen. Am nächsten Morgen beginnt Gitti, ihre Koffer zu packen und verkündet Chris, dass sie ihn nicht mehr liebe. Als Chris nach ihrem Streit nach draußen geht, um sich zu beruhigen, stellt sich Gitti auf dem Wohnzimmerboden »tot«. In der letzten Einstellung des Films dreht Gitti ihren Kopf mit einem sanften Lächeln zu Chris und streichelt in einem zärtlichen und ruhigen Moment sein Gesicht mit ihren Fingerspitzen. In Alle anderen spielen Gitti und Chris in einem kreativen Prozess beständig mit den Genderrollen in ihrer Beziehung. Im Gegensatz zu Cindy und Dean in Blue Valentine, deren Unfähigkeit, sich eine glückliche Beziehung jenseits der HollywoodNormen vorzustellen, letztendlich dazu führt, dass sie scheitern, gehen Gitti und Chris spielerisch mit ihren Geschlechteridentitäten um und kitzeln daraus Möglichkeiten heraus, Intimität und Verbundenheit zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Gittis und Chris’ Beziehung gerät dann ins Wanken, wenn sie traditionelle

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Gendernormen in ihrer sozialen Gruppe erfüllen müssen, genauso wie die Beziehung zwischen Cindy und Dean dann scheitert, wenn sie diesen Normen nicht gerecht werden. Doch während Cindy und Dean es nicht schaffen, nach anderen tragfähigen Lösungen für ihre Beziehung zu suchen, experimentieren Gitti und Chris mit alternativen Formen von Geschlechterverhältnissen, die wiederum neue Formen der Darstellung von Gefühl für den Post-Romance-Liebesfilm möglich machen. Tatsächlich können sie als Paar nur deshalb auf sinnvolle Weise zusammenkommen, weil sie es nicht schaffen, ihre Beziehung innerhalb eines heteronormativen Modells aufrechtzuerhalten. In diesem Zusammenhang stelle ich die These auf, dass Gittis und Chris’ Spiel mit Gendernormen kaum ein Hinweis darauf sein kann, dass sie »innerlich tot« (Cook et al. 2013: 169) oder in ihren Gesten »gefangen« sind (180); vielmehr erzeugen Gitti und Chris ihre intime Beziehung erst dadurch, indem sie erkennen, dass sie eine Wahl haben, wie sie sich selbst definieren. Im Gegensatz zu Cindys und Deans Beziehung wächst die von Gitti und Chris gerade im Unschärfebereich der verschwommenen Ränder von Identität und Gender – eine Option, vor der Cindy und Dean die Augen verschließen. Schon in der Eröffnungsszene hebt Alle anderen die Performativität von Geschlecht und insbesondere Gittis Vorliebe für das Schauspielen hervor. Indem der Film uns zunächst glauben macht, dass Chris, Gitti und die beiden Kinder eine Kleinfamilie sind, bis die echte Mutter der Kinder eintrifft, durchkreuzt er bereits unsere Erwartungen und betont gleichzeitig den performativen Charakter der heteronormativen Elternrollen. Während Chris ihr Baby hält, schaut seine Schwester ihn anerkennend an und bemerkt: »Steht dir eigentlich ganz gut!« Ihre Beobachtung, dass das Halten eines Babys zu ihrem Bruder »passt«, weist auf die Performativität der Vaterrolle hin, die er zufällig gut spielt. In der nächsten Einstellung stampft Gitti am Swimmingpool hinter dem kleinen Mädchen her und fordert sie auf, zu erklären, warum sie sauer ist. In einer Halbnahaufnahme blickt Gitti zu Chris und seiner Schwester hinüber und dann wieder zu dem Mädchen vor ihr. Nun, da sich Gitti ihres Publikums vergewissert hat, überredet sie das Mädchen, ihr zu sagen, wie sehr sie sie verabscheut und gibt ihr dann die Erlaubnis, sie zu erschießen. Das Mädchen formt mit der Hand eine Pistole und »erschießt« Gitti, woraufhin diese die Hände an die Brust hebt, keucht und mit entsetzten Augen und geöffnetem Mund rückwärts in den Pool fällt. Für ein paar stille Momente treibt Gitti bewegungslos im Pool, als wäre sie tot. Dann schneidet der Film zu Chris und Gitti, die schlafend im Bett liegen, worauf der Titel des Films ALLE ANDEREN über ihren Köpfen erscheint. Bereits in dieser Eröffnungssequenz können wir mehrere Ebenen der Performativität ausmachen – Chris’ väterliche Gesten, das Minidrama zwischen Gitti und dem kleinen Mädchen, das irreführende Familienporträt –, die uns zeigen, dass die Figuren im Film nicht über Stereotype zu fassen sind und nicht auf ihre jeweiligen Darstellungsmodi reduziert werden können. Im Laufe des Films spielen Chris und Gitti verschiedene Identitäten durch – im Sinne davon, dass sie

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einerseits wie »alle anderen« sind, andererseits sich gegen »alle anderen da draußen« definieren – und zwar auf eine Weise, die es ihnen schließlich ermöglicht, am Ende des Films eine starke emotionale Verbundenheit zu entwickeln. In einer Umkehrung der geschlechtsspezifischen Erwartungen wird Chris zu Beginn des Urlaubs als weiblich und Gitti als männlich kodiert. Diese Überschreitungen finden vor allem auf visueller Ebene statt. Als Gitti beispielsweise Chris beim Lesen mit Käsestückchen füttert, nimmt der nackte Oberkörper von Chris das gesamte Bild ein, bis auf eine kleine Lücke unter seiner Schulter. Gitti streckt ihren Arm genau durch diese Lücke, um ihn von hinten zu füttern. Während sein Körper der Kamera zur Schau gegeben wird, schaut Chris lesend nach unten in einer Haltung, die ihn als Objekt unseres Blicks definiert und daher weiblich konnotiert ist. Gitti dagegen streckt ihren Arm in einer phallischen Geste durch den Spalt unterhalb von Chris’ Schulter aus und tastet sehr intim mit ihrer Hand in seinem Gesicht, um ihm ein Stück Käse in den Mund zu schieben. In der folgenden Aufnahme schminkt sie ihn: Während ihr Körper größtenteils außerhalb des Bildes bleibt, liegt Chris in passiver Pose mit den Armen über dem Kopf auf dem Boden. Als sie ihren Nachbarn hören, der sie im Ferienhaus willkommen heißen möchte, rennen sie kichernd den Hügel hinauf und Chris wischt sich die Schminke aus dem Gesicht. Gitti sagt enttäuscht: »Schade.« Lächelnd antwortet Chris: »Ja, so gefalle ich dir. Als Mädchen.« Gitti bestätigt das, während sie sanft sein Gesicht streichelt: »Ich finde, das steht dir irgendwie.« Als Chris Gitti fragt, ob sie ihn überhaupt männlich findet, schlägt sie ihm vor, »etwas Männliches« zu tun, und sie wird dann sehen, ob sie es bemerkt. Als sie zur Villa zurückgehen, legt Chris seinen Arm um Gitti, was sie zum Lachen bringt. Als er sie fragt, warum sie lacht, erklärt sie: »Weil du so schlecht spielst!« Gitti bemerkt also, wenn Chris versucht, »männlich« zu sein, weil ihrer Ansicht nach Chris Männlichkeit – ausgedrückt in der besitzergreifenden Geste, den Arm über die Schulter seiner Freundin zu legen – nicht so gut »spielt«, wie die Rolle, die er sonst in seiner Beziehung zu Gitti einnimmt und die stereotyp als weiblich kodiert ist. In einer anderen frühen Szene des Films, die Chris als weiblich setzt, sieht Gitti Chris dabei zu, wie er in dem mit Porzellanvögeln gefüllten Zimmer seiner Mutter ihr eine sinnliche Tanzvorführung gibt. Enttäuscht darüber, dass Chris nicht mit ihr in die Disco gehen will, schaut sich Gitti erst mit verschränkten Armen skeptisch im Raum um und macht eine abfällige Bemerkung darüber, dass seine Mutter wohl einen etwas kitschigen Einrichtungsgeschmack habe. Sie schaltet die Stereoanlage ein und fordert Chris auf, zu der offensichtlich rührseligen Ballade »To All the Girls I’ve Loved Before«, gesungen von Julio Iglesias und Willie Nelson, zu tanzen. Während Chris zögert, zeigt die Kamera Gitti, die mit verschränkten Armen auf dem Sofa sitzt und ihn bewertend beobachtet. In einer halbnahen Einstellung fängt Chris zunächst langsam an zu tanzen, aber schon bald wird es ihm peinlich und er platzt heraus: »Aber das [gemeint ist die Musik] ist doch scheiße!« Aus dem

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Off besteht Gitti darauf: »Jetzt mach!« Chris unternimmt einen weiteren Versuch und wird diesmal zunehmend enthusiastischer. Nach zwei weiteren Schnitten zu Gitti, die kichernd auf dem Sofa sitzt, konzentriert sich die Kamera auf Chris, der in schwungvollen Bewegungen durch den Raum tanzt, die Wände hinunter und auf den Boden gleitet, wo er sich herumrollt und auf seinen Ellbogen zu Gitti und dann in ihren Schoß robbt. In der nächsten Einstellung rollt das Paar zusammen auf dem Boden, lacht und küsst sich. Obwohl es ihm zunächst peinlich ist, legt Chris schnell seine Hemmungen beiseite und tanzt mit Hingabe für Gitti und die Kamera, in Einstellungen und mit sinnlichen Körpergesten, die typischerweise weiblich konnotiert sind. Gerade durch Chris’ feminisierte Tanzperformance – auch wenn sie ironisch aufgeführt wird – sind Chris und Gitti in der Lage, nach ihrem Zwist über die Abendpläne wieder körperlich und emotional zueinander zu finden. Wie Marco Abel in seiner scharfsinnigen Analyse des Films festgestellt hat, greifen Chris und Gitti bei ihren Interaktionen häufig auf Ironie zurück (Abel 2013: 260); doch anstatt, dass diese eine aufrichtige emotionale Verbindung verhindern würde, möchte ich argumentieren, dass die ironische Haltung gegenüber dem kitschigen Zimmer der Mutter und dem Iglesias-Song es Chris erlaubt, sich unbeschwert und frei von Rollenerwartungen auszudrücken, und damit eine intime Verbindung zwischen ihm und Gitti entstehen zu lassen. In der letzten Einstellung der Szene schauen Chris und Gitti lachend zum Baum mit den Porzellanvögeln hoch, bevor sie sich weiter küssen. Das Lied, das immer noch im Hintergrund läuft, schlägt eine Brücke zu der folgenden, ernsthafteren Sexszene. Die Grenze, die Aufrichtigkeit und Authentizität von ironischer Distanz und Performance trennt, ist nicht leicht auszumachen. Chris und Gitti fahren fort, sich zu küssen, nachdem sie noch einmal herablassend über die kitschige Dekoration gelacht haben. Außerdem scheint sich ihre ursprüngliche Skepsis gegenüber dem emotional aufgeladenen Lied in eine ungenierte und unironische Freude daran zu verwandeln, ein Eindruck, der dadurch verstärkt wird, dass das Lied in der intimeren Sexszene weiter im Hintergrund läuft. Tatsächlich zeigt diese Szene, dass Ironie und Performance die Möglichkeit einer aufrichtigen emotionalen Verbindung nicht ausschließen. Ironie und Aufrichtigkeit schließen sich gegenseitig ebenfalls nicht aus: Im Gegenteil, Chris und Gitti kommen gerade deshalb als Paar zusammen, weil sie in der Lage sind, im Kontext ihrer Beziehung alternative Geschlechterrollen zu entwickeln und einzunehmen, um emotionale Intimität zu erreichen – selbst, wenn dies zunächst mit einem Hauch von Ironie geschieht. Mit anderen Worten: Chris und Gitti sind in der Lage, eine tiefe emotionale Verbundenheit herzustellen, und zwar genau durch Ironie und Performance. Diese Verbindung zwischen ihnen ruft beim Publikum eine Kombination von widerstreitenden Gefühlen hervor: zunächst Verlegenheit und Verwundbarkeit, die sich dann aber in freudige Unbekümmertheit verwandeln, unkonventionelle und

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damit starke Gefühle, die Ade als Möglichkeit für die affektive Ansprache der PostRomance bietet. Die Dinge nehmen jedoch eine negative Wendung, als Chris und Gitti vor einem anderen Publikum spielen müssen als voreinander. In Anwesenheit von Sana und Hans, einem jungen Ehepaar aus der oberen Mittelschicht, fallen Chris und Gitti auf die stereotypen Geschlechterrollen zurück, die Sana und Hans spielen. Das führt zu einer Reihe von Missverständnissen und zu emotionaler Entfremdung zwischen ihnen. Als Sana und Hans auf die Bühne treten, verwandelt sich die italienische Insel von einem emanzipatorischen und subversiven Raum, in dem Gitti und Chris verschiedene Identitäten ausprobieren können, in die hegemoniale Sphäre der deutschen Gesellschaft der oberen Mittelschicht, ein Kontext, dem sie möglicherweise durch den Urlaub auf der Insel gerade entkommen wollten. Die Beziehung zwischen Hans und Sana mit ihrem stereotypischen Geschlechterrollenverständnis steht in scharfem Kontrast zu Chris und Gittis spielerischer und unkonventioneller Beziehung. Während Sana, eine Modedesignerin, herabwürdigend über ihren schwangeren Körper spricht, indem sie feststellt, dass sie zu »dick« würde, macht Hans schonungslos seine Dominanz über sie geltend und »scherzt«: »Sie ist so erfolgreich, ich musste sie befruchten, damit alles im Lot bleibt.« Am ersten Abend, an dem die Paare zusammen essen, legt Hans seinen Arm um Sana, während sie sich an ihn lehnt, eine Geste, die Gitti zuvor verspottet hatte, als Chris während seiner Performance von »Männlichkeit« den Arm um sie legen wollte. Als Gitti Chris gegen Hans’ Bemerkungen verteidigt, die sie als herablassend empfindet, kanzeln beide Männer sie als aggressive und dominante Frau ab, als »Brunhilde«, die ständig ihren »Mann« verteidigen müsse. Als Hans vom Tisch aufsteht, murmelt er zu Chris: »Wir haben’s echt nicht leicht, was?« und deutet damit an, dass Frauen den Männern das Leben schwer machen. Als Reaktion auf die emotionale Distanz, die Chris ihr seit ihrem Streit an diesem Abend gegenüber zeigt, beginnt Gitti, eine stereotyp weibliche Rolle zu spielen. So bringt sie Chris am Morgen nach seiner Rückkehr von einer Partynacht mit Hans einen Imbiss an seinen Arbeitstisch. Die visuelle Ebene der Einstellung zeigt diese Rückkehr zu heteronormativen Geschlechterrollen: Während Gitti in der rechten oberen Ecke des Bildes eingeklemmt ist und mit den Händen hinter dem Rücken vor dem Schreibtisch steht, lehnt sich Chris entspannt und selbstbewusst mit lässig übergeschlagenen Beinen in seinem Bürostuhl zurück. Kurz darauf macht Gitti einen Ausflug in die Innenstadt und trägt dabei das braun gepunktete Kleid, das sie eigentlich »spießig« findet. Dort lässt sie sich in einem Kaufhaus von einer Verkäuferin schminken. Sie fühlt sichtlich unwohl in dem Kleid, das sie im Film bereits zweimal anprobiert und sofort wieder ausgezogen hatte. Auch mit ihrem neuen Look ist sie unzufrieden und wischt sich draußen sofort das Makeup mit einem Taschentuch aus dem Gesicht. In diesem Augenblick sieht sie Chris in einem Café sitzen und zögert kurz, sich ihm anzuschließen. Die Dynamik zwi-

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schen Chris und Gitti hat sich zu diesem Zeitpunkt völlig umgedreht: Während Gitti nervös mit ihren Haaren spielt, kichert, beim Sprechen nach unten schaut und nur dann spricht, wenn Chris sie etwas fragt oder wenn sie ihre Zustimmung ausdrückt, schaut Chris sie direkt an, wobei seine Augen in dieser Szene ein besonders durchdringendes Blau haben. Er bestellt ihr ungefragt einen Drink, lehnt sich zurück und erzählt beiläufig von dem produktiven Gespräch, das er mit seinem Kollegen geführt hatte. Als er erwähnt, dass er Hans und Sana zum Abendessen einladen möchte, stimmt Gitti zu, obwohl sie sichtlich enttäuscht ist und die Idee sie ängstigt, und bietet an, etwas zu kochen. Als Hans und Sana ankommen, machen sie Gitti Komplimente für ihr neues Aussehen, und später lobt Hans sie für ihre Kochkünste, als er am Herd steht, und erwartet, das Essen probieren zu dürfen. Später spottet Hans erneut über seine Frau, als er »scherzt«, Gitti solle ihr unbedingt Kochunterricht geben. Gitti bleibt diesmal während des gesamten Abendessens schweigsam und hält sich zurück. Gitti und Chris gelingt es zum Glück nicht, die heteronormativen Rollen angemessen auszufüllen, die sie seit ihrer Begegnung mit Hans und Sana angenommen haben. Diese repräsentieren und reproduzieren die gesellschaftlichen Normen, denen Gitti und Chris meinen, entsprechen zu müssen. Im Gegensatz zu Chris und Gitti erfüllen Hans und Sana die Genderstereotypen in einer Weise, die männliche Gewalt zulässt und sogar entschuldigt. Nach dem Abendessen wirft Hans seine schwangere Frau trotz ihres Widerstands in den Pool. Chris zieht – mit Hans’ Hilfe – nach und macht das Gleiche mit Gitti. Für ein paar stille, schmerzhafte Momente sehen Sana und Gitti einander schockiert und gedemütigt an. Im Bemühen, die unangenehme Spannung aufzulösen und die Gewalt ihres Mannes zu verharmlosen, nimmt Sana eine ironische Haltung ein, indem sie gezwungen lacht und die Männer frotzelnd als »Arschlöcher« bezeichnet. Gitti lacht jedoch nicht mit über die Gewalt der Männer: Nachdem sie ihr Kleid herunterzieht, um ihre Beine zu bedecken, klettert sie schweigend aus dem Pool und geht weg, wobei sie Chris kurz anstarrt. Früher am Abend, als Chris Hans und Sana das Zimmer seiner Mutter mit den Vogelfiguren zeigt, reagiert Sana, die selbst bald Mutter sein wird, mit Staunen und Bewunderung, während ihr Ehemann, der als typischer Mann keine Gefühle zeigt, skeptisch und herablassend lachend durch den Raum schaut – genauso wie Gitti, als sie den Raum zum ersten Mal gesehen hatte. Als Sana Herbert Grönemeyers simple Liebesballade »Ich hab dich lieb« in der Stereoanlage hört, kreischt sie vor Freude und schmiegt sich an Hans, während Hans seine emotionale Kälte beibehält und verkündet: »Das ist furchtbar.« Nach einigen Minuten beschwert er sich, das Lied sei »Folter« und schaltet es zur Enttäuschung von Sana ab, die aber nur mit den Achseln zuckt und ihm still aus dem Raum folgt. Während Sana eine stereotype Version von Weiblichkeit darbietet, indem sie bekennt, wie sehr die Zierfiguren, ein Hans-Christian-Andersen-Zitat über das Leben und einen Schmetterling und

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ein rührseliger Popsong sie bewegen, bleibt Hans seinem Machismo treu, indem er den Geschmack seiner Frau herabwürdigt und den emotionalen Appell des Liedes an sich abprallen lässt, und es trotz – oder vielleicht wegen – der Freude seiner Frau abschaltet, bevor es ihn erreichen kann. Gitti und Chris hingegen sind nicht in der Lage, über die traditionellen Genderrollen miteinander in Verbindung zu treten. Während Hans und Sana im Off kuscheln, sitzt Gitti auf einem Stuhl in der rechten unteren Ecke des Bildes, während Chris näher an der Kamera links im Bild steht. Anstatt das heteronormative gegenderte Verhalten von Hans und Sana nachzuahmen, lächeln Chris und Gitti einander an, während das Lied im Off weiterspielt. Gerade der Kontrast ruft uns Chris’ ungezügelte Tanzperformance für Gitti zu einer anderen Pop-Liebesballade im selben Raum in Erinnerung. Ihr Lächeln und ihre wechselseitigen Blicke lassen vermuten – auch wenn der Popsong sie anfangs wieder in Verlegenheit bringt —, dass auch sie sich an diesen vergangenen Moment der Intimität erinnern. Wie in der früheren Szene nehmen Chris und Gitti zunächst eine ironische Haltung gegenüber dem Song ein, geben aber schließlich seiner affektiven Kraft nach. Zuerst schauen sie unbeholfen nach unten und im Raum herum, wobei sich Gitti auf ihrem Stuhl vorgebeugt an ihrer Weinflasche festhält und Chris nervös an seinem Getränk nippt. Während die Kamera auf ihnen verweilt, sehen sie sich schließlich in die Augen und lächeln sich an, bis Hans das Lied ausschaltet. Indem die Szene auf visueller und akustischer Ebene die frühere Verbundenheit des Paares durch Chris’ Tanz zurückruft, zeigt sie, dass Chris und Gitti anders in Verbindung treten als Hans und Sana. Weder die körperliche Distanz von Chris und Gitti noch die körperliche Intimität von Hans und Sana beweisen das Vorhandensein oder das Fehlen einer aufrichtigen emotionalen Verbindung. Eher weist die Szene darauf hin, dass es Hans’ und Sanas konventioneller Beziehung an echter Intimität mangelt, indem sie den eindringlichen Augenblick in Erinnerung ruft, als Gitti und Chris bei seiner queeren Tanzvorführung durch Ironie zu einer aufrichtigen Verbundenheit gelangten. Gerade die Unfähigkeit von Chris und Gitti, im Rahmen ihrer Beziehung traditionelle Genderdynamiken zu verkörpern und dadurch zusammenzukommen, ermöglicht es ihnen, eine neuartige emotionale Verbundenheit aufzubauen, die bei uns als affektive Differenz ankommt, will sagen, als eine Art peinlicher Aufrichtigkeit, die normalerweise nicht zum affektiven Repertoire konventionellerer (heterosexueller) Liebesfilme gehört. Im Gegensatz zu Cindy und Dean von Blue Valentine finden sich Gitti und Chris nicht damit ab, das gegenderte normative Rollenverhalten, das für sie nicht funktioniert, zu reproduzieren. In der Schlusssequenz des Films, als das Rollenspiel vorbei ist, finden Chris und Gitti wieder in einem Augenblick zueinander, der wie die frühere Szene im Vogelzimmer überraschende Gefühlsreaktionen bei den Zuschauern und Zuschauerinnen hervorruft. In seiner Diskussion über Oskar Roehlers Post-Romance-Liebesfilme argumentiert Marco Abel, dass die unrealistischen

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Enden seiner Filme gerade wegen ihrer frappanten Unglaubwürdigkeit utopisch sind, da sie in uns starke Gefühle auslösen (Abel 2010: 97). Das Gefühl der Scham und Enttäuschung, das wir bei jedem dieser unmöglichen Enden empfinden, die in krassem Widerspruch zum Rest des Films und zu unserer eigenen postromantischen Realität stehen, ist für Abel eine potenziell politische Kraft und hat somit eine utopische Qualität. Die letzte Sequenz in Alle anderen geht zunächst in Richtung einer Roehler’schen Post-Romance. Nachdem Gitti Chris im Klartext verkündet: »Ich liebe dich nicht mehr«, beginnt sie, ihre Sachen zu packen. Sie isst eine Traube und fällt darauf zu Boden, als sei sie tot. Ihr plötzlicher Sinneswandel und ihr plötzlicher Tod sind ebenso unbefriedigend wie unplausibel. Als Chris Gitti aus ihrem »Tod« erweckt, offenbart der Film jedoch eine hoffnungsvollere Vision der Postromantik, die tatsächlich möglich ist. Nachdem Gitti erklärt, dass sie Chris nicht mehr liebe, beendet ihr dramatischer »Tod« – der die Szene am Anfang des Films in Erinnerung ruft, in dem sie vorgibt, tot im Schwimmbecken zu treiben – die Aufführung der heteronormativen Beziehung, bei der sie und Chris versagt haben. Nachdem Chris über einen Zeitraum von vier Minuten immer wieder schluchzt und verzweifelt versucht, Gitti dazu zu bringen aufzuwachen, hebt er sie vom Boden auf und legt sie auf einen Tisch. Anstatt sie wie ein stereotyper Märchenprinz wach zu küssen, hebt er ihre Bluse sanft an, um sie auf den Bauch zu blasen, was Gitti zu einem leisen Lachen bewegt. Er gibt ihr einen sanften Kuss auf den Bauch, wo er kurz seinen Kopf ablegt und erleichtert seufzt (Abb. 2.2). Dann küsst er sie auf die Lippen, lehnt sich ein wenig zurück und flüstert ihr zu: »Schau mich mal an.« In der letzten Einstellung des Films blicken Gitti und Chris einander in einem unbeholfenen, aber innigen Winkel an: Chris’ Kopf, seine Schulter und sein Rücken sind auf der linken Seite des Bildes angeschnitten, während Gitti ihn mit einem sanften Lächeln anschaut. Wir bemerken erst, dass Gitti sein Gesicht streichelt, als ihre Fingerspitzen hinter seinem Kopf hervorschauen. Diese Szene ist verwirrend, urkomisch und trotzdem bewegend. Sie ruft in uns Gefühle hervor, die für konventionellere Liebesfilme untypisch sind. Anstatt eine intime Verbindung auszuschließen, erlaubt Gitti und Chris’ queere Performance von Gender ihnen, auf erfrischend neue Weise zueinander zu kommen.

2 Gender, Genre und die (Un-)Möglichkeit der romantischen Liebe

Abbildung 2.2: Die postromantische Liebe von Chris und Gitti in ›Alle anderen‹

Schlussfolgerung: Hin zu einem postromantischen Affekt Sowohl Blue Valentine als auch Alle anderen bieten Alternativen zum Hollywood-Liebesfilm, den sie für veraltet halten. Doch während ersterer eine wehklagende Trauerrede auf ein ausgedientes Genre darstellt, eröffnet letzterer neue Möglichkeiten für den zeitgenössischen Liebesfilm. Dieser transnationale Vergleich zweier Filme des Post-Romance-Genres stellt die bisherigen Behauptungen über die unaufhaltsame Entfremdung und die leeren Beziehungen in Frage, die angeblich Figuren in den Filmen der Berliner Schule plagen. Tatsächlich ist es genau andersherum: Wo Blue Valentine zynisch die Unmöglichkeit und die falschen Versprechungen von Hollywoodfilmen aufzeigt und keine Möglichkeit für seine Protagonisten und Protagonistinnen sieht, eine Liebesbeziehung aufzubauen, rekonfiguriert Alle anderen genau diesen Zynismus zu einem ernsthaften Entwurf, wie emotionale Verbundenheit jenseits bisheriger Rollenvorgaben, die mit der postromantischen Realität des Publikums nicht mehr zu vereinbaren sind, möglich sein kann. So wie Chris und Gitti über eine ironische Haltung hinweg eine aufrichtige emotionale und intime Verbindung entwickeln können, so wirkt ihre Liebesgeschichte auf uns in einer Weise, die ebenso unerwartet wie vielversprechend ist.

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2 Gender, Genre und die (Un-)Möglichkeit der romantischen Liebe

und-on-sight-radio-255-blue-valentine-everyone-else/ (offline; letzter Zugriff 31.8.2015). Watkins, Gwynne (2015): »NC-17 Flashback: Inside ›Blue Valentine’s‹ Fight for an R Rating«, in: Yahoo! Movies 13.2.2015, https://www.yahoo.com/movies/n c-17-flashback-inside-blue-valentines-fight-110841240267.html (letzter Zugriff 15.5.2022).

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3 Reflexionen über das Gegenkino und (nicht-)nationale Strategien Der Neue Österreichische Film und die Berliner Schule Robert Dassanowsky

Lange Zeit betrachtete die Filmwissenschaft das Mainstreamkino und das Kunstkino bevorzugt isoliert voneinander und bestand darauf, dass das eine oder das andere für die Filmindustrien innerhalb eines Sprachraums dominierend oder sogar repräsentativ anzusehen sei – in der Regel ohne ausreichend auf die kulturellen und historischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern einzugehen. Die Natur des deutschsprachigen Films der Nachwendezeit macht es praktisch unmöglich, Filme dieser beiden Kategorien zu untersuchen, ohne die wichtigen Einflüsse, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den neueren Entwicklungen des Gegenkinos in Österreich und Deutschland zu verstehen. Obwohl österreichische und deutsche Filmemacher/-innen und Darsteller/-innen schon seit den Anfängen des Films grenzüberschreitend arbeiteten, verlaufen ihre Entscheidungen in Bezug auf Filmgenre, Stil und Inhalt unterschiedlich – mal sind sie parallel, mal spiegeln sie einander, mal weichen sie voneinander ab.1 Die zu Beginn noch relativ kleine Filmbewegung der Berliner Schule vermied es von Anfang an – seit ihrer Formierung Ende der 1990er Jahre –, am Projekt der deutschen Filmbranche teilzunehmen, die nach dem Fall der Mauer 1989 begonnen hat, filmische Nationenbildung zu betreiben (insbesondere durch historische Filme). Stattdessen übernahm sie die Rolle des kritischen Gegenkinos. Die Rezeption erwies sich allerdings als durchwachsen. Auf der einen Seite sind die Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule in der Öffentlichkeit im Vergleich zu denen

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Jüngste filmgeschichtliche Untersuchungen zeigen beispielsweise überzeugend, dass das Genre des Trümmerfilms nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches in den beiden Ländern unter alliierter Besatzung ganz unterschiedliche Formen angenommen hat. Trotz der Behauptungen einiger Kritiker/-innen hat der österreichische Film das Genre selbst nicht gemieden, obwohl er es abgelehnt hat, Stil und Inhalt der deutschen Filme einfach zu reproduzieren. Solche Unterschiede anzuerkennen, erweitert und definiert das Genre neu, indem kulturelle Unterschiede und Kontinuitäten innerhalb nationaler filmischer Kontexte berücksichtigt werden (Randall 2015).

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des deutschen Mainstreamkinos eher unbekannt, auf der anderen aber werden sie von vielen internationalen Filmemachern und Filmemacherinnen gelobt und anerkannt. Gleichzeitig etablierte sich der Neue Österreichische Film ebenfalls als eine Art Gegenkino, allerdings in einem Land ohne echte kommerzielle Filmindustrie. In den letzten 20 Jahren hat er jedoch nahezu den Status eines nationalen Kinos erlangt. Trotz dieser unterschiedlichen Entwicklungen gibt es aber starke Übereinstimmungen und gegenseitige Einflüsse. Sowohl der Neue Österreichische Film als auch die Berliner Schule unterscheiden sich von Anfang an darin, wie sie auf die Zerstörung der jeweiligen nationalen und kulturellen Ideologeme des Kalten Krieges und auf die Neuausrichtung des jeweiligen Staates gegenüber einem neuen politischen Anderen nach der Auflösung des Ostblocks reagiert haben. Dabei konzentriert sich die Berliner Schule vor allem darauf, die neuen sozialen Realitäten zwei Jahrzehnte nach der deutschen Vereinigung und wie das einzelne Individuum damit umgeht zu zeigen; der Neue Österreichische Film beschäftigt sich dagegen mit dem neu aufgelegten Verhältnis Österreichs zum (postsowjetischen) mitteleuropäischen Raum (ein geisterhafter, mythenbeladener Teil der kulturell-historischen Identität der österreichischen Republik seit 1919). Stilistische Entscheidungen unterstreichen die thematische Wahl. Beide Gruppen von Filmemachern und Filmemacherinnen arbeiten in ihren kritisch-realistischen Visionen mit einem Konzept, das Marco Abel als »Präsentismus« bezeichnet hat (Abel 2013: 22). Beide grenzen sich ausdrücklich vom kommerziellen Kino ab. Die Berliner Schule konnte allerdings wegen ihres langsamen, meditativen Stils und der Ablehnung der kommerziell wirksamen Formeln des Erzählkinos nie eine besonders hohe Popularität erreichen (12–14). Zur gleichen Zeit hat der Neue Österreichische Film, der gleich zu Anfang die Traditionslinie des staatstragenden Unterhaltungsfilms abgelehnt hatte, damit begonnen, sich mit Themen wie städtischer Entfremdung, Migration und Alltagsfaschismus, der als NS-Vermächtnis weiterhin eine Rolle spielt, auseinanderzusetzen. Dies hat Wien bezeichnenderweise den Ruf der »Welthauptstadt des Schlechtfühlkinos« eingebracht (Dassanowsky und Speck 2011: 1). Vor allem aber fanden die Berliner Schule und der Neue Österreichische Film jedenfalls zunächst eher außerhalb ihrer Heimatländer eine stärkere kritische Resonanz und stießen dort auf größeres cineastisches Interesse, wobei die österreichischen Filme auf internationalen Filmfestivals sogar mit Preisen ausgezeichnet wurden. Jedoch nahm die Popularität im Inland allmählich zu, als sich die Themen von der Fokussierung auf den Alltagsfaschismus wegbewegten und die Filme vielfältigere Inhalte und Formen in den Blick nahmen, darunter auch kritisch gedrehte Genrefilme. Doch solche Charakterisierungen gehen nicht angemessen darauf ein, wie künstlerische und populäre Filme sich aufeinander beziehen und das Verständnis einer nationalen Filmproduktionskultur und ihrer Entwicklungen prägen und

3 Reflexionen über das Gegenkino und (nicht-)nationale Strategien

gestalten. Der vorliegende Beitrag möchte einen solchen zentralen Vergleich vornehmen, in dem er Beispiele für thematische und stilistische Elemente aufgreift, die sowohl von der Berliner Schule als auch vom Neuen Österreichischen Film verwendet werden, und zwar am Beispiel von Jessica Hausners Lourdes (2009) und Julian Roman Pölslers Die Wand (2012). Es ist schwierig, den beiden Filmbewegungen spezifische Standpunkte in Bezug auf den überlieferten Diskurs über die Nation zuzuweisen, da auf der einen Seite die Berliner Schule einen explizit apolitischen Ansatz aufweist und es ablehnt, sich als nationales Kino zu positionieren, während auf der anderen Seite die Haltung des Neuen Österreichischen Films oft sehr politisch ist und es sich als Alternative zu einer eher konservativen kulturellen Repräsentation positioniert. Die Berliner Schule positioniert sich als echtes Gegenkino, das sich gegen den als deutsch verstandenen MainstreamFilm aufstellt; der Neue Österreichische Film widersetzt sich zwar auch dieser filmischen »Nationenbildung«, versteht sich aber dennoch als »national«, insofern er die Unterordnung der österreichischen Kultur und des österreichischen Films unter internationale Definitionen des »Deutschen« ablehnt. Die bevorzugten Themen Alltagsfaschismus, Migration, urbane Entfremdung und die Entwicklung des mitteleuropäischen (multikulturellen) Erbes Wiens in der post-sowjetischen Ära haben eine Filmindustrie erzeugt und ein Österreich entstehen lassen, das seine erzwungene Neutralität endgültig abgelegt und sich Europa angeschlossen hat, aber immer noch die nationale Identität in Frage stellt. Österreichs Bedürfnis, sich nicht von Deutschland einverleiben zu lassen, und seine eigenen kulturellen Besonderheiten zu behaupten, wurde etwa in einer Auseinandersetzung zwischen Österreich und der deutschen Filmindustrie deutlich, in der es um das Recht ging, wer Michael Hanekes österreichisch-deutsche Koproduktion Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte (2010), sein »Zukunftsbewältigungsdrama« über den Protofaschismus vor dem Ersten Weltkrieg, für den Oscar nominieren darf. Ein weiteres Problem dieser Art stellt der Oscar-prämierte, international arbeitende Schauspieler Christoph Waltz dar. Der in Wien geborene Schauspieler wurde von der deutschen Öffentlichkeit und Presse zunächst aufgrund seiner österreichisch-deutschen Abstammung für sich beansprucht, was die österreichische Presse als ein weiteres Beispiel dafür anführte, das österreichische Künstler/-innen international eher als einem größeren deutschsprachigen (und damit deutschen) Kontext zugehörig wahrgenommen werden. Wenn die österreichische Filmindustrie den transnationalen Filmemacher Michael Haneke für sich beansprucht, so positioniert sie sich als nationale Variante des Neuen Österreichischen Films. Die Identitätspolitik der Berliner Schule sieht dagegen anders aus. Ihr international bedeutendster Regisseur ist Christian Petzold, aber sie würde eine international anerkannte Figur wie Haneke nie für sich beanspruchen, weil, wie Dennis Lim postuliert, »die Vorstellung einer allumfassenden Berliner Schule die Individualität ihrer mutmaßlichen Mitglieder verwischt« (Lim 2013: 89). Der

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Neue Österreichische Film beansprucht und fördert seine bekannten Gesichter, obwohl er seine Identität als Gegenkino behält. Beide Filmbewegungen vermeiden es jedoch, zu suggerieren – etwa durch gemeinsame Manifeste –, sie seien eng verbundene Kollektive, wie es der frühere Neue Deutsche Film der 1960er Jahre getan hatte. Dennoch ist es kontraproduktiv, in der Analyse eine strikte nationale Trennung beizubehalten. Diese beiden Gegenkinos teilen viele Stilelemente und erzählerische Topoi und nehmen, wie erwähnt, ihre widerständigen Positionen auf unterschiedliche Weise ein. Außerdem widerlegen diejenigen Regisseure und Regisseurinnen, die beiden Bewegungen verbunden sind, solche künstlichen Aufteilungen. Valeska Grisebach beispielsweise ist sowohl in der Berliner Schule als auch im Neuen Österreichischen Film aktiv und einflussreich: Sie wurde in Bremen geboren, wuchs in Berlin auf, besuchte die Filmakademie Wien und lernte dort bei den zukünftigen Größen des noch jungen Neuen Österreichischen Films, darunter Peter Patzak, Wolfgang Glück und Michael Haneke. Auch die internen Verbindungen zum jeweiligen nationalen Filmschaffen sind dürftig. Die Berliner Schule wird oft mit der ersten filmischen New Wave der 1960er Jahre in Westdeutschland verglichen oder kontrastiert, dem Neuen Deutschen Film, der eher erfolglos versuchte, ein Publikum zu gewinnen, indem er »Papas Kino« für tot erklärte und einen neuen kritischen, gesellschaftspolitischen Film ausrief. Laut Abel handelt es sich dabei um eine »problematische Genealogie«, wenn man Generation, Herkunft und filmische Fähigkeiten betrachtet. Zudem beschäftigen sich die Filme der Berliner Schule nicht immer mit Berlin oder nehmen es als Schauplatz, sondern zeigen die »Bereitschaft, Orte außerhalb der urbanen Zentren Deutschlands entdecken« (Abel 2013: 11). Christoph Hochhäusler besteht darauf, dass die gesamte Bewegung »aufgrund der Wahlverwandtschaften mit Filmemachern und Filmemacherinnen außerhalb Deutschlands« international heterogen sei (Hochhäusler 2013: 26). Tatsache bleibe aber, dass die primäre Rolle der Bewegung darin besteht, als Gegenkino zum Mainstream-Kino (und seinen weitgehend historischen Filmen) zu dienen, die auf nationalen Kassenerfolg und internationale Anerkennung abzielen und die Deutschland allzu oft filmisch »auf seine totalitären Vergangenheiten reduzieren« (8). Hochhäuslers ästhetische Theoretisierung der filmwissenschaftlichen Bedeutung der Berliner Schule erlaubt einen ersten Schritt im Vergleich zwischen dem einen kosmopolitischen deutschsprachigen Gegenkino – das von der Kritik anerkannt ist und auf den Filmen des ursprünglichen Regietrios Thomas Arslan, Christian Petzold und Angela Schanelec basiert (Abel 2013: 151) – mit dem anderen kosmopolitischen deutschsprachigen Gegenkino, dem Neuen Österreichischen Film – dessen Name übrigens aus der Filmwissenschaft übernommen wurde, da die Akteure und Akteurinnen die ursprüngliche Bezeichnung »Nouvelle Vague Viennoise« aus den 1990er Jahren abgelehnt hatten, weil sie die Filme fälschlicherweise sowohl

3 Reflexionen über das Gegenkino und (nicht-)nationale Strategien

mit dem französischen Filmschaffen der 1960er als auch mit dem klassischen Wiener Film (der ein anderes Genre als den Neuen Österreichischen Film bezeichnet) in Verbindung gebracht hat. Trotz der eher politischen Ausrichtung entstand er als ein Kino der Peripherie mit ähnlichen Prinzipien wie die Berliner Schule: Statt des entscheidenden Moments geht es für uns eher um ein Vorher oder Nachher, und selten ist die Hauptfigur eine Figur, die »Geschichte macht«. Vielmehr geht es um Figuren, die am Rande des Geschehens stehen, über deren Innenleben der Zuschauer oder die Zuschauerin nur spekulieren kann. Nicht die Verwicklungen der Handlung sind das Wichtigste, sondern die Vision, der Blick auf die Welt. (Hochhäusler 2013: 25–26) Hochhäusler ist der Ansicht, dass dieses Prinzip ideal verwirklicht ist in Schanelecs Marseille (2004), in Petzolds Gespenster (2005) und Yella (2007), seinem eigenen Falscher Bekenner (2005) sowie in Filmen anderer, darunter Jessica Hausner vom Neuen Österreichischen Film und der grenzüberschreitend arbeitenden Regisseurin Valeska Grisebach. Hochhäusler schlussfolgert, dass »auch wenn wir kein Manifest teilen, […] wir in einem ständigen Dialog miteinander stehen« (Hochhäusler 2013: 27). Trotz solcher Versuche bleiben die beiden Filmtraditionen jedoch in ihrer Genealogie und Praxis recht unterschiedlich.

I. Sowohl die Berliner Schule als auch der Neue Österreichische Film gehören zu einer europäischen kritischen Filmtradition. Gleichzeitig positioniert sich die Berliner Schule gegen das sogenannte »Konsens-Kino«, das in Deutschland nach der Vereinigung 1990 entstanden ist und von Eric Rentschler als Rückkehr zu einer nationalen deutschen Filmtradition mit deutlichem Mainstream-Bezug beschrieben wurde (Rentschler 2000: 275). Die Genealogie des Neuen Österreichischen Films dagegen beinhaltet spezifische Angriffspunkte auf die österreichische Gesellschaft, Politik und frühere nationale Filmtraditionen. Trotz dieser Unterschiede sind beide Kinos transnational ausgerichtet und daran interessiert, einer voyeuristischen oder sensationslüsternen Erzählweise aus dem Weg zu gehen; und beide zielen darauf ab, ein Filmschaffen, das unter dem kleinsten gemeinsamen Nenner ein verflachtes und reduziertes Weltbild reproduziert, zu destabilisieren. Wie sie diese Ziele erreichen, ist jedoch sehr unterschiedlich. Der Neue Österreichische Film fand erstmals Beachtung mit der unerwarteten internationalen Anerkennung von Barbara Alberts Nordrand (1999), Hausners Lovely Rita (2002), Ulrich Seidls Hundstage (2001), Hanekes Funny Games (1997) und Die Klavierspielerin (2001), Grisebachs Mein Stern (2001) und Ruth Maders Struggle (2003). Die Filmemacher/-innen dieser neuen Welle haben zwar nie ein gemeinsames Ma-

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nifest herausgegeben, aber sie hatten sowohl miteinander an ihren eigenen Projekten als auch an transnationalen Filmprojekten außerhalb Österreichs gearbeitet (bezogen auf die Österreicher: Haneke in Frankreich und Deutschland, Hausner und Albert jeweils in Deutschland; die Deutsche Grisebach in Österreich). Einige dieser Filme nutzten bekannte Elemente populärer Genres, unterlaufen diese aber, sodass ihre kritischen Interventionen auch im Mainstream Anklang fanden und Erfolg an den nationalen und regionalen Kinokassen hatten, wo österreichische Filme seit Jahrzehnten nicht mehr punkten konnten. Eines der ersten dieser Projekte, die es vom Gegenkino in das Unterhaltungsgenre schafften, war Indien (1993) von Paul Harather, ein tragikomisches Roadmovie über Entfremdung in der Provinz, das in Österreich, Deutschland und ganz Europa sein Publikum fand. Andere Filme dieser Periode sind Stefan Ruzowitzkys Anti-Heimatfilm Die Siebtelbauern (1998), der als Gleichnis über das Österreich nach der Habsburgermonarchie verstanden werden kann, Harald Sicheritz’ ländliche Familienkomödie Hinterholz 8 (1998) und Wolfgang Murnbergers Remix des Thriller-Genres mit existentialistischen Untertönen in Komm, süßer Tod (2001). Was diese Eruption sozialkritischer und ästhetisch anspruchsvoller Filme so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass Produktionsstrukturen und ein gewachsenes einheimisches Publikum nur noch in der entfernten Erinnerung existierten. Seit dem Zusammenbruch der österreichischen Studios der Unterhaltungsfilmindustrie Mitte der 1960er Jahre hatte es kein nennenswertes nationales Filmschaffen gegeben, und es gab auch keine neue Welle von jungen Regisseuren und Regisseurinnen, die bereit waren, bestehende kommerzielle Erzählstile aufzunehmen, sich dagegen aufzustellen oder sie umzuarbeiten, wie es in Frankreich, England und Italien der Fall gewesen war. Abgesehen von einigen Experimenten Mitte bis Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre stieß der österreichische Erzählfilm trotz der bedeutenden Geschichte Österreichs als Filmnation lange auf offizielles Desinteresse. So gab es bis 1981 keinen nationalen Filmfonds, sodass Filmemacher/innen den Fokus ihrer Arbeit auf das Fernsehen verlagerten, während im Land Kinos geschlossen wurden, und die Experimentalfilme des Wiener Aktionismus’ der 1960er und 1970er Jahre Erzählstruktur und -stil als unnötig erklärten. Im Gegensatz dazu gab es im westdeutschen Kino der frühen 1960er Jahre eine Bewegung junger Filmemacher/-innen, die nur allzu bereit waren, Manifeste gegen »Papas Kino« zu verfassen. Dem österreichischen Kino fehlte nicht nur diese Dringlichkeit, sondern auch eine Stimme wie Alexander Kluge vom Neuen Deutschen Film, die sich dafür einsetzen hätte können, den österreichischen Film nach dem Niedergang der österreichischen Studioproduktionsfirmen wieder als wichtige nationale Kunstform wahrzunehmen. In der Folge gab es in den 1970er und 80er Jahren von Seiten unabhängiger Produktionsfirmen in Österreich nur wenige, lokale und regionale Versuche, die in der Regel mit einer neorealistischen Ästhetik spielten und nur ein kleines Publikum fanden. Einige wenige internatio-

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nale Koproduktionen mit großem Budget erinnerten an die opulenten Epen über das Kaiserreich der Studio-Ära der 1950er Jahre, aber diese waren weder künstlerisch interessant noch an den Kinokassen nachhaltig erfolgreich. Erst in den 1980er Jahren versuchten einige kritische österreichische Filmemacher/-innen, die vom westdeutschen Autorenkino der 1970er Jahre beeinflusst waren, kritisch-politische Erzählungen mit der Ästhetik der Studio-Ära zusammen zu bringen, und zwar mit Filmen, die sich erstmals mit politischen Aspekten der jüngsten Vergangenheit auseinandersetzten. Valie Exports Die Praxis der Liebe (1985) verband einen traditionellen HitchcockThriller mit einer feministisch-existenzialistischen Erforschung über eine Frau, die in der Medienwelt ihre Grenzen entdeckt; Niki List bot das postmoderne Neo-NoirPastiche Müllers Büro (1986) dar; und Hanekes frühe dystopische Familiendramen wie Der siebente Kontinent (1989) und Benny’s Video (1993) dekonstruierten geläufige Filmgenres. Zusammengefasst könnte man also sagen, dass der frühe Neue Österreichische Film der 1990er Jahre zwar entfernte Erinnerungen an die 1950er und 1960er Jahre hatte, die er dazu nutzen konnte, um alternative politische Narrative zu etablieren, aber kein wirklich dominierendes Filmschaffen (abgesehen von Importen ausländischer Filme), gegen das er aufbegehren konnte. Als das österreichische Gegenkino um die Jahrtausendwende in Erscheinung trat, zeigte es sich deshalb stilistisch vielfältig und an den aktuellen Themen seiner Zeit interessiert: Alltagsfaschismus und Fremdenfeindlichkeit, Migration und städtische und vorstädtische Entfremdung. Dennoch begann Haneke Anfang der 2000er Jahre, genauso wie Petzold in der Berliner Schule, den Genrefilm neu zu entdecken, indem er Strategien des Kunstkinos einsetzte, um soziale Fragen in Europa zu untersuchen. Zur gleichen Zeit griff Ulrich Seidl rabiat die soziopolitischen Ideologeme der Vorstädte an. Die Filmemacherinnen des Neuen Österreichischen Films – unter ihnen Albert, Mader, Hausner – nutzen eher meditative filmische Strategien und periphere Schauplätze, um sich mit den Themen Migration, Entfremdung und persönlichen Krisen jenseits der Politik auseinanderzusetzen. Dennis Lims Begriff vom »Schlechtfühlkino« (Dassanowsky und Speck 2011: 1) wurde schnell zu Ed Halters Neuen Österreichischen Filmen, die »ruhig, kühl und subjektiv, eine distanzierte, kontemplative Atmosphäre [erreichen], die das US-amerikanische, auf Spektakel ausgerichtete Kino nur selten anstrebt, und [vermitteln] durch die simple Beschwörung des Innenlebens eine bittersüße Schönheit« (Halter 2003).

II. Die Berliner Schule, die sich selbst als europäisches Kino mit Sitz in Deutschland definiert, wird zwar in deutscher Sprache und in der Regel von Filmema-

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chern und Filmemacherinnen mit deutscher Staatsbürgerschaft gemacht, aber da sie sich nicht als »nationales« Kino versteht, erhebt sie keinen Anspruch darauf, ihre transkulturellen Künstler/-innen für sich zu beanspruchen. So hat beispielsweise Benjamin Heisenberg, der mit der Berliner Schule assoziiert ist, und sein Film Der Räuber (2010), eine deutsch-österreichische Koproduktion, der auf dem Leben eines österreichischen Marathonläufers und Bankräubers basiert und in Wien und Niederösterreich gedreht wurde, keine Besitzansprüche angeregt. Obwohl er »Mitglied« und manchmal auch Sprecher der Berliner Schule ist, möchte Heisenberg dennoch weiterhin in Wien, dieser »fantastischen Filmstadt«, drehen. (Dassanowsky 2012) Auch stilistisch hat Heisenbergs Arbeit viel mit dem Neuen Österreichischen Film gemeinsam: Er vermeidet establishing shots – etwa Landschaftsaufnahmen, um das Setting einzuführen, oder erkennbare städtische Wahrzeichen –, um dadurch eine Art der Narration zu etablieren, die sowohl universell als auch spezifisch ist. Mit dieser Entscheidung verweigert er sich der Option, Deutschland nach dem Mauerfall direkt zum Thema zu machen und damit die Nationenbildung zu unterstützen, genauso wie er die symbolträchtige Kulisse Wiens der 1950er und 1960er Jahre vermeidet, die Österreich in gleicher Weise genutzt hat. Stattdessen stellt Heisenberg Wien tendenziell als Nicht-Ort dar und nutzt dafür die »Anti-Hauptstadt«-Strategie der Berliner Schule (die eine Ambivalenz gegenüber dem symbolträchtigen Stadtraum insbesondere Berlins wegen seiner Verknüpfung mit der Nationenbildung nach dem Mauerfall ausdrückt) und den Topos des »Gespensts« (der politisch übercodierte historische Strukturen vermeidet und in einen neuen Zusammenhang stellt) (Cook et al. 2013: 35). Die österreichischen Zuschauer können die Schauplätze des Films kaum wiedererkennen; die vorstädtischen Parks, die gesichtslosen Stadtviertel und narrativen Blickpunkte könnten irgendwo in Mitteleuropa liegen. Selbst in einer Szene, die am berühmten Wiener Heldenplatz endet – als der Schauspieler Andreas Lust den Sieg seiner Figur Johann Rettenberger2 beim Wiener Stadtmarathon 2008 nachspielt –, ist die Aufnahme so eng auf den Schauspieler fokussiert, dass die monumentale Hofburg unsichtbar bleibt. Heisenberg weiß, dass nur ein einziger kurzer Blick auf das Gebäude die filmische Konzentration auf Rettenberger stören würde, indem er touristische Vertrautheit und historischen Bezug in den Vordergrund bringe würde. Seine Aufmerksamkeit gilt stattdessen Rettenbergers rätselhaftem Leben und monomanischen Selbstbezogenheit und wendet sich nicht gesellschaftlichen und politischen Fragen zu. Da der Film einer realistischen Erzählweise folgt, kann er nicht umhin, bei Rettenbergers Ankunft auf den Heldenplatz dem Publikum einen Blick auf das Burgtor zu erlauben. 2

Die Figur basiert auf dem österreichischen Kriminellen Johann Kastenberger aus den 1980er Jahren.

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Aber es ist ein »Gespenst«, das von der Intensität der sichtbaren Freude der Figur am Laufen und am Sieg in den Schatten gestellt wird. Orte können auch als Zeichen für das Innenleben der Figuren stehen und sich mit ihnen vermischen, wie Todd Herzog erklärt: »Am Ende des Films sitzt [Rettenberger] in einem Auto am Rande der Autobahn irgendwo in Niederösterreich. Was denkt er? Was will er? Wir erfahren es nie. Rettenberger ist zwiespältig und undurchschaubar – genau wie der Heldenplatz.« (Herzog 2012: 120) Heisenbergs Der Räuber ist somit ein Film, der leicht als Kommentar auf den österreichischen Alltagsfaschismus betrachtet werden kann und der bestimmte Erzählkonventionen und Ästhetiken mit dem Neuen Österreichischen Film teilt. Tatsächlich beginnt der Film im Gefängnis, quasi mit einem establishing shot der Institution, die auch als Pars pro Toto für Österreich stehen kann: Rettenbergers Stellung als inhaftierter Österreicher spiegelt so etwas wie Heisenbergs Außensicht, dass der Neue Österreichische Film den Alltagsfaschismus als soziokulturelles »Urteil« versteht. Und im Gegensatz zu den Klischees von Gewalt und körperlicher und emotionaler Not, die das Gefängnisleben in kommerziellen und von Hollywood beeinflussten internationalen Filmen kennzeichnen, zeigen sich Rettenbergers Gefängniswärter ihm gegenüber sehr wohlwollend, und er scheint durch sein tägliches Training im Gefängnishof und auf seinem eigenen Laufband ziemlich erfüllt zu sein. Aber dieses Laufen ins Nirgendwo (auf dem Laufband) oder im Kreis (im Gefängnishof) ist natürlich nur eine Übung für die Flucht, die zu seinem Leben als Bankräuber gehört. Während seinem Bewährungshelfer (Markus Schleinzer, ein österreichischer Schauspieler, den man auch aus den Neuen Österreichischen Filmen von Haneke und Ruzowitzky kennt) Rettenbergers Wiedereingliederung in die Gesellschaft inklusive Anstellung am Herzen zu liegen scheint, führt Rettenbergers Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden, und sein Wunsch, den an ihn gestellten Erwartungen zu entkommen, dazu, dass er den Bewährungshelfer unvermittelt ermordet. Damit erscheint er einerseits als Gesetzloser, andererseits auch als jemand, der sich gegen den Alltagsfaschismus stellt. Heisenbergs Film destabilisiert und dekonstruiert eine statische Definition des Österreichischen und die monolithische (österreichische) Sichtweise des Alltagsfaschismus in der gleichen Weise, wie er Wien »darstellt« – indem er nämlich jedes Klischeebild der Stadt aufbricht. Durch solche Details setzen sich die Filme aus den zwei verschiedenen AvantgardeKinos – Berliner Schule und Neuer Österreichischer Film – mit dem auseinander, was Jean-François Lyotard (1979) als die Mehrdeutigkeit der Postmoderne definiert hat und die besagt, dass mit dem Zusammenbruch der totalitären Theorie der großen Erzählungen diese durch einzelne persönliche Sichtweisen ersetzt werden. Das Bestreben sowohl des Neuen Österreichischen Films als auch der Berliner Schule ist es, die »großen« Schauplätze des modernen Lebens – riesige Einkaufszentren, immense Parkplätze, dezentrierte Arbeits- und Lebensräume – auszulö-

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schen. Sie verwandeln kollektive, urbane Alltagserfahrungen in befremdliche, ja entmenschlichende Erlebnisse, die »den Verlust eines Autos oder der Mobilität im Allgemeinen zu einer existenziellen Krise werden lassen können« (Cook et al. 2013: 104). Der Neue Österreichische Film fügt zu dieser Erfahrung der Dislokation die Unsicherheit der Migranten und Migrantinnen hinzu, die sich in öffentlichen Räumen verlieren, die generisch und eigenschaftslos erscheinen: »Einkaufszentren, U-Bahnen, Bahnhöfe, öffentliche Parks und Plätze. Diese Durchgangsorte stellen die Unbeständigkeit und die Unsicherheit des Status von Migranten und Migrantinnen in den Vordergrund.« (Sathe 2012: 107) Die Ironie ergibt sich aus der Tatsache, dass Österreicher/-innen und andere »privilegierte« (West-)Europäer/-innen selbst drohen, in diesen entfremdeten Orten verlorenzugehen, und genauso Ziele entmenschlichender Überwachungskameras sind, wie etwa zu sehen in Seidls Hundstage, Alberts Nordrand und Böse Zellen (2003), Jörg Kalts Crash Test Dummies (2005), Hanekes Caché (2005) und vielen anderen Filmen. Sie zeigen zum Beispiel die fruchtlose Suche nach Trost und Befreiung in der Sentimentalität der Dorfdisco – auch dies ein Topos sowohl der Berliner Schule als auch des Neuen Österreichischen Films. In der Musik und dem Dekor eines verklärten Gestern, die jedoch vor allem verdrängte Erinnerungen an schmerzhafte vergangene Erlebnisse wiederaufleben lassen, erstickt jede Kommunikation, und es wird eher Fremdheit als Geselligkeit aufgebaut. Dieser »Unterhaltungsort« erweist sich als ebenso entmenschlichend und bedeutungsleer wie die generischen öffentlichen Orte da draußen. Während »schlechter Sex« in den Filmen der Berliner Schule als ein Topos der Isolation und Entfremdung angesehen werden kann (Cook et al. 2013: 41–49), verbindet sich im Migrationsthema des Neuen Österreichischen Films schlechter Sex mit Ausbeutung und generiert die besondere Art von Sozialkritik, die ihn über das Thema Alltagsfaschismus hinaus von der Berliner Schule unterscheidet und ihn zu einem Kino der Nation, wenn nicht gar zum nationalem Kino, erhebt. So folgt Seidls umstrittener Film Import Export (2007) einerseits einer ukrainischen Krankenschwester, die ihr dürftiges Einkommen als Internet-Sexarbeiterin aufbessert, andererseits einem österreichischen Wachmann, der von türkischen Schlägern mit Handschellen gefesselt und entkleidet und später gezwungen wird, zuzusehen, wie sein Stiefvater eine ukrainische Prostituierte erniedrigt. Weitere Beispiel sind Barbara Gräftners Mein Russland (2002) über eine ehemalige russische Stripperin, die von ihrer Wiener Schwiegermutter erpresst wird, und Michael Stürmingers Hurensohn (2004) über einen jungen kroatischen Migranten in Wien, der entdeckt, dass die Prostitution seiner Mutter das Einzige ist, was sie vom Krieg auf dem Balkan rettet. Ruth Maders Struggle (2003) benutzt zunächst den Topos der migrantischen Ausbeutung durch Sexarbeit des Neuen Österreichischen Films, geht dann über zum »schlechten Sex«-Topos der Berliner Schule und verortet die Erzählung in den

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generischen Alltagsräumen, die beide Filmschulen zeigen. Der Film erzählt die Geschichte einer Polin (gespielt von Aleksandra Justa), die nach Österreich gezogen ist und verschiedene niedrigqualifizierte Jobs annimmt, um genug Geld für ihre kleine Tochter zu verdienen, und eines wohlhabenden, geschiedenen Österreichers, der durch Sex und Sadomasochismus Ablenkung von seinem unerfüllten Leben sucht. Die beiden treffen sich schließlich im Swinger-Club. Durch den Verzicht auf eine klassische Erzählweise zugunsten einer »antidramatischen« Erforschung der Entmenschlichung und Entfremdung verschiedener Arbeitswelten erzählt der Film auch das Aufeinanderprallen zweier Klassen und geopolitischer Welten: Die Frau repräsentiert das verarmte und doch hoffnungsvolle Osteuropa, der Mann steht für einen entleerten konsumorientierten und »emotional bankrotten« Westen (Dassanowsky 2005: 281). Der Neue Österreichische Film versucht, über die Behandlung des Motivs der Xenophobie Allegorien für die neue »Öffnung« Wiens nach Osten zu finden (in Richtung der ehemaligen Ostblockstaaten mit ihren kulturellen Erinnerungen an das multi-ethnische Kaiserreich Österreich-Ungarn). Er tut dies jedoch, ohne den Begriff des Kulturstaats zu verklären, mit dem seit 1919 versucht wurde, Österreich – jedenfalls theoretisch – über kulturelle Einflüsse und Verbindungen über die geografisch-politischen Grenzen hinaus in Richtung Mitteleuropa zu erweitern. Die Berliner Schule ringt dagegen damit, welche Auswirkungen die deutsche Vereinigung (ebenfalls eine »Öffnung« nach Osten) tatsächlich hat, und lehnt die Ausweitung des Nationalen nach der Wende in der Filmkultur ab.

III. Eine direkte Verbindung zwischen dem »kanonisierten« Neuen Österreichischen Film und der Berliner Schule findet sich im Werk der Österreicherinnen Albert und Hausner und der in Deutschland geborenen Grisebach. Catherine Wheatley (2011) macht geltend, dass Hausner die Ikonografie des Heimatfilms in ihren Filmen Lovely Rita und Hotel (2004) neu definiert hat. In eine ähnliche Richtung bewegt sich der österreichische Filmemacher Stefan Ruzowitzky in seinem Film Die Siebtelbauern, in dem er ebenfalls das historische und traditionelle Modell des Heimatfilms benutzt. Er fungiert dort als Allegorie der politischen Kontrolle und erzählt von den herrschenden Klassenkonflikten und der gewaltsamen Unterdrückung im Österreich der Zwischenkriegszeit, das sich unaufhaltsam in Richtung Faschismus entwickelte (Dassanowsky 2005: 241–49). Auf ähnliche Weise und mit ähnlichen Absichten lässt Haneke die Geschichte im Film Das weiße Band in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg spielen. Sein Film nutzt ebenfalls die Struktur dieses neuen Heimatfilms, um kleinstädtischen Traditionalismus und repressive gesellschaftliche Er-

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wartungen als Wurzeln des deutschen Faschismus herauszuarbeiten.3 Grisebachs Sehnsucht (2006) sollte laut Wheatley (2011) ebenfalls zu diesem neu gedachten Heimatfilm gezählt werden. Sowohl Hausner als auch Grisebach repräsentieren eine besondere weibliche Ästhetik im Neuen Österreichischen Film, wobei Grisebach, wie bereits erwähnt, aus der Berliner Schule übergewandert ist. Hausner und Albert – letztere vor allem in den Filmen Nordrand und Fallen (2006) – teilen mit Grisebach mehrere filmische Eigenheiten: das Konzept der neutralen/voyeuristischen statischen Kamera, die Ablehnung von vorgegebenen und vereinfachenden binären Charakterzügen, die weitgehende Ablehnung der Politisierung eines Themas und die Vorliebe für meditative Erzählungen mit offenem Ende (auch wenn der narrative Bogen in Grisebachs Sehnsucht nahelegt, dass die Geschichte mit dem Tod enden wird) (Wheatley 2011: 143) – alles Elemente, die auch für die Berliner Schule kennzeichnend sind. Sowohl Hausner als auch Grisebach überlassen mehr der Fantasie der Zuschauer/-innen als ihre männlichen Kollegen des Neuen Österreichischen Films. Die Filme folgen alle der Maxime »Show, don’t tell«, auch wenn sie wie zum Beispiel in Maders Struggle eine politische oder »aggressive« Strategie der Reflexivität verfolgen (145), wie es Wheatley so treffend formuliert hat. Im Wesentlichen fungieren diese Regisseurinnen als weibliches Gegenkino zum Neuen Österreichischen Film. Sie demonstrieren damit Hélène Cixous’ Konzept der »Geschenkökonomien« (Wheatley 2011: 146), bei dem die Zuschauer/-innen nicht zu einem abschließenden Ergebnis kommen müssen, was die Filme vermeintlich bedeuten. Eine solche postmoderne Mehrdeutigkeit soll eher zur Meditation anregen als überzeugen, ob eine Theorie richtig ist oder eine Ideologie in die Irre führt. Robert Weixlbaumer (2006) stellt jedoch fest, dass politische »Bedeutung« im Neuen Österreichischen Film nach wie vor ihren festen Platz hat, da er sich einerseits zwar weigert, als nationales Kino zu gelten, gleichzeitig aber die Nation bestätigt, indem er den Unterschied zum dominanten deutschen Kino – inklusive der Berliner Schule – betont. Grisebach unterscheidet sich in ihrer Position als »Überläuferin« zur österreichischen oder Wiener Schule davon, indem sie vollständig desinteressiert ist, in ihren Filmen jegliche These – oder »vorformatierten Gedanken« – zu unterstützen (Abel 2013: 230; Weixlbaumer 2006: 17). Neben Grisebach gibt es zudem in den der Berliner Schule zugehörigen Filmen eine starke weibliche Präsenz und ein Bewusstsein für Themen, die sich mit Geschlecht und Gender auseinandersetzen, etwa bei Angela Schanelec, Maren Ade, Maria Speth und der gebürtigen Südafrikanerin Pia Marais. Die Österreicherin Hausner zeigt im Gegensatz dazu, dass sie einerseits bewusst »Genre«-Filmstrukturen nutzen und andererseits genauso elliptisch und 3

Dies erinnert an Volker Schlöndorffs Bearbeitung des Romans Der junge Törless (1966) von Robert Musil im Neuen Deutschen Film. Darin behandelt er die österreichischen Wurzeln des Faschismus in der Repression und dem Sadismus vor dem Ersten Weltkrieg.

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ohne festgelegtes Ziel erzählen kann wie Grisebach. Hausner, die von Grisebach als diejenige zeitgenössische Filmemacherin betrachtet wird, die ihr am nächsten steht (Abel 2013: 230), zeichnet sich auch dann durch filmische Zurückhaltung aus, wenn sie wie in Lourdes (2009) eine potenziell melodramatische Geschichte erzählt – auch das ein zentrales Merkmal der Berliner Schule. Ihr Fokus auf das postmoderne Lyotard’sche Individuum und die Betonung der »kleinen« Erzählungen gegenüber den großen –letztere bilden nach wie vor die Basis kommerzieller Filme, die die Berliner Schule ablehnt – untergräbt absichtlich den ersten Eindruck, der beim Schauen des Films entsteht, und ein eindeutiges Pastiche aus Frauenfilm, religiösem Film und Dokumentarfilm zu sehen meint. Trotz der Benutzung des Wallfahrtsorts Lourdes als Schauplatz und Gegenstand visueller Lust und Faszination (an den Strukturen, Ritualen, Eigenschaften, Uniformen, Farben und dergleichen), die an Hausners frühere Verwendung von Hitchcock’schen und Kubrick’schen Elementen insbesondere in Hotel erinnert, widersetzt sich der Film einer traditionellen Erzählweise mit establishing shots und klassischer Exposition. Wir erfahren nie, wer die querschnittsgelähmte Hauptfigur Christine (Sylvie Testud) ist, außerhalb dessen, was wir aus ihren mehrdeutigen Blicken herauszulesen glauben; oder was sie außer ihrer Reiselust nach Lourdes gebracht hat, was ohne die Hilfe kirchlicher Organisationen ein herausforderndes Vorhaben darstellt. Wir erfahren nur, dass sie schon zuvor eine ähnliche Pilger- und Bildungsreise nach Rom unternommen hat, wo sie zum ersten Mal Kuno (Bruno Todeschini) traf, einen attraktiven Freiwilligen des Malteserordens in Lourdes und Gegenstand ihrer Begierde.4 Wie in der filmischen Praxis der Berliner Schule erleben die Zuschauer/-innen eine impressionistische Gegenwart; was fehlt, ist sowohl eine Vergangenheit, von der aus die »politischen« Werte dieser Gegenwart nachzuvollziehen sind, als auch eine Zukunft, die einen Abschluss oder eine Auflösung suggeriert. In einem Interview zu Lourdes erläutert Hausner den Einfluss des österreichischen Magischen Realismus (vor allem in der bildenden Kunst und Literatur) auf ihre Arbeit – etwa in der unerklärten »Heilung« Christines –, aber auch ihre zielgerichtete Methodik, die in der Verschmelzung von Themen des Neuen Österreichischen Films wie dem Katholizismus5 mit den ästhetischen Konzepten der Berliner Schule zu einem mehrdeutigen »präsentistischen« Realismus zu sehen ist (Hausner 2015).

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Freiwillige des Malteserordens in Europa gehören oft dem wohlhabenden katholischen Bürgertum oder dem Adel an, wo es eine Tradition des Dienstes am Orden gibt. Ulrich Seidl hat diesen in dem Dokumentarfilm Jesus, Du weißt (2003) und im Spielfilm Paradies: Glaube (2012) kritisch untersucht. Wolfgang Murnberger hat in Silentium (2004) eine populärere, fernsehgerechte Ästhetik verwendet. In der Verfilmung von Wolf Haas’ Roman steht ein Verbrechen in der katholischen Gemeinde in Salzburg im Mittelpunkt.

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Karina Longworth stellt die These auf, dass »ein Teil der Anziehungskraft von Lourdes darin besteht, dass Hausner und Testud vermeiden, das Mystische zu entmystifizieren. […] Das Wort ›Bedeutung‹ wird dafür oft verwendet, auf ein vages Etwas hinzuweisen, nach dem man streben kann. ›Bedeutung‹ zu finden, erweist sich aber als ebenso schwer wie eine genaue Definition des Begriffs.« (Longworth 2010) Ein zentraler Bestandteil von Hausners Neuem Österreichischen Film ist eine Neuformulierung von Hitchcocks Strategien – insbesondere des MacGuffin, der die Handlung vorantreibt –, um Figuren aufeinanderprallen zu lassen, die sich dadurch tieferen psychologischen Wahrheiten stellen müssen; in Lourdes, wie in Hotel, verspottet sie aber auch Hitchcocks visuelle Motivik (Kostüm, Farbe, Charakterarchetyp) als Ablenkungsmanöver, das Informationen und damit Gewissheit verweigert und kausale Beziehungen nicht mehr nachvollziehbar macht. Wie in vielen anderen Filmen der Berliner Schule besteht der Kern des Realismus in Lourdes in dem kontinuierlichen und oft meditativen Austausch von Blicken, die die spärlichen Dialoge mit ihrer rein visuell-intuitiven Sprache untergraben und die von Figuren und Publikum gleichermaßen als subjektiv und mehrdeutig erlebt werden. Das Thema des Films ist nicht das »Wunder« der plötzlichen Heilung Christines von der Multiplen Sklerose. Es ist eher die Litanei von Christines Blicken (und der Blicke auf sie und jener, die sie bei anderen bemerkt und nachverfolgt) von Neid und Begehren, die von einer entfernten, dokumentarischen Kamera eingefangen werden. Sie weckt in uns als Zuschauer/-innen die aussichtslose Sehnsucht, zu verstehen, was hinter ihnen steckt. Dies erinnert an Hitchcocks an den Rollstuhl gefesselte Figur Jefferies (James Stewart) in Rear Window (Das Fenster zum Hof, 1954), dessen Teleskop unseren Voyeurismus bis zum Punkt der Auflösung verlängert und damit die eigentliche Anziehungskraft und Psychologie des Kinos nachahmt. Hausners ähnliche Verbindung mit dem Blick der Hauptfigur, die auf das Drama, das sie umgibt, schaut, lässt keine Gewissheit oder Erkenntnis zu; es gibt keinen Mord, der aufgeklärt werden muss, keinen Liebhaber, den man letztendlich verstehen möchte. Dennoch ist die Figurenkonstellation des Films von Das Fenster zum Hof übernommen: Statt eines Mordes stirbt die Oberschwester des Malteserordens an einer unerklärlichen Krankheit, die sie stoisch geheim gehalten hatte; Christines Mitbewohnerin, Frau Hartl, übernimmt eine mütterliche Rolle, indem sie sich für sie einsetzt und für sie sorgt, ohne dass Christine sie darum gebeten hätte – beides (Mütterlichkeit und Hartnäckigkeit) erinnert an die von Thelma Ritter darstellte Krankenschwester im Hitchcock-Film; der Ausdruck vorsichtigen Begehrens zwischen Christine und Kuno manifestiert sich schließlich in offener Anziehung beim Tanz und entspricht der Szene, als Jefferies über seinen Rollstuhl und seine suggerierte sexuelle Dysfunktion hinauswächst und Lisas (Grace Kelly) Verführung annimmt (Abb. 3.1). Eine der fesselndsten Szenen des Films zeigt nicht den inneren Konflikt und die Frustration von Christine als Querschnittsgelähmte und findet auch nicht an

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den Orten statt, die sonst den Film bestimmen: dem gemeinsamen Schlafzimmer von Christine und Frau Hartl, dem Speisesaal, der Kirche oder den Schauplätzen in und rund um Lourdes, die die Pilger/-innen auf Tagesausflügen besuchen. Sie stellt einen symbolischen Moment dar, der das Leben der frisch »geheilten« Christine zeigt, eingefangen von der wie üblich statischen Kamera. Darin sehen wir sie einen Eisbecher auf der Terrasse eines Cafés genießen, während ihre rätselhaften Blicke auf die sie umgebenden Menschen schweifen. Der Tag ist klar und sonnig; während sie isst, schaut sie Kuno direkt an, der an einem Nachbartisch sitzt und sich in diesem Augenblick ihrer begehrenden Blicke deutlich bewusst ist. Christines sinnliche Freude an ihrer neuen Körperlichkeit und ihrem visuellen Vergnügen an Kuno ist auch eine Ablehnung der Sentimentalität des Mainstream-Liebesfilms von Seiten des Gegenkinos. Stattdessen feiert diese Szene die minimalistische, ja prosaische Inszenierung des filmischen Raums. Christines Dénouement besteht aus einer weiteren Reihe von Blicken, die das zunichte machen, was sie durch ihre Wiederauferstehung als körperlich intakte Frau gelernt zu haben glaubt. Das Publikum bleibt mit der ungelösten Frage zurück, was ihr plötzlicher Sturz während des Tanzes mit Kuno und ihre Rückkehr in den Rollstuhl bedeutet. Christine verdrängt eindeutig ihre Enttäuschung und unterdrückt, was ihr Körper ihr sagen möchte. Ihre Hand versteift sich wieder in die vorherige, verkrampfte Form. Ist sie einfach nur erschöpft von der Belastung durch die plötzliche körperliche Anstrengung, nachdem sie so lange unbeweglich war? Ist die Lähmung zurückgekehrt? In den letzten Bildern des Films sehen wir mysteriöse Gefühle über ihr Gesicht gleiten. Sieht sie sich als Aschenputtel, das nach dem Tanz mit dem Prinzen wieder in ihre begrenzte Welt des Andersseins zurückkehren muss, aus der es kein Entkommen gibt? Lourdes ist genau genommen genauso metafilmisch wie Das Fenster zum Hof, gleichzeitig problematisiert der Film die existenzielle Wahl seiner Figuren und löst sich so von der filmischen Propaganda der Gewissheit. Diese Ablehnung der »identifikatorischen Emotionalisierung«, so nennt es Heisenberg (Heisenberg 2006: 19), macht die Innerlichkeit zu einer der Schlüsselkomponenten von Filmen, die unter dem Einfluss der Berliner Schule entstanden sind. Die Protagonisten und Protagonistinnen werden »sowohl stilistisch als auch erzählerisch quasi in der Außensicht dargestellt und ihre Handlungen bleiben in psychologischer Hinsicht oft unerklärt – wenn nicht gar unerklärlich.« (Cook et al. 2013: 165). Hausner – genauso wie zum Beispiel Christian Petzold, der zum inneren Kreis der Berliner Schule gehört – verwendet im Rahmen dieser »Ästhetik der Reduktion« (Abel 2013: 15) die Hitchcock’sche Rahmung, um damit jedoch das Gegenteil von Hitchcocks psychologischer Vivisektion zu erreichen. Damit enttäuscht sie die Erwartungen sowohl des Publikums als auch internarrativ die der Filmfiguren und fordert sie heraus, nach dem Film diesen ambivalenten Realismus zu identifizieren und zu interpretieren.

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Abbildung 3.1: ›Lourdes‹

Hausners Film Amour Fou (2014) ist eine Reaktion auf den dokumentarischen Stil von Lourdes. Um den kommerziellen Bombast und die melodramatischen Qualitäten des Kostümdramas zu vermeiden, nutzt er neben der Innerlichkeit der Figuren einen Modus der »anti-identifikatorischen Emotionalisierung«, indem die Aufführung manieriert und zurückhaltend und der visuelle Stil (spärliches Mobiliar, enge Einstellungen, statische Kamera) sehr reduziert gehalten ist. Obwohl die historische Kulisse nicht im Dienste der »Nationenbildung« eingesetzt wird, spiegelt sie die größere zeitliche Bandbreite des Neuen Österreichischen Films wider, da die Berliner Schule vor allem zu Beginn der Bewegung einen strengen Fokus auf die Darstellung der Gegenwart gelegt hatte und sich Hausners Film somit außerhalb dessen bewegt hätte. Die Berliner Schule hat jedoch in jüngerer Zeit ihren Blick ebenfalls auf die Vergangenheit gerichtet, zum Beispiel in Filmen wie Petzolds Barbara (2012) und Phoenix (2014) oder Arslans Gold (2013). Hausners Film folgt dem Formalismus und der langsamen, kontemplativen Stimmung, für die die Regisseurinnen des Neuen Österreichischen Films bekannt sind und die ein obligatorisches Kennzeichen der Berliner Schule sind. Anders als die filmische Simulation von Lourdes zielt Amour Fou auf visuellen Genuss hin – in seinen sich langsam entfaltenden Tableaus von Gruppenszenen, die die Harmonie und Ausgewogenheit der neoklassischen Malerei heraufbeschwören. Seine erzählerische »Wahrheit« basiert auf der Besessenheit des Schriftstellers Heinrich von Kleist (1777–1811), eine Frau zu finden, die mit ihm Selbstmord begeht – eine Form der melancholischen Partnerschaft statt der Suche nach einem befriedigenden Liebesleben. In ihrem Zeitstück, das einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt, vermeidet Hausner die emotionale Manipulation, die in zeitgenössischen kommerziellen deutschen Künstlermelodramen wie Goethe! (2010) zu finden ist. Diese sind vor allem auf die Identifikation des Publikums ausgerichtet und behalten die heroisch-propagandistischen Elemente aus den Künstler-als-Genius-Filmen der NS-Zeit bei (Fried-

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rich Schiller – Der Triumph eines Genies, 1940; Friedemann Bach, 1941, und so weiter). Ebenso scheut sie das Beispiel der österreichischen Filme der Nachkriegszeit, deren Hauptzweck die Nationenbildung ist (Seine einzige Liebe, 1947; Eroica, 1949; Mozart, 1955). Hausners Dialoge sind spärlich (sie folgen dem Diktum des »Show, don’t tell«), aber vor allem verweigert ihr Film dem Publikum den klassischen narrativen Höhepunkt und die Katharsis, um eine falsche Sentimentalität gar nicht erst aufkommen zu lassen. Dabei nimmt er die Form des Stationendramas an, bei dem die einzelnen Szenen oder Bilder lose aneinandergereiht sind, und stellt die stetig distanzierten und entfremdeten Beziehungen über den Austausch mysteriöser Blicke dar. Ironie ist das zentrale Thema – wie auch in den Schriften Kleists –, worin nichts sicher ist, bis (wie bei Hitchcock) die Auflösung des Konflikts eine beunruhigende Botschaft offenbart, eingebettet in eine vorpsychologische Betrachtung des menschlichen Bewusstseins.6 Dass Henriette (Birte Schnöink) den Selbstmordpakt mit Heinrich (Christian Friedel) nur deshalb annimmt, weil sie an einer unheilbaren Krankheit leidet und nicht weil sie davon idealistisch überzeugt ist, wertet, als er davon erfährt, die Entscheidung in Heinrichs Augen ab. Die Entdeckung, dass Henriette gar nicht ernsthaft krank ist, wird von den Figuren emotionslos aufgenommen und destabilisiert die Erzählung bis zu dem Punkt, an dem das Publikum, wie in Lourdes, gezwungen ist, die Interaktionen zu entschlüsseln und über menschliche Wünsche nachzudenken, anstatt moralische Lehren zu ziehen oder, in diesem speziellen Film, fiktives und abschließendes »Wissen« über historische Figuren und ihre Zeit zu erlangen. Die Arbeiten von Julian Roman Pölsler – ein österreichischer Filmemacher, der bis dahin nicht mit der Berliner Schule in Verbindung gebracht wurde und neu in der Wiener Kinoszene ist – verweisen darauf, dass »weibliche Ästhetik« (»Menschen statt Politik«) im Neuen Österreichischen Film nicht geschlechtsspezifisch sein muss. Sein (so gut wie) Einfrauenstück Die Wand kann man als Lexikon der Elemente betrachten, die mit der visuellen und narrativen Erzählstrategie der Berliner Schule assoziiert werden: Sparsamkeit der Dialoge, Innerlichkeit, Intensität der Landschafts- und Waldaufnahmen, überraschende Gewalt, die Wichtigkeit von Umgebungsgeräuschen, wie etwa des Windes und anderen natürlichen Klängen, und ein beunruhigend offenes, aber deshalb »realistischeres« Ende. Tatsächlich könnte man die Handlung des Films als perfektes Setting ansehen, das die Mehrdeutigkeit des erzählerischen Stils der betreffenden filmischen Schulen gegenüber

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Kleist betrachtet in seinem Essay Über das Marionettentheater das menschliche (Selbst-)Bewusstsein als die Wurzel von Zweifeln und inneren Konflikten, die durch die fehlende Harmonie zwischen Gefühlen (Emotionen/Reaktionen) und Gedanken (Ideen) verursacht werden. Vgl. die unerwarteten Wendungen am Ende/Höhepunkt über alle seine Werke hinweg, etwa in Der Zerbrochene Krug, Das Erdbeben in Chili, Die Marquise von O, Michael Kohlhaas usw.

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der Realität demonstriert. Basierend auf dem Roman der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer aus dem Jahr 1963, der lange Zeit wegen seines stark metaphorischen Charakters als »nicht verfilmbar« galt (Die Wand Presseheft 2012), steht im Mittelpunkt dieser deutsch-österreichischen Koproduktion die enigmatische Darbietung der deutschen Schauspielerin Martina Gedeck, die sonst eher in populäreren Rollen zu sehen ist.7 Ihr Casting scheint darauf ausgerichtet zu sein, durch ihre »Star«-Qualitäten an den Kinokassen höhere Einnahmen zu erzielen, ein Aspekt, der bis auf wenige Ausnahmen den Filmen der Berliner Schule und bis zu einem gewissen Grad auch der zweiten Welle des Neuen Österreichischen Films fremd ist. Die Hauptfigur der einfachen, aber eindringlichen, apokalyptischen Handlung ist eine Frau (deren Namen wir nie erfahren), die mit einem befreundeten, älteren Ehepaar, zu deren Hütte in den österreichischen Alpen reist; als sie am nächsten Morgen aufwacht, stellt sie fest, dass ihre Freunde von ihrem Abendessen im Dorf nicht zurückgekehrt sind. Ihr einziger Gefährte ist der zurückgelassene Hund des Paares. Sie stellt sie fest, dass sie von einer unsichtbaren Wand umgegeben ist, die sie vom Rest der Welt trennt und den Raum begrenzt, in dem sie sich bewegen kann. Auf der anderen Seite der Wand kann sie jedoch ein in der Zeit erstarrtes Paar sehen. Der Film schildert die Phasen des Schocks und der Verzweiflung der Figur, in denen sie mit der Isolation fertig werden muss, ihre wachsende Bindung und Identifikation mit den Tieren (Hund, Kuh, Kalb, Katze, Vogel), die zu ihren einzigen Gefährten werden, ihre widerstreitenden Gefühle, wenn sie für Nahrung töten muss, und ihre Anpassung an die Gesetzmäßigkeiten der Natur und den Rhythmus der Jahreszeiten. Ihr »Tagebuch«, das sie auf im Haus gefundenen Zetteln schreibt, dient als Voice-Over-Erzählung des Films. Ihr Aussehen und ihr Charakter verändern sich in den zwei bis fast drei Jahren der Filmhandlung erheblich. Von einer anspruchsvollen, stilvoll gekleideten Großstadtfrau, die wenig Rücksicht darauf nimmt, wie sie mit ihren Freunden spricht, und deren aktiven Lebensstil nicht wertschätzt, entwickelt sie sich ohne Gesellschaft zu einer androgynen Person, die die männliche Kleidung trägt, die sie in der Hütte vorfindet, und in und mit der Natur lebt, als hätte sie die Zivilisation nie gekannt. Nachdem sie den ersten Winter überlebt, kommt sie im zweiten Sommer, den sie mit ihren Tieren auf der Hochweide verbringt, zur Ruhe und kehrt zur Natur zurück. Sie schreibt in

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So spielte sie nach dem Mauerfall in vier kommerziell relativ erfolgreichen deutschen Mainstream-Filmen mit: Sönke Wortmanns Der bewegte Mann (1994), Sandra Nettelbecks Bella Martha (2001), Florian Henckel von Donnersmarcks Das Leben der Anderen (2006) und Uli Edels Der Baader Meinhof Komplex (2008). Ihre Filmarbeit wurde national und international ausgezeichnet, außerdem ist sie regelmäßig im Theater und Fernsehen zu sehen. Sie engagiert sich politisch als Mitglied der Grünen in Deutschland.

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ihrem Tagebuch, dass sie das Gefühl hat, »in den Schoß der Natur, dem wir entstammen, zurückzukehren« (Greiner 2012). Im folgenden Frühjahr taucht plötzlich ein Mann auf und tötet zunächst auf brutale Weise das Kalb ihrer Kuh und dann ihren Hund. Sie erschießt ihn mit ihrem Gewehr, ohne ein Wort zu sagen, und rächt so den Tod ihrer tierischen Gefährten. Gleichzeitig zerstört sie damit ihre einzige Möglichkeit, wieder mit einem anderen Menschen in Kontakt zu treten. Sie trauert um ihren geliebten Hund, der ihr einziger Freund gewesen war, und ist dabei wieder fast von Einsamkeit gelähmt, aber ihr Leben beginnt erneut, dem Rhythmus ihrer Umgebung zu folgen. Im Herbst erntet sie das Obst und die Kartoffeln aus ihrem Garten. Die Erzählung endet abrupt, als ihr Anfang des folgenden Jahres das Papier ausgeht. Die Symbiose der Stile der Berliner Schule und des Neuen Österreichischen Films in Die Wand hilft Pölsler, dem Wunsch des Publikums nach emotionaler Identifikation mit der Figur entgegenzutreten, die dieses normalerweise erwartet, um die Unsicherheit darüber, wie die Erzählung weitergeht, zu verringern, wobei ihm allerdings auch hilft, dass das Motiv der totalen Isolation des Individuums aus dem Genre Science-Fiction-Film bekannt ist. Aber der strenge Formalismus, die Bildsprache und der meditative Fokus auf den filmischen Augenblick subvertieren die vorgefassten Rezeptionsstrategien, wie man mit einem Film umgehen kann, der zunächst als apokalyptische Horrorgeschichte erscheint, da er sich zu Beginn darauf konzentriert, die unvorhersehbare und unerklärliche Zwangslage der Figur darzustellen. Es ist nicht überraschend, dass dieser Stil und Pölslers Versuch eines a-repräsentationalen filmischen Realismus (Abel 2013: 14–20) die amerikanische Kritik verwirrt hat. Die Fachzeitschrift Hollywood Reporter lobte die filmische Darstellung der Alpenlandschaft als »umwerfend schön«, drückte aber ihre Verwirrung darüber aus, dass die Hauptfigur keine »Backstory« habe und dass am Ende des Films die »plötzliche Verschiebung der Erzählhaltung auf unbefriedigende Weise unbeholfen« sei (Young 2012). Auch Variety beurteilte die Ästhetik der Reduktion und die Innerlichkeit der Figur als »unangenehm« und meinte, zweifellos mit Blick auf die traditionelle filmische Erfahrung des Eintauchens in die Narration, dass die »Bilder und das Voice-Over nie vollständig zu einem Ganzen verschmelzen« (van Hoeij 2012). Die deutschen Kritiker/-innen lehnten dieses Beispiel der zweiten Welle des Neuen Österreichischen Films genauso automatisch ab, wie sie es vorher schon mit Filmen der Berliner Schule getan hatten (Greiner 2012); nur die österreichischen Kritiker/-innen, die keine festgelegten Erwartungen hatten, waren offen für den Film. Sie betrachteten ihn als eine virtuose Darbietung eines der wichtigsten Werke der modernen deutschsprachigen Literatur in einer atemberaubenden visuellen Kulisse (Die Wand Presseheft 2012). Der Fachverband der Filmund Musikindustrie wählte ihn 2014 als österreichischen Beitrag für den Oscar als »Bester Fremdsprachiger Film« aus.

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Pölslers Film folgt der Berliner Schule insofern, dass er den Fokus auf den individuellen menschlichen Körper und die Psyche legt. Das ist auch die zentrale Verbindung des Films zum Publikum, was ihm ein Verständnis der Hauptfigur auch über ihr Tagebuch hinaus ermöglicht. Der Film hört zwar mit dem Abbruch ebendieses Tagebuchs auf, aber die Geschichte selbst endet nicht mit der Abblende auf die Frau, deren Erfahrungen alle bisherigen Grenzen von Identität und Leben aufgelöst haben. Stellt er die Traumwelt einer Komapatientin oder einer katatonischen Kranken dar? (Abb. 3.2). Stellt er eine Allegorie des Fegefeuers, der nuklearen Zerstörung (angesichts der Entstehungszeit des Romans) oder gar auf den »Ausstieg aus der Geschichte« Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, um der Vergangenheitsbewältigung zu entgehen, dar? Entsprechend dem Verschwinden Irenes im Wald in Hausners Hotel, welche gesellschaftspolitischen Aussagen sind, wenn überhaupt, aus diesen Abblenden herauszulesen? Dies ist eine besonders wichtige Frage für ein Neues Österreichisches Kino, das entstanden ist, um den nostalgischen Trugbildern entgegenzutreten und die vielfältigen Bedeutungen von Raum und Identität in einem Land zu verstehen, das eine genauso schwierige Geschichte wie Deutschland (die teilweise eine gemeinsame ist) hat und im letzten Jahrhundert fünf verschiedene politische Iterationen durchlaufen hat. Während die Berliner Schule österreichische und in Österreich ausgebildete Filmemacher/-innen vor allem mit ihren filmtheoretischen Strategemen beeinflusst hat, gibt es Hinweise dafür, dass die metaphysischen Aspekte, die die Wahrnehmung direkt in Frage stellen und aus dem österreichischen magischen Realismus stammen (der selbst einer Mischung aus Surrealismus und katholischer Mystik entspringt), dem charakteristischen a-repräsentationalem meditativen Realismus der Berliner Schule einen zusätzlichen Aspekt hinzugefügt haben. Dieser reicht vom »Schmetterlingseffekt«, der in Alberts frühem Film Böse Zellen ein bestimmendes Thema ist, bis zur unerklärlichen Heilung in Lourdes und dem Geheimnis von Die Wand. Darüber hinaus hat Hausner mit Amour Fou gezeigt, wie ihre Nähe zur Berliner Schule den historischen Film (und insbesondere die Filmbiografie) auf eine Weise neu interpretieren kann, dass er das gleiche Maß an kritischer Herausforderung bietet wie die Filmerzählungen der Gegenwart. In dem Maße, wie der Neue Österreichische Film beginnt, sich von seinem strengen Ursprungsstil und seinen anfänglichen Themen in ein Genrekino auszuweiten, das selbstverständlich Strategien des Autorenfilms aufnimmt, ohne den Status eines traditionellen staatstragenden Kinos anzunehmen (wie z.B. in Veronika Franz’ und Severin Fialas Ich seh, ich seh [2014]), gibt es auch ein Wiederaufleben der strengeren Gegenkino-Tradition, die der Neue Österreichische Film in den 1990er und frühen 2000er Jahren repräsentierte. Diese neuen Filme scheinen insbesondere die meditativen Qualitäten zu begrüßen, die bereits in den Filmen der hier behandelten Regisseurinnen erkennbar waren und die auch den Stil und

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die Form – die »raum-zeitliche Spezifik« (Abel 2013, 297) – der Berliner Schule mit ihrem reduzierten und minimalistischen Realismus widerspiegeln.

Abbildung 3.2: ›Die Wand‹

Sicherlich ist die Identität der Berliner Schule durch ihre Regisseure und Regisseurinnen geprägt, denn sie ist keine Bewegung im traditionellen Sinne, sondern ein Netzwerk von Künstlern und Künstlerinnen unterschiedlicher Modalitäten, die weniger an der Vergangenheit und ihrer Bewältigung im nationalen deutschen Film interessiert sind als vielmehr an der Reflexion über das Leben in der Gegenwart – auch wenn diese manchmal im historischen Setting geschieht. Der Neue Österreichische Film hat sich ursprünglich sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Gegenwart beschäftigt, genauer gesagt mit der Frage, wie die Vergangenheit die österreichische Gegenwart prägt, eine Vergangenheit, die im populären Diskurs zugunsten einer Konzentration auf Alltagsfaschismus, soziale Repressionen und Fremdenfeindlichkeit weitgehend ignoriert wurde. Er hat sich über dieses strenge gesellschaftspolitisch-kritische Narrativ hinausentwickelt (könnte aber möglicherweise diese Kritik am Nationalstaat bei der Untersuchung der syrischen Flüchtlings-/Migrantenkrise wieder aufgreifen), ohne ein dominierendes nationales Kino schaffen zu wollen. Dennoch bleibt der Neue Österreichische Film ein Kino der österreichischen Nation, das auf seiner historisch-kulturellen Differenz und Einzigartigkeit innerhalb des gesamten deutschsprachigen Films beharrt, trotz seiner transnationalen (darunter deutschen) Koproduktionsnetzwerke. Er nutzt eine Filmsprache des Gegenkinos, die er mit der Berliner Schule teilt, auch weil spezifische Filmemacher/innen der Berliner Schule direkt in Österreich arbeiten und ihre Ästhetik dort entwickeln. Der stärkste Antrieb, der die Perspektiven dieser beiden Kinos zusammen-

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bringt, bleibt der Wunsch, nicht das Reale neu zu erschaffen, sondern alle Formen des Diskurses sichtbar, vielfältig und offen zu halten.

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4 »Das Leben ist voller schwieriger Entscheidungen« Bilder des Kampfes für ein besseres Leben in Henner Wincklers Lucy und Kelly Reichardts Wendy and Lucy Will Fech

»Was für Filme brauchen wir heute?« fragte der Filmkritiker der New York Times A. O. Scott in einem Artikel im März 2009. Das war zu diesem Zeitpunkt in den USA keine leichtfertige Frage – einem Land, das immer noch an den Nachwehen des Terroranschlags vom 11. September 2001 litt und »in einem Strudel aus Unruhe und Verwirrung gefangen war« (Scott 2009a), ausgelöst durch anhaltende Terrordrohungen, verschärfte staatliche Überwachung, wirtschaftliche Unsicherheit und eine tief gespaltene Wählerschaft. Scotts Artikel über den filmischen »Neo-Neorealismus« war seine Antwort auf die eingangs gestellte Frage. Er beschrieb darin eine seiner Ansicht nach erfrischende neue Strömung im US-amerikanischen Independent-Kino, die den Kinobesuchern und -besucherinnen helfen könnte, die Malaise zu überwinden. Genauer betrachtet scheinen allerdings die Filme, die dies erreichen sollten, eher unwahrscheinliche Kandidaten für eine kollektive Stimmungsaufhellung zu sein. Es handelt sich vor allem um Filme, die auf Festivals Furore machten, aber sonst eher begrenzte Popularität erreichten. Sie zeigen in der Regel marginalisierte oder vom Leben gebeutelte Figuren, deren Alltagskämpfe in scharfem Kontrast zu der leichten Kost aus der Hollywood-Traummaschine stehen. Beispiele sind etwa Ramin Bahranis Man Push Cart (2005), Chop Shop (2007) und Goodbye Solo (2008); Anna Flecks und Ryan Bodens Sugar (2008); Lance Hammers Ballast (2008); So Yong Kims Treeless Mountain (2008) und Kelly Reichardts Wendy and Lucy (2008).1 In seinem Artikel orientierte sich Scott an einem anderen Filmereignis, das aus den Trümmern einer Katastrophe entstand: dem italienischen Neorealismus. Er beschreibt, wie die erwähnten US-amerikanischen Filme die bekannten italienischen Klassiker aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufnehmen, die das prekäre Leben von Menschen aus der Arbeiterklasse mit Mitteln darstellen, die 1

Die Online-Version von Scotts Artikel zeigt auch Promo-Aufnahmen von Reichardts Old Joy (2006) und Bodens und Flecks Half Nelson (2006), die dadurch anscheinend ebenfalls zum neo-neorealistischen Dinnerparty-Tisch eingeladen waren.

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gemeinhin – auch wenn dieser Begriff durchaus kritisch gesehen werden könnte – als »realistisch« bezeichnet werden. Dabei geht es um den Einsatz unbekannter oder Laiendarsteller, Dreharbeiten an Originalschauplätzen, der Einsatz langer Einstellungen (long take cinematography) und so weiter. Es handele sich dabei weder um eine politische noch ästhetische Bewegung von Filmschaffenden, jedoch würden die Filme, die Scott in seinem Artikel hochhält, »im Kleinen, aber mit bemerkenswerter Ernsthaftigkeit, die Bandbreite des amerikanischen Filmschaffens« erweitern (Scott 2009a). Dies geschehe, indem sie Geschichten erzählten, die das Mainstream-Publikum normalerweise nicht zu sehen bekäme. Ihre Themen – seien es die Anpassungsschwierigkeiten eines Sportlers, der aus der Dominikanischen Republik nach Kansas zieht (Sugar), oder obdachlose Kinder, die zwischen Müllhaufen leben (Chop Shop) – sind für Scott ein willkommenes filmisches »Gegenmittel« zu den »Ideologien des magischen Denkens«, die die Ängste vor Terror, Armut und Konflikten nach dem 11. September 2001 durch Eskapismus bannen wollen. Comic-Helden und verwaiste indische Millionäre2 gaben einem erschöpften Land etwas, worüber es sich freuen konnte, in einer Zeit, die das Time Magazine als »das Jahrzehnt aus der Hölle« (»the Decade from Hell«) bezeichnete (Serwer 2009). Das alternative Kino warf währenddessen einen langen, notwendigen Blick auf die schmutzige Realität unter der glänzenden Oberfläche. Der »amerikanische Film«, erklärt Scott mit Gusto, »hat seinen neorealistischen Moment, und keinen Augenblick zu früh.« (Scott 2009b) Nicht jeder stimmte mit Scotts Erhebung dieser »neo-neorealistischen Filme« auf den Filmthron überein (ein Punkt, auf den ich später noch einmal zurückkommen werde), aber sein Text bot die erste Einordnung einer Reihe von Filmen, die sich gegen die eskapistische Mainstream-Kost stellten, eine Haltung, die sie mit der Berliner Schule in Deutschland gemeinsam hatten. Die Ursprünge der Berliner Schule wurden bereits an anderer Stelle diskutiert, aber es sei daran erinnert, dass sie zu einer Zeit in Erscheinung trat, als in Deutschland mehrere groß angelegte, international beachtete Filme herauskamen, die den Nationalsozialismus und seine Nachwirkungen (inklusive des verbleibenden Faschismus) in den beiden deutschen Staaten behandelten. Diese Filme, wie Oliver Hirschbiegels Der Untergang (2004) und Florian Henckel von Donnersmarcks Das Leben der Anderen (2006), wurden von den etablierten Medien für ihren hohen Produktionswert gelobt und fanden beim Massenpublikum und den großen Filmpreis-Jurys gleichermaßen Anklang. Die neo-neorealistischen Filme in den USA entstanden zu einer Zeit, als sich ein besonders starker Strom von CGI-beladenen Sequels, Prequels, Remakes und Adaptionen über die Kinos ergoss, und folgten, ebenso wie die Berliner Schule, 2

Dies ist ein Verweis auf Danny Boyles Oscar-gekrönten Film Slumdog Millionaire (Slumdog Millionär) aus dem Jahr 2008, den Scott als Antithese (was das Budget, den Stil und den Geist angeht) zu den von ihm verfochtenen neo-neorealistischen Werken anführt.

4 »Das Leben ist voller schwieriger Entscheidungen«

einer Ästhetik der Reduktion, die zu den intimen, charakterbezogenen Geschichten passte. Sie zeigen oft unbekannte lokale Schauspieler/-innen oder Laiendarsteller/-innen3 und wurden an Originalschauplätzen gedreht, etwa in der Bronx, im ländlichen Mittleren Westen, im pazifischen Nordwesten, im Mississippi-Delta und so weiter.4 Der Umgebungston wird gegenüber nicht-diegetischer Filmmusik bevorzugt. Die Dialoge können knapp sein, und die Art und Weise des Schnitts lässt Raum dafür, alltägliche Routinen oder atmosphärische Einsprengsel zu zeigen, die anderswo auf dem Boden des Schneideraums fallen würden. Lineare, dramatische Erzählbögen sind zwar zu erkennen, aber es fühlt sich doch immer so an, als ob in diesen Filmen »nicht viel passiere«, weil sie, statt auf Melodrama und schnelle Schnitte zu setzen, Subtilität und Langsamkeit vorziehen. Allerdings ist der US-amerikanische Neo-Neorealismus nicht in der Weise als echte »neue Welle« anerkannt, wie es die Berliner Schule durch die wissenschaftliche und institutionelle Anerkennung ist. Es gibt nur wenige bis gar keine substanziellen Studien zu diesen Filmen, und selbst neuere filmwissenschaftliche Sammelbände, die sich mit dem Realismus als internationale Filmsprache oder dem zeitgenössischen US-amerikanischen Film beschäftigen, lassen sie außen vor.5 Die Regisseure und Regisseurinnen Bahrani, Fleck und Boden sowie Reichardt realisieren inzwischen Projekte mit weitaus höheren Budgets, die von ihren ersten bescheideneren Unternehmungen weit entfernt sind. Der neo-neorealistische »Augenblick« in den USA scheint genau das gewesen zu sein – ein Augenblick. Dennoch sind die Filme im Kreis des internationalen Kunstkinos nicht unbemerkt geblieben, vor allem nicht bei den Filmemachern und Filmemacherinnen der Berliner Schule, die Ähnlichkeiten mit ihren eigenen Projekten entdeckten. Insbesondere Christoph Hochhäusler verweist in seinen Reflexionen über die Anfänge und die Rezeption der Berliner Schule auf andere nationale Filmemacher/-innen, die »mit einem bestimmten Erzählansatz und einem spezifischen Figurenkonzept« […] »ein verwandtes Terrain erkunden« (Hochhäusler 2013: 25) und hebt dabei Reichardt und Hammer aus den USA hervor. Für den deutschen Filmemacher und Kritiker bestehen die Gemeinsamkeiten zwischen der Berliner Schule und dem Filmschaffen anderswo weniger in den ästhetischen Verfahren des Kunstkinos als vielmehr in der zugrunde liegenden Philosophie des filmischen Inhalts. Die drei Faktoren, die

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Eine Ausnahme ist die Besetzung von Kinostar Michelle Williams in Wendy and Lucy. Dennoch wurde der Film in den Rezensionen immer wieder dafür gelobt, wie sie in der Rolle einer gewöhnlichen Frau aufging. Und auch hier gibt es eine Ausnahme: Kims Treeless Mountain wurde in Südkorea gedreht. In Giovacchini/Sklar (2011) werden weder die von Scott genannten neo-neorealistischen Filme noch ihre Regisseure und Regisseurinnen auch nur erwähnt; in King/Molloy (2013) taucht Kelly Reichardt einmal auf.

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er beschreibt – die Aufmerksamkeit für Ereignisse am Rande statt spannungsreicher Action; der Einsatz von introvertierten, »antiexhibitionistischen« Figuren; und die Vermeidung von Verstrickungen des narrativen Plots –, stehen im Mittelpunkt vieler filmischen Stile, die sich mit gewöhnlichen Menschen beschäftigen und narrative Subtilität schätzen. Doch wie konsistent ist Hochhäuslers Bezugnahme auf die neo-neorealistischen US-Regisseure und Regisseurinnen im Verhältnis zur Berliner Schule? Um die Relationen zu entwirren, möchte ich einige Merkmale der einzelnen Bewegungen näher beschreiben, bevor ich zu zwei emblematischen Filmen der beiden Bewegungen übergehe.

Zwei Kinos Grob lässt sich der US-amerikanische Neo-Neorealismus als Weiterentwicklung früherer Formen des amerikanischen »Indie«-Kinos mit geringeren Budgets und Reichweite definieren.6 In den 1990er Jahren starteten die großen Hollywood-Studios gesonderte Abteilungen, die Filme für ein anspruchsvolleres, hippes Publikum entwickeln wollten. Diese Abteilungen wurden inspiriert durch den Erfolg mehrerer Filmprojekte des unabhängigen Verleihers Miramax Pictures Ende der 1980er und Anfang der 90er Jahre mit relativ niedrigen Budgets, die an den Kinokassen sehr erfolgreich gewesen waren. Fox Searchlight Pictures (Fox), Sony Pictures Classics (Sony Pictures Entertainment) und Warner Independent (Warner Bros.) waren einige der Untergesellschaften, die in dieser Zeit gegründet wurden – eine Entwicklung, die Geoff King als »Indiewood« bezeichnet hat (King/Molloy 2013). Dieser Teilbereich der Branche spezialisierte sich auf »Filme im mittleren Preissegment, die sich vor allem an ein Publikum mit größerem kulturellem Kapital wenden [und] eine Synthese aus Independent- und Hollywood-Ästhetik bieten« (Perren 2013: 13). Die Darsteller/-innen in diesen Filmen waren in der Regel anerkannte Filmstars und die Filme besaßen genügend industrielle Schlagkraft, um für die Oscars nominiert zu werden. Im Vergleich dazu sind Scotts neo-neorealistische Filme alle von Unternehmen außerhalb der großen Hollywood-Studios produziert und herausgebracht (mit Ausnahme von Sugar, der von Sony Pictures Classics vertrieben wird). Sie hatten nur sehr bescheidene Erfolge an den Kinokassen7 und wurden trotz guter Kritiken von den großen Publikumsmedien wenig beachtet. Es geht 6

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Die »Unabhängigkeit«, die in der Bezeichnung »Indie« steckt, ist genau wie der Begriff »Gegenkino« natürlich ein relativer Begriff, der Fragen der Zugehörigkeit zu bestimmten Industriestrukturen, der finanziellen Ausstattung, Starpower, der Autonomie der Filmemacher und der ästhetischen bzw. ideologischen Radikalität einschließt. Die durchschnittlichen Bruttoeinnahmen an den US-Kinokassen der sieben Filme, die Scott in seinem Artikel vorstellt, betragen nur 445.449 US-Dollar pro Film (zwischen 36.608 und 1.082.124 US-Dollar). Die Quelle dieser Zahlen ist https://www.boxofficemojo.com.

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diesen Filmen weniger darum, hip zu sein oder den Geschmack eines gehobeneren Publikums anzusprechen, sondern ein Licht auf die Erfahrungen von Benachteiligten, Minderheiten oder Migranten und Migrantinnen zu werfen. Zwar existieren sie innerhalb bestimmter etablierter Strukturen und rütteln nicht radikal an der Sprache des Kinos, aber sie unterscheiden sich trotzdem von den kommerziell getriebenen Low-Budget-Oscar-Projekten, die von spezialisierten Unterabteilungen der großen Studios verbreitet und vermarktet werden. Innerhalb des US-amerikanischen Neo-Neorealismus lassen sich durchgängig thematische Merkmale herausarbeiten, die ihn von seinen italienischen Vorbildern unterscheiden. Die italienischen Klassiker griffen die existenzielle Bedrohung der Nachkriegszeit auf, in der sich entrechtete Menschen einer zerrütteten Infrastruktur und bürokratischer Gleichgültigkeit gegenüberstehen sahen. Die US-Filme erweitern die Perspektive, um über die Begrenzungen von Rasse, Geschlecht und Nationalität hinweg, die vielfältigen Erfahrungen von Protagonisten und Protagonistinnen zu beschreiben, die glauben, dass sie sich aus der Armut befreien und den amerikanischen Traum verwirklichen können. Bahranis Eltern wanderten aus dem Iran in die Vereinigten Staaten ein, und ein Großteil seiner Arbeit porträtiert den Kampf von Einwanderern, die sich und ihrer Familie ein neues Leben aufbauen wollen. Der senegalesische Taxifahrer in Goodbye Solo und der in Pakistan geborene Straßenhändler in Man Push Cart arbeiten hart, um eine bessere Zukunft für ihre jungen Familien zu ermöglichen, während der auf dem Schrottplatz lebende Latino-Junge in Chop Shop nur mühsam seine Grundbedürfnisse befriedigen kann. Sugar, obwohl von einem weißen US-amerikanischen Paar geschrieben und inszeniert, ist eine weitere Assimilationsgeschichte über einen dominikanischen Baseballspieler, für den die Anpassung an das Leben im ländlichen Iowa mühsam verläuft. In In Between Days (2006) schildert die koreanisch-amerikanische Regisseurin Kim eine jugendliche koreanische Migrantin, die in einer abweisenden nordamerikanischen Stadt aufwächst. Für ihren zweiten Film Treeless Mountain reiste Kim nach Südkorea. Er handelt von zwei Kindern, die von ihrer Mutter verlassen wurden, und bleibt damit bei ihrem Thema verletzliche Figuren, die schwierigen Herausforderungen gegenüberstehen. Lance Hammer, ein weißer männlicher Regisseur, der jahrelang als Visual-Effects-Künstler für Hollywood-Filme gearbeitet hat, verließ diesen lukrativen Beruf und verbreitete seinen Film Ballast im Eigenvertrieb. Er handelt von einer schwarzen Familie aus Mississippi, die von einem Selbstmord aus der Bahn geworfen wird (meines Wissens, ohne dass ihm vorgeworfen wurde, dass er aus seiner privilegierten Situation heraus schwarze Menschen ausbeuten oder bevormunden würde). Kim, Fleck, Reichardt und Courtney Hunt, Regisseurin von Frozen River (2008) – letztere in Scotts Artikel zwar nicht erwähnt, aber eine mögliche Ergänzung der Gruppe – sind weiblich und erzählen oft Geschichten von resilienten Frauen, die sich in schwierigen Umständen durchsetzen müssen. Zusammengefasst kann man sagen, dass der US-amerikanische

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Neo-Neorealismus sowohl was seine Akteure und Akteurinnen als auch seine Figuren betrifft vielfältiger ist als der Hollywood-Mainstream, aber auch als sein italienisches Vorbild.8 Diese Bandbreite an Visionen ergibt ein kollektives filmisches Porträt der Vielfalt in den Vereinigten Staaten des 21. Jahrhunderts, in denen Menschen am Rande der Gesellschaft darum kämpfen müssen, als sozial oder materiell Gleichgestellte anerkannt zu werden – wobei einige dabei erfolgreicher sind als andere. Während Scott und andere den italienischen Neorealismus problemlos als gemeinsamen Bezugspunkt für diese US-Filme ansehen, ist es den Kritikern und Kritikerinnen der Berliner Schule merklich unangenehm, den Realismus als stilistisches Schnittmuster der Bewegung zu nennen. In einem Artikel über die Arbeit von Henner Winckler hat Marco Abel realistische Lesarten seiner und anderer Filme der Berliner Schule insofern eingeschränkt, dass er argumentiert, dass die Filme sich weder auf bestimmte Repräsentationsstrategien stützen, um einen möglichst hohen Grad an Authentizität zu erreichen, noch Kritik an erkennbaren sozialen Problemen leisten, um damit auf pädagogische Weise die Sympathien des Publikums wecken. (Letzteres trifft insbesondere auf die italienischen neorealistischen Klassiker zu, die von kollektivistischen Ideologien geprägt sind.) Abel warnt davor, dass eine solche Konzeptualisierung der Filme der Berliner Schule einer unterkomplexen Idee des Realismus Vorschub leistet, die nicht berücksichtigt, dass Bildern des Gewöhnlichen ein nicht zu unterschätzender Verfremdungseffekt innewohnt (Abel 2015). André Bazin behauptet, dass Realismus notwendigerweise das Ergebnis von bestimmten künstlerischen Verfahren ist und nicht auf die Vorstellung reduziert werden kann, wie sehr ein Film der Realität ähnelt. Anstatt sich zum Beispiel darauf zu beschränken, die Ästhetik der Berliner Schule dem repräsentationalem Realismus zugehörig zu erklären, weil sie lange Einstellungen und sorgfältig komponierte Bildausschnitte einsetzt, argumentiert Abel, dass viele Filme der Berliner Schule »durch ihre raum-zeitliche Präzision […] die Aufmerksamkeit des Publikums erregen, sodass wir die außergewöhnlichen Qualitäten des ansonsten eher gewöhnlichen Lebens sinnlich erfahren und so erst auf sie aufmerksam werden« (Abel 2012: 31). Die Realität wird abstrahiert, um sie sinnlich erfahrbar zu machen, anstatt sie mit den Kennziffern dessen abzugleichen, was wir als reales Leben verstehen. In Anknüpfung an Wincklers Filme stellt Abel die These auf, dass seine Filme nicht voraussetzen, dass die Zuschauer/-innen die Fähigkeit haben müssen, zu unterscheiden, was bekannte und was unbekannte Elementen des

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Es gibt natürlich weitere wichtige Unterschiede zwischen den italienischen und den US-amerikanischen Filmen, einschließlich der Produktionsbedingungen, mit denen die neorealistischen Regisseure im Italien der Nachkriegszeit konfrontiert waren und die viele Charakteristika des Realismus notwendig machten und beeinflussten.

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Alltagslebens sind; der Anschein von Realismus sei nichts anderes als eine »sorgfältig modulierte ästhetische Strategie der Entdifferenzierung« (Abel 2015), die die Zuschauer/-innen dadurch emotional berührt, dass sie mit den unbeachteten Mysterien der Normalität konfrontiert werden statt mit klar hierarchisierten dramatischen Gesten. Möglicherweise ist es gerade dieser Anschein von Indifferenz, der Kritiker/-innen dazu bewogen hat, den Filmemachern und Filmemacherinnen der Berliner Schule vorzuwerfen, sie interessieren sich nicht für Politik. Diese Klagen rühren auch von einem zu engen Verständnis, wie politischer Film aussehen soll, was in erster Linie ein inhaltlicher Anspruch ist. Abel argumentiert stattdessen, dass die Bewegung gerade deshalb politisch ist, weil sie »eher versucht, Bilder für eine Realität nach dem Mauerfall neu zu erfinden, als das gegenwärtige Deutschland zu repräsentieren« (Abel 2010: 276). Daraus folgt die logische Frage, die in einem Sammelband, der die Berliner Schule in den Kontext des internationalen Arthouse-Kinos stellt, fast schon zwingend ist, nämlich inwieweit die von Abel erwähnte Strategie der Entdifferenzierung auch auf andere filmische Bewegungen anwendbar ist. Der US-amerikanische Neo-Neorealismus, der oberflächlich betrachtet die gegenwärtigen Lebensbedingungen in den Vereinigten Staaten beschreibt und den Hochhäusler als eine Art Cousin der Berliner Schule annimmt, bietet einen idealen Rahmen für eine solche Frage. Allerdings unterscheidet sich Abels Begriff der Entdifferenzierung vom repräsentationalen Realismus, den Scott in seinem Essay nutzt, um die genannten zeitgenössischen US-Filmen zu beschreiben – ein Realismus, der das »echte Leben« durch »eine so mysteriöse wie flüchtige Verschmelzung von dokumentarischen und theatralischen Elementen« darstellt (Scott 2009a). Scotts Artikel stieß auf Widerspruch, der eine entscheidende Klarstellung erzwang. Ein gewichtiges Gegenargument kam von Richard Brody im Magazin New Yorker, der darauf hinwies, dass der Realismus im US-Kino eine lange Tradition hat, sowohl in Hollywood als auch im unabhängigen Kunstkino (Brody 2009). Scott antwortete, er habe sich bemüht, »den Begriff Neorealismus locker und eher im lockeren Sinne zu verwenden, um nicht einen bestimmten Stil, eine Schule oder eine Bewegung zu beschreiben, sondern vielmehr eine filmische Ethik, die in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeitpunkten in verschiedenen Formen aufgetaucht ist und die nun in einigen Bereichen des amerikanischen Independent-Kinos neue Blüten zu entwickeln scheint« (Scott 2009b, Hervorhebung hinzugefügt). Für Scott besteht der Zusammenhang zwischen dem italienischen Neorealismus der Nachkriegszeit und dem US-Neo-Neorealismus nach dem 11. September 2001 im Wesentlichen nicht in den konventionellen stilistischen Elementen des Realismus, sondern in einer nebulösen ideologischen Verwandtschaft, die sich darin zeigt, dass diese Filme die materielle Existenz der Arbeiterklasse mitfühlend portraitieren (Brody hält in seinem Artikel

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dagegen, dass dies auf Kosten von psychologischer Charakterisierung und Mehrdeutigkeit gehe [Brody 2009]).9 Es geht mir weniger darum, in der Auseinandersetzung zwischen Scott und Brody einen Gewinner zu küren, sondern vielmehr darum, darüber nachzudenken, ob Hochhäuslers Wortwahl (»ein bestimmter Erzählansatz und ein spezifisches Figurenkonzept«) in Bezug auf die gemeinsamen Qualitäten der Berliner Schule und des US-amerikanischen Neo-Neorealismus mit Scotts Argument aus seiner Antwort auf Brodys Kritik zusammengebracht werden kann. Wenn man nämlich lediglich die formalen Qualitäten der Filme näher betrachten würde, dann könnte man tatsächlich die Berliner Schule und den US-Neo-Neorealismus als Teil einer »internationalen neuen Welle« des filmischen Realismus in einen Topf werfen. Aber ich behaupte, dass diese Filme wichtige Differenzen aufweisen, die auf die Unterscheidung zwischen Verfremdungseffekt und gegenständlichem Realismus zurückzuführen sind. Während der Realismus vorgibt, Entsprechungen zwischen der Filmwelt und der realen Welt zu erzeugen, wie unvollkommen oder künstlich sie auch sein mögen, damit wir uns leichter mit den Figuren oder Situationen auf der Leinwand identifizieren können, so zwingt die Verfremdung die Zuschauer/-innen dazu, ihre alltäglichen Wahrnehmungen über die Realität zu hinterfragen, um das Vertraute wieder fremd erscheinen zu lassen. In der Berliner Schule entsteht die Verfremdung zu einem großen Teil dadurch, dass die Filme an dramatischen Verwicklungen und klar artikulierter filmischer Bedeutung scheinbar kein Interesse haben – was wir an dieser Stelle genauer als Entdramatisierung bezeichnen können. Im Folgenden greife ich diesen Punkt auf und untersuche zwei emblematische Werke aus dem Kontext der Berliner Schule und der USA: Wincklers Spielfilm Lucy von 2006 und Reichardts Wendy and Lucy von 2008. Beide Filme stellen die Probleme junger weiblicher Protagonistinnen dar: In Lucy versucht eine 18-jährige Mutter, ihr Baby außerhalb eines stabilen familiären Umfelds aufzuziehen; in Wendy and Lucy verliert eine obdachlose junge Frau ihren Hund, als sie auf dem Weg nach Alaska, wo sie Arbeit finden will, in Oregon hängenbleibt. Auf formaler Ebene scheinen sich beide Filme zu ähneln: Kameraführung mit langen Einstellungen, Bevorzugung von diegetischem Ton gegenüber nicht-diegetischer Musikuntermalung, der Dreh an Originalschauplätzen und andere Merkmale des vermeintlich realistischen Films. Jedoch möchte ich betonen, dass sich die entdramatisierte Natur von Lucy von der sehr wohl dramatischen Struktur und Rhetorik in Wendy and Lucy unterscheidet. Ich sehe wichtige Unterschiede in Bezug darauf, welche narrativen Informationen jeder Film jeweils liefert – oder vermeidet zu liefern – und wie dies die Sympathien des Publikums und den jeweiligen gesellschaftspolitischen 9

Mehr zu Brodys Kritik am Neorealismus direkt bezogen auf Wendy und Lucy kann man in seiner Filmkritik »Against ›Wendy and Lucy‹« lesen (New Yorker 10.12.2008, https://www.newy orker.com/culture/goings-on/against-wendy-and-lucy [letzter Zugriff 2.6.2022]).

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Kommentar beeinflusst. Um meinen Standpunkt zu verdeutlichen, beschäftige ich mich näher mit der Darstellung des Kampfs gegen widrige Umstände in den beiden Filmen: Wie die Notlage der jungen Frauen beschrieben wird, wie Sympathien erzeugt werden und was für ein gesellschaftlicher Kommentar, wenn überhaupt einer, aus diesen Prozessen entsteht. Schließlich argumentiere ich, dass ungeachtet des thematischen und formalen Widerhalls in beiden Filmen wir die ästhetischen und politischen Möglichkeiten der Berliner Schule sinnvollerweise mit anderen Kontexten in Beziehung stellen müssen. Lucy und Wendy and Lucy nutzen unterschiedliche Herangehensweisen, um sich ihren Protagonistinnen zu nähern, was zu subtil unterschiedlichen strukturellen und formalen Entscheidungen führt, die die Besonderheiten der Berliner Schule im Vergleich zum US-Neo-Neorealismus zur Geltung bringen.

Lucy Obwohl Henner Winckler keine prominente Figur im Umfeld der Berliner Schule ist, argumentiert Abel, dass die Umstände seiner Produktionen, seine professionellen Kollaborationen und die Eigenschaften seiner Filme »[ihn] nicht an die Peripherie [der Schule], sondern in ihr Zentrum positionieren« (Abel 2015). Seine Ästhetik, die sich in ausgewählten Kurzfilmen und in den beiden Spielfilmen Klassenfahrt (2002) und Lucy zeigt, wurde als »quasi-dokumentarische Inszenierung« beschrieben, die geprägt ist von künstlerischen Verfahren, die zu den üblichen Verdächtigen im Zusammenhang mit dem filmischen Realismus gehören. Abel plädiert jedoch für eine affektbasierte Lesart von Wincklers Arbeiten und stellt fest, dass ein strenger repräsentationaler Realismus – also eine Übereinstimmung zwischen »der Filmwelt« und »der realen Welt« – seine Filme nicht ausreichend begreiflich machen kann. Abels entscheidende Beobachtung besteht darin, dass Wincklers Talent vor allem darin liegt, alle Ereignisse mit dem gleichen Grad an (Des-)Interesse darzustellen – eine Strategie der Entdramatisierung, die nicht so sehr »repräsentiert« als vielmehr die Momente erfahrbar macht, an denen (alltägliche) Transformationen im Leben seiner Figuren stattfinden. Um das an einem frühen Beispiel durchzudeklinieren: Klassenfahrt zeigt die Reise einer deutschen Oberstufenklasse an die polnische Ostseeküste und die heiklen zwischenmenschlichen Verwicklungen, in die der introvertierter Schüler Ronny (Steven Sperling) gerät, als er sich in Isa (Sophie Kempe) verknallt, die ebenfalls Außenseiterin ist. Kurz scheint ein Konflikt aufzublitzen, als Marek (Bartek Blaszczyk), ein gutaussehender polnischer Hotelangestellter, ebenfalls beginnt, um Isas Zuneigung zu werben, aber der Film enttäuscht die Erwartungen und ignoriert die übliche Spannungskurve eines solchen dramatischen Aufbaus. Irgendwann fordert Ronny in einem Anfall maskulinen Draufgängertums Marek heraus, von einer Klippe ins Meer zu sprin-

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gen. Marek verschwindet im Wasser, aber Ronny benachrichtigt nicht die Polizei; Mareks Schicksal wird bis zum Ende des Films nicht aufgeklärt. Der Film weigert sich, Mareks Tod zu bestätigen und schlägt kein dramatisches Kapital daraus, dass Ronny es unterlässt, etwas zu unternehmen, als sein Rivale im Meer verschwindet. Laut Abel signalisiert er damit Wincklers Intention, alle Ereignisse mit dem gleichen Grad an Interesselosigkeit darzustellen. Diese Absicht wird dadurch untermauert, dass der Film sich weigert, den sozioökonomischen Hintergrund seiner Figuren zu klären, sowie durch seine Kameraführung, die konsequent die Perspektive der Figuren in der Diegese – der erzählten Handlung – einnimmt, statt künstlich konstruierte, dramatisch aufgebaute Tableaus für ein imaginiertes Publikum zu bieten. Mit anderen Worten, der Film unterscheidet nicht scharf zwischen den Figuren und den Kameraperspektiven, sodass die Zuschauer/-innen keine Chance haben, Bilder oder Ideen, die sie aus der realen Welt kennen, sauber zu organisieren oder hierarchisieren. In Interviews hat Winckler mehrfach gesagt, dass er sich wünschte, dass mehr Filme auf diese Weise gemacht werden, das heißt, »ergebnisoffen«, ohne klares propagandistisches Bild von der Welt, das von vorgefertigten stilistischen Mitteln befördert wird. Seine Filme hingegen »betrachten alles mit der gleichen Haltung: beobachtend, neugierig, nichtbeurteilend und ohne erkennbare Vorurteile« (Abel 2015). Was eine vertraute Geschichte einer ersten Liebe, die von einer dramatischen Wendung eingeholt wird, werden könnte, wird zu einer merkwürdig berührenden Reise, bei der die Zuschauer/-innen damit konfrontiert werden, das gegenwärtige Deutschland auf neue Weise wahrzunehmen.10 So wie Klassenfahrt dazu einlädt, ihn mit den gängigen Darstellungsweisen in Coming-of-Age-Filmen zu vergleichen, diese aber letztlich untergräbt, so tut Wincklers späterer Spielfilm Lucy dasselbe für Sozialdramen über problematische Jugendschwangerschaften. Maggys (Kim Schnitzer) Misere – eine junge Mutter im Teenageralter, die die Schule abgebrochen hat, um ihr Baby Lucy aufzuziehen, während sie bei ihrer Mutter lebt, die selbst sehr jung mit Maggy schwanger wurde – ähnelt so gesehen einer Vielzahl melodramatischer Geschichten über alleinerziehende, unvorbereitete Teenager-Eltern. Doch trotz dieser Figurenkonstellation umgeht Winckler die üblichen Klischees und den moralisch erhobenen Zeigefinger, indem er sich weigert, diese Situation explizit als Problem zu benennen, und indem er die Handlung auf dem Bildschirm ästhetisch nivelliert. Die deutlichsten 10

Abel geht einen Schritt weiter und behauptet, dass die Ästhetik der Entdifferenzierung in Wincklers Film – in der die deutschen Jugendlichen Polen nicht als neu oder anders als Deutschland registrieren und die Protagonisten und Protagonistinnen sich nicht in dramatische Intrigen verstricken – eine »indifferente Perspektive« aufbaut, die parallel zur Aufhebung von Klassenunterschieden in neoliberalen Gesellschaften verläuft. Für Abel haben die neoliberalen Verhältnisse Deutschland inzwischen so weit durchdrungen, dass die Figuren in Wincklers Filmen ihre Auswirkungen nicht mehr wahrgenommen können. Damit eröffnet sich im Film die Möglichkeit, diese Verhältnisse für das Publikum greifbar zu machen.

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Beispiele für diesen Ansatz zeigen sich nicht darin, was im Film passiert, sondern darin, was nicht passiert. Das Publikum erwartet aufgrund von erlernten Erzählkonventionen, dass an verschiedenen Stellen des Films eine Krise oder eine dramatische moralische Entscheidung auftaucht: Zum Beispiel, wenn Maggy ihrer Mutter sagt, dass sie Lucy mitnimmt, um zu ihrem neuen, ebenso jungen Freund Gordon (Gordon Schmidt) zu ziehen; wenn Gordon die Anwesenheit des Babys in seiner Wohnung unterschwellig nervt; oder wenn Gordon Maggy zur Rede stellt, weil sie Lucy allein gelassen hat, um Bier zu kaufen. Abel bemerkt: »Aber während wir die ganze Zeit darauf warten, dass irgendwann etwas Schlimmes passiert – weil wir es von anderen Filmen so gewohnt sind –, geschieht nie etwas wirklich Dramatisches.« (Abel 2015) Die vorhersehbare Frage, die im Hinterkopf umherschwirrt – »Wird Maggy ihr Kind verlassen?« – und die in konventionelleren Filmen die Handlung vorantreiben würde, wird ebenfalls nie zum Plot Point. Das Schlimmste, was Maggy tut, ist der oben erwähnte Bierkauf, der nach einigen harschen Worten von Gordon kein Thema mehr ist. Winckler ist nicht daran interessiert, sozialkritische Filme zu machen, die darauf abzielen, gesellschaftliche Zustände oder gar individuelle Handlungen zu verurteilen. Wie er in einem Interview über Lucy sagte: »Ich denke, es gibt sehr viele Filme, die unseren Filmen ähneln, die aber trotzdem die Welt erklären und nicht eine Frage formulieren […] Die kommen mit einer klaren Aussage daher und benützen diese Mittel, um ein propagandistisches Bild von der Welt an den Mann zu bringen.« (Abel 2015). Anstelle von dramatischen oder didaktischen Lektionen über die Gefahren der Elternschaft von Teenagern kehrt Winckler zu seinen Bildern zurück, die Maggys alltägliche Handlungen mit den Folgen einer Realität tränken, die sie selbst gerade erst entdeckt. Einstellungen in der Totale oder Halbtotale, die zeigen, wie sie den Kinderwagen über weitläufige städtische Plätze schiebt, verdeutlichen ihre Isolation von ihrem sozialen Milieu, in das sie eigentlich gerne zurückkehren würde, während ihre Versuche, den Kinderwagen Treppen hinauf- und hinunterzuzerren oder sich mit ihm in U-Bahnwägen zu zwängen, normalisierte Einblicke in ihren neuen beeinträchtigten Zustand gewähren. Viele dieser Szenen sind mit statischer Kamera und minimalen oder nichtvorhandenen Schnitten gedreht, eine ästhetische Konsequenz von Wincklers entdramatisierter Philosophie. Als Gordon Maggys Mutter zum ersten Mal in der Küche begegnet, zeigt die Kamera die Szene aus Hüfthöhe und ist dabei still und unbeteiligt. Die beiden tauschen unbeholfene Begrüßungen aus, interagieren aber sonst kaum. Die Missbilligung der Mutter dem neuen Freund ihrer Tochter gegenüber, der seelenruhig am Frühstückstisch sitzt, wird auch in der Nahaufnahme ihres Gesichts nicht deutlich, sodass es schwierig ist, den dramatischen Gehalt der Szene einzuordnen. Konventioneller Schnitt oder Kameraführung im Hollywood-Stil würden solche Mikrodramen leichter lesbar machen; denn Schnitt und Kameraführung hierarchisieren Informationen, indem sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer/-innen auf Details oder Aspekte len-

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ken, die als wichtig erachtet werden. Indem Winckler es vermeidet, solche kleinen, aber wichtigen Bedeutungselemente zu setzen, macht er sein Diktum wahr, »alles mit der gleichen Haltung zu betrachten« (Abb. 4.1).

Abbildung 4.1: Der Beginn von ›Lucy‹, eine statische Zweier-Einstellung mitten im Gespräch.

Durch die Banalität dieser Ereignisse wirkt Lucy – im Unterschied zu den emotionalisierten Dramen mit genau ausgearbeiteten Handlungselementen –, als ob die Figuren das Leben gerade erst entdecken, und weniger, als ob die Geschichte für ein Publikum konstruiert wurde. Ähnlich wie Ronny in Klassenfahrt, der am Ende des Films in den Bus nach Hause steigt und seine unauffällige Außenseiterrolle unter seinen Klassenkameraden und -kameradinnen wieder aufnimmt, bleibt Maggy bis zum Ende des Films unverändert. Ihr Verhalten gegenüber ihrer Tochter bleibt von Anfang bis Ende gleich, ohne dass ihr emotionales oder finanzielles Wohlergehen ernsthaft gefährdet ist. Gordon gesteht Maggy schließlich, dass er in seinem Alter nicht den Papa für das Kind eines anderen spielen will, und ihre anschließende Trennung, die als ein melodramatischer Moment hätte konstruiert werden können, wird dadurch vollzogen, dass die beiden jungen Erwachsenen am Eingang eines Nachtclubs wissende Blicke austauschen. Nach der Trennung von Gordon hat Maggy einen One-Night-Stand mit einem Mann, den sie in einer Bar aufgegabelt hat. Sie verlässt ihn am nächsten Morgen, was die Auswirkungen ihrer Trennung von Gordon und die angeblichen gesellschaftlichen Beschränkungen junger Mütter relativiert. Sie bricht nie zusammen, erlebt keine Offenbarung, die als moralischer Kern einer sozialkritischen Erzählung dienen könnte. Die einzige Szene, aus der wir möglicherweise eine Veränderung in Maggys Denken oder ein Zeichen von Reife herauslesen könnten, tritt ein, als sie dem Vater des Kindes,

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Mike (Ninjo Borth) (der erst jetzt seine Elternrolle einnehmen möchte, nachdem er sich vorher vor der Verantwortung gedrückt hat), vorsichtig sagt, dass sie vielleicht »einen Fehler gemacht« hat, als sie bei Gordon eingezogen ist. Mike stimmt dem zu, und das war’s: Entscheidungen und Reue, Trennungen und Wiederbegegnungen, werden auf die gleiche Weise darstellt und mit der gleichen statischen Kameraeinstellung eingefangen, die sich weder mit den Figuren identifiziert noch sie verurteilt.

Abbildung 4.2: Maggy in Gedanken – vielleicht über ihre Mutterrolle? Aber eine Offenbarung gibt es nie.

All diese Einzelheiten weisen auf eine filmische Herangehensweise hin, in der »dramatische Momente einfach ein Teil des täglichen Gangs der Dinge sind« (Abel 2015), und dienen somit als Gelegenheit für die Zuschauer/-innen, dem Leben auf eine Weise zu begegnen, die nicht von vorgegebenen Zeichen abhängt, die an konventionelle Vorstellungen von Authentizität appellieren. Dieser Gedanke wird auf einem Plakat, das in Gordons Wohnung hängt, persiflierend aufgegriffen: Eine Collage aus dicht nebeneinanderstehenden Alkoholflaschen mit dem Text »Life is Full of Difficult Decisions«. Es ist ein billiger Studentenwitz, aber mit einem ironischen Dreh, da der Film sich weigert, sich mit den schwierigen Entscheidungen zu beschäftigen, die Maggy als Teenager-Mutter treffen müsste – Entscheidungen, die ihre Misere für das Publikum lesbar und unmittelbar nachvollziehbar machen würden. Dies ist eine vollkommen andere Art, den Kampf für ein besseres Leben in Bildern zu fassen als bei Wendy und Lucy, der zwar mit Lucy die geduldige beobachtende Annäherung an seine Protagonistin teilt, der aber letztlich bestimmte (zwar nuancierte) Verfahren des repräsentationalen Realismus einsetzt, um dra-

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matische Momente einer spezifischen und schwierigen kulturellen Situation darzustellen (Abb. 4.2).

Wendy and Lucy Scott bezeichnete die Premiere von Wendy and Lucy in Cannes 2008 und den Kinostart im Anschluss als »weniger eine Vorahnung der harten Zeiten, die [in den USA] kommen sollten, als vielmehr eine Bestätigung, dass sie nun tatsächlich angebrochen sind« (Scott 2009a). Wendy (Michelle Williams), die titelgebende (menschliche) Figur des Films, ist eine junge Frau ohne Geld und ohne Wohnung. Sie ist mit ihrem Auto auf dem Weg nach Alaska, weil sie gehört hat, dass es dort Arbeit gebe. Deshalb hat sie ihren Hund Lucy eingepackt und sich auf den Weg gemacht, um dort wieder auf die Beine zu kommen. Unterwegs gerät sie jedoch in Schwierigkeiten: In einer Stadt in Oregon springt ihr Auto nicht an, die Reparatur ist teuer, sie hat keinen Schlafplatz, und während sie wegen Ladendiebstahl in einer Arrestzelle festsitzt, verschwindet Lucy. Das klingt nach einer Menge Handlung, aber wie in den anderen neo-neorealistischen Filmen nimmt Wendy and Lucy gegenüber den Figuren eine beobachtende Haltung ein, wodurch die Zuschauer/-innen eher an den gezeigten Umständen und Situationen teilnehmen, als dass sie von der Handlung mitgerissen werden. Reichardts bedächtiges Tempo, die langen Einstellungen und der sparsame Einsatz von Dialogen und nicht-diegetischer Musik fokussieren unsere Aufmerksamkeit auf Wendy als Figur, für die wir Sympathien entwickeln. Diese Leidenschaft für die Beobachtung bleibt den ganzen Film hindurch erhalten, etwa wenn die Kamera Wendy auf der Suche nach Lucy durchgängig folgt oder wenn sie über Wendys Notizbuch schwebt, wo diese ihre schwindenden Geldreserven festhält. Allerdings verwendet Wendy and Lucy – im Gegensatz zu der Art, wie Winckler Maggys Schwierigkeiten mit den Mitteln der Entdramatisierung darstellt – sowohl thematisch als auch ästhetisch eine relativ direkte repräsentationale Art der Darstellung – wenn auch dadurch differenziert, dass Reichardt eine talentierte Geschichtenerzählerin ist, die Wendys Situation in der Tat zuspitzt und dramatisiert. Wendy and Lucy versucht, einen Mittelweg zwischen expliziter Kritik an sozialer Ungleichheit und formaler Subtilität und Zurückhaltung zu gehen, und schildert dadurch eine Realität, die bereits vom Politischen durchdrungen ist – eine »softe Politik«, die darauf abzielt, den angespannten Zeitgeist des Landes darzustellen, ohne konkrete politisch-agitatorische Änderungsvorschläge zu machen. Die Formulierung in der Los Angeles Times trifft das sehr gut, indem sie Reichardts Film als »so vernichtend wie jeder Ken-Loach-Film, obwohl er im Flüsterton predigt, nicht in voller Lautstärke«, beschreibt (Adams 2008). Man könnte damit beginnen zu fragen, ob und auf welche Weise Wendy and Lucy – im Unterschied zu Wincklers Entwurf der Figuren und Handlungsstränge

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in Lucy – von Anfang an als Porträt der Auseinandersetzung mit einer rücksichtlosen oder unterdrückerischen Gesellschaft konzipiert war. Viele Kritiker/-innen halten Reichardt für eine der politischeren Filmemacherinnen ihrer Generation.11 Auch ihr früherer Film Old Joy (2006) verwendet sogenannte realistische Verfahren, um die Geschichte zweier erwachsener Freunde zu erzählen, die trotz ihrer unterschiedlichen Lebenswege zu einem Campingausflug zusammenkommen, und deren Entfremdung voneinander durch forcierte Gespräche und halbherzige Erinnerungen deutlich wird. Der einzige Hinweis im Film, den man als Kommentar auf einen allgemeineren sozialen Unfrieden verstehen könnte, erfolgt in einer Szene, als eine Polit-Talkshow im Autoradio läuft, in der Experten und Anrufer/-innen sich aufgrund der politischen Spannungen in den Vereinigten Staaten nach dem 11. September anbrüllen. Trotzdem meinten einige Kritiker/-innen im zwischenmenschlichen Bruch der Freunde einen Kommentar auf die beschädigten sozialen Beziehungen zur Zeit der Präsidentschaft von George Bush zu erkennen. Der gesellschaftskritische Kommentar, den Reichardt in diesem früheren Spielfilm angelegt hatte, wurde in ihrem Nachfolgefilm über eine einsame Frau, die nach dem Verlust ihres Jobs und ihrer Wohnung quer durchs Land fährt, offensichtlicher. In einem Interview mit dem Filmemacher Gus Van Sant (Van Sant 2008) erläutert Reichardt, dass sie und ihr Drehbuchautor John Raymond bei der Arbeit am Film von zwei Einflüssen geprägt wurden: zum einen von der gesellschaftspolitischen Atmosphäre des Amerika der Bush-Ära, die einen Aufschwung eines egoistischen und selbstbezogenen Libertarismus erlebte; zum anderen vom fortschrittlichen Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse, das in den italienischen neorealistischen Filmen beschrieben wurde: Die Ursprungsidee von Wendy and Lucy entstand kurz nach dem Hurrikan Katrina, als wir Sprüche hörten, dass sich Menschen doch am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen sollten und dass ihr Leben aufgrund ihrer eigenen Faulheit so unsicher sei. […] Wir haben viel italienischen Neorealismus angeschaut und fanden, dass die Themen dieser Filme in Bezug auf das Leben in Amerika in den Bush-Jahren weiterhin aktuell zu sein schienen. Es gibt eine gewisse Art von Unterstützung, die die Gesellschaft gibt, und eine andere Art von Unterstützung, die sie nicht gibt. Wir haben uns Wendy als jemanden vorgestellt, die zur Miete wohnt, sie ist nicht versichert, sie kommt gerade so über die Runden, und nach einem Brand, den sie nicht verschuldet hat, verliert sie ihre Wohnung. Im Film erfahren wir nicht, was

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Sam Littman schreibt zum Beispiel, dass »nur wenige Filmemacher/-innen ihren Unmut über die Bush-Regierung und den Irak-Krieg in ihrer Arbeit so konsequent und eloquent zum Ausdruck gebracht haben wie Reichardt, wobei sich ihr politisches Engagement auf eine zurückhaltende Weise äußert, die besser zu ihrem Stil passt als die angriffslustige Art von Filmen wie ›Fahrenheit 9/11‹ (2004).« (Littman 2014).

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ihre Hintergrundgeschichte ist, aber wir stellten uns vor, dass Wendy sich in einer solchen Zwangslage befand. (Van Sant 2008) Die Figur der Wendy ist in Reichardts Film eindeutig ein Instrument, um die US-amerikanische Gesellschaft einer Kritik zu unterziehen – ganz anders als Maggy in Lucy. Wenn man von dieser Rahmung ausgeht, ist es kein Problem, bestimmte Aspekte von Wendy and Lucy mit bekannten italienischen neorealistischen Filmen in Verbindung zu bringen, die Klassenkämpfe in prekären wirtschaftlichen Zeiten thematisieren. Die deutlichsten narrativen Parallelen lassen sich mit Vittorio de Sicas Film Umberto D. (1952) ziehen. Er erzählt die Geschichte eines alternden Rentners, der seine Miete nicht mehr zahlen kann, nach seinem verlorenen Hund sucht und über Selbstmord nachdenkt, während er durch die Straßen Roms zieht. Es ist, als ob Reichardt und Raymond die Struktur von De Sicas Film umgedreht hätten: Statt eines alten Mannes, der nicht arbeiten kann und Angst hat, aus seiner Wohnung vertrieben zu werden, ersinnen sie eine junge Frau, die auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat verlässt und in eingeführter amerikanischer Weise »nach Westen« geht, um ihr Glück zu finden. Andere Anklänge an den italienischen Neorealismus bestehen aus einfachen ästhetischen Hommagen. Zum Beispiel sucht Wendy an einer Stelle das Tierheim auf, um nach Lucy zu suchen. Reichardt zeigt dies mithilfe der einzigen länger andauernden Kamerafahrt des Films, die Wendys Perspektive einnimmt, während sie vergeblich Hund für Hund und Zwinger für Zwinger entlangläuft. Die Szene ist zwar nicht exakt der Szene aus De Sicas Lardi di biciclette (Fahrraddiebe, 1948) nachgebildet – einer evokativen Kamerafahrt aus Riccis Sicht, wie er auf der Suche nach seinem gestohlenen Fahrrad auf dem Schwarzmarkt an einer Reihe von Fahrrädern entlangläuft –, aber beide erzielen den gleichen Effekt: Sie drücken die Hilflosigkeit des Individuums gegenüber einem gesellschaftlichen Zustand aus, der überwältigend und dem einzelnen gegenüber gleichgültig ist – im Fall von Wendy and Lucy in Gestalt einer Frau, die in einem Meer unerwünschter Tiere nach ihrem verlorenen Hund sucht, was als Hinweis auf schwierige wirtschaftliche Zeiten gelesen werden kann (Abb. 4.3). Ich will den Ernst des Verlusts von Riccis Fahrrad – von dem das Überleben seiner Familie abhängt – nicht mit den verlorenen Hunden von Umberto oder Wendy gleichsetzen; die Kontexte sind deutlich unterschiedlich und verlangen nach nuancierter Betrachtung. Alle genannten Figuren sind mit schweren wirtschaftlichen Bedrohungen konfrontiert, doch der Verlust von Umbertos und Wendys Hunden erscheint weit weniger bedeutsam im Vergleich zu Riccis existenzieller Zwangslage, wenn er sein Fahrrad nicht findet. Eine kritische marxistische Lesart zeigt, dass die rührselige Liebesbekundung Riccis und seines Sohns am Ende des Films die Familie weder mit Essen noch mit Kleidung versorgen wird. Ich erkenne diesen Einwand an, würde aber einwenden, dass in einem von wirtschaftlicher Unsicherheit geprägten Umfeld – wenn viele Menschen im selben sinkenden Schiff sitzen

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– das Drama um einen verlorenen Hund ganz anders emotional und symbolisch aufgeladen ist. Wenn Armut ganz einfach eine Tatsache ist – ein Teil des Alltags –, dann kommen andere Verluste und Nöte an die Oberfläche und gewinnen eine dramatischere Bedeutung. Dieses zusätzliche Drama verstärkt die Bedeutung der realexistierenden wirtschaftlichen Not, die bei Wendy and Lucy zentral ist, sodass der Film mehr mit den Zielen der Arbeiterklasse in den italienischen neorealistischen Klassikern gemeinsam hat als mit dem entdramatisierten Ansatz von Wincklers Lucy.

Abbildung 4.3: Eine Kamerafahrt in der Totale, in der man Wendy sieht, wie sie an baufälligen Häusern entlanggeht; das Graffiti »Goner« deutet darauf hin, dass ihre Aussichten bedrückend sind.

Damit ihr Film umfassendere gesellschaftliche Probleme ansprechen kann, kommentiert Reichardt die ökonomische Ungerechtigkeit in den USA in der Geschichte selbst. Am deutlichsten wird dies in einem Dialog zwischen Wendy und einem älteren Security-Angestellten, mit dem sie sich auf einem Parkplatz anfreundet. »Es gibt hier nicht viele Jobs, was?« fragt sie, als sie sich umschaut. »Man bekommt sowieso keinen Job ohne Adresse. Oder ein Telefon.« Der alternde Mann, der von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends arbeitet (was aber, wie er erklärt, immer noch besser sei als die Arbeitszeiten seines früheren Jobs), beklagt, dass unterbeschäftigte und arbeitslose Menschen von Anfang an die schlechteren Karten haben: »Ohne Adresse kriegt man keine Adresse. Ohne Job kriegt man keinen Job. Es ist ein abgekartetes Spiel.« Später bietet er Wendy ein Abschiedsgeschenk an, ein Bündel Bargeld, das er ihr unbedingt in die Hand drücken will. Die Kamera enthüllt schließlich den Betrag – sechs Dollar – und damit das Ausmaß ihrer gemeinsamen finanziellen Not. Auch in Wincklers Lucy ist die Realität der

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wirtschaftlichen Prekarität präsent, aber sie steht nicht so im Vordergrund und bildet auch nicht den Kern des Konflikts. Das mag daran liegen, dass das soziale Netz für wirtschaftlich schwache Menschen in Deutschland und den Vereinigten Staaten unterschiedlich funktioniert. Wendy repräsentiert eine von Millionen arbeitsloser und unversicherter Menschen zwischen Zwanzig und Vierzig, deren Chance auf den amerikanischen Traum auf Eis gelegt, wenn nicht gar komplett zunichte gemacht wurde. Da Reichardt eine bestimmte ökonomische Realität in den Vereinigten Staaten darstellen will, hebt sie mit ihren stilistischen und strukturellen Entscheidungen Wendys Notlage hervor, anstatt sie herunterzuspielen. Im Film weigert sich Reichardt, die Figur zu psychologisieren oder Hintergrunddetails über Wendys Vergangenheit mitzuteilen – wir erfahren nur, dass sie ihre Reise in Indiana begonnen und ein Fotoalbum mitgenommen hat –, aber sie wird dennoch auf eine Weise mitfühlend dargestellt, wie es Maggy in Lucy nicht wird. Es geht dabei um kleine Details, die aber einen großen Unterschied machen. Vergleichen wir die einleitenden Dialogsequenzen beider Filme. Lucy eröffnet in medias res mit einem Gespräch zwischen Maggy und Mike nach ihrer Trennung, während dem die Zuschauer/-innen sich selbst die handlungsrelevanten Informationen zusammenreimen müssen, um die Szene einzuordnen; Wendy and Lucy dagegen beginnen mit einer Sequenz, die unsere Sympathien für Wendys sich entwickelnde Situation erwecken soll. Wendy verliert Lucy im Film tatsächlich zweimal, das erste Mal während der Titelsequenz, als Lucy in den Wald davonrennt. Wendy folgt ihr zu einer Gruppe junger Obdachloser, die um ein Lagerfeuer sitzen. Ein Mann, Iggy (Will Oldham), hat ebenfalls in den Fischfabriken in Alaska gearbeitet und bestätigt, dass dort gutes Geld zu machen ist. Und doch hockt er hier in Oregon auf dem Land mit anderen Durchwanderern zusammen. Während Iggy eine weitschweifige Geschichte erzählt, wie er versehentlich Fischereigeräte zerstört hat, schaut sich Wendy in der Gruppe um, deren müde Gesichter von den Flammen beleuchtet und von Reichardts Kamera in statischen Einstellungen festgehalten werden. Bevor Iggy seine Geschichte zu Ende erzählen kann, sammelt Wendy, sichtlich ungeduldig, Lucy ein und entfernt sich. Wahrscheinlich erkennt sie, dass auch ihre Zukunft so aussehen könnte, da diese Leute vor nicht allzu langer Zeit dem gleichen Kurs folgten, und ihr gefällt nicht, was sie sieht. Obwohl dieser Filmanfang auf ähnliche Weise ästhetisch unaufgeregt erzählt wie die Eröffnung von Lucy, ist er jedoch in seiner Inszenierung und im Verhältnis zu seinem Inhalt nicht so »desinteressiert«, weil er erzählerisch die Weichen dafür stellt, dass es für Wendy um ihre Existenz geht und die wirtschaftliche Not einer ganzen Bevölkerungsgruppe verdeutlicht. Ein entscheidender Unterschied ist auch, dass der Eröffnungsdialog von Lucy in einer langen, statischen Einstellung aufgenommen ist; die Lagerfeuerszene mit den Durchwanderern in Wendy and Lucy verwendet Schnitte und Nahaufnahmen, die die Beschaffenheit der Grup-

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pe, Wendys Misstrauen ihnen gegenüber und ihre Sorge um ihre eigene Zukunft hervorheben. Es gibt noch andere Situationen, in denen Reichardt dem Publikum Informationen an die Hand gibt, die Sympathien für ihre Protagonistin wecken, während ganz ähnliche Situationen in Wincklers Film das nicht tun. Die Telefonate in den beiden Filmen sind hierbei aufschlussreich. In Lucy telefoniert Maggy oft mit potenziellen Babysittern oder um sich zu verabreden, aber das Publikum hört nie die Erwiderungen der Anrufer/-innen auf der anderen Seite; wir reimen uns den Sinn der Szene aufgrund der einseitigen Antworten Maggys zusammen. Erzählerisch hängt nichts Besonderes von den einzelnen Telefongesprächen ab. Sie alle haben dieselbe emotionale Färbung und halten die Zuschauer/-innen auf Distanz. Bei Wendy and Lucy unterscheidet sich das in zweierlei Hinsicht. Erstens setzt Reichardt das diegetische Schweigen in den Telefongesprächen gezielt ein, um die Spannung zu erhöhen und Empathie zu erzeugen. An mehreren Stellen im Film ruft Wendy das örtliche Tierheim an, um nachzufragen, ob Lucy inzwischen gefunden wurde, aber wie bei Lucy kann das Publikum die Antwort am anderen Ende der Leitung nicht hören, sodass uns nichts anderes übrigbleibt, als Wendys Gesichtsausdruck zu studieren und auf die (normalerweise) schlechten Nachrichten zu warten. Anders als bei Lucy sind wir aufgrund des Kontexts der Anrufe und der damit verbundenen Bedeutung – taucht der Hund im Tierheim auf? – aber emotional beteiligt, was für ein gewisses Maß an Spannung sorgt. Die zweite Art und Weise, wie Reichardt Telefongespräche darstellt, steht im Widerspruch zu dieser ersten Strategie. Kurz nachdem ihr Auto eine Panne hat, ruft Wendy ihre Schwester in Indiana aus einer Telefonzelle an. Die Antworten des männlichen Partners der Schwester, der den Anruf zunächst entgegennimmt, und der Schwester selbst, die schließlich auf einer anderen Leitung antwortet, sind für das Publikum hörbar. Wendy erklärt hastig und beschämt, dass es grade nicht so gut laufe und das Auto kaputt sei. Die Schwester und der Mann murmeln, dass sie nicht helfen können – oder wollen – und das Gespräch verpufft bald. Mit diesem kurzen Telefonanruf erfahren wir, dass Wendy keine Unterstützung von Freunden oder Familie erwarten kann. Man könnte dies als unwichtige Details abtun, aber Momente wie diese lenken die Identifikation der Zuschauer/-innen in die eine oder andere Richtung – in Maggys Fall in Richtung Interesselosigkeit, wo ein Telefongespräch einfach nur ein Telefongespräch ist; oder in Wendys Fall in Richtung Mitgefühl, wo die Kälte oder Ungewissheit, mit der sie konfrontiert wird – und die wir hören oder nicht hören –, ihren beschwerlichen Weg versinnbildlicht. Neben den Telefongesprächen gibt es noch weitere aufschlussreiche Momente der Dramatisierung bei Wendy and Lucy, die in den meisten Filmen der Berliner Schule kaum vorstellbar wären. Zwei Beispiele sind erwähnenswert. Das erste findet etwa nach einer Stunde des Films statt, wo in klassischen Hollywood-Drehbüchern normalerweise der Wendepunkt kommt, und zeigt das einzige wirklich

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gefährliche Ereignis des Films. Während ihr Auto in der Werkstatt ist, sucht sich Wendy im Wald in der Nähe der Eisenbahnstrecke einen Platz zum Schlafen. Aus der Dunkelheit erscheint ein männlicher Obdachloser, der zusammenhanglos vor sich hin murmelt. Als Wendy ihren Blick hebt, warnt er sie, ihn nicht anzuschauen. Dreißig Sekunden lang (die gefühlt viel länger dauern) flucht der Mann unkontrolliert, während Wendy vor Angst wimmert. Reichardt inszeniert das in der Nahaufnahme, die ihre mit Tränen gefüllten Augen zeigt. Die Spannung dieser Sekunden wird akustisch mit dem Geräusch eines vorbeifahrenden Zugs untermalt, dessen Räder auf den Gleisen ein quietschendes Geräusch machen und die verzerrten Worte des Mannes ersticken, während sie unser Unbehagen sensorisch erhöhen. Irgendwann zieht der Obdachlose davon und Wendy rennt in die Stadt. Die mit dieser Szene verbundene Drohung ist natürlich Vergewaltigung oder Mord; dass keines dieser beiden Ereignisse eintritt, schmälert nicht die Gefahr, die von der Begegnung ausgeht. Reichardt hebt dies dadurch hervor, indem sie zeigt, wie Wendy in eine Tankstellentoilette läuft, wo sie hyperventiliert, unkontrolliert weint und in Richtung Waschbecken flüstert: »Warte, mein Mädchen. Ich komme.« – eine Bemerkung, die sich an Lucy richtet, ein weiteres einsames weibliches Wesen, das mutmaßlich in einer gefährlichen Umgebung verloren und verängstigt aushalten muss. Diese Sequenz unterscheidet sich von den sensationalistischeren Darstellungen von sexueller Gewalt; in einem konventionellen Hollywood-Film würden wir den Obdachlosen wahrscheinlich klarer sehen und hören, um die Gefahr deutlicher zu machen. Durch Reichardts ästhetische Nuancierung zeigt sich die Sequenz unter dem Banner des Realismus, auch wenn sie bestimmte dramatische Strategien verwendet. Der Vorfall mit dem Obdachlosen, in der von Reichardt bevorzugten dezenten Filmsprache, verknüpft die Schicksale von Wendy und Lucy miteinander. Ein verlorener Hund steht für mehr als nur für einen verlorenen Hund.12 Ein zweites Beispiel für die filmische Dramatisierung ist das Wiedersehen – und die anschließende (endgültige) Trennung – von Wendy und Lucy, die eindeutig als emotionaler Höhepunkt der Geschichte ausgewiesen ist, etwas, das in Wincklers Film vollständig fehlt. Nachdem Wendy Lucy bei einer Pflegestelle für Hunde aufgespürt hat – bei einem freundlich aussehenden Mann mit großem Garten –, spielt sie mit ihr und geht dabei auf und ab. Sie erscheint zunächst unschlüssig und nachdenklich, bis sie sich schließlich ganz der Trauer hingibt. »Es tut mir leid, Lu«, sagt Williams unter Tränen. »Ich habe kein Auto mehr.« Uns wird bald klar, dass Wendy entschieden hat, Lucy zurückzulassen. Reichardt verwendet Nahaufnahmen, um die Entscheidung zu herauszustellen, und wechselt in die Zeitlupe, als Lucy verwirrt zurückblickt. Sie setzt auf einen klaren, aber nicht unverdienten,

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Scott argumentiert ähnlich bezüglich des verlorenen Hundes in Umberto D., der im Film als »Symbol und Symptom einer zunehmend herzlosen Gesellschaft« dient (Scott 2009a).

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dramatischen Höhepunkt. Die Sequenz hat ganz klar die Aufgabe, die Entbehrungen und schmerzlichen Opfer darzustellen, die Menschen unter harten Umständen bringen müssen. Dieses Opfer erscheint als die wahre Tragödie des Films, mehr noch als die vorbereitende Szene davor, in der Wendy erfährt, dass sie sich die Reparatur ihres Wagens nicht leisten kann. Wendys Auto ist, wie Riccis Fahrrad in Fahrraddiebe, für das Überleben seiner Besitzerin wesentlich wichtiger und sein Verlust ist die existentiellere Bedrohung, aber der emotionale Schlag in die Magengrube ist das Opfer von etwas anderem: einer Gefährtin in Wendy and Lucy und der Ehre eines Vaters in Fahrraddiebe, als Riccis Sohn miterleben muss, wie sein Vater ein anderes Fahrrad stiehlt. Das Leben ist voller schwieriger Entscheidungen (Abb. 4.4).

Abbildung 4.4: Wendy trifft ihre schwierige Entscheidung.

Schlussfolgerung Hochhäusler (2013) hatte Recht, als er sagte, dass die Berliner Schule etwas Wichtiges mit den Filmen der sogenannten neo-neorealistischen Bewegung in den USA gemeinsam hat. Als Gegenkinos zum dominanten Filmschaffen in beiden Ländern bieten die Bewegungen alternative Darstellungen des Alltags von Menschen, die normalerweise übersehen werden. Obwohl ich zugestehe, dass es gewisse stilistische Ähnlichkeiten gibt, war mein Ziel hier, die Darstellungen beider Filme von sich abmühenden Protagonistinnen und ihren gesellschaftspolitischen Charakter einer kritischen Untersuchung zu unterziehen. Ich habe gezeigt, wie zwei unterschiedliche Ansätze – Entdramatisierung und Neorealismus – für ähnliche Themen und Filmfiguren zu subtil unterschiedlichen strukturellen und formalen Entscheidungen führen, die weitreichende Konsequenzen für die Art und Weise haben, wie wir

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diese Filme rezipieren. Ich bin mit Abel der Meinung, dass die Filme von Winckler und die der anderen Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule in Bezug auf ihren Verzicht auf einen strikten repräsentationalen Realismus Anerkennung verdienen, angesichts der Flut von Erzählungen über Deutschlands Vergangenheit(-en), die international die filmische Darstellung des Landes seit 1989 dominiert haben. Ein Großteil der Begeisterung über die Berliner Schule rührt daher, dass sie diese starren Darstellungen ersetzt und dazu beigetragen hat, neue Bilder für ein neues Deutschland zu entwerfen. Auch die Filme des US-Neo-Neorealismus – von Reichardt, Hammer, Bahrani und anderen – stellen sich der Aufgabe, die US-amerikanische Filmkultur zu gestalten, und zwar nicht, indem sie vor Drama und Auseinandersetzung zurückschrecken, sondern indem sie gesellschaftliche Probleme in einem Zeitalter der Zerstreuung und des Spektakels ins Rampenlicht rücken.

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5 Kino als Digest, Kino als Verdauung Corneliu Porumboius Metabolism (2013) und das Kino der Berliner Schule Alice Bardan »Ich glaube, dass mein Land seine Vergangenheit weder verstanden noch ausreichend verdaut hat. Es ist eine Gesellschaft, die ständig in der Gegenwart gefangen ist, in einem Zustand der Bulimie.« – Corneliu Porumboiu

Die Filme von Corneliu Porumboiu, die üblicherweise als trockene Komödien über die immer noch spürbaren Auswirkungen des Totalitarismus auf das rumänische Volk angesehen werden, werden selten bis gar nicht im Zusammenhang mit der Berliner Schule diskutiert. Wer jedoch die Filme der Berliner Schule kennt, wird sofort zahlreiche Merkmale identifizieren, die die Arbeiten des rumänischen Regisseurs mit ihnen gemeinsam haben, etwa in der Art und Weise, wie sie das Publikums konzeptualisieren und ansprechen, indem sie allzu emotionalisierte Darstellungen des modernen Lebens vermeiden, formalen und ästhetischen Fragen eine erneute Aufmerksamkeit schenken und mit der Erzählzeit und der Darstellung von Raum experimentieren. Der bedeutende Einfluss von Autorenfilmern wie Michelangelo Antonioni und Eric Rohmer auf die Filme der Berliner Schule führt dazu,1 dass diese Zeit und Raum so wiedergeben, wie sie gesehen, gefühlt und gedacht werden, wobei die Energie der zeitlichen und räumlichen Affektivität im Vordergrund steht. Porumboius Filme verlagern den narrativen Schwerpunkt weg von dramatischen historischen Ereignissen hin zum Leben gewöhnlicher, einsamer Menschen, deren private Verwicklungen scheinbar nichts mit den öffentlichen Dramen Rumäniens zu tun haben. Sie setzen gleichermaßen auf eine »Ästhetik der Reduktion«, die statische Bildtableaus, langsame, minimal geschnittene Erzählbögen und eine 1

Vgl. Inga Pollmanns Beitrag in diesem Band für eine Diskussion zu Antonioni und der Berliner Schule.

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neutrale, fast dokumentarische Kameraführung beinhaltet. Der im Hintergrund bleibende Plot der Filme, die statischen und präzisen Einstellungen, der langsame Schnitt und die zurückgenommene Darstellung der Darsteller/-innen verleihen diesen Filmen ein einzigartiges Look-and-feel, das an die Atmosphäre der Filme der Berliner Schule erinnert. Dieser Essay skizziert die Verbindungen zwischen den Filmen der Berliner Schule und Porumboius Arbeit und konzentriert sich dabei vor allem auf Când se lasă seara peste Bucuresti sau metabolism (When Evening Falls on Bucharest or Metabolism, 2013). Er vergleicht die Verwendung der Mise en abyme (das künstlerische Verfahren des Bilds im Bild) in diesem Film mit der ganz ähnlichen Art und Weise, wie es in Christian Petzolds Barbara (2012) und Thomas Arslans Der schöne Tag (2001) eingesetzt wird. Dabei möchte ich argumentieren, dass der Film eine Art des Sehens inszeniert, die ihn letztlich komplexer und politischer macht, als es zunächst scheinen mag. Die Filme von Porumboiu sind vor allem für ihren Humor und ihre geschliffenen und geistreichen Dialoge bekannt. Dennoch nimmt der Filmemacher den Film als Medium ernst und setzt sich mit den Grenzen des filmischen Realismus auseinander, indem er die Fähigkeit des Kinos auslotet, uns eine objektive Darstellung des Realen zu geben. Wie bei den Filmemachern und -macherinnen der Berliner Schule ist die politische Haltung seiner Filme darauf gegründet, die Zuschauer/-innen mit statischen Bildern und disjunktiven Tönen zu konfrontieren, die sie dazu zwingen, ihr Verhältnis zum Geschehen auf der Leinwand neu zu bewerten und ihnen ein offenes, uneindeutiges Bild der Wirklichkeit zu vermitteln. In verschiedenen Interviews hat Porumboiu betont, dass seine Filme als eine Art fotografischer Vergrößerung von etwas gesehen werden sollten – ein Verweis auf Antonionis berühmten Film Blow up (1966). Dabei geht es ihm vor allem darum, uns darauf aufmerksam zu machen, wie wir das, was wir sehen, wahrnehmen und interpretieren. Sprache und Wahrnehmung sind daher für Porumboiu gleichermaßen wichtig, da seine Filme Bilder durch verschiedene bedeutungsgebende Prozesse ersetzen. Dabei steht im Vordergrund, dass Ereignisse immer vermittelt sind – sei es durch die widersprüchlichen Aussagen mehrerer Zeugen oder Zeuginnen, die ein Ereignis ganz unterschiedlich beschreiben, wie in A fost sau n-a fost? (12:08 Uhr Jenseits von Bukarest, 2006), oder durch diverse handgeschriebene Polizeiberichte, wie in Polițist, Adjektiv (Police, Adjective, 2009). Entscheidend ist jedoch, dass »das Ereignis«, das die verschiedenen Personen beschreiben, nicht im Bild gezeigt wird. Wesentlich für Porumboius Art des Filmemachens ist seine Weigerung, die wesentlichen Ereignisse zu zeigen, die die Erzählung vorantreiben, da er den Fokus von der eigentlichen Erzählung weg darauf verlagert, welche Auswirkungen die Handlung auf die Figuren hat, was Paul Cooke in seiner Diskussion über die Filme der Berliner Schule ebenfalls anmerkt (Cooke 2012, S. 77). In 12:08 Uhr Jenseits von Bukarest beispielsweise sehen wir weder die Bilder der Revolution noch dieje-

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nigen des Platzes der Stadt, auf dem »das Ereignis« stattgefunden haben soll, und auch in Police, Adjective sehen wir den Teenager, der die illegalen Drogen verkauft, nicht. In Metabolism wiederum bleiben die Aufnahmen der Szene, die geprobt und gedreht wird, unsichtbar, stattdessen wird uns nur gezeigt, wie sie simuliert und diskutiert wird. Wir erhalten eine gebrochene und indirekte Version der Realität, wie sie durch die Augen der Hauptfiguren wahrgenommen und – vielleicht entscheidender – durch ihre Sprache gefiltert wird, die das beschreibt, was sie sehen. In 12:08 Uhr spricht Porumboiu diese Idee des verschobenen Sehens explizit an, als der Fernsehmoderator Jderescu Platons Höhlengleichnis anführt – nur um eine weitere Verschiebung vorzunehmen: »Was wäre, wenn wir in eine andere, größere Höhle kämen, in der wir die Sonne für ein Strohfeuer hielten?« fragt sich Jderescu. In Police, Adjective wird der Prozess der Ersetzung des Sichtbaren durch Bilder, die eine Realität abbilden sollen, in der Szene deutlich, als Cristi (der Protagonist des Films) seine Frau fragt, ob sie beim Hören eines populären Liedes irgendwelche Bilder sieht. Für ihn, wie auch für die widerstrebenden Zuschauer/-innen von Porumboius Filmen, ergibt der Song »keinen Sinn«. Verwundert wiederholt Cristi die Fragen des Liedes: »Was wäre das Feld ohne die Blume? Was wäre das Meer ohne die Sonne? […] Sie wären immer noch ein Meer und ein Feld!« Cristis Frau, die Literatur unterrichtet, erklärt, dass das Lied Anaphern verwendet, um die wahre Liebe zu definieren. Der Text rufe für sie Bilder hervor, die ihrerseits zu Symbolen werden: Das Bild des Meeres wird zum Symbol der Unendlichkeit, die Sonne steht für das Licht, das Feld dient als Symbol der Geburt und der Schöpfung und die Blume als Bild der Schönheit wird zum Symbol der Schönheit. Es geht also um eine subjektive Vision, eine Veränderung der Bezeichnung, eine Abstraktion, eine Metonymie: Ein Ding oder ein Begriff wird nicht mit seinem eigenen Namen bezeichnet, sondern mit dem Namen von etwas, das mit diesem Ding oder Begriff in Verbindung steht – eine gebrochene statt eine repräsentierte Realität. Im Zusammenhang mit den Filmen der Berliner Schule schlägt Marco Abel vor, dass diese einen »a-repräsentationalen Realismus« entwickeln, der nicht darin besteht, »die Realität unmittelbar darzustellen, sondern eher die Realität des Bildes auszudrücken, sodass die gezeigte Welt ästhetisch autonom und von der empirischen Realität abstrahiert wird«. Dies helfe den Zuschauern und Zuschauerinnen schließlich, »das Verhältnis zwischen dem, was sie sehen, und dem, wie sie sehen, neu zu denken« (Abel 2013: 19). Die Frage ist also weniger, was die Bilder bedeuten, als vielmehr, wie sie uns unterwerfen, wie sie eine mimetische Beziehung zwischen der dargestellten Welt und der Realität herstellen, von der sie abstrahiert sind. Es ist »genau diese metonymische Beziehung, die die filmisch geformte Provokation affektiv zum Ausdruck bringt und uns dazu bewegt, sie mit zu unserer Welt zu verknüpfen, damit die existierende Lebenswelt uns wieder als fremd erscheint« (21).

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Die Entwicklung von Porumboius Werk beruht auf einem Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis, geboren aus dem Zwang, darüber zu sprechen und praktisch zu zeigen, was es bedeutet, heute in und über Rumänien Filme zu machen. So wie viele Filmemacher/-innen der Berliner Schule ist er ein »filmischer Spätentwickler« (um auf Christoph Hochhäusler zu verweisen [2013: 23]). Vor seinem Abschluss an der Nationaluniversität der Theater- und Filmkunst, wo er Regie studierte, studierte Porumboiu Management an der Wirtschaftsakademie in Bukarest. Dass die Mitglieder der Berliner Schule ebenfalls erst spät zum Filmemachen gekommen sind, hat Hochhäusler dazu veranlasst, ihre Filme als kinematografische Palimpseste zu bezeichnen, die »absichtlich ›heilige‹ Filmtexte überschreiben« – ein Art Metakino (24). Porumboius eigene Beschäftigung mit der Filmgeschichte hat ihn ebenfalls dazu veranlasst, zahlreiche dieser »heiligen« Texte zu überschreiben: Metabolism bezieht sich zum Beispiel direkt auf Jean Luc Godards Le Mépris (Die Verachtung, 1963), François Truffauts La nuit américaine (Die amerikanische Nacht, 1973) und Federico Fellinis La strada (La Strada – Das Lied der Straße, 1954), um nur einige zu nennen. Eine Szene in Die amerikanische Nacht zeigt den Filmregisseur Ferrand, der von Truffaut selbst gespielt wird, wie er ein Paket mit Büchern öffnet, die er bestellt hat – Bücher über legendäre Regisseure, die er bewundert, von Alfred Hitchcock bis hin zu Godard und Robert Bresson. Mit einem ebenso deutlichen cinephilen Augenzwinkern huldigt Metabolism der Filmgeschichte, indem es die DVD-Kollektion The Essential Art House: 50 Years of Janus Film (bestehend aus fünfzig Filmklassikern samt erläuternder Texte) in Pauls Zimmer prominent präsentiert. Und wenn wir Metabolism als eine Neuauflage des Melodram-Genres und als ein Beispiel für das Filmemachen im Modus der Selbstreflektivität betrachten, da der Film über den Prozess des Filmemachens selbst nachdenkt, dann kann man mit einiger Gewissheit sagen, dass sich Porumboius andere Filme an populären Hollywood-Genres abarbeiten beziehungsweise sie auf ihre eigene Art und Weise überarbeiten, ähnlich wie es die Filme von Regisseuren und Regisseurinnen der Berliner Schule tun, etwa Petzold oder Arslan. So beschrieb Porumboiu Police, Adjective als »Actionfilm ohne Action« (zitiert in Keough 2010) und Comoara (Der Schatz, 2015) als »lokalen Western« (zitiert in Reitzer 2016). Wie Petzold und Arslan muss Porumboiu daher als Filmemacher gesehen werden, der den Begriff des Auteurs innerhalb der Wirkungsweisen des internationalen Films und seiner verschiedenen Genres neu definiert (und nicht dagegen arbeitet). Damit bringt er uns dazu, nicht nur darüber nachzudenken, »wie diese Genres zirkulieren, sondern auch, wie sie sich in den verschiedenen Kontexten verändern« (Fisher 2011: 191), und dabei möglicherweise unpolitischere Genres umdefinieren. Jaimey Fisher hebt hervor, dass die Tatsache, dass einige Autorenfilmer/-innen die Mechanismen der Hollywood-Genres im Brecht’schen Sinne des Wortes »umfunktioniert« haben, als Eingreifen innerhalb einer bestimmten kontextuellen und historischen Situation gelesen werden sollte – nicht bezogen darauf, wie sie sich von

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Hollywood unterscheiden, sondern wie sie mit ihm in Dialog stehen. Das fordert uns dazu auf, den Autorenfilm und das Hollywood-Kino als »sich gegenseitig bedingende und konstitutive Teile eines umfassenderen Systems des internationalen Films als Ganzes« neu zu denken« (187). In einem Interview mit Graham Swindoll erklärt Porumboiu, dass er sein Selbstverständnis als rumänischer Filmemacher darin besteht, dass er sich zwischen Ost und West befindet, und seine Filme von Figuren handeln, die in einem ambivalenten Zustand gefangen sind (Swindoll 2013: 3–4). Diese geisterhaften Charaktere sind, wie diejenigen, die Petzolds Filme bevölkern, »Erinnerungen an die Ausgrenzungen des Kapitalismus«, die »die Mobilität, Entwurzelung und die daraus resultierende Entfremdung des modernen Lebens« veranschaulichen und sich intensiv mit »der spektralen Natur seiner Beziehungen, Transaktionen und Austausche« beschäftigen (vgl. das Kapitel »Ghosts« in: Cook et al. 2013: 147). Als er gebeten wird zu kommentieren, wieso er die klassische Erzählweise ablehnt, erklärt Porumboiu, dass für ihn »das Kino eine bestimmte Art ist, die Dinge zu betrachten. Der Blick hinter die Kulissen und das Zeigen der langen Pausen, des Wartens, erscheint mir wichtiger, als eine richtige Geschichte zu erzählen. Ich glaube, alle meine Filme handeln von diesem Zwischenzustand.« (Swindoll 2013) Der Titel des Films »When Evening Falls on Bukarest or Metabolism« handele »von einem Vakuum, einer Abwesenheit« und solle »das Gefühl beschreiben, immer zwischen den Dingen zu stehen, in einem Zwischenzustand, auf der Suche« (4). Auf der narrativen Ebene werden die Protagonisten und Protagonistinnen aus der Außensicht dargestellt, sodass ihre Handlungen oft unerklärlich bleiben und entgegen den Erwartungen stattfinden. Wie bei vielen Figuren, die die Filme der Berliner Schule bevölkern, lässt sich das Streben der Protagonisten und Protagonistinnen nach Subjektivität in Porumboius Filmen weder durch Behaviorismus (der Verhalten als vorsätzliche Handlungen autonomer Individuen interpretiert) noch durch Evolutionspsychologie (die Verhalten im Sinne genetischer Veranlagungen auslegt) erklären (vgl. »Interiority« in: Cook et al. 2013: 166). Anstelle melodramatisch an die Emotionen des Publikums zu appellieren, untersucht Porumboiu mit seinem filmischen Ansatz die Rhythmen des Alltags – das Schweigen, die Pausen, das Zögern, das einlullende Unbehagen beim Gespräch oder die Fremdheit einer flüchtigen Beziehung. Porumboiu ist nicht daran interessiert, »eine Geschichte zu erzählen«, die für Rumänen und Rumäninnen im Allgemeinen spricht oder in irgendeiner Form repräsentativ ist. Obwohl die Figur des Filmemachers in Metabolism angibt, dass er einen politischen Film macht, um den Menschen zu zeigen, »wie tief sie gesunken sind«, deutet die Abwesenheit jeglicher Didaktik im Film darauf hin, dass sich Porumboiu selbst vom fiktiven Regisseur und auch von anderen rumänischen Filmemachern und -macherinnen, die einen offen moralischen Ansatz verfolgen, distanziert. Dennoch betonte Porumboiu bei der Premiere des Films in Locarno, dass

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er tatsächlich einen politischen Film gemacht habe. Seine politische Positionierung muss jedoch im Zusammenhang mit der Auffassung gelesen werden, dass die Fähigkeit der Kunst zum Politischen in ihrer ästhetischen Natur liegt, nicht in ihrer Fähigkeit, eine (didaktische) Botschaft zu vermitteln. Wie Abel in Bezug auf Petzolds Arbeiten aufzeigt, sind seine Filme politisch, weil er sie auf politische Weise macht: Sie sind politisch »nicht trotz, sondern wegen ihrer Affirmation von Ästhetik« (Abel 2013: 107). Diese bewusste Betonung der Ästhetik, ihre ausgeprägten stilistischen Merkmale, durch die es seinen »handlungslosen« Filmen gelingt, die fruchtlosen Auseinandersetzungen, die vergeudete Zeit und die »Nicht-Ereignisse« des täglichen Lebens der Figuren darzustellen, verbindet Porumboius Filme mit der Berliner Schule. Metabolism weigert sich ausdrücklich, zu zeigen, »wie tief« die Rumänen und Rumäninnen gesunken sind, und gibt den Zuschauern und Zuschauerinnen stattdessen die Freiheit, ihre eigene Handlungsfähigkeit zu genießen, indem sie den Film selbst entdecken und interpretieren. Porumboius Filme versuchen ganz ähnlich wie die Arbeiten der Berliner Schule, politische Bedeutung herzustellen, indem sie die »Politik des Bildes« (Abel 2013: 18) untersuchen und zeitliche und räumliche Affektivität in den Vordergrund stellen. Insbesondere versucht er, konventionelle Sehweisen zu stören, indem er auf die Grenzräume der heutigen Gesellschaft und auf die tote Zeit zwischen der eigentlichen Handlung hinweist. Wie bei der Berliner Schule sind auch die Figuren in Porumboius Filmen eher Beobachter/-innen als Protagonisten oder Protagonistinnen. Dadurch bewahren sie ihr Geheimnis und lassen die Zuschauer/-innen über ihr Innenleben spekulieren. Besonders bei Metabolism verwendet Porumboiu eine affektlose Ästhetik, indem er »Emotionen darstellt, ohne zu emotionalisieren« (Baer 2013: 75), und durch die Verweigerung, ein befriedigendes Ende zu bieten, das er ersetzt durch »das Gefühl, dass etwas beendet ist, ohne dass das Neue schon Gestalt angenommen hat«, wie Hochhäusler die Filme der Berliner Schule beschreibt (2013: 23). Obwohl Metabolism starke Ähnlichkeiten mit der Ästhetik von Porumboius früheren Filmen aufweist, fördert sein thematischer Fokus eines Filmemachers, der über seinen eigenen Filmstil nachdenkt, selbstreflexiv seine eigenen stilistischen Strategien zutage. Paul, ein junger Regisseur, der mitten in den Dreharbeiten zu seinem neuen Film steckt, gerät in eine Art Arbeitskrise. Aus einem Impuls heraus erfindet er eine Ausrede – er müsse wegen einer Gastritis oder eines Magengeschwürs zum Arzt – und sagt seiner Produzentin Magda, sie solle die Produktion pausieren. Diese Verzögerung hat jedoch finanzielle Folgen, weshalb Magda von ihm verlangt, dass er einen Nachweis über die Magenspiegelung mitbringt, und außerdem aus Versicherungsgründen einen Arzt anruft, der diese am Set prüfen soll. Paul wiederum will anscheinend plötzlich ausprobieren, wie sein Film aus der Perspektive einer Nebenfigur aussehen könnte. Er bittet Alina, eine Nebendarstellerin, »eine Nacktszene zu spielen«, und sie stimmt zu, aber nur »wenn sie einem

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Zweck dient« (eine ironische Anspielung auf Porumboius filmischen Stil, da seine Filme oft absichtlich »zwecklose« Szenen enthalten). Nachdem er ihr versichert, dass sie für den Film tatsächlich wichtig ist, beginnen sie mit den Proben für die neue Szene, aber zu ihrer Enttäuschung stellt sie fest, dass sie nicht einmal eine Sprechrolle hat: Sie muss nur das Badezimmer verlassen und durch ihre Köperhaltung auf ein Gespräch reagieren, das sie hinter der Wohnzimmertür belauscht. Porumboiu hingegen zerlegt diese scheinbar einfache Szene spielerisch in ihre grundlegendsten Elemente: Die im Drehbuch nur wenige Sekunden dauernde Szene, die Aktion und Reaktion zeigt, wird gedehnt und nimmt lange Teile des Films in Anspruch. Wie eine Marionette, die sich vom Drehbuch, von ihrem eigenen Impuls, von ihrer Vorstellung, wie sie zu agieren und zu reagieren hat, und von einem ständig unzufriedenen Paul leiten lässt, spielt Alina jede ihrer Gesten und verbalisiert sie gleichzeitig: »Ich bin unter der Dusche, ich dusche, schschschhhhhh, ich nehme mein Handtuch, ich trockne mich ab, ich trockne mein Haar, zzzz« und so weiter. Die Handlung verdoppelt sich also und fällt auf sich selbst zurück, wobei die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, wie die Kamera des Regisseurs die Bewegungen der Schauspielerin in Zeitlupe verfolgen würde. Als Alina vorschlägt, dass sie ihre Verzweiflung dadurch ausdrücken könnte, dass sie den Fusselentferner aufgebracht auf ihrem imaginären Kleid auf- und abrollt, verspottet Paul sie, weil sie auf Klischees zurückgreife. Sein nachdrückliches Insistieren darauf, durch einen emotionsloseren Schauspielstil Gefühle auszuschließen, unterstreicht die Bemühungen von Metabolism, der Emotionalisierung zu widerstehen, und macht wiederum Porumboius bewusste Weigerung deutlich, uns die Motive und emotionalen Einsätze der Figuren in seinem Film zu zeigen. Da der Film nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben der Figuren wiedergeben soll, beginnt der Film in medias res und endet unvermittelt, ein stilistisches Merkmal, das zu einem Markenzeichen der Filme der Berliner Schule geworden ist. Wie diese wurde auch Metabolism vollständig auf 35-Millimeter-Filmmaterial gedreht, eine wichtige formale Entscheidung, die im Film selbst zum Thema wird, als Paul sich enthusiastisch dafür einsetzt, Filme auf analogem Filmmaterial (und nicht digital) zu drehen und dabei Fragen des Realismus, der filmischen Form und der Ontologie, die diese Wahl mit sich bringt, kommentiert. In der Anfangssequenz, die vom Rücksitz eines Autos aus gefilmt wird, fährt Paul mit Alina nachts durch die Straßen von Bukarest und erörtert die Bedeutung der Dauer einer Aufnahme. Er weist darauf hin, dass ein Regisseur oder eine Regisseurin nur maximal elf Minuten lang filmen kann, wenn er oder sie Zelluloid verwendet. Er fügt hinzu, dass digitale Technologien jede Szene möglicherweise »detaillierter, wirklichkeitsgetreuer, realer, aber viel länger« machen würden, doch mit jeder Szene, die ausgedehnt wird, um die Realität widerzuspiegeln (zum Beispiel der Streit eines Paares, der zwanzig Minuten dauert), wird der Film implizit immer länger und länger, potenziell endlos. Er beklagt, dass digitale Werkzeuge

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die materielle Basis des Kinos verdrängt haben, und stellt fest, dass die Freiheit, die das Digitale beim Filmen ermöglicht, die Gefahr in sich birgt, Kreativität zu ersticken. Da man mit einer Filmrolle nicht mehr als elf Minuten auf einmal filmen kann, erklärt Paul, hat die Arbeit innerhalb dieser Begrenzung eine bestimmte Art und Weise geprägt, Filme zu machen, die Welt zu betrachten und über sie nachzudenken. Porumboiu selbst scheint diese Ansicht zu teilen. In dem digital aufgenommenen Film The Treasure soll ein modernes Instrument statt eines einfachen Metalldetektors 3D-Bilder eines vergrabenen Schatzes liefern, was als Kommentar zum Filmemachen gelesen werden kann. Der Mann, der das Gerät bedienen soll (ein Alter Ego des Filmemachers, wie Porumboiu in Interviews andeutet), entscheidet sich schließlich dafür, zum alten Detektor zurückzukehren, auch wenn dessen magnetische Sensoren nicht so empfindlich sind wie die des modernen Apparats. Metabolism zeigt keinerlei Bilder des Films, den Paul dreht. Stattdessen dreht sich der ganze Film um eine kurze Szene (eine Figur, die aus dem Badezimmer kommt und ein Gespräch im Wohnzimmer belauscht), die zu unrealistischen Proportionen aufgeblasen wird, während der Regisseur und eine Nebendarstellerin sie obsessiv bei verschiedenen Gelegenheiten proben, obwohl sie im Endschnitt nur wenige Sekunden dauern würde. Diese symbolische Ausdehnung der Zeit erinnert an die Filme von Douglas Gordon wie 24 Hour Psycho (1993) und Five Year Drive-by (2001), die die Bewegungen des Films so reduzieren, bis sie schließlich kaum wahrnehmbar erscheinen. Ersterer verlangsamt das Geschehen von Hitchcocks Film Psycho von 1960, sodass sich jede Bewegung im Film über eine lange Zeit erstreckt (der Film wird auf etwa zwei Bilder pro Sekunde verlangsamt statt vierundzwanzig). Five Year Drive-by ist als fünf Jahre dauernde Projektion konzipiert, die John Fords Western The Searchers (Der schwarze Falke) von 1956 auf die Länge der Handlung des Films streckt, die über ebenjene fünf Jahre stattfindet. Indem Gordon die Abspielgeschwindigkeit des Films reduziert, bleibt jedes einzelne Filmbild etwa sechzehn Minuten lang stehen. Jede Sekunde des Films dauert etwa einen Arbeitstag, sodass der Film de facto als Folge von Standbildern erscheint. Die Bewegung ist weitgehend aufgehoben, »sodass gerade genug übrigbleibt, um die Nabelschnur zu den Originalfilmen und zu den Welten, mit denen sie wiederum verbunden sind, nicht vollständig zu kappen« (Lippit 2008a: 120). Da in Porumboius Arbeiten Zeit und Raum (auf Kosten der Narration) formal im Vordergrund stehen, wird es für den Regisseur zunehmend problematisch, seine Filme zu finanzieren, obwohl er 2016 beim Wettbewerb des Centrul Național al Cinematografiei (CNC), dem staatlichen Zentrum für Filmkunst in Rumänien, die höchste verfügbare Fördersumme erhielt. Ein Ausgangspunkt für Metabolism war der Vorschlag für neue Förderrichtlinien, nach denen die Regisseure und Regisseurinnen aufgefordert wurden, für den Wettbewerb des CNC sehr detaillierte Drehbücher einzureichen. Porumboiu sprach sich zwar gegen die neuen Vorschriften

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aus, sie erinnerten ihn aber an seine Studienzeit, als er nur begrenztes Filmmaterial zur Verfügung hatte, was ihn dazu zwang, seine Arbeit präzise zu planen, um es nicht zu verschwenden. Dieser Low-Budget-Aspekt kennzeichnet auch die Filme der Berliner Schule, die auf eine Kombination der Finanzierung durch regionale Filmbüros und private Investitionen angewiesen sind. Ähnlich wie Porumboius Filme laufen sie nur in begrenzt im Kino und sind auf Filmfestivals erfolgreicher als beim Publikum daheim. Die Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule können jedoch zusätzlich auf Finanzierung durch das Fernsehen zurückgreifen, weshalb ihre Produktion von der TV-Ausstrahlung und Rezeption abhängig sind, obwohl sie stilistisch und inhaltlich nicht für das Fernsehen gemacht sind. Hochhäusler räumt ein: »Unsere Filme werden mit einem sehr begrenzten Budget gedreht, was sich zwangsläufig auf das fertige Produkt auswirkt und die Wahl des Materials, die Anzahl der Figuren, die Gestaltung des Films beeinflusst. Ein großer Teil dieser Ökonomie der Mittel […] ist also einfach Ökonomie. Oder das Ergebnis davon. Wir haben gelernt, die ›Ästhetik der Armut‹ zu lieben.« (Hochhäusler 2013: 26–27) Das rumänische System der Filmfinanzierung ist dem französischen nachgebildet. Das Nationale Zentrum für Filmkunst, das 2001 an die Stelle des Nationalen Rates für Filmkunst trat, ist eine staatliche Institution mit einer langen Tradition, die 1934 mit der Verabschiedung des Gesetzes für den Nationalen Filmfonds etabliert wurde. Während des Sozialismus wurde die rumänische Filmindustrie verstaatlicht, sodass der Staat Eigentümer aller Strukturen war, die mit der Produktion, dem Vertrieb und der Vorführung von Filmen zu tun hatten. Nach mehreren Reformen nach dem Ende des Sozialismus wurde 1999 der Filmfonds (nach dem Vorbild der europäischen Einrichtungen) gegründet, um den Übergang von einem staatlichen Kino zu einer privatwirtschaftlich organisierten Filmindustrie zu regeln, die staatliche Beihilfen in Anspruch nehmen kann. Diese Förderung besteht aus zinslosen Darlehen an private rumänische Produktionsfirmen, die in den zehn Jahren nach Fertigstellung eines Films zurückgezahlt werden müssen, wobei die Rechte am Negativ als Sicherheit dienen. Das Geld stammt hauptsächlich von Kabelsendern, aus einer Steuer auf Kinokarten, dem Verkauf und Verleih von DVDs und Videokassetten und einem Prozentsatz des Gewinns aus allen Glücksspielaktivitäten (Uricaru 2012: 429–34). Leider haben bisher fast alle CNC-Wettbewerbe aufgrund von Unregelmäßigkeiten bei den Auswahlkriterien zu großen Kontroversen geführt. In Metabolism wird dieser wirtschaftliche Aspekt subtil durch die Figur der Produzentin Magda ins Spiel gebracht, die sich um Versicherungsfragen und zu hohe Ausgaben sorgt. Im wirklichen Leben arbeitet Porumboiu tatsächlich mit der Produzentin Magda Ursu zusammen, mit der er 2004 die Produktionsfirma Km 42 Film gegründet hat. Dabei folgte er dem Vorbild vieler der bekannteren neuen rumänischen Regisseure und Regisseurinnen, die inzwischen ihre eigenen Produktionsfirmen haben und manchmal die Arbeit von Regiekollegen und -kolleginnen

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produzieren.2 Mit Ausnahme von Km 42 Film produzieren alle diese Firmen auch Werbekampagnen und bieten Dienstleistungen für ausländische Firmen an, die ihre Postproduktion in Rumänien beauftragen wollen. Metabolism thematisiert auch den Wettbewerb zwischen den jungen Filmemachern und -macherinnen der Neuen Welle um CNC-Fördermittel und um internationale Preise, die sie für die Beantragung zusätzlicher Mittel qualifizieren würden. In einer Szene in einem italienischen Restaurant wird Laurentiu, ein weiterer junger Filmemacher, auf Paul und Alina beim Essen aufmerksam und setzt sich für ein kurzes Gespräch zu ihnen an den Tisch. Laurentiu bemerkt Alinas Ähnlichkeit mit Monica Vitti und lädt sie ein, bei »La Strada«, seiner Produktionsfirma, für seinen kommenden Film vorzusprechen. Nachdem er gegangen ist, bemerkt Alina Paul gegenüber, dass er und Laurentiu sich jeweils als Regisseure beschrieben haben, die gute Drehbücher schreiben. Porumboiu spielt hier nicht nur auf die echte Produktionsfirma Strada Film an, die vom rumänischen Regisseur Cătălin Mitulescu gegründet wurde, sondern auch auf den berühmten Film von Federico Fellini aus dem Jahr 1954. Der berüchtigte Perfektionist Fellini hatte Schwierigkeiten, die Finanzierung für La Strada sicherzustellen, und erlitt kurz vor Abschluss der Dreharbeiten einen Nervenzusammenbruch. Und als Fellinis Produzent Luigi Rovere das Drehbuch zum Film las, sagte er bekanntlich, dass es zwar ein gut geschriebenes Drehbuch sei, aber »als Film würde es keine Lira verdienen. Das ist kein Kino. Es ist eher Literatur!« (zitiert in Frankel o.J.). Der italienische Regisseur erwarb sich den Ruf, seine Schauspieler/-innen eine Szene wieder und wieder proben zu lassen (wie es Paul mit Alina macht) und ihnen sogar während des Drehs Anweisungen zu geben. Fellinis Drehbuch für La Strada war am Ende fast sechshundert Seiten lang, denn jede Aufnahme und jeder Kamerawinkel musste genau beschrieben werden (Alpert 2000: 93). Die Verflechtung von Arbeit und Privatleben, Geld und Liebe und die Verwundbarkeit von Frauen in der neuen Ökonomie, zentrale Themen der Filme der Berliner Schule, spielen in Metabolism eine wichtige Rolle und verbinden ihn mit der deutschen Bewegung. Alina kommt aus der kleinen Stadt Târgu Mureş nach Bukarest, jedoch hat sie zuvor zwei Jahre in Frankreich studiert. Sie kehrt nach Rumänien zurück, weil sie Schauspielerin werden möchte und Frankreich ihr nur wenige Möglichkeiten bieten konnte, sich zu verwirklichen. Während Pauls Motivationen meist schwer zu durchschauen sind, ist sie offener und verletzlicher. Sie lädt schließlich ihren Frust ab, indem sie Paul mitteilt, dass die sexuelle Beziehung der beiden nur eine Folge ihrer jeweiligen beruflichen Verunsicherung sei. Paul leugnet jedoch, unter Stress zu stehen, und erinnert Alina daran, dass im Gegensatz

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Tudor Giurgiu gründete Libra Film 1994, Cristian Mungiu Mobra Films 2003, Cristi Puiu Mandragora 2004 und Cătălin Mitulescu Strada Film 2004.

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zu einem Theaterregisseur, der Schwierigkeiten hat, einen fremden Text zu verstehen, er seinen eigenen Text schreibt und ihn daher kontrolliert. Er insistiert: »Der Text bin ich« und greift damit Flauberts berühmten Ausruf »Madame Bovary bin ich« auf, was impliziert, dass das Drehen seines Films eine Form des Schreibens ist, die genauso wichtig ist wie das Drehbuch. Später im Film bekräftigt er noch einmal Alinas Verwundbarkeit, indem er das Thema Geld anspricht und sie fragt, wie sie es sich leisten konnte, in Frankreich Essen zu gehen. Dadurch zwingt er sie zuzugeben, dass ihr französischer Freund immer bezahlt hat. Die wirtschaftliche Prekarität von Alinas Beruf verbindet sie mit vielen weiblichen Figuren, die die Filme der Berliner Schule bevölkern, vor allem mit Deniz in Arslans Der schöne Tag und Nina in Petzolds Gespenster (2005), die in ihren Rollen als Schauspielerinnen »die Notwendigkeit von Performativität und Theatralität des modernen Leben« in den Vordergrund stellen (Fisher 2013: 92). Darüber hinaus erinnert Alinas kontrolliertes und reserviertes Auftreten nicht nur an die unnahbare Haltung, die Monica Vitti in Antonionis Filmen einnimmt (wie Laurentiu im Film bemerkt), sondern auch an die Formalität und Zurückhaltung von Nina Hoss, die Schauspielerin, die in Petzolds Yella (2007) und Barbara Protagonistinnen spielt, die auf der Suche nach beruflichem und finanziellem Fortkommen in den Westen ziehen (oder dies zumindest vorhaben). Petzold betont ausdrücklich diesen Habitus der Zurückhaltung, da er sich dafür interessiert, wie der zeitgenössische Kapitalismus die Arbeit von Frauen und ihr Begehren in einer Welt »umfunktioniert«, in der sie »zunehmend von der Last der Familie und sogar Liebe befreit sind und so die Abwesenheit von Bindung und die Leichtigkeit erlangen, die vom neoliberalen Kapitalismus so hoch geschätzt wird« (Fisher 2013: 23). Gleichzeitig bleiben diese weiblichen Charaktere machtlos und sind nach wie vor auf Männer angewiesen, die weiterhin die Besitzer der Produktionsmittel sind. Nach der anfänglichen Begeisterung, die durch die Verheißung eines neuen Liebhabers und einer neuen Arbeit ausgelöst wird, bleiben sie jedoch meistens enttäuscht zurück, so wie es Alina nach ihrer Erfahrung mit Paul auch ist. Auch wenn Laurentiu die Aussicht auf neue Arbeit und vielleicht neue Liebe bieten könnte, erzählt Alina Paul nach der Szene im italienischen Restaurant, etwa in der Mitte des Films, als die Handlung sich wieder auf das »Liebespaar« im Auto fokussiert, dass sie davon träumt, Schauspielerin in Frankreich zu werden. Metabolism stellt hier die utopischen Sehnsüchte der Figur in den Vordergrund, obwohl sie bereits nach Rumänien zurückgekehrt ist, in der Hoffnung, dass sie hier die Arbeit tun kann, die sie liebt. Auf einer übergeordneten Ebene erfasst er damit – auf eine ähnliche Weise, wie es Abel in Bezug auf Petzolds Kino beobachtet – die unterschiedlichen Kräfte, die auf die Figuren einwirken, ohne zu erklären, was die Ursachen dafür sind, dass sie gerade diese Situationen so intensiv empfinden; so stechen in Metabolism Pauls hochgezogene Schultern und Alinas verklemmte und kontrollierte Körperbewegungen in gleicher Weise hervor, wie Julia Hum-

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mers Schultern in Gespenster und Die innere Sicherheit (2000), die so weit nach unten hängen, als wären sie »vom Gewicht der ganzen Welt heruntergezogen« (Abel 2013: 100). Wie Petzolds Figuren sucht Alina nach einer Identität, aber Paul zwingt sie dazu, sich auf verschiedene Weise zu sehen: Er sagt ihr, dass sie zwar jüdisch, aber nicht französisch aussähe und dass sie definitiv keinen »deutschen Körper« habe. Als Antwort darauf deutet sie an, dass sie griechische Züge habe, die ihr ein mediterranes Flair verleihen würden, sodass sie als Frau aus Südfrankreich durchgehen könnte: »Wenn ich nach Frankreich ziehen, dort leben, französisch sprechen und denken würde, dazu noch die Energie der Menschen und des Ortes aufnehmen, dann könnte mein Körper zu diesem Raum gehören«. Als Paul darauf besteht, dass sie trotzdem nicht sie selbst wäre, kommentiert Alina, dass das Sich-Anpassen an einen neuen Ort so wäre »wie beim Schwimmen im Fluss: Man lässt sich von der Strömung tragen, sonst wird man überwältigt«. Diese Diskussion um Körper erinnert an eine ähnliche Szene in Petzolds Jerichow (2008), in der Thomas dem türkischen Ali, der am Strand tanzt, sagt, dass er sich »wie ein Grieche« bewege. Für Petzold ist dies eine »Schlüsselszene« (zitiert in Leweke 2013: 37), die indirekt Thomas’ Vorstoß darstellt, Ali zu bevormunden, der aber letztlich seine eigene Unsicherheit beweist. Das letzte Bild von Metabolism zeigt Alina, wie sie im Spiegel auf ihr eigenes, frisch geschminktes Gesicht schaut. Es wird kein Gegenschuss ihres Spiegelbildes gezeigt, bevor das Bild abrupt zum Abspann wechselt. Man fragt sich, was die Unvermitteltheit dieses plötzlichen Schnitts bedeutet: Ist es ein abruptes Erwachen aus einem Traum? Ist sie ein Gespenst, das sich ihres Status als solches nicht bewusst ist? Sicherlich hätte Porumboiu ihr Spiegelbild zeigen können, aber er scheint diese Einstellung, die viele Filmemacher und -macherinnen so oft verwenden, bewusst vermieden zu haben. Die leeren »Nicht-Orte« (um Marc Augés [1995] Begriff zu verwenden), die den Film dominieren (Pauls minimalistische, sterile Wohnung, das unheimliche Hotel), die gedämpfte, neutrale Farbgebung des Films und das Lied am Ende scheinen alle eine Welt zu erschaffen, die wie ein Traum wirkt. Der Songtext am Ende impliziert nicht nur eine Unsicherheit bezüglich dessen, was wir gesehen haben, sondern birgt auch ein Element des Geisterhaften: »Wenn der Abend hereinbricht/über Bukarest/schaue ich Mädchen an/aber ich sehe, dass du nicht hier bist/wenn der Abend hereinbricht/über Bukarest/schaue ich dich an/aber ich sehe, dass du nicht hier bist«. Hier kommt Porumboiu in seiner Darstellung der Figuren Petzold nahe. Diese leben in ihren eigenen »Blasen«, wie Petzold es ausdrückt, da der diegetische Status ihrer Wünsche oft unklar bleibt: Sind sie »echt« oder nicht? Wie Fisher nahelegt, »sind es vor allem Geister, die ihre Fantasiebilder als Realität leben, da sie sich ihres eigenen spektralen Status’ oft nicht bewusst sind und […] danach streben, zur Normalität durchzubrechen« (Fisher 2013: 93). Dieser unklare Status, der auf

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Vorstellungen und Träumen aufgebaut ist, und die utopischen Energien, die ihm innewohnen, haben politische Auswirkungen, meint Fisher. Die Orte der privaten Utopien, die diese Filme erzeugen, werden aber letztlich »durch den Blick des oder der Anderen umgedeutet« (94), sei es durch den Blick von Jeannes Mutter in Die innere Sicherheit, den Blick des Regisseurs, der Nina und Toni in Gespenster tanzen sieht, oder den Blick von Paul in Metabolism (Abb. 5.1). Was den rumänischen Regisseur und viele der Filmemacher/-innen der Berliner Schule ebenfalls verbindet, ist ein Bemühen, den Zuschauern und Zuschauerinnen immer wieder neue Umdeutungen zuzumuten. Wie Petzolds Barbara und Arslans Der schöne Tag stellt uns Metabolism vor eine dreifache Mise en abyme, indem es Szenen erzeugt, in denen die realistisch dargestellten Empfindungen der Identifikation mit den Figuren auf eine Weise umgestaltet werden, dass die Logik ihrer Inszenierung intensiviert und unsere sensorische Wahrnehmung neu ausgerichtet wird. In einer Szene in Barbara zeigt André Barbara eine Reproduktion von Rembrandts Die Anatomie des Dr. Tulp (1632) und weist nicht nur darauf hin, dass in dem Bild die falsche Hand seziert wird, sondern auch, dass sie im Vergleich zum Rest des Körpers des toten Diebes zu groß geraten ist. Rembrandt hätte einen solchen Fehler nicht gemacht, erklärt André und lenkt damit unsere Aufmerksamkeit darauf, wie wichtig die mit dem Stil des Künstlers verbundene Wahrnehmung und Sichtbarkeit sind.

Abbildung 5.1: Geisterhafte Figuren in ›Metabolism‹

André stellt fest, dass die Ärzte scheinbar zwar auf die Leiche schauen, in Wirklichkeit aber ihren Blick auf das vor ihnen liegende anatomische Lehrbuch richten, das eine Repräsentation des menschlichen Körpers zeigt. Rembrandt, so erklärt er, lenkt den Blick der Betrachterin von den Ärzten weg und verweist auf den Dieb, auf das vernachlässigte Opfer staatlicher Gewalt, mit dem wir Mitleid empfinden sollen. Diese Szene bietet ein bemerkenswertes Beispiel für filmische Ekphrase, die, wie Fisher bemerkt, als filmische Mise en abyme für den gesamten Film und

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für Petzolds filmische Arbeit im Ganzen fungiert, die durchweg marginalisierte Individuen darstellt, »die durch den kontinuierlichen und grundlegenden sozioökonomischen Wandel zu Gespenstern werden, und hier könnte das Gespenst, das er in einer filmischen Archäologie exhumiert, die DDR selbst sein« (Fisher 2013: 139). In ähnlicher Weise lenkt Abel in seiner Analyse von Arslans Der schöne Tag die Aufmerksamkeit auf die subtilen Variationen sich wiederholender Situationen, mit denen wir im Film konfrontiert werden, und argumentiert, dass diese mehrfachen »Umdeutungen im Wahrnehmbaren«, die auf der sehr offensichtlich vorgeführten Meta-Ebene stattfinden, direkt auf den Sinnesapparat der Zuschauer/-innen einwirken und so ihre Fähigkeit modulieren, Eindrücke und Gefühle wahrzunehmen. Der Film führt solche Umdeutungen an zahlreichen Stellen durch: Deniz’ Begehren, Eric Rohmers Film Conte d’été (Sommer, 1996), den Deniz synchronisiert, die etablierte Ton-Bild-Beziehung und schließlich als Film selbst, der einerseits auf einer dokumentarisch-realistischen Ebene arbeitet, aber gleichzeitig die Zuschauer/-innen auf einer explizit theoretischen Ebene herausfordert. Diese Umdeutungen sollen uns dazu bringen, »zu überprüfen und zu überdenken, wie die dokumentarisch-realistische Erzählweise funktioniert« und »wie unsere Wahrnehmung [des Dokumentarischen] allzu schnell unsere Einschätzung der diegetischen Welt des Films und seiner Beziehung zu unserer eigenen bestimmt« (Abel 2013: 51). Gegen Ende des Films gibt es noch einmal eine Wiederholung mit Variationen: Wir sehen Deniz noch einmal denselben Rohmer-Film synchronisieren – eine Szene, in der ein junger Mann und eine Frau über Liebe, Beziehungen und die Schwierigkeit sprechen, sich zwischen zwei verschiedenen romantischen Möglichkeiten zu entscheiden (Themen, über die Deniz selbst während des ganzen Tages mit anderen sprach). Kurz darauf folgen wir ihr in die U-Bahn, wo sie wortlos einen weiteren jungen Mann anschaut, der ihren Blick erwidert, wie Diego es zuvor getan hat. Der Film endet abrupt mit dem Bild, wie sie den gutaussehenden Fremden weiter von der Seite anschaut, und deutet damit an, dass sie sich wahrscheinlich verabreden werden – genauso wie vorher mit Diego. Darüber hinaus bietet der Film einen weiteren Mise-en-abyme-Effekt – der ebenfalls im Zusammenhang mit Verschließung und indirekten Blickachsen gelesen werden kann. In einer Szene spricht Deniz für eine Rolle vor und wird gebeten, über einen Film zu sprechen, der sie bewegt hat. Sie erinnert sich an einen Film, den sie kürzlich im Fernsehen gesehen hat und der sich – obwohl sie ihn nicht beim Namen nennt – als À nos amours von Maurice Pialat herausstellt (Auf das, was wir lieben, 1983). Wie Abel in seiner Analyse ausführt, hebt Arslan zunächst die Art und Weise hervor, wie der Casting-Direktor das Gesicht von Deniz visuell umrahmt, indem er sie beobachtet, wie sie auf dem Stuhl sitzt, und dann ihr Bild auf dem Monitor betrachtet, der ebenfalls ihr Gesicht einrahmt. Damit lenkt Arslan unsere Auf-

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merksamkeit auf den Unterschied zwischen dem Schnitt innerhalb eines Bildes und zwischen den Bildern (Abel 2013, S. 51–54) (Abb. 5.2). Die Geschichte von Pialats Film, die Deniz nacherzählt, beginnt damit, dass ein Mädchen im Teenageralter bei einer Probe zu einem Theaterstück gezeigt wird. Ihr Text (wie der Text, den Deniz in Rohmers Film synchronisiert) handelt von der Liebe. Der Freund des Mädchens (genau wie Deniz’ eigener Freund) spürt die Distanz zwischen ihnen, während beiden klar wird, dass ihre Beziehung vorbei ist. Das Mädchen hat dann mehrere andere Beziehungen und diskutiert mit ihrem Vater über die Liebe. Im Bus zum Flughafen, kurz bevor sie nach Amerika fliegt, um eine Beziehung mit einem weiteren Mann zu beginnen, erklärt ihr Vater, dass sie unfähig sei zu lieben. Die Geschichte, die Deniz erzählt, wiederholt auf einer anderen Ebene die Gespräche über Liebe und Arbeit, die sie im Laufe des Tages mit anderen geführt hat – mit ihrem Freund, mit ihrer Schwester und ihrer Mutter und mit einer Professorin, die ihr über die Geschichte der Liebe erzählt. Das letzte Bild von Arslans Film (Deniz, wie sie zur Seite blickt) verweist zudem auf den Film von Pialat, der ebenfalls damit endet, dass das Mädchen seitlich durch das Busfenster schaut.

Abbildung 5.2: Deniz beim Vorsprechen

Ein ähnlicher Mise-en-abyme-Effekt findet im Metabolism auf mehreren Ebenen statt. Erstens ist der Film streng strukturiert mit zwei Szenen im Auto, zwei Szenen im Restaurant, zwei (nicht gezeigten) Sexualakten und zwei Proben, die mithilfe von pantomimischen Gesten durchgeführt werden. In der zweiten Probenszene spielt der Film – als Unterrichtsstunde über das Kino – genau die Probenszene nach, in der Paul Alina sagt, wie sie auf das reagieren soll, was sie hört,

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als sie aus dem Badezimmer kommt. Obwohl wir also die gefilmte Szene, die geprobt wurde, nicht sehen, werden wir Zeuge einer sich spiegelnden Situation mit denselben Parametern, die in der Probenszene skizziert wurden: Als Paul aus der Dusche kommt, hört er Alina im Wohnzimmer am Handy mit ihrem Freund telefonieren. Daraufhin setzt er sich auf das Bett und schaut für einige Sekunden nach unten, scheinbar aufmerksam dem Gespräch lauschend. Er zieht sich langsam die Hose an, während er im Bett nach dem T-Shirt sucht, das aber Alina angezogen hat, als sie den Anruf entgegennahm. Wir hören, wie er eine Schublade außerhalb des Bildes öffnet, und dann sehen wir, wie er ein anderes T-Shirt anzieht. Schließlich zündet er sich im Wohnzimmer eine Zigarette an und geht zurück ins Schlafzimmer, um zu rauchen, während er mit dem Gesicht zur Kamera auf dem Bett sitzt. Im zweiten Beispiel führen Alina und Paul ein Gespräch über Nationalgerichte, verschiedene Essbestecke und Kultiviertheit, das andere Diskussionen der Figuren über das Filmemachen und stilistische Entscheidungen im Zusammenhang damit widerspiegelt: Was man in den Mittelpunkt stellt oder weglässt, die Idee der vermittelten Distanz und die Frage des guten Geschmacks. Die Chinesen bereiten Steak anders zu als die Franzosen, weil sie es mit Stäbchen sonst nicht essen können, erklärt Paul und bezieht sich damit auf seine früheren Aussagen, dass er eine bestimmte Art von Filmen macht, weil er ausgebildet wurde, mit den Einschränkungen des (analogen) Filmmaterials umzugehen. »Wenn die Beziehung zwischen dir und dem Essen nicht durch etwas vermittelt wird«, fügt er hinzu, »kannst du den Teller nicht aus der Ferne betrachten, du isst nur instinktiv und versuchst lediglich, deinen Hunger zu stillen.« Dieses Gespräch erinnert an Roland Barthes’ Behauptung in Mythen des Alltags (1964), dass Lebensmittel kollektive und nationale Bedeutung besitzen können.3 Porumboiu suggeriert hier indirekt, dass nur anspruchsvolle und aufmerksame Zuschauer/-innen, die zudem geschult in der Filmgeschichte sind, seinen minimalistischen Film – wie das europäische Kunstkino im Ganzen – wertschätzen können. Die Prämisse des Films – ein Regisseur, der eine Nacktszene mit einer Schauspielerin drehen will – enttäuscht die erzählerischen Erwartungen und spiegelt insbesondere eine Szene aus Godards Die Verachtung wider, in der Camille, gespielt von Brigitte Bardot, aus dem Badezimmer kommt und ihren Mann Paul beim Telefonieren belauscht (Abb. 5.3 und 5.4).

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In »Beefsteak und Pommes frites« kommentiert Barthes, dass für die Franzosen Wein, Steak und Pommes fähig sind, »nationalen Glanz zu vermitteln«, »nationales Gut« zu sein und dem »Kurswert der patriotischen Güter« zu folgen (Barthes 1964: 36–38).

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Abbildung 5.3: Brigitte Bardot in Jean-Luc Godards ›Die Verachtung‹ (1963)

Abbildung 5.4: Paul und Alina bei der Probe im Flur

Wie in Godards Film sehen wir Alina nie wirklich nackt. Was wir stattdessen bekommen, ist eine intellektualisierte Nacktheit, die die Szene in Erinnerung ruft, in der Bardot lediglich ihren Körper beschreibt, als sie ihren Mann fragt, ob er ihre Brüste, ihren Hintern, ihre Schultern und so weiter mag. In einem Bildaufbau, der direkt auf Die Verachtung hinweist, enttäuscht auch Porumboiu die Erwartungen der Zuschauer/-innen, indem er Paul beschreiben lässt, wie Alinas realer Körper – im Gegensatz zu der auf Zelluloid konservierten Version – in fünfzig Jahren aussehen wird: »Dein Fleisch wird schlaff sein, deine Brüste werden hängen, du wirst dunkle Ringe um deine Augen und Falten haben.« Während Godard sich auf André Bazin beruft, indem er zu Beginn seines Films ein Zitat von ihm anführt, das uns darauf auf unsere Sehnsüchte als Zuschauer/innen aufmerksam macht (»Das Kino schafft für unseren Blick eine Welt, die auf unser Begehren zugeschnitten ist.«), spielt Porumboiu in ähnlicher Weise auf Ba-

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zins »Die Ontologie des fotografischen Bildes« an, in der er postuliert, dass der Hauptzweck des Filmischen die Mumifizierung der Veränderung selbst ist (Bazin/ Fischer 2004: 39). Indem Metabolism mit Metaphern der Leiblichkeit arbeitet, stellt er das Kino als eine Form der körperlichen Verarbeitung – der Verdauung – in den Vordergrund.4 Diese »Verdauung« wird nicht einfach nur als eine Art der Simplifizierung der Realität verstanden, sondern als eine besondere Ausdrucksweise, bei der es scheint, wie Bazin in einem Artikel über Adaption und »das Kino als Verdauung« ausführt, »als ob ästhetisches Fett, das auf andere Art emulgiert, vom Geist der Konsumenten besser vertragen würde« (Bazin 2000: 26). Gleichzeitig enthüllt der Film auch das, was Lippit den Prozess der »Di-gestion« im Kino nennt (und mit der doppelten Lesart der Vorsilbe di- spielt, die einerseits zwei bedeutet, und als Abkürzung von dis-, den Gegensatz bezeichnet): zwei Gesten, »verdoppelte Gesten, die die Anwesenheit von zwei Körpern beziehungsweise zwei Körpersystemen anzeigen« (Lippit 2008a: 117). Die Verdoppelung der Körper, die die Bewegung im Kino definiert, folgt zwei Ökonomien, nämlich der Erzeugung eines doppelten, abwesenden Phantomkörpers, der indexikalisch mit dem Körper in der Welt verbunden ist, und einer Bewegung, die die Anwesenheit zweier Körper unterschiedlichen Ursprungs signalisiert: der profilmische Körper und der Körper des Apparats – zwei Körper, die beide in der Lage sind, Bewegung im Film zu erzeugen (117). Metabolism beleuchtet somit die komplexen Mechanismen von Bewegungen und Gesten im Film nicht nur durch Alinas pantomimische Wiederholung ihrer Gesten in den Probenszenen, sondern auch auf einer Meta-Ebene, indem der Unterschied zwischen der Kamera des Regisseurs einerseits und der Digitalkamera, die Pauls Endoskopie aufnimmt, andererseits hervorgehoben wird. Die sich windenden Bewegungen der medizinischen Kamera im Inneren von Pauls Körper, deren jede für die Zuschauer/-innen gelesen und interpretiert wird, während die Kamera durch die Speiseröhre, den Magen und den Zwölffingerdarm fährt, spiegeln die Bewegungen von Pauls Auto wider, das in den Straßen von Bukarest hin und her fährt.5 In beiden Fällen bleibt die »Realität« jedoch obskur; so wie Bukarest kaum erkennbar ist (besonders in der ersten Szene, die am Abend mit geringer Tiefenschärfe gefilmt wurde), so ist es auch der Körper von Paul, dessen Endoskopie durch einen ausgebildeten Arzt gedeutet werden muss, um das zu »sehen«, was für uns zwar einerseits sichtbar, aber gleichzeitig »unsichtbar« bleibt. Wie ein Arzt »interpretiert« Porumboiu die Realität durch sein Kino und trainiert dadurch die Zuschauer/-innen, die Realität so betrachten, dass sie neu ler-

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Im Englischen (der Originalsprache des Textes) bedeutet »digest« sowohl das Verdauen von Essen als auch die Zusammenfassung eines Textes. Anm. der Übersetzerin. Von diesem bewusst eingesetzten Stileffekt habe ich 2014 erfahren, als ich die Gelegenheit hatte, Porumboiu in Bukarest zu interviewen.

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nen, sie anzuschauen und zu sehen. Der Film etabliert daher eine Ökonomie der Bewegung, die zwischen den Körpern der Schauspieler/-innen, ihren pantomimischen Gesten und den Bewegungen der beiden Kameratypen wechselt. Irgendwann erfahren wir, dass Paul beschlossen hat, das Material, das er von Alina gedreht hat (das wir nie sehen), zu verwerfen und die Szene neu zu drehen. Obwohl Alina schnell sich selbst die Schuld für ihre unzulängliche Leistung gibt, erklärt er ihr, dass die Kamera zu nah an ihrem Gesicht war: Die ästhetische Entscheidung habe die Bedeutung des Films verändert, indem sie zu viel Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hat. Dies wiederum weist die Zuschauer/-innen darauf hin, dass auch Porumboiu seine stilistischen Entscheidungen bewusst trifft, und erklärt seine Weigerung im gesamten Film keine Nahaufnahmen zu verwenden. Als der Arzt diagnostiziert, dass Paul nur Gastritis hat, und Magda ihn fragt, wie er dies feststellen kann, erklärt er, dass »die Dreharbeiten bereits beendet sind« und dass das, was sie gerade sehen, derselbe Weg ist, den die Kamera früher genommen hat, nur dass sie sich jetzt rückwärts bewegt, um den Körper zu verlassen. Noch immer unsicher, was sie gerade gesehen hat, weist Magda den Arzt daraufhin, dass er zunächst dachte, dass »etwas im Bild fehlt«, und bittet ihn, sich die gefilmte Endoskopie ein zweites Mal anzusehen. Wir werden dann Zeugen der gleichen Szene, allerdings mit einem kleinen Unterschied. Porumboiu zeigt uns beim zweiten Mal nicht das Filmmaterial, sondern lässt den Arzt verbalisieren, was er sieht. Wie Alina in der Probenszene beschreibt er jede Kamerabewegung: »Jetzt ist sie in der Speiseröhre, sie bewegt sich weiter, sie ist noch nicht in den Magen eingedrungen, diese Falte ist der Eingang zum Magen, der Schaum ist ein Sekret, das anzeigt, dass er raucht, und diese Wand, die wie Schlangenhaut aussieht, bedeutet, dass es eine Gastritis ist.« Noch einmal von Magda aufgefordert, nach dem fehlenden Element zu suchen, ruft der Arzt aus: »Wenn man etwas filmt, das einen interessiert, dann stellt man die Kamera ins Zentrum und nicht an den Rand!« Dieses Konzept der Inszenierung hat Porumboiu jedoch im gesamten Film absichtlich unterlaufen, was die Zuschauer/-innen auch sofort auf ironische Weise erkennen. Tatsächlich gibt es in Metabolism eine Reihe von wichtigen Szenen, die die Diskrepanz zwischen Ton und Bild herausstellen und die filmische Zeit »verschwenden«, indem sie sorgfältig komponierte Bilder und Sequenzen länger auf der Leinwand bleiben lassen, als man normalerweise erwartet. An einer Stelle zum Beispiel schaut Paul im Restaurant ins Off hinüber zu Laurentius Freundin Doina, aber die Kamera weigert sich, ihre Reaktion zu zeigen, als er sie anspricht, während sie im Bereich außerhalb der Kamera sitzt. Als Paul und Alina Sex haben, hören wir sie nur durch eine leicht angelehnte Tür, während der Film sich weigert, uns eine erotisierte Version ihres Zusammenkommens zu zeigen. Angesichts ihrer Beziehung während des gesamten Films liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um einen weiteren Fall von unerfülltem Sex handelt, »der körperlichen Manifestation der sozialen Entfremdung« (»Bad Sex« in: Cook et

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al. 2013: 44), die der Entfremdung der Protagonisten und Protagonistinnen ähnelt, die die Filme der Berliner Schule bevölkern. Wie diese benutzen Paul und Alina Sex »als eine Art prälinguistischer Kommunikation« und »als Mittel zur Flucht aus den Zwängen der Sprache« (44). Porumboiu und die Filmemacher/-innen der Berliner Schule verstehen die Frage nach dem filmischen Realismus also nicht als einen Weg, profilmische Ereignisse möglichst wirklichkeitsgetreu einzufangen, sondern als eine Einladung an die Zuschauer/-innen, sich auf eine Ästhetik der Entdeckung einzulassen. Realismus, wie Dudley Andrew betont, sollte als eine Methode gesehen werden, die Zuschauer/-innen auffordert, ihre Wahrnehmung auf die Organisation der Sichtbarkeit in der Welt zu richten. Im Gegensatz zu den neuen digitalen Medien, so Andrew, funktioniert der filmische Realismus, indem er Informationen zurückhält, um die Neugier der Zuschauer/-innen auf die Welt zu wecken (zitiert in Cook et al. 2013: 19). Das Lied, das während des Abspanns von Metabolism läuft und den Film abschließt, bestärkt diese Vorstellung, indem es uns auf die Ökonomie der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit aufmerksam macht, auf die Trope der Blindheit, die erst Sichtbarkeit herstellt: »Wenn der Abend hereinbricht/über Bukarest/schaue ich dich an/aber ich sehe, dass du nicht hier bist«. Diese Blindheit, auf die in einer früheren Szene angespielt wurde, in der Paul den Projektor vor der Kamera herunterzieht und die Zuschauer mit einer schwarzen Leinwand buchstäblich »blendet«, ist eine besondere Form der Blindheit. Wie Jacques Derrida es ausdrücken würde: »Die Blindheit, die das Auge öffnet, ist nicht diejenige, die das Sehen verdunkelt.« (zitiert in Lippit 2008b: 246) Die Trope der Blindheit taucht für Derrida in Form eines Paradoxons auf: Blindheit ist der Mechanismus oder Zustand, durch den man sich selbst sieht. Blindheit bedeutet also nicht die Abwesenheit des Sehens, sondern eine bestimmte Beziehung zu sich selbst, zum Bild von sich selbst (247). Abel schlägt in seiner Beschreibung der Merkmale der Berliner Schule vor, dass das Wesen dieser Filme nicht unbedingt durch eine eingegrenzte Anzahl stilistischer Kriterien beschrieben werden kann. Vielmehr sollten sie im Hinblick auf die Haltung, mit der sie der Welt begegnen und diese für uns filmisch gestalten, konzeptualisiert werden, auf die gleiche Art und Weise wie Bazin die neorealistischen Filmemacher/-innen beschrieb, als er sagte, dass »Neorealismus als solcher nicht existiert. Es gibt nur neorealistische Regisseure.« (Abel 2013: 298) Im Sinne dieser Provokation an die Zuschauer/-innen, sich selbst (wieder) zu sehen, teilt Porumboiu mit den Filmemachern und -macherinnen der Berliner Schule eine ähnliche Haltung gegenüber der Welt. In Metabolism wird die Realität nur in Form eines zerbrochenen Spiegels zugänglich, der sie reflektiert, so wie Stendhal den Roman als einen Spiegel beschrieben hat, der die Straße entlang getragen wird und manchmal das Blau des Himmels und ein andermal den Dreck der Schlammlöcher widerspiegelt. Metabolism ist voller Spiegel, die die Realität brechen und verzerren, aber

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es liegt letztlich an den Betrachtern und Betrachterinnen, in diesen Reflexionen Bilder von sich selbst zu finden.

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6 Daheim gibt es nicht Christian Petzold, die Berliner Schule und Nuri Bilge Ceylan Ira Jaffe

In einem Interview, das Jaimey Fisher 2011–12 mit Christian Petzold führte, äußert sich der Regisseur in Bezug auf ein zentrales Thema der Berliner Schule folgendermaßen: »Ich habe wohl keine richtige Heimat« und erklärt, dass der Ort, an dem er aufgewachsen sei, »ein bisschen wie ein Trailer Park« gewesen sei. Er und seine Familie hätten »immer in Transitorten gelebt« (Fisher 2013: 147–48). Das Fehlen einer »richtigen Heimat« betrifft sowohl die Hauptfiguren von Petzolds Filmen als auch die der anderen Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule, darunter Thomas Arslan, Christoph Hochhäusler, Ulrich Köhler und Angela Schanelec. Ihre Figuren existieren oft in Autos, Motels, Rastplätzen, Flughäfen und anderen Transiträumen. Sie leben, wie sowohl Marco Abel (Abel 2013: 17) als auch Fisher festgestellt haben, in »Durchgangs-« und »Nicht-Räumen«, Begrifflichkeiten, die auf ein für die Filmemacher/-innen der Berliner Schule wichtiges Buch verweisen, Marc Augés »Nicht-Orte« (2010). Auch Figuren wie der junge Armin (Constantin von Jascheroff) in Hochhäuslers Falscher Bekenner (2005) oder der Soldat Paul (Lennie Burmeister) in Köhlers Bungalow (2002), die zwar in gewöhnlichen Unterkünften residieren, wirken entfremdet und getrieben, diese Orte zu verlassen. Ohne geistige oder körperliche Verbindungen zur Welt um sie herum, erinnern sie an die junge Frau (Candace Hilligoss) in Herk Harveys Film Carnival of Souls (Tanz der toten Seelen, 1962) – der Petzolds Yella (2007) beeinflusst hat –, die in Wirklichkeit ein Geist ist. Nachdem sie in einer denkwürdigen Szene erkennt, dass die anderen Menschen sie nicht sehen und hören können, beklagt sie, dass es »keinen Platz in der Welt, keinen Platz im Leben« für sie gibt. Man könnte sagen, dass Petzold die Reihenfolge dieser Erkenntnis umkehrt, wenn er im Interview mit Fisher betont, dass einem Geist eine Heimat oder ein Zuhause nicht fehle, sondern dass andersherum genau dieser Mangel das Gefühl hervorrufe, dass man ein Geist sei: »Bei Geistern geht es nicht nur um Angst, sondern vielmehr darum, dass man aus der Zeit und aus der Welt gefallen ist, dass man nicht mehr dazugehört, also am Rande der Gesellschaft lebt, arbeitslos ist

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oder einfach ein ungeliebtes Kind ist – solche Menschen fühlen sich selbst als Geister.« (Fisher 2013: 163) Jedenfalls wird Petzolds Bemerkung »Ich habe wohl keine richtige Heimat«, sobald man sie mit Geisterhaftigkeit, dem Gefühl »aus der Zeit und der Welt gefallen zu sein« und »nicht mehr dazugehören« in Beziehung setzt, noch gewichtiger und schrecklicher. Seine Bedeutung entfaltet sich auch, wenn Petzold den mythischen Helden Odysseus als jemanden beschreibt, der versucht, nach Hause zurückzukehren oder eine Heimat zu finden, und wenn er behauptet, dass »das Kino immer die Geschichten von Menschen erzählt, die nicht mehr dazugehören, die aber wieder dazugehören wollen« (Fisher 2013: 163). Theodor Adorno erklärte nach dem zweiten Weltkrieg, wie die physische, moralische und psychische Allgegenwart und Komplexität der Unbehaustheit alles durchzieht: Das Haus ist vergangen. Die Zerstörung der europäischen Städte ebenso wie die Arbeits- und Konzentrationslager setzen bloß als Exekutoren fort, was die immanente Entwicklung der Technik über die Häuser längst entschieden hat. […] »Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müsste man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. (Adorno 1951: 57–58) Sich in der Welt fremd zu fühlen oder nicht bei sich selbst zu Hause zu sein, bleibt auch heute noch ein generelles Problem. Die Enzyklika von Papst Franziskus von 2015 Laudato Si‹ Über die Sorge für das Gemeinsame Haus beklagt zum Beispiel, dass der Klimawandel, der durch das menschliche Handeln im Kapitalismus verursacht wird, den Planeten zunehmend zerstört und für menschliches Leben ungeeignet macht (Nordhaus 2015: 26–27; vgl. auch dt. Papst Franziskus 2015). Darüber hinaus steht die Welt heute vor der möglicherweise größten Migrationskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, da zum gegenwärtigen Zeitpunkt weltweit etwa sechzig Millionen Menschen vertrieben wurden. Allein in Syrien, berichtet der Diplomat und Harvard-Professor Nicholas Burns, hat der Bürgerkrieg zwölf Millionen Menschen »heimatlos« gemacht (Burns/Jeffrey 2015). Petzolds Behauptung, dass »das Kino immer die Geschichten von Menschen erzählt, die nicht dazugehören«, scheint sich in Filmen und Texten, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Berliner Schule entstanden sind, zu bestätigen. Beispielsweise hebt ein Text von Jiwei Xiao hervor, dass das Fehlen von Heimat in einem neueren Film von Jia Zhangke zentral ist: »In Tiān zhùdìng (A Touch of Sin, 2013) ist die Straße […] nicht mehr der Übergang von einem Zustand zum anderen, sondern zu einem Schicksal an und für sich geworden – für die Migranten und Migrantinnen, die Ausgestoßenen und die ganze Gruppe der sozial Entwurzelten. Sie mögen zwar Familien haben, dennoch sie leben in einem Zustand der ewigen Heimatlosigkeit.« (Xiao 2015: 29) In ähnlicher Weise ist für Asuman Suner das »Thema der Zugehörigkeit und der Heimat« (Suner 2011: 16) – und der Fragilität, wenn nicht

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gar der völligen Abwesenheit von Heimat – in Nuri Bilge Ceylans Filmen zentral. Darüber hinaus spielen diese Themen laut Suner in zahlreichen »Unterhaltungsund Kunstfilmen« des neueren türkischen Kinos seit Mitte der 1990er Jahre eine bedeutsame Rolle (Suner 2010: 1). Gönül Dönmez-Colin sieht »das Gefühl der Heimatlosigkeit im inneren und im äußeren Sinne« als ein dauerhaftes Anliegen des türkischen Kinos (Dönmez-Colin 2008: 11). Suner fügt insbesondere in Bezug auf Ceylan hinzu: »Immer wieder […] werden Themen der Heimkehr [und] des Verlassens der Heimat« heraufbeschworen. In Üç maymun (Drei Affen, 2008), für den er bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde, »ist das Zuhause im Zentrum des Films kurz davor auseinanderzubrechen – sowohl metaphorisch als auch real« (Suner 2011: 20). Ein heruntergekommenes Zuhause spielt auch in Petzolds Jerichow (2008) eine zentrale Rolle. Er erschien im selben Jahr wie Drei Affen und greift wie dieser auf klassische Film-noir-Bestandteile zurück: soziale und wirtschaftliche Frustration, Dreiecksverhältnisse, Kriminalität, Isolation und Verlust. Das Zuhause in Jerichow gehört Thomas (Benno Fürmann), einer der drei Hauptfiguren, die alle jeweils auf andere Weise nicht dazu gehören. Thomas lebte als Kind in dem Haus, verließ es, verpflichtete sich bei der Bundeswehr und erbt das Gebäude nun von seiner Mutter. Nach ihrem Begräbnis, als Thomas den Friedhof verlässt, lauern ihm zwei Schläger in einem Auto auf und zwingen ihn dazu, mit ihnen zum Haus zu gehen – alles in den ersten neunzig Sekunden des Films. Drinnen stauchen die Entführer – Leon (André Hennicke) und sein Handlanger – Thomas zusammen, weil er das von ihnen finanzierte Restaurant im Stich gelassen hat, und durchsuchen das Haus nach Geld und anderen Wertgegenständen, um damit seine Schulden bei ihnen zu begleichen. Zur Rechtfertigung erklärt Thomas seine Absicht, das Haus zu »renovieren« und dort zu leben. Leon entdeckt dann ein Foto von Thomas, das ihn als Kind mit seiner Mutter zeigt, wie sie in einem zweiten Bauwerk glücklich für das Foto posieren – in einem alten Baumhaus, das noch immer im Garten hinter dem Haus steht. Während Leon auf den Baum klettert, warnt Thomas, dass das Holz völlig morsch sei und Leon runterkrachen werde. Doch Leon bleibt hartnäckig und findet im Baumhaus einen Behälter mit Bargeld, den er trotz Thomas’ Flehen, er brauche das Geld für die Renovierung des Hauses, mitnimmt. In der Folge braucht Thomas sowohl Geld als auch ein Zuhause. Es ist diese Verflechtung von beiden, und nicht nur das eine oder das andere, das auch für die beiden anderen Hauptfiguren des Films entscheidend ist – das Ehepaar Ali (Hilmi Sözer) und Laura (Nina Hoss). Geld und Heimat spielen auch in Drei Affen eine Rolle, den ich sowohl mit Petzolds Yella (2007) als auch mit Jerichow in Bezug setzen werde. Aber die Verknüpfung ist in Ceylans Film weniger eindringlich und bedeutungsvoll als in Petzolds Arbeiten. Wie bereits erwähnt, bedeutet Heimatlosigkeit für Petzold und seine Kollegen und Kolleginnen nicht ausschließlich oder notwendigerweise das Fehlen oder

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der Verlust eines physischen Zuhauses. Vielmehr kann sie genauso den psychologischen Orientierungsverlust bezeichnen, der durch die zahlreichen weltweiten wirtschaftlichen Entwicklungen hervorgerufen wird: neue Kommunikationstechnologien und sich ändernde Kapitalflüsse, zunehmende Ungleichheit der Einkommen, erhöhte Mobilität, um einen Arbeitsplatz zu bekommen oder Ausbildungsstätten zu besuchen, der ständige Aufenthalt in Transiträumen oder Nicht-Orten. Inmitten solcher Veränderungen müssen auch leistungsfähige Individuen vielleicht nicht gleich mit dem Verlust der Arbeit oder des Zuhauses, aber doch mit der Zerrüttung ihres Familienlebens, mit »Ausgrenzung […] von […] Wohlstand und Macht«, erhöhten Ängsten, Verwirrung und Ressentiments und sogar moralischen und spirituellen Niedergang zurechtkommen (Castells 2017, S. XXI). Eine weitere Schwierigkeit verstärkt das Gefühl des Fallens und der Nichtzugehörigkeit: »[E]in Teil des Gemeinschaftslebens, des Sozialen, ist zerstört worden«, erklärt Petzold Abel in einem Interview. »Die Menschen werden in eine furchtbare Unabhängigkeit gezwungen.« (Abel 2008: 11–12) Ähnlich wie bei Fisher sieht Petzold den Grund für die Zerstörung wichtiger Aspekte des deutschen Gemeinschaftslebens in »der Umwandlung des [ostdeutschen] staatssozialistischen Systems in ein [westdeutsches] neoliberales System« (Fisher 2013: 153) nach der Vereinigung 1990. Wie andere Mitglieder der Berliner Schule und zahlreiche Wissenschaftler/-innen prangert Petzold an, dass der Neoliberalismus gemeinschaftliche und kooperative Werte und Strategien vernachlässigt und dadurch Bürger/-innen zu kurz kommen lässt, die in einem wettbewerbsorientierten wirtschaftlichen Umfeld nicht mithalten können. In dem Buch Kleine Geschichte des Neoliberalismus beanstandet David Harvey in ähnlicher Weise die neoliberale Politik der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher, die diese in England in den frühen 1980er Jahren vorangetrieben hat: »Deshalb müsse man jegliche Form gesellschaftlicher Solidarität abschaffen – zugunsten von Individualismus, Privateigentum, persönlicher Verantwortung und den Werten der Familie.« (Harvey 2007: 33) Für Wendy Brown in Undoing the Demos sind »Wettbewerbsvorteile auf dem freien Markt« (2015: 137) statt »Erwägungen gemeinsamer Werte oder Ziele« (127) das Hauptziel des neoliberalen Denkens und Regierens. Folglich, so sagt sie, betrachtet die Bildungspolitik im Neoliberalismus Schüler/-innen und Studierende als Kapitalanlage und versucht in erster Linie, ihre unternehmerischen und finanziellen Begabungen zu entwickeln, und nicht ihr Verständnis von Gerechtigkeit und moralischem Verhalten. Auch Steven Shaviro argumentiert bestürzt, dass dort, wo der Neoliberalismus vorherrscht, »Leidenschaft nicht von wirtschaftlichem Kalkül zu unterscheiden ist und unser Innenleben ebenso gründlich monetarisiert und vermarktet wird wie unser physischer Besitz« (Shaviro 2010: 48–49). Positivere Darstellungen des Neoliberalismus heben hervor, dass die Übernahme des Prinzips des freien Markts dazu geführt hat, dass der »Aufstieg der Marktwirtschaften in Asien« beschleunigt wurde, was »zum schnellsten und umfassends-

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ten Rückgang von Armut in der Geschichte der Menschheit« geführt hat (Leonhardt 2015). Befürworter/-innen des Neoliberalismus betonen auch, dass er verschiedene Ansätze der Wirtschafts- und Sozialpolitik umfasst, von denen einige weniger streng sind als andere. In den entwickelten Industrieländern, wie England, Deutschland und den Vereinigten Staaten, führt der Neoliberalismus nicht notwendigerweise zu einer Verschlechterung von gemeinschaftlichen Gütern wie sauberem Wasser, sicheren Parks und Schulen, einem ausgebauten Verkehrsnetz und anderen öffentlichen Gütern. Darüber hinaus argumentieren einige Unterstützer/innen, dass der Neoliberalismus in der aufklärerischen Tradition nach Adam Smith durchaus dazu bereit ist, Arbeitende zu schützen, indem er die Wirtschaft reguliert, den Armen zu helfen und die Ungleichheit zu verringern, indem er die reichen Mitglieder der Gesellschaft besteuert. Trotzdem sehen Leute wie Petzold, Harvey, Brown, Shaviro und andere – wie ich bereits angedeutet habe – den Neoliberalismus weitgehend als destruktiv an. In die gleiche Richtung argumentiert Abel, wenn er sagt, dass »das wirklich definierende Ereignis« Deutschlands in den letzten Jahrzehnten nicht »der Fall der Mauer und die anschließende Vereinigung des Landes« gewesen sei, sondern »der Prozess, durch den dieser nationale Moment des Überschwangs fast augenblicklich der Entstehung der supranationalen Logik des Neoliberalismus Platz machte« (2009: 4). Somit wurde die Geburt des heutigen Deutschlands sofort von einer tiefen, emotionalen Enttäuschung, einem Sturz, der Petzolds Heimatlosigkeit nicht unähnlich ist, begleitet. Während sich Petzolds Filme im Einklang mit seinen oben zitierten Ausführungen kritisch mit den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten in Deutschland befassen – oder sie zumindest im Blick behalten –, sind Ceylans Filme und Kommentare in Bezug auf die Türkei weniger spezifisch und kritisch. Stattdessen neigen seine Filme dazu, metaphysischer und ahistorischer zu sein – »eher existentialistisch als politisch«, wie er in Bezug auf Drei Affen (Levy 2015: 105) erklärt hat. In Yella übernimmt Petzold seine Dialoge aus Aufzeichnungen von tatsächlichen Verhandlungen zwischen Risikokapitalgebern in Deutschland; im Gegensatz dazu ließ Ceylan, nachdem er schon auf »einer Reihe von Demonstrationen und politischen Kundgebungen« gedreht hatte (Andrew 2015a: 120), seinen Plan fallen, in Drei Affen eine reale türkische Wahl einzubauen. Auch wenn Bilder einer ungenannten politischen Kundgebung auf einem kleinen Fernseher im Haus der Familie, die im Mittelpunkt von Drei Affen steht, zu sehen sind und die Stimme des Moderators erklärt, dass »Erdoğans Partei anscheinend einen erdrutschartigen Sieg errungen hat«, sind die Inhalte, um die es dabei geht – und ihre Relevanz für diese Familie – nicht näher ausgeführt. Außerdem ist es zweifelhaft, dass irgendein Familienmitglied sie sieht: Der Sohn kommt erst gegen Ende der Sendung nach Hause und ignoriert sie, die Mutter schläft, und der Vater ist im Gefängnis.

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Asuman Suner sieht gerade in Ceylans Vermeidung von Politik eine politische und historische Bedeutung. Ihrer Ansicht nach spiegelt diese Vermeidung das anhaltende »Schweigen, Vergessen und die Komplizenschaft« der türkischen Gesellschaft in Bezug auf die Massaker und Deportationen von Armeniern und Armenierinnen und anderen ethnischen und religiösen Minderheiten wider, insbesondere von 1915 bis 1923, als »der türkische Nationalstaat« sich formte (Suner 2011: 13). Auch in jüngerer Zeit hat die Türkei, so Dönmez-Colin, »ihre Minderheiten vertrieben, ins Exil geschickt oder zum Schweigen gebracht«, um eine nationale Identität auf der Grundlage einer ethnischen »Homogenität« zu schaffen (2008: 11–15). Menschenrechtsverletzungen sind verbreitet und betreffen nicht nur Kurden und Kurdinnen und andere Personen mit abweichender ethnischer Herkunft, Sprache, Religion oder Geschlecht, sondern auch zahlreiche Journalisten und Journalistinnen, Lehrer/-innen, Schriftsteller/-innen, Musiker/-innen und bildende Künstler/innen, die der »Beleidigung des Türkentums« beschuldigt werden – ein Verbrechen, das während der Militärdiktatur von 1980 bis 1983 in die Verfassung aufgenommen wurde (Dönmez-Colin 2008: 14). Wie Suner feststellt, lassen die türkische »autoritäre Mentalität« (Suner 2010: 7) und der militarisierte politische Raum (es gab 1960, 1971 sowie 1980 Militärputsche) »wenig Raum für Stimmen der Demokratisierung und des Pluralismus« (12). Dennoch haben einige Ausdrucksformen sozialer, politischer und wirtschaftlicher Diversität und des Unmuts überlebt. So gehören zum türkischen New-Wave-Kino auch politische Filme, die untersuchen, »wie das Leben der einfachen Leute durch das turbulente politische Klima der jüngeren Vergangenheit in der Türkei zerstört wurde« (18). Dönmez-Colin nennt etwa Reha Erdems Film Kaç para kaç (Run for Money, 1999), eine Satire über die zunehmende Entwicklung der Türkei in Richtung Marktwirtschaft seit den 1980er Jahren, in der »Geld zum einzigen Ziel wurde«. Aber auch Dönmez-Colin stellt fest, dass das türkische Kino überwiegend »eskapistisch« sei – losgelöst von »kontroversen Themen« und den »sozialen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten der Türkei« (Dönmez-Colin 2008: 15–17). In jedem Fall jedoch stimmen sie und Suner darin überein, dass Ceylans Filme nicht politisch sind. Bisher haben seine Filme kontroverse Themen wie die »autoritäre Mentalität« der Türkei, die Verfolgung von Frauen, Minderheiten und der Presse oder die Feindseligkeiten zwischen kurdischen Separatisten und Separatistinnen und der türkischen Armee weitgehend vermieden. In Kış Uykusu (Winterschlaf, 2014) spielt die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit zwar eine große Rolle, doch die Relevanz des Films bezüglich der Behandlung der gegenwärtigen sozialen Konflikte, einschließlich der Verantwortung des Neoliberalismus für die sich ausweitende Kluft zwischen Arm und Reich, wird entschärft durch die exotische kappadokische Kulisse und seinen altmodischen, aber anziehenden tschechowschen Ton. Winterschlaf gewann 2014 in Cannes die Goldene Palme und krönte damit eine bemerkenswerte Serie Ceylans, da seine vier vorherigen Filme – Uzak (Uzak – Weit, 2002),

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İklimler (Jahreszeiten – İklimler 2006), Drei Affen und Bir Zamanlar Anadolu’da (Once Upon a Time in Anatolia, 2011) – ebenfalls mit bedeutenden Preisen in Cannes ausgezeichnet worden waren. Wie andere Regisseure und Regisseurinnen des neueren türkischen Kunstkinos (und wie die Berliner Schule) arbeitet Ceylan mit kleinen Budgets und Crews, erfährt nur bescheidene Aufmerksamkeit in den Medien und hat kaum Erfolg an den Kinokassen. Allerdings ist er der erste türkische Filmemacher seit Yilmaz Güney – der kurdische Schriftsteller, Regisseur und Schauspieler, dessen Film Yol – Der Weg (1982) im Jahr seines Debüts in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde –, der international auf diesem Level Anerkennung erhalten hat. Güneys Filme in den turbulenten 1970er Jahren, einer Ära des »politisierten sozial-realistischen Kinos« (Suner 2010: 4), konzentrierten sich auf die Not der Arbeiter/-innen und Armen. Yol – Der Weg wurde von Güney geschrieben, in seinem Auftrag von Şerif Gören gedreht, während Güney im Gefängnis saß, und dann von Güney nach seiner Flucht aus dem Gefängnis in der Schweiz fertig geschnitten. Er porträtiert darin »fünf Gefangene, die während einer Woche Hafturlaub in verschiedene Teile der Türkei nach Hause fahren« und die die türkische Gesellschaft unter der Militärregierung »genauso klaustrophobisch und repressiv empfinden wie das Gefängnis« (Suner 2010: 5). Ceylans Hauptfiguren in Uzak – Weit, Drei Affen und Winterschlaf verbringen die meiste Zeit in ihrem Zuhause, anstatt zu reisen, und erleben dort Klaustrophobie und Repression, eine Art von innerer Heimatlosigkeit. Darüber hinaus scheinen seine Hauptfiguren, selbst die umherreisenden Figuren in Jahreszeiten – İklimler und Once Upon a Time in Anatolia, seltsam abgekoppelt von den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen der Gesellschaft. Es sind nicht die äußeren Lebensumstände, sondern eher etwas Inneres, das an ihnen nagt, sie plagt und ihr begrenztes Leben bestimmt. Die Unterdrückung der politischen und historischen Wahrheit in der Türkei, so Suner, habe Ceylan dazu veranlasst, sich auf Darstellungen des inneren Lebens zu konzentrieren, »auf die subjektive Befragung der menschlichen Seele« (Suner 2011: 14). In der Tat scheint Ceylan dazu zu neigen, sich unabhängig von historischen Ereignissen auf seelische Zustände zu konzentrieren, und die Modulationen dieser Seele, einschließlich ihres Schweigens und ihrer Amnesie, als unabhängig von solchen Ereignissen zu betrachten. Seine Aussagen und seine Filme lassen zudem vermuten, dass er den wesentlichen Kern der Seele als ewig und universell betrachtet. Einer der vielen Hinweise, dass er die Seele als sein oberstes Thema ansieht, ist das kurze Interview, das im Begleitheft der Zeitgeist-DVD von Drei Affen abgedruckt ist: »Ich erforsche gerne die Seele der Figuren, um zu versuchen zu verstehen, wie die verborgensten Bereiche der menschlichen Natur funktionieren« (Ceylan 2009). An anderer Stelle, als er über Once Upon a Time in Anatolia spricht, deutet er an, dass die menschliche Seele unvergängliche Merkmale oder Vorlieben habe: »Ich wollte mich mit den unvergänglichen Eigenschaften der menschlichen Natur befassen.«

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(White 2011: 70) Sein Glaube an »unvergängliche Eigenschaften« deutet sich auch in seinem Kommentar zur New Yorker-DVD von Uzak – Weit an, wenn auch weniger affirmativ: »Im Leben bleibt im Großen und Ganzen alles gleich.« (Ceylan 2005) Ferner weist er darauf hin, dass bestimmte Eigenschaften der menschlichen Seele universell sind: »Jeder Mensch hat ein Leben und trägt versteckte Gewalt in sich. Jeder Mensch fühlt sich für zahlreiche Dinge schuldig.« (White 2011: 71) »Die Menschen versuchen, sich zu schützen; jeder hat etwas, das er verbergen will.« (66) Wie schon gesagt, ist in Drei Affen diese Heimatlosigkeit und der Fall der Seele relativ losgelöst von historischen und gesellschaftspolitischen Markern, die die Figuren und Ereignisse in Yella und Jerichow verankern. In Drei Affen finden sich wenige Parallelen zu externen Ereignissen wie dem Fall der Berliner Mauer, der Vereinigung Deutschlands oder dem Triumph und Ausbreitung des Neoliberalismus. Im Gegensatz dazu prägt insbesondere der Neoliberalismus fast jeden Moment der beiden deutschen Filme. Die Heldin in Yella hastet zwischen Ost- und Westdeutschland hin und her, zwischen dem ehemaligen sozialistischen und dem nach Petzolds Ansicht zunehmend neoliberalen Staat, um Geld zu verdienen und zu überleben. Yellas (Nina Hoss) Liebe zu ihrem entfremdeten Ehemann Ben (Hinnerk Schönemann) endet zu dem Zeitpunkt, als ihre gemeinsame Firma Pleite geht. Ihr neuer Geliebter Philipp (Devid Striesow), zunächst selbstbewusst und finanziell erfolgreich, ist verzweifelt, als er gefeuert wird, weil er Geld von seinem Arbeitgeber gestohlen hat. »Du musst dir jemand anders suchen«, sagt er Yella. »Die nehmen mich doch jetzt nicht mal mehr in so ’ner Scheißbank.« Ohne »Wettbewerbsvorteil auf dem freien Markt«, wie Wendy Brown (2015) sagen würde, glaubt Philipp, er sei der Liebe Yellas unwürdig. Hoss’ Figur Laura in Jerichow – ein Film, in dem »es kaum eine Szene gibt, die nicht in irgendeiner Form Bezug auf ökonomischen Austausch nimmt« (King 2010: 13) – sieht das Verhältnis von Geld und Liebe genauso illusionslos wie Philipp und Yella. So weist Laura Thomas’ Liebeserklärung zunächst ab, indem sie sagt: »Man kann sich nicht lieben, wenn man kein Geld hat. Ich weiß das.« In Yella und Jerichow stehen Geld und Wettbewerbsvorteile sowohl vor Liebe als auch vor Heimat; zudem sind Petzolds Figuren zu diesen Themen weit beredter als die von Ceylan. Die Welt in Drei Affen ist eine des Schweigens, der Enge und der stummen Trauer. Obwohl Eyüp (Yavuz Bingöl), Servets (Ercan Kesal) Fahrer, zustimmt, gegen Bezahlung an Servets Stelle ins Gefängnis zu gehen, scheint Eyüp, anders als die Hauptfiguren in Yella und Jerichow, kein ausgeprägtes Bedürfnis oder Verlangen nach Geld zu verspüren – oder überhaupt fähig zu sein, ein starkes Verlangen nach irgendetwas zu hegen, jedenfalls zunächst. Nach seinem Gefängnisaufenthalt scheint er temperamentvoller zu werden, aber zu Beginn des Films in der dunklen, beengten Wohnung wirkt er gehemmt und stumm, ein Außenseiter in seinem eigenen Heim, der nicht in der Lage ist, seiner Frau Hacer (Hatice Aslan) und seinem Sohn Ismail (Ahmet Rifat Şungar) seine verhängnisvolle Entscheidung mitzuteilen.

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Ihr gemeinsames Leben zu Beginn scheint so wenig Hoffnung und Wärme zu bieten, dass die Möglichkeit besteht, dass Eyüp den Gefängnisaufenthalt als Flucht ansieht. Später, als er aus dem Gefängnis entlassen wird, erfährt Eyüp, dass Ismail indirekt Geld von Servet erhalten und ohne Eyüps Wissen oder Erlaubnis ein Auto gekauft hat, während Hacer, die das Geld abgefordert hat, eine Affäre mit Servet angefangen hat. Der Verrat erzürnt Eyüp und macht seine Heimkehr für alle drei zur Qual. Völlig isoliert von den anderen, schwelt sein Ärger zunächst in der Wohnung und dann am Meer wortlos weiter. Schließlich besucht er ein Teehaus in der Nachbarschaft, in dem er vorher Stammgast war, und wo man ihn zum ersten Mal seit seiner Entlassung freundlich begrüßt: »Willkommen zurück … wir haben dich vermisst!« Alasdair King bemerkt, dass in Jerichow »Geld in jeder Szene präsent ist – als Bild, als Währung, als Zeichen des Verrats« (King 2010: 15). Drei Affen dagegen postuliert, dass Verrat und Selbsttäuschung anhaltende Versagen der »Seele« oder unveränderliche Schwächen sind, die in den »Tiefen der menschlichen Natur« festgeschrieben sind. Darüber hinaus bleiben sie in Ceylans Film relativ mysteriös und unerklärlich, während in Yella und Jerichow – so wie in Carnival of Souls, dem US-amerikanischen Film, der zu Beginn dieses Essays genannt wurde – der Verrat darin begründet ist, dass der Neoliberalismus zu viel Gewicht auf ökonomischen Profit legt. Wenn Carnival of Souls die Weichen für Yella stellt, dann nicht nur, weil die Heldin in beiden albtraumhaften Filmen eine junge Frau ist, die als Geist ins Leben zurückkehrt, nachdem sie von einer Brücke gefahren und ertrunken ist, sondern weil ihr Geist sein höheres Ich verrät, indem er ökonomische Ziele über moralische und spirituelle stellt. Als in Carnival of Souls der Pfarrer der Kirche, der Mary Henry als Organistin angestellt hat, sie bittet, mit ein wenig mehr Seele zu spielen, da er ihr Spiel als kalt und mechanisch empfindet, antwortet sie: »Für mich ist das nur ein Job.« Als er sehnsüchtig davon spricht, dass eine Organistin die Seele zu berühren vermag, antwortet sie kühl: »Für mich ist eine Kirche nur ein Arbeitsplatz.« Als Thatcher in den 1980er Jahren in England den neoliberalen Umbau anstieß, ließ sie laut Harvey verlautbaren: »Die Wirtschaft ist nur die Methode, das Ziel hingegen ist es, die Seele zu verändern.« (Harvey 2007: 34) Ihre Worte verweisen paradoxerweise auf die schon genannte Aussage von Shaviro, dass »… unser Innenleben ebenso gründlich monetarisiert und vermarktet wird wie unser physischer Besitz« (Shaviro 2010: 48–49). Thatchers Behauptung impliziert den Glauben daran, dass die menschliche Seele nicht unveränderlich, sondern empfänglich für Veränderungen sei und diese sogar nötig hätte. Während Shaviro ebenfalls der Meinung ist, dass die Seele formbar ist, lehnt er die Veränderungen ab, die Thatcher angestrebt hat. Egal, ob man nun Shaviros oder Thatchers Ansichten teilt, »die Seele« wird zum Dreh- und Angelpunkt im Kampf um die Natur und die Zukunft der Menschheit, und die Filme von Petzold und der Berliner Schule können, deutlicher

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als die von Ceylan, als Teil dieses historischen Kampfes angesehen werden. Auch wenn der Neoliberalismus nicht die einzige Anschauung oder Ideologie angesehen werden kann, die die Menschheit derzeit bedroht, dominiert er doch in Petzolds Wahrnehmung den gegenwärtigen historischen Moment. Für ihn beschäftigt sich das Kino vor allem »mit der Gegenwart«, wie Abel bemerkt, einer Gegenwart, die, wie Petzold hinzufügt, »uns wiederum zur Geschichte, zur Frage der Vergangenheit führen kann« (Abel 2008: 8). Das ist vielleicht der Grund, weshalb Yella und Jerichow im Zuge ihrer Erforschung der Gefahren des Neoliberalismus sowohl die vergangenen als auch die gegenwärtigen Handlungen, Wünsche und Dilemmas ihrer Figuren darstellen, und auch wenn beide Filme keine vollständige Darstellung bieten, ist doch die Schilderung in jedem Film ausführlicher und detaillierter als in Drei Affen. Einzelheiten, wie sich die Gegenwart im Bezug zur Vergangenheit verhält, tauchen in Petzolds Filmen vor allem im Dialog auf. Obwohl Dennis Lim die Figuren der Berliner Schule zu Recht als »zurückhaltend« bezeichnet (Lim 2013: 90) und der bekannte deutsche Regisseur Dominik Graf feststellt, dass in der Berliner Schule ein »Misstrauen gegenüber der Sprache, der Kommunikation« vorherrscht (Lim 2013: 93), sprechen die Figuren in Jerichow und Yella mehr – und liefern mehr Fakten und Erklärungen zu ihrem Leben – als die relativ inaktiven, zurückgezogenen Figuren in Drei Affen und in anderen Filmen Ceylans wie Uzak – Weit, mit Muzaffer Özdemir als dem angespannten, verklemmten Werbefotografen Mahmut. Sogar in Winterschlaf, der mehr Dialog als jeder andere Film Ceylans aufweist, erfährt man nur wenig darüber, wie seine redseligen Hauptfiguren – der wohlhabende Landbesitzer, seine Schwester und seine Frau – zu dem geworden sind, was sie sind. Tatsächlich bleiben laut Jonathan Romney die »Hintergründe ihrer individuellen Kränkungen weitgehend verborgen« (Romney 2015: 241). Um die Art und Weise, wie Dialog in Petzolds Filmen eingesetzt wird, von der in Drei Affen zu unterscheiden, können wir uns einige Teile eines Gesprächs zwischen Thomas und Ali in Jerichow genauer ansehen. Ali ist Thomas’ Arbeitgeber und in der Türkei geboren. Er lebt in Deutschland und besitzt dort eine Imbisskette. Als Ali Thomas erzählt, dass er bald in die Türkei fährt, um mit einem Architekten über ein Stück Land zu sprechen, das er in seinem Heimatland gekauft hat, fragt Thomas, ob Ali plant, dort ein Ferienhaus zu bauen. »Nee, soll für immer sein«, antwortet Ali und deutet an, dass er dauerhaft in die Türkei zurückkehren möchte. »Ich bin da geboren«, fährt er fort. »Ich war zwei, als wir da weggingen. Vor ’nem halben Jahr hab’ ich meinen Vater dort beerdigt … Der wollte unbedingt da begraben werden.« Ali zeigt Thomas ein Foto (das die Zuschauer und Zuschauerinnen nicht sehen), dann bemerkt er: »Ich war vorher nie in der Türkei. Scheiß Militär, keinen Bock drauf … Hast Du schon mal die Orangenblüte erlebt? Ist unfassbar.« So enthüllt Ali, ohne dass Thomas groß nachgefragt hat, wichtige Details über sein Leben, die bis in die Kindheit zurückreichen, so wie die frühere Szene zwischen Thomas

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und Leon Thomas’ Kindheit heraufbeschworen hat. Die beiden Szenen verbinden die Gegenwart mit der Vergangenheit und unterstreichen darüber hinaus, dass Ali und Thomas beide den Wunsch haben, sich auf heimatlichem Boden in Häusern niederzulassen, die in ihrer Kindheit für sie wichtig waren. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht natürlich darin, dass der Wunsch beider Männer sich nicht erfüllt. Denn Leon hat das Geld mitgenommen, das Thomas für die Renovierung zurückgelegt hat, und Ali, so erfahren wir bald, hat ein unheilbares Herzleiden; anstatt in die Türkei zu fahren, plant er in Wirklichkeit, in ein deutsches Krankenhaus zu gehen, um sich medizinischen Tests zu unterziehen.

Abbildung 6.1: Jerichow: »Das war nicht gut.«

Ali offenbart mehr von sich in einem anderen Dialog, der weder von Liebe noch von der Sehnsucht nach einer Heimat handelt, sondern stattdessen Geld und Wettbewerbsvorteile in den Mittelpunkt rückt. Nachdem er Thomas auf Probe eingestellt hat, betont Ali immer wieder, dass seine Mitarbeiter/-innen effizient sein müssen, wenn sie die Lieferungen für die Imbisse auf den Lieferwagen laden: »Aber nicht, dass du ewig da im Laderaum rumtrödelst, okay? Das kostet wahnsinnig Zeit.« Unterwegs fragt Ali Thomas, wie man Benzin sparen kann: »Fahren wir zuerst den am weitesten entfernten Laden an oder den nächstgelegenen?« Später, als Thomas’ Arbeitsplatz sicher ist, debattieren die beiden, an welcher Ecke einer Verkehrskreuzung Alis neuer Imbiss stehen soll, um die meisten Kunden und Kundinnen abzugreifen. Noch eindrucksvoller wird es deutlich, als die beiden Männer von einem Geschäft zum anderen fahren und Ali klagt, dass seine Angestellten ihm Geld stehlen. »Die bescheißen mich doch alle hier«, sagt er, und folglich spioniert er alle aus. Sogar seine Frau Laura betrügt ihn, erstens indem sie ihn bestiehlt und zweitens bald

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eine Affäre mit Thomas beginnt. Wie Ali erläutert auch Laura ihre Situation mehr oder weniger detailliert, nachdem sie zu Beginn des Films meist stumm und geheimnisvoll erschienen ist, ähnlich wie die Figuren in Drei Affen. Lauras Aufklärung über ihre Vergangenheit erfolgt, als Ali für die medizinischen Tests ins Krankenhaus gegangen ist und sie und Thomas sich gestritten haben. Sie geht im Regen zu Thomas’ Haus, sie haben Sex und sie bleibt über Nacht. »Ich muss dir was sagen«, erklärt sie am nächsten Morgen, vielleicht weil sie sich jetzt mehr als vorher mit ihm verbunden fühlt (Abb. 6.1). Laura erklärt, dass sie zwei Jahre im Gefängnis saß, 142.000 Euro Schulden hat und vierunddreißig Jahre alt ist. Ali kam eines Tages in die Bar, in der sie arbeitete. Er war der anständigste Mann, den sie je kennengelernt hatte, und besaß viel Geld, sodass sie aufhören konnte zu arbeiten. Ihr Ehevertrag war jedoch strikt: »Wenn ich ihn verlasse, dann bekomme ich nichts. Nur meine Schulden, die krieg ich zurück.« An diesem Punkt ihrer Erzählung entdeckt Thomas, dass Ali sie schlägt. Er sieht die Wunden auf ihrem Körper, die von ihrer anhaltenden Ausweglosigkeit und Entfremdung sowie von Alis Brutalität zeugen – und von seinem Schmerz und seinem Misstrauen gegenüber allen Menschen um ihn herum. In Lauras Geschichte darüber, wer sie ist und woher sie kommt, steht das Geld im Mittelpunkt, genauso wie in großen Teilen von Alis Darstellung. Aber wenn man, wie Laura sagt, »sich nicht lieben kann, wenn man kein Geld hat«, kann man auch keine Heimat haben – oder irgendwohin und zu irgendjemand »gehören«. Alis Klage, »jeder hier bescheißt mich«, hat ähnliche Konsequenzen. Vielleicht würde er dazugehören, wenn er in die Türkei zurückkehren würde, aber im Moment sind sowohl er als auch Laura heimatlos und leiden. In Drei Affen, der in Istanbul spielt, wird Eyüp zu Hause mitten in der Nacht durch einen Telefonanruf von Servet geweckt, der seinen müden Mitarbeiter auffordert, ihn sofort zu treffen. »Okay, ich komme gleich«, sagt Eyüp sofort. In der nächsten Szene sitzen die beiden Männer im Dunkeln auf einer Bank am Meeresufer. Servet bittet Eyüp, für ihn ins Gefängnis zu gehen, da er früher am Abend einen Unfall mit Fahrerflucht begangen hat, der gleich zu Beginn des Films gezeigt wurde. Auch hier reagiert Eyüp zügig, obwohl er unglücklich wirkt: »Okay, kein Problem.« Servet verspricht, seinem Sohn Ismail während der Haft Eyüps reguläres Gehalt zu zahlen, zuzüglich eines Bonus, wenn Eyüp die Gefängnisstrafe beendet hat, doch der flache Tonfall, mit dem Eyüp seine Zustimmung gibt, zeugt eher von gewohnheitsmäßiger Ehrfurcht vor Autoritäten als von Geldgelüsten. Dazu kommt, dass Eyüps »Okay, kein Problem« seine einzigen Worte während des gesamten Treffens sind – Servet übernimmt alles Reden. Zum Beispiel stellt Eyüp weder Servets Behauptung, dass er nicht mehr als ein Jahr im Gefängnis sitzen würde, in Frage, noch zögert er, seine Familie und sein Zuhause zu verlassen und seine Freiheit aufzugeben. Nach dieser Szene, die damit endet, dass die Kamera ein Bild des Meeres zeigt, nähert sich Eyüp langsam einem Bett, in dem seine Frau Hacer schläft. Er setzt sich

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schwerfällig auf dessen Rand und schaut einen Moment lang zu ihr. Während sie weiterschläft, wendet er sich ab und sitzt mit dem Rücken zu ihr. Eine Nahaufnahme seiner geballten Hände zeigt, wie sich eine öffnet, um einen Autoschlüssel zu enthüllen, den Servet ihm am Ende der vorherigen Szene gibt. Eyüp schaut grimmig auf den Schlüssel hinunter. Das Hupen und Rumpeln eines Zuges aus dem Off unterbricht die Stille, aber Hacer rührt sich nicht, und Eyüp dreht sich nicht noch mal zu ihr um. Offenbar durch die Geräusche aufgeschreckt, schaut er jedoch nach oben und hinter sich, in Richtung des rechten Bildrandes. Die Tonspur bleibt bestehen und nach dem Schnitt sehen wir in einer neuen Einstellung ein großes Fenster, das durchaus Gegenstand von Eyüps Blick gewesen sein könnte. Das Fenster, das einen ungehinderten Blick auf Himmel und Meer bietet (und, wie wir später feststellen, auch auf eine Autobahn und Eisenbahnschienen), befindet sich jedoch in einem anderen Raum (einem kleinen Wohn- und Esszimmer), und auch das Licht ist anders, was auf eine spätere Tageszeit hinweist. Nur die schrillen Zuggeräusche in der neuen Aufnahme sind unverändert – Ceylan erwog, Drei Affen »The Sound of the Trains« zu nennen (Levy 2015: 107). Hacer betritt den Raum, geht zum Fenster und stellt eine Kaffeetasse auf einen Tisch, der neben dem Fenster steht. Dann greift sie durch das Fenster hindurch, das, wie sich herausstellt, offen ist, und berührt die Pflanzen auf dem äußeren Fensterbrett. Die nächste Aufnahme zeigt Ismails bewegungslosen Körper im Bett, als Hacer sein Zimmer betritt und sagt: »Steh auf! Du verpasst sonst den Zug«, und die Vorhänge des Fensters neben seinem Bett öffnet. In der folgenden Einstellung, etwa neuneinhalb Minuten nach Beginn des Films, sieht man Ismail beim Frühstück am Tisch neben dem Fenster mit Meerblick, und kurz darauf erscheint er an Bord eines Zuges, der ihn zu seinem Vater ins Gefängnis bringt. Hervorzuheben ist neben dem Mangel an Dialogen, dass das große Fenster, das den Himmel und das Meer zeigt, nicht Gegenstand von Eyüps Sichtachse, Perspektive oder Handlungsmacht ist. Anstatt uns auf das Fenster aufmerksam zu machen, wird Eyüps Blick unterbrochen. Er beginnt nur in die Richtung zu schauen, verschwindet dann und erscheint weder im späteren Bildausschnitt (das Fenster mit Meer und Himmel), noch in den folgenden Aufnahmen, die ich beschrieben habe. Diese nachfolgenden Bilder, die nur scheinbar durch seinen Blick angestoßen werden, stellen uns seine Frau und seinen Sohn vor. Aber was, wenn sich vor Eyups Verschwinden etwas zwischen diesen drei Personen zugetragen hat? Enthalten die fehlenden Momente traurige Gespräche, Streit, Erklärungen, Diskussionen, Umarmungen, tränenreiche Verabschiedungen? Wir wissen es nicht und werden es nicht erfahren. Offensichtlich sind nur die Absenz menschlicher Stimmen und Eyüps vorzeitige Abwesenheit in den Räumen, in denen die Zuschauer/-innen ihn erwarten. Ceylans Kino lebt geradezu davon, wichtige Fakten und Ereignisse nicht zu zeigen, die das gesellschaftspolitische Umfeld und die bedeutendsten Gefühle sei-

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ner Figuren erklären könnten (Suner 2011: 18; Sippl 2015: 36). Natürlich gehören das Weglassen und die Abwesenheit auf verschiedene Weise zu den integralen Bestandteilen der Kunst und des Kinos, auch in den Filmen der Berliner Schule. Wie anders sähe beispielsweise Petzolds Die innere Sicherheit (2000) aus, wenn die Gründe für das schwierige Leben auf der Flucht von Clara (Barbara Auer), Hans (Richy Müller) und ihrer Tochter Jeanne (Julia Hummer) erklärt würden. Doch welche Rolle Hans und Clara in der Roten Armee Fraktion (RAF) spielten, wird nicht diskutiert – der Begriff RAF fällt nicht einmal. Stattdessen herrscht, wie Fisher feststellt, »bemerkenswertes Schweigen« über die Vergangenheit (2013: 45). Möglicherweise sind Hans und Clara mit ihrer Tochter aus Gründen, die nichts mit Politik zu tun haben, schon lange auf der Flucht und halten sich versteckt; sie enthalten ihr ihre Vergangenheit und ihre politischen Ideale vor, vielleicht weil sie erst fünfzehn ist oder weil sie sogar ihrer Tochter gegenüber ängstlich und misstrauisch sind. Dieses Schweigen steigert nur Jeannes Unzufriedenheit und Verwirrung, warum ihr eigentlich selbstverständlich erscheinende Teenager-Erwartungen wie ein stabiles Zuhause und enge Freunde verwehrt bleiben. Als Clara Jeanne dafür ausschimpft, dass sie eine Nacht ohne Erlaubnis weggeblieben ist, sagt sie ihr: »Du hast überhaupt nicht verstanden, worum’s geht!« Die Tochter hat »überhaupt nichts verstanden«, weil, fast unglaublich, wesentliche Fakten und Ereignisse sowohl von ihren Eltern als auch vom Film selbst weggelassen werden. Jeanne stiehlt sich heimlich von ihren Eltern davon, um sich mit Heinrich (Bilge Bingül) zu treffen, einem neuen Freund, aber verlässt ihn jedes Mal ganz plötzlich und ohne Erklärung. Sie verrät keine Einzelheiten über ihr Leben in Gefangenschaft mit Hans und Clara und erzählt Heinrich nur, dass sie im Untergrund leben und einer Sekte angehören würden. Er beschwert sich: »Ich weiß nicht, wer ihr seid, oder was«, und vielleicht weiß sie es in ihrer verwirrenden Situation selbst nicht so genau. Sie ist damit in gewisser Weise dem Bundeswehrrekruten Paul in Köhlers Film Bungalow ähnlich, der auch nicht sagen kann, warum er zur Bundeswehr gegangen und dann desertiert ist. Doch obwohl Jeanne Teil des rätselhaften Lebens ihrer Eltern ist, hat sie doch eine Vorstellung von der Normalität, die sie sich wünscht. Paul dagegen ist eine Leerstelle, ohne definierte Wünsche und Gefühle, sich selbst und den anderen ein Unbekannter. »Ich weiß nichts mehr«, sagt er einmal. Seine Eltern werden erwähnt, erscheinen aber nicht. Schweigen herrscht über seine Vergangenheit. Im Gegensatz zu Die innere Sicherheit fehlen bei Bungalow potenziell erklärende Fakten und Ereignisse. Die letzte Einstellung unterstreicht diesen Hang zum Auslassen und zur Unbestimmtheit. Nachdem Paul in der Kaserne anruft, um sich den Feldjägern zu stellen, endet Bungalow mit einer langen Weitwinkelaufnahme eines Parkplatzes, auf dem sowohl ein Bundeswehrjeep als auch ein gelber Tanklastwagen vorfahren und Pauls Figur, die im Hintergrund steht, verdecken. Als die Fahrzeuge losfahren, ist er weg, aber wir können nicht feststellen, ob er in den Bundeswehrwagen oder den Laster gestiegen ist. Parallel dazu

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spielt die erste Szene des Films in einer Raststäte, wo Paul zusammen mit anderen Soldaten in einem Militärlastwagen ankommt. Er desertiert dann, indem er einfach nicht wieder einsteigt und per Anhalter von einem Transportfahrer mitgenommen wird. In der Folge hält er mehrmals sein Versprechen nicht ein, sich den Feldjägern zu ergeben. Ob er auch in der Schlussszene daran scheitert, lässt die lange statische Einstellung offen.

Abbildung 6.2: Drei Affen: »Hast du mich vermisst?«

Von dem Moment an, in dem der junge Ismail zum ersten Mal in Drei Affen auftaucht, sieht er so entfremdet und gleichgültig aus wie Paul in Bungalow. Nach Servets Telefonanruf, in dem er Eyüp herbeizitiert hat, trifft Ismail seinen Vater auf dem Weg ins Badezimmer, ignoriert ihn aber komplett trotz der unverkennbaren Sorge und Bedürftigkeit, die auf Eyüps Gesicht zu sehen ist. Als Ismail die Affäre seiner Mutter mit Servet entdeckt, führt das zu einem ungewohnten Ausbruch von Verletzlichkeit und Wut. Doch dann fällt Ismail in seinen leblosen Zustand zurück, der auch anhält, nachdem er Servet ermordet hat, ein Ereignis übrigens, das wie Servets Unfall mit Fahrerflucht nicht gezeigt wird. Was ist der Grund für Ismails andauernden emotionslosen und abgespannten Zustand? Er wirkt noch befremdlicher als Armin in Falscher Bekenner – obwohl ihm Armins unpersönliche Bewerbungsgespräche und Fantasien von derben homoerotischen Begegnungen, die an Momente in Kenneth Angers Fireworks (1947) erinnern, erspart bleiben. Vielleicht sind, wie verschiedene Kritiker/-innen vermuteten, weder Ismail noch seine Eltern je über den Tod von Ismails kleinem Bruder Jahre zuvor hinweggekommen, der möglicherweise ertrunken ist. Obwohl diese Tragödie, wie die anderen in dem Film, weder gezeigt noch thematisiert wird, sehen wir an einer Stelle die tropfnasse, fast nackte Gestalt des Kindes (Gurkan Aydin), wie sie sich Ismail nähert.

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Später legt der Geist einen Arm über Eyüps Schulter, als ob er den Vater nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis trösten wollte. Ismail selbst kommt eines Tages von einer Schlägerei blutverschmiert nach Hause – ein weiteres Ereignis, das im Off stattfindet und das Hacer letztendlich dazu motiviert, Servet um Geld zu bitten. Was ist mit Eyüp und Hacer? Obwohl sie Ismail Gebäck mitgibt, um es Eyüp ins Gefängnis zu bringen, sprechen sie und Eyüp erst zum Ende des Films miteinander, als Eyüp sie nach ihrer Beziehung zu Servet befragt (Abb. 6.2). Zu diesem Zeitpunkt ist Eyüp gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, wo Hacer ihn während seines neunmonatigen Aufenthalts nicht ein einziges Mal besucht hat (auch Ismail hat ihn nur dreimal besucht), und Eyüps Frage erweist sich als emotional zu aufgeladen, als dass sie lange reden könnten. Darüber hinaus erfahren wir nichts über ihr gemeinsames Leben, wie sie sich kennengelernt haben oder über die Auswirkungen des Todes ihres kleinen Sohnes. Ebenso unbekannt bleibt, wie sich Hacer und Servets Affäre entwickelt hat. Wir bekommen keine Gespräche zwischen den beiden gezeigt, nachdem Servet, als er sie in seinem Auto mitnimmt, ihr sagt, er würde alles für sie tun – sie brauche nur zu fragen. Erst am Ende ihres Verhältnisses, als sie sich an der Strandpromenade gegenüberstehen und streiten, sprechen sie das nächste Mal miteinander. Wir sehen in der Totale, wie sich Hacer an Servet klammert und ihn anfleht, sie nicht zu verlassen. »Geh weg, du Quälgeist«, antwortet er, und daraufhin drohen sie, sich gegenseitig zu töten. Da die Einzelheiten ihrer Romanze nicht gezeigt wurden, können die Zuschauer/-innen nicht richtig nachvollziehen, wieso Hacer trotz ihrer Schönheit und anfänglichen Gefasstheit in die suizidale Verzweiflung abstürzt. Ihr jämmerlicher Zustand ist umso verwirrender, als Servet einfach nur ein einfältiger Egoist zu sein scheint, der ihrer Zuneigung weniger würdig ist als Eyüp – der, wie ich bereits angedeutet habe, aus dem Gefängnis energischer und scharfsichtiger als zuvor herauskommt. Andererseits wird dadurch die Kluft zwischen Eyüp und Hacer deutlich gemacht: Seine Zeit im Gefängnis hat ihn aufgebaut und sie zerstört. Bei den meisten Spielfilmen gehören Zerwürfnisse und Zwist zwischen den Hauptfiguren wesentlich dazu. Doch in Filmen wie Jerichow und Yella gibt es Momente, in denen – wenn auch nur von kurzer Dauer – sich die Figuren öffnen und miteinander in Austausch treten, auch wenn sie es nicht schaffen, sich eine Heimat aufzubauen, oder ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln. Solche Momente gibt es in Jerichow nicht nur zwischen Laura und Thomas, als Laura am Morgen, nachdem sie die Nacht miteinander verbracht haben, Einzelheiten ihrer Vergangenheit preisgibt, sondern auch zwischen Laura und Ali am Ende des Films, wenn er ihr sagt, dass er sie braucht – dass er im Sterben liegt und sich darum kümmert, dass sie nach seinem Tod versorgt ist. Ähnliche Momente der Verbundenheit sind in Drei Affen nur schwer zu finden, nicht zuletzt aufgrund dessen, was Ceylan als seine »dunkle Seite« bezeichnet (Andrew 2015b: 206), nämlich der traurigen Neigung vieler Menschen und auch seiner selbst, die Wahrheit zu ver-

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bergen oder sich vor ihr zu verstecken, sich selbst und andere zu täuschen und sich in gewisser Weise sich eher abzuschotten als zu öffnen. Daher liegt die Wahrheit für Ceylan irgendwie mehr im Schweigen als in gesprochenen Worten. »Die Wahrheit liegt in dem, was verborgen ist, in dem, was nicht gesagt wird«, erklärt er. »Die Wirklichkeit besteht aus dem unausgesprochenen Teil unseres Lebens.« (White 2011: 66) Andere bedeutende zeitgenössischen Filmemacher/-innen teilen diese Ansicht. Lisandro Alonso zum Beispiel sagt: »Ich vertraue Worten nicht. Ich vertraue dem, was ich sehe … Ich glaube nicht, dass ich auf Worte zurückgreifen muss, um zu erklären, wie sich meine Figuren fühlen.« (Jaffe 2014: 126) Und der russische Schriftsteller und Regisseur Andrej Zvyaginstsev behauptet, dass »Worte wie Verräter sind … die Dinge lassen sich am besten mit Schweigen ausdrücken« (2012). Doch können Menschen ohne gesprochene Worte überhaupt eine Gemeinschaft aufbauen oder in Verbindung treten? Auch in anderen Filmen Ceylans ist das Schweigen beredt. Die ersten zehn Minuten von Uzak – Weit zum Beispiel enthalten keinen Dialog. Dazu schreibt Jonathan Romney, dass »Ceylan damit eine Stimmung des Verstummens und der gescheiterten Kommunikation etabliert« (Romney 2015: 232). In Jahreszeiten – İklimler, so Romney weiter, »zieht Ceylan die Stille vor« – am »berührendsten« seien die Momente, in denen die »Gefühle der Heldin plötzlich ohne Worte offensichtlich werden« (235–36). Dönmez-Colin ist ebenfalls der Meinung, dass die Perspektive der Heldin, ihre Gefühle und Zwangslage, »durch das Schweigen gefühlt werden« können (Dönmez-Colin 2008: 166–67). In Bezug auf Winterschlaf, der weithin als Ceylans theatralischster Film gilt, auch weil seine Figuren sich endlos miteinander zu unterhalten scheinen, erklärt Romney, »es ist in ihrem Schweigen, wo diese Darstellungen oft am eloquentesten sind« (Romney 2015: 242). Doch selbst beredtes Schweigen beseitigt nicht die Barrieren zwischen Ceylans Figuren. Aber auch Worte versagen. Wenn in Drei Affen die Figuren miteinander reden, dann oft, um sich gegenseitig Vorwürfe zu machen oder den anderen zurückzuweisen. Auch die weniger dramatischen Wortwechsel deuten eher auf Enttäuschung als auf Hoffnung hin, da die Figuren sich weigern, sich einander zu öffnen und ihre Wünsche zu artikulieren (Suner 2011: 20). Betrachten wir zum Beispiel diesen Dialog zwischen Hacer und Ismail: H: Natürlich langweilst du dich. Such dir was, was du tun kannst. I: Das hab’ ich ja getan. Aber du hast nur die Nase gerümpft. H: Was war es denn? I: Vergiss es. H: Komm schon! Was war es? I: Vergiss es einfach. Als ob du es nicht wüsstest. H: Ich weiß es nicht. Wenn ich es wüsste, würde ich doch nicht fragen?

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I: Ich habe es dir neulich gesagt. H: Was hast du mir gesagt? Dazu kommt, dass während des größten Teils dieses Wortwechsels Ismail aus dem Wohnzimmerfenster und nicht zu seiner Mutter schaut, als wolle er damit betonen, wie weit Hacer und er voneinander getrennt sind. Schließlich sagt er Hacer, sie solle Servet um Geld bitten – die Prämie, die Servet Eyüp versprochen hat –, damit Ismail sich ein Auto kaufen kann, um damit die Arbeit, die er möchte, auszuüben. So erreicht das Gespräch zwischen Ismail und Hacer schlussendlich doch ein Ziel, wenn auch nach Zwischenstopps und Verzögerungen, die – wie die langen Schweigeszenen und die spärlichen Erklärungen – dazu beitragen, dass Drei Affen oft von einer schmerzhaften und spannungsgeladenen Langsamkeit ist. Zu dieser Langsamkeit kommt noch hinzu, dass die Figuren weitgehend bewegungslos sind. »Von der ersten bis zur letzten Szene«, schreibt Fisher über Yella, ist Petzolds Heldin »… eine Frau in Bewegung« (Fisher 2011: 201). Weder die Personen noch die Geister in Drei Affen – ein Film, bei dem das Vergehen der Zeit und nicht die Bewegung im Vordergrund steht – würde man so bezeichnen können. Von Trauer überwältigt, bewegt sich Eyüp langsam und zögerlich, außer in den ersten Momenten nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Als Hacer und Ismail das erste Mal im Film auftauchen, liegen sie im Bett. Auch der Geist des toten Kindes tritt mit Ismail und Eyüp in Kontakt, während sie im Bett liegen. Servet sehen wir bis zum Ende des Films meistens sitzend – auf einer Bank in seinem Auto oder im Büro. Sogar die Autos und die Züge in Drei Affen bewegen sich im Vergleich zu den Fahrzeugen in Jerichow und Yella langsam und schwerfällig. Auch der Schnitt ist deutlich langsamer als in Petzolds Filmen, da die Einstellungen länger dauern. Die Langsamkeit, Unbeweglichkeit und Sprachlosigkeit von Drei Affen lässt gegen Ende des Films etwas nach, die gesprochenen Worte klingen wahrhaftiger und wärmer als die zuvor gesprochenen. »Wir haben dich vermisst«, sagt der junge Bayram (Cafer Köse), als er Eyüp begrüßt und ihm Tee bringt, als dieser nach seiner Entlassung ins Teehaus geht, um vor seiner Familie Zuflucht zu suchen. Darauf erzählt der junge Mann Eyüp davon, welche Probleme er hat, seinen Alltag zu bewältigen, und wir sehen Eyüp verständnisvoll in Nahaufnahme nicken, inmitten der Schwaden von Zigarettenrauch. Bayram hat keine Eltern mehr; seine Verwandten haben ihn schlecht behandelt, als er versuchte, bei ihnen zu wohnen; jetzt lebt und arbeitet er im Teehaus. »Ich habe hier Frieden«, sagt er. »Aber es ist so weit weg von zu Hause.« Am anderen Abend, nachdem er erfahren hat, dass Ismail Servet ermordet hat, kehrt Eyüp ins Teehaus zurück und weckt Bayram, um ihn zu überreden, statt Ismail ins Gefängnis zu gehen. Eyüp verspricht dem jungen Mann »einen Pauschalbetrag«, wenn er aus dem Gefängnis kommt – und spricht darüber, was ein Zuhause bedeutet: »Okay, dieses Teehaus ist dein Zuhause. Dieser

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Ort könnte es auch sein … Was ist der Unterschied? … Es gibt dort eine Heizung … Drei Mahlzeiten am Tag … Was sagst du dazu?« Wie Bayram und den Hauptfiguren in Jerichow und Yella fehlt es Eyüp, seiner Frau und seinem Sohn an dem, was Petzold »eine richtige Heimat« nennen würde, und an einem Gefühl der Zugehörigkeit – sie fühlen sich bei sich selbst kaum zu Hause. Aber während sowohl Petzolds als auch Ceylans Figuren deplatziert und vielleicht sogar gespenstisch erscheinen, egal wo sie sich befinden, bewegen sich Petzolds Figuren doch eher in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort; sie sind damit in eine bestimmte wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung eingebunden, nämlich in die des Neoliberalismus in Deutschland nach der Vereinigung. Ceylans Figuren sind zurückgezogener, unartikulierter, lethargischer und zielloser – der Gesellschaft und einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung und Ideologie entfremdet, mit dem Ergebnis, dass ihre Heimatlosigkeit eine eher übergreifende und unveränderbare Qualität hat. Robin Wood hat diese Unterscheidung in einem Essay über Ceylans Filme folgendermaßen artikuliert: »Ceylan fragt immer wieder: Sind wir unglücklich wegen der spezifischen sozialen Bedingungen, in denen wir leben, oder wegen einer tieferen, weniger definierbaren Unzufriedenheit, die in den Grundfesten der menschlichen Existenz vergraben liegt?« (Holz 2015: 59), und ich habe versucht, diese Frage in Bezug auf den Unterschied zwischen Ceylan und Petzold zu formulieren. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass Petzold und die Berliner Schule die »spezifischen sozialen Bedingungen« betonen, während Ceylan »die Grundfesten der menschlichen Existenz« in den Mittelpunkt stellt.

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7 Die Kräfte des Milieus Angela Schanelecs Marseille und das Erbe von Michelangelo Antonioni Inga Pollmann

Die Filme von Michelangelo Antonioni sind bekannt dafür, dass sie moderne Entfremdung und die zerstörerischen Effekte von Reichtum, Kapitalismus, Kolonialismus und der Medien insbesondere auf die Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg darstellen. Diese Themen werden vermittelt durch die Verweigerung linearer Handlungszusammenhänge und die Bevorzugung assoziativer Ab- und Umwege, die sich einem zielorientierten, kohärenten und logischen Geschehen entziehen. Genauso wie die Identität der Figuren sich auflöst, büßt die Erzählung ihren Plot ein. In L’Avventura (Die mit der Liebe spielen, 1960) verschwindet eine Frau auf einer kleinen Vulkaninsel, doch diejenigen, die nach ihr suchen, verlieren zunehmend das Ziel aus dem Blick; in La Notte (Die Nacht, 1961) erleben wir das Sterben einer Beziehung, als eine Frau sich der Leere der dekadenten, intellektuellen Existenz bewusst wird, die sie und ihr Partner führen; in L’Eclisse (Liebe 1962, 1962) beendet eine Frau ihre Beziehung, lässt sich treiben und lässt sich eher zufällig auf eine neue Beziehung ein; und in Il Deserto Rosso (Die rote Wüste, 1964) entfernt sich eine seelisch zerrüttete junge Frau in einer Industrielandschaft mehr und mehr von ihrem Mann und ihrem Sohn, bis ein Mitarbeiter ihres Mannes sie zu einer Affäre drängt. Figuren, die vor sich hinleben – oft ziellos, manchmal verwirrt und gelegentlich destruktiv –, und ein löchriger Plot lösen die Bilder der Filme aus ihrer Funktion der Vermittlung von Information und verlagern die Konstruktion von Bedeutung weg von den Dialogen und der Handlung hin auf die Inszenierung, das heißt auf die visuelle Konstellation und Darstellung der Menschen und Dinge im Bild. Antonionis Inszenierung wechselt zwischen zwei Verfahren: Auf der einen Seite zeigt er, wie seine Protagonisten und Protagonistinnen sich durch bestimmte Umgebungen bewegen und physisch mit ihnen interagieren; und auf der anderen Seite konfrontiert er sie direkt mit spezifischen Örtlichkeiten, seien es Stadtlandschaften – wie Rom in Liebe 1962, Mailand in Die Nacht, Barcelona in Professione: Reporter (Beruf: Reporter, 1975) – oder Naturlandschaften wie die Vulkaninsel in Die mit

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der Liebe spielen oder die Wüstenlandschaften in Die rote Wüste, Zabriskie Point (1970) und Beruf: Reporter. Viele dieser Umgebungen drücken direkt moderne Entfremdungserfahrungen aus (die Börse, unpersönliche Büroräume, die geometrischen Abstraktionen moderner Architektur oder die kahlen Flächen bestimmter städtischer oder ländlicher Landschaften). Inszenierung, Kameraführung und Montage betonen die abstrakten Qualitäten dieser Umgebungen noch stärker, sodass sie die Themen »das Unbehagen in der Moderne«, »die Krise des Bürgertums nach dem Zweiten Weltkrieg« und »emotionale Entfremdung« genauso zum Ausdruck bringen wie die Protagonisten und Protagonistinnen.1 In Antonionis suchenden Bildern bekommt jede Oberfläche Charakter, trägt jede Konstellation von Landschaften, Gebäuden und Dingen einen Ausdruck. Neben Robert Bresson und Jean-Luc Godard stellt Antonioni einen der beständigsten filmhistorischen Bezugspunkte für die mit der Berliner Schule verbundenen Filmemacher/-innen dar. Christoph Hochhäusler hat oft die immense Bedeutung Antonionis für seine filmische Arbeit betont; für die sogenannte erste Generation der Berliner Schule, zu der Angela Schanelec, Christian Petzold und Thomas Arslan gehören, lässt sich der Einfluss Antonionis, Bressons und Godards bis zu ihrer Studienzeit an der dffb (Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin) zurückverfolgen.2 In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren waren sie alle eifrige Teilnehmer/-innen der Theorie-Seminare von Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und Helmut Färber, wo eine kleine Gruppe Studierender wochenlang an nur einem Film arbeitete, darunter Antonionis Beruf: Reporter, den sie Einstellung für Einstellung, Szene für Szene analysierten, wobei sich reguläre Filmvorführungen mit der Analyse am Schneidetisch abwechselten (Baute o.J.). Mir geht es hier um den Umgang der Berliner Schule mit Antonionis ästhetischen Strategien, die eine tieferliegende Krise hinauf an die Oberfläche der Dinge holen, ihre Konstellation und ihre Interaktion mit Figuren, die entweder nicht

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Diese drei Zuschreibungen werden häufig verwendet, um Antonionis Filme zu beschreiben, insbesondere sein Werk von 1960 bis 1964. Siehe etwa Antonioni 1996; Benci 2011; Rascaroli/ Rhodos 2011 und Rosenbaum 2014. Zur Bedeutung von Antonioni für Hochhäusler siehe die Interviews bei Boehm/Lieb (2010) und Abel (2007): »Für mich ist, wie bereits erwähnt, einer der wichtigsten Filme in Bezug auf die Ästhetik Antonionis Liebe 1962.« Antonioni taucht regelmäßig im Magazin Revolver (herausgegeben von Hochhäusler, Benjamin Heisenberg, Nicolas Wackerbarth und anderen) auf; vgl. etwa »Meisterklasse Antonioni«, Revolver 4. Schanelec hat Bresson, Antonioni und Godard als Haupteinflüsse aufgeführt (Baute o.J.). Sowohl Valeska Grisebach als auch Ulrich Köhler haben Filme von Antonioni (Liebe 1962 bzw. Beruf: Reporter) in ihrer Liste der zehn besten Filme aller Zeiten genannt. Die Umfrage wurde von der Zeitschrift Sight and Sound des British Film Institute durchgeführt (siehe https://www.bfi.org.uk/films-tv-people/sighta ndsoundpoll2012).

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wissen, was sie wollen, und sich treiben lassen, oder unerbittlich von leeren Begierden und Wünschen vorwärtsgetrieben werden. Antonionis Filme sind um die Leerstelle konstruiert, die aus der Abwesenheit von Werten, von Sinn, Stabilität, moralischen und rechtlichen Grundsätzen, familiärem Zusammenhalt und einer Identität, die über Tradition oder Arbeit geschaffen wird, entsteht. Der ultimative Ausdruck dieser Leerstelle in seinen Filmen ist das Fehlen der Verbundenheit der Figuren mit ihrem Milieu, das selbstverständliche »Dazugehören«: Ihnen fehlt ein ihnen entsprechender Ort im Sinne des bürgerlichen Polstersessels von Walter Benjamin, der sich perfekt an die Konturen des Gesäßes seines Benutzers oder seiner Benutzerin anschmiegt und dessen Abdruck wiedergibt (Benjamin 1991: 217), oder im Sinne einer stabilen ökologischen Nische, an die sich eine Spezies perfekt angepasst hat und wo sie gedeihen kann. Die Figuren befinden sich also in Umgebungen, die ihnen Zugehörigkeit und Geborgenheit verweigern, Räume, die sich entweder misstrauisch gegen sie stellen, sie bloßstellen und ihnen jeglichen Schutz entziehen (zum Beispiel das EUR-Viertel in Rom in Liebe 1962, die Wüste in Beruf: Reporter) oder die vollständig unzugänglich sind und sich der Lesbarkeit entziehen (zum Beispiel die Vulkaninsel in Die mit der Liebe spielen, die Börse in Liebe 1962). Diese Konfrontation der Protagonisten und Protagonistinnen mit Umgebungen, die als autonome Milieus fungieren, so mein Argument, taucht in den Filmen der Berliner Schule wieder auf, und wir können die Logik dieser Filmsprache (sowohl bei Antonioni als auch in Filmen der Berliner Schule) besser verstehen, wenn wir sie mit der Geschichte der Milieu-Theorie zusammenbringen und insbesondere zwischen Milieu als Ort und Milieu als Beziehung unterscheiden. Obwohl ich in zahlreichen Filmen der Berliner Schule verschiedenste Verbindungen zu Antonionis Filmen sehe, konzentriere ich mich hier vor allem auf Antonionis Beruf: Reporter und Schanelecs Marseille (2004). Ich argumentiere, dass die Inszenierung in Marseille auf ähnliche Weise wie bei Antonioni versucht, das zeitgenössische Leben dadurch einzufangen, indem sie das Gleichgewicht weg von der Erzählung und einer zielgerichteten Handlung verschiebt, hin zum Sich-treibenlassen, zur aktiven Passivität sowie zu Tönen und Bildern, die erfahrbar machen, wie die Kräfte des Milieus auf die Figuren treffen und mit ihnen in Konflikt geraten. Während im klassischen Erzählkino Schauplatz und Inszenierung den Forderungen von Handlung, Erzählabsicht und der Aufmerksamkeit des Publikums unterworfen sind, existiert das Milieu in den Filmen Schanelecs (genauso wie bei Köhler und Arslan) unabhängig von jeder Handlung. Wir schenken ihm nicht nur deshalb Beachtung, weil die Undurchschaubarkeit der Protagonisten und Protagonistinnen uns nach Erklärungen suchen lässt, sondern auch, weil Orte und Dinge für sich genommen präsent sind, ohne der Ökonomie einer Handlung oder einem kohärenten filmischen Stil zu folgen. Die Bilder, die daraus resultieren, erfordern von den Zuschauern und Zuschauerinnen auch eine andere Art des Sehens: Da die Erzählung es nicht erlaubt, in sie einzutauchen; die Protagonisten und Protagonis-

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tinnen es nicht zulassen, sich ohne weiteres mit ihnen zu identifizieren; und der Bildaufbau und die Inszenierung unseren Blick und Zugang einschränken, müssen die Zuschauer/-innen mit dem Bildregime als Ganzes in Verbindung treten. Ähnlich wie viele andere Kritiker/-innen verstehe ich den Neoliberalismus als den relevanten gesellschaftlichen Kontext für Marseille und die anderen Filme der Berliner Schule, zusätzlich ziehe ich Foucaults Beschreibung der Beziehung zwischen Neoliberalismus, Milieu und Umwelt heran, um die politischen Dimensionen von Schanelecs Aneignung der ästhetischen Strategien Antonionis zu verstehen.3

Milieu als Medium Milieu, das französische Wort für »Mitte«, bezeichnete ursprünglich einen Ort, der in der Mitte liegt. Schon seit der Renaissance jedoch wurde Milieu im Sinne eines Mittlers verwendet, also als etwas, das zwischen zwei Polen vermittelt.4 Milieu ist daher eng mit dem Begriff des Mediums verbunden, insbesondere wenn nicht ein Ort, sondern eine Beziehung beschrieben werden soll. Als der Begriff von der Physik zur Biologie (und schließlich zur Soziologie) migrierte, verband er sich mit der Idee des Lebens: Das Milieu ist das, von dem das organische Leben abhängt, nicht nur die umgebende Flüssigkeit oder Luft, sondern auch alle äußeren Umstände. Anfang des 19. Jahrhunderts beispielsweise schreibt Jean-Baptiste Lamarck, dass das Milieu zwar ein dynamisches, sich ständig veränderndes Gebilde ist, doch sind »[d]as Leben und das Milieu, das das Leben ignoriert, sind zwei asynchrone Ereignisreihen« (Canguilhem 2009: 245). Die Bewegung des Lebens wird also vom Milieu, das ihm gegenüber gleichgültig bleibt, ignoriert und nicht registriert. Auguste Comte hingegen betonte die Harmonie von Milieu und Leben, da ersteres das letztere schützte und begünstigte. Die anschließende soziologische, medizinische und literarische Aneignung des Begriffs durch Hyppolite Taine, Claude Bernard und Émile Zola nahm eine scharfe mechanistische Wendung und verweigerte dem Leben jede Einflussmöglichkeit. Taine zum Beispiel konzentrierte sich auf die Herrschaft und Geistlosigkeit eines Milieus, dessen Produkt der Mensch ist. Für ihn ist das Milieu völlig vom Leben und seinen Wahrnehmungen und Handlungen abgetrennt und von ihm unberührt. Das Lebewesen wird durch Zwänge des Milieus geformt, die mechanischer und statischer Natur sind. Ab Ende der 1910er Jahre entstanden neue dynamische Modelle davon, wie Milieu und Leben interagieren. Eine neue Generation von Biologen wie Kurt Goldstein, Jakob von Uexküll und Frederik J. J. Buytendijk entwickelte Theorien zu der 3 4

Zur Berliner Schule und dem Neoliberalismus siehe Abel 2013; Baer 2013; und Fisher 2013. Zur französischen Geschichte des Begriffs siehe Spitzer 1942. Die Entwicklung der Bedeutungen im Englischen und Deutschen ist recht ähnlich; siehe OED 2016 und Feldhoff 1971.

7 Die Kräfte des Milieus

dynamischen, sich gegenseitig bedingenden Beziehung zwischen Organismen und ihrer Umwelt.5 Nach diesem neuen Paradigma, so formulierte es Georges Canguilhem, stellt das Milieu ein Problem und »schlägt« oft eine Lösung vor, zwingt sie aber nie auf; die Lösung kann nur vom Lebewesen selbst gefunden werden, durch die Aktivität des Lebens in der Welt (Canguilhem 2009: 256). Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verliert der Begriff Milieu somit den Bezug auf einen konkreten Ort und beschreibt stattdessen das Kraftfeld, die Wechselbeziehungen zwischen einem Individuum und seiner Umgebung (dem Medium). In diesem Aufsatz unterscheide ich daher Milieu im Sinne von Medium vom Begriff der Umwelt, womit ich die räumliche und materielle Konfiguration der Umgebung, das Ensemble von natürlichen und gebauten Strukturen und Dingen meine – das, was die Inszenierung eines Films erfassen kann und das auf die Welt des Films insgesamt verweist. Das Milieu selbst (im Sinne von Medium) kann nicht direkt dargestellt werden, da es die Summe aller Umstände (der sozialen, politischen, physischen) der Protagonisten und Protagonistinnen ist. Aber seine Macht lässt sich an der Formation der Gebäude und Straßen, der Gestaltung der Cafés und Passagen, an den Körpern und der Kleidung der Menschen etc. ablesen – also an den Oberflächen, die die Schnittstelle von Milieu und Leben bilden. Die Filme der Berliner Schule im Allgemeinen untersuchen systematisch unscheinbare Orte wie zersiedelte Städte und Vorstädte oder anonyme Gewerbeorte wie Hotels, Ladenketten und Tankstellen (vgl. Wolf 2011). Diese Räume werden durch die ausgiebige Verwendung von Totalen und Halbtotalen in den Vordergrund gerückt, das heißt durch Einstellungen, die die Figur innerhalb einer Umgebung zeigen, anstatt sich auf die Expressivität der Figur zu konzentrieren. Die Kamera verweilt an den Schauplätzen, sowohl bevor die Figuren erscheinen als auch nachdem sie den Ort verlassen haben; sie erweitert und kontrastiert unser Gefühl für den Raum, indem sie vielschichtige OffScreen- und Umgebungsgeräusche verwendet; und verwendet absichtsvoll ungewöhnliche Ausschnitte und lange Einstellungen, die es erlauben, den Raum anders wahrzunehmen, als es beim effizienten, handlungsorientierten continuity editing, den klassischen Schnittregeln hollywoodscher Prägung, geschehen würde. Protagonisten und Protagonistinnen wie Sophie in Marseille, Paul in Köhlers Bungalow (2002) oder Trojan in Arslans Im Schatten (2010) lassen die Zeit ziellos verstreichen. Sie befinden sich oft in einem Schwebezustand des Wartens auf etwas und haben keinen übergreifenden Plan: Ihr Handeln hängt von unberechenbaren Impulsen ab und erscheint oft willkürlich. Wir bekommen regelmäßig die Ausschmückungen, die »Ornamente«, der Handlung zu sehen: das Vor- oder Nachspiel, das Dazwischen oder das Intervall, aber nicht die Handlung selbst. Als Folge davon sind wir gezwungen, der Körpersprache, der Körperhaltung und, wenn 5

Uexküll versuchte, den Begriff »Umwelt« – im Gegensatz zum Milieu – als wissenschaftlichen Begriff zu etablieren. Zu Uexküll und Filmtheorie siehe Pollmann 2013.

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sie den Betrachter/-innen zugestanden wird, der Mimik mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Unser Zugang wird weiter erschwert durch die Affektlosigkeit der Figuren, ihrem Mangel an Expressivität – eine Technik der »Darstellung von Emotionen ohne Emotionalisierung« (Baer 2013: 75). Unsere Haltung ähnelt häufig derjenigen, die wir bei der Tierbeobachtung einnehmen: Wir haben keinen Zugang dazu, wie sich die Figuren innerlich fühlen, noch gehen wir davon aus, dass wir sie verstehen können; wir beobachten ihr Verhalten, das oft einfach nur eine Reaktion auf äußere Anstöße ist. Durch das Unterbrechen der Verbindung zwischen dem Publikum und den Figuren (durch Affektlosigkeit und Inaktivität), zwischen Publikum und der innerfilmischen Welt (durch elliptische Montagetechnik und eine minimalistische Inszenierung) und zwischen den Figuren und ihrer Umwelt (durch die Konzentration auf das, was de Certeau [1984] als »Nicht-Orte« bezeichnet hat, und eine Inszenierung, die den Schauplatz in den Vordergrund stellt), ist Marseille in der Lage, die Macht des neoliberalen Milieus, des Mediums, der Umgebung, in dem sich die Protagonisten und Protagonistinnen bewegen, sichtbar zu machen, aber auch ihren unbewussten Widerstand gegen diese Kräfte. In den genannten Filmen spielt sich so etwas wie ein zoologisches Drama ab, an dem die Zuschauer/-innen teilhaben. Die Zuschauer/-innen können die Protagonisten und Protagonistinnen nicht mit dem Milieu in Übereinstimmung bringen (das heißt, wir können sie nicht darin einnähen, im Sinne der »suture«), und so bleibt die Welt, die die Filme zeigen, offen und unvollendet. Anstatt von der Stimmung oder Atmosphäre einer abgeschlossenen filmischen Welt eingehüllt zu werden und uns darin zu verlieren, sind wir gezwungen, uns auf das konfliktreiche Aufeinandertreffen von Protagonistin und Umgebung (und von uns und dem Film) einzulassen. Indem Marseille die Lücken zwischen dem Milieu und den Handlungen – beziehungsweise deren Fehlen – der Protagonistinnen und Protagonisten aufzeigt, kann der Film sowohl für diese als auch für die Zuschauer/-innen einen zeitweiligen Möglichkeitsraum schaffen, auch wenn diese Möglichkeiten von den Figuren selbst nicht genutzt werden.

Die Pathologien professioneller Beobachter Zwei Männer füllen weichen, nassen Zement in eine Fuge, die diagonal über einen großen, leeren Platz aus grauem Betonpflaster verläuft. Die Kamera schwenkt hoch nach rechts und zeigt den Platz in seiner Gesamtheit. Auf der rechten Seite bauen sich die Glas- und Betonfassaden moderner Wohnhäuser kaskadenförmig zum Platz hinauf. Im Hintergrund sehen wir die baufällige Vorderseite eines alten Backsteingebäudes. Am anderen Ende des Platzes spielt eine Mutter mit ihrem Kind. Plötzlich betritt David Locke (Jack Nicholson) das Bild von rechts und geht über den Platz. Ein Schnitt, und die Kamera blickt eine Treppe nach oben, hinter

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der sich das Wohnhaus abzeichnet. Nicholson läuft die Treppe hinunter, während die Kamera ihm an einigen Personen, die auf den Stufen die Sonne genießen, vorbei folgt. Er bleibt stehen und schaut nach vorne leicht nach links; ein weiterer Schnitt zeigt uns im Vordergrund eine junge Frau (Maria Schneider), das Objekt seines Blicks, die auf einer sonnenbeschienenen Parkbank ein Buch liest, während Locke im Hintergrund steht und kurzzeitig von ihr in den Bann gezogen wird. Sie schaut kurz auf und liest weiter. Er verlässt das Bild nach rechts, während die Kamera sich Schneider zuwendet. Sie legt ihr Buch zur Seite, breitet ihre Arme über die Rückenlehne der Bank (eine Geste, die später im Film an wichtiger Stelle noch einmal vorkommt), lehnt sich zurück, wendet ihren Kopf der Sonne zu und schließt die Augen (Abb. 7.1). Diese drei Einstellungen aus Beruf: Reporter sind nur beiläufige Intermezzi, die in diesem Film voller einprägsamer Plansequenzen, die Zeit und Raum auflösen, kaum auffallen. Sie sind jedoch zu einem wichtigen Zeitpunkt der Filmhandlung zu sehen: Es sind die ersten Bilder, die Locke, einen investigativen Journalisten, nach seiner Afrika-Reise wieder in London zeigen. In Afrika hat er spontan beschlossen, seine Identität mit einem flüchtigen Bekannten, dem Geschäftsmann David Robertson, zu tauschen, nachdem er ihn tot im Hotelbett fand. Locke ist zwar nach Hause zurückgekehrt, befindet sich aber in einem geisterhaften Zwischenzustand, noch unsicher, was sein nächster Schritt werden soll, während alle anderen davon ausgehen, er sei gestorben. Alles ist offen: Er kann das Identitätsspiel einfach aufgeben oder sich zumindest seiner Frau gegenüber offenbaren; oder er kann undercover bleiben und die vertrauten Orte ein letztes Mal betreten. In seinem alten Haus bewegt er sich durch die Räume, wobei sein Blick und seine Hände über die vertrauten Gegenstände streifen. Die Kamera pickt Gegenstände heraus, die intime Einblicke geben in das Leben seiner Frau und Lockes Vertrautheit mit ihr– die Pfosten des Ehebettes, eine über den Sessel geworfene Stola –, sie zeigt aber auch Hinweise auf ihr Leben seit seiner Abreise. Ein Artikel in einer Zeitung, die auf dem Bett liegt, handelt von Lockes Tod, und eine Notiz eines Mannes namens Stephen, die an der Schlafzimmertür hängt, deutet eine Liebesbeziehung an. Während für Locke die Vergangenheit immer noch gegenwärtig ist, hat sich die Zeit ohne ihn weitergedreht. Er hat sich bereits von seinem Leben gelöst und wird nicht mehr zurückkehren können. Er nimmt ein paar Dokumente mit, bevor er das Haus rasch wieder verlässt. Es gibt also keinen narrativen Grund, Locke zu zeigen, wie er diesen speziellen Platz durchquert. Es besteht ein offensichtlicher Kontrast zwischen den geometrischen Linien der Glas-und-Beton-Architektur der ersten beiden Aufnahmen und den herrschaftlichen Häusern aus dem 19. Jahrhundert in Lockes Viertel mitten im Londoner Stadtteil Notting Hill. Die modernistische Architektur der ersten beiden Szenen und die Inszenierung, die ihre Abstraktion und Leere betont, scheinen als Symbol für Lockes Auslöschung seiner Identität zu dienen und seine geisterhafte

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Unsichtbarkeit und Nichtexistenz widerzuspiegeln – nicht zuletzt, weil auf dem Platz noch gebaut wird, der Beton noch nass ist. Antonioni fühlt sich immer wieder zu Orten wie diesem hingezogen, wie zum Beispiel dem Schauplatz von Liebe 1962, dem EUR-Viertel in Rom, das von Mussolini für die Weltausstellung 1942 (die dort nie stattfand) geplant und gebaut wurde.6 Allerdings lässt sich die Umgebung weder auf eine symbolische Funktion reduzieren noch bestimmt und beschreibt sie Lockes Zustand im Sinne eines naturalistischen Milieus auf ausreichende Weise. Vielmehr visualisiert der Film das Milieu als expressiven, eloquenten Aktanten, der in ein Wechselspiel mit den Figuren tritt.

Abbildung 7.1: David Locke betritt einen leeren Platz in einem Neubaugebiet in einer Einstellung, die seine Rückkehr nach London anzeigt. Aus ›Beruf: Reporter‹ (Michelangelo Antonioni, 1975).

Die Handlung von Marseille weist mehrere Ähnlichkeiten mit Beruf: Reporter auf. Sophie (Maren Eggert), eine Berliner Fotografin, tauscht mit einer Unbekannten aus Marseille die Wohnung und erkundet die Stadt. Sie kehrt nach Berlin zurück und hat einige angespannte Treffen mit ihren engsten Freunden und Freundinnen – dem Berufsfotografen Ivan (Devid Striesow), seiner Frau, der Schauspielerin Hanna (Marie-Lou Sellem) und ihrem Sohn. Sophie fährt wieder nach Marseille, nur um auf dem Weg vom Bahnhof ausgeraubt zu werden. In beiden Filmen gibt es also eine Hauptfigur, die beobachtet und dokumentiert (im ersten Film eine Fotografin, im zweiten ein Reporter), und für die die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwommen ist. Sophie katapultiert sich, wie Locke, in das Leben einer Fremden und kappt für eine Weile alle Verbindungen zu ihrer normalen

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Zur Bedeutung des EUR für Antonioni siehe Benci 2011: 47–51.

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Existenz. Dieser spontane Identitätswechsel und die Entkopplung von allem Gewohnten sowie die professionelle Gewohnheit des Beobachtens und Aufnehmens führen sowohl für Sophie als auch für David dazu, dass sie in den Modus einer distanzierten Beobachtung der eigenen Existenz verfallen, ohne dass es ihnen jemals gelingt, sie zu reflektieren. In einer Reihe von Aufnahmen, die parallel zu den oben beschriebenen Aufnahmen aus Beruf: Reporter verlaufen, sehen wir Sophie, wie sie zum ersten Mal Marseille erkundet, als eine Fremde, die ihre Umgebung aufmerksam aufnimmt und doch eine gewisse Distanz zu ihr beibehält. Sie geht eine ruhige Straße mit dicht aneinandergereihten Häusern entlang, während die Kamera ihr mit einem Schwenk folgt. Im Hintergrund ragen die Glas- und Betonfassaden zweier nebeneinanderstehender Hochhäuser in den Himmel, die vom goldenen Licht der untergehenden Sonne beleuchtet werden. Die nächste Aufnahme zeigt, wie sie eine öffentliche Treppe zu einer tiefer gelegenen Straße heruntergeht. Das Bild wird von den Schleifgeräuschen mechanischer Werkzeuge und dem unverständlichen Gemurmel eines Gesprächs zwischen Männern begleitet. Die Kamera schwenkt erneut, um Sophie zu folgen, und wir sehen sie an ein paar Autos vorbeigehen, die vor einer kleinen Autowerkstatt direkt neben dem Treppenaufgang parken. Sie überquert die Straße und geht nach kurzem Zögern in einen Gemüseladen hinein. Bald taucht sie mit einem Apfel in der Hand wieder auf und geht die Straße nach links hinunter. Während der ganzen langen Einstellung wird die Tonspur von den Geräuschen der Garage, vorbeifahrender Autos und eines Buses dominiert. Im Vordergrund sehen wir die unscharfe Figur eines Mechanikers, der ein Auto poliert. Er dreht kurz den Kopf, um Sophie zu betrachten, die ihn ebenfalls nach dem Verlassen des Ladens kurz mustert (Abb. 7.2). So wie die Szene aus Beruf: Reporter eine flüchtige Begegnung zwischen Locke und dem »Mädchen« (laut Abspann) inszeniert, nur um sie später in Barcelona wieder aufeinandertreffen zu lassen, woraufhin sie zum Liebespaar werden, führt der kurze Moment des beiläufigen Registrierens zwischen Sophie und dem Automechaniker im Zuge ihrer folgenden Treffen zu einer zaghaften Freundschaft. Doch die Richtung und das Potenzial dieser Begegnungen bleiben offen; sie verdichten sich nie zu einer Geschichte, geschweige denn zu einer romantischen Liebesgeschichte. Sie beschwören den modernen Topos der Verbindung von Entfremdung und Erotik in der Stadt herauf, die in Baudelaires Gedicht an eine Passantin (»Auf eine die vorüberging«) ergreifend zum Ausdruck kommt. Der flüchtige Blick auf eine Frau auf der Straße (»Ein Blitz … dann Nacht!«) bricht dort Zeit und Raum auf und schafft ein offenes Territorium von Möglichkeiten: »O flüchtige Helligkeit,/Durch deren Blick sich neu mir hob die Brust,/Seh ich dich nicht mehr vor der Ewigkeit?/Wo anders, weit von hier! zu spät! wohl nie:/Ich weiß nicht, wo du gehst, du nicht, wohin ich flieh …/Dich hätte ich geliebt und du hast es gewußt!« (Baudelaire 1976: 140). Während dieser Effekt, die erzählte Welt durch romantische

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Möglichkeiten zu öffnen, auch für die narrative Organisation von Marseille gilt (im Gegensatz zur allmählichen Schließung von Möglichkeiten im Verlauf konventioneller und konventionell erzählter Liebesgeschichten), fehlt jedoch eine Protagonistin, auf die diese Möglichkeiten projiziert werden und die als Sammelpunkt dienen könnte, um diese Potenzialitäten zu einer Geschichte zusammenzufügen. Statt einer männlichen projizierenden Stimme, porträtiert Marseille eine Frau, die sich nicht festlegen kann. Sie weiß weder, wonach sie in Marseille sucht, noch ob sie überhaupt etwas finden wird. Tatsächlich erinnern sowohl Sophies Wanderungen durch Marseille als auch ihr Leben in Berlin (als Satellit der Familie ihrer Freundin Hanna) eher an Walter Benjamins, Siegfried Kracauers und Franz Hessels Texte über das Flanieren. Ihre Betrachtungen sind – wie Schanelecs Film – von einem geschärften Bewusstsein für die Unsicherheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geprägt und setzen sich ebenso wie der Film mit der Auflösung des Subjekts auseinander, wenn es auf die heterogene Stadtlandschaft trifft.7 In den 1920er und 30er Jahren reisten sowohl Kracauer als auch Benjamin nach Paris und Marseille, Städte, die für sie eine Zuflucht vor den Kräften des Kapitalismus und des Fortschritts boten, da sie – verglichen mit Berlin – einen anhaltenden Sinn für die Vergangenheit beibehalten konnten.8 Insbesondere Kracauer unterwirft sich der Verlockung und der Macht, die von den Stadtlandschaften ausgeht, während sein Auge und sein Körper zu Leitungen werden, bereit, sich verführen und in die Irre führen zu lassen, ohne eigene Absichten oder Eingriffe der Vernunft. Dieser Zustand ist für ihn die Voraussetzung für ein erkenntnistheoretisches Unterfangen, das die »Hieroglyphen« von Raumbildern und Stadtlandschaften zu entschlüsseln versucht, die er als »Träume der Gesellschaft« begreift (Kracauer 1987: 52 und 41).9 Diese Texte reflektieren unmittelbar die zu der Zeit aktuellen Theorien zu Milieu und Umwelt, da das Subjekt nicht mehr vom Milieu bestimmt wird, sondern sich dessen Impulsen zu öffnen sucht.

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In Vorbereitung auf das Schreiben des Drehbuchs hat Schanelec selbst ziellos schweifende Spaziergänge durch Marseille unternommen. In ihrer Beschreibung dieser zehn Tage des Flanierens zitiert sie immer wieder Benjamins Wanderung durch Marseille und seine dortigen Haschisch-Experimente (Schanelec 2002). Schanelecs Wahl des Schauplatzes Marseille in den frühen 2000er Jahren ist auch deshalb interessant, weil sich das Stadtbild und die Identität von Marseille durch eine Reihe von städtischen Initiativen in den letzten Jahren sehr verändert hat. Vgl. Jeffries 2015. Vgl. Krakauer 1987, »Aus dem Fenster gesehen« S. 40–41 und »Über Arbeitsnachweise«, S. 52–59.

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Abbildung 7.2: Sophie geht an dem Automechaniker vorbei und betritt einen Lebensmittelladen. Aus ›Marseille‹ (Angela Schanelec, 2004).

Marseille stellt die Architektur, die Raumanordnungen, die Objekte und die Menschen in Marseille und Berlin mit derselben tektonischen Präzision, Angst und Zärtlichkeit dar, wie es Kracauer (ein ehemaliger Architekt) in seinen Texten tut. Doch im Gegensatz zu Kracauer (das heißt dem unbelasteten, männlichen Flaneur, der seismografisch seine Umgebung wahrnimmt) stehen Sophies umherschweifende Wanderungen und Fotografien nicht im Dienst eines erkenntnistheoretischen Projekts, noch sind sie Teil einer Strategie, sich von der Stimmung, der Stadtlandschaft, den Menschen und Dingen lenken und verführen zu lassen, um ihr Wesen einzufangen und ihre Stimme zu hören. Die Auflösung des Subjekts als Folge der Unfähigkeit, sich an die Bedingungen der Spätmoderne anzupassen, ist schon in Antonionis Filmen eher Pathologie als epistemologische Strategie.10 Auch Marseille stellt Sophies Verhalten eher als pathologisch denn als freiwillige Öffnung dar – als Unvermögen, die Möglichkeiten, die das Milieu ihr bietet, zu ergreifen und in die Wirklichkeit zu überführen.

Strategien der Inszenierung Marseille macht das Milieu sichtbar, indem es die Schnittstelle zwischen Sophie und ihrem Umfeld betont. Das geschieht durch lange Einstellungen, die häufige Verwendung von Totalen und Halbtotalen, statische Aufnahmen, Bildausschnitte, die wichtige Aspekte des Schauplatzes oder der Handlung ins Off außerhalb des Bildes verweisen, und ein komplexes Spiel mit der Tiefenschärfe. Sowohl langandauernde Einstellungen als auch die Nutzung totaler Einstellungsgrößen werden 10

Vgl. Henderson (2011) über die Krise der Individuation und Subjektformation bei Antonioni.

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als Kennzeichen des »Slow Cinema« angesehen, einer internationalen Bewegung, zu der auch Schanelecs Filme gerechnet werden.11 Die Einstellungsdauer war in der Vergangenheit Gegenstand wichtiger filmtheoretischer Debatten, von der realistischen Filmtheorie (etwa bei André Bazin und Siegfried Kracauer) bis hin zu späteren Arbeiten über die Offenheit des Bildes (Paul Schrader und Gilles Deleuze).12 Das Besondere der Einstellungsgröße der Totale wurde jedoch mit weniger Aufmerksamkeit bedacht, da das Kino als Kunstform erst in den extremeren Einstellungsgrößen seine eigene Qualität zu entwickeln scheint – eine Ansicht, die tendenziell nicht nur von der Begeisterung der klassischen Filmtheorie von Béla Balázs und Jean Epstein bis André Bazin für die Nahaufnahme gestützt wird, sondern auch durch die Neubewertungen sowohl der Nahaufnahme als auch des Panoramas in der zeitgenössischen Filmwissenschaft.13 Die Totale scheint die anthropozentrischste aller Einstellungsgrößen zu sein, da sie den menschlichen Körper als Ganzes zum Maß nimmt. Für Schanelec und die anderen Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule scheint sie jedoch darum wichtig zu sein, weil sie es ihnen erlaubt, sich auf die Schnittstelle, das Interface zwischen einer Figur und ihrer Umgebung zu konzentrieren – eine Schnittstelle, die meist durch Gewohnheit, Versunkenheit, Orientierungslosigkeit oder Ziellosigkeit gekennzeichnet ist. Schanelec selbst formulierte das Verhältnis zwischen Figur und Raum wie folgt: »Ich habe die und die Figur, und jetzt erzähle ich ihre Hobbys, ihre Leidenschaften, ihre Psychosen – das lässt sich irgendwie alles über Räume ausdrücken, und das versuche ich möglichst zu vermeiden. Natürlich erzählt man immer über den Raum – aber weil das so offensichtlich ist, finde ich es wichtiger, dem Raum trotzdem noch eine Neutralität zu geben, in der vieles möglich ist, und die die Figuren nicht festlegt und letztendlich klein und reduziert macht auf das, was über sie zu erzählen ist.« (Boehm/Lucius 2010) Sowohl die Figur als auch der sie umgebende Raum sollen bis zu einem gewissen Grad autonom bleiben und nicht aufeinander reduziert werden oder einander be11 12

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Zur Ästhetik des »Slow Cinema« siehe Koepnick 2014, Jaffe 2014 und Luca/Jorge 2015. Schraders Arbeit über den transzendentalen Stil im internationalen Kunstkino der Nachkriegszeit hebt Elemente hervor, die sich in Schanelecs Filmen an zentraler Stelle wiederfinden lassen: »Disparität: eine tatsächliche oder potenzielle Unstimmigkeit zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, die in einer einschneidenden Handlung gipfelt« (Schrader 1972: 42); »Stase, eine eingefrorene Sicht auf das Leben, die die vorhergehende Disparität nicht auflöst, sondern sie transzendiert« (49). Zur theoretischen Wiederentdeckung der Nahaufnahme siehe Doane 2003 und Steimatsky 2007; Arbeiten zum Thema Kino und Ökologie, geologische Zeit und Anthropozän haben dazu geführt, dass gleich mehrere Untersuchungen über Langsamkeit und Panoramaaufnahmen entstanden sind; vgl. Rust/Monani/Cubitt 2013.

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dingen. Dies wird vor allem deutlich in Schanelecs Strategie, Sophie entweder zu zeigen, wie sie ins Off schaut, oder sie einfach nur in der Stadt zu zeigen, ohne die beiden Einstellungen in eine kohärente Struktur zu vernähen. Deleuze argumentiert, dass Ton und Bild im Nachkriegsfilm (im italienischen Neorealismus, bei Bresson, Antonioni, Fellini) von den Handlungen der Figuren abgekoppelt sind und sich in rein optische und akustische Bilder verwandeln, was dazu führt, dass die Figur selbst zur Zuschauerin wird (Deleuze 1989: 1–13). Schanelecs Filme entwickeln diese Praktiken weiter und lösen Protagonistin und Umgebung noch weiter voneinander, indem sie das Schuss-Gegenschuss-Modell verweigern oder Bilder verwenden, in denen der Ton neue Informationen liefert; dadurch öffnen sie den Blick auf das Milieu als Kraftfeld. Diese ästhetische Strategie gilt auch für Schanelecs Montage-Praxis. Reinhold Vorschneider, der in den meisten ihrer Filme für die Kamera verantwortlich ist, erklärt dies folgendermaßen: »Das heisst (sic!), dass es nicht einen ›Herren‹ und einen ›Sklaven‹ gibt, also keine Hierarchie unter den Einstellungen, sondern Einstellungen, die, obwohl es natürlich ein Vorher und ein Nachher gibt, eine relative Autonomie im Verhältnis zueinander haben.« (Hochhäusler/Wackerbarth 2005: 27). In den Einstellungen, die Sophie dabei zeigen, wie sie die Stadt entdeckt und betrachtet, gibt es kaum Hinweise auf deren räumliches und zeitliches Verhältnis. Es können Minuten, Tage oder Wochen zwischen ihnen vergangen sein, und in einem Fall deutet nur der Wechsel der Sprache vom Französischen zum Deutschen darauf hin, dass Sophie wieder zurück auf den Straßen Berlins sein muss. Jede Einstellung in diesem Film ist eine in sich geschlossene Einheit; sie besteht auf ihrer Autonomie in einem strukturellen Vorher und Nachher, indem sie eine Geschichte über einen zeitlichen und räumlichen Moment erzählt, der seine Bedeutung aus dem Vorhandenen bezieht – sei es aus der Architektur, den Objekten, den Tönen und Lichtern oder aus den Spannungen zwischen den Figuren und den Dingen oder Menschen, die ihnen begegnen. Vergangenheit und Zukunft werden zwar in der dichten visuellen Beschreibung dieser Momente und in unserem übergreifenden, auf Sophie bezogenen Gefühl von Mangel oder Sehnsucht spürbar, aber sie sind formal aus der Struktur des Films herausgelöst und existieren außerhalb eines rationalen, chronologischen Zusammenhangs – es sind Bilder einer Zeit, die aus der (narrativen, chronologischen) Zeit herausgefallen sind, und Bilder eines Raums, der eine strukturelle, formale und wahrnehmbare Kohärenz verweigert.14 Die Strategie des Films, wie er innerhalb einer Einstellung mit der Protagonistin und ihrer Umgebung umgeht, wird in der Sequenz noch deutlicher, die auf

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Dass Schanelec einige der Hauptprotagonisten von Deleuzes Filmphilosophie als Vorbilder ansieht – Bresson, Antonioni, Godard –, erlaubt es uns, ihre Filme in Übereinstimmung mit den von Deleuze in Kino 2: Das Zeit-Bild (1991) vorgezeichneten Linien zu sehen bzw. unsere Analyse entlang dieser weiterzuentwickeln.

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Sophies ersten Spaziergang an der Autowerkstatt vorbei folgt. Wir sehen durch die Schaufensterscheibe eines Ladens hindurch, wie Sophie an der Kasse bezahlt. Danach folgen wir ihr, wie sie langsam durch eine offene Einkaufspassage aus Glas und Beton geht, während die Kamera sie vermittels Mittel- und Nahaufnahmen begleitet. Die Tonspur besteht aus den lauten, widerhallenden Stimmen streitender Kinder oder junger Männer. Die nächste Einstellung ist statisch und zeigt Sophie von hinten in einer Totalen, wie sie vom ersten Stockwerk der offenen Konstruktion der Passage auf etwas im Off starrt. Wir hören lauten Verkehr und sehen im Hintergrund eine stark befahrene Autobahn. Ein Security-Mitarbeiter betritt das Bild von rechts, bittet sie, nicht zu fotografieren, und verlässt es wieder. Wenige Augenblicke später kehrt er mit zwei Kollegen zurück. Sie wiederholen ihre Bitte und gehen wieder aus dem Bild. Die dritte Aufnahme zeigt Sophie in Großaufnahme, wie sie aus dem Fenster starrt. Der Art des Fensters und der Tonspur nach zu urteilen, schließen wir, dass sie in einem Bus sitzt. Der Bus hält an, und der Motor wird abgestellt. Nach einem Schnitt sehen wir in einer halbnahen Einstellung die Windschutzscheibe des Busses, wo der Busfahrer eine Zeitung ausbreitet. Wir sehen Sophie aussteigen und schauen ihr durch die Scheibe nach, wie sie die Straße überquert und weggeht (Abb. 7.3). Jede dieser Aufnahmen zeigt Sophie in verschiedenen Zuständen der Versunkenheit, die charakteristisch dafür sind, wenn man sich allein in einem unbekannten Raum bewegt.15 Ihre Sinne sind offen für die unbekannte Umgebung und ihre Stimuli, aber gleichzeitig nach innen gekehrt, da sie nicht vorhat, sich auf jemanden oder etwas einzulassen. Ihre Haltung ist die einer aktiven Passivität – genau die Haltung, die Kracauer des Öfteren beschrieben hat: in »Die Wartenden« (1921) in Bezug auf die Geisteshaltung des Intellektuellen der Weimarer Republik, in Theorie des Films (1960) in Bezug auf den Filmbetrachter und in Geschichte – Vor den letzten Dingen (engl. Original 1969, deutsche Ausgabe 2009) in Bezug auf den Historiker. Es erscheint als eine Art vorbildliches Verhalten für Zuschauer/-innen. Tatsächlich scheitert Sophie immer dann, wenn sie sich auf direkte, persönliche Kommunikation einlässt oder einlassen muss.16 Diese Haltung wird durch die Inszenierung, insbesondere durch die Beziehung zwischen Bild und Ton, verstärkt. In allen drei Einstellungen, genauso wie in den zuvor besprochenen Szenen, trägt der Ton die Hauptlast, um den filmischen Raum

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Michael Fried (1980) argumentiert, dass die Gemälde des achtzehnten Jahrhunderts, die Figuren in einem Zustand des Versunkenseins zeigen – ohne Notiz davon zu nehmen, dass sie gesehen werden können –, die Überwindung der irreduziblen Theatralität der Malerei anstreben. Abel hat die zentrale Rolle der gescheiterten Kommunikation in Schanelecs Arbeit herausgearbeitet, insbesondere in Nachmittag (2010). Siehe Abel 2013: 111–48.

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zu etablieren. Im Gegensatz zum Sehen als aktivem, zielgerichtetem Sinneseindruck (etwas anschauen) ähnelt der Ton eher dem Zustand von Sophie: Er umhüllt sie und dringt in ihr Bewusstsein, ohne dass sie aktiv zuhören muss oder ihn ausblenden kann. Sowohl die Art der Töne als auch ihr Echo im Raum geben uns entscheidende Informationen, die das Bild nicht zu wiederholen oder noch einmal zu verstärken versucht; Schanelec versucht vielmehr, solche Überschneidungen zu vermeiden, wie sie in Interviews oft bestätigt. Obwohl die Bildausschnitte bei Schanelec in der Regel eher begrenzt und statisch sind, bricht dieses Primat des Tons gegenüber dem Bild das Bild auf, da der Ton sich den Grenzen des Bildausschnitts nicht unterwerfen muss. Die erste Einstellung beispielsweise etabliert den Schauplatz als einen eher rauen, leeren, hallenden und umschlossenen Außenbereich (die offene Einkaufspassage in der Nähe der Autobahn), auch wenn Sophie anfangs von den Geräuschen, die wir hören, abgeschnitten ist, da sie sich im Laden befindet (genauso wie wir von den sie umgebenden Geräuschen abgeschnitten sind). Als sie herauskommt, sehen wir, wie sie auf die Geräusche und das Licht reagiert, das von der Dachkonstruktion der Passage gefiltert wird (die wir nur durch die Lichtstreifen auf ihrem Gesicht ableiten können). Während der ihr folgenden Kamerafahrt dreht sie ihren Kopf in Richtung der streitenden Stimmen, sodass wir im Hintergrund kurz eine Gruppe junger Männer und Kinder sehen können, die sich gegenseitig anschreien und schubsen.

Abbildung 7.3: In einer Freiluft-Ladenpassage ist Sophie von einer Aussicht angezogen, die für uns unzugänglich ist. ›Marseille‹ (Angela Schanelec, 2004).

In der zweiten Aufnahme befinden wir uns völlig außerhalb von Sophies Sichtfeld, und sie selbst verbleibt in der Distanz. Wir sehen sie in einer langen, stati-

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schen Einstellung als Rückenfigur, die an die romantischen Landschaftsbilder Caspar David Friedrichs erinnert. Doch im Gegensatz zu Friedrichs Gemälden benutzen Schanelecs Bilder Sophie nicht als Ausgangspunkt, um mit der harmonisch komponierten Landschaft in Zwiesprache zu treten, denn der Hintergrund ist in keiner Weise erhaben und wir sehen nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregt. Vielmehr betonen das Arrangement des Ortes und unsere Beziehung zur Hauptfigur – ihre Versunkenheit, die Tatsache, dass wir ihr Gesicht nicht sehen und ihren Ausdruck nicht lesen können, sowie unser vergeblicher Versuch, ihren Geisteszustand und das, was sie sieht, zu verstehen –, dass dies keine Umgebung ist, die sich jemals zu einer umfassenden, ganzheitlichen Landschaft verdichten könnte, die sich dem Betrachter oder der Betrachterin darböte. Schanelec erzielt diesen Effekt durch lange statische Einstellungen, die uns kompositorisch und akustisch immer wieder auf das verweisen, was außerhalb der Kinoleinwand beziehungsweise des Bildschirms liegt. Antonioni hingegen erreicht denselben Effekt durch Kamerafahrten, die das feste Gefühl für Raum auflösen. Als Locke sich zu Beginn von Beruf: Reporter in die Wüste hinausbegibt, um jemanden finden, der ihn zu den Guerillakämpfern führen kann, über die er in seiner Reportage berichten möchte, (ein Junge, den er in seinem Geländewagen mitnimmt, gibt ihm durch Gesten stumme Anweisungen) schwenkt die Kamera über die leere, sandige Weite und felsige Hügel. Wir hören, wie sich Lockes Jeep nähert, sehen ihn aber nicht und haben keinen Anhaltspunkt, aus welcher Richtung er in das Bild einfahren wird – bis er es dann tut. Als später der Wagen im Sand stecken bleibt, vermitteln einige lang gehaltene Aufnahmen der Rückenfigur Lockes, wie verloren er ist: Während er in die heiße, leere Landschaft hinausblickt, findet er weder ein Zeichen oder einen Hinweis darauf, ob es hier etwas für ihn geben könnte, noch ist er sicher, wonach er suchen sollte. Die Komposition mit der Rückenfigur betont hier wie bei Schanelec die Distanz zwischen Figur und Umgebung, eine Beziehung der gegenseitigen Befragung, in der sich sowohl Umgebung als auch Person gegenseitig in Zweifel ziehen – Köhler hat diese Art von Aufnahmen passenderweise als »falsche Subjektive« (Köhler 2012) bezeichnet. Als Locke hofft, dass ein Mann, der auf einem Dromedar vorbeikommt, ihm einen Hinweis geben könnte, filmt die Kamera über seine Schulter, während er dem Mann, der seinen erwartungsvollen Gruß ignoriert hat, hinterher blickt. Ein Schnitt zeigt uns den Reiter nun in der Ferne, und die Bildanordnung lässt uns glauben, dass wir immer noch von Lockes Position aus zuschauen. Ein leichter Kameraschwenk nach rechts macht eine Strohkonstruktion im Vordergrund sichtbar, am Rand des Bildes. Plötzlich tritt ein Mann in das Bild, der aus einer der, wie wir jetzt vermuten müssen, Hütten heraustritt. Er schaut nach links, und sein Blick setzt einen Kameraschwenk in diese Richtung in Bewegung, bis in der Ferne Locke und sein Auto ins Bild kommen. Mit jeder Bewegung der Kamera und im Bild müssen wir unser Wissen darüber, wo wir uns befinden, anpassen und uns neu orientieren. Montage, Inszenierung und

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Kamerabewegung machen jede Gewissheit zunichte, die wir bezüglich dieses Ortes empfunden haben, und verwandeln die leere Landschaft in ein undurchsichtiges und verwirrendes Labyrinth (Abb. 7.4).

Abbildung 7.4: Als sein Geländewagen stecken bleibt und er von seinem Führer verlassen wird, sucht David nach Zeichen in der Wüste. ›Beruf: Reporter‹ (Michelangelo Antonioni, 1975).

Die Politik des Milieus Sowohl in Antonionis als auch in Schanelecs Filmen erscheint die Umgebung nie als zusammenhängendes Setting, das wir auf einen Blick erfassen und dechiffrieren können. Es gibt keine Aufnahmen, weder in der Stadt noch in der Natur, die den Schauplatz als umfassende Einheit zeigen; die Umgebung verdichtet sich weder zu einer Landschaft, die vom Auge der Betrachterin zu einer Einheit gefügt wird, noch zu einem Milieu, das zielgerichtet Macht ausübt.17 Vielmehr stellen die Bilder das Spannungsverhältnis zwischen Figur und Umwelt dar und machen so das Milieu als Medium sichtbar. Im 20. Jahrhundert ist das Verhältnis zwischen Organismus und Milieu in der Theorie der Biologie zunehmend komplexer geworden. Der mechanistische Determinismus und der Positivismus wurden durch ein propositionales Modell relativiert, das dem Lebewesen Differenzen und Wahlmöglichkeiten bietet: »Der Zusammenhang zwischen dem Lebendigen und dem Milieu etabliert sich als eine Auseinandersetzung, in die das Lebewesen seine eigenen Normen der 17

Die stilistische Handschrift von Arslans »Western« Gold (2013) macht dies noch deutlicher. Der Film verzichtet zu großen Teilen auf die für Western so typischen ehrfurchtgebietenden Panoramaaufnahmen und setzt stattdessen auf Totalen und Halbtotalen. Weiteres zu Gold findet sich in den Beiträgen von Gemünden und Végső.

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Beurteilung von Situationen mit einbringt, in der es das Milieu beherrscht und es sich anpasst.« (Canguilhem 2009: 265). Das Milieu ist nie einfach ein unstrukturierter Kontext zahlloser Einflüsse, sondern existiert immer nur in Bezug auf das Lebewesen und seine Interessen und Probleme. Schanelec macht in ihren Bildern die Kluft zwischen Figur und Umgebung sichtbar und stellt sie als eine Beziehung dar, die ständig verhandelt und hinterfragt werden muss. Damit erzeugt Schanelec (indem sie Antonionis Spuren folgt) in ihren Bildern eine Art experimenteller Problematologie, statt einer (normativen) Epistemologie, also eine Ästhetik, die sich auf Reibungspunkte, Missverständnisse und Fehlanpassungen konzentriert – eine Ästhetik, die dem erkenntnistheoretischen Ansatz von Canguilhem bis Foucault und Deleuze entspricht.18 Schanelecs Film nimmt so die Selbstreflexivität der Bildästhetik des post-neorealistischen Films auf, die versucht, die Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen des filmischen Bildes in das Bild selbst einzufügen. Diese Bilder erlauben es der Betrachterin nicht, die »gefilmte Realität« einfach nur zu anzuschauen, sondern zeigen ihr, auf welche Art und Weise ein Bild auf die Realität verweist. Diese Ästhetik kann auch im Sinne des modernen Verhältnisses zwischen Subjekt und Milieu verstanden werden. Deleuze beschreibt das Verhältnis des Filmbildes zur Welt, die es hervorruft und mit der es sich umgibt, als seine Fähigkeit, sich in zwei Komponenten zu spalten, die sich ständig wie in einem Kristall aufeinander beziehen – ein reales und ein imaginäres, ein aktuelles und ein virtuelles Bild (Deleuze 1991: 95f.). Diese Kristallbilder haben in den Filmen von Antonioni, Kristof Zanussi, Max Ophüls oder Alfred Hitchcock verschiedene Formen angenommen. Das Filmbild und die Welt, die es beschwört, können sich auf unterschiedliche Weise aufeinander beziehen: entweder in Form von äußeren Spiegelbildern, in denen ein Bild virtuell, das andere real, oder ein Bild klar und das andere undurchsichtig ist, oder alternativ in der inneren Beziehung zwischen Keim und Umgebung (Milieu).19 Der Keim enthält im Inneren die Bedingungen des Milieus; er verweist auf das Milieu. Gleichzeitig enthält das Milieu die Möglichkeit dieses Keimlings, es bedingt ihn. Diese zirkuläre Beziehung wird bei Antonioni und Schanelec als Dynamik eines propositionalen Milieus sichtbar, sowohl in ihren Aufnahmen der Rückenfigur als auch in jenen Bildern, die eine Landschaft absuchen (Antonioni) oder eine ziellose Protagonistin eine fremde Stadt erkunden lassen (Schanelec). In diesen Bildern beziehen sich Milieu und Protagonist/-in ständig aufeinander und konstituieren sich gegenseitig, während sie sich gleichzeitig in Frage stellen und aus der Zeit werfen.

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Zur Geschichte der Problematologie in der französischen Philosophie und zur Rolle von Canguilhems Das Normale und das Pathologische, siehe Osborne 2003. Deleuze verwendet den Begriff »Milieu« im französischen Original. Siehe Deleuze 1985: 96.

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Zwischen Antonioni und den Filmen der Berliner Schule liegt nun aber der Aufstieg des Neoliberalismus und damit, wie Foucault argumentiert, die Verinnerlichung der Gouvernementalität durch Subjekte, die zu Unternehmern des Selbst geworden sind. Der Neoliberalismus, so Foucault, bringt eine neue Art von Umweltregime mit sich. Gouvernementalität im Neoliberalismus ist eine Handlung geworden, die umweltlich eingreift (und nicht mehr nur juristisch oder disziplinär wirkt), das heißt, sie funktioniert durch eine umweltliche Intervention, »die die Individuen nicht innerlich [unterwirft], sondern sich auf ihre Umwelt [bezieht] [une intervention de type environnementale].«(Foucault 2006: 359).20 Das neoliberale Subjekt ist ein »Mensch, der die Wirklichkeit akzeptiert oder systematisch auf die Veränderungen in den Variablen der Umgebung [milieu] reagiert«. Er erscheint »als etwas Handhabbares […], als jemand, der systematisch auf systematische Variationen reagieren wird, die man auf künstliche Weise in die Umgebung [milieu] einführt« und »als das Korrelat einer Gouvernementalität, die auf die Umgebung [milieu] Einfluß nehmen und systematisch die Variablen dieser Umgebung verändern wird« (371–72). Im Neoliberalismus sind die wirtschaftlich und eigennützig handelnden Subjekte nicht mehr unabhängige Partner eines gleichberechtigten Austauschs; als Unternehmer ihrer Selbst sind Person und Humankapital untrennbar miteinander verbunden, sodass jeder Aspekt des Lebens von einer neoliberalen Marktlogik durchdrungen ist (Dilts 2011: 136). Folglich kann »[j]edes Verhalten, das auf systematische Weise den Veränderungen in den Variablen der Umgebung entspricht« in der neoliberalen Ökonomie als rational gelten, da es »die Wissenschaft der Systematizität von Reaktionen auf die Variablen der Umgebung [variables du milieu]« geworden ist (Foucault 2006: 370).21 Foucaults Darstellung der Logik des Umweltlichen im Neoliberalismus – die Variation von Umweltfaktoren, auf die das neoliberale Subjekt in berechenbarer Weise reagiert – beschreibt eine der neueren Wendungen eines Subjekt-Umwelt-

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Foucault scheint zwischen »Milieu« und »Umwelt« bzw. Umgebung in ähnlicher Weise zu unterscheiden wie ich diese Begriffe verwende. Der Neoliberalismus ist »une intervention de type environnemental« oder »technologie environnementale«, da er in die Umwelt als Ort eingreift, er ist dort angesiedelt. »Milieu« wird im Sinne von Medium verwendet und beschreibt die neoliberale Form der Einflussnahme. Siehe Foucault 2006: 264–65. Die Verschiebung der Konfiguration der Subjektivität und des Verhältnisses des Subjekts zu Markt und Kapital lässt sich narrativ und visuell durch den Vergleich von Antonionis Liebe 1962 mit Hochhäuslers Unter dir die Stadt (2010) ermessen. In Liebe 1962 spielt die Börse als Ort, an dem Vittoria (Monica Vitti) eine oberflächliche Beziehung zum Börsenmakler Piero (Alain Delon) beginnt, noch eine prominente Rolle, während sich in Unter dir die Stadt die zwei erfolgreichen Selbstunternehmer Svenja (Nicolette Krebitz), die Ehefrau eines Investmentbankers, und der Geschäftsführer der Bank Roland (Robert Hunger-Bühler) durch die Glasarchitektur der Frankfurter Finanzgebäude bewegen, in denen Macht (und Geld) unsichtbar geworden sind.

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Verhältnisses, die historisch durch den Begriff »Milieu« erfasst wurde: systematische, marktgetriebene Veränderungen der Umwelt, die kalkulierbare Veränderungen der systematisch berechenbaren – und damit rationalisierbaren – Reaktionen irrationaler Subjekte hervorrufen. Entscheidend für die Darstellung des Milieus in Marseille ist also nicht nur die Visualisierung der Kluft zwischen Protagonistin und Umgebung, die es dem Film ermöglicht, den Ort in der Mitte – den mi-lieu –, zu enthüllen, dieses Kraftfeld an sich, das in den meisten Filmen in der nahtlosen Verbindung zwischen Handlung, Wahrnehmung und Umgebung verschwindet. Ebenso wichtig – und dies sollte als ästhetischer Akt des politischen Widerstands verstanden werden – ist das Untergraben der »Norm« (im Sinne Canguilhems) durch Bild und Ton, sodass die harmonische Interaktion der Kräfte des Milieus gestört wird. Diese Störung wiederum verweigert die Realisierung dessen, was das neoliberale Milieu zur Verfügung stellt, da dieses Milieu die vermeintlich freien und individuellen Entscheidungen des Subjekts bereits einberechnet und einkalkuliert hat. Gerade in diesem Spannungsverhältnis zwischen indifferentem Milieu und indifferenter Protagonistin – in ihrer komplexen Auseinandersetzung, die dennoch Spuren hinterlässt und Folgen hat, in dieser Beziehung, in der sich beide Seiten gegenüberstehen und doch den Blick abwenden – entlarven die Filme der Berliner Schule wie Marseille das zeitgenössische Milieu und manifestieren ihr politisches Potenzial.

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8 Neue Globale Wellen Abbas Kiarostami und die Berliner Schule Roger F. Cook

Seit dem Zerfall der Sowjetunion vor fünfundzwanzig Jahren und der Neuordnung der machtpolitischen Landkarte vor allem in Asien sind auf der ganzen Welt zahlreiche filmische Bewegungen entstanden, die eine Alternative zum dominierenden Hollywood-Kino bieten. In Anlehnung an viele Kritiker/-innen würde ich diese Entwicklung als eine globale Neue Welle des unabhängigen Filmschaffens beschreiben, die den Realismus als Genre neu aufnimmt und auf vielfältige und unterschiedliche Weise ausgestaltet. Einige der prominentesten Regisseure und Regisseurinnen, die für den Erfolg dieser Filme verantwortlich sind, kommen aus dem Iran, Korea, Rumänien und Südamerika, aber auch aus den traditionellen Filmkunst-Hochburgen Westeuropas und Nordamerikas. A. O. Scott, Filmkritiker der New York Times, schlägt in einem Artikel, der diese neuen internationalen filmischen Impulse behandelt, vor, diese Bewegung als »Neo-Neo-Realismus« zu bezeichnen. Sein Text vergleicht die heutigen Filme mit dem italienischen Kino aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und wirft dabei die Frage auf, wie sich der neue Stil seinem berühmten Vorgänger gegenüber verhält. Daneben verhandelt er das grundlegendere Problem, wie Realismus überhaupt definiert werden kann, egal ob es sich um italienischen Neorealismus oder eine zeitgenössischere Variation desselben handelt. Obwohl Scott in seinem Text die Berliner Schule nicht explizit erwähnt, so zeigt sie in ihren realistischen Ansätzen große Ähnlichkeiten mit den Filmemachern und Filmemacherinnen, die er zu dieser internationalen Neuen Welle zählt. Auch die Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule ringen darum, die Charakteristika ihrer spezifischen Form des Realismus zu definieren, und stellen in Frage, ob ihre Herangehensweise überhaupt als Realismus bezeichnet werden sollte (Cook/Koepnick/Prager 2013: 13–18). Mit dem Label »unabhängiges, realistisches Filmemachen« verbindet man oft die Erwartung, dass die so deklarierten Filme politische Debatten aufnehmen oder sich Machthabenden – national oder international – entgegenstellen. Indem ich in diesem Essay die Frage des politischen Engagements als Einstieg in eine umfassendere Analyse der realistischen Ästhetik der globalen Neuen Welle nehme, konzentriere ich mich vor allem auf die Ähnlichkeiten zwischen den Filmen der Berliner

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Schule und denen des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami. Beide wurden von ihren Kritikern und Kritikerinnen regelmäßig dafür angegriffen, dass sie sich mit banalen Begebenheiten beschäftigen und kontroversen Themen ausweichen. Deutsche Kritiker/-innen von den entgegengesetzten Enden des ideologischen Spektrums haben die Berliner Schule dafür kritisiert, dass sie sozialen und politischen Themen aus dem Weg geht. Von links kommt die Kritik von denjenigen, die die Filmemacher/-innen der Berliner Schule als Nachfolger/-innen eines Stils unabhängigen Filmemachens sehen möchten, der die Tradition des Neuen Deutschen Films der 1960er und 70er Jahre oder den avantgardistischen, dokumentarischen Ansatz von Harun Farocki und Hartmut Bitomsky fortsetzt (die beiden letzteren haben die erste Regie-Dreiergruppe der Berliner Schule an der Deutschen Filmund Fernsehakademie Berlin (dffb) unterrichtet: Angela Schanelec, Christian Petzold und Thomas Arslan).1 Andere, die mit dem jüngeren kommerziellen Erfolg der deutschen Filmindustrie assoziiert sind, haben die Berliner Schule zerrissen, weil ihre Filme nicht zugänglicher sind und ihre Geschichten keine pädagogisch wertvollen Lektionen über die deutsche Vergangenheit liefern, um daraus eine geläuterte nationale Identität zu konstruieren. Ulrich Köhlers geharnischte Reaktion auf die Kritik beider Seiten in seinem Essay »Warum ich keine ›politischen‹ Filme mache« von 2007 zeugt davon, unter was für einem Druck die Filmemacher/-innen der Berliner Schule standen, sich direkt mit politischen Themen zu beschäftigen. Köhler lehnt einen solchen Ansatz entschieden ab zugunsten von autonomen ästhetischen Strategien, die nicht versuchen, die Ansichten der Zuschauer/-innen zu beeinflussen, indem sie sie auf inhaltlicher Ebene aufklären, sondern eher darauf hinwirken, ihre Sichtweise durch künstlerische Mittel zu verändern (Abel 2013: 274–78).2 Kiarostami sah sich in seinem Heimatland ähnlicher Kritik gegenüber. 1977 wagte er sich mit Gozaresh (The Report) auf den kommerziellen Filmmarkt zu einer Zeit, als im Iran eine schwere wirtschaftliche Krise und zunehmende politische Spannungen herrschten, weil das Schah-Regime immer unbeliebter wurde. Dies war sein Eintritt in die Neue Welle des iranischen Films, die Ende der 1960er Jahre mit einer neuen Filmsprache, die die zügellose Korruption der iranischen Gesellschaft unter der repressiven Herrschaft des Schahs bloßstellte, dem moribunden nationalen Kino neues Leben eingehaucht hatte. Als diese erste Neue Welle des iranischen Films jedoch von staatlicher Seite strengen Zensurmaßnahmen unterworfen wurde, wandten sich die Regisseure und Regisseurinnen einem anderen,

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Zu den Ursprüngen, der Entwicklung und der umstrittenen Benennung der Berliner Schule siehe Abel 2013: 9–12 und Cook/Koepnick/Prager 2013: 1–6. Vgl. auch Sicinskis Beitrag in diesem Band für eine andere Interpretation von Köhlers Darlegungen.

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unpolitischen Stil des Filmemachens zu, das vom Avantgarde-Kino der französischen Nouvelle Vague und insbesondere von Godard und Bresson beeinflusst war. Erst mit dem Ende des verheerenden, acht Jahre dauernden iranisch-irakischen Kriegs begann eine zweite Neue Welle des iranischen Films sich auf den internationalen Filmfestivals bemerkbar zu machen. Mit der Unterstützung des damaligen Ministers für islamische Kultur Mohammad Chātami wurden Anreize für die einheimische Filmproduktion geschaffen und die Zensur eingeschränkt. Einige Filme dieser zweiten Welle, die den Einfluss des italienischen Neorealismus zeigten, setzten sich nachdrücklich für soziale und kulturelle Reformen ein, wobei ausdrückliche Kritik am Staat tabu blieb. Während Regisseurinnen und Regisseure wie Samira Makhmalbaf und Jafar Panahi Filme machten, die sich kritisch mit der Stellung der Frau in der iranischen Gesellschaft (Saeed-Vafa/Rosenbaum 2003: 49) auseinandersetzten, wurde Kiarostami dafür kritisiert, dass er sich von »kontroversen Themen wie gesellschaftlicher oder politischer Kritik, die am ehesten der Zensur unterworfen sind« (Farahmand 2002: 99), fernhielt und künstlerische Filme drehte, die bei internationalen Filmfestivals Anklang fanden. Diese Kritik des unpolitischen Filmemachens dient als Dreh- und Angelpunkt meiner vergleichenden Analyse der Berliner Schule und Kiarostami. In »Warum ich keine ›politischen‹ Filme mache« lehnt Köhler die Idee ab, dass die direkte Auseinandersetzung mit politischen oder sozialen Themen im Spielfilm erfolgreich gesellschaftliche Veränderungen anstößt. Filme mit einer expliziten politischen Botschaft, so argumentiert er, sind in der Regel weder künstlerisch noch politisch erfolgreich. Im Gegenteil: »Kunst, die nur Kunst sein will, ist häufig subversiver.« (Köhler 2007) Obwohl Köhler nur für sich selbst spricht, hat sich die Berliner Schule insgesamt diese Position in der Praxis zu eigen gemacht. Ihre Ablehnung von Filmen, die bestimmte Botschaften oder politische Ideologien verbreiten wollen, ist zum Teil eine Reaktion auf die Welle von Geschichtsfilmen über Deutschlands schwierige Vergangenheit. Köhler wettert gegen diese deutschen HeritageFilme (Koepnick 2002) und behauptet, sie seien reaktionär, weil sie das deutsche Publikum von seiner historischen Schuld entlasten, ohne eine kritische Perspektive auf die Gegenwart zu liefern. Von Kiarostami ist keine vergleichbare Erklärung dafür überliefert, dass er in seinen Filmen politische oder soziale Themen nicht explizit behandelt, noch hat er sich damit verteidigt, dass dies wegen der staatlichen Zensur nicht möglich sei. In ihrem Nachwort zu einem wichtigen Sammelband über die iranische New Wave antwortet Laura Mulvey differenziert auf Azadeh Farahmands Behauptung, dass Kiarostami politische Themen ignoriert und lieber exotisierend die Aspekte der traditionellen iranischen Kultur zeigt, die für das westliche Publikum interessant sind. Ihre Erklärung dafür, »wie es sein kann, dass Filme mit wenig oder gar keinem offensichtlichen politischen Inhalt trotzdem wichtige Fragen für die Politik des Kinos aufwerfen können« (Mulvey 2002: 260), gilt sowohl für die Art und Wei-

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se wie die Berliner Schule als auch Kiarostami ihr Publikum auf mikropolitischer Ebene ansprechen. Mulvey situiert Kiarostamis Arbeit innerhalb der Geschichte des Avantgarde-Films, der sich gegen die dominierenden Formen des populären Films aus Hollywood absetzt. Ersterem ging es immer nicht nur um das Was, wie sie postuliert, sondern auch – und oft in erster Linie – um das Wie. Das Kino ist ein Medium, das ständig daran arbeitet, die Zuschauer/-innen im Verhältnis zum Bild neu zu verorten, und wirft deshalb Fragen nach den Auswirkungen und Grenzen der Art und Weise seiner Repräsentation auf. Wenn Kiarostamis Filme beharrlich die Natur des Films als Medium erforschen, wie Mulvey feststellt, dann werfen sie in der Folge Fragen wie »Was kann dargestellt werden?« und »Wer kann was sehen?« auf. Dies öffnet das Bewusstsein für die Offenheit und Kontingenz des Bildes und erzeugt Unsicherheit. Dadurch entfalten die Filme, so Mulvey, eine politische Triebkraft, einfach dadurch, weil sie »im Widerspruch zu den Gewissheiten einer jeden vorherrschenden ideologischen Überzeugung stehen – im Falle des Irans zur Religion« (260). Ich stimme in allen diesen Punkten mit Mulvey überein, aber ich möchte die mikropolitische Rolle des Kinos in einen etwas größeren Kontext stellen. Ihre oft zitierte Darstellung von Kiarostamis »Prinzip der Ungewissheit« betont das Visuelle und verweist zuweilen auf ihre eigenen wissenschaftlichen Anfänge, die sich vor allem mit der Frage des Blicks und der Identifikation beschäftigt haben, auch wenn sie gleichzeitig eine breitere Sichtweise auf das Kino als Medium einfordert. Dennoch bleibt ihre Argumentation singulär auf das Sehen fixiert: »Beim Kino geht es um das Sehen und die Konstruktion des Sichtbaren durch filmische Konventionen.« (Mulvey 2002: 257) Wie Mulvey gehe auch ich davon aus, dass die politische Kraft von Kiarostamis Filmen, wie auch die der Filme der Berliner Schule, eher in der filmischen Technik als im tatsächlichen Inhalt liegt. Im Folgenden untersuche ich, wie sie ähnliche ästhetische Strategien anwenden, um subversiv nicht nur die Ebene der expliziten Botschaften, sondern auch der visuellen Wahrnehmung zu unterwandern. Es gibt eine Tendenz, das Anschauen eines Films als eine mehr oder weniger ausschließlich visuelle Erfahrung zu begreifen – als ob eine intakte Filmwelt vor unseren Augen aufgebaut und dann von einem optischen System erfasst wird, das aus isolierten optischen Rezeptoren besteht. Ein Verständnis der Funktionsweise der anderen Sinne und der sensomotorischen Systeme in Verbindung mit dem Sehen während der Betrachtung eines Films ermöglicht jedoch eine umfassendere Sicht auf das Filmerlebnis. Ausgehend von neueren Erkenntnissen der Neurowissenschaften und Kulturtheorie über die Beziehung zwischen automatischen Körperprozessen und bewussten mentalen Repräsentationen untersuche ich, wie der Effekt der Filme von Kiarostami und der Berliner Schule darin besteht, Veränderungen auf der Ebene des Affekts anzustoßen. Ihre mikropolitischen Interventionen stören festgelegte Empfindungsmuster, die sich in die Tiefen

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der subphänomenalen Intensitäten und die Höhen der Materialität des Denkens erstrecken. Ich beginne mit einem Konzept, das sich vom italienischen Neorealismus ableitet und auf die postrevolutionäre Zweite Welle des neuen iranischen Kinos angewendet wurde. (Chaudhuri/Finn 2003) In seinem Aufsatz »Das Kino der Poesie« von 1976 schlägt Pier Paolo Pasolini die Idee einer »filmischen indirekten freien Rede« vor, die analog zum inneren Monolog in der Literatur funktionieren soll (Pasolini 1977: 64). Er vergleicht die subjektive Einstellung (Point-of-View-Shot) mit der direkten Rede in der Literatur und die objektive Einstellung aus einer neutralen Kameraperspektive mit indirekter Rede. Im Folgenden schreibt er dem Neorealismus die Konstruktion einer neuen Perspektive zu, die zwischen beiden liegt, und die er die »indirekte freie subjektive Perspektive« nennt. Im Falle des Autorenkinos wie des italienischen Neorealismus entsteht diese aus dem Zusammenspiel zweier leicht zu erkennender Perspektiven. Die eine ist eine diegetische Sichtweise, die mit den Figuren des Films, oft mit dem Protagonisten oder der Protagonistin, verbunden ist. Die andere ist mit dem Autorenfilmer oder -filmerin verbunden und manifestiert eine obsessive ästhetische Vision. Aber die indirekte freie subjektive Perspektive hält zu beiden eine gewisse Distanz. Eine dynamische Konstellation sich verlagernder subjektiver Einstellungen befreien die Zuschauer/-innen zunächst von der Kontrolle einer (vermeintlich) objektiven auktorialen Erzählsituation, die im Mainstream-Kino vorherrscht. Gleichzeitig widersetzt sich der Filmemacher oder die Filmmacherin aktiv, Kontrolle zu etablieren, indem er oder sie die eigene auktoriale Sicht in den Vordergrund stellt. Dies ermöglicht eine betrachterzentrierte Auseinandersetzung mit dem Bild. Ein Beispiel, wie Kiarostami diesen Effekt erzielt, sehen wir in einer Szene aus Bād Mā Rā Chāhad Bord (Der Wind wird uns tragen, 1999). Bei einem seiner flüchtigen Besuche auf den Hügel außerhalb des Dorfes, wo er einen besseren HandyEmpfang hat, entdeckt der Protagonist, der Ingenieur Behzad (Behzad Dorani), eine Schildkröte. Kiarostami zeigt diese scheinbar unbedeutende Episode in einer Reihe von subjektiven Einstellungen, die eine indirekte freie subjektive Perspektive etablieren. Die Kamera hält zunächst fest, wie Behzad neugierig auf den Boden blickt, und schneidet dann einige Sekunden lang zu einer Aufnahme der Schildkröte aus seiner Sicht. In der dritten Aufnahme aus der Reihe dieser gekoppelten Shots sehen wir, wie sein Fuß ins Bild kommt und die Schildkröte auf ihren Rücken stuppst (Abb. 8.1).

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Abbildung 8.1: Behzad dreht die Schildkröte in ›Der Wind wird uns tragen‹ mit seinem Fuß auf den Rücken.

Dann, als er zum Auto zurückgeht, schaut er noch einmal zur Schildkröte hinüber, sowohl bevor als auch nachdem er eingestiegen ist. Bei diesen Gelegenheiten wird uns keine subjektive Aufnahme des Tieres gezeigt. Erst nachdem das Auto wendet und losfährt, zeigt die Kamera aus der gleichen Perspektive wie zuvor eine Aufnahme der Schildkröte. Aber jetzt verbleibt die Perspektive irgendwo zwischen der vorherigen subjektiven Sicht und dem objektiven Überwachungsblick der Kamera. Als die Schildkröte sich nach einigen Versuchen wieder auf die Füße drehen und ihren vorherigen Weg fortsetzen kann, folgt ihr die Kamera in einer Perspektive, die nun als indirekte freie subjektive benannt werden kann. Jedoch lenkt Kiarostami die Aufmerksamkeit gerade nicht auf die ästhetische Strategie, die er an dieser Stelle angewendet hat, um eine alternative Perspektive zu etablieren. Vielmehr ermöglicht die Freiheit, die diese Serie von Einstellungen erschafft, eine Vielzahl möglicher emotionaler Reaktionen und kognitiver Assoziationen. Behzad scheint keine böse Absicht zu haben, sondern handelt einfach gedankenlos, ohne die Folgen für die Schildkröte zu berücksichtigen. Da diese Szene weder Informationen über die Figur des Protagonisten mitteilt noch eine Botschaft des Autors vermitteln will, kann sie beim Publikum einen Assoziationsraum für politische oder soziale Obertöne eröffnen. Insbesondere können Behzads Handlungen eine instinktive Verbindung mit dem Leben in einem Unterdrückungsregime andeuten, das den offenen, menschenfreundlichen Geist des Islam zugunsten einer ideologischen religiösen Doktrin zurückweist. In einer komplexen Serie von Einstellungen in Yella (2007) setzt Christian Petzold eine subjektive Kamera ein, um ein emotional aufgeladenes Beispiel der indirekten freien subjektiven Perspektive zu erschaffen. Yella (Nina Hoss), die gerade in Hannover angekommen ist, verlässt zu Fuß den Bahnhof und geht in einem

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unscheinbaren Viertel die Straße entlang, als sie plötzlich stehen bleibt und aufgeschreckt um sich blickt, durch ein unerklärliches Gefühl ganz klar alarmiert. Dann – während die Kamera auf ihr Gesicht gerichtet ist – sehen wir, dass sie konzentriert etwas anblickt, das die Ursache ihres Unbehagens zu sein scheint. Die Kamera schwenkt um 180 Grad, um uns aus einer subjektiven Perspektive das Bild dessen zu liefern, was sie sieht – ein Paar, das sich in der Einfahrt ihres Hauses mit einem Kuss begrüßt, nachdem der Ehemann gefolgt von seiner kleinen Tochter aus seinem Auto gestiegen ist. Die Kamera befindet sich jedoch hinter Yella, sodass sie groß im Vordergrund zu sehen ist. Was ansonsten eine gewöhnliche subjektive Aufnahme dessen wäre, was die Figur betrachtet (Abb. 8.2), wird dadurch ungewöhnlich. Die Kamera schneidet daraufhin zurück auf Yellas Gesicht aus der Perspektive des Paares, während sie sie weiterhin mit verwirrtem Blick anstarrt. Es folgt eine Sequenz von Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen, in denen die jeweiligen Perspektiven aber nie festgelegt werden können. In der letzten Einstellung der Sequenz sehen wir, wie Yella sich umdreht und beunruhigt weitergeht, aber noch einmal zurück in Richtung des Hauses schaut, mit einem Blick, der signalisiert, dass das Gesehene auf unerklärliche Weise wichtig ist. Aber der Film geht weiter und belässt diesen Moment als isolierte Episode, die scheinbar keine Verbindung zum Plot hat, bis zu einem viel späteren Zeitpunkt eine ähnliche Szene ihn wieder in Erinnerung ruft und ebenfalls das unheimliche Gefühl auslöst, das hier durch die Gesichter und die Blicke der zwei Frauen vermittelt wird. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie Petzold eine indirekte freie subjektive Perspektive verwendet, die sowohl in emotionaler als auch in kognitiver Hinsicht fruchtbare Assoziationen ermöglicht.3 In diesem Fall dient sie dazu, diese Szene als psychisch aufgeladenen Moment in einem Traum oder einer Vision zu etablieren, die Yella hat, kurz bevor ihr Ex-Mann das Auto, in dem sie sich befinden, absichtlich in die Elbe fährt. Die Szene präsentiert ihr das Objekt ihrer Begierde als Mikrokosmos – das, was sie dazu treibt, eine Karriere in einer RisikokapitalFirma im Westen anzustreben –, nämlich die Idee eines guten bürgerlichen Lebens mit einem erfolgreichen Ehemann, einem teuren Haus und Auto und einem glücklichen Kind. Die indirekte freie subjektive Perspektive wird beim ersten Gegenschuss, der aus der Sicht der Frau erfolgt, noch verstärkt. Er geschieht, noch bevor sie sich überhaupt bewusst ist, dass Yella sie beobachtet. Während wir in einer Halbnahaufnahme Yella betrachten, hören wir plötzlich von oben aus den Bäumen das Krächzen einer Krähe. Als Yella sich schnell dem Geräusch zuwendet, schneidet die Kamera zu einer Aufnahme der Baumkrone und dem 3

Ich habe an anderer Stelle beschrieben, wie dieses rätselhafte Gefühl, das keinen klaren narrativen Zweck hat, eine Vielzahl politischer und sozialer Implikationen vermitteln kann (Cook 2015: 166–69).

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vermeintlichen Flug der Krähe – wir sehen jedoch nur Äste und Blätter, keinen Vogel. Diese Aufnahme nimmt den vorahnungsvollen Moment, bevor Yella zu ihrem Ex-Mann in das Auto einsteigt, wieder auf. Sie ist eine Traumkonfiguration dessen, was damals geschah. Ein Überschallknall geht dem Geräusch eines über den Kopf streifenden Jets voraus. Auch da blickt Yella zum Himmel, die Kamera folgt ihrem Blick und dem Pfad des Jets, jedoch ohne dass man ihn sehen könnte. Die subjektive Aufnahme von Yella, die in Richtung Krähe schaut, ist der erste von mehreren Fällen, in denen rekonfigurierte Teile der realen Erfahrung in die Traumerzählung eindringen und sie in die Realität zurückzuziehen drohen (Fisher 2013: 103–4). Obwohl es sich formal um eine subjektive Kamera handelt, konstruiert sie als filmischer Moment, der in die Psyche Eindringendes markiert, das die Traumarbeit stört, eine Perspektive, die eher der indirekten freien subjektiven Perspektive entspricht.

Abbildung 8.2: Ein unheimlicher Austausch von Blicken in ›Yella‹

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Die meisten Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule setzen die subjektive Kameraführung sparsamer ein, haben dafür aber andere Mittel entwickelt, um eine indirekte freie subjektive Perspektive zu verwenden. Auch wenn die Kamera nicht direkt die Perspektive der Protagonisten oder Protagonistinnen einnimmt, so werden die Zuschauer/-innen durch alternative Techniken damit vertraut gemacht, dass ihre Sicht auf ihr Leben, von Missbehagen und Entfremdung geprägt ist. Wenn die Kamera das Gefühl der Protagonistin zum Ausdruck bringt, ohne visuell ihre Perspektive einzunehmen, können die Zuschauer/-innen diese Unzufriedenheit mit beliebigen eigenen emotionalen oder kognitiven Erfahrungen in Verbindung bringen. Die lange Einstellung an der Autobahnraststätte am Anfang von Köhlers Bungalow (2002) etwa funktioniert auf diese Weise. Der träge Schwenk der Kamera – währenddessen sie zuerst dem Militärkonvoi von der Autobahnausfahrt auf den Parkplatz der Raststätte folgt, dann den Soldaten, die aus den Lastwägen steigen, das Restaurant durch den Vordereingang betreten und es an der Seite wieder verlassen – erzeugt ein Gefühl von Distanz und Ennui, das sich in der Haltung, den Gesten und dem Ausdruck des Protagonisten Paul (Lennie Burmeister) ausdrückt, als er sich in den Stuhl auf der Restaurantterrasse fläzt. Im Ergebnis übernehmen wir die lustlose Haltung und den körperlichen Zustand, den Paul durch den ganzen Film hindurch projiziert, ohne in konventionelle Identifikationsmuster hineingezogen zu werden, die von einer subjektiven Kamera erzeugt werden und der von der Erzählung vorgeschriebenen Charakterentwicklung dienen. Pasolinis Konzept der indirekten freien subjektiven Perspektive gewann an Bedeutung, als Gilles Deleuze darauf aufbauend die Rolle des Neorealismus für den historischen Übergang vom Bewegungsbild zum Zeit-Bild erklärte. Allerdings findet in Deleuzes Ausführung eine wichtige Verschiebung statt. Die multiplen, offenen Standpunkte sind nicht mehr Elemente eines semiotischen Systems, das nach verschiedenen Standpunkten (erste, zweite oder dritte Person) und Diskursmodi (direkt oder indirekt) strukturiert ist. Während Pasolini die indirekte freie subjektive Perspektive mit einer literarischen Analogie beschreibt, vergleicht Deleuze sie mit dem körperlichen Prozess, der aus einzelnen Wahrnehmungsmomenten den Strom von Bildern erzeugt, aus dem sich das Bewusstsein zusammensetzt. Er schreibt: »Wir befinden uns nicht mehr vor subjektiven oder objektiven Bildern: wir werden von einem Wechselverhältnis zwischen Wahrnehmungsbild und einem es transformierenden Kamerabewusstsein erfasst […].« (Deleuze 1989: 107) In seiner Darstellung werden alle körperlichen Prozesse, die aus einem Überschuss an affektiven und sensomotorischen Bildern Bewusstsein erzeugen (Wahrnehmung, Erinnerung, Affekt, Handlung), durch die Produktion dieses autonomen Kamerabewusstseins aktiviert. Im konventionellen Erzählkino unterliegen die sensomotorischen Reaktionen einem narrativ (vor-)konstruierten Schema von Handlung und Kausalität (das Bewegungsbild). Nach Deleuzes Darstellung befreit das Zeit-Bild

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den Film vom kausalen, repräsentationalen Rahmen des klassischen Kinos und gibt ihm sein Vermögen wieder, direkt mit dem Zuschauer als Körper zu interagieren. Diese verkörperte Zuschauerschaft, die mit Deleuzes Überarbeitung von Pasolinis Konzept einhergeht, erfordert die Aufhebung der narrativen Kontrolle, wie sie im klassischen Kino ausgeübt wird. Die straffe dramaturgische Organisation von Mainstream-Filmen lenkt die Aufmerksamkeit vom technischen Handwerk ab, das benötigt wird, um eine nahtlose Filmwelt herzustellen. Das Kontinuitätsprinzip beim Schnitt, synchroner Ton, räumliche Einheit, fließende Übergänge zwischen den Szenen und andere klassische ästhetische Prinzipien sind so gestaltet, dass die Zuschauer/-innen das Bild auf der Leinwand als eine gegebene, intakte Realität wahrnehmen. Ein alternativer Stil des Filmemachens, der alle Körpersysteme der Zuschauer/-innen aktiv in das Filmerlebnis einbeziehen möchte, muss die konventionellen Muster der narrativen Integration dekonstruieren. Das bedeutet nicht, dass die Narration vollständig aufgegeben wird, sondern dass sie auf alternative Weise organisiert wird, damit die Zuschauer/-innen auf das reagieren können, was normalerweise als Nebenbestandteile des Bildes angesehen werden. Die filmische Technik wird nicht ignoriert, sondern strategisch eingesetzt, um andere Effekte zu erzielen. Die Unfähigkeit mancher Kritiker/-innen die ästhetische Gestaltung zu erkennen, die für die Herstellung der Gegenerzählungen der Berliner Schule erforderlich ist, hat dazu beigetragen, dass sie sie als Realismus oder Neorealismus bezeichnen. Bei einer Diskussionsveranstaltung von Revolver Life!, die sich der Frage nach dem Realismus widmete, wiesen die Filmemacher/-innen der Berliner Schule die Vorstellung zurück, dass ihr »realistischer« Ansatz bedeutete, dass sie sich nicht mit ästhetischen Fragen auseinandersetzten. Sören Voigt konterte: »Realismus heißt mehr gestalten.« (»Revolver Live« 2006: 356) Auf ähnliche Weise hat Kiarostami bei der Frage nach der realistischen Qualität seines Filmschaffens sein Engagement für die Darstellung der Realität bekräftigt, aber auch behauptet: »Die Realität kann nicht begriffen werden. Meiner Meinung nach kann die Kamera die Realität nicht erfassen.« (Gow 2011: 20) Khae-ye doust kodjast? (Wo ist das Haus meines Freundes?, 1987), einer der Filme, die oft als Beispiel für seinen realistischen Ansatz angeführt werden, zeigt diese Idee in der Praxis. Obwohl Ahmads (Babek Ahmed Poor) Suche nach dem Haus seines Freundes eine visuelle Reise durch ein abgelegenes Dorf in der Provinz Gilan zu zeigen scheint, hat Kiarostami tatsächlich für alle Szenen Kulissen gebaut und dort gefilmt. (Elena 2005: 72) In Übereinstimmung mit dieser Auffassung von Realismus werden die ästhetischen Strategien der Berliner Schule in der Regel durch das gekennzeichnet, was sie nicht tun, und weniger durch die von ihnen entwickelten stilistischen Neuerungen. Akademische und journalistische Kritiker/-innen haben ein Fehlen von erzählerischer Kontinuität, Entdramatisierung, Ablehnung von nicht-diegetischer Musik und minimale Figurenentwicklung angeführt (Kopp 2010: 288–90). Kiarostami hat ähnliche Verfahren angewendet, um die Einheitlichkeit der klassischen

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Erzählung aufzubrechen, und wurde dafür von Kritikern und Kritikerinnen ebenfalls hart kritisiert. In einem Interview 1999 erzählt er, dass er, nachdem bei einem seiner frühen Kurzfilme Zang-e Tafrih (Breaktime, 1972) beanstandet wurde, dass er keine narrative Einheit vorweise, für die nachfolgenden Filme zu einem konventionelleren Stil zurückkehrte. Nachdem er mehr Selbstvertrauen in seine Fähigkeiten als Filmemacher gewonnen hatte, kehrte er zu der kühnen alternativen Form dieses frühen Films zurück und erzielte seinen größten internationalen Erfolg mit Ta’m-e gīlās (Der Geschmack der Kirsche, 1997), einem Film, der von dem geprägt war, was Kiarostami als »Vermeiden des Erzählens« und »unbestimmtes Ende« nannte (Elena 2005: 21). Während er im Laufe der 1990er Jahre sein künstlerisches Repertoire erweiterte, wurde das, was er hier negativ beschreibt, zu einem immer ausgeklügelteren Set alternativer Techniken, von denen er viele selbst erfunden hat. Kiarostami verwendet, genau wie einige Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule, häufig Laiendarsteller/-innen. In Der Geschmack der Kirsche und seinem nächsten Film Der Wind wird uns tragen ließ er sie ihren Text nicht den anderen Schauspielern sagen, mit denen sie im Film spielten, sondern direkt in die Kamera, auf deren anderer Seite er selbst stand. Das heißt, dass in beiden Filmen in allen Szenen, in denen wir sehen, dass eine Figur im Auto zu einer anderen spricht, sie in Wirklichkeiten mit Kiarostami spricht, der mit seiner Kamera der einzige andere Insasse ist. In einem Interview, das Ulrich Köhler und Benjamin Heisenberg 2003 für das Magazin Revolver (das der Berliner Schule nahesteht) führten, verrät Kiarostami, wie er in der Arbeit mit Laiendarstellern und -darstellerinnen diese keine vorgegebenen Texte lernen lässt, sondern sie mit verdeckten Techniken dazu bringt, Dialoge in ihren eigenen Worten zu reproduzieren (Köhler/Heisenberg 2006: 292–93). Diese Taktiken sind Teil einer übergreifenden Praxis der Ellipse, die sowohl hinter den Kulissen bei den Dreharbeiten als auch im fertigen Film ihre Spuren hinterlässt. In Der Wind wird uns tragen bleiben die drei Mitglieder von Behzads Filmteam, die ihn ins Dorf begleiten und im selben Haus wohnen, durchgängig unsichtbar. Wir hören sie mehrfach, wie sie sich mit Behzad unterhalten, aber sie befinden sich nie im Bild, sondern entweder sind in einem anderen Teil des Autos, im Haus, in dem sie wohnen, oder einfach außerhalb des Bildausschnitts. Auch die Filmemacher/-innen der Berliner Schule verwenden narrative Ellipsen, indem sie häufig Teile der Erzählung weglassen, die beim konventionellen Filmemachen für den narrativen Fluss und eine vollständige kausale Erklärung der Beziehung zwischen den Figuren und Ereignissen nötig wären. Eines der markantesten Beispiele hierfür ist ein Schnitt in Angela Schanelecs Marseille (2004), der den Schauplatz von Marseille nach Berlin verlegt, ohne dass es dafür einen Hinweis oder eine nachträgliche Erklärung geben würde.4 Wenn der Film von der Protagonistin So4

Vgl. auch den Beitrag von Baer in diesem Band.

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phie (Maren Eggert), die sich bei Nacht in einer Bar befindet, zu ihr auf die Straße schneidet, ebenfalls bei Nacht, nehmen wir zunächst an, dass sie einfach die Bar verlassen hat. Der Mantel, den sie trägt, ist der einzige Hinweis darauf, dass sie sich nicht mehr in Marseille befindet. Und erst in der folgenden Szene verstehen die Zuschauer/-innen allmählich, dass sie jetzt in Berlin ist. Was bis dahin ein locker gewebter Bericht über ihren Aufenthalt in Marseille war, gerät nun aus den Fugen. Die Zuschauer/-innen werden unsicher, welche Teile einer bestimmten Einstellung für das Verständnis des Films wichtig sein könnten. Dadurch werden sie aufmerksamer dafür, wie der Film auf der subphänomenalen Ebene des Affekts wirkt und beginnen, das Bild als solches zu betrachten. Kiarostamis Filme verwenden keine solch atemberaubenden Schnitte wie in Marseille, sondern sind, so wie viele Filme der Berliner Schule, als locker gewebte Erzählungen strukturiert, die scheinbar ziellos dahintreiben und wenig Kontext oder Motive für die Handlungen ihrer Figuren liefern. Es gibt in seinen Filmen zwar auch Fälle solcher narrativen Ellipsen, jedoch verwendet Kiarostami häufiger eine Technik, die ich als umgekehrte Ellipse bezeichnen würde. Dies bezieht sich darauf, dass er oft lange Szenen in den Film aufnimmt, in denen nichts geschieht und die die Handlung nicht vorwärtsbringen, und daher normalerweise im Film nicht gezeigt werden. In Der Geschmack der Kirsche und Der Wind wird uns tragen sehen wir relativ lange und manchmal wiederholte Aufnahmen von Badii (Homayoun Ershadi) beziehungsweise Behzad, wie sie durch trostlose Landschaften fahren, in denen sonst wenig passiert. Diese Sequenzen haben den Effekt, den Deleuze dem Zeit-Bild des italienischen Neorealismus zuschreibt. Sie heben die Frage auf, die im konventionellen Erzählkino über jedem Bild hängt: »Was ist auf dem nächsten Bild zu sehen?« und bringen die Betrachter/-innen dazu, sich auf eine andere Frage einzulassen: »Was ist auf dem Bild zu sehen?« (Deleuze 1991: 348). Diese Technik verweigert dem Publikum die gewohnten narrativen Zusammenhänge und verhindert, dass die Erzählung voranschreitet. Wenn dies geschieht, haben andere Formen der Bewegung und Handlung, die unwichtig erscheinen mögen, eine stärkere Wirkung. Sie aktivieren in Echtzeit verkörperte Reaktionen in den Zuschauern und Zuschauerinnen, die fast identisch sind mit den körperlichen Prozessen, die unsere physischen Handlungen außerhalb des Kinos produzieren und leiten. Diese Aktionsbilder, um Henri Bergsons Terminologie zu verwenden, sind Teil einer großen Bandbreite von Affekten, die immer zwischen zwei Gedanken oder zwei Bewusstseinsinstanzen ins Spiel kommen. Wenn ein Filmbild sich ausreichend von der Erzählung emanzipiert, können die Momente ungehinderter Affekte produktiver zirkulieren (Wahrnehmungsbilder, Erinnerungsbilder und Aktionsbilder in Bergsons Vokabular) und sich an der Bildung von Bewusstsein, Gedanken und Urteilen beteiligen (Bergson 2014: 60–70, 92–105). Die Filmtechnik – jene Entscheidungen, die das »wie wir sehen« bestimmen – ist also direkt an der Gestaltung unseres bewussten Erlebens des Bildes

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auf der Leinwand beteiligt und beeinflusst, wie wir denken. In dem Maße, in dem ein Film Momente von entfesselten Gefühlsausdrücken bietet, die nicht von der Erzählung vorgezeichnet werden, wirkt er der Neigung entgegen, die Filmwelt als aufgezeichnete Realität und das Anschauen des Films als passive Aufnahme von Informationen zu erleben. Bedeutung wird nicht einfach in eine Botschaft verpackt, die dem Publikum allein durch das Sichtbare vermittelt wird, sondern entsteht genauso aus der Vielzahl der affektiven und kognitiven Impulse, die durch das Bild selbst ausgelöst werden. Durch diese Effekte kann der Film einen mikropolitischen Einfluss auf der subphänomenalen Ebene ausüben. Diese Art der Intervention erzeugt keine Ideen, die denen einer entgegengesetzten Ideologie entgegenwirken, sondern ermöglicht eine neue Art der Wahrnehmung und neue Denkmuster. Auf diese Weise bewirken ungewöhnliche filmische Techniken auch entsprechende Veränderungen in den mentalen Selektionsprozessen und Gewohnheiten, die Ideen und Argumente generieren. Sie üben ihren Einfluss auf eine ethische Sensibilität aus, die offen für affektive und sensomotorische Strömungen sein kann, aber gleichzeitig widerstandsfähig gegenüber Argumenten und Erörterungen bleibt. Filme müssen Themen nicht explizit über den Inhalt oder die Geschichte ansprechen, um das Seherlebnis trotzdem maßgeblich mitzubestimmen. Scheinbar beiläufige Handlungselemente, Ereignisse, Gesten, Geräusche, Texte oder Dialoge können Erinnerungsbilder hervorrufen, die mit bestimmten sozialen oder kulturellen Assoziationen aufgeladen sind. Unabhängig davon, ob wir sie bewusst oder unbewusst wahrnehmen, infizieren sie sowohl unsere instinktiven Reaktionen auf das Bild als auch den dadurch hervorgerufenen Denkprozess. Ausgehend von Bergsons Darstellung, wie Wahrnehmungsbilder, Erinnerungsbilder und Aktionsbilder in Beziehung zueinander funktionieren, beschreibt Deleuze, wie der Film die Bilder, die das Bewusstsein ausmachen, aus dem zeitlichen Fluss gelebter Erfahrung extrahiert und uns ermöglicht, ihnen in Momenten kristalliner Isolation zu begegnen. Sie zirkulieren als Teil einer Gruppe von virtuellen Erinnerungen, die er »Vergangenheitsschichten« (Deleuze 1991: 132–167) nennt, die sich sofort unterhalb der Bewusstseinsebene zusammenfügen, während der Körper die jeweilige Situation beurteilt, um zu entscheiden, wie er darauf reagieren soll. Alle Arten von Körperreaktionen (sensomotorisch, wahrnehmend, emotional, kognitiv usw.) dienen dazu, diese virtuelle Konstruktion zu errichten, die als operationelle Schnittstelle zwischen einem gegenwärtigen Ereignis und dem nachfolgenden dient. Und obwohl die Kinobesucher/-innen die Welt auf der Leinwand als eine Simulation erkennen, die keine Handlung erfordert, wird immer die gesamte Palette der Bilder aktiviert. Kiarostamis Filme arbeiten erfolgreich auf dieser Ebene. Oft stellen sie Fragen oder benennen Themen eher durch ihre Abwesenheit als dadurch, dass sie sie direkt ansprechen. Einige Kritiker haben bemerkt, dass während Badiis Fahrt, bei der er Männern Mitfahrgelegenheiten anbietet, um sie dann zu bitten, ihm bei

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seinen Selbstmordabsichten zu helfen, Anspielungen auf homosexuelle Werbung und Anmache herauszulesen sind. (Naficy 2012: 215) Besonders ausgeprägt ist dies bei seiner Begegnung mit dem Soldaten, der als unerfahrener junger Mensch dargestellt wird, den ein älterer, kultivierterer Mann möglicherweise leicht verführen könnte. Als der Soldat, nachdem er fast zwanzig Minuten mit Badii herumgefahren ist, plötzlich aus dem Auto springt und den Hügel hinunterrennt, haben wir das eindeutige Gefühl, dass er den Verdacht hat, dass Badii Sex mit ihm haben will. Und doch gibt es während ihrer Begegnung keinen ausdrücklichen Hinweis darauf. Genauso wie der Film auf diese Weise etwas andeutet, das in der islamistischen Republik ein verbotenes Thema ist, löst die Abwesenheit von Frauen im Film auch die Frage nach dem Platz der Frau in der islamischen Kultur aus. Auf die Frage, wieso im Film weibliche Figuren fehlen, räumt Kiarostami ein, dass, da der Film keinen Hinweis darauf gibt, warum Badii Selbstmord begehen will, »die Frau auf jeden Fall auf indirekte Weise, im Hintergrund des Films« als mögliche Ursache für seine Verzweiflung präsent wäre. Und er fügt hinzu: »Ich dachte, die Abwesenheit der Frau eine Möglichkeit wäre, ihr mehr Bedeutung und Relevanz zu verleihen, als es ein flüchtiger Blick getan hätte.« (Elena 2005: 134) Kiarostami deutet hier an, dass ein thematisches Element in den Vergangenheitsschichten in den Köpfen der Betrachter/-innen sowohl durch seine Abwesenheit als auch seine Anwesenheit aktiviert werden kann. Die Andeutung einer homosexuellen Begegnung bringt die Neigungen, Vorurteile und Triebe der Zuschauer/-innen in die Rezeption des Films ein, ohne den Widerstand zu wecken, der normalerweise einsetzt, wenn solche Themen diskursiv angesprochen werden. Die Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule haben sich auf ähnlich indirekte Weise mit brisanten Themen befasst. Ein gutes Beispiel ist das Thema Terrorismus, sowohl im Hinblick auf den einheimischen Terrorismus in (West-)Deutschland in den 1970er Jahren als auch auf die heutige Angst vor islamistischen Terroranschlägen. In einer Episode in Bungalow hören wir eine Explosion und sehen eine Rauchsäule auf der anderen Seite der Kleinstadt aufsteigen. Paul und sein Bruder vermuten gleich einen Terroranschlag und stürzen in ihr Auto, um zu schauen, was passiert ist. Doch die vielen Schaulustigen verursachen einen Stau, der die Straßen blockiert. Und später erfahren wir, dass es nur eine Gasexplosion im örtlichen Hallenbad war, die durch ein Leck verursacht wurde. Am Ende von Schanelecs Orly (2010) wird der Flughafen wegen einer Bombendrohung geräumt, was als Anlass für zwei der Figuren dient, in der letzten, ereignislosen Szene des Films ein Taxi zurück in die Stadt zu nehmen. Diese Art der Auseinandersetzung mit dem Thema kann implizit als Kritik daran gelesen werden, wie der deutsche Film in jüngster Zeit mit actionreichen Unterhaltungsfilmen wie Hans Weingartners Die fetten Jahre sind vorbei (2004) und Uli Edels Der Baader Meinhof Komplex (2008) diese historische Epoche ausgeschlachtet hat. Andere Filmemacher/-innen der Berliner Schule haben Filme gemacht, in denen der Terrorismus

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eine zentrale Rolle spielt, aber ihre Filme dekonstruieren die Mystik und den Reiz, die mit dem Thema verbunden sind. In Die innere Sicherheit (2000) erzählt Petzold die Geschichte eines Ehepaares, das in den 1970er Jahren Mitglied der RAF war und nun mit seiner Teenager-Tochter in Portugal im Untergrund lebt. Das Thema Terrorismus dient jedoch nur als historischer Hintergrund, der ihre Bemühungen, ihre Tochter großzuziehen, erschwert. In Benjamin Heisenbergs Schläfer (2005) nutzt Johannes (Bastian Trost) den unbegründeten Verdacht, eine terroristische Schläferzelle entdeckt zu haben, aus, um seinen Rivalen im Job und in der Liebe auszuschalten. Auch hier spielt der Film mit dem Wunsch der Zuschauer/-innen nach dem Reiz, der mit dem Thema Terrorismus verbunden ist, nur um sich in der Erzählung auf Johannes’ Geisteszustand zu konzentrieren, der von seinem Ehrgeiz, Karriere als Wissenschaftler zu machen, und seiner Hingabe an seine kranke, religiöse Großmutter geprägt ist. Meine Darstellung, wie die realistische Ästhetik der Neuen Welle auf der mikropolitischen Ebene funktioniert, basiert auf der Art und Weise, wie assoziative Erinnerungsbilder unterhalb der Ebene der bewussten Wahrnehmung aktiviert werden. Dies ist natürlich keineswegs nur im Independent- oder Avantgarde-/ Kunstkino der Fall. Filme aller Art haben schon immer auf diesen Effekt gesetzt. Kiarostami und die Filmemacher/-innen der Berliner Schule verwenden Erinnerung jedoch in einer Weise, die ihre Beteiligung an der Bewusstseinsbildung wesentlich verändert. Andere Autoren und Autorinnen, die Deleuzes Konzept des Kristallbilds auf Kiarostami und seine Regiekollegen und -kolleginnen der Zweiten Welle übertragen haben, haben die Rolle von Erinnerung in ähnlicher Weise betont. So beschreiben Shohini Chaudhuri und Howard Finn, wie die angesprochenen Filme die Glieder der Erzählkette lösen und »offene Kristallbilder« erzeugen: »[D]as bewegte Bild in Echtzeit wird durch die Erinnerung in diskrete Bilder von Augenblicken zerlegt und in der Folge zu einem privilegierten statischen Bild oder einer Reihe von quasistatischen Bildern synthetisiert oder rekonstruiert.« (Chaudhuri/Finn 2003: 53) Ihre Analyse erinnert an Alison Landsbergs (2004) Darlegung, wie das Kino prothetische Erinnerungen erzeugt, die wir uns aneignen und zur Konstruktion neuer Identitäten nutzen können. Das offene Bild in Kiarostamis Filmen – und ich würde das für die globale Neue Welle im Allgemeinen behaupten – erhebt nicht den Anspruch, in seiner Fähigkeit, die Realität darzustellen, authentischer zu sein als die Bilder des Mainstream-Erzählkinos. Vielmehr gibt es jeden Anspruch auf Authentizität auf und übernimmt seine Funktion als Prothese, die die affirmative Konstruktion einer zuschauerzentrierten Realität unterstützt. Es ist nicht im Sinne eines künstlichen Ersatzes eines fehlenden Originals prothetisch, sondern in der positiven Form, dass es Material zur Verfügung stellt, um zu ermöglichen, ein neues, autonomeres Bewusstsein zu konstruieren. In diesem Sinne ist das Bild, das zum Diskurs der indirekten freien subjektiven Perspektive gehört, weder objektiv noch subjektiv, sondern schwebt frei in

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einer relationalen Konstellation von mehreren möglichen Standpunkten, die es annehmen kann. Seine Charakterisierung als statisches Erinnerungsbild unterschätzt jedoch seine Wirkungsbreite. Erinnerungen sind keine isolierten mentalen Repräsentationen, wie Landsberg (2004) darstellt, sondern ein integrierter Komplex von Körperzuständen, die mit vergangenen Ereignissen verbunden sind. Sie bilden Konstellationen neuronaler Aktivität, die über die gesamte Bandbreite körperlicher und geistiger Prozesse verteilt sind, und stellen nicht einfach nur visuelle oder kognitive Repräsentationen dar. (LeDoux 2002: 97–133) Antonio Damasio argumentiert für das Primat der emotionalen und motorischen Affektbasiertheit all unserer mentalen Operationen und erklärt auf diese Weise den relationalen Charakter des Gedächtnisses: »Die Datensätze, die wir über die Gegenstände und Ereignisse gespeichert haben, die wir einmal wahrgenommen haben, beinhalten die motorischen Anpassungen, die wir vorgenommen haben, um die Wahrnehmung überhaupt erst machen zu können, und schließen auch die emotionalen Reaktionen ein, die wir damals hatten.« (Damasio 1999: 147–48; Hervorhebung hinzugefügt) Die indirekte freie subjektive Perspektive bringt die Betrachter/-innen in einer Weise in Beziehung zum Bild, die all diese Aspekte unserer Erinnerungen aufnimmt und transformiert. Das ist es, was Deleuze meint, wenn er sagt: »[W]ir werden von einem Wechselverhältnis zwischen Wahrnehmungsbild und einem es transformierenden Kamerabewusstsein erfasst […].« (Deleuze 1989: 107) Dabei handelt es sich um einen transaktionalen Prozess und nicht um ein repräsentationales Konstrukt, bei dem Erinnerungen einfach aus einem Komplex herausgelöst und auf einen anderen übertragen werden können. Dies gilt insbesondere für die Rolle, die Erinnerungen bei der Filmrezeption spielen. Die Vorstellung, dass das Filmbild, sobald es von seiner narrativen Hülle befreit ist, zu einem statischen Bild wird und als Momentaufnahme fungieren kann, ist eine Vorstellung, die von der Fotografie bestärkt wurde. Die Verbreitung der zahllosen Fotografien, die seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zirkulieren, hat uns diese Idee immer wieder vor Augen geführt. Hingegen ist die Erfindung des Films ein technischer Fortschritt, der das Potenzial hat, die falsche Vorstellung zu korrigieren, dass das Gedächtnis aus einzelnen Standbildern besteht. Und ich behaupte, dass die realistische Ästhetik der globalen Neuen Welle des Filmemachens diesen Effekt des bewegten Bildes unterstützt, auch wenn wir das Gefühl haben, dass das Gegenteil der Fall ist; denn aufgrund des Mangels an Handlung, welche die Erzählung weiterbringt, und des daraus resultierenden Gefühls der Langeweile neigen wir dazu, diese Filme als statisch wahrzunehmen. Wenn jedoch der feste Bildaufbau und die langen Einstellungen der für den narrativen Film so typischen narrativen Vorwärtsbewegung entgegenarbeiten, dann üben Formen von Bewegung und Handlung, die uns zunächst als belanglos und unbedeutend erscheinen mögen, eine andere Art von Wirkung auf die Betrachter/-innen aus. Es gibt bei Kiarostami und in den Filmen der Berliner Schule zahl-

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reiche Beispiele für Bewegung im Bild und des Bildes selbst, die auf diese Weise funktionieren. Zu Beginn von Kiarostamis Nema-ye Nazdik (Close-Up, 1990), als der Reporter ins Haus der Familie geht, um einige Fotos für seinen Magazinartikel zu schießen, steigt der Taxifahrer aus seinem Fahrzeug aus und läuft umher, um die Zeit totzuschlagen. Er stochert ziellos in einem Haufen Gartenabfällen und löst dabei eine leere Spraydose los, der die Kamera mehrere Sekunden lang folgt, während sie mit einem metallisch klirrenden Geräusch die Straße hinunterrollt. Kurze Zeit später läuft der Reporter an der Stelle vorbei, wo die Dose liegen geblieben ist, und gibt ihr gedankenlos einen Tritt. Und während ihr die Kamera wieder folgt, wie sie weiter rollt, scheint sie ein Maß eigener Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Genau wie die vieldiskutierte tanzende Plastiktüte in American Beauty (Regie: Sam Mendes, 1999) nimmt sie ein Eigenleben an, gegen das die verwirrten, nervösen Aktionen des Journalisten im Vergleich lächerlich erscheinen. Die dadurch erzeugte Verschiebung der Perspektive hallt wie ein Echo auf allen Ebenen des Affekts der Betrachter/-innen nach und aktualisiert das Kamerabewusstsein, das sich in ihren Köpfen gebildet hat. In allen Filmen Kiarostamis sind auch die Sequenzen ohne sichtbare Handlung durch Ton und Bewegung von einer Energie durchdrungen, die eine dynamische, alternative Form der Interaktion mit dem Bild aufrechterhält. In einer Szene von Der Geschmack der Kirsche scheint Badii auf einer trostlosen Ausgrabungsstätte die Zeit totzuschlagen, indem er sich mit dem Sicherheitsbeamten unterhält. Währenddessen sehen wir wiederholt Aufnahmen von Steinen, die von einem Radlader auf einen Geröllhaufen gekippt werden. Während sie krachend den Hang hinunterrollen, wirbeln sie Staub auf. Diese scheinbar irrelevante Aktion löst kinästhetische Reaktionen aus, die die normale Verknüpfung unserer Gedanken stören und neue Richtungen des Denkens ermöglichen. Kiarostami verstärkt diesen Effekt durch eine Abfolge von sich verschiebenden subjektiven und objektiven Kameraperspektiven, die in ganz ähnlicher Weise eine indirekte freie subjektive Perspektive etablieren, wie es Petzold in der oben beschriebenen Szene in Yella (Abb. 8.3) tut. Und als Badii nach der Fahrt mit dem Theologiestudenten an den gleichen Ort zurückkehrt, reaktiviert eine weitere Serie von Aufnahmen der Steine, wie sie Staub aufwirbeln, die körperliche Reaktion der früheren Szene. Wenn Kiarostami in Ruinen oder kargen, wüstenartigen Landschaften wie der Ausgrabungsstätte dreht, bezieht er sich auf einen üblichen Topos der persischen Dichtung, um ein Gefühl von Depression zu vermitteln (Saeed-Vafa/Rosenbaum 2003: 59–60). In Der Geschmack der Kirsche verbindet sich diese kulturelle Assoziation mit der Dynamik des bewegten Bildes, um Vergangenheitsschichten aufzurufen, die Badiis persönliche Situation mit der kollektiven nationalen Befindlichkeit in Verbindung bringen. Auch in den Filmen der Berliner Schule gibt es häufig solche handlungsfreien Zeiträume, die auf ähnliche Weise funktionieren. Wie in Kiarostamis Werk arbeiten Bewegung und Ton zusammen, um die normalen Rezeptionsmuster zu un-

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terbrechen. In Bungalow erschüttert regelmäßig das Rumpeln schwerer Lastwagen die Zuschauer/-innen auf eine fast physische Weise und verhindert, dass das Filmerlebnis in konventionelle Muster einer distanzierten visuellen Rezeption der Filmrealität zurückfällt. Die körperliche Reaktion auf die Lastwagen wird gleich in der Eröffnungssequenz eingeführt, in der Paul und seine Mitsoldaten im Laderaum des Militärtransporters kauern. Das tiefe Rumpeln auf der Tonspur simuliert die Vibrationen, die der schwere Lastwagen erzeugt. Der physische Zustand, den dies beim Publikum hervorruft, wird während des gesamten Films regelmäßig durch den Anblick und das Geräusch der Lastwagen reaktiviert, die auf der Autobahn in der Nähe des Bungalows vorbeifahren. In der Schlussszene wird er dann erneut wachgerufen, als ein Sattelzug uns die Sicht auf Paul versperrt, während er sich vermutlich entschließt, doch nicht zu seiner Einheit zurückzukehren. Der LKW fährt dann geräuschvoll auf die Autobahn – mutmaßlich mit Paul an Bord. Auch in Christoph Hochhäuslers Falscher Bekenner (2005) dienen Bewegung und Ton dazu, den gestörten inneren Zustand von Armin (Constantin von Jascheroff) zu vermitteln, während sein alltägliches Leben mit seiner bürgerlichen Familie auseinanderzufallen beginnt. Bei seinen rätselhaften Ausflügen auf die Toilette einer Autobahnraststätte erzeugen die Geräusche und das Wummern der vorbeirauschenden Autos eine rasende kinetische Energie, die umso verwirrender ist, als wir kein klares visuelles Bild des Verkehrs zu sehen bekommen. Die hier zitierten Beispiele von Bewegung stören sowohl die zugrunde liegende Annahme, dass ein realistischer Film eine Darstellung der Realität bietet, als auch die tatsächliche Art und Weise, diese Filme anzuschauen, die auf dieser Idee beruht. Gemäß der realistischen Ästhetik, die in der globalen Neuen Welle am Werk ist, muss die Realität, die das Filmbild erlebbar macht, erst gefühlt, gelebt und konstruiert werden. Sie wird nicht mehr durch die Figuren und die Erzählung vermittelt, sondern direkt durch die Auseinandersetzung mit dem Bild erzeugt (Abel 2013: 59–60). Dieses Bild aktiviert die affektiven und sensomotorischen Systeme im Körper, die das Bewusstsein erst hervorrufen (Deleuzes freies Kamerabewusstsein). Das Filmerlebnis ist weniger eine Simulation des Prozesses, der außerhalb des Kinosaals Bewusstsein erzeugt, als vielmehr eine bestimmte Instanz davon. Diese Verschiebung des subjektiven Charakters des Bildes bringt auch einen neuen Modus der Objektivität mit sich. Die Objekte im Film gewinnen ein gewisses Maß an Autonomie, sodass die Betrachter/-innen nun in der Lage sind, auf sie zu reagieren, anstatt sich als Meister zu positionieren, die vermeintlich die Kontrolle über sie ausüben können. Dies ist ein Aspekt dessen, was Marco Abel als »Beantwortbarkeit« bezeichnet hat, die den Zuschauern und Zuschauerinnen in den Filmen der Berliner Schule (2013, S. 22) zugestanden wird. Man könnte dies als eine neue Objektivität bezeichnen, die die Zuschauer/-innen, die Filmemacher/-innen und die betrachteten Gegenstände auf die gleiche Stufe stellt. Nicht nur die Objekte im Bild gewinnen diesen Status, sondern auch das Bild selbst. Befreit von seiner

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Einbettung in die Erzählung, aber auch von seinem Platz in einem vorgefertigten Kamerabewusstsein, gewinnt es ein Eigenleben und erlangt die Fähigkeit, seinen Betrachter/-innen Leben einzuhauchen. Die Realität, die dem Publikum der Filme der Berliner Schule und Kiarostamis geboten wird, geht von einem virtuellen, prothetischen Bewegtbild aus, das die gewohnten Sehweisen auf der Ebene der affektiven und sensomotorischen Reaktionen stört und die Subjektivität in den unbewussten, instinktiven Registern des Selbst verändert.

Abbildung 8.3: Herunterfallende Steine und Trümmer in ›Der Geschmack der Kirsche‹

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9 Gegabelte Zeit Ulrich Köhler/Apichatpong Weerasethakul Michael Sicinski Im Jahr 2009 führte die Cinematheque Ontario eine Umfrage1 unter Filmprogrammern und Kuratoren und Kuratorinnen aus aller Welt durch, um die besten Filme des vergangenen Jahrzehnts zu küren. Zwischen 1999 und 2009 hat der internationale Film viele bedeutende Verschiebungen durchlaufen, darunter auch den Aufstieg der Berliner Schule. In dieser Zeit erschienen viele wichtige Filme dieser Bewegung. Tatsächlich schaffte es einer der besten deutschen Filme des betreffenden Jahrzehnts, Valeska Grisebachs Sehnsucht (2006), auf Platz 30 der Cinematheque-Liste. Das spiegelt sicherlich eine gewisse Wertschätzung sowohl für Grisebach als auch für die Berliner Schule als Ganzes wider. Es scheint unvermeidlich, dass 2019 in der nächsten Umfrage der Cinematheque (die inzwischen in TIFF Cinematheque umbenannt wurde) für das Jahrzehnt 2010–2019 Christian Petzolds Film Phoenix (2014) ebenfalls einen der oberen Plätze einnehmen wird.2 Schauen wir uns jedoch die erste Liste genauer an, dann gibt es einen Filmemacher, der das Ranking dominiert. Der thailändische Filmemacher Apichatpong Weerasethakul steht mit seinem fünften Spielfilm Sang Sattawat (Syndromes and a Century, 2006) auf Platz 1. Auch sein vierter Spielfilm Sud Pralad (Tropical Malady, 2004) konnte sich in den Top Ten der Umfrage (Platz 6) platzieren, und sein zweiter Spielfilm Sud sanaeha (Blissfully Yours, 2002) befindet sich auf Platz 13. Wenn man dann noch bedenkt, dass Syndromes dreiundfünfzig Stimmen, Malady achtunddreißig und Blissfully Yours neunundzwanzig Stimmen erhielt, dann kann man mit Fug und Recht behaupten, dass Apichatpong (den wir nach thailändischem Brauch formal mit seinem Vornamen ansprechen) ziemlich eindeutig die Umfrage »gewonnen« hat – drei seiner vier wählbaren Spielfilme schafften es ins oberen

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Vgl. https://www.indiewire.com/2009/11/tiff-cinematheque-names-best-of-decade-will-scr een-them-in-january-172758/ (letzter Zugriff 17.6.2022) Anmerkung der Übersetzerin: Siciniskis Text ist 2018 erschienen. Tatsächlich befinden sich in der 2019er Umfrage zu den besten Filmen des Jahrzehnts 2010–2019 die Berliner-SchuleFilme Toni Erdmann von Maren Ade (2016) auf Platz 2 und Christian Petzolds Transit auf Platz 6 der Liste.

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Drittel der Umfrage.3 Wenn man die Kuratoren und Kuratorinnen, die an der Umfrage teilgenommen haben, bitten würde, in die Zukunft zu schauen und zu versuchen, anhand der gegenwärtigen Situation jene Filme und Filmemacher/-innen zu benennen, die mögliche Wege für die Zukunft des Mediums aufzeigen, dann würden ziemlich sicher viele Apichatpong als eine solche Figur sehen. Und in der Tat scheint einer der innovativsten Filmemacher der Berliner Schule, Ulrich Köhler, damit vollkommen einverstanden zu sein. Köhler begann, wie Apichatpong, mit kurzen Experimentalfilmen. Seine drei Spielfilme, Bungalow (2002), Am Montag kommen die Fenster (2006) und Schlafkrankheit (2011), gehören zu den bedeutendsten Beiträgen der Berliner Schule. Zudem hat Köhler Apichatpong explizit in verschiedenen Kontexten als wichtige neue Stimme des Weltkinos benannt. So hat er 2012, als das British Film Institute die besten Filme aller Zeiten versammeln wollte, bei seiner Nominierung Blissfully Yours neben Werken von Fassbinder, Godard und Murnau gestellt. Zu anderen Gelegenheiten hat Köhler sowohl direkt geäußert als auch indirekt impliziert, dass Apichatpongs Art und Weise des Filmemachens als Ausweg für eine bestimmte Problematik dienen kann, die das sogenannte politische Filmschaffen immer wieder befällt. Das liegt zum Teil daran, dass Apichatpongs Filme vereinfachende propagandistische Botschaften und didaktische Narrative vermeiden und stattdessen die Möglichkeit bieten, Realität vollkommen neu zu entwerfen. Laut Köhler betrifft dies vor allem die Art und Weise, wie Apichatpong die Beziehung zwischen den mystischen und materiellen Ebenen des Daseins erforscht. Ein anderer wichtiger Aspekt besteht darin, dass Apichatpong etwas einsetzt, was wir als geteilte oder gegabelte Zeit bezeichnen könnten, wie vor allem James Quandt herausgearbeitet hat. Er schreibt: »Die Koexistenz verschiedener Zeitebenen, die regelmäßige Verweigerung, Ereignisse zeitlich miteinander zu verknüpfen, die abrupte Unterbrechung des narrativen Raums durch schnelle Schnitte: Bei Apichatpong erscheint Zeit als formbar und fließend und nicht als fest und linear; sie ist Schwebezuständen unterworfen, die von Staunen, Erinnerung, Begehren beherrscht werden.« (Quandt 2009: 26) Es ist diese einzigartige zeitliche Dimension, die Köhler von Apichatpong übernimmt, und die möglicherweise Apichatpong in seinem jüngsten Werk von Köhler wieder zurückerobert.

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Auch in der nächsten Dekade fand sich einer seiner Filme in den Top 10: Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives (2010) teilt sich den achten Platz mit Leos Carax’ Holy Motors (2012). Anm. der Übersetzerin.

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Köhler und Apichatpong über »politischen Film« Auf den ersten Blick scheint Schlafkrankheit ein paradigmatisches Beispiel für politisches Kino zu sein. Köhler setzt sich darin mit Fragen des Kolonialismus, rassistischen Stereotypen, unangemessener weißer Wohltätigkeit und der Herrschaft westlicher NGOs über zwei Drittel der Welt auseinander. Köhler hat jedoch erklärt, dass seine Filme nicht im engen Sinne politisch seien, auch wenn sie politische Themen aufgreifen. Um diese Unterscheidung zu verstehen, sollten wir uns die Texte des Regisseurs über seine Arbeit genauer anschauen. Sein künstlerisches Programm fasst Köhler mit bewundernswerter Genauigkeit in einem Essay mit dem Titel »Warum ich keine ›politischen‹ Filme mache« (2007) zusammen. Darin achtet Köhler sorgsam darauf, das Adjektiv »politisch« jedes Mal in Anführungszeichen zu setzen, weil er von einer ganz bestimmten Art von Film spricht: einer, die ihre politische Rhetorik über andere, vor allem ästhetische Überlegungen stellt. Zu Beginn des Essays vollzieht Köhler selbst einen raffinierten rhetorischen Kniff, indem er einen einzelnen Film des britischen Regisseurs Ken Loach, der für seine sozial-realistischen Dramen bekannt ist, als sein primäres Negativbeispiel benennt. Es handelt sich dabei um Family Life, ein Film, der 1971 im Umkreis der BBC-Reihe »Wednesday Play« produziert und von dem handwerklich routinierten Drehbuchautor David Mercer geschrieben wurde. Anstatt Family Life vollständig abzutun, interpretiert Köhler den Film als ein Werk, das sich gegen sich selbst wendet. Köhler schreibt, dass viele Szenen »an psychologischer Tiefe und Vielschichtigkeit kaum zu überbieten [sind]«. Sie entstünden »aus der Freiheit und Spielfreude, die Loach seinen Darstellern lässt«. Allerdings kontrastieren sie mit dem Gut-und-Böse-Determinismus von Mercers Drehbuch. In anderen Worten könnte man sagen, dass ein Künstler, der eine vorformulierte politische Botschaft vermitteln will, nicht nur an der ästhetischen Front scheitern wird. Er oder sie wird höchstwahrscheinlich auch keine nachhaltige politische Wirkung erzielen. Das liege laut Köhler daran, dass die Botschaft, die als ein im besten Falle störungsfreier Austausch von Informationen zwischen Sender und Empfänger gedacht wird, keine nachhaltigen Auswirkungen habe. Was bei einem Kunstwerk im Großen und Ganzen am meisten unsere Aufmerksamkeit weckt, sind seine Pausen, seine Aufschübe, die Mehrdeutigkeiten, die Diskrepanzen und falschen Fährten. Köhler ist zusammengefasst der Ansicht, dass der Film eher durch seinen Überschuss einen nachhaltigen politischen Beitrag leisten kann. Dazu muss der Film als ästhetisches Objekt im para-kantischen Sinne funktionieren – ohne »Zweckbestimmung«, zumindest wenn man ihn im Sinne eines MittelZweck-Rationalismus versteht. In seinem Interview mit Rüdiger Suchsland im Münchner Filmmagazin Artechock spricht Köhler über seine Einschätzung zum aktuellen Stand des internationalen Films und insbesondere über die zeitgenössischen Filmemacher/-innen,

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mit denen er sich besonders verbunden fühlt (Suchsland 2011). Im Verlauf des Interviews heben Suchsland und Köhler den thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul als besonderen Einfluss hervor. Sie nennen Apichatpong als einen wichtigen Prüfstein nicht nur für Köhlers filmisches Denken insgesamt, sondern vor allem in Bezug auf seinen zu dem Zeitpunkt aktuellen Film Schlafkrankheit, der 2011 den Silbernen Bären für die beste Regie bei der Berlinale gewonnen hat. Zwar sind schon in Köhlers vorherigem Film Montag kommen die Fenster Spuren von Apichatpongs visuellem Stil zu sehen, aber gerade in Schlafkrankheit ist der Einfluss des thailändischen Filmemachers stärker spürbar und hilft Köhler dabei, seine eigene einzigartige filmische Handschrift zu finden, die sich von den anderen Regisseuren und Regisseurinnen der Berliner Schule deutlich unterscheidet. Köhler erklärt gegenüber Suchsland: »Weerasethakul hat natürlich einen enormen Einfluss auf mich, auch wenn der weltanschauliche Hintergrund ein völlig anderer ist. Ich habe westliche Philosophie studiert, und bin viel rationalistischer geprägt, glaube nicht entfernt an Geister und renne als Sohn eines Schulmediziners auch nie zum Homöopathen. […] Filmsprachlich ist er ein Regisseur, der sehr sehr offen mit dem Medium umgeht und dem es gelingt, eine mystische Ebene aufzubauen, obwohl er sie immer wieder relativiert, ironisiert und in Frage stellt.« (Suchsland 2011) Diese spezielle Interpretation von Apichatpong ist einer näheren Betrachtung wert, nicht nur weil sie dazu beiträgt, Köhlers Einstieg in das Werk des thailändischen Regisseurs zu verdeutlichen, sondern auch, weil sie eine vorläufige Antwort auf das Problem des »politischen Films« geben kann, und zwar in einer Weise, die Köhler sowohl sinnvoll als auch heuristisch produktiv empfinden würde. Köhlers Ansicht nach lösen die Filme von Apichatpong niemals die grundlegende Spannung zwischen dem gewöhnlichen Leben und der Geisterwelt auf. Zuweilen scheinen die Filme sogar das Mystische zu beschwören, um rationale Ziele zu erreichen. Wie Köhler erklärt, gelingt es »Weerasethakul […] eine mystische, vielleicht vom Buddhismus geprägte Ebene, mit den Erfahrungen des modernen Lebens zu verbinden. Weerasethakul ist Buddhist, er ist aber auch Sohn von Ärzten.« (Suchsland 2011) Köhler verortet diese Dualität in Apichatpongs Filmen innerhalb der biografischen Geschichte des Regisseurs, was nicht verwunderlich ist. Da sowohl er als auch Apichatpong in Arztfamilien aufgewachsen sind, kann man nachvollziehen, dass Köhler sich dem thailändischen Filmemacher auf persönlicher Ebene besonders verbunden fühlt. Diese ungelöste Spannung zwischen der Welt der Geister und der materiellen Welt ist ein dominierendes formales Element in Apichatpongs Filmen, die auch ohne Rückgriff auf die Biografie des Regisseurs allein anhand der Filme analysiert und diskutiert werden kann. Die besondere Art und Weise, in der Apichatpong das Medium Film als kreatives Werkzeug benutzt, um taktile Analogien für das Spi-

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rituelle zu finden, und insbesondere wie die geisterhaften Erscheinungen an der (ansonsten) gewöhnlichen gelebten Existenz ziehen, zerren und sich mit ihr vermischen, ist vielleicht der wichtigste Beitrag dieses Filmemachers zum ästhetischen Diskurs des 21. Jahrhunderts. Apichatpong erreicht dies, indem er konventionelle Vorstellungen von filmischer und realer Zeit rekonfiguriert. In dieser Hinsicht liefert er ein kühnes Modell dafür, wie man »politischen Film« ohne Didaktik oder simplifizierende Abbildung ideologischer Positionen machen kann. Das sind die Verfahren, die Köhler offensichtlich sehr stark beeinflusst haben.

Apichatpongs geteilte/gefaltete Zeit Die Filme von Apichatpong Weerasethakul sind dicht, vielschichtig und folgen eher einer poetischen als erzählerischen Logik. Sie tendieren dazu, visuelle und klangliche Motive in den Vordergrund zu stellen, anstatt sich auf das gesprochene Wort zu verlassen. Sowohl in Bezug auf Tempo als auch auf Dramaturgie fühlen sich seine Filme beim Anschauen bisweilen an wie Träume, was manchmal dazu führen kann, dass das Bewusstsein abdriftet, als würden die üblichen Fähigkeiten der Zuschauer/-innen, aus filmischen Reizen Sinn zu erzeugen, an ihnen scheitern. Dennoch gibt es Aspekte in Apichatpongs Arbeiten, die so auffallend sind, dass sie zu seiner Handschrift als Autor gehören. Seit seinem zweiten Spielfilm Blissfully Yours weisen Apichatpongs Filme eine Eigenheit auf, die selbst den unaufmerksamsten Zuschauern und Zuschauerinnen unweigerlich ins Auge sticht. Etwa in der Mitte stoppt der Film und fängt scheinbar von neuem an, um dann eine radikal andere Qualität anzunehmen. Dies kann ein Umschwenken sein von einem eher konventionell-realistischen Sozialdrama zu einem warholianischen Avantgarde-Porno-Portrait (Blissfully Yours); eine Liebesbeziehung zwischen zwei Männern, die zu einer Art Urkampf zwischen einem Jäger und einem Tigergeist wird (Tropical Malady); ein mysteriöses Krankenhaus aus der Vergangenheit, das zunächst aus der Sicht einer Ärztin, dann aus der eines Arztes (Syndromes and a Century) beschrieben wird. Seit dem Film Lung Bunmi raluek chat (Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben), der 2010 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, teilt Apichatpong seine Filme nicht mehr in zwei Teile. Vielmehr stellt er den gebrochenen Rhythmus des Neuansetzens in den Mittelpunkt des Films und nutzt eine Hauptfigur, deren vergangene Leben (zusätzlich zu den Geistern aus verschiedenen Lebensphasen) mehrfach zeitliche und filmische Brüche produzieren, statt nur einen in der Mitte des Films. Apichatpong führt diesen eher stakkatohaften Ansatz der gebrochenen Zeit in seinem neuesten Spielfilm Rak ti Khon Kaen (Cemetery of Splendor, 2015) fort. In gewisser Weise ist also die typische Strategie des Regisseurs im Laufe der Jahre komplizierter geworden, zweifellos zum Teil deshalb, weil Apichatpong sich

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wie jeder große Künstler nicht wiederholen oder in formalistische Geleise verfallen will. Jedoch denke ich, dass klar wird, wenn wir die unterliegenden Absichten untersuchen, die Apichatpong mit der Zweiteilung seiner Filme verfolgt, warum er dieses Verfahren erweitert hat, anstatt es aufzugeben. In so gut wie allen Fällen ist die Zweiteilung für Apichatpong eine Möglichkeit, filmisch die Verschiebung von einer Realität in eine andere zu realisieren. In der Regel repräsentieren diese Realitäten einerseits die alltägliche physische Welt der materiellen Existenz und andererseits die spirituelle Welt der Geister, Monster, übernatürlichen Wesen, der Folklore und gar des menschlichen Unbewussten. Obwohl bei Apichatpong die Teilung nie absolut ist, nutzen seine Filme diese zeitliche Aufteilung oft als Möglichkeit, die unterschiedlichen Welten für die Zuschauer/-innen voneinander abzugrenzen, da diese es nicht gewohnt sind, in auf den ersten Blick narrativen Filmen zwei verschiedene Realitäten dargestellt zu sehen. Aber Apichatpongs Repräsentation der materiellen Realität, die gleichberechtigt neben der Welt der Geister steht, ist auch aus anderen Gründen bedeutsam. Einerseits ist es ein Spiel mit der Form, andererseits eine Möglichkeit, den Einfluss des Buddhismus auf das Alltagsleben in Thailand darzustellen, aber es kommt noch etwas anderes dazu. Die primäre Funktion der Geister, Gespenster und mythologischen Wesen in Apichatpongs Filmen hat vielmehr mit einem einzigartigen Zugang zur filmischen Zeit zu tun, und mit dem Interesse des Regisseurs, verborgene, politisierte Zeitschichten innerhalb der thailändischen Geschichte freizulegen.

Zeitliche Brüche: Blissfully Yours und Tropical Malady In seinem zweiten und dritten Spielfilm nutzte Apichatpong die Struktur der gegabelten Zeit, um liminales Begehren und Sexualität und die Art und Weise zu untersuchen, wie dieses Begehren sich unvermeidlich, aber ohne abschließendes Ergebnis mit dem politischen Schicksal der in den Filmen dargestellten Personen überschneiden. Blissfully Yours zum Beispiel konzentriert sich in der ersten Hälfte auf die Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen, Roong (Kanokporn Tongaram) und Min (Min Oo). Roong ist ein thailändisches Mädchen und Min ein illegaler burmesischer Einwanderer. Wir sehen, wie sie miteinander Zeit verbringen, aber auch, wie sie versuchen, gefälschte Papiere für Min zu besorgen oder wie sie einen Arzt aufsuchen, um den Ausschlag, den er am ganzen Körper hat, zu behandeln und ihm Linderung zu verschaffen. Der Film geht nicht weiter darauf ein, ob Min bei der Überfahrt nach Thailand mit irgendeiner Form von ätzenden Algen oder Umweltgift in Berührung gekommen ist. Aber der Subtext ist klar: Die ständige Angst, als illegaler Einwanderer in Thailand leben und arbeiten zu wollen, »produziert« den Ausschlag. Min lebt in einer Krisensituation, einfach nur aufgrund dessen, dass er ist, wer er ist, und

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Roong kann ihm trotz ihrer tiefen Zuneigung nicht helfen. Aber in der zweiten Hälfte des Films gönnt Apichatpong den Liebenden eine Ruhepause: Sie ziehen sich an einen Waldsee zurück, wo sie schwimmen und sich lieben. Wir sind eingeladen, die Texturen der Körper der Liebenden, das Spiel des Sonnenlichts auf dem Wasser und die natürliche Schönheit ihrer Umgebung zu genießen. Kurz gesagt, Blissfully Yours löst Mins Identitätskrise dadurch auf, dass der Film buchstäblich eine Schneise schlägt – sowohl räumlich als auch zeitlich – für eine Erfahrung von Lust und Begehren, eine ganz andere »Politik«, die Apichatpongs Liebende gegenseitig auf den Körper des jeweils anderen einschreiben. Wie der Titel schon sagt, gehört Min nicht mehr zu Burma, Roong zu Thailand; sie gehören in dieser alternativen Zeitblase, die von der Glückseligkeit erzeugt wird, einander. Als Filmemacher, der die Geschichte und die Techniken des Avantgarde-Kinos gut kennt, ist er sich natürlich bewusst, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, multiple Zeitebenen oder profilmische Ereignisse gleichzeitig darzustellen, etwa durch Überlagerung, Splitscreens oder andere Ansätze. Apichatpong hat in seinen experimentellen Kurzfilmen selbst solche Verfahren eingesetzt. Seine Vorarbeit für Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben, die Videoinstallation Phantoms of Nabua (2009), zum Beispiel arbeitet mit Bild-in-Bild-Techniken. Er hat diese Idee im Uncle-Boonmee-Spielfilm, dessen Erzählweise von Schichtungen und Abschweifungen geprägt ist, in gewissem Maße erweitert, sodass es hier keine absolute Zweiteilung gibt. Aber für seine Spielfilme bis Syndromes and a Century hat Apichatpong einen Ansatz gewählt, in dem die Zeit sich verzweigt – mit hochinteressanten Ergebnissen. Zum Beispiel tritt die Zäsur vom Alltäglichen ins Mystische bei Tropical Malady an einem ganz bestimmten einschneidenden Moment auf. Der Flirt zwischen dem Bauernjungen Tong (Sakda Kaewbuadee) und dem Soldaten Keng (Banlop Lomnoi) ist während der gesamten ersten Hälfte des Films zaghaft und keusch. Wir werden Zeuge vorsichtiger Gesten wie der Erstellung eines Mixtapes für den anderen oder zarter Annäherungsversuche, wie an der Stelle, als Keng fragt, ob er seinen Kopf auf Tongs Schoß legen darf, Tong »nein« sagt, aber gleich danach, als er Kengs verletzten Gesichtsausdruck sieht, mit »Ich wollte sagen, ›kein Problem‹.« antwortet. Doch als die Zuneigung zwischen den beiden Männern unleugbar sexuell wird, setzt Apichatpong eine Montage in Gang, die komplexe Folgen hat – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Diegese. Diese Folgen drücken eine radikale Störung aus, die einen »Umzug« in eine andere Realität erforderlich macht. Zuerst sehen wir, wie Tong draußen uriniert, während Keng ihm zusieht. Dann, als sie wieder zusammenkommen, nimmt Keng Tongs Hand. »Ich habe mir die Hände nicht gewaschen«, sagt Tong, aber Keng beginnt, Tongs Hand und Arm zu küssen und dann zu lecken (Abb. 9.1).

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Abbildung 9.1: ›Tropical Malady‹: Keng leckt Tongs Hand

Erfreut signalisiert Tong, dass sie sich wiedersehen werden, und wandert in die Nacht hinaus. Keng ist verzückt; er steigt auf sein Motorrad und fährt mit einem breiten Grinsen in die Stadt zurück. Auf der Tonspur hören wir einen Popsong. Wir wechseln aus Kengs Perspektive auf dem fahrenden Motorrad zu einer Einstellung von außen, auf der wir sehen, wie Keng mit vom Fahrtwind wehenden Haaren die Straße entlangfährt und sich frei fühlt. Als die Dunkelheit des Hinterlandes den Lichtern der Stadt weicht, sehen wir Keng auf seinem Motorrad vorbeiziehen, scheinbar ohne zu bemerken, wie vier Männer auf einen anderen Mann eintreten, der in einer fötalen Position zusammengekauert am Boden liegt. Apichatpong gibt uns keinerlei Informationen darüber, was diese Situation bedeutet, aber im Kontext ist es fast unmöglich, bei diesem Bild nicht sofort an Gewalt gegen homosexuelle Menschen zu denken. Doch als die Kamera Kengs Motorrad folgt, entfernen sich zwei der Männer von der Meute und werfen Steine in Richtung Kamera, die hier in der Position von Kengs wegfahrendem Motorrad steht. Dann kommt ein harter Schnitt und es ist Tag. Wir befinden uns in einem Fahrzeug, das sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt: ein Militärlastwagen mit Soldaten auf einer Landstraße. Einer von ihnen streichelt scherzhaft Kengs Arm. Die Sequenz endet mit einem Gegenschuss aus der Laderampe des Lastwagens, der eine Rauchwolke hinter sich zieht. Beim Einfahren in ein Tor verdunkeln die Abgase des Militärlastwagens die grüne Berglandschaft. Kengs »echtes« Leben (als Soldat, als Stadtbewohner) beginnt, die Freuden auszulöschen, die er bei Tong auf dem Land gefunden hat. In der nächsten Einstellung wacht Keng im Schlafzimmer einer Privatwohnung auf. (Hat er geträumt? Wir wissen es nicht.) Er hört, wie ein Mann und eine ältere Frau miteinander reden, und bemerkt ein kleines Fotoalbum. Als er es durchblättert, findet er darin ein Foto von Tong mit einem anderen jungen

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Mann, auf dessen Hemd die Aufschrift »Infanterie« prangt. In diesem Moment verdunkelt sich die eine Hälfte des Bildschirms, während die andere durch eine Art von Aufblende »aufflammt«, wie man sie üblicherweise in Brakhage- oder WarholFilmen sieht. Und dann, nichts. In diesem Augenblick startet der Film mit einem Bild eines Tigers und einer Texttafel neu; letztere erklärt, dass der Rest des Films von einem Schamanen handelt, der sich in verschiedene Kreaturen verwandeln kann, um die Menschen des Waldes zu täuschen. Dieselben zwei Schauspieler, Banlop und Sadka, sind nun in anderen Rollen zu sehen. Banlop ist ein Jäger, und Sadka ist ein Tigerwesen, das versucht, dem Jäger zu entkommen und gleichzeitig zu verführen. Was möchte Apichatpong hiermit erreichen? Dieser mystische Teil des Films ist in seiner Bedeutung etwas schwerer zu fassen als die Körperpolitik von Blissfully Yours, teilweise, weil Apichatpong damit auf Zwänge außerhalb des Films reagiert. Schon in der Vergangenheit hatte er Schwierigkeiten mit der thailändischen Zensur. So musste er mehrere Schlüsselszenen von Blissfully Yours (vor allem die Sexszene im Freien) herausschneiden, damit der Film in Thailand erscheinen konnte. Im Fall von Tropical Malady wären explizite homosexuelle Aktivitäten nie durch die Zensur gekommen. Wenn es also zwischen Tong und Keng zur physischen Annäherung käme, geriete die Fähigkeit des Films, in Thailand gezeigt zu werden – und damit auch die Darstellbarkeit schwulen Begehrens – in eine Krise. Apichatpong »löst« dieses Dilemma, indem er die Handlung auf eine andere Ebene der Wirklichkeit verlagert. Aber der Bruch in Tropical Malady sollte nicht nur als clevere Lösung eines Filmemachers verstanden werden, der das externe Problem der Zensur umgehen will. Wie Köhler zu Apichatpongs Arbeiten schrieb, inszeniert dieser konsequent eine Verbindung zwischen den realistischen und mystischen Ebenen der Erzählung. Gleichzeitig ironisiert und hinterfragt er eine konventionelle Vorstellung von Dualismus, einer oberflächlichen Auffassung von »Himmel und Erde« als getrennte Sphären. Der Wechsel von zwei Männer, die in der realen Welt ineinander verliebt sind, zu einer mythologischen Situation ist nicht einfach ein Rückzieher oder eine Entscheidung, die den Zwängen der Zensur in Thailand geschuldet ist (die für Apichatpong und andere Künstler/-innen seit dem Militärputsch 2014 nur noch problematischer geworden ist). Stattdessen könnten wir die beiden Teile von Tropical Malady auf ironische oder fantasievolle Weise als sich gegenseitig ergänzend oder gar gleichzeitig stattfindend begreifen. Da der Bruch im Film just in dem Moment eintritt, als Keng ein Foto sieht, das andeuten könnte, dass er für Tong nur der jüngste in einer Reihe von Begegnungen mit Soldaten ist, erfährt sein Begehren einen Bruch, der ihr Werben umeinander zurücksetzt. Statt einer zärtlichen Verschnaufpause von seinem Alltagsstress als Soldat sieht Keng Tong nun als einen Preis, den es zu gewinnen gilt, als seine Beute. Apichatpong deutet jedoch an, dass dieses mythologische Element

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die ganze Zeit im Spiel gewesen sein könnte. In der ersten Hälfte des Films gibt es Gespräche über eine Kreatur, die Kühe verstümmelt. Ganz unabhängig davon, ob es sich dabei um den Tigergeist Tongs handelt oder nicht, wird uns klar, dass diese Wahrnehmung der Beziehung zwischen Keng und Tong als Subtext immer schon vorhanden war, nun da sie einmal eingeführt wurde. Dieser rückwirkende Zeitbezug lässt sich vielleicht am besten als ein Beispiel für Freuds Konzept der »Nachträglichkeit« (Laplanche/Pontalis 1974) erklären. Direkter ausgedrückt könnte man sagen, dass, sobald Apichatpong diese mythologische Unterströmung in die Geschichte von Keng und Tong einführt (sowohl für die Liebenden selbst als auch für die Zuschauer/-innen), nicht nur ihr früheres Umeinanderwerben rückwirkend neu konnotiert wird. Es wird von nun an zu etwas neuem, das aber unserem Verständnis nach immer schon da gewesen ist. Psychologisch gesehen bietet diese mystische Ebene einen Interpretationsrahmen für Kengs frustriertes Begehren, für das schwule Begehren zwischen Männern in einer Gesellschaft, die Homosexualität nicht gerade freundlich gegenübersteht, und ein rückwirkendes Mittel, um sich mit denjenigen Aspekten ihres Begehrens, die ihnen nicht ohne Weiteres bewusst sind, auseinanderzusetzen und sie zu verarbeiten. Tatsächlich ist – ob absichtlich oder unabsichtlich – Apichatpongs »Ersetzung« dominanter westlicher mythischer Topoi wie der ödipalen Erzählung durch eine für die thailändische Kultur spezifische Geschichte eine kühne Neuschreibung von Freud. Tropical Malady behält die grundlegenden Strukturen der Psychoanalyse bei und nimmt gleichzeitig die entsprechenden postkolonialen Anpassungen für seinen besonderen Kontext vor.

Der Raum bei Köhler und Apichatpong: »Primitive« und Montag kommen die Fenster In späteren Filmen verwendet Apichatpong die mystische Welt viel direkter als Mittel, um politische Brüche und Umwälzungen zu thematisieren. Auch wenn diese späteren Filme nie ganz aufhören, Fragen der Innerlichkeit und Subjektivität zu thematisieren, fügen sich diese Motive tendenziell in die viel weiter gefassten, transindividuellen sozialen Belange ein, die insbesondere in Bezug auf die thailändische Geschichte eine Rolle spielen. In dieser Verschiebung erkennen wir vielleicht am deutlichsten die Spannung oder Doppeldeutigkeit zwischen dem Realen und dem Spirituellen, das Köhler in den Arbeiten Apichatpongs als fruchtbarstes Element ansieht. Darüber hinaus übt diese breitere gesellschaftspolitische Perspektive, die in den späteren Arbeiten Apichatpongs zum Vorschein kommt, für Köhlers eigene Arbeiten, insbesondere seine Filme Montag kommen die Fenster und vor allem Schlafkrankheit, den größten Einfluss aus.

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Köhler erwähnt explizit seine besondere Affinität zu Syndromes and a Century, Apichatpongs semibiografischem Film, der die frühe Beziehung seiner Eltern untersucht, die beide Ärzte waren. Syndromes ist insofern einzigartig in Apichatpongs Filmografie, weil er ganz bestimmte Dichotomien zum Hauptthema macht: Materialismus versus Spiritualität, Glaube versus Vernunft, Ost versus West und Land versus Stadt. Dennoch können wir in den nachfolgenden Filmen Apichatpongs, die zum übergreifenden Projekt »Primitive« gehören, in der Art, wie er die thailändische Geschichte als einen fortwährenden Kampf zwischen Vernunft und Aberglaube darstellt, eine neue Direktheit beobachten – wobei weder das eine noch das andere unbedingt ein wünschenswertes Ergebnis hervorbringt. Das »Primitive«-Projekt ist eine mehrteilige, multimediale künstlerische Arbeit, die zwei in sich geschlossene Videoarbeiten– A Letter to Uncle Boonmee und Phantoms of Nabua (beide 2009) – beinhaltet und mit dem Spielfilm Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben abschließt. Obwohl alle diese Filme sehr vielschichtig und komplex sind, ist ihr grundlegendes Thema die Geschichte des Dorfes Nabua, das während des Militärregimes in den 1960er Jahren vollkommen zerstört wurde (Newman 2009). Jeder, der auch nur im Verdacht stand, Kommunist zu sein, wurde ermordet, sodass schließlich das gesamte Dorf praktisch ausgelöscht wurde. In den Arbeiten des »Primitive«-Projekts bittet Apichatpong überlebende Nachkommen der Getöteten, an den Ort zurückzukehren, an dem Nabua einst stand, jedoch nicht um sich zu erinnern, sondern um »Geister zu beschwören«. Mit Uncle Boonmee als Figur der unerschöpflichen Erinnerung machen die Filme geltend, dass es unmöglich ist, Geschichte vollkommen auszulöschen. Es bleiben immer Spuren; sogar die Landschaft legt stummes Zeugnis von jenen Ereignissen ab, die in offiziellen Dokumenten gewissenhaft ausgelassen werden. Als wir Boonmee in dem Spielfilm, der seinen Namen trägt, begegnen, ist er ein sterbender alter Mann mit Nierenversagen. Sein Körper ist buchstäblich nicht in der Lage, sich der Nebenprodukte seines eigenen Stoffwechsels zu entledigen. Während er von zahlreichen Geistern heimgesucht wird, denkt er über sein schlechtes Karma nach und fragt sich: »Vielleicht habe ich zu viele Kommunisten getötet.« Apichatpong bittet die Zuschauer/-innen in diesem Film, die buddhistischen Prinzipien ernst zu nehmen und das Konzept der vergangenen Leben und eines gestörten Karmas zu erwägen. Aber er besteht darauf, diese spirituelle Krise als eine unvermeidlich politische zu formulieren, die sich nur auf der Bühne der materiellen Beziehungen abspielt. Was wir sehen, ist das sture, buchstäbliche Insistieren – und zwar eines, das über die bloße Metapher hinausgeht – darauf, dass die Gegenwart vertikal organisiert ist, durch die Geschichte geerdet und von den Geistern derer heimgesucht wird, deren Existenz verdrängt und nicht aufgearbeitet wurde. Wenn wir in diesem Sinne darüber nachdenken, wie Köhler diese Ideen in seine eigenen Filme übernimmt, und wie diese Anleihen von Apichatpong Köhlers eige-

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nes künstlerisches Programm formen und beeinflussen, können wir eine deutliche Entwicklung von seinem zweiten zu seinem dritten Spielfilm beobachten. Während in Montag kommen die Fenster klare Spuren von Apichatpongs formaler Eleganz und konzeptueller Inszenierung zu sehen sind, verbindet Köhler in Schlafkrankheit diese ästhetischen Elemente mit einem explizit politisch-geschichtlichem Stoff und erzielt damit bemerkenswerte Ergebnisse. Montag kommen die Fenster gehört in vielerlei Hinsicht zu einer bestimmten Ausprägung der Berliner Schule. Der Film handelt von einer Familie, die versucht, eine Phase des Übergangs durchzustehen – in diesem konkreten Fall eine sehr störende und langwierige Renovierung ihres Hauses –, und die bis zu einem gewissen Grad daran scheitert. Der Film konzentriert sich darauf, die bürgerliche Kernfamilie, die sich in einer Phase der Transition befindet, darzustellen und das, was passiert, wenn ein Mitglied dieser Einheit beginnt, fehlerhaft zu »funktionieren« und sich auf eine Weise zu verhalten, die nicht mit den gewohnten Vorstellungen von Pflicht, Moral oder westlicher Psychologie in Einklang gebracht werden kann. Zunächst setzt Köhler – zusammen mit seinem Kameramann Patrick Orth – in Montag kommen die Fenster gleichermaßen die Frau, den Mann und die Tochter in Szene. Sie befinden sich gemeinsam in einem Haus ohne Fenster (die gerade ersetzt werden), das gerade renoviert wird und entsprechend unkomfortabel ist. Schließlich jedoch entscheidet sich der Film die Frau, Nina Buchner (Isabelle Menke), in den Mittelpunkt zu stellen. Sie ist Ärztin und eine liebevolle, aber erschöpfte Mutter. In einem Moment der Frustration verlässt sie vorübergehend die Familie und irrt in den umliegenden Wäldern umher. Köhler erwartet von uns nicht, entsprechend seiner eher antipsychologischen Herangehensweise an das Filmemachen, dass wir Ninas Entscheidungen »verstehen«, sondern dass wir sie beobachten und entscheiden, inwieweit ihre Reaktionen auf ihre physischen Umstände mal angemessen zu sein scheinen und mal nicht. Sie platzt bei ihrem Bruder und seiner Frau herein, dringt schließlich in ein Sporthotel ein und hat dort impulsiv ein Stelldichein mit einem gewissen »David Ionesco« (gespielt von der rumänischen Tennislegende Ilie Nastase). Letztendlich ist Ninas Reise weder eine der Verzweiflung noch der Langeweile, sondern eine des Überdrusses. Bei Montag kommen die Fenster ist es die formale Organisation des Raumes und die durchgehend vielschichtige Durchdringung von Innen und Außen, Architektur und Landschaft, die am unmittelbarsten von Apichatpong inspiriert ist. Eines der Markenzeichen des visuellen Stils des thailändischen Regisseurs ist sein Einsatz des Lichts, der sich zum Teil aus den Besonderheiten der Häuser und anderen gebauten Strukturen der thailändischen Provinz ableitet. Das tropische Klima erfordert ein hohes Maß an Durchlässigkeit und Luftzirkulation, und dies wird tendenziell dadurch erreicht, dass die Gebäude nach außen hin offen sind mit Fenstern ohne Verglasung, die bei schlechtem Wetter durch Läden geschlossen werden können. In Apichatpongs Filmen führt dies zu einer ganz eigentümlichen Form der

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Innenbeleuchtung. Gleichzeitig finden viele häusliche Funktionen, insbesondere das Essen, im Freien statt. Fokussierte, abgegrenzte Beleuchtung trägt zu einem Spiel von Sichtbarkeit und Verborgenheit bei. Das wird zum Beispiel auf sehr dramatische Weise in der Dinner-Szene in Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben sichtbar, wo die Geister und Kreaturen auf der Leinwand erscheinen, bevor Zuschauer/-innen sie überhaupt bemerken können. Szenen in Tropical Malady und mehrere Sequenzen in Syndromes and a Century zeigen die Handlung im Vordergrund, etwas dunkler als normal aufgenommen und immer vor der Kulisse der hellen, grünen Natur, wie ein lebendiges Wandbild. Köhler setzt in Montag kommen die Fenster diese Methode der Bildgestaltung mit Licht, das den Rahmen bildet, und der verschwimmenden Grenzen umfassend ein, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass sie weitgehend das Thema des Filmes bildet. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass Köhler in dem Film auf einer hoch formalisierten Ebene sein Verhältnis zu Apichatpongs filmischer Sprache austestet und intellektuell verarbeitet. Das Fehlen der Fenster in Ninas Haus dient als strukturelle Abweichung – ein Zusammenbruch der Trennung zwischen öffentlich und privat, auf der die bürgerliche europäische Gesellschaft aufgebaut ist. Aber es bietet auch eine Art Einladung, die Nina (und bis zu einem gewissen Grad auch Köhler) die Freiheit gibt, das Familiendomizil zu verlassen und alternative räumliche Beziehungen außerhalb zu erkunden.

Doppelte Zeit: Syndromes, Uncle Boonmee und Schlafkrankheit Wie Köhler in Bezug auf Apichatpong festgestellt hat, eröffnen dessen Arbeiten neue kreative Möglichkeiten, vor allem, weil er Wege gefunden hat, innerhalb seiner Filme mystische und realistische Erzählebenen produktiv aufeinanderprallen zu lassen. Dies ist nicht zuletzt auf Apichatpongs buddhistischen Glauben zurückzuführen, den der Filmemacher sehr ernst nimmt. Aber Köhler sieht in den Filmen des thailändischen Regie-Meisters ebenfalls die Fähigkeit, die religiösen Prinzipien mit einer gewissen Portion Humor und Skepsis zu betrachten. Dies gibt seinen Filmen eine gewisse formale Verspieltheit, welche die Probleme der Spätmoderne aufnimmt und ihnen entspricht: Nämlich, wie man die gestalterischen Fähigkeiten der Kunst nutzt, um Analogien zu nicht-normativen psychischen Zuständen herzustellen. Für beide Künstler läuft dies in hohem Maße auf die Frage hinaus, wie sie mit der Zeit umgehen. Wie weiter oben aufgeführt, verwendet Apichatpong in seinen Filmen oft eine gegabelte Zeitstruktur. Die Anforderungen einer linearen zeitbasierten Kunstform wie dem Spielfilm mit nur einer Leinwand erfordern zwar, dass ein Zeitstrang hinter dem anderen zu sehen ist, doch ist es in der Tat möglich, diese »Zeiten« als parallel oder einander angrenzend zu lesen. Tropical Malady zum Beispiel kann sehr

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wohl dieselbe Liebesbeziehung behandeln, die in zwei gleichzeitige Bedeutungsoder Existenzstränge geteilt ist. Diese Zeitstränge könnten zwei unterschiedlichen Realitätsebenen ausdrücken; die eine könnte der unbewusste Spiegel der anderen sein; oder die zweite Erzählung könnte eine rückwirkende Revision oder eine nachträgliche Retro-Gegenwart der ersten sein. In jedem Fall scheint eine einfache Linearität die am wenigsten zufriedenstellende Erklärung zu sein. Am deutlichsten wird dies wahrscheinlich in Syndromes and a Century, denjenigen Film Apichatpongs, der am erkennbarsten Züge des Surrealismus aufweist. Seine doppelte Struktur ist, vergleicht man ihn mit den anderen ungewöhnlich strukturierten Filmen Apichatpongs, sehr deutlich. Der Film, der sich mit den Eltern des Filmemachers beschäftigt, die beide Ärzte waren, besteht aus zwei Hälften, die jeweils den Erinnerungen seiner Mutter und denen seines Vaters entsprechen. Zwischen den beiden Teilen liegen etwa vierzig Jahre; die erste Hälfte findet in einem ländlichen, die zweite in einem modernen, städtischen Krankenhaus statt. Ähnlich wie in den zeitgenössischen koreanischen Komödien von Hong Sangsoo wiederholt sich ein Großteil der Handlung und des Dialogs in Syndromes and a Century, aber die Perspektive verschiebt sich. Im Gegensatz zu der üblichen Prämisse der Darstellung beider Perspektiven (»er sagte/sie sagte«) hat Apichatpong sich jedoch dafür entschieden, in die Geschichte, wie sich seine Eltern kennenund lieben gelernt haben, eine zusätzliche Ebene einzuziehen: den Fortschritt der Medizin und die Urbanisierung Thailands. Wo Tropical Malady zwei verschiedene Modi desselben Ausgangsmaterials vorstellt, geht Syndromes and a Century einen Schritt weiter in dieselbe Richtung. Wir verstehen, dass die dargestellte primäre Handlung grundsätzlich gleichzeitig abläuft. Indem Apichatpong die beiden Perspektiven künstlich über die »objektive« Zeit verteilt, zeigt er uns durch die Gegenüberstellung, wie Faktoren wie Entwicklungen in der Kultur, wirtschaftliche Verschiebungen, Feminismus, Verstädterung und die Kraft der Tradition dieselben Individuen in einen neuen Kontext stellen. In gewisser Weise hat Apichatpong dieses Verfahren in seinen Spielfilm Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben aus dem »Primitive«-Projekt gleichzeitig erweitert und zugespitzt. Der Boonmee (Thanapat Saisaymar) der Gegenwart liegt im Sterben und fungiert dabei als Antenne für mehrere, sehr unterschiedliche Geschichten, die dadurch in der Gegenwart aufsetzen können. Das heißt, vergangene Ereignisse können dadurch in eine ansonsten einfache lineare Zeitachse eindringen, weil Boonmees Nähe zum Tod es erlaubt, dass seine früheren Leben in ihm auftauchen und die Geister seiner Vergangenheit sich im Hier und Jetzt materialisieren können. Diese ständigen Verschiebungen in Apichatpongs Filmen, insbesondere die Art und Weise, wie der Filmemacher das Mystische oder Jenseitige als Totem für Geschichtlichkeit benutzt, hilft uns zu verstehen, auf welche Art und Weise Köhler von Apichatpong inspiriert wurde, am eingehendsten in seinem ungewöhnlichsten

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und gelungensten Film Schlafkrankheit. Die Übernahme von stilistischen Elementen Apichatpongs sind darin deutlich zu erkennen: ganz offensichtlich in der gegabelten Zeitstruktur und dem Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Lebenswelten von »Zivilisation« und »Dschungel«. Wie Köhler diese Elemente einsetzt, ist ihm jedoch ganz eigen, denn er füllt sie ironischerweise mit etwas, das wir nur als politischen Inhalt im herkömmlichen Sinne bezeichnen können. Schlafkrankheit ist unter anderem ein Film über den Kolonialismus und die unbeabsichtigten Nebenprodukte europäischer Entwicklungshilfeinitiativen, eine Art Krise der gegenseitigen Abhängigkeit. Köhler hat durch seine Auseinandersetzung mit Apichatpong jedoch einen Weg gefunden, diese Probleme anzusprechen, ohne in die von ihm so verabscheute Didaktik zu verfallen. Schlafkrankheit beginnt in der Nacht, als Dr. Ebbo Velten (Pierre Bokma) mit seiner Frau Vera (Maria Elise Miller) und seiner Teenager-Tochter Helen (Jenny Schily) vom Flughafen nach Hause fährt. Die beiden besuchen Ebbo in Kamerun, der dort als Arzt im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) tätig ist. Er leitet eine Dorfklinik, die medizinische Grundversorgung anbietet. Ihr Hauptzweck ist jedoch die Ausrottung einer vermeintlichen Epidemie der Schlafkrankheit. Als Velten und seine Familie ins Dorf einfahren wollen, wird das Auto an einem Polizeikontrollpunkt angehalten. Zufällig hat Helen ihren Pass nicht dabei. Die örtliche Polizei schikaniert Ebbo und droht ihm mit Ärger, aber am Ende lassen sie ihn durch. Diese Eröffnungsszene setzt unsere Erwartungen bezüglich Veltens Ansehen und Verhalten im Verlauf des restlichen Films. In einer Situation, die für westliche Ausländer potenziell gefährlich sein könnte, setzt der Arzt einfach auf seine privilegierte Position als Weißer und nimmt selbstverständlich an, dass seine Stellung in einer internationalen Organisation ihn unantastbar macht. Wie Köhler die Figur Velten darstellt, unterscheidet sich erheblich von dem, was uns normalerweise im Film geboten wird, wenn es um Entwicklungshelfer, NGO-Mitglieder oder einfach nur um wohlmeinende westliche Freiwillige geht. Typischerweise werden diese Personen entweder als heldenhaft oder als engstirnig dargestellt, manchmal beides in unterschiedlichen Gewichtungen. Hier ist Velten stattdessen sowohl kompetent als auch abgestumpft, gleichzeitig selbstzentriert und zurückhaltend. Er bewegt sich unerschrocken durch die Gesellschaft Kameruns, in der unter der Oberfläche durchaus Gefahren lauern könnten. Der erste Teil von Schlafkrankheit beschreibt Veltens angespannte Interaktionen mit seiner Familie. Angeblich neigt sich seine Anstellung in Kamerun dem Ende zu und er bereitet sich auf die Rückkehr nach Deutschland vor. Gleichzeitig deutet Velten indirekt an, dass es für die ganze Familie gut sein könnte, Deutschland zu verlassen, was Vera entschieden ablehnt. Beim Abendessen trifft die Familie einen alten Bekannten, Gaspard (Hippolyte Girardot), einen französischen Investor, der in Kamerun mit explizit kolonialistisch-ausbeuterischen Geschäften ein Auskommen gefunden hat. Wenn wir sehen, wie Gaspard einen schwarzen Kellner herun-

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terputzt, der ihm eine Flasche falsch etikettierten südafrikanischen Wein zu einem überteuerten Preis andrehen möchte, erkennen wir eine extremere Version europäischer Arroganz, ein Vorbote dessen, was höchstwahrscheinlich aus Ebbo werden würde, bliebe er in Kamerun. Dies wird unmittelbar danach veranschaulicht: Velten kommt nach Hause, findet seinen Sicherheitsbeamten schlafend auf seinem Posten vor und fängt an, ihn herablassend und unangemessen zu beschimpfen. Diese selbstherrliche Haltung erreicht ihren Höhepunkt in der anschließenden Szene, einem Treffen mit den afrikanischen Ärzten, die das WHO-Programm in Kamerun leiten. Köhler zeigt deutlich, wie Velten den paternalistischen Europäer spielt. Nach einigen anderen kurzen Szenen (insbesondere als Ebbo Gaspards Resort besucht und Chefarzt versucht, Ebbos Wagen zu kaufen) endet der erste Teil des Films mit einem tränenreichen Telefongespräch zwischen Velten und Vera. »Ich vermisse dich auch«, sagt er, aber irgendetwas scheint hier nicht zu stimmen. Die Szene blendet ab in ein Schwarzbild, und wir sehen eine Zwischentafel: »Drei Jahre später«. Zu diesem Zeitpunkt wendet sich Schlafkrankheit Europa und der WHO zu. Dort treffen wir Alex Nzila (Jean-Christophe Folly), einen jungen Arzt, der nach Kamerun entsandt wird, um das dortige Programm zu überprüfen. Wir lernen zunächst Alex’ Kollegen und Kolleginnen kennen, die ihm gegenüber beiläufig rassistische Mikroaggressionen begehen und darüber scherzen, »dass Afrikaner größere Schwänze haben«. Nzila lächelt nur und erklärt geduldig, dass er in Europa geboren wurde und daher kein »Afrikaner« sei. Dennoch deutet Schlafkrankheit an, dass Alex nur deshalb mit dem Velten-Fall beauftragt wird, weil man davon ausgeht, dass er als »Afrikaner« leichteren Zugang zur kamerunischen Gesellschaft hat als seine Kollegen. Wir sehen allerdings an Alex’ Schwierigkeiten, bei der Ankunft in Kamerun bei einem Straßenverkäufer Zigaretten zu kaufen, dass dies keineswegs der Fall ist: Er ist unangebracht paranoid, dass er betrogen wird, obwohl er sich in Wirklichkeit mit dem Wechselkurs verrechnet hat. Velten und seine Assistenten unterlaufen bewusst Alex Nzilas Arbeit – die Evaluierung des Projekts –, zum größten Teil dadurch, dass sie ihm aktiv aus dem Weg gehen. Jeder, den er trifft, hat eine Ausrede für Veltens Abwesenheit parat. In einer Szene muss Alex das Baby einer Dorfbewohnerin per Kaiserschnitt entbinden und wird während des Eingriffs ohnmächtig. Erst danach erscheint Velten. Stunden später erwacht Alex unter Veltens Obhut in einem Zelt und bekommt etwas zu trinken. Gegenüber seinem WHO-Kollegen und -Kolleginnen befindet sich Nzila nun in einer schwächeren Position. Als Velten beginnt, Alex zu den verschiedenen Außenposten der Klinik herumzuführen, verwendet er die gleiche Art defensiver Sprache, die die afrikanischen Administratoren vor drei Jahren an ihm ausprobiert haben. Es gebe zwar keine Fälle von Schlafkrankheit und auch sonst wenig, was das WHO-Team in Kamerun zu tun hätte. Aber, so betont Velten, dies zeige nur, wie effektiv das Programm sei

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und wie sehr die Gesundheitsversorgung der Dörfer wieder ins Chaos abrutschen würde, wenn die Mittel gekürzt würden. Velten greift das Unbehagen auf, das Alex in Kamerun verspürt, insbesondere die Tatsache, dass sich Alex als schwarzer Europäer wegen seines Unbehagens unbehaglich fühlt. Oder, wie Mark Peranson es beschreibt: »Afrika ist ein Ort, der nicht zuhause ist. Im Fall von Ebbo hat diese Eigenschaft die Fähigkeit, für ihn attraktiv zu sein, während er sich abgestoßen fühlt, während Alex sie abstoßend findet, während sie für ihn attraktiv ist.« (Peranson 2011) Das heißt, die Tatsache, dass Velten sich mit den afrikanischen Sitten und Gebräuchen besser auskennt, sich »einheimischer« oder wohler damit fühlt als Alex, ist eine Umkehr der Erwartungen aufgrund der Rasse, die beiden Männern bewusst ist und die Velten zu seinem Vorteil ausspielt. Zu Beginn des Films erzählt Velten eine Sage aus der lokalen Überlieferung, wie jemand angeblich von einem Nilpferd gefressen worden sei. Velten kann die Legende mit einer gewissen Ernsthaftigkeit wiedergeben, ohne sie vollständig ernst zu meinen. Er öffnet damit ein ethnografisches Fenster und beleuchtet den lokalen Aberglauben, ganz im Sinne von Köhlers Verständnis von Apichatpongs Inszenierung des Mystischen. Wir sehen dies ebenfalls bis zu einem gewissen Grad, als Velten Alex warnt, dass dieser besser seine Homosexualität verbergen solle, weil die Einheimischen ihn sonst umbringen könnten. Auch dies ist eine ambivalente Position, die Velten versucht zu nutzen, um seinen Vorteil gegenüber Alex auszuspielen. Velten spricht die Tatsache offen an, dass Alex’ Evaluierung die Operation in Kamerun beenden könnte. »Mein Schicksal liegt in deinen Händen«, sagt Velten zu Alex. Aber der Ton, den Velten anschlägt, ist in gleichem Maße der einer Herausforderung wie der einer Bitte, denn Alex muss erst einmal herausbekommen, wie er Kamerun mit den nötigen Beweisen verlassen kann. Dies führt zur letzten Episode von Schlafkrankheit, einer nächtlichen Jagdexpedition in den Dschungel mit Ebbo, Alex und Gaspard. Die anderen bieten Alex eine Waffe an, er lehnt aber ab. Nur mit Stirnlampen, die den Weg weisen, ausgestattet wandern die drei Männer tiefer in das Dickicht hinein mit einem Gefühl der Angst, dies immer stärker wird. Velten und Gaspard streiten sich, Waffen werden erhoben, und Gaspard deutet an, dass Ebbo durch Alex’ Evaluation eine Rückkehr nach Europa erzwingen will, zu der er allein nicht den Mut hat. Während die Gemüter hochkochen und die Stirnlampen erlöschen, verlieren die Männer einander. Velten verschwindet und wird nie wieder gesehen. Die doppeldeutige Schlusseinstellung zeigt den See in der Nähe des Ortes, an dem Velten zuletzt gesehen wurde, und ein Nilpferd, das auftaucht und wegschwimmt. Wie Köhler Schlafkrankheit strukturiert hat, ist ein bemerkenswertes Stück Kino, nicht zuletzt wegen der bewundernswerten Waghalsigkeit, einen solch politisch aufgeladenen Film mit einem derart morbiden Scherz zu beenden. Darüber hinaus stellt Köhlers Anfangssequenz des zweiten Teils des Films – Alex’ ausgedehnte Suche nach Velten – zusammen mit der Schlusssequenz – die nächtliche Jagdsitua-

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tion und Veltens angedeutetes Ableben – eine klare, aber originelle Anspielung auf Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis und damit auf Apocalypse Now (Francis Ford Coppola 1979) dar. Velten als moderner Kurtz ist aber kein Rätsel. Stattdessen ist er ein selbstsüchtiger Entwicklungshelfer, ein banaler Beamter. Aber genau das macht Köhlers intertextuelles Manöver so pointiert. Als Alex nach Kamerun fährt und herausfindet, dass es keine Schlafkrankheit-Epidemie gibt, stellt er auch fest, dass der Mann hinter dem Vorhang noch weniger Zauberer ist als Oz. In der europäischen Vorstellung ist der afrikanische Kolonialismus nicht verführerischer oder gefährlicher als die Suche nach einem Geldautomaten in der Großstadt. Aber was, wenn wir Schlafkrankheit ein wenig gegen den Strich bürsten und unserem Argument folgen, dass Apichatpongs Einfluss auf Köhler erheblich ist? Wir können sofort erkennen, dass das Gespenst des Volksglaubens sein Haupt erhebt, und zwar ganz wörtlich in Form des Flusspferds der kolonialen Rache. Marco Abel hat dies ganz zu Recht in seiner Lektüre von Schlafkrankheit bemerkt, in der er sehr direkte Anklänge an Apichatpong findet, insbesondere was das Thema der »vergangenen Leben« betrifft (Abel 2013). Aber wir können die gegabelte Struktur von Schlafkrankheit auch indirekter verstehen, als es uns der Zwischentitel »Drei Jahre später« nahelegt. Das soll nicht heißen, dass wir den klaren diegetischen Zeitabstand zwischen dem ersten und zweiten Teil des Films ignorieren. Liest man Köhler mit Apichatpong, können wir die beiden Teile gleichzeitig als parallel betrachten, zumindest was die ideologische Seite angeht. Dies hilft zu erklären, wer Ebbo Velten ist und was ihn antreibt – und allgemeiner, was Köhler über die westliche Entwicklungszusammenarbeit mit Zweidritteln der Welt zu sagen scheint. Im ersten Teil des Films ist es Velten, der argumentiert, dass das WHO-Projekt in Kamerun beendet ist. Währenddessen versuchen die Ärzte vor Ort, die an dem Projekt beteiligt sind, darauf zu drängen, die Finanzierung zu verlängern, scheinbar um selbst davon zu profitieren. Im zweiten Teil macht Velten gegenüber Alex die gleichen Argumente für eine Verlängerung des Projekts geltend, verheimlicht indessen kaum, dass die Situation zu einem Schwindel geworden ist, um die beteiligten Ärzte zu unterstützen. Konventionell würden wir diese lineare Entwicklung so lesen, dass Velten zum Komplizen geworden ist oder einfach aufgegeben hat. Was aber, wenn, in einem abstrakteren Sinne, beide Einstellungen gleichzeitig existieren? Das heißt, wenn Velten gleichermaßen in der Lage ist, glaubhaft zu begründen, dass entweder ein Investitions- oder ein Sparkurs die richtige Entscheidung ist, je nachdem, wer zuhört und wer die potenziellen Nutznießer/-innen der jeweiligen Position sein könnten?

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Geschichte ist eine Schlafkrankheit Eine gradlinige Interpretation von Schlafkrankheit, die die Figur Velten anhand der herkömmlichen Kategorien von Erzählkonsistenz und anderer narrativer Konventionen des 19. Jahrhunderts verstünde, würde uns zu der Annahme verleiten, dass er und seine Position sich verändert haben, dass etwas »über ihn gekommen« sei, sei es das allgemeine System der Korruption, die Anziehung Afrikas oder eine allgemeine depressive Malaise. Köhlers Übernahme der Zeitstruktur Apichatpong lässt uns jedoch den größeren historischen und institutionellen Rahmen wahrnehmen. Der Kolonialismus ist immer von widersprüchlichen Impulsen geprägt. NGOs wie die Weltgesundheitsorganisation sind immer zugleich wohltätig und korrupt. Anstatt eine Art mystische, vertikale Zeit zu erschaffen, in der Lebende und Tote Seite an Seite schreiten, wie in Apichatpongs Filmen, hat Köhler das Modell für seine eigenen Zwecke adaptiert. Sowohl die guten Absichten als auch der Eigennutz, sowohl die fortschrittlichen als auch die rückschrittlichen Impulse werden in Schlafkrankheit sichtbar, wie sie sich in der lokalen Kultur Kameruns und in den Hilfsbemühungen der WHO kreuzen und überschneiden. Darüber hinaus sind all diese Impulse in der Figur Ebbo Veltens gleichzeitig präsent. Köhler zeigt, wie die Last der Kolonialgeschichte durch die komplizierten Tricksereien der Institutionen verhandelt, aber keineswegs zurückgelassen wird. Apichatpong hat seinerseits eine weitere Möglichkeit gefunden, die Auswirkungen der Geschichte auf die Lebenden zu untersuchen. Durch einen faszinierenden Zufall nutzt der thailändische Filmemacher dafür dieselbe Metapher, die auch Köhler zu seinem Film inspiriert hat. In Cemetery of Splendor (2015) erweitert Apichatpong sein Interesse an der spirituellen Welt, die hier als eine Art wörtliche Metapher eingesetzt wird. In dem Film wird eine Gruppe von Soldaten von der Schlafkrankheit befallen und in einer dörflichen Krankenstation isoliert. Das Krankenhaus ist eine ehemalige Schule, deren Umbau noch nicht abgeschlossen ist – eines der vielen Sinnbilder, die im Film die untote Vergangenheit ausdrücken. Jen (Jenjira Pongpas Widner), eine Dorfbewohnerin, interessiert sich besonders für einen der lethargischen Soldaten. Im Laufe des Films wird Jen von zwei Geisterprinzessinnen besucht, die ihr erklären, warum die Epidemie der Schlafkrankheit ausgebrochen ist. Die Gründe liegen in alten Konflikten der thailändischen Geschichte, die aber immer noch Einfluss ausüben. »Die Geister der toten Könige schöpfen ihre Energie aus den Soldaten, um ihre Schlachten zu schlagen.« Mit einem etwas verdeckten Hinweis auf den Film Matrix greift Apichatpong erneut auf das Konzept des Übersinnlichen zurück, um einen direkten Kommentar zur zeitgenössischen Politik in Thailand zu leisten. Heute werden Soldaten und andere gewöhnliche thailändische Bürger/innen gezwungen, uralte, endlose Schlachten zu schlagen, und es scheint oft, als sei kein Ende in Sicht.

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In einer Nation, die regelmäßig von Putschversuchen heimgesucht wird, kann es für Künstler/-innen schwierig sein, die Mittel zu finden, mit denen sie innerhalb des breiteren gesellschaftlichen Diskurses Dissens formulieren können, nicht nur wegen der Zensur, sondern auch weil das Ziel ihrer Kritik sich beständig wegbewegt. Ob absichtlich oder nicht, zeigt Cemetery of Splendor, dass Köhlers besonderer Blick auf Apichatpongs zeitliche Struktur – eine Art bürokratische Gleichzeitigkeit oder politisch »gestapelte« Zeit – mit der jüngsten Entwicklung von Apichatpongs eigenem filmischen Umgang mit Zeit zusammenfällt. Ob Köhlers Film einen Einfluss auf Apichatpong hatte oder nicht, ist unerheblich. Das letzte Bild von Cemetery of Splendor spricht für eine grundsätzliche Ähnlichkeit der Herangehensweise an den Film des 21. Jahrhunderts. Jen erfährt, dass die Geister der Vergangenheit, wenn man die Augen nur weit genug offenhält, immer sichtbar sind (Abb. 9.2).

Abbildung 9.2: ›Cemetery of Splendor‹: Jen hält nach den Geistern der Vergangenheit Ausschau.

Literaturverzeichnis Abel, Marco (2013): »Ulrich Köhler: The Politics of Refusal«, in: The Counter-Cinema of the Berlin School. Rochester, NY: Camden House. Apichatpong Weerasethakul (2009): »The Memory of Nabua: A Note on the Primitive Project«, in: James Quandt (Hg.), Apichatpong Weerasethakul. Wien: Österreichisches Filmmuseum. Köhler, Ulrich (2007): »Warum ich keine ›politischen‹ Filme mache«, in: new filmkritik 23.04.2007, https://newfilmkritik.de/archiv/2007-04/warum-ich-keinepolitischen-filme-mache/ (letzter Zugriff 22.6.2022)

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Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand (1974): The Language of Psycho-Analysis, translated by Donald Nicholson-Smith, New York: W. W. Norton. Newman, Karen (2009): »A Man Who Can Recall His Past Lives: Installations by Apichatpong Weerasethakul«, in: James Quandt (Hg.), Apichatpong Weerasethakul, Wien: Österreichisches Filmmuseum. Peranson, Mark (2011): »Not Political Cinema: Ulrich Köhler’s Sleeping Sickness«, in: Cinema Scope 46. Quandt, James (2009): »Resistant to Bliss: Describing Apichatpong«, in: James Quandt (Hg.), Apichatpong Weerasethakul, Wien: Österreichisches Filmmuseum. Suchsland, Rudiger (2011): »Der Film als Hypothese, die Frage: ›was-wäre-wenn‹. Berlinale-Sieger Ulrich Köhler im Gespräch«, in: Artechock 22.6.2011, https ://www.artechock.de/film/text/interview/k/koehler_2011.html (letzter Zugriff 22.6.2022)

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In den Arbeiten der Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule sind Anklänge an das zeitgenössische asiatische Autorenkino nur schwer zu übersehen, nicht zuletzt deshalb, weil Filmemacher wie Thomas Arslan, Christoph Hochhäusler und Ulrich Köhler sich selbst in der künstlerischen Nähe zu den Filmen von Hou Hsiao-hsien, Abbas Kiarostami, Apichatpong Weerasethakul, Tsai Ming-liang und Hong Sang-soo verortet haben (Hochhäusler 2013: 24). Stilistische Ähnlichkeiten – die Verwendung langer und beobachtender Einstellungen, die rigorose Konzentration auf das Alltägliche und das Periphere, die konsequente Abwesenheit nicht-diegetischer Musik und recht unbewegter Bildräume – verbinden die Arbeiten der Filmemacher/-innen der Berliner Schule mit den Werken der namhaften asiatischen Autorenfilmer/-innen. Ebenso kann man eine Reihe von thematischen Anliegen und narrativen Strategien identifizieren, die sich ähneln, wie etwa die Geringschätzung psychologisierender Erklärungen; Figuren, die die Handlung nicht vorantreiben und sich einer zielgerichteten Entwicklung verweigern; die Erforschung des Scheiterns von Kommunikation; die Kluft zwischen dem neoliberalen Versprechen der Selbstermächtigung und den individuellen Erfahrungen von Isolation und Selbstausbeutung. Ähnlich wie die Begegnung zwischen West und Ost in Maria Speths Film In den Tag hinein (2001) von beunruhigenden Passagen und zahlreichen Fehlinterpretationen geprägt ist, von Dingen, die unausgesprochen bleiben müssen oder sich einer direkten Übersetzung widersetzen, tun wir gut daran, das Verhältnis zwischen der Berliner Schule und den Filmen von Hou, Apichatpong oder Tsai nicht in dem Maße als eindeutig zu betrachten, wie es zunächst erscheinen mag – eher als eine Dynamik von Resonanzen und Querschlägern statt von geradlinigen Einflüssen und Adaptionen. Sowohl die Berliner Schule als auch der neuere ostasiatische Autorenfilm werden oft als jeweils in sich relativ kohärente Gruppen behandelt, jedoch repräsentiert weder die eine noch der andere eine Schule im engeren Sinne. Erstere bezeichnet lediglich einen losen Zusammenschluss von Filmemachern und Filmemacherinnen, deren Ausbildung durch gemeinsame formale, politische und institutionelle Parameter geprägt wurde. Letzterer verdankt seine vermeintliche Einheit weit-

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gehend einer erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit, den Validierungsprozessen der Filmkritik und den transnationalen Förderungsbemühungen europäischer Filmliebhaber/-innen, insbesondere der Filmfestspiele von Cannes und ihrer Sektion »Un Certain Regard«. Was immer beide gemeinsam haben, ist daher weniger eine Frage der direkten stilistischen oder thematischen Wirkung als vielmehr vergleichbarer ästhetischer Absichten, insbesondere dem Streben nach einer Rekalibrierung der gegenwärtigen Sehgewohnheiten gegenüber den endlosen Bildströmen und der allgegenwärtigen Präsenz zutiefst disruptiver visueller Eindrücke und Interaktionen. Auch wenn ihre Arbeiten auf sehr unterschiedliche und möglicherweise unvereinbare ästhetische Traditionen zurückgreifen, so ist ihnen doch gemeinsam, dass beide Gruppen in ihren Filmen vom Bemühen angetrieben werden, den Zuschauern und Zuschauerinnen die Welt (auf der Leinwand) auf andere Weise zu zeigen und ein anderes Gefühl ihr gegenüber empfinden zu lassen. Sie wollen das, was gesehen werden kann, gesehen werden soll und gesehen werden könnte, neu ordnen und das Kino als Medium nutzen, um die ästhetische Erfahrung des Publikums und sein zeitliches Engagement mit dem bewegten Bild neu zu gestalten. Dieser Aufsatz soll dieses ästhetische Projekt näher untersuchen. Er wird bestimmte Praktiken und Konzepte über bestehende kulturelle Unterschiede hinweg aufeinander übertragen, nicht um das eine Kino mithilfe des anderen zu kolonisieren oder eine kohärente Einheit von Vision und Absicht zu proklamieren, sondern einfach um zu untersuchen, ob und wie wir unser Verständnis der Berliner Schule bereichern können, wenn wir ihre Filme mit anderen Augen und als Teil einer viel größeren transnationalen Konstellation sehen.

I. Die Aufnahme, die drittletzte des Films, dauert fast vierzehn Minuten. In den ersten Sekunden sehen wir eine Frau und einen Mann, die einen dunklen Raum betreten, eine architektonische Ruine, möglicherweise Teil eines städtischen Wohnungsbauprojekts, das aufgrund finanzieller Probleme nie fertig gestellt wurde und sich nun in einer Art ewigen Schwebezustand befindet. Sie gehen auf die Kamera zu – sie voran mit einer Taschenlampe in der Hand, er ein paar Schritte hinter ihr. Die Kamera nähert sich ihr, bis ihr Gesicht und Oberkörper die gesamte rechte Hälfte des Bildes ausfüllen; er nähert sich ihr auf der linken Seite und stellt damit das Gleichgewicht wieder her, wobei er immer noch etwas hinter ihr ist. Ihr Blick ist nach vorne über den Bildrand hinaus gerichtet, über die Grenzen dessen, was die Kamera uns zu sehen erlaubt; seine Augen hingegen sind auf ihren Hinterkopf gerichtet. Sie gibt uns keinen Hinweis darauf, ob sie seine Anwesenheit wahrnimmt, sein Betrachten ihrer Betrachtung registriert. Während der nächsten dreizehn Minuten zeigt die Kamera diese Ansicht des Paares. Irgendwann sehen

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wir, wie Tränen über ihre Wangen fließen. Einige Male bewegen sich ihre Augen leicht nach links, als ob sie etwas, was sich vor ihr befindet, nachverfolgt. Ansonsten bleibt sie bewegungslos und gibt uns keinen Hinweis darauf, was sie sehen könnte, ob sie überhaupt etwas sieht oder ob ihr Blick nach innen gerichtet, leer oder teilnahmslos ist. Wie sehr wir auch schauen und ihr Gesicht in den vielen Minuten, die noch vor uns liegen, betrachten, so ist es nicht an uns zu entscheiden, ob ihr Blick kontemplativer Natur ist, das heißt »etwas in sich aufnimmt, das festgehalten wird und Einfluss auf unsere Betrachtungen und Gewohnheiten ausübt« (Armstrong 2000: 101); ob ihr Blick in sich versunken ist, das heißt, ob sie von dem, was sie sieht, in einem solchen Maße vereinnahmt wird, dass sie jedes Bewusstsein ihrer Selbst aufgegeben hat und in einen Zustand der Selbstvergessenheit eingetreten ist; oder ob sie völlig ausdruckslos und von innerer Leere erfüllt ist, das heißt, dass sie unbeeinflusst von dem, was sich vor ihr befindet, einfach mit dem starren Blick eines verlassenen Subjekts dasteht und ihre Tränen durch dasjenige erzeugt werden, was der Bildung von Subjektivität, Expressivität, Sprache und zielorientiertem Handeln insgesamt vorausgeht (Abb. 10.1). Wenn sich ihr Gesicht während der vielen Minuten, die die Einstellung dauert, der Lesbarkeit verweigert, sind seine Haltung, seine Miene und seine Augen einfacher zu interpretieren, nicht zuletzt deshalb, weil wir das Objekt seines Blicks sehen können. Wir sehen, wie er aus einer Flasche trinkt und seinen Kopf leicht hin und her bewegt, als wolle er den Gegenstand seines langen Blicks neu fokussieren. Wir beobachten ihn dabei, wie er den Kopf nach links neigt, um eine Weile auf den Boden zu schauen, wobei sich auch seine Augen mit Tränen füllen. Schließlich wird er sich der Frau von hinten ganz langsam nähern, sie mit seinen Händen sanft berühren und seinen Kopf auf ihre rechte Schulter legen, während sein Oberkörper leicht zittert, und er schließlich die Augen schließt, als ob er hofft, einen Moment der Ruhe und Erlösung zu finden. In diesem Moment gibt es – endlich – einen Schnitt und die Kamera positioniert sich hinter dem Paar und enthüllt, was vor ihnen liegt und was das Objekt des langen Blicks der Frau war: ein monochromes Wandbild einer Landschaft, etwa fünf Meter breit, das die gesamte Stirnwand des Raumes ausfüllt. Dabei handelt es sich offensichtlich um die Zeichnung oder das Gemälde eines Amateurs, das im Vordergrund die Ansicht eines Flusses zeigt, in der Mitte ein felsiges Ufer und dahinter eine horizontale Baumreihe und einige Berge. Wir haben dieses Bild schon zu einem früheren Zeitpunkt im Film gesehen, damals war es eine andere Frau, die dieses Bild anschaute. Doch nichts in der oben besprochenen Anordnung der Aufnahme hat uns darauf vorbereitet, dass die Kamera, die Schauspieler/-innen und der Regisseur uns wieder zu diesem seltsam anmutenden Ort bringen würden, der etwas eigenartig Außerirdisches ausstrahlt. Was wir zuvor gesehen haben und jetzt wieder sehen, ist ein Bild von großer Schlichtheit, das dem Blick des Zuschauers oder der Zuschauerin kaum etwas bietet und Aufmerksamkeit erregt, ein Bild, in dem einzelne Elemente zwar Ge-

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stalt und Form gewinnen und dennoch wie aus einer gewissen Distanz, mit einem gewissen Gefühl der Gleichgültigkeit, eingefangen zu sein scheinen. Auch wenn wir schließlich erfahren, was die Frau während ihres vierzehn Minuten dauernden Starrens angesehen hat, endlich wissen, dass sie überhaupt etwas vor sich hatte, so bietet diese Erkenntnis doch kaum Hinweise darauf, wie wir die verschiedenen Stadien ihres Blicks im Rückblick lesen und mit Bedeutung aufladen sollen. Schließlich enthält das Wandbild in seiner Spärlichkeit und Einfachheit nichts, was dazu anregen könnte, es sich länger anzuschauen. Angesichts seiner Fadheit liegt der Gedanke nicht fern, dass die eher unstete Aufmerksamkeit des Mannes während der vorherigen Einstellung der vor ihnen sichtbaren Welt viel angemessener erscheint als die beharrliche Konzentration der Frau.

Abbildung 10.1: Tsai Ming-liangs ›Stray Dogs‹ (2013)

In unserer Welt des Medienkonsums und omnipräsenter Bildschirme, die uns rund um die Uhr beschäftigen, sind die die Protagonisten und Protagonistinnen

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von Tsai Ming-liangs Jiaoyou (Stray Dogs, 2013) ungewöhnlich: Niemand schaut mehr so ausdauernd wie sie. Schon seit seinem kühnen Bu san (Good Bye, Dragon Inn) von 2003 ist der Filmemacher international bekannt für seine minimalistischen Erzählanordnungen und ausgedehnten Szenen, in denen Figuren scheinbar einfach bewegungslos schauen. Nur die wenigsten sogar der eifrigsten Verfechter/-innen des Slow Cinema sind willens und in der Lage, ihren Blick vierzehn Minuten lang auf Bilder zu richten, die sich der Logik fotografischer Standbilder annähern, auf Bilder, die sich kaum bewegen und deren kriechendes Tempo unser Verlangen, in die Oberfläche des Sichtbaren einzutauchen – und das Sinnliche zu lesen, zu interpretieren und auseinanderzunehmen, immer wieder enttäuschen. Obwohl es verlockend ist, die letzten Minuten von Stray Dogs als eine etwas anstrengende Fingerübung zu verstehen, den Gegenschuss hinauszuzögern, und damit die Art und Weise, wie ein Publikum bewegte Bilder wahrnimmt, grundsätzlich neu zu gestalten, so werden doch nur wenige Zuschauer/-innen die letzte Einstellung (die das Wandbild zeigt) überhaupt als Gegenschuss erkennen, also als eine Aufnahme, die im Nachhinein erklären und festschreiben könnte, was wir in der vorherigen Aufnahme gesehen haben. Bei Tsai verbleibt jede Einstellung autonom von der ihr folgenden und der vorhergehenden; jedes Einzelbild erkennt und negiert gleichzeitig die Last der Welt, die sich außerhalb des Bildes befindet; jeder Versuch, diese Bilder hermeneutisch zu lesen, dass also die eine Aufnahme die andere beleuchtet oder dass einzelne Bilder als Teile eines vermeintlichen Ganzen verstanden werden können, erscheint kaum überzeugend. Das Kino kommt hier dem reinen Vergehen der Zeit so nahe wie möglich, indem es radikal Erzählstrukturen und rekursive Assoziationen als Mechanismen zur Aktivierung von Drama und Bedeutung aufgibt. Inmitten der hektischen Betriebsamkeit dessen, was Jonathan Crary als das Regime von 24/7 – Aktivität 24 Stunden am Tag und an sieben Tagen der Woche – identifiziert hat, in dem »[d]ie Vorstellung längerer Zeiträume, die man ausschließlich als Zuschauer verbringt, […] passé« ist (Crary 2014: 49), preisen Tsais Bilder mit ihren ununterbrochenen langen Blicken die Momente der Nichtunterscheidung und der Untätigkeit, des Nichtstuns und der Stille, in einer Geste der ultimativen Verweigerung des Filmischen. Tsais Universum verlangsamt nicht einfach nur das Vergehen der Zeit. Seine Bilder von schauenden Menschen setzen das ganze Konzept quantitativer Messbarkeit – von Zeit als chronologischer, teleologischer und kausaler Kette von Ereignissen – außer Kraft. Ich kenne keinen aktuellen Filmemacher oder aktuelle Filmemacherin, der oder die die Fähigkeit der Zuschauer/-innen derart radikal herausfordert wie Tsai, in die Bilder, die Emotionen und Narrative, die auf der Leinwand präsentiert werden, einzutauchen. Doch seine Darstellungen des verhaftenden Blicks haben ein markantes Gegenstück in den Arbeiten von Angela Schanelec gefunden, die sich rigoros den traditionellen Modellen des visuellen Storytellings verweigern, vor allem

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durch die häufige Verwendung von statischen Bildausschnitten und nicht-psychologisierenden Figuren. »Schuss-Gegenschuss«, so Schanelec, »ist mir auch schon deswegen nicht möglich, weil man in ein Bild zurückkehrt, das man schon mal gesehen hat. Das habe ich noch nie gemacht. Mir scheint, das funktioniert gar nicht.« (Abel 2013: 128) Ähnlich wie Tsai gibt es in vielen von Schanelecs Filmen Einstellungen, die sich weigern, auf eine wie auch immer geartete konventionelle Weise die Fragen zu beantworten, die die ihnen vorhergehenden Aufnahmen gestellt haben: Immer wieder werden wir Zeuge, wie Figuren in den Raum außerhalb des Filmbildes hinausschauen, ohne dass Schanelec uns jemals zeigt, was sie sehen. Oder sie verzögert und verschiebt den entsprechenden Blickwinkel dermaßen, dass wir nicht umhinkommen, die Beziehung zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen als völlig voneinander losgelöst und unverbunden zu betrachten, frei von allem, was die Betrachterin mit dem Raum des Films und der Erzählung in Übereinstimmung bringen könnte. Am Anfang von Mein langsames Leben (2001) fordert Clara (Clara Enge) ihre Babysitterin Maria (Sophie Aigner) auf, zur Musik von Schuberts Vertonung von Goethes Gedicht »Der Erlkönig« zu tanzen: Eine unmögliche Aufgabe, wie Maria selbst betont, auch wenn sie es anscheinend dann doch tut, weil wir sehen, wie Clara über einen längeren Zeitraum intensiv in die Richtung schaut, in der wir Maria vermuten, während Schuberts Klänge über die Grenzen des Bildes hinweg hin und her schweben. In Marseille (2004) sehen wir, wie die Protagonistin des Films, Sophie (Maren Eggert), minutenlang auf etwas starrt, das sie – nach Aussage von immer energischer auftretenden Sicherheitskräften – nicht fotografieren darf, obwohl sie keinerlei Anstalten macht, ihre Kamera zu heben und das, was uns vorenthalten wird, zu fotografieren. (Abb. 10.2) In Orly (2010) werden die Zuschauer/-innen eingeladen, die kostbaren Minuten einer Mittagspause mit einer Flughafenschalter-Angestellten zu verbringen, deren Blick nachdenklich auf etwas außerhalb des Bildes fixiert ist, während sie ihr Sandwich kaut (und nicht sieht, was sie eigentlich hätte sehen sollen: eine Tasche, die später möglicherweise – aber vielleicht auch nicht – dazu führt, dass der Flughafen vollständig evakuiert werden muss). Und in Nachmittag (2007) in einer etwas seltsamen Umkehrung des Musters sehen wir gegen Ende des Films in einer Szene Agnes (Miriam Horowitz), die, während ihr Blick ins Off schaut, Irenes schauspielerische Fähigkeit lobt, auf der Bühne mit einem lebendigen Hund zu interagieren. Diese Szene bezieht sich wiederum auf eine lange Einstellung vom Anfang des Films, in der eine statische Kamera eine Bühnenprobe zeigt, in der Irene und ein Hund aus einer seltsam verdrehten Perspektive aus dem BackstageBereich aufgenommen werden.

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Abbildung 10.2: Angela Schanelec ›Mein langsames Leben‹ (2001)

Es gibt viele Möglichkeiten, Schanelecs Sondierungsstrategien zu erklären: die visuelle Verzögerung, die Abdichtung der einzelnen Bilder gegeneinander, die Art und Weise, wie sie uns dazu zwingt, längere und oft nicht nachvollziehbare Bli-

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cke ins Abseits anzuschauen. Theorien des Slow Cinema würden dies wohl damit erklären, dass solche Szenen uns als Zuschauer/-innen erlauben, ein Gefühl der kontemplativen Stille zu erleben, einen Raum zu eröffnen, in dem wir unsere eigene Vorstellungskraft einsetzen, um der Herrschaft des kommerziellen Kinos und seiner geistlosen Unruhe etwas entgegenzusetzen und die Leerstellen des Films in unserer Imagination zu vervollständigen. Repräsentanten Kritischer Theorie würde solche Techniken begrüßen, weil sie den Bann der dominanten Narrative brechen könnten und die Zuschauer/-innen von der Herrschaft des Spektakels, das von der Kulturindustrie installiert wurde, befreien. Und Deleuzianer würden hier einen verblüffenden Zusammenbruch verschiedener Logiken des Bildes und seiner Bewegung diagnostizieren, indem Schanelecs Abwertung der erzählten Zeit und der visuellen Vernähung als mächtiges Mittel dient, um gleichzeitig zu enthüllen und zu unterlaufen, wie die Praktiken des Mainstream-Films Emotionen territorialisieren und innerhalb der Grenzen der humanistischen Konzepte souveräner Subjektivität manipulieren. Aber angesichts der (nicht-deterministischen) Echos zwischen dem ostasiatischen Autorenfilm und der Arbeiten der Berliner Schule, die in diesem Aufsatz postuliert und untersucht werden, werden die folgenden Ausführungen zwei andere Aspekte verfolgen, um diese Ästhetik – von Schanelec und anderen – des dauerhaften, wenn auch unbestimmten Blicks zu beleuchten. Der erste Aspekt beschäftigt sich mit dem, was François Jullien als Ästhetik der Fadheit – die der chinesischen Tradition entstammt – beschrieben und anempfohlen hat. Sie ist in der Art und Weise, wie Tsai die Blicke seiner Figuren darstellt, weiterhin wirksam und ebenfalls von beträchtlichem Wert, um die ästhetischen Grundlagen von Schanelecs Werk zu beleuchten. Der zweite Aspekt stützt sich auf zeitgenössische Theorien und Praktiken der Betrachtung von bildschirmbasierter Installationskunst und darauf, wie diese – bewusst oder unbewusst – die Strukturen der Filme zeitgenössischer Filmemacher/-innen, die für ihre langen Einstellungen bekannt sind, wie Tsai, Schanelec und Köhler, beeinflusst haben. Wenn es am Ende erscheinen mag, als würden diese beiden Perspektiven dem widersprechen, was Filmemacher/-innen wie Tsai und Schanelec durch das Kinobild – für und mit ihren Zuschauern und Zuschauerinnen – erreichen wollen, so vielleicht nur deshalb, weil wir immer noch in den abgenutzten Modellen der Zuschauerschaft des zwanzigsten Jahrhunderts denken, die, indem sie die aktiven gegenüber passiven Formen des Sehens aufwerten, genau die Passivität erzeugen, die das Kunstkino überwinden soll, und zögern, das Ausmaß anzuerkennen, in dem die partizipatorische Interaktion für die neoliberalen Gesellschaften der Kontrolle und des andauernden Selbstmanagements wesentlich geworden ist.

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II. Aber gehen wir noch einmal einen Schritt zurück: Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass das Wandbild in Stray Dogs die ausführliche Betrachtung der Frau »verursacht«, noch ist es verantwortlich für den Blick des Mannes auf die Frau oder den der Kamera auf beide. Im Gegenteil, weil Tsai die Zuschauer/-innen fast vierzehn Minuten warten lässt, um zu erfahren, was das Objekt ihres Blicks ist, (um sich dann überhaupt nicht mehr darum zu kümmern), und weil das offenbarte Bild zunächst keine Eigenschaften zu besitzen scheint, um den Blick überhaupt zu halten und Interesse zu wecken, können wir zunächst nicht umhin, das Verhältnis zwischen der diegetischen Betrachterin und dem Bild als eines relativer Distanziertheit zu denken, das nichts mit dem Stil, der Unverwechselbarkeit, des emotionalen Eindrucks des Bildes zu tun hat, sondern gerade mit seiner Schlichtheit, dem Fehlen lebhafter Motive, seiner scheinbaren Monotonie und Leere. Was, wenn wir diesen Begriff wirklich verwenden wollen, den Blick der Frau dann »verursacht«, ist die Abwesenheit der Kausalität im Bild selbst, seine Weigerung, Wirkung zu erzielen und die Betrachter/-innen direkt einzubeziehen, seine inhärente Fadheit, die ein merkwürdiges Gegenstück findet in der Tatsache, dass es einerseits nicht von wirklichem Interesse ist, und andererseits seiner Fähigkeit, sukzessive und nicht endende Prozesse der Entdeckung (und Selbstfindung) zu initiieren. Der französische Sinologe und Philosoph François Jullien hat in seinem 1991 erschienenen Buch Éloge de la fadeur (dt. Über das Fade. Eine Eloge, 1999) die Fadheit als einen Eckpfeiler der traditionellen chinesischen ästhetischen Praxis diskutiert und gelobt. Hier ist nicht der Ort, um sich auf Debatten über mögliche Vorwürfe des Orientalismus einzulassen, die Julliens Argumentation zugrunde liegen könnten oder nicht. Es geht vielmehr darum, die heuristische Kraft des Konzepts zu untersuchen, um so besser zu verstehen, was wir bei Tsai am Werk sehen und was wir daraus über die visuellen Arrangements der Kameraführung und Montage der Berliner Schule lernen könnten. »Zunächst«, so Jullien zu Beginn seiner Abhandlung, »wird man es für ein Paradoxon halten: auf das Fade ein Lob anzustimmen, nicht die Würze, sondern das Geschmacklose zu schätzen, heißt unserem unmittelbarsten Urteil zuwiderlaufen, Gefallen daran finden, den gesunden Menschenverstand zu beleidigen. Nun wird aber in der chinesischen Kultur die Fadheit als eine Qualität angesehen. Mehr noch als die Qualität, die Qualität der ›Mitte‹ und des ›Grundes‹ (zhong, ben).« (Jullien 1999: 13) In Julliens Darstellung stellt die Fadheit – das Fehlen von Geschmack, das Fehlen ausgeprägter Unterscheidungen und Geschmackshierarchien, ein Zustand undifferenzierter Kontinuität und Kontiguität – die Grundlage aller Dinge dar, ein Zustand der Fülle, aus der bestimmte Qualitäten, bestimmende Werte und klare Unterscheidungen überhaupt erst hervorgehen können. Der Begriff der Fadheit entwickelte sich historisch vor dem Hintergrund verschiedener Denktraditionen wie dem Konfuzianismus, Dao-

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ismus und Buddhismus und stellte eine ästhetische und ethische Triebkraft dar, die in so unterschiedlichen Kunstformen und Ausdrucksweisen wie Musik, Malerei und Poesie zu finden war. Im Bereich des Klangs diente die Fadheit als Mittel, um die Wahrnehmung der Hörerin nicht nur von der Erregung des In-der-Weltseins und der Bindung des Subjekts an physische Gegenstände zu erlösen, sondern sie von der Umklammerung der Musik selbst zu befreien, von der Art und Weise, wie es Akkorden und Melodien gelingt, Emotionen zu wecken und die Zuhörer/innen in kontinuierliche Muster von Spannung, Erwartung und Entspannung zu verwickeln und dadurch ihre Fähigkeit zu schwächen, sich für das Einfache und Wesentliche zu öffnen. Im Bereich der Malerei, wie sie paradigmatisch im Werk des Landschaftsmalers Ni Zan (1301–1374) verkörpert wird, führt das Streben nach Fadheit zu visuellen Kompositionen, die von jeglicher Intransparenz befreit sind; zu einer Verengung der Farbskala; zu einer gewissen Abflachung des Unterschieds zwischen Vorder-, Mittel- und Hintergrund, die dem Auge ein gemächliches und gleichmäßiges Gleiten über die Schriftrolle ermöglicht; und zu einer Verwendung von Pinselstrichen, die nicht dazu dienen, Spuren und Unterscheidungen sichtbar zu machen, sondern es den Markierungen ermöglicht, eins mit den darzustellenden Formen zu werden. Nichts in Ni Zans Bildern der Fadheit erregt die Betrachterin und strebt danach, ihren Blick zu führen, zu lenken, Aufmerksamkeit zu erregen, zu verführen oder zu fixieren. Alles bleibt stattdessen gedämpft und still, sodass der Betrachter gleichzeitig distanziert, neugierig und offen für das Unerwartete bleibt. Mit Julliens Worten: Bäume am Rand des Uferstrichs, eine Wasserfläche, vage Hügel, ein menschenleerer Pavillon: der Künstler [Ni Zan] hat praktisch sein ganzes Leben lang dieselbe Landschaft gemalt. Keineswegs, so scheint es, aufgrund einer besonderen Zuneigung zu derartigen Motiven, sondern, im Gegenteil, um seine innere Loslösung von allen besonderen Motiven, von allen möglichen Motivationen, besser ausdrücken zu können. Eine eintönige, einfarbige Landschaft, die alle Landschaften in sich enthält, in der sich alles auflöst und wechselseitig aufwiegt. (Jullien 1999: 28) Obwohl er sich dem lokalen Kolorit und einer klaren Präzision der Striche verschrieben hat, fängt Ni Zans Ästhetik der Fadheit eine vermeintliche Ausgewogenheit und Harmonie ein, eine archetypische Verteilung der Elemente, aus der andere Bilder und Landschaften überhaupt erst entstehen können. Die Fadheit stellte für ihn sozusagen einen Urzustand des Seins dar, ein Ideal der Einheit, Stabilität und Homogenität, das nichts anderes bezeichnet als einen Zustand reiner Potenzialität, die Quelle des ständigen Werdens und der Transformation der Welt. Um unterschiedliches Stilempfinden wahrzunehmen und zu unterscheiden, Geschmacksurteile zu treffen und zu bewerten, die Welt zu kartografieren, zu navigieren und sich auf sie einzulassen, muss man zunächst die Einfachheit aller Dinge vor jeder

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möglichen Unterscheidung erfahren. Das geschieht durch einen Zustand der Abgeklärtheit, der nicht durch Langeweile, die durch Unaufmerksamkeit entsteht, oder durch etwas, das nur optisch gefällt, erzeugt wird, sondern im Gegenteil, indem man die zugrunde liegende Vertrautheit aller Dinge wahrnimmt, einschließlich der Kontinuität zwischen Betrachter und Betrachtetem. Fade Bilder erzeugen die überlegene Weisheit fader Zuschauerschaft: eine Form des Schauens, das in der Lage ist, frei durch und in den Bildraum zu wandern; ein Modus des andauernden Sehens, das die wechselseitigen Beziehungen zwischen Betrachter und Betrachtetem erkennt und gerade deshalb die visuelle Aufregung, das affektive Hin und Her, die dramatischen Anforderungen und die erzählerischen Projektionen meidet, die typisch sind für diejenigen, die abwertende Geschmacksurteile, kritisches Urteilsvermögen oder sensorische Erregung als ultimative Vollendung aller ästhetischen Phänomene sehen. Ob Tsai die philosophischen Grundlagen des Konzepts der Fadheit teilt oder nicht, seine Verwendung extremer Totalen und seine Darstellung von Menschen, die in den Raum außerhalb des Bildes hinausschauen, kommt Ni Zans Kompositionen des Undifferenzierten so nahe, wie es bewegte Bilder überhaupt können. Es wäre töricht, das amateurhafte Wandbild in Stray Dogs mit der Kunst des Meisters aus dem vierzehnten Jahrhundert zu vergleichen, aber es hat auf die diegetische Betrachterin eindeutig eine ähnliche Wirkung wie Ni Zans Bilder auf ihr historisches Publikum gehabt haben sollen. Was an ihrem vierzehnminütigen Schauen in höchstem Maße unlesbar bleibt – einschließlich des zeitweiligen Aufwallens bestimmter Emotionen, die sich in ihren Tränen kristallisieren –, ist nichts anderes als das, was ich als einen Akt der faden Zuschauerschaft bezeichnen möchte, wobei das Fade hier nicht als negativ, sondern als Fundament der Wahrnehmung und Erfahrung verstanden werden soll, ein Ort reiner Potenzialität, der es der Frau (ebenso wie uns als ihre Betrachter/-innen) erlaubt, zu sehen, ohne vom Gesehenen eingefangen zu werden, ein Bild zu betrachten, ohne sich von einer erzwungenen Ökonomie der Aufmerksamkeit lenken zu lassen, die Erschaffung des Sehenden und des Gesehenen im Akt des Schauens zu erfahren. »Ich habe kein Problem damit«, bemerkte der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul 2011, »wenn die Leute sagen, dass sie in meinen Filmen einschlafen. Sie wachen auf und können die Dinge auf ihre eigene Art und Weise wieder zusammenflicken« (Carrion-Murayari/Gioni 2011: 14). Die Dauer von Tsais Einstellungen können ähnliche Reaktionen hervorrufen (oder die Zuschauer/-innen ganz aus dem Kinosaal vertreiben oder sie nach der Fernbedienung greifen lassen). Aber am Ende fordern sie die Zuschauer/-innen auf, ähnlich wie bei Apichatpong (den wir hier nach thailändischem Namensgebrauch mit seinem Vornamen bezeichnen), irgendwo entlang der Grenze zwischen Schlaf und Erwachen zu verweilen. Sie rekonstruieren die Geburt des Sehens vor dem Beginn der strukturierenden Unterscheidungen und affektiven Manipulationen, und sie lobpreisen das Fehlen von Willkürlichkeit, Ur-

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teilsvermögen und handelnder Teilnahme als Inspiration, um zu lernen, wie man die Dinge zusammenflicken kann. Unter den Regisseuren und Regisseurinnen und Filmen, die mit der Berliner Schule in Verbindung stehen, kommt das Werk von Angela Schanelec der Logik der faden Bilder und der faden Zuschauerschaft zweifellos am nächsten. Ihre Filme sind nicht ohne Geschmack (wie einige ungeduldige Kritiker sicherlich gerne behaupten), aber sie verzichten eindeutig darauf – um eine kulinarische Metapher zu verwenden –, dem Gaumen der Zuschauer/-innen unterschiedliche Geschmacksrichtungen und intensiv gewürzte Gerichte darzubieten. Ihre Kameraführung bleibt distanziert, ihre Bilder fangen die vielfältigen Zustände der Distanziertheit ihrer Figuren ein, als ob die Aufnahme auf keinen Fall jemals eine bestimmte Ansicht oder einen bestimmten Standpunkt privilegieren sollte, als ob jede Aufnahme, gerade indem sie das Off nicht zeigt, die Rolle des Offs als Bedingung für die Möglichkeit aller Bilder erkennen lässt. In Schanelecs Ästhetik des Faden verlangen Bilder weder allzu viel von ihren Betrachtern und Betrachterinnen, noch sind sie so gestaltet, dass die Betrachter/-innen sie als etwas zu Wünschendes erfahren. Genauso wie die gestelzte Sprache ihrer Figuren den gegenwärtigen Druck »zur Teilnahme an expressiver, psychologisierender Kommunikation« untergräbt – wie Marco Abel überzeugend argumentiert (2013: 124) -, preisen Schanelecs lange Einstellungen und Bilder von Menschen, die ins Off blicken, die Fadheit als nicht ausbeuterische und scheinbar unfokussierte Form des Sehens, die als Gegengift gegen die Hektik und erzwungene Wachheit der zeitgenössischen visuellen Kultur dienen kann. In Schanelecs Orly finden wir eines der aufschlussreichsten Beispiele für den faden Blick jenseits von Taipeh. Zwei deutsche Rucksackreisende (Lina Falkner, Jirka Zett), die auf ihr Flugzeug warten, klicken sich durch die Bilder seiner CanonDigitalkamera, die er während des Aufenthalts in Paris aufgenommen hat. Jedes Bild zeigt seine Freundin auf einer Steintreppe sitzend, doch die eher dezentrierte Bildkomposition lässt sie – zu Recht – fragen, ob er eher versucht hat, sie oder die Treppe zu fotografieren. Als seine Freundin ihn auffordert, ein Baby zu fotografieren, das sich in der Nähe befindet und von einer Frau im Arm gehalten wird, weigert er sich kategorisch. »Ist dir das peinlich?«, fragt sie ihn. Darauf antwortet er: »Es ist penetrant«, ein Wort, dessen lateinisches Original ein starkes Überschreiten gegebener Grenzen impliziert. Doch er steht dennoch auf, schlendert in die Mitte der Wartehalle, schießt scheinbar einige Bilder in eine andere Richtung, richtet dann die Kamera in die Richtung, aus der er gekommen ist, und schließlich – als ob nichts passiert wäre – schlendert er in wieder eine andere Richtung weiter. Der nächste Schnitt zeigt eine Nahaufnahme von ihm, sein Auge auf den Sucher der Kamera gerichtet, aber sein Finger zögert, auf den Auslöser zu drücken. Nach einem weiteren Schnitt schauen wir auf das Display seiner Kamera. Sie zeigt ein Bild, auf dem wir zunächst kaum das Baby erkennen können, das nun von ei-

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nem Mann gehalten wird. Erst nachdem er im Bild heranzoomt, können wir mit einiger Klarheit und Differenzierung erkennen, was vermutlich das Objekt seines Fotos sein sollte. Als nächstes blättert er vorwärts zu zwei weiteren Bildern, die er nach der Aufnahme des Mannes mit dem Baby aufgenommen hat. Das eine zeigt die Wartehalle und eine Menschenmenge in Bewegung. Das andere zeigt – zu seiner eigenen Überraschung, wie es glaubhaft erscheint – das Abbild einer anderen Reisenden, der er zu einem früheren Zeitpunkt des Films begegnet war, mit der er aber keinen Augenkontakt hergestellt hatte. Er zoomt auch in dieses Bild herein, isoliert sie sozusagen von der umgebenden Menge, schaut sich dann um, als ob er die Frau irgendwo in der Lounge ausfindig machen könnte, und kehrt schließlich zu seiner Freundin zurück, die ihm nach der Inspektion seiner Kamera mit wenig Begeisterung für das dankt, was er als unaufdringliches Bild des Babys anbieten kann (Abb. 10.3).

Abbildung 10.3: Angela Schanelec, ›Orly‹ (2010)

Da Orly nahe Paris liegt, ist es verlockend, diese Sequenz als eine umgekehrte Reinszenierung von Walter Benjamins berühmter Analyse von Baudelaires Gedicht »A une passante« zu betrachten (Benjamin 1974a: 618–24). Für Benjamin beruht die Begegnung zweier Fremder in einer flüchtigen Menge auf der modernen Figur des Schocks und inszeniert Baudelaires modernistische Fähigkeit, dem Vergänglichen etwas Ewiges zu entreißen. Bezeichnenderweise bietet es ein paradigmatisches

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Beispiel dafür, wie das moderne Leben die Sinnessysteme des Subjekts neu strukturiert; wie das Fließen der städtischen Existenz die Funktionsweise des menschlichen Sehens nach dem Vorbild der fotografischen Bilderzeugung neugestaltet und urbane Subjekte dazu auffordert, ihre Wahrnehmung gegen die durchdringende Wucht der visuellen Überreizung zu wappnen. Zunächst erinnert der Fotograf bei Schanelec an Benjamins geliebte Figur des Flaneurs; er tut jedoch alles, um sich nicht dem geschärften Sinn für das Ungewöhnliche des Flaneurs des 19. Jahrhundert hinzugeben. Was wir stattdessen sehen, ist ein scheinbar paradoxer Versuch, ein unbeabsichtigtes Sehen zu beabsichtigen; das Abdriften als Voraussetzung für müheloses Schauen bewusst zu erzeugen; Bilder einzufangen, die die Wahrnehmung der Betrachter/-innen nicht festhalten oder leiten, sondern die die Möglichkeit eröffnen, das zu sehen, was über Erwartung, Konvention und Zweck hinausgeht. Auch wenn diese Bilder für manche (wie seine Freundin) einfach als langweilig und nicht gelungen gelten mögen, so streben sie doch nichts weniger an, als die Potenzialität der Fadheit, den Reichtum des Unbestimmten zu veranschaulichen. Sie lehnen Benjamins Betonung des Schocks und des kritischen Sehens als Ordnungsprinzipien der modernen visuellen Praxis ab, während sie gleichzeitig eine Logik des Bildausschnitts verfolgen, die die Kontinuität und Kontiguität zwischen dem Sichtbaren und dem Off anerkennt. Indem sie sich darum bemühen, die Welt aus einer Perspektive der Distanzierung zu zeigen, laufen seine Bilder zweifellos Gefahr, einige ihrer Betrachter/-innen einzuschläfern. Aber gerade dadurch laden sie andere Betrachter/-innen dazu ein, gemächlich ihre Oberfläche zu erkunden – mit aufmerksamem Blick und ohne aufdringlich in eine bestimmte Richtung gelenkt zu werden. Was Schanelecs namenloser Fotograf in Orly also als Unaufdringlichkeit seiner Bilder versteht – ihre Weigerung, Sphären zu verletzen und Grenzen zu überschreiten –, stellt nichts weniger dar als das Bemühen, Medienbilder wieder dem Unbekannten zu öffnen: Die Welt so einzufangen, als ob menschliche Willkürlichkeit, Intentionalität und Begehren das visuelle Feld noch nicht organisieren. Seine Bilder verzichten darauf, Unterscheidungen zu treffen und ausdrückliche Urteile zu fällen, sie weigern sich so weit wie möglich, das Sichtbare zu strukturieren und den Blick der zukünftigen Betrachter/-innen zu lenken, nicht um die unvermeidbare Fadheit aller Dinge zu deklarieren, sondern um das Undifferenzierte als die gemeinsame Basis von sowohl Betrachter als auch Betrachtetem zu preisen, als Bedingung für die Möglichkeit, um überhaupt Bilder zu produzieren und um Bildern mit einem Gefühl der Überraschung, Neugierde und Verwunderung zu begegnen. Ähnlich wie die Langeweile in Siegfried Kracauers Lektüre das moderne Subjekt darauf vorbereitete, »Beglückungen [zu erfahren], die nahezu unirdisch sind« (Kracauer 1995: 324), so rekonstruiert die Ästhetik der Fadheit des Fotografen – und das, so können wir annehmen, gilt im weiteren Sinne auch für Schanelec – einen Zustand vor der Unterscheidung von Subjekt und Objekt, Betrachter und Be-

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trachtetem, Ausdruck und Darstellung, Bild und Wirklichkeit – ein Zustand, der es uns erlaubt, die Dinge so zu betrachten, als ob wir unsere Augen zum ersten Mal öffnen würden, als ob weder Erinnerung und Erwartung noch Wunsch und Vorfreude uns nach souveräner Beherrschung des Sinnlichen streben ließen. Ich verstehe dieses Bestreben, nicht-penetrante Bilder zu produzieren – Aufnahmen, in denen das Fade eine Tür öffnet, um die reiche Potenzialität aller Dinge zu erfahren –, als eine kritische Antwort von Schanelec und vielen Filmemachern und Filmemacherinnen der Berliner Schule auf das hektische Multitasking des Publikums der Gegenwart. Spröde und distanziert verunsichern uns diese Bilder in einer Welt, in der wir uns nicht mehr von Bildern in die Irre führen lassen können, damit sie uns das Unbekannte eröffnen können. Sie reiben sich an den allgegenwärtigen Ökonomien der Aufmerksamkeit, in deren Kontext wir Bilder als bloße Werkzeuge benutzen und uns von Medienbildern als Werkzeuge benutzen lassen. Sie heben die Strukturen einer Welt aus den Angeln, die uns auffordert, alles der Logik der Monetarisierung zu unterwerfen, und Momente der Stille als Scheitern anprangert, den Anforderungen der unaufhörlichen Selbstoptimierung gerecht zu werden.

III. Im Sommer 2015 wurde Tsai Ming-liangs Stray Dogs als Videoinstallation im Guangdong Times Museum in Guangzhou, China, gezeigt und damit den oft kontingenten und unvorhersehbaren Rezeptionspraktiken eines Museumspublikums ausgesetzt. Tsai selbst beschrieb die Präsentation von Stray Dogs im Galerieraum nicht nur als Strategie, die Reichweite des Films zu erweitern, sondern mehr noch als eine Untersuchung dessen, was heute als Film gelten könnte: Ich glaube, dass die Museumsversion von Stray Dogs eine Befreiung des Films ist. Der Film ist nicht mehr ein Produkt, das dem Geschmack und den Wahrnehmungen des Publikums unterworfen ist. Er ist ein Kunstwerk und trägt die Handschrift eines Künstlers. Gleichzeitig haben die Künstler das Recht, über die Art und Weise des Zugangs zu ihren Werken zu entscheiden. Ohne das Kino gibt es keine festgelegte Dauer, kein Popcorn, kein Sofa, keine Regelung der Raumtemperatur, keine Handlungslinien, keine Genres, keine Aufführung … Jede einzelne Aufnahme, egal ob 3 Minuten, 10 Minuten oder sogar eine halbe Stunde lang, kann als in sich geschlossener Film betrachtet werden. Daher ist Stray Dogs im Museumsraum gleichzeitig sowohl eine Sammlung von Kurzfilmen als auch ein zusammenhängender Langfilm. Er soll zeigen, dass Filme mit großer Flexibilität gezeigt werden können. Die Filmkunst ist komplex, da ihre räumliche und zeitliche Dimension sich sehr von der Installationskunst unterscheidet. Wir müssen die Besonderheit

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des Films und die Stärke des Mediums hervorheben, so dass man sich vielleicht fragt: »Was genau ist ein Film?«1 Ähnlich wie Filme wie Apichatpongs Syndromes and a Century (2006) und Tsais eigener Goodbye, Dragon Inn könnte man sagen, dass Stray Dogs bereits mit Blick auf eine Galerie- oder Museumssituation entworfen wurde (Kim 2010: 125–41). Das Fehlen eines ausgeprägten Erzählbogens und die komplizierte Komposition jeder einzelnen Einstellung scheint den Film als ein Objekt zu situieren, das sich ideal für Zuschauer/-innen eignet, die zeitlich flexibel agieren möchten; der langsame Bilderfluss des Films scheint solche Zuschauer/-innen vorwegzunehmen, die unabhängig von der Gesamtlänge der Arbeit eine bestimmte Installation betreten und wieder verlassen möchten, um sich einer anderen der ausgestellten Arbeiten zuwenden. In Goodbye, Dragon Inn hatte Tsai tatsächlich die Anforderungen einer umherschweifenden Zuschauerschaft in einem Kinofilm untersucht – das, was Gabriele Pedullà das Betrachten von bewegten Bildern am »helllichten Tag« (Pedullà 2012) und Kate Mondloch das »forschende Ausharren beim Betrachten von galeriebasierten Medieninstallationen« (Mondloch 2010: 41)2 nennen. Der Film spielt in einem alten Filmpalast in Taipeh, der kurz vor der Schließung steht, und folgt einer Handvoll Zuschauer/-innen, die einerseits durch die höhlenartigen Räume und Gänge des Theaters irren, andererseits mit einer gewissen Intensität einen Martial-Arts-Film auf der Leinwand verfolgen, als hätten die klassischen Regelwerke für das bewegungslose und stumme Schauen bereits ihre Normativität verloren und wären durch ein neues Regime des mobilen, zeitlich bedingten und von Natur aus disruptiven postkinematischen Sehens ersetzt worden. Obwohl einige Aufnahmen des Films die Zuschauer/-innen in einer Position des scheinbar versunkenen Schauens zeigen, schreibt die antinarrative Ästhetik von Stray Dogs das Interesse des Regisseurs an postklassischen Formen des Sehens in das Zentrum der filmischen Form ein und reinszeniert so die zunehmende Unentschlossenheit zwischen Black Box und White Cube, Filmprojektion und Museumsausstellung, die auch für andere asiatische Filmemacher/-innen und bildende Künstler/-innen des letzten Jahrzehnts wie Apichatpong und Kiarostami charakteristisch ist. Ich werde in der Folge die Resonanzen untersuchen zwischen den Bemühungen des asiatischen Autorenfilms, das Kino über die klassische Projektion im Filmtheater hinaus zu erweitern, und dem Anliegen der Berliner Schule hinsichtlich der Komplexität dessen, wie heute Zeit und Raum beim Betrachten von Filmen organisiert sind. Obwohl es verlockend ist, die Ausstellungsarbeiten von Benjamin Heisenberg zu diskutieren oder zu untersuchen, inwieweit Schanelecs Filme

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Vgl. hier https://www.e-flux.com/announcements/tsai-ming-liang/ (letzter Zugriff 22.6. 2022). Vgl. auch Uroskie 2014.

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– wie Tsais – auf der Ebene der filmischen Form die Dynamiken der Rezeption von Installationen emulieren, werde ich mich auf die letzte Szene von Ulrich Köhlers Bungalow (2002) konzentrieren und wie seine allegorische Behandlung des mobilen Schauens der Ästhetik der Fadheit, die in der ersten Hälfte dieses Aufsatzes diskutiert wurde, wichtige Aspekte hinzufügt. Um diesen argumentativen Schritt effektiv vorzubereiten, ist jedoch ein kurzer Exkurs notwendig, der das hervorheben soll, was die deutsch-japanische Künstlerin, Filmemacherin und Theoretikerin Hito Steyerl die Politik der postindividuellen Zuschauerschaft und Aufmerksamkeit nach dem Untergang des klassischen Kinos genannt hat (Steyerl 2012). Um den häufigen Klagen entgegenzutreten, dass die heutigen Museen, Galerien und anderen Ausstellungsräume mehr bewegte Bilder anbieten als einzelne Besucherinnen überhaupt anschauen könnten, und damit aktiv umherschweifende Formen der Zuschauerschaft fördern, plädiert Steyerl dafür, den Begriff der Zuschauerschaft auf eine neue Ebene zu heben und die Idee des monadischen Zuschauers, der versucht, jedes einzelne Werk in seiner Gesamtheit zu erfassen, aufzugeben. In der gleichen Weise, wie filmische Praktiken in unserer von Medien gesättigten Welt postrepräsentativ geworden ist, so ersetzt die gegenwärtige Kunst des Bewegtbilds den souveränen Blick der klassischen Zuschauer/-innen durch unvollständige, fragmentierte, mobile und gemeinschaftliche Sehgewohnheiten. In der heutigen neoliberalen Ökonomie der Aufmerksamkeit muss das Betrachten als eine Form der Arbeit, als eine Art der Wertproduktion neu konzipiert werden, in der die Objekte als solche durch eine Vielzahl von Blicken gesehen und konstituiert werden, durch verschiedene Standpunkte, die sich gegenseitig ergänzen, auch wenn eine einzelne Betrachterin nie Vollständigkeit oder Auflösung erreichen kann: »Das Kino im Museum erfordert also einen multiplen Blick, der nicht mehr kollektiv, sondern gemeinschaftlich ist, der unvollständig, aber in Bearbeitung ist, der abgelenkt und singulär ist, aber in immer wieder neuen Sequenzen und Kombinationen verknüpft werden kann. Dieser Blick ist nicht mehr der Blick des individuellen souveränen Meisters, besser gesagt, eines Souveräns, der sich der Selbsttäuschung hingegeben hat […] Er ist nicht einmal mehr das Produkt der gemeinschaftlichen Arbeit, sondern konzentriert seine Bruchstelle auf das Paradigma der Produktivität.« (Steyerl 2012: 23) Es ist mittlerweile zum Alltag geworden, die Verlegung des Kinos in die Museen als Verlust an Sehintensität und zeitlicher Festlegung zu beklagen: eine offene Einladung an ungeduldige Zuschauer/-innen, dem Schaufensterbummel und dem Zappen zwischen den Fernsehprogrammen mithilfe des kulturellen Prestiges des Museums zu überhöhen. Steyerls Polemik gibt uns eine andere Perspektive und öffnet unsere Augen für die Erkenntnis, dass Kino im Museum eine Erweiterung dessen sein könnte, was wir im ersten Abschnitt dieses Essays als fade Zuschauerschaft bezeichnet haben. Bildschirm- und projektionsbasierte Installationskunst zu betrachten, bedeutet, die klassischen Konzepte der Zuschauerschaft aufzuge-

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ben, die die Betrachter/-innen aufforderten, ihren Blick, ihre Zeit, ihren Raum, ihre Körper und ihre Wahrnehmung dem autoritativen Fluss der Bilder auf der Leinwand zu unterwerfen. Es bedeutet, das Konzept aufzugeben, das die normativen Modelle der Vorführung im Filmtheater es den Filmen auf der Leinwand erlaubten, uns zu »ergreifen«, egal ob sie uns auf eine eskapistische Phantasiereise mitnehmen oder unsere Kritikfähigkeit anregen sollen. Das Kino im Museum zu erleben, bedeutet stattdessen, bewegte Bilder als Teil einer Landschaft zu betrachten; einen Raum, der Betrachter und Betrachtetes in der Zeit gemeinsam konstruiert; eine gemeinschaftliche Ökologie der Aufmerksamkeit, die die affektive Erregung herunterspielt und die Betrachter/-innen dazu ermutigt, frei zwischen Architekturund Projektionsraum umherzuschweifen. Das Kino im Museum wertet die Fadheit gegenüber dem emotionalen Hin und Her der Rezeption im Filmtheater auf, nicht um die Zuschauer/-innen vollständig loszulassen, sondern um Zustände relativer Loslösung als Grundlage zu nutzen, um verschiedene Standpunkte aufzuzeigen, andere Menschen beim Beobachten zu beobachten, den Prozess und die Performativität der Zuschauerschaft als Teil eines gemeinsamen Guts zu untersuchen und dadurch die Logik der hyperaktiven und strategischen Selbst-Administration zu unterbrechen, die den Großteil der heutigen visuellen Kultur rund um die Uhr antreibt. Im wundersamen Ende von Ulrich Köhlers Bungalow ist das Filmemachen der Berliner Schule vielleicht der Vorstellung am nächsten gekommen, nicht nur darüber nachzudenken, was es bedeuten könnte, den Film aus seinem traditionellen Habitat herauszuholen, sondern auch, wie man die Fadheit umherschweifender Zuschauer/-innen als Chance und nicht als Verlust betrachten könnte.3 Wie die Antihelden in Tsais Filmen ist der Protagonist von Köhlers Film, Paul (Lennie Burmeister), zweifellos ein »streunender Hund«: Ein junger Soldat, der ohne ersichtlichen Grund sein Regiment verlässt und sich in den Bungalow seiner Eltern zurückzieht. In der Schlusssequenz schläft Paul mit Lene, der Freundin seines Bruders (Tryne Dyrholm), in einem unscheinbaren Hotelzimmer, weniger um eine überwältigende Lust zu stillen, sondern einfach nur, um das fade Verstreichen der Zeit zu markieren. Die letzte Einstellung des Films – eine dreiminütige, aufwendig choreografierte, aber mit einer statischen Kamera aufgenommene Einstellung – beginnt damit, dass Paul nachdenklich aus dem Hotelfenster schaut, woraufhin ein Schnitt folgt, von dem wir zunächst annehmen müssen, dass das folgende Bild seine Perspektive zeigt: Der Blick durch das Hotelfenster, dessen Rahmen nicht mehr sichtbar ist, und der die Betrachterin als distanzierte Zeugin der komplexen

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Für eine detailliertere Analyse dieser Sequenz vgl. mein Kapitel über »Long Takes« in Berlin School Glossary: An ABC of the New Wave in German Cinema (Bristol, UK: Intellect, 2013); und Kapitel 1 meiner Monografie The Long Take: Art Cinema and the Wondrous (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2017).

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Scharade von Körpern, die sich im Laufe der nächsten Minuten entfalten wird, positioniert. Zunächst sehen wir Pauls Bruder Max (Devid Striesow) und Lene in einem Auto ankommen, daraufhin einen Armee-Jeep, dessen zwei uniformierte Passagiere zum Hotel gehen, während Max ihnen dicht dahinter folgt. Sobald sie das Bild verlassen haben, kommt Paul plötzlich ins Bild, nähert sich zuerst Lene, geht dann zum Jeep hinüber, während ein riesiger Tanklastwagen ins Bild kommt und die Sicht auf den Jeep und Paul verdeckt. Der Film endet damit, dass Max und die Soldaten zurückkommen, der Tanklastwagen wegfährt, die Soldaten in ihr Fahrzeug steigen und in die entgegengesetzte Richtung fahren, Max und Lene bewegungslos die beiden Fahrzeuge beobachten, wie sie das Bild verlassen – und wir als Zuschauer/-innen in einem Zustand der kompletten Verwunderung über Pauls genauen Aufenthaltsort verbleiben (Abb. 10.4). Trotz der analytischen Distanz und des theatralisch inszenierten Tableaus lässt die letzte Einstellung von Bungalow mehr Fragen über das Ende des Films offen, als sie zu beantworten bereit ist. Wichtiger für unseren Kontext sind hier jedoch zwei Aspekte. Zum einen inszeniert die Szene allegorisch das Fade in all seiner Distanziertheit als Voraussetzung für die Möglichkeit, mit dem Blick innerhalb des Bildraums und ihm gegenüber frei umherzuwandern. Das »Bild«, das Paul zunächst durch den Fensterrahmen betrachtet, enthält nur wenig, um den Blick des Betrachters einzufangen, zu lenken oder zu verführen. Ähnlich wie die mobilen Zuschauer/-innen einer Videoinstallation – des Kinos jenseits des Filmtheaters – betritt Paul den Raum des Bildes, erforscht ihn als Handlungsrahmen und scheint beim Umherstreifen in dieser »Landschaft« auf eine Tür zum Unerwarteten, Unvorhergesehenen und Wunderbaren zu stoßen. Paul verschwindet buchstäblich im Bild wie der chinesische Maler in Benjamins berühmter Anekdote (Benjamin 1974a: 465). Anstatt den Guckkasten der rechteckigen Kinoleinwand zu betrachten, lässt Paul sich vom visuellen Feld absorbieren, indem seine anfängliche Fadheit – das Fehlen klarer Unterscheidungen und verlockender Eindrücke – genau das Portal öffnet, das man braucht, um den Bereich des Sinnlichen neu aufzuteilen. Zum anderen lenkt Köhlers Choreografie zu Beginn der Aufnahme, als er die Zuschauer/-innen an die Stelle von Pauls beobachtenden Blick setzt, unser Bewusstsein auf nichts Geringeres als den vielfältigen, gebrochenen und beweglichen Blick des Kinos jenseits des Filmtheaters. Als Zuschauer/-innen können und sollen wir Paul nicht folgen und erleben deshalb unseren eigenen Blick auf das, was sich vor dem Hotel abspielt, als notwendigerweise unvollständig und fragmentiert, entleert von allen Hinweisen, die nötig sind, um die Herrschaft über das Bild zu übernehmen. Wir sind nur eine unter anderen möglichen Zuschauerperspektiven, unser Blick unterscheidet sich grundlegend von dem, wie Paul selbst den Bildraum navigiert, wobei sich alle diese Blicke ergänzen, ohne jemals eine totalisierende Darstellung des Geschehens zu erzeugen.

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Abbildung 10.4: Ulrich Köhler, ›Bungalow‹ (2003)

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Wir werden gleichzeitig von der Aufnahme weggestoßen und in sie hineingezogen und schweben dadurch zwischen einer Haltung der abgekoppelten Distanziertheit und der projektiven Auseinandersetzung, der Erfahrung des Sehens als etwas Individuellem und als etwas Gemeinschaftlichem. Obwohl wir scheinbar gleichgültig und distanziert sind, trifft uns doch ein tiefes Gefühl des Staunens über diese Aufnahmen, die uns selbst als umherschweifende Zuschauer/-innen zeigen. Es ist im Lichte dieses Staunens – verstanden als etwas, das uns unerwartet und ungeplant geschieht, aber auch ohne unsere Sinne zu schockieren oder zu überwältigen –, dass wir ein Schauen erfahren, das nicht länger der Blick des einzelnen souveränen Meisters ist, ein Schauen, das von den für unsere neoliberale Gegenwart so typischen Erfordernissen des strategischen Selbstmanagements und der unternehmerischen Aufregung entfernt ist.

IV. In seiner Analyse der verschiedenen Register der traditionellen chinesischen Ästhetik der Fadheit beschreibt François Jullien einen faden Ton als […] eine Abschwächung, die sich immer weiter zurückzieht und die man so langsam wie möglich verklingen lässt. Noch hört man ihn, doch kaum; indem er immer weniger wahrnehmbar ist, lässt er das stumme Jenseits, in dem er sich verlieren wird, immer stärker spürbar werden; was er hören lässt, ist seine eigene Auslöschung, seine Rückkehr in den großen ungeteilten Grund. Sich zerstreuend gewährt er uns schrittweise Zugang vom Hörbaren ins Unhörbare und lässt uns den – kontinuierlichen – Übergang von einem zum anderen Nachempfinden; […] (Jullien 1999: 85). Die Erfahrung von Unterschieden in Geschmack und Bedeutung, die Kunst des Wahrnehmens und Unterscheidens erfordert unsere Vertrautheit mit und Offenheit gegenüber dem Faden und Ununterscheidbaren, demjenigen, das weder einfängt noch überwältigt. Die Ästhetik des Fadens, das an der Grenze zwischen dem Hörbaren und dem Unhörbaren schwebt, trägt ein zutiefst ethisches und, wenn man so will, auch politisches Projekt mit sich: Sie bietet die Grundlage dafür, um zwischen Dingen, die wichtig sind, und anderen, die es nicht sind, zu unterscheiden, einen Übungsraum für nuancierte Formen der Aufmerksamkeit, die im Widerspruch zu den herrschenden Ökonomien der Aufmerksamkeit stehen. Verstanden als eine Überarbeitung des Regimes der sofortigen Verfügbarkeit rund um die Uhr, der undifferenzierten Überreizung und der hyperaktiven Selbstoptimierung, gehört das Lob der Fadheit ebenso zur Ästhetik der langen Einstellung, die das zeitgenössische ostasiatischen Kunstkino mit vielen Arbeiten der Regisseure und Regisseurinnen der Berliner Schule wie Schanelec, Köhler, Arslan

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und anderen teilt. In ihren Filmen geht es sowohl um eine Ästhetik als auch eine Politik des gedämpften Sehens und Hörens, die die Zuschauer/-innen einlädt, an den Rand dessen zu gehen, wo das Sichtbare und das Hörbare vor dem eigenen Aussterben stehen. Auch wenn sie vielleicht nicht die gleichen konzeptuellen Ambitionen teilen, erlauben es ihre Arbeiten es den Betrachter/-innen, bewegte Bilder als etwas gerade noch Sichtbares, Hörbares und sinnlich Erfahrbares zu erleben; sie positionieren ihre bewegten Bilder an Orten des Übergangs, dort wo zwischen Bewegung und Stillstand, Betrachter und Betrachtetem, Bild und Körper noch nicht unterschieden werden kann. Egal ob die Filme (institutionell oder formal) für die schweifenden Blicke zeitgenössischer Galeriebesucher/-innen produziert worden sind oder an den normativen Arrangements des klassischen Kinoraums festhalten, sie bemühen sich, die mit der visuellen Kultur verbundene Wahrnehmungsarbeit und Wertproduktion der Zuschauerschaft in den heutigen Medienökonomien neu zu kalibrieren. Fadheit zu zelebrieren, bedeutet an dieser Stelle, die Stille und das Verblassen von etwas ins Nichts und wieder zurück, (neu) zu entdecken, um der Ungeduld des zeitgenössischen Publikums etwas entgegenzusetzen. Ebenso bedeutet es, das Programm von Kritikalität, das im 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielte und das Aktive gegenüber dem Passiven, die Interaktivität gegenüber der Rezeption aufwertete, zu ersetzen. Die Transzendenz der Fadheit, so Jullien, »mündet nicht in einer anderen Welt, sondern wird vom Modus der Immanenz selbst erlebt« (1999: 180). Fade Bilder, Töne und Texte erschließen die Leere, jedoch nicht um einen neuen Glauben und religiöse Erlösungsfantasien zu fördern, sondern um neu zu definieren, was es bedeutet, in der Welt zu sein, und was es bedeutet, sich innerhalb der gemeinsamen Parameter des Sinnlichen zu bewegen. So unerträglich die Länge der Aufnahmen von Tsai und Schanelec, Apichatpong und Köhler und das Verhältnis dieser Aufnahmen zum Off manchmal auch sein mögen: Gemeinsam ist ihnen nichts weniger als die Vision eines Kinos, das die Monetarisierung und Fragmentierung der Aufmerksamkeit im 21. Jahrhundert rückgängig machen kann. Gemeinsam ist ihnen der Glaube an die Macht eines Kinos, das in der Lage ist, das chaotische Elend, das heute jenseits von Berlin – sowohl östlich als auch westlich – herrscht, zu überwinden.

Literaturverzeichnis Abel, Marco (2013): The Counter-Cinema of the Berlin School, Rochester, NY: Camden House. Armstrong, John (2000) Move Closer: An Intimate Philosophy of Art, New York: Farrar, Straus and Giroux. Carrion-Murayari, Gary/Gioni, Massimiliano (Hg.) (2011): Apichatpong Weerasethakul, New York: New Museum.

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Crary, Jonathan (2014): 24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus, aus dem Engl. von Thomas Laugstien, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin. Hochhäusler, Christoph (2013): »On Whose Shoulders: The Question of Aesthetic Indebtedness«, in: Roy, Rajendra/Leweke, Anke (Hg.), The Berlin School: Films from the Berliner Schule, New York: Museum of Modern Art, S. 20–29. Jullien, François (1999): Über das Fade. Eine Eloge. Zu Denken und Ästhetik in China, aus dem Französischen von Andreas Hiepko und Joachim Kurtz, Berlin: Merve Verlag. Kim, Jihoon (2010): »Between Auditorium and Gallery: Perception in Apichatpong Weerasethakul’s Films and Installations«, in: Galt, Rosalind/Schoonover, Karl (Hg.), Global Art Cinema: New Theories and Histories, Oxford: Oxford University Press. Kracauer, Siegfried (1977): »Langeweile«, in: Das Ornament der Masse – Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 321–25. Mondloch, Kate (2010): Screens: Viewing Media Installation Art. Minneapolis: University of Minnesota Press. Pedullà, Gabriele (2012): In Broad Daylight: Movies and Spectators after Cinema, London: Verso. Steyerl, Hito (2012): The Wretched of the Screen. Berlin: Sternberg Press. Uroskie, Andrew V. (2014): Between the Black Box and the White Cube: Expanded Cinema and Postwar Art. Chicago: University of Chicago Press. Walter Benjamin (1974): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, Teil 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 433–469. Walter Benjamin (1974a): »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, Teil 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 605–653.

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11 Die Politik der Berliner Schule und darüber hinaus Terrorismus, Verweigerung und Trägheit Chris Homewood

Hunger (2008), der Debütfilm des britischen Regisseurs, Produzenten, Drehbuchautors und Videokünstlers Steve McQueen, schildert das Leben im Maze Prison, einem Hochsicherheitsgefängnis in Nordirland, kurz vor und nach dem berüchtigten Hungerstreik der Provisional Irish Republican Army (IRA) von 1981 unter der Führung des Anführers Bobby Sands. Der Film gewann nicht nur die prestigeträchtige Caméra d’Or in Cannes, sondern wurde auch von der internationalen Kritik dafür gefeiert, dass er tiefgründig die Wechselbeziehung zwischen Widerstand, Verzweiflung und dem menschlichen Körper erforscht. So applaudiert Peter Bradshaw im Guardian McQueen dafür, dass er es vermeide, auf emotionale Identifikation zu setzen, und es ablehne, die traditionellen liberal-versöhnlichen Gesten des Dialogs, des dramatischen Konsenses und der erzählerischen Auflösung zu mobilisieren (Bradshaw 2008), während Roger Ebert den »gnadenlosen Realismus« lobt, der die knappe Laufzeit des Films von dreiundneunzig Minuten beherrscht (Ebert 2009). Diese Beschreibung einer schonungslos realistischen und gleichzeitig experimentellen Herangehensweise an das Filmemachen, das sich filmischen Klischees verweigert und sich gegen die Art kathartischer Erzählungen verwehrt, die Konsumenten und Konsumentinnen des Mainstream-Kinos trainiert wurden zu erwarten, stimmt mit dem ästhetischen Ansatz überein, dem die Berliner Schule anhängt. In diesem Kapitel betrachte ich daher Hunger im Verhältnis zu zwei Filmen von Regisseuren der Berliner Schule: Christian Petzolds Die innere Sicherheit (2000) und Christoph Hochhäuslers Falscher Bekenner (2005). Für Zuschauer/-innen, die mit diesen Filmen bereits vertraut sind, wird meine Entscheidung, Hunger mit Die innere Sicherheit zu vergleichen, wenig überraschend sein. Genauso wie McQueens Arbeit thematisiert Petzolds Film innerstaatlichen Terrorismus, allerdings im kulturellen Kontext Deutschlands in Form der Roten Armee Fraktion (RAF), der linksextremen paramilitärischen Vereinigung, die die Bundesrepublik als eine kaum verschleierte Fortsetzung Nazi-Deutschlands betrachtete, gegen die mit gewaltsamen Mitteln Widerstand geleistet werden müsse. Meine Entscheidung für Falscher Bekenner ist vielleicht eine weniger offensichtliche Wahl, da dort nicht der Terroris-

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mus an sich, sondern die durch den neoliberalen Finanzkapitalismus geschaffenen Bedingungen, wie Subjektivität konstruiert wird, im Fokus stehen. Aber obwohl die direkte Bezugnahme auf den (inzwischen globalen und nicht mehr nationalen) Terrorismus in Hochhäuslers Film möglicherweise weniger spürbar ist, bleibt er dennoch ein wahrnehmbares Phänomen und spielt eine bedeutende Rolle, die sich als mit der neoliberalen Ära eng verbunden herausstellt. Obwohl also der Terrorismus das übergreifende Thema ist, verbindet diese drei Filme am ehesten, dass ihre Figuren die Einschränkungen nicht akzeptieren, die ihnen ihrer Meinung nach von den hegemonialen Strukturen auferlegt werden. Die unterschiedlichen Qualitäten dieses Dagegenseins umfassen das ganze Spektrum von aktivem, gewalttätigem Widerstand auf der einen Seite bis zur passiven Bartleby’schen Verweigerungshaltung – wie vor allem Marco Abel (2013: 20) und Roger F. Cook (2013b: 89) identifiziert haben – auf der anderen. Kurz: von der gewaltsamen Kampfansage an politische Systeme, die als unterdrückend empfunden werden, bis hin zu leiseren Formen der Opposition, die die Absicht hat, die Werte der neoliberalen Wirtschaftsorthodoxie zu untergraben, versuchen die Protagonisten und Protagonistinnen dieser Filme, das, was sie als den unerschütterlichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Status quo wahrnehmen, zu sprengen und sich selbst (oder ihre Gruppe) zu befreien. Bevor ich jedoch die Filme selbst behandele, möchte ich das Konzept der Trägheit als ein wichtiges organisierendes Element dieses Textes vorstellen. Im weiteren soziologischen Sinne bezieht sich Trägheit auf eine Tendenz, nichts zu tun oder sich nicht zu verändern, eine Tendenz zur Untätigkeit. Trägheit beschreibt aber auch die jeweiligen Gegenbewegungen »zwischen Stillstand und Bewegung, Stocken und Fließen, Sein und Nichtsein« (Donald 2013: 11). In ihrer abschließenden Ausformulierung ist Trägheit durch »eine Stille, die den Tod impliziert« gekennzeichnet (1). Trägheit kann zu Unsicherheit und damit zu Unentschlossenheit führen, aber sie kann auch (auf perverse Weise) dynamisch sein. Die Reaktionen der Figuren in den drei besprochenen Filmen sind motiviert durch ihre (bewusste oder unbewusste) Nichtakzeptanz des bestehenden Zustands, das heißt der sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Trägheit, die ihr Leben durchdringt. In dem Bedürfnis, gegen ihre eigene Interpellation1 (die Appellfunktion der Ideologie, in der sie leben) in Situationen und Systeme aufzubegehren, die individuelle und/oder kollektive Ziele oder ihr Gefühl der Individualität bedrohen, reagieren sie, indem sie den Erhalt des Status quo stören, wenn auch auf unterschiedliche und manchmal paradoxe Weise.

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Valerie Kaussen definiert Interpellation folgendermaßen: »In einem oft zitierten Aufsatz definiert Louis Althusser Interpellation – ›Anrufung‹ als den Prozess, durch den die Individuen sich als Subjekte der gesellschaftlichen Leitideologien verstehen.« (Kaussen 2013: 173) Anm. d. Übersetzerin.

11 Die Politik der Berliner Schule und darüber hinaus

Die Filme sowohl von Petzold als auch Hochhäusler stellen die Macht des Neoliberalismus, menschliche Beziehungen radikal umzustrukturieren, in den Mittelpunkt. Diese Haltung stimmt mit der Position von Ivor Southwood überein, der 2011 aus einer Perspektive nach der Finanzkrise von 2008 beschreibt, wie eine Bevölkerung in der erzwungenen Umklammerung dessen, was er als »NonstopTrägheit« bezeichnet, gefangen ist. Laut Southwood entwickelte sich in den frühen 2000er Jahren, aber noch einmal verstärkt nach der globalen Finanzkrise von 2008/9, »eine überwältigende Verunsicherung und Prekarisierung der Arbeitswelt, der Wirtschaft und der Kultur im Allgemeinen«, die »eine tiefgreifende Lähmung des Denkens und Handelns der neoliberalen Subjekte« verursachte, indem sie sie in einen ruhelosen, jedoch unbestimmten und scheinbar unanfechtbaren Zustand der qualvollen Bewegung versetzt hat. Er fährt fort: Diese ständige Prekarisierung und rastlose Mobilität, verstärkt durch die Abhängigkeit von einer marktorientierten Technologie, die immer wieder neue Versionen auflegt, und vom künstlichen Bilderstrom der digitalen Medien, weisen zusammen auf eine Art kultureller Stagflation hin, auf eine Bevölkerung, die aufgepeitscht wird, ohne dass es je zum Höhepunkt kommt. Das Ergebnis ist eine Art frenetische Untätigkeit: Wir sind in einem Kreislauf der Nonstop-Trägheit gefangen. (Southwood 2011: 11). Für Armin in Falscher Bekenner ist die Antwort auf die Unfreiheit, die von dem neoliberalen Projekt hervorgerufen wird, in konkurrierenden Vorstellungen von Trägheit verwurzelt. Wie ich weiter unten erläutere, ist seine scheinbare Apathie selbst ein Moment des Antagonismus gegen ein System, das von seinen Untertanen unaufhörliche Aktivität verlangt, genauso wie die Art und Weise, wie er Prekarisierung gegen das Regime ausspielt, das diese normalerweise für seine Aufrechterhaltung braucht. Dazu kommt, dass die Idee der »Nonstop-Trägheit« ein nützliches Prisma bieten kann, um die politische Sackgasse im Hunger näher zu beleuchten, obwohl McQueens filmische Spiegelung des Nordirlandkonflikts im Mikrokosmos des Maze Prison von den neoliberalen Ängsten, die die Filme der Berliner Schule durchdringen, unterschieden werden muss.

Hunger: Die trägen Grenzen des gewalttätigen Widerstandes 1976 begann die britische Regierung, den sogenannten Special Category Status schrittweise abzuschaffen, der den irischen Republikanern gewährt wurde, die wegen der »Troubles« (wie die Unruhen in Nordirland genannt wurden) verurteilt worden waren. Verärgert über diese »Kriminalisierung« initiierten die Gefangenen, die in den berüchtigten H-Blocks des Maze Prison inhaftiert waren, Demonstrationen, die darauf abzielten, ihren Status als politische Gefangene wiederherzu-

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stellen. Im Jahr 1981 eskalierte ein Protest, der zehn Jahre zuvor mit der Weigerung begonnen hatte, Gefängniskleidung zu tragen (der »Blanket Protest«), danach mit der Ablehnung, sich zu waschen oder die Toilette zu benutzen (der »Dirty Protest«), verschärft wurde und schließlich in der Verweigerung der Nahrungsaufnahme gipfelte (der Hungerstreik von 1981), die das Leben des Anführers Bobby Sands und neun weiterer Teilnehmer forderte. Anstatt eine Analyse der politischen und ethno-nationalistischen Auseinandersetzungen, die den Nordirlandkonflikt oder die Troubles auslösten, auf der Makroebene vorzunehmen, zeigt McQueen in Hunger die Versuche der Gefangenen, ihren Status als politische Gefangene wiederzuerlangen. Er konzentriert sich dabei auf die jeweiligen Eigenschaften der verschiedenen Protestphasen, die gemeinsam haben, dass es immer um den Einsatz des Körpers (wenn auch auf unterschiedliche Weise) und seiner physiologischen Funktionen als Waffe der politischen Veränderung geht. Dabei interessiert mich besonders die Art und Weise, wie McQueens ästhetische Praxis die sozialen, politischen und ontologischen Zustände der Trägheit, zu denen oder von denen weg diese Proteste Wege zu schaffen scheinen, nicht nur anerkennt, sondern auch lesbar macht. Im ersten Akt von Hunger befindet sich das Maze-Prison-Ökosystem in einem scheinbar unüberwindbaren Zustand der Trägheit, der (was an das konzeptuelle Modell von Southwood erinnert) durch einen nervösen Aktionismus, auch wenn dieser aus reinem Widerspruchsgeist besteht, sowohl angekurbelt als auch aufrechterhalten wird. Die Blanket und Dirty Proteste haben das Ziel, einen gesellschaftspolitischen Wandel herbeizuführen, aber aufgrund ihrer grundsätzlich aggressiven Qualität erreichen sie stattdessen das Gegenteil und tragen dazu bei, ein sich selbst verstärkendes Gleichgewicht der Gewalt zu nähren, das nicht in der Lage ist, den Konfliktparteien im Maze Prison zum produktiven Erreichen ihrer Ziele zu verhelfen. Die absichtlich ekelerregenden, abjekten und spürbar provozierenden Entgegnungen der Gefangenen provozieren und eskalieren lediglich die physische Gewalt von Seiten der Gefängniswärter, deren rachsüchtige Aktionen (die sowohl moralisch als auch ethisch und juristisch die Grenzen der staatlichen Autorität überschritten) wiederum nackte und gewalttätige Vergeltungsakte auslösten. Überwältigt von einer starren Gegnerschaft im Denken und Handeln, nimmt die Gefängnispopulation einen aufreibenden Zermürbungskrieg auf, aber da keine der beiden Seiten in der Lage ist, die andere endgültig zu bezwingen, ist die notwendige Konsequenz ihres anhaltenden Kampfes ein dauerhafter Zustand des Stillstands. Durch ihre erbitterten Aktionen erzeugen die gegnerischen Seiten unbeabsichtigt, aber unweigerlich eine fortwährende Abfolge von verheerenden Ursachen und Wirkungen, eine sich selbst verstärkende, gegenseitig verletzende Rückkopplungsschleife, die politische Veränderungen eher erstickt als fördert und eine Stasis innerhalb der Gefängnisgesellschaft festschreibt.

11 Die Politik der Berliner Schule und darüber hinaus

McQueens ästhetische Interventionen registrieren nicht nur, sondern interpretieren diese gewalttätige Unterart der »frenetischen Inaktivität« und ihrer zerstörenden Auswirkungen (Southwood 2011: 11). Die häufige und so gut wie identische Wiederholung von Einstellungen – wie etwa die des (fiktiven) Gefängnisbeamten Raymond Lohan (Stuart Graham), der im Gefängnishof in einem Zustand stiller Verzweiflung an der Wand lehnt – erzeugt ein Bewusstsein für den gleichbleibenden (und grundlegend destruktiven) Charakter der Gesellschaft im Maze Prison, genauso wie McQueens normalerweise statische Kamera, deren hartnäckiger Mangel an Bewegung innerhalb der Einstellungen formal die Stasis widerspiegelt, die durch die chronischen, brutalen Aktivitäten hervorgerufen wird, die sie aufzeichnet. Selbst wenn innerhalb des Bildes keine diegetische Aktivität zu sehen ist, bleibt die Kamera oft bewegungslos. Wiederkehrende Aufnahmen in Zentralperspektive, die in ausgedehnten (und langen) Einstellungen gefilmt sind, zeigen die leeren Korridore des Maze Prison und symbolisieren die Aussetzung zielgerichteter, sinnvoller Bewegung. Durch die feste Position der Kamera (die den Eindruck eines Standbildes erweckt) ist das Gefühl von Bewegung, das normalerweise solche Durchgangsräume kennzeichnet, ausgeblendet, sodass die Zuschauer/-innen den Eindruck bekommen, dass diese Korridore und Passagen nirgendwo hinzuführen scheinen. Zwar können die Zellen links und rechts der Horizontlinie des Korridors betreten und verlassen werden (denn sie befinden sich innerhalb der trägen gestockten Zeit, die die Gefängnisumgebung auszeichnet), doch die äußere Tür, die den Raum zwischen sich und dem Fluchtpunkt des Bildes gleichzeitig anzeigt und verbirgt, bleibt quälend unerreichbar. Die Möglichkeit der Annäherung, geschweige denn des Austritts in etwas dahinter, wird durch den Stillstand der (politischen, sozialen und ästhetischen) Bewegung verwehrt, die von der ruhelosen Aktivität hervorgerufen wird. Die Tonspur des Films wiederholt diese schmerzhafte Trägheit. Obwohl McQueen in den letzten Jahren in seinen Filmen zunehmend konventionellere Filmmusik mit vollem Orchester und Partitur verwendet hat (z.B. in Shame [2011] und 12 Years a Slave [2013]), bevorzugt er bei Hunger zum großen Teil die diegetische Klanggestaltung durch den Umgebungston, die auch in den Filmen der Berliner Schule zum Tragen kommt.2 Selbst in den seltenen Fällen, in denen explizit Filmmusik zu hören ist, kann sie nur im weitesten Sinne als solche bezeichnet werden. Wie McQueen Filmmusik einsetzt, mag im Vergleich zu den Gepflogenheiten in Mainstream-Filmen sparsam sein, manchen vielleicht sogar als unpassend erscheinen, aber sie erfüllt dennoch die ihr zugeschriebene Rolle, denn das Fehlen harmonischer Akkordfolgen verstärkt unser Verständnis der Charaktere, der Umgebung, in der sie leben, und des Dramaturgiekonzepts. Die spärliche Partitur, die die Ansicht des Regisseurs illustriert, dass der Ton »die Räume füllt, in die die Kamera nicht 2

Mehr zum Sounddesign in den Filmen der Berliner Schule siehe Cook (2013a: 27–34).

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gehen kann«, verleiht der Trägheit im Film eine physische Präsenz (Albrechtson 2011). Die Idee eines fortlaufenden Kreislaufs der Nonstop-Trägheit wird vielleicht am prägnantesten im Bild der Spirale vermittelt. Während eines Moments der Ruhe findet sich das Publikum in einer der vielen Zellen wieder, die von den Gefangenen durch einen Estrich aus Fäkalien absichtlich unbewohnbar gemacht wurden. In den meisten Fällen installierten sie dieses faulige, ekelerregende Dekor in ihrer Entrüstung vollkommen willkürlich, aber in dieser bestimmten Zelle fixiert McQueens Kamera einen Wandabschnitt, in dem der Putz aus Exkrementen mit Absicht in Form einer Spirale aufgebracht wurde, die trotz ihrer stinkenden Beschaffenheit eine fast malerische Schönheit besitzt (Abb. 11.1). Als wiederkehrendes Bild der keltischen Symbolik bedeutet die Spirale typischerweise Expansion und Wachstum und die verschiedenen Ziele, die auf dem Weg erreicht werden, aber die Interpretation in Hunger geht in eine andere Richtung. In einem Interview über den Kampf der IRA und seiner Manifestation innerhalb der Grenzen des Maze Prison erklärt McQueen: »Wissen Sie, es ist wie diese Spirale aus Scheiße an der Zellenwand: Geschichte, die sich immer wieder wiederholt. Die Wachen entfernen sie, die Gefangenen tragen sie wieder auf und so weiter und fort.« (Bowen 2009) Auf diese Weise wird die stinkende Spirale, anstatt das Fortschreiten zu symbolisieren, zu einer visuellen Darstellung der Logik der Trägheit, die den ersten Akt des Films bestimmt: »Hier ändert sich nichts; nichts bewegt sich vorwärts«, erklärt Sands Pater Moran (Liam Cunningham) später. Erst als Sands zum titelgebenden Hungerstreik aufruft, nachdem er erkannt hat, dass aktiver Widerstand das Erreichen politischer Zugeständnisse eher verhindert als befördert, kommt Bewegung und Veränderung in die Situation. Indem er den Hungerstreik als Protestform einsetzt, nimmt Sands das traditionelle Konzept des Märtyrertums auf (das heißt, eine Art des Kampfes, die nicht das Ziel hat, die Feinde physisch anzugreifen) und damit eine passive (beziehungsweise passiv-aggressive) und gewaltlose psychologische Waffe der Veränderung, die, wie die Geschichte bezeugt, in der Lage ist, effektiver auf den schwerfälligen Strom der gesellschaftspolitischen Stimmung einzuwirken, als es die endlose Anwendung physischer Gewalt je könnte. Im Nachhinein kann man sagen, dass der Hungerstreik für die Gefangenen ein Erfolg war: Er führte nicht nur zur Wiederherstellung der Privilegien, die mit dem Sonderstatus als politische Gefangene einhergingen, was die unmittelbare Ursache für die Proteste war, sondern schob zusätzlich die »Transformation des politischen Kontextes des Nordirlandproblems« an (Bew und Gillespie 1999: 156), indem er »die widerstrebende Führung [der IRA] dazu zwang, sich dem parlamentarischen System zu öffnen« (Richards 2009: 85).

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Abbildung 11.1: ›Hunger‹ – eine Spirale aus Kot von fast malerischer Schönheit

Obwohl der Hungerstreik den Ansatz der Gewaltlosigkeit eher aus Pragmatismus denn aus politischer Überzeugung verwendete, konnte er dennoch einen positiven sozialpsychologischen Einfluss im Nordirlandkonflikt ausüben, weil er der Öffentlichkeit Beweise für die Integrität der Beteiligten zu liefern schien und für ein Verhalten, das akzeptierten moralischen Standards näherkam und deshalb leichter zu akzeptieren war. Insbesondere dadurch, dass die Teilnehmer bereit waren, die »ungewohnte Rolle zu übernehmen, eigenes Leiden für ihre Sache einzusetzen, anstatt anderen Leid zuzufügen«, wie es Paul Bew und Gordon Gillespie ausdrückten (1999: 156), konnte der Hungerstreik das Gewissen der Öffentlichkeit erreichen. Er rief bisher abwesende Gefühle des Mitgefühls und der Schuld für die irisch-republikanischen Gefangenen hervor, deren wahrgenommene Not und Überzeugung für die Sache immer stärker wurden je schwächer ihre Körper wurden.3 Aus diesen Gründen hat der irische Schriftsteller Tim Pat Coogan den Hungerstreik als eine Taktik der Gewaltlosigkeit bezeichnet, die auf machtvolle Weise »schwach« ist (2002: 410). Sie ist auch auf machtvolle Weise »träge«: Die transformative Kraft dieses Protests beruht – vielleicht paradoxerweise – darauf, dass die Teilnehmenden etwas nicht tun. Während Feindseligkeit und Gewalt – gekennzeichnet durch intensive und »laute« Aktivitäten – nur dazu in der Lage waren, 3

Am 10. April 1981 wurde Sands, obwohl er zu schwach war, um sein Bett im Gefängnistrakt zu verlassen, als Abgeordneter für den Wahlkreis Fermanagh and South Tyrone in das britische Unterhaus nach Westminster gewählt. Obwohl die IRA Sands’ Sieg vom Krankenbett als Beweis wertete, dass sie die Unterstützung der Bevölkerung für die Strategie des »langen Krieges« hatte, und damit das moralische Mandat für die politische Anwendung von Gewalt hatte, macht Anthony Richards deutlich, dass die Wahrheit wohl eher darin bestand, »dass viele Wähler andere Motive hatten. Sands’ Unterstützer hatten auf der Grundlage für ihn geworben, dass eine Stimme für ihn eine humanitäre Wahl sei, keine Stimme für die IRA.« (Richards 2009: 85)

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hektischen sozialen und politischen Stillstand zu erzeugen, war die Verlagerung zu einer gewaltfreien Form der politischen Aktion – gekennzeichnet durch Stille und einen (tiefgreifenden) Bewegungsmangel, der sich aus der bewussten Untätigkeit ergabt – in der Lage, gesellschaftspolitischen Einfluss auszuüben und Bewegung in die verhärteten Fronten zu bringen. Die Hungerstreikenden entgehen der Trägheit, indem sie sie in einer anderen Form auf sich nehmen. Durch seine freiwillige Verweigerung der Nahrungszufuhr entzieht Sands seinem Soma absichtlich materielle Energie, die ihn in den trügerisch inaktiven Zyklen aggressiver Aktivität (die er selbst mit angeschoben hat) im Maze Prison genährt hatte, und löst dadurch einen lähmenden Zustand der Erschöpfung und der sich daraus ergebenden Begleiterscheinung, der Erstarrung, aus. Sands ist bald an sein Bett im Krankenflügel des Gefängnisses gefesselt, sein einst so ruheloser Körper wird durch den Hunger schwach und träge. Aber natürlich signalisiert dieser vorsätzlich herbeigeführte Zustand verminderter physiologischer Aktivität und Bewegungslosigkeit – vielleicht kontraintuitiv – keineswegs, dass die Entschlossenheit und das Engagement für die Sache weniger werden, sondern bildet im Gegenteil einen neuen und mächtigen Faktor der Feindseligkeit, den weder die hegemonialen Kräfte noch die bestehenden Strukturen der Trägheit so einfach vereinnahmen können. Schon vor dem tragischen Ende des Streiks sorgt die Entscheidung von Sands und seinen Gefolgsleuten, die äußerlich aggressiven und gewalttätigen Widerstandshandlungen abzubrechen und sie durch die Passivität einer gewaltlosen Form des Protests auszuwechseln, dafür, dass für beide Seiten abträgliche soziale Gleichgewicht im Maze Prison aufzuheben. Anstatt dass sie sich in weiteren Angriffen gegenüberstehen, führt der Abbruch der Feindseligkeiten der Gefangenen dazu, dass die Gefängniswärter, die im letzten Akt des Films kaum noch zu sehen sind, ebenfalls damit aufhören. Weiterentwicklung entsteht durch Unterbrechung, durch das Abklingen der Gewalttätigkeiten, was zu neuen sozialen Bedingungen führt, durch die das Gefängnis ruhig und friedlich wird, mit wenig Bewegung und Aktivität jeglicher Art. Statische Aufnahmen leerer Korridore wiederholen sich, werden aber nicht mehr durch erbitterte Akte gegenseitiger Brutalität unterbrochen, sodass die Atmosphäre der Ruhe, die sie vermitteln, zur Realität wird, statt brüchige Illusion zu bleiben. In dem Bemühen, psychologische Traumata darzustellen, kombiniert McQueen einen modernistischen surrealen Modus des Erzählens mit dem realistischen. Dieses Zusammenfügen scheinbar »unvereinbarer« Filmtraditionen – ein Impuls, der sich bezeichnenderweise auch in vielen Filmen der Berliner Schule wiederfindet und, wie Galt und Schoonover anmerken, dazu beiträgt, den künstlerischen Film als Kategorie zu definieren (Galt/Schoonover 2010: 16–17) – erlaubt es McQueen, den Zuschauern und Zuschauerinnen über das hinaus, was die Kamera objektiv zeigen kann, einen privilegierten Einblick in Sands’ kognitive Erfahrung des Hungers zu geben. Die Szene, als ein aufgeschreckter Krähenschwarm un-

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ter lautem Gezeter aus Sands’ zusammengepresstem Bauch herauszukommen scheint, bevor er durch den Raum fliegt, nutzt ebenfalls diese Verknüpfung von Realismus und Traumhaftigkeit (Abb. 11.2).

Abbildung 11.2: ›Hunger‹ – Krähen im Traummodus, Sinn mehrdeutig

Die Krähe beziehungsweise der Krähenschwarm ist als Motiv zwar mehrdeutig, aber ihr unverkennbar aufgescheuchtes Flugmuster wird durch McQueens Kameraführung noch betont. Die Kamera verlässt ihre normalerweise feste Position und gerät in Bewegung, um dem Auf und Ab und Hin und Her der Vögel zu folgen. Die Überlagerung der beiden Ansichten – auf der einen Seite Sands rapide verfallender Körper, auf der anderen eine Vogelart, die laut Aberglauben vieler Kulturen die unheimliche Fähigkeit besitzt, den Tod vorherzusagen – kündigt sein bevorstehendes Ende an.4 Aber das Motiv macht die Zuschauer/-innen nicht nur auf etwas aufmerksam, was sie sicherlich bereits wissen: Die Krähe wird in der Traumkonfiguration zu einem multivalenten Symbol, in dessen unterschiedlichen Bedeutungsebenen sich der Sog des verunsichernden und stürmischen emotionalen Aufruhrs, der den Prozess des Sterbens begleitet, spiegelt. Indem die Zuschauer/-innen direkt und emotional auf der audio-visuellen Ebene mit Sands’ Leiden konfrontiert werden, werden sie ermutigt, dieselbe Art von humanitärem (das heißt, nicht ausdrücklich politischem) Mitgefühl zu empfinden, das durch den realen Hungerstreik erzeugt wurde. Die teilnehmenden Gefangenen der IRA versuchten im Tod den verstörenden Anblick der bewegungslosen Leiche als Waffe gegen die britische Regierung einzusetzen, also die materielle Verkörperung dessen, was Stephanie Donald im Zusammenhang mit Trägheit und urbaner Gesellschaft als »die tiefste Bewegungslosigkeit, die sich die Menschheit vorstellen oder ausführen kann« beschrieben hat (Donald 2013: 143). Für die Sache der 4

Die Krähe ist im Film ein durchgehendes Motiv, das aber in den meisten Fällen unabhängig von Sands verwendet wird.

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Gefangenen ist es von entscheidender Bedeutung, dass das teilnahmsvolle Mitleid und die Besorgnis – inspiriert durch das Leiden, das aus dem ungewohnten (Nicht-)Handeln der Hungerstreikenden erwuchs – ihrem eventuellen Tod Bedeutung und transformierende Wirkung geben würde. Befreit von den Hindernissen der Gewalt erzeugt die selbstzerstörerische Darbietung der Hungerstreikenden eine Wahrnehmung der rechtschaffenen Gesinnung, die auch diejenigen Gruppen, die der Sache bisher ablehnend gegenüberstanden, dazu bringt, dass sie die Gefangenen nicht länger nur als kriminell, sondern auch als Individuen, die es verdienen, ethisch betrachtet zu werden. Der Körper verbleibt zwar ein hart umkämpfter Ort des Widerstands, aber als Vehikel gewaltfreier Selbstaufopferung eingesetzt, gelingt es ihm (zumindest im Kontext des Maze Prison), dem terroristischen Körper die eigentlich selbstverständliche Annahme, dass der Tod etwas ist, das zu vermeiden ist, wieder zuzuschreiben. Das gilt auch für die Macht des Abjekten, das in der Lage ist, die gewohnte Identität, Gesellschaft und Ordnung zu stören, und normalerweise, wie Julia Kristeva behauptet, durch die Konfrontation mit der menschlichen Leiche provoziert wird (1982: 4), aber im Fall des Terroristen durch die Furcht und den Hass als dem gewalttätigen »Anderen« (das heißt als schon abjekte Bedrohung der symbolischen Ordnung, die entfernt werden muss) überdeckt wird. Auch wenn McQueen nicht auf dem Bild der Leiche verweilt, registriert er doch das Auftauchen einer dynamischen Veränderung, die durch die akkumulative Darbietung der Bewegungslosigkeit der Gefangenen entsteht und an ihr Bild gebunden ist. Die abschließende Einstellung des Films – eine letzte perspektivische Aufnahme des Korridors – zeigt den unausweichlichen Stillstand, diesmal in Form des verstorbenen Sands, dessen Leiche auf einer Trage zu einem wartenden Krankenwagen transportiert wird. Doch obwohl in der Aufnahme der Stillstand (des menschlichen Lebens) im Vordergrund steht, zeichnet sie sich formal durch Bewegung und Fortschreiten aus. Die Funktion der Bewegung wird dem Korridor zurückgegeben, wenn auch nicht durch McQueens Kameraführung, die weitgehend statisch bleibt, sondern durch den Tod, von dem sie zeugt. Sands lebloser Körper bewegt sich auf den (imaginären) zurückweichenden Linien des perspektivischen Bildes nach hinten, aber die bisher hartnäckig geschlossene Tür – ein Sinnbild für die Unmöglichkeit von Veränderung und Fortschritt – steht nun offen. Paradoxerweise ist es die Bedingung der absoluten Trägheit, die sowohl Sands (dessen metaphysische Überzeugung bezüglich der menschlichen Endlichkeit nicht akzeptiert, dass es ein Ende des bewussten Lebens in permanenter physischer Vernichtung gibt)5 als auch seine Sache vorwärtsgebracht hat. Anstatt nun den Krankenwagen

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Für Sands ist der Tod nicht das Ende. Er besteht gegenüber Pater Moran darauf: »Das nächste Mal wird’ ich auf dem Land geboren, das garantier’ ich Ihnen. Wild, Vögel, das wär’s doch. Paradiesisch.« Diese Aussage bietet eine weitere Interpretation des Traumbildes des Krähenschwarms, der kommt, um Sands ins Jenseits, ins ewige Land seiner Fantasie zu geleiten,

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in Richtung Fluchtpunkt des Bildes, das nun die gesamte perspektivische Tiefe ausfüllt, fahren und Sands damit in die Vergessenheit entschwinden zu lassen, schneidet McQueen zum Schlusstitel, der die durch den Hungerstreik eingeleiteten Veränderungen im Detail beschreibt.

Innere Sicherheit: Neoliberale Trägheit von Terroristenkindern und jugendlichen McJobbern Politische Gewalt ist ein problematisches Anliegen, das im Mittelpunkt von Christian Petzolds Film Innere Sicherheit steht, mit dem ihm der Durchbruch als Regisseur gelang. Mehrere Kritiker/-innen, darunter auch ich selbst, haben Innere Sicherheit als einen Film über das Erbe der Roten Armee Fraktion (RAF) gelesen, der linksextremistischen terroristischen Vereinigung, die in den 1970er Jahren eine Reihe von Anschlägen gegen die Bundesrepublik Deutschland verübte. Die unbeirrbare Sichtweise der RAF, dass die Bundesrepublik kaum verschleiert in der Nachfolge des faschistischen Deutschlands stünde, erschütterte dem Nachkriegsstaat und seine junge Demokratie mehr als ein Jahrzehnt durch eine Reihe von gewalttätigen Angriffen.6 Innere Sicherheit spielt in der Gegenwart seines Erscheinens (dem Jahr 2000) und erzählt die Geschichte von Hans und Clara, einem fiktiven Terroristenpaar, dessen vergangene Verbrechen eine jahrzehntelange Irrfahrt quer durch Europa nach sich gezogen haben, die nicht nur durch den Druck der Illegalität verlängert wird, sondern auch dadurch, dass sie trotzig an einer gescheiterten Ideologie festhalten. Sie sind entweder nicht in der Lage oder nicht willens, anzuerkennen, geschweige denn zu akzeptieren, dass die historische Entwicklung sich vorbewegt hat, und klammern sich weiterhin an das alternative Weltbild, das spätestens mit der Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzung von Seiten RAF Anfang der 1990er Jahre gestorben ist, und sie dazu zwingt, in einer rastlosen Flucht zu verharren. Obwohl sie ein abschließendes Ziel haben (das Paar kehrt nach Deutschland zurück, um Geld für die endgültige Flucht nach Brasilien zu beschaffen), bremst sie ihre ideologische Verwicklung mit dem radikalen Ferment der Protest-Jahrzehnte aus, wodurch etwa Treffen mit ehemaligen Weggefährten, denen es gelungen ist, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, in Sackgassen führen. Während einer besonders einprägsamen Begegnung greift Hans seinen alten Freund Achim tätlich

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aber in seinem Versuch durch den Schmerz, den Sands empfindet, aufgeschreckt wird – ein Schmerz, der noch nicht bereit ist, seine Umklammerung aufzugeben und ihn vorerst qualvoll im Land der Lebenden hält. Für eine detaillierte Diskussion der RAF siehe Varon 2004.

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an, weil dieser sich in das kapitalistische System, das er einst vehement bekämpft hatte, gefügt hat. Petzold hebt die Kraft der Trägheit, der Hans und Clara unterworfen sind, hervor, indem er sie immer wieder mit dem Übernatürlichen in Verbindung bringt. In einem Schachzug, der den »untoten« Status des kulturellen Gedächtnisses der RAF in den Jahrzehnten zwischen dem berüchtigten deutschen Herbst 1977 und der Veröffentlichung des Films widerspiegelt, verleiht der Regisseur seinen Hauptfiguren Qualitäten, die den Motiven des Gespensts und des Vampirs zugeordnet sind, und hebt so ihre Liminalität und ihren Status als lebende Anachronismen im »neuen« Deutschland hervor (Homewood 2006). Gefangen in einem unruhigen, selbst auferlegten Schwebezustand zwischen Existenz und Verschwinden, spuken sie an Orten, die Marc Augé als transiente »Nicht-Orte« bezeichnet (Autobahnen, Raststätten, Hotels und geheime Unterschlüpfe). Sie befinden sich regelmäßig in Grenzgebieten (zwischen Nationen, zwischen Stadt und Land). Indem sie nur dann aus dem Schatten des terroristischen »Untergrunds« hervortreten, wenn die Notwendigkeit sie dazu zwingt, signalisieren sie ihre Trennung von den Lebenden. Diese rastlose Mobilität von Hans und Clara hat negative Folgen für ihre Tochter Jeanne, die sich inzwischen im Teenager-Alter befindet und im ontologisch unbestimmten Milieu des terroristischen Untergrunds aufgewachsen ist. Als Folge ihres abnormalen Aufwachsens ist der soziale Raum, den Jeanne einnimmt, fast ausschließlich auf ihre Eltern beschränkt. Da sie zu Hause unterrichtet wird und keine Freunde und Freundinnen in ihrem eigenen Alter haben darf (die ein Risiko für die innere Sicherheit der Familie darstellen würden, worauf sich der Titel des Films zum Teil bezieht), befindet sie sich in einer Art von Schwebezustand. Ein Teil ihres Lebens ist ungelebt, ein Teil ihrer Identität unentwickelt. Die einzigen anderen Kontakte, die Jeannes paranoide Eltern anstandslos zulassen, sind solche mit ihren ehemaligen Mitstreitern und Mitstreiterinnen, von denen manche, wie Klaus, eine gewisse persönliche Loyalität gegenüber Hans und Clara empfinden, jedoch nicht mehr zu ihrer überholten Sache. Die Situation, in der sich Jeanne befindet, entspricht dem Verständnis dessen, was der Soziologe Pierre Bourdieu als soziale Trägheit bezeichnet. In einen erstickenden familiären Kodex der Komplizenschaft und Verleugnung hineingeboren, hat Jeanne notwendigerweise eine Reihe von Verhaltensweisen und Gewohnheiten entwickelt, die den eigentümlichen Status quo ihrer Familieneinheit perpetuieren – einer Mikrogesellschaft zu dritt, die gegenüber Veränderungen eisern resistent bleiben muss. Seit ihrer Geburt ist sie daran gewöhnt, »die Welt ihrer Eltern so zu akzeptieren, wie sie ist, sie für selbstverständlich zu halten, statt gegen sie zu rebellieren, ihr verschiedene, sogar entgegenstehende Möglichkeiten entgegenzusetzen« (Bourdieu 1985: 728). Doch eine ebenso unwiderstehliche wie unaufhaltsame »äußere« Kraft beginnt ihren Einfluss auf Jeanne auszuüben, und gibt ihr den Anstoß, gegen die anormalen sozialen Bedingungen, die ihre Existenz bestimmen, zu rebellieren – wenn

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auch auf widersprüchliche und inkonsequente Weise. Die Erzählung beginnt zu einem Zeitpunkt, an dem Jeanne, die sich mit etwa fünfzehn Jahren mitten in der Pubertät befindet, sozial und in ihrer Entwicklung an einer Schwelle steht und in die langwierige Phase tritt, die im Leben eines heranwachsenden Menschen damit einhergeht, dass sich dieser zunächst verweigert und Distanz zu den Eltern einnimmt, um dadurch ein neues Selbstverständnis, neue Gewohnheiten und Mittel der Identitätskonstruktion zu entwickeln. Obwohl bei Jeanne die Schritte, die für die Identitätsbildung nötig sind, ins Stocken geraten und sie sie nie ganz erreichen kann, rührt die Tragik ihrer Familiengeschichte aus dem Zusammenstoß, der entsteht, wenn eine unwiderstehliche Kraft (Adoleszenz) auf ein unbewegliches Objekt trifft (Hans und Claras unnachgiebige gesellschaftspolitische Trägheit). Anders als bei durchschnittlichen Teenagern wird Jeannes unvermeidlicher Versuch, Abstand von der Autorität und den Traditionen ihrer Eltern zu gewinnen, durch den langen Schatten ihrer terroristischen Vergangenheit besonders erschwert, denn die erdrückenden sozialen Bedingungen, die Jeannes Identitätsentwicklung in der Schwebe halten, verstärken einerseits ihren Widerstand und zwingen sie gleichzeitig zum Gehorsam. Wie Bourdieu hervorhebt, kann die Weitergabe des kulturellen Erbes selbst in Zeiten des sozialen Fortschritts zu einer starken sozialen Trägheit führen. Im Fall von Jeanne wird ihre Entwicklung durch die übermächtigen Konsequenzen von Hans’ und Claras unnormaler Lebensgeschichte behindert, die den Status einer toxischen kulturellen Hinterlassenschaft oder einer Art bedrohlicher »Postmemory« angenommen hat, um Marianne Hirschs Begriff zu verwenden, den sie entwickelt hat, um die Beziehung zu beschreiben, die die nachfolgende Generation zum persönlichen, kollektiven und kulturellen Trauma derer, die vor ihr gekommen sind, ausbildet (Hirsch 1997). Jeannes zunehmend widerwillige Unterwerfung unter die einschränkenden Bedingungen, die die obsolete, aber in ihrem Fall andauernde Vergangenheit ausübt, führt zu kognitiver Dissonanz. Die erdrückende Qualität des streng regulierten, eigenartigen sozialen Umfelds, in dem sie lebt, und sein primäres Diktat – das Schweigen – behindern die Entwicklung Jeannes individueller und sozialer Identität und belasten ihre Versuche, mit Gleichaltrigen wie Achims Tochter Paulina zu interagieren und zwischenmenschliche Beziehungen zu knüpfen. Angezogen vom Klang zeitgenössischer Popmusik, die aus Paulinas Schlafzimmer erklingt, entdeckt Jeanne einen Raum voller Konsum-Gegenstände (CDs, Poster, Kleidung, ein Telefon), die nicht nur anzeigen, dass Paulina im Vergleich zu ihr finanziell bessergestellt ist, sondern auch, dass ihr die »Freiheit« zur Erforschung und Entwicklung ihrer verschiedenen Identitäten zugestanden wird. Die schüchterne Jeanne, die kein positives Selbstbewusstsein entwickeln konnte, bleibt zögernd an der offenen Tür vor einem großen Spiegel stehen, wird aber aus einer Perspektive aufgenommen, sodass ihre Reflexion nicht sichtbar ist – wie bei einem Vampir, dessen Unfähigkeit, sich zu spiegeln, den Ausschluss aus dem Land

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der Lebenden signalisiert. Stattdessen füllt Paulina die Lücke, in der Jeannes Bild erscheinen sollte, und hebt damit die Unfreiheit letzterer hervor, die von der überwältigenden Erzählung ihrer Eltern erzeugt wurde. Paulina lädt Jeanne in ihr Zimmer ein, und für einen kurzen Moment überschreitet diese die Schwelle und tritt durch den Spiegel in ein normales Teenagerleben ein. Die Mädchen hören Musik, teilen sich eine Zigarette, und wir hören Jeanne zum ersten und einzigen Mal lachen, aber diese Kostprobe der Normalität ist nur von kurzer Dauer, da Augenblicke später Jeannes Mutter das Zimmer betritt und sie zurück in die Schattenwelt ruft. Letztlich wird Jeannes erzwungene »Abschottung« ihrer Identität unvermeidlich gesprengt: Ihre vorzeitige Festlegung auf eine krankhafte soziale Rolle, die ihre Eltern durch die Ausweglosigkeit ihrer terroristischen Vergangenheit vor- und festgeschrieben haben, kann dem transformativen Drang der Heranwachsenden nicht standhalten, ihr Selbst oder die als »Identitätsaufschub« (Erikson 1994) bezeichnete Stufe der psychologischen Entwicklung zu erforschen. Um den Prozess von Jeannes Identitätsbildung besser zu verstehen, ist es nützlich, kurz auf Marco Abels Lesart von Innere Sicherheit zurückzugreifen, den er als Film »über den Einbruch des neoliberalen Finanzkapitalismus und seine Auswirkungen auf die Beschaffenheit Deutschlands nach der Wiedervereinigung« und nicht als »RAF-Film« verstanden haben will (Abel 2013: 89). Diesbezüglich stellt er fest: »Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Jeannes Wunsch nach Normalität nicht in ödipaler Weise gegen die RAF-Vergangenheit ihrer Eltern definiert wird, sondern in Übereinstimmung mit den Bedingungen der Subjektivität einer Generation, die in die intensivierte Logik des neoliberalen Kapitalismus hineingeboren wurde, der ihr Leben direkt auf der Ebene des Begehrens bestimmt« (90). Die Kraft dieser neuen wirtschaftlichen Logik, »in die Sehnen unseres Körpers und in die Machinationen unseres Herzens« einzudringen, wie Lisa Rofel es beschreibt (Rofel 2007: 15), ist in Bezug auf Jeanne offensichtlich. Ihre vorläufigen Bemühungen, eine Identität für sich zu konstruieren, werden durch die Bilder des Konsums geformt, denen sie bei den anderen Teenagern begegnet, deren Image und Status von ihnen bestimmt ist. In ihrem Streben nach Zugehörigkeit zu einer Gruppenidentität, die sie bei Paulina kennengelernt hat, versucht Jeanne den »richtigen« Geschmack von cooler Musik und Markenkleidung nachzuahmen, stößt aber auf ein zusätzliches Problem, das durch die Trägheit ihrer Eltern geschaffen wird: Ihr Festhalten an der Vergangenheit erzeugt nicht nur soziale, sondern auch materielle Verarmung, die den Zugang zu den warenförmigen Markern der Massenakzeptanz verhindert, die Jeanne in Übereinstimmung mit der neoliberalen Produktion jugendlicher Subjekte als notwendig für ihre Identitätsentwicklung empfindet. Da sie nicht über die finanziellen Mittel verfügt, um Paulina nachzueifern, deren Status zu der Gruppe durch ihre Zahlungsfähigkeit (beziehungsweise die ihres Vaters) begünstigt wird, geht Jeanne zunehmend Risiken ein

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und stiehlt die Dinge, die sie sich wünscht – und bedroht damit das Überleben ihrer Familieneinheit, als sie einmal fast erwischt wird. Obwohl Jeannes wachsende Verweigerung des Einflusses ihrer Eltern keine direkte Abrechnung mit ihrer RAFVergangenheit darstellt, würde ich jedoch für ein größeres Maß an Kontingenz zwischen den Lesarten plädieren, die Innere Sicherheit jeweils entweder als einen Film über den Neoliberalismus oder die RAF positionieren. Jeannes Übernahme der von der RAF vehement bekämpften Konsumlogik, die notwendigerweise zu einem Konflikt mit ihren Eltern führt, ist die Ironie der Geschichte und erinnert daran, dass die Kinder der 68er-Protestgeneration (aus deren Randbereichen sich die RAF entwickelt hat) die konstitutive Kraft des Neoliberalismus offenbar dazu genutzt haben, das politische und kulturelle Vermächtnis ihrer Eltern an die Berliner Republik gezielt zu desavouieren.7 Die Stellung und das Vermächtnis der 68er-Generation im »neuen« Deutschland erscheint im ganzen Film als ein wesentliches Thema, das Petzold einer umsichtigen Betrachtung unterzieht. Im Film sind es die ehemaligen 68er, die am meisten von der neoliberalen Ideologie profitiert zu haben scheinen. Dies könnte man einerseits als düsteres Spiegelbild der Fähigkeit des Neoliberalismus ansehen, jeden Widerstand einzuverleiben, aber er legt ebenso den Vorwurf nahe (der zur Zeit der Veröffentlichung des Films häufig angesprochen wurde), dass die ehemalig radikale Linke sich verkauft hätte.8 Soziale und ökonomische Armut ist ein Thema, das auch Heinrich betrifft, einen Teenager, mit dem sich Jeanne nach ihrer Rückkehr nach Deutschland heimlich trifft. Heinrich, in Wahrheit ein mittelloser Hilfsarbeiter und Waisenkind, wirbt zunächst um Jeannes Aufmerksamkeit, indem er sich als privilegierten, aber vernachlässigten Millionärssohn neu erfindet, der in einer luxuriösen Villa lebt (ein Hintergrund, der näher an dem von Paulina ist). Doch trotz der Macht des Neoliberalismus, die jugendliche Individuation zu formen und zu produzieren, sind es die sexuellen Gefühle für Heinrich, die Jeanne auf einer psychologischen Ebene instinktiv entwickelt, die letztlich auf explosive, wenn auch unbeabsichtigte Weise, die Trägheit beenden, die die interstitielle Existenz ihrer Familie regiert. Obwohl Jeanne zwischen der Loyalität zu ihren Eltern und der Erkundung ihrer eigenen, bewusster Entscheidungen hin- und hergerissen ist, wird sie von den bahnbrechenden Kräften der Adoleszenz zunehmend dazu gedrängt, den Status quo zu

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Ich beziehe mich hier auf das Entstehen der sogenannten Ego- oder Spaßgesellschaft, die auf einem weitgehend unpolitischen und unkritischen Fundament konsumorientierter sofortiger Bedürfnisbefriedigung aufbaut. Jeannes Vorliebe für Slogan-T-Shirts erinnert in diesem Zusammenhang an die Bekleidungslinie »Prada-Meinhof«, die die RAF (die man als Achillesferse des positiven 68er-Selbstverständnisses ansehen kann) als Popstar feierte. Neben Achim treffen wir im Film auf Claras alte Flamme, Klaus, der durch die Monetarisierung seiner radikalen Wurzeln ein erfolgreiches Verlagsgeschäft aufgebaut hat. Ähnliche Vorwürfe werden in Hans Weingartners Die fetten Jahre sind vorbei (2004) angesprochen.

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verändern – sodass sie schließlich ihr Schweigen bricht und Heinrich das Geheimnis der Familie enthüllt. Von besonderer Bedeutung ist, dass Jeannes Verrat in einer Situation des Stillstands auftritt und von diesem genährt wird. Nachdem sie vorübergehend den prekären Zustand der rastlosen Mobilität ihrer Eltern verlassen hat, vertraut sie sich Heinrich an, während ihre Körper gemeinsam auf seinem Bett ruhen. Obwohl der Stillstand, dem wir hier begegnen, nicht so tiefgreifend ist wie derjenige, den Sands in Hunger erlebt, wird er in Jeannes Leben dennoch zu einem Katalysator für tiefgreifende Veränderungen, die eine grundlegende Transformation innerhalb eines ansonsten starren Sets bestehender Bedingungen bewirken. Aus Angst, Jeanne zu verlieren (die andeutet, dass sie ihre Eltern verlassen will, als es aber ernst wird, verständlicherweise zu ihnen zurückkehrt), setzt Heinrich eine ruinöse Konfrontation zwischen dem Staat und den unwillkommenen Besuchern aus der Vergangenheit in Gang, die – so deutet der Film an – zum Tod von Hans und Clara führt. Die zögerliche, vorläufige Distanz, die Jeanne zu ihren Eltern sucht, wird auf tragische Weise durch ihren Tod dauerhaft; einem Tod, der letztlich durch Jeannes widersprüchlichen, aber unvermeidlichen Drang ausgelöst wird, ihre Optionen für die eigene Identität zu erforschen. Die Möglichkeit einer dynamischen Veränderung hängt wieder einmal an der Trägheit der Leiche, aber das Potenzial eines Neuanfangs hat seinen Preis.

Falscher Bekenner (2005): Verlangsamung und prekäre Anerkennung Die Folgen des Neoliberalismus und seine operative Logik bilden das zentrale Anliegen von Falscher Bekenner. Im Gegensatz zu Jeanne ist Armin (Constantin von Jascheroff), der an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehende Protagonist von Christoph Hochhäuslers Film, nach wie vor nicht überzeugt von den interpellativen Gesinnungen und erwachsenen Identitäten, die die neoliberale Maschine über ihn zu verhängen versucht, insbesondere von der Vorstellung, dass »Arbeit jetzt angeblich ein ermächtigender Lifestyle und eine Angelegenheit der individuellen Verantwortung ist« (Southwood 2011: 17–18). Falscher Bekenner ist weniger an den Ideologien des Konsums interessiert, die in Innere Sicherheit eine so große Rolle spielen, als vielmehr an den postfordistischen Arrangements der Arbeit (wie der Prekarisierung der Arbeit, der unaufhörlichen Aufforderung zur Selbstvermarktung und ständigen Verfügbarkeit) und untersucht Armins Versuch, die gesellschaftlich erwartete Unterwerfung unter das neoliberale System und die Konstellation der verhängten Unsicherheiten (oder Prekarisierungen), die dieses aufrecht erhalten, zu unterlaufen. Wie in meiner Einleitung erörtert, ist es genau dieses Gefühl der Prekarisierung, das laut Southwood das prekäre Subjekt in einen scheinbar endlosen

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Kreislauf von aufgeregter Bewegung (Nonstop-Trägheit) versetzt und ihm die Energie zum Widerstand entzieht. Die Erzählung beginnt zu einem Zeitpunkt, als Armin zu merken scheint, dass die sozialen Rituale, die seine Arbeitssuche bestimmen und vorgeben, ihn als Persönlichkeit zu stärken, in Wirklichkeit gar nicht dazu dienen, die Entwicklung eines authentischen Selbst zu unterstützen, sondern stattdessen verschleierte Praktiken der Interpellation darstellen, die darauf abzielen, die Identitäten der einzelnen Subjekte in Übereinstimmung mit dem, was Abel das neoliberale »Als ob«Narrativ (2013: 169) nennt, (neu) zu konstituieren und damit die herrschende Ideologie aufrechtzuerhalten und zu verbreiten.9 Wie Valerie Kaussen ausführt: Wir beobachten, wie Armin, der sich in seiner eigenen Haut nicht wohlfühlt, in den Arbeitgeberfirmen von Anzugträgern unter die Lupe genommen wird, die sich nicht nach seinen Fähigkeiten erkundigen, sondern wissen wollen, »wer er wirklich ist«. Armin kann das Ganze nicht ganz nachvollziehen, aber er versteht schemenhaft, dass dieses begehrte »innere Selbst« lediglich ein Skript ist, das gelernt und angenommen werden muss, um Eintritt in eine eher unattraktive Berufswelt zu erhalten, eine Initiation, die dann zur Erlangung des voll ausgebildeten »Selbst« führt. (Kaussen 2013: 177) Für Armin löst der Widerspruch zwischen Freiheit und Kontrolle eine tiefgreifende Handlungslähmung aus, die er (bewusst oder als unbeabsichtigtes, lähmendes Symptom des Systems selbst) wie ein Schutzmantel trägt, um nicht eine ideologisch vorbestimmte Rolle übernehmen zu müssen. Sehr zum Leidwesen seiner Eltern, deren eigene Interpellation auch dadurch signalisiert wird, dass sie die latente Prekarisierung im Beschäftigungssektor als selbstverständlich ansehen,10 verweigert sich Armin der disziplinierten Begeisterung für die rastlose Suche, in der Arbeit eine (geskriptete) Identität zu finden, die von neoliberalen Subjekten erwartet wird. Seine Verweigerung ist tendenziell dadurch gekennzeichnet, dass er einfach gar nichts tut – wie Abel bemerkt: »Armin wird auf eine Weise dargestellt, dass wir ihn als ziellos, treibend, verloren wahrnehmen; er weiß nicht, wie er seine Situation ändern könnte.« (Abel 2013: 170) Anstatt pflichtbewusst nach Optionen zu suchen, lässt er sich entweder in seinem Bett oder auf dem Familiensofa nieder und bleibt dort. Doch wie Abel ebenfalls beobachtet, ist Armins scheinbare Trägheit Teil einer Gegenerzählung, die er als

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Abel definiert das neoliberale »Als ob«-Narrativ als »das gegenwärtig dominante Narrativ, das Subjekte anruft, indem es sowohl andeutet, dass die Logik der Anerkennung unausweichlich ist, als auch danach handelt, als wäre es tatsächlich wünschenswert, in diesem Rahmen sichtbar zu sein oder sichtbar zu werden« (Abel 2013, S. 169). Die Eltern trivialisieren die Prekarisierung, nehmen eine »So ist es eben«-Haltung ein und erwarten, dass ihr Sohn die Regeln des etablierten Spiels anerkennt und nach ihnen spielt.

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Antwort auf das »Als ob«-Narrativ der unliebsamen Bestätigung in den neoliberalen Normen entwirft: »Armin begegnet diesem ›Als ob‹-Narrativ nicht, indem er es direkt bekämpft oder zu untergraben versucht, sondern indem er ihm auf Bartleby’sche Art und Weise einfach ausweicht, ihm gegenüber völlige Gleichgültigkeit zeigt, völlig desinteressiert an den unumschränkten Ansprüchen bleibt, die es immer wieder an ihn richtet.« Anstatt sich an diesem Narrativ zu beteiligen (denn selbst durch Ablehnung nimmt man teil!), erfindet Armin schließlich ein Gegennarrativ, ein neues »Als ob«, das die Logik des »Als ob« neutralisiert, indem er das Spiel zu diesen Bedingungen ablehnt – indem er sich einfach weigert, überhaupt zu spielen (Abel 2013: 170). Wenn sich Armin bei Gelegenheit Vorstellungsgesprächen für Einstiegspositionen aussetzt, entziehen seine begriffsstutzigen Nicht-Antworten auf in Wirklichkeit rhetorisch unsinnige Fragen dem Prozess seine interpellative Kraft. Da Armin unfähig ist, sich in den konformistischen sozialen Prozessen und Interaktionen zu erkennen, die ihn dazu drängen, die dominanten ideologischen Strukturen zu akzeptieren, stellt seine Passage durch die austauschbaren Unternehmens- und Konsumräume des Neoliberalismus eine oberflächliche Bewegung dar. Entfremdet verlässt er regelmäßig private und öffentliche Orte, die ideologisch aufgeladen sind (wie das Elternhaus, die Büros, die Schulungsräume und sogar den Supermarkt, der zum Schauplatz einer unangenehmen Begegnung mit einem Gesprächspartner aus einem Vorstellungsgespräch wird), und zieht sich oft an transiente NichtOrte zurück, die sich durch ständige Veränderung auszeichnen. Für Armin sind solche Nicht-Orte wie die Autobahn kostbar, weil sie nicht ausreichend anthropologische Bedeutung in sich tragen, um als Orte betrachtet zu werden; weil ihnen die verlockenden Attribute der neoliberalen Gesellschaft zu fehlen scheinen. Darüber hinaus dient ein solcher Nicht-Ort für Armin als Existenzbeweis, indem er ihm einen Raum zur Verfügung stellt, der seine Sinne befreit und das schöpferische Substrat für sein eigenes »Als ob«-Narrativ liefert. Denn es ist die Autobahn, wo Armins Fantasie lebendig wird. Hier stellt er sich in einer Art von Traumfantasie vor – so wird jedenfalls suggeriert –, dass er die sexuelle Aufmerksamkeit einer Bande von lederbekleideten Motorradfahrern erregt. Dadurch schafft er ein »Gefühl der Freiheit, das außerhalb der erzwungenen Darbietungen seines Alltags liegt« (Kaussen 2013: 179). Kurz vor Ende des Films – das Publikum ist noch immer unsicher, ob es sich bei den Motorradfahrern um reale oder imaginäre Personen handelt – lädt Armin einen aus der Gruppe in sein Schlafzimmer ein und inszeniert damit bewusst eine riskante Situation: Eine Zeit lang lässt uns Hochhäusler glauben, dass seine Eltern sie gleich beim Sex erwischen werden. Doch mehr als Armins »abweichende« sexuelle Fantasien sind es seine erfundenen Bekenntnisse von Gewaltverbrechen, die sich rächen. Das Rohmaterial für Armins Verweigerung des Status quo stammt ebenfalls aus der vermeintlichen anthropologischen Leere des Nicht-Ortes, den die Autobahn darstellt: Er trifft dort

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auf ein verunglücktes Auto, dessen Fahrer anscheinend tot ist. Wieder einmal ruft die absolute Trägheit, die den Zustand des Todes beschreibt, erst die Bewegung hervor, die Armin aus seiner vermeintlichen Lethargie herausholt und ihn auf eine Bahn der Aufsässigkeit katapultiert. In einer Geste der Ablehnung, die in sich widersprüchlich ist, jagt Armin der Authentizität nach, die er in den falschen Identitäten, zu deren Annahme er gedrängt wird, vermisst, indem er eine andere Form der Falschheit annimmt: Er wird zum »falschen Bekenner« aus dem Titel des Films, der einen tragischen Unfall zu einem absichtlichen Gewaltakt stilisiert. Armin scheint zu glauben, dass der Nicht-Ort und die imaginäre Sphäre der gewalttätigen Überschreitungen, den er ermöglicht, einen extraideologischen Raum darstellen, von dem aus er ein souveränes, gegen neoliberale Unterwerfung resistentes »Selbst« entwickeln könnte. Deshalb versucht Armin – anstatt weiterhin entweder gar nichts zu tun oder einfach »mit dem Strom zu schwimmen«, um (wenn auch gleichgültig und stumpf) an den sozialen Prozessen teilzunehmen, die sein betäubendes Gefühl der Entfremdung verstärken – die operative Logik des neoliberalen Systems zu überlisten, indem er diese Logik gegen sich selbst ausspielt. Mit einer gewissen Ironie weist Armin die angstgeprägte Verantwortung zurück, die neoliberalen Subjekten auferlegt wird, durch ständige »Selbstdarstellung [und] Neuerstellung von Identität als Material für den Lebenslauf« (Southwood 2011: 18) ihre Möglichkeiten zu optimieren, indem er die unliebsamen Entwürfe seiner Bewerbungsschreiben in falsche Bekenntnisse umwandelt, die er an die Behörden schickt. Anstatt im Ungewissen gehalten zu werden, versucht er es zu erzeugen, indem er die Bekenntnisse instinktiv dazu benutzt, ein Gegennarrativ zu erzeugen, das das kraftvolle Gefühl der Prekarisierung anzapft und manipuliert, das nicht nur im Hinblick auf die Unsicherheit und Instabilität verstanden werden kann, die durch postfordistische Arbeitsbedingungen hervorgerufen wird, sondern auch durch die ideologische Konstruktion nebulöserer Ängste um unsere Sicherheit: eine Art ontologischer Verwundbarkeit. Der Philosoph Paolo Virno erläutert dies: »Es ist eine Angst, in der zwei zuvor getrennte Dinge miteinander verschmolzen werden: einerseits die Angst vor konkreten Gefahren, zum Beispiel dem Verlust des Arbeitsplatzes. Zum anderen eine viel allgemeinere Angst, eine Angst, der ein präziser Gegenstand fehlt, und das ist das Gefühl der Prekarisierung selbst.« (Pavón 2004) Ob mit Absicht oder nicht, rufen Armins Aktionen die nebulöse Angst vor dem globalen Terrorismus wach, die seit den Ereignissen des 11. September 2001 zu einem Teil dieses Gefühls geworden ist, zu einem Teil der alltäglichen Sprache der Unsicherheit und Ungewissheit in den westlichen Industrienationen, die von den Medien unterstützt in den Dienst der strukturellen Aufrechterhaltung des neoliberalen Regimes gestellt wird. Der Zusammenhang zwischen Terrorismus und der Sprache des Neoliberalismus ist Hochhäusler durchaus bewusst. Schließlich sehen die Zuschauer/-innen in Falscher Bekenner, wie lokale Nachrichtensender sofort auf

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den Zug aufspringen und die ontologische Angst verstärken, indem sie spekulieren, dass Armins imaginäre Übertretungen das Werk eines globalen Terrornetzwerks sind: »Der Terror ist da!« lautet die Schlagzeile einer Zeitung.11 Obwohl Armin an den Gewaltverbrechen, die er zu Unrecht für sich beansprucht, nicht schuld ist, so ist er doch dafür verantwortlich, dass er in Anderen das Gefühl der Prekarisierung weckt, dem er (in seiner konkreteren Form) durch seine Gegenerzählung aus dem Weg gehen kann, denn sein Versuch, zu seinen eigenen Bedingungen Anerkennung zu erlangen, verstärkt das allgemeine Angstlevel, das – laut Southwood (2011) – die Bevölkerung in einem qualvollen Zustand der ziellosen Bewegung festhält. Folglich wird die widerständige Kraft von Armins Gegennarrativ teilweise untergraben, denn obwohl es ihm die Anerkennung bringt, nach der er sich sehnt, tut es dies nicht ganz aus eigener Kraft, sondern vielmehr, indem es (wenn auch unbewusst) teilweise innerhalb der umfassenderen Logik des Regimes operiert, der es entgegenwirken soll. Im Gegensatz zu seiner früheren Bartleby’schen Performance der trägen Gleichgültigkeit (eine Art von »Ich möchte lieber nicht … irgendetwas tun!«), die die »Als ob«-Logik des Regimes durch die Weigerung, nach seinen Bedingungen zu spielen, aufhebt, unterstützt seine Darbietung imaginärer terroristischer Aktivitäten (selbst wenn sie eine Art von pervertierter Selbstfürsorge darstellen sollte) die operative Logik des Regimes – indem sie nämlich die sowieso schon latent vorhandene Unsicherheit und Angst verstärkt. Im Gegensatz zu seiner unkontrollierbaren Demonstration der Verweigerung, die eine Art Kurzschluss im Antriebssystem der neoliberalen Kontrolle verursacht, wird seine imaginäre Terrorherrschaft (weil sie als solche wahrgenommen wird) durch die Bedingungen dessen definiert, was sie zu bekämpfen versucht, und ist daher auf diese reduzierbar. Von der Öffentlichkeit und den Behörden als Ablehnung und kognitive Opposition statt als affektive Verweigerung verstanden, schmieren Armins falsche Bekenntnisse zu einem gewissen Ausmaß die Räder der neoliberalen Maschine.12 11

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Das Gespenst des globalen Terrorismus sucht auch in Ulrich Köhlers Bungalow (2002) die Provinzen heim, wenn auch von den Rändern her. Als ein deutscher Soldat fahnenflüchtig wird, fällt seine Rückkehr in seine Heimatstadt mit einer Explosion im örtlichen Schwimmbad zusammen, von der die Medien und die Einwohner vor Ort vermuten, es sei ein Terroranschlag. In Wirklichkeit ist die Explosion auf ein Gasleck zurückzuführen. Die Angst vor dem Terrorismus sowohl in Falscher Bekenner als auch in Bungalow spiegelt die Situation wider, die Judith Butler in ihrem Buch Gefährdetes Leben identifiziert hat, in dem sie argumentiert: »Verschiedene Terror-Alarmmeldungen, die über die Medien ausgegeben werden, autorisieren und steigern … eine Hysterie, in der die Angst überall und nirgends konkretisiert wird, in der die Individuen aufgefordert werden, auf der Hut zu sein, aber nicht gesagt bekommen, wovor sie auf der Hut sein sollen. Jeder kann sich die Quelle des Terrors beliebig ausmalen und frei bestimmen.« (Butler 2005: 57) Das Freiheitsgefühl, das Kaussen (2013) Armins homoerotischem »Fantasie«-Leben zuschreibt, sollte vielleicht im Licht der ungleichen Rollen, die seine erotischen Begegnungen

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Epilog Die Filme, die ich hier besprochen habe, teilen eine Langsamkeit der Form, die – obwohl oft als langweilig und publikumsfeindlich kritisiert –das Konzept der Trägheit widerspiegelt und erforscht. Über diesen und andere Punkte der ästhetischen Korrespondenz zwischen dem Werk von McQueen und der Berliner Schule hinaus deuten alle drei Filme aus thematischer Sicht darauf hin, dass die prekären Existenzen, die sowohl mit dem Terrorismus als auch mit dem Neoliberalismus (der von seinen eifrigsten Kritikern als eine Form des Terrorismus angesehen wird) verbunden sind, eine Art von ruheloser Aktivität auslöst, die die unerwünschte gesellschaftspolitische Trägheit, die ihr zugrunde liegt, verdeckt. Trotzdem, und vielleicht paradoxerweise, sind es alternative Darbietungen von Trägheit, nicht zuletzt Ruhe und Erholung, die das Potenzial in sich bergen, Subjekte zu einer neu konfigurierten politischen Haltung zurückzuführen. Man muss verlangsamen, um zu beschleunigen.

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mit der schwulen Biker-Subkultur kennzeichnen, anders bewertet werden. Gewöhnlich ist Armin nicht dazu geneigt, sich Autoritäten zu beugen; hier jedoch wird er plötzlich gehorsam und unterwirft sich bereitwillig der Dominanz der Männer. Seine Nachgiebigkeit könnte daher möglicherweise eine verschwommene Reflektion der unbewussten Konditionierung in neoliberale Regierungsmuster gelesen werden.

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Gerade weil Rettenbergers Aktionen … keinen Zweck im herkömmlichen Sinne zu haben scheinen, gibt uns [der Räuber] die Möglichkeit, den Eindruck zu gewinnen, dass es seinem tiefsten inneren Wesen entspricht, auf eine Art die Kraft des Widerstandes als solchem zu verkörpern – kein Widerstand gegen etwas Bestimmtes, sondern einfach nur Widerstand. Gerade die Intransitivität von Rettenbergers absoluter Verweigerung ähnelt in dieser Hinsicht eher der von Bartlebys Formel »Ich möchte lieber nicht«, als dass sie exemplarisch für eine spezifisch dialektische Ablehnung von etwas steht, die traditionell die Fähigkeit der radikalen Vorstellungskraft erschöpft, Politik zu konzeptualisieren. – Marco Abel über den Protagonisten von Benjamin Heisenbergs »Der Räuber«   … und trotzdem möchte ich verdammt noch mal lieber so sein, wie ich bin – immer auf der Flucht, weil ich in einem Laden eine Schachtel Zigaretten und einen Topf Marmelade geklaut habe –, als die Oberhand über andere haben und von den Zehennägeln an aufwärts tot sein. Vielleicht ist man tot, sobald man die Oberhand über jemanden gewinnt. Mein Gott, um den letzten Satz von mir zu geben, musste ich erst einige hundert Meilen laufen. – Alan Sillitoe, Die Einsamkeit des Langstreckenläufers Johann Rettenberger, die Hauptfigur in Benjamin Heisenbergs Film Der Räuber (2010), wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen. Auf der einen Seite ist er ein notorischer Bankräuber, auf der anderen aber auch ein unermüdlicher Sportler. Er weigert sich, sich zu bessern, und weist alle Erwartungen, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden, zurück. Er raubt weiter Banken aus und ermordet sogar seinen Bewährungshelfer, doch bietet der Film zu keinem Zeitpunkt eine Erklärung, warum er konventionelle Moralvorstellungen ablehnt. Warum erzählt Heisenberg die Geschichte dieses überzeugten Kriminellen? Wogegen stellt er sich? Marco Abel (2013) beschreibt es folgendermaßen: Wir beginnen, uns zu fragen, ob seine Taten und seine Haltung gegenüber dem Gesetz eine bewusste Ablehnung

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von etwas darstellen oder ob er nur gegen die Konventionen der Gesellschaft handelt, weil es in seiner Natur liegt, sich zu widersetzen. Wie hängen seine unnachgiebige Athletik und seine konsequente Auflehnung zusammen, und wieso trägt seine Vorliebe für das Laufen dazu bei, dass wir ihn als Symbol der Verweigerung verstehen? Das Bild des Läufers hat in den neuen filmischen Bewegungen, die unter dem Label »Neue Welle« fungieren, eine lange Geschichte. Wenn man nach dem Ursprung dieses Motivs suchen wollte, würde man gleich in der frühsten Ausprägung der neuen Welle fündig werden – sozusagen dem Beginn aller filmischen neuen Wellen: François Truffauts Les quatre cents coups (Sie küssten und sie schlugen ihn, 1959). Egal, ob man nun von der französischen Nouvelle Vague und ihrem ikonoklastischen Geist spricht, von der britischen New Wave und ihrem Begehren, den Problemen der Arbeiterklasse Ausdruck zu verleihen, oder von den sozialkritischen Filmen des Neuen Deutschen Films, all diese Filme und Filmemacher/-innen waren von Figuren des Widerstands und des Aufbegehrens fasziniert. Dass die französische Nouvelle Vague die Berliner Schule beeinflusst hat, ist hinlänglich bekannt.1 Ich würde diesen Einfluss jedoch auf andere Weise beschreiben: Wie ihre französischen Vorgänger/-innen behaupten die Filmemacher/-innen der Berliner Schule, dass das Leben mehr ist als nur eine Frage der Bewegung. Bewegung ist zwar eine Konstante, doch unsere automatisierten Verkehrsmittel, insbesondere unsere Autos und Züge, sind ein weiterer Ausdruck der Überregulierung und unserer allgemeinen Unfreiheit. In der Welt der Berliner Schule sind die Autobahnen, die Straßenverkehrsordnung und der Irrglaube, dass wir etwas erreichen, wenn wir uns von Ort zu Ort bewegen, Teil eines Gefüges von Vorentscheidungen, in das Fahrgäste und Fahrer/-innen hineingeworfen werden. Man bewegt sich fast nie aus eigenem Antrieb, und es gibt vielleicht keine irreführendere Redewendung, als zu sagen, dass jemand »am Steuer sitzt«. Aufgrund der Straßen- und der Verkehrsvorschriften haben wir in dieser Position in Wirklichkeit sehr wenig Kontrolle. Automobilität ist Mobilität ohne Autonomie, und deshalb scheint das Laufen eine Alternative zu sein. Für die Autorenfilmer und -filmerinnen des New-Wave-Kinos ist die filmische Romantisierung der Flucht zu Fuß also schon seit langem eine Antwort auf die Zwänge hyperautomatisierter Gesellschaften. Die Berliner Schule bildet da keine Ausnahme.

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Französische Kritiker haben den Begriff »nouvelle vague allemande« verwendet, um die Berliner Schule zu beschreiben. Siehe zum Beispiel Lequeret 2004. Abel erörtert zahlreiche Verwendungen dieses Begriffs in The Counter-Cinema of the Berlin School (2013: 26, Fn 17). Er erwähnt auch den Einfluss der französischen Zeitschrift »Cahiers du Cinéma« auf die Filmemacher/-innen der Berliner Schule und ihre Schriften und betont insbesondere den Einfluss Truffauts (153).

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Der ursprüngliche Läufer: Antoine Doinel Truffauts Sie küssten und sie schlugen ihn, der seinem Regisseur 1959 bei den Filmfestspielen in Cannes den Preis für die beste Regie einbrachte und der sicherlich zu den prägendsten Filmen der Nouvelle Vague gehört, trug dazu bei, eine Bewegung gegen den filmischen Mainstream einzuleiten. Seine Hauptfigur, ein ruheloser Jugendlicher namens Antoine Doinel, wurde zum Symbol dieser neuen Welle. Er wurde zum Wahrzeichen für die französischen Filmemacher dieser Gruppe, insbesondere für die Redakteure der Zeitschrift Cahiers du Cinéma. Sie erkannten sich wieder in seinem Gefühl des Entfremdetseins, seiner Heimatlosigkeit und seinem Unwillen, sich in das Räderwerk des Fortschrittsglaubens und des Nachkriegsoptimismus der Pariser Kultur einzufügen. Antoine gehörte zu jener ersten Generation, die nach dem Krieg volljährig wurde und die 1968 die sozialen Protestbewegungen anführen sollte. In Truffauts Film erfährt er den Prozess des Erwachsenwerdens vor allem als Hilflosigkeit – als Gefühl, dass seine Eltern und das starre französische Bildungssystem ihn willkürlich herumkommandieren. Antoine ist weder Kriegs- noch Gewaltopfer, aber all das macht seine Anomie umso irritierender. Seine Lehrer quälen ihn mit ihrer anachronistischen Pädagogik; sein Vater, der zwar einigermaßen verständnisvoll ist, drängt ihn dazu, sich anzupassen, aus Angst vor dem sozialen Abstieg des Sohnes (»Du musst dich durchsetzen, du musst immer vorne dabei sein«, sagt ihm sein Vater, »Sonst kommst du nie ins Rennen.«); und er entdeckt zufällig, dass seine Mutter eine Affäre hat. Weil er die Ideen ablehnt, die ihm von seinen Eltern und der Schule aufgepfropft werden, gibt er jedwede persönlichen und schulischen Ambitionen auf und weigert sich, sich anzupassen. Selbst sein Versuch, kriminell zu werden, scheitert, da er einen Rückzieher macht, und daraufhin bei der Rückgabe der gestohlenen Schreibmaschine festgenommen wird. Eine der eindrucksvollsten Szenen des Films spielt auf einem Rummelplatz, als Antoine und sein Freund René die Schule schwänzen. Sie bewegen sich in einer Abfolge von langen und mittleren Einstellungen durch die Straßen von Paris, eingebettet in die Rituale des Stadtlebens. Wie ein Paar Flipperkugeln treffen sie auf eine Station nach der anderen und ziehen von einem städtischen Spektakel zum nächsten. Schließlich finden sie den Weg zum Jahrmarkt, wo Antoine eine Einrichtung betritt, die als »der Rotor« bekannt ist – eine Nachkriegsattraktion, die der deutsche Ingenieur Ernst Hoffmeister erfunden hat. Die Vorrichtung war damals vollkommen neu, denn sie drehte ihre Fahrgäste im Kreis, zwang sie in verdrehte Positionen und setzte sie, wie alle Fahrgeschäfte, wieder an ihrem Ausgangspunkt ab. An die Wand des rotierenden Zylinders gepresst, wird Antoine wie ein Wäschestück in der Trommel einer Waschmaschine herumgeschleudert. Die Zentrifugalkraft des Rotors erzeugt einen Zustand der Schwerelosigkeit. Robert Hughes’ inzwischen klassische Nacherzählung des Films fasst die Sequenz

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folgendermaßen in Worte: »Antoine saust vorbei, die Arme ausgestreckt und an die Wand gepresst … Mehrere Personen haben sich vom Boden der Trommel gelöst und hängen an den Seiten, mit den Füßen in der Luft. Das Drehen der Trommel klingt wie Gebrüll; die Menschen schreien vor Vergnügen oder Angst.« (Denby 1969: 40) Antoine nimmt das Brüllen wahr, als ob er im Bauch eines Tieres wäre. Sind die Fahrgäste die Beute der Maschine? Einerseits versinnbildlicht der Rotor den immensen Sozialisierungsapparat, der auf Antoine lastet. Hin- und hergezerrt von der Maschinerie der französischen Gesellschaft, scheint er sich nun an dieser Unterwerfung zu erfreuen und genießt seinen plötzlichen Auftrieb und den damit einhergehenden Kontrollverlust. Auf der anderen Seite fällt auf, dass man die massive Apparatur mit dem Kino selbst gleichsetzen könnte. Es ähnelt einem Zoetrop (auch Wundertrommel genannt), ein Mechanismus, der oft als Vorläufer des Filmprojektors bezeichnet wird. Truffaut veranschaulicht damit die narrative Mechanik seines Films.2 Die Vorwärtsbewegung der Handlung treibt den Protagonisten vor sich her, und wir fragen uns, ob Antoine irgendwann sein Schicksal selbst in die Hand nehmen können wird. Sowohl die Welt, die von seinen Eltern und der Schule regiert wird, als auch die Erzählung des Films ist eine Struktur, der er unterworfen ist. Sein Fortschreiten ins Erwachsenenalter besteht paradoxerweise darin, dass er erkennt, dass er in Wirklichkeit keine Kontrolle hat. Antoine kommt schließlich tatsächlich zu dieser Erkenntnis. Der Film zeigt das scheinbare Vergnügen, das er an seiner Unterwerfung empfindet, untergräbt es jedoch sofort wieder. Spätestens in dem Moment, als Antoine verhaftet wird und seine Eltern beschließen, dass sie mit seinem schlechten Benehmen nicht mehr zurechtkommen und ihn ins Erziehungsheim schicken, muss er erkennen wie misslich und belastend seine Ohnmacht ist. Als er an diesem Tag weggeschafft wird, sehen wir aus dem Rückfenster eines Polizeitransporters hinaus – aus seiner Perspektive, während er rückwärts weg befördert wird. Zunächst gibt es eine Totale aus Antoines Sicht. Der Gefangenentransporter bewegt sich von der Kamera weg; diese nähert sich verlockenderweise zunächst, entfernt sich daraufhin aber wieder. Antoine wird für einen Diebstahl, den er nur halbherzig begangen hat, verhaftet und verstoßen, und in diesem Moment wird er sich seiner Hilflosigkeit bewusst: Er sieht die Welt durch Gitterstäbe. Die Einstellung aus dem davonfahrenden Fahrzeug erzählt eine Geschichte des Eingesperrtseins. Die Zeit seines Heranwachsens steht in diesem Augenblick im Film dafür, dass ihm seine Souveränität vollständig genommen wurde. Die einzige Freiheit, die noch vorstellbar ist, ist diejenige, die sich aus dem Weglaufen ergibt, was Antoine schließlich in der gefeierten Schlussszene des Films auch tut, als er aus der Besserungsanstalt wegrennt.

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Dass der Rotor einem Zoetrop ähnelt, wird sowohl von Andrew (2010: xix) als auch von Neupert (2007: 186) hervorgehoben.

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Die Szene von Antoines Flucht – sein Rennen ohne Ziel, einfach nur weg aus dem Heim, mit der einzigen Absicht, sich an einen anderen Ort zu versetzen – ist zu einem Symbol für den Geist der französischen Nouvelle Vague geworden. Während eines Fußballspiels sieht er eine Gelegenheit zur Flucht und ergreift sie. Er driftet nicht mehr durch die Straßen der Stadt wie zuvor mit seinem Freund René, sondern er findet sich im weniger strukturierten Territorium des ländlichen Raums wieder. Er verlässt die Anstalt auf seinen eigenen zwei Beinen, rennt an Zäunen, Feldern und Bauernhäusern vorbei. Die Kamera folgt ihm mit einer ausgedehnten, neunundsiebzig Sekunden langen Fahrt, während der er an die Ränder des Filmbildes stößt und von der Besserungsanstalt zum Meer rennt. Wir hören nur das Geräusch von Fußtritten und das Zwitschern einiger Vögel. Während er läuft, scheint Antoine nur eines im Sinn zu haben: wegzukommen. Er hat kein Ziel, er will nur den Ozean sehen, wie er es René einmal erzählt hat. Während er läuft, hat er die Kamera im Schlepptau und Truffauts lange Einstellung hebt hervor, dass er seine Handlungsfähigkeit in seine eigene Hand genommen hat: Der Protagonist nimmt uns mit (Abb. 12.1).

Abbildung 12.1: Eine Kamerafahrt: Antoine rennt weg in François Truffauts ›Sie küssten und sie schlugen ihn‹ (1959).

Antoine bewegt sich weg vom begrenzten Land hin zum grenzenlosen Meer, das sich im konkreten Fall in Villers-sur-Mer, 200 Kilometer von Paris entfernt, befindet. Die Musik auf der Tonspur wird langsamer und er erreicht den Strand. Er dreht sich um und geht auf die Kamera zu. Das Bild friert während der Nahaufnahme von Antoine ein; wie der Literaturkritiker Norman Holland schreibt: »In dieser letzten einer langen Reihe von Rückwärtsbewegungen von Stadt zu Land zum präbiotischen Urozean wird das Bild zum Standbild, als hätte sogar die Kamera die Bewegung aufgegeben« (1960: 273). Antoine bringt die Erzählung zum Stillstand und der Bilderfluss gibt nach. Wenn das Kino ein sich drehender Rotor ist, ein riesiges Zoetrop, dann könnte man jetzt sagen, dass er das Fahrgeschäft verlassen hat. Dudley Andrew versteht dieses statische Bild als Ausdruck der Be-

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freiung und beschreibt, wie Antoine »sich umdreht, um in einem letzten Standbild Truffaut und die Zuschauer zu fixieren. Der Film endet mit der Nahaufnahme eines Kindes, das seine Ausbildung auf der Straße erhalten hat, und mit diesem Wissen der Welt und uns entgegentritt. Weder kann [Truffaut] es vollständig kontrollieren noch können wir es vollständig verstehen« (Andrew 2010: xx). Dementsprechend ist es nun Antoine, dem die Erzählung gehört – wenn auch nur für den Augenblick, auch wenn die Zukunft nur weiteres Eingesperrtsein verspricht. Kritiker erkannten die Bedeutung der Sequenz. Richard Neupert argumentiert, dass das Standbild am Ende dieser filmischen Flucht inzwischen »so berühmt ist wie die Treppe von Odessa in Panzerkreuzer Potemkin oder die Schneekugel in Citizen Kane, und Antoines mehrdeutiger Blick in die Kamera symbolisiert seitdem eine vollkommen neue Art des Filmemachens« (Neupert 2007: 177).3 Ein Beweis für die Wirkung des Films – dass er nicht nur zum Symbol einer bestimmten Art des Filmemachens wurde, sondern dass er diese Praxis verkörperte – war, dass er eine weitere neue Welle hervorbrachte: Es wird zu selten darauf hingewiesen, dass Tony Richardsons The Loneliness of the Long Distance Runner (Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, 1962), von dem gesagt wird, dass er die britische New Wave eingeläutet hat, und der von einem begabten jungen Sportler aus der Arbeiterklasse handelt, sich eng an die Struktur von Truffauts Sie küssten und sie schlugen ihn anlehnt.4 Die Einsamkeit des Langstreckenläufers ist kein Remake von Truffauts Film, aber die Handlung beider Filme entfaltet sich auf ähnliche Weise, und es ist klar, warum Richardson Sillitoes Kurzgeschichte verfilmen wollte: Colin Smith, die Hauptfigur des Films und nur wenige Jahre älter als Truffauts Antoine, stiehlt unter anderem eine Schreibmaschine und wird dafür ins Erziehungsheim gesteckt. Die Bilder, wie Smith durch Wälder und an Flussufern entlangläuft, lassen utopische Momente der Freiheit aufscheinen, außerhalb der Grenzen der Stadt mit ihrem ungerecht verteilten Reichtum und außerhalb des Erziehungsheims, einem Ort, an dem andere

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Truffaut erkannte die Bedeutung der Tatsache, dass sein Protagonist zu Fuß wegläuft: Eine Episode aus seinem früheren Film Les mistons (1957) trägt explizit den Titel »La fugue d’Antoine« (oder »Antoine läuft weg«). Sie küssten und sie schlugen ihn entwickelte sich aus diesem früheren Film. Mindestens ein Kritiker wies damals darauf hin: »Wenn diese Mittel den Bereich des britischen ›New Wave‹-Films verlassen und eintreten in etwas, was man nur als Abklatsch (obwohl zweifellos eine Hommage beabsichtigt war) von Truffauts Quatre Cent Coups bezeichnen kann, dann erreichen die Zweifel an der Entwicklung von Richardsons Stil beunruhigende Ausmaße … Wo ist Richardsons eigene Handschrift überhaupt?« Vgl. British Film Institute 1962: 148.

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Macht über ihn ausüben, mit etwas, was Sillitoe mehrmals als »the whip-hand« – die Peitschenhand– bezeichnet.5 Gleich am Anfang des Films ist Smith ein Läufer. Als das Laufen allerdings sein Freiheitsversprechen verliert, trifft er eine Entscheidung im Sinne von Melvilles Bartleby. Er zieht sich aus dem Wettbewerb zurück und beschließt, dem Nützlichkeitsdenken zu entsagen. Im letzten Rennen des Films übernimmt er zwar zunächst die Führung, hört dann aber auf zu laufen – und weigert sich damit, seinem Aufseher als persönliches Rennpferd dienen. Der Film wendet sich thematisch also der Entscheidung zu, die sein sportlicher Hauptprotagonist gefällt hat. Lächelnd trifft Smith seine Wahl und enttäuscht damit seinen Förderer. Er hatte schon zu Beginn des Rennens die Führung übernommen, aber beim Laufen beginnt er, über das ungerechte System nachzudenken, dem er unterworfen ist. Kurz vor der Ziellinie hält er an. Richardson verwendet an dieser Stelle eine Montage und keine lange Einstellung und schneidet Smiths Erinnerungen an seine Vergangenheit gegen Bilder des enttäuschten Direktors der Besserungsanstalt. Smith wägt seine Optionen ab und entscheidet sich dafür aufzubegehren. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, der sich seines Vorläufers durchaus bewusst ist, greift auch Truffauts berühmtes Standbild auf und schließt ebenfalls mit einem Still ab. Im Erziehungsheim müssen die jungen Männer Rüstungsgüter herstellen. Als Strafe für seine Verweigerung wird Smith gezwungen, dort zu arbeiten. In der letzten Einstellung sehen wir ein Standbild eines Häftlings, der eine Gasmaske zusammensetzt. Der Blick der Maske ist aus dem Bild heraus direkt auf die Betrachterin gerichtet und ihre leeren Augenhöhlen klagen uns herausfordernd an. Richardson verdeutlicht hier ganz klar, dass Smiths Wert für die Gesellschaft sich nur an seiner Nützlichkeit misst, sowie dass sein Sieg nur flüchtig und vorübergehend war. Auf der Tonspur hören wir den Refrain von Hubert Parrys patriotischer Hymne »Jerusalem«, die auf einem Gedicht von William Blake basiert und durch das christliche Motiv der heiligen Stadt die Utopie eines Paradieses auf englischem Boden entwirft. Der Film dreht dieses Motiv um und setzt das Lied durchgängig als Kritik am englischen Patriotismus ein.6 Die Konstellation, die sich aus der Szene der Zwangsarbeit, der Gasmaske, dem Direktor mit der Peitschenhand und diesem englischen Festgesang ergibt, könnte nicht eindeutiger sein: Smith, ein einfacher,

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Anmerkung der Übersetzerin: In der deutschen Übersetzung von Sillitoes Erzählung (2007) wird der Begriff als »Oberhand über jemanden haben« bzw. »gewinnen« übersetzt. Vgl. auch das Eingangszitat zu diesem Essay. Blaydes und Bordinat schreiben dazu: »Wenn Smith am meisten unter den Beschränkungen des Establishments leidet, hören wir auf der Tonspur ›Jerusalem‹ … Loneliness nutzt das Lied, um auf kraftvolle Art und Weise das Thema des angry young man – des zornigen jungen Mannes – weiterzuführen.« (1983: 214)

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aber rebellischer junger Mann, will nichts mit der heuchlerischen Kultur zu tun haben, die ihn ausbeutet. Smiths Weigerung, seine Entscheidung, sich gegen den Direktor und die ihm auferlegten Werte zu stellen, stellt sicherlich eine Ablehnung von etwas dar. Richardson behauptet nicht, dass Smith von Natur aus aufrührerisch ist. Im Gegenteil, er verfügt über ungenutztes kreatives Potenzial, das seine Wärter höchstwahrscheinlich verkommen lassen werden. Seine Reaktion resultiert vielmehr aus dem Zusammenprall unterschiedlicher Werte mit der Trostlosigkeit, die mit dem Fortbestehen der Klassenunterschiede einhergeht. Obwohl sich der Film an Sie küssten und sie schlugen ihn anlehnt, ist die Politik seiner Figuren eine andere: Antoine war einfach unzufrieden, das Opfer einer generellen Misere. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers ist eine spezifischere Artikulation des Klassenkonflikts. Was beide Filme jedoch gemeinsam haben, ist eine atavistische Romantisierung des Laufens, der Flucht zu Fuß, als Widerstand dieser neuartigen Protagonisten gegen eine Welt, in der sie wie Figuren auf einem Schachbrett hin und her geschoben werden.

Heisenberg’sche Relationen Lutz Koepnick schreibt, dass die Filme der Berliner Schule »durch ihre diskrete Kameraführung und ihre Zurückhaltung gegenüber schnellen Schnitten und Schwenks, Spezialeffekten und digitalen Bildmanipulationen gekennzeichnet sind« (Koepnick 2014: 155), und zielt damit auf ihr notorisch gemächliches Tempo ab. Er fügt hinzu, dass die Filme der Berliner Schule sich »ihrer eigenen Langsamkeit und Kleinheit rühmen, ihrem Mangel an Spektakel und Affekt, ihrer Geduld beim Registrieren des bloßen Vergehens von unstrukturierter Zeit« (155). Die Regisseure und Regisseurinnen dieser Filme lehnen den Schnitt und andere Techniken nicht ab, sie verzichten auch nicht auf die Montage, aber sie »versuchen, die Integrität des einzelnen filmischen Bildes zu bewahren und die Kontinuität der dargestellten Handlung zu würdigen« (156). Als Beispiele einer Gegenbewegung, die sich oft gegen die Bewegung zu richten scheint und den zweifachen Vorgaben der Beschleunigung und des Fortschritts kritisch gegenübersteht, streben die Filme der Berliner Schule danach, ihre Zuschauer/-innen in einen kontemplativen Zustand zu versetzen, und nicht – quasi automatisch – ausgetretenen narrativen Pfaden zu folgen. Wo in den Filmen der Berliner Schule schnelle Fortbewegung dargestellt wird – etwa, wenn die Figuren Zug oder Auto fahren –, lässt sich weder Freiheit noch Selbstbestimmung entdecken. Vielmehr entscheiden sich die Filme und ihre Regisseure und Regisseurinnen dafür, Mobilität als einen kaum bewussten Prozess darzustellen, bei dem die Passagiere von einem Ziel zum nächsten ziehen und die Fahrzeuge ihre Fahrer/-innen zu steuern scheinen. Genauso wie Truffaut in Sie

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küssten und sie schlugen ihn Bewegungsmaschinen wie den Rotor und den Gefängnistransporter der Freiheit der Fortbewegung zu Fuß gegenüberstellt, um zu zeigen, dass Antoine sich seine Autonomie zurückerobert, so können wir auch feststellen, dass es in den Filmen der Berliner Schule regelmäßig die Fahrzeuge selbst sind, die ihre Fahrer/-innen vorantreiben und nicht umgekehrt. Das Automobil, das im Kino so oft mit Individualismus, Autonomie und der Freiheit der offenen Straße gleichgesetzt wird, steht in diesen deutschen Produktionen für etwas ganz anderes. In einer Analyse der Arbeiten von Christian Petzold, Christoph Hochhäusler und Ulrich Köhler schreibt Koepnick, dass in den Filmen der Berliner Schule die Autos »ihre Fahrer zu fahren scheinen«. Er fährt fort: »Während sich die Autos im Kreis bewegen oder namenlose und scheinbar identische Landschaften durchqueren, lenken die Fahrer diese teilnahmslos – mit leerem Blick und wenig Aufmerksamkeit für das, was vor ihrer Windschutzscheibe liegt« (2013a: 76).7 Wenn wir den Schlüssel im Zündschloss drehen, so suggerieren die Filme, ist es bereits zu spät: Durch die Macht der Maschinen und die Regeln des Straßenverkehrs sind die meisten unserer bewussten Entscheidungsprozesse längst aufgehoben.8 In den Filmen der Berliner Schule sind Kraftfahrzeuge keine Agenten der Befreiung, sondern wesentliche Bestandteile einer überbürokratisierten Welt, in der unsere Fähigkeit, individuelle Entscheidungen zu treffen, fast vollständig zerstört wurde. Heisenberg scheint sich dessen zutiefst bewusst zu sein. Obwohl es am Anfang von Schläfer (2005) keine Autos gibt, thematisieren die ersten Minuten des Films schon, wie die Autonomie seines Protagonisten untergraben wird. Die Kamera, deren Sicht von einem Baum verdeckt wird, schwenkt langsam von links nach rechts, ohne dabei eine bestimmte Perspektive einzunehmen. Sie scheint den Gegenstand ihres Interesses mustern, aber ohne ihn zu fokussieren. Wir sehen Johannes das erste Mal, als er einen von Bäumen gesäumten Fußweg entlang geht, während die Kamera ihn gleichgültig und fast wie nebenbei in den Blick nimmt, als er sich von der Seite nähert. Abel beschreibt diese Eröffnungseinstellung als »eine streng kadrierte Inszenierung eines öffentlichen Parks, die es uns allerdings schwer macht, das Geschehen zu erfassen, weil sie uns keinen klaren Fokus bietet, auf den wir unsere Wahrnehmung richten sollen« (Abel 2013: 203). Als unser Blick Johannes schließlich ausfindig macht, scheint es, als sei er zufällig in unser Sichtfeld geraten. Das Geräusch der Schritte, das wir auf der Tonspur hören, steht in keinem eindeutigen Zusammenhang zu den Personen, die wir sehen. Nach und

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Mobilität ist auch ein wichtiges Thema in Fishers Studie über Christian Petzold (2013), insbesondere wenn er die Rolle der Automobilität in Filmen wie Cuba Libre (1996), Wolfsburg (2003) und Yella (2007) näher betrachtet. In seiner Untersuchung dieses Phänomens argumentiert Laurier, dass beim Bremsen oder Lenken weniger bewusste Willensäußerung im Spiel ist, als man gemeinhin annimmt (2011: 69–82).

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nach stellt sich heraus, dass sich Johannes in Begleitung von Frau Wasser befindet, einer Beamtin des Nachrichtendienstes, und dass sie ihn dazu bewegen möchte, seinen Kollegen Farid zu bespitzeln. Sie versucht, ihn zu überreden: »Sie bestimmen, was Sie uns sagen, und wie wir [Farid] sehen. Das liegt also ganz in Ihrer Hand.« Ihre zynische Behauptung ist unaufrichtig. Von Anfang an sitzt Johannes nicht am Steuer, sondern ist in einem Netz gefangen und kontrolliert nur einen winzigen Bereich seiner Welt. Er ist das Objekt von Heisenbergs Erzählung, kein frei handelnder Akteur. Die Frage nach der Kontrolle und der Autonomie der Hauptfigur wird auch in den Szenen des Films aufgeworfen, die zeigen, wie Johannes und seine Kollegen auf LAN-Partys (Local Area Network) an Multiplayer-Ego-Shooter-Videospielen teilnehmen. Bevor er Farid kennenlernt, spielt Johannes seine Computerspiele allein im Haus seiner gebrechlichen Großmutter. In seinem einfach eingerichteten Zimmer sehen wir ein Rennspiel auf seinem Bildschirm. Der selbstbewusste Farid hingegen weiß, wie man sich in Gesellschaft verhält. Heisenberg zeigt ihn auf einer der LAN-Partys, wo er an einem Multiplayer-Game teilnimmt. Wir sehen zunächst Farid in Großaufnahme auf den Bildschirm starren, als Johannes, dessen Kopf zunächst durch den Blickwinkel der Kamera abgeschnitten ist, hinter Farid tritt und ihm zuschaut. Johannes, der nur teilweise sichtbar ist, sehnt sich danach, das gleiche Gefühl von Kontrolle und Selbstbeherrschung zu erfahren, das für seinen Kollegen so selbstverständlich erscheint. Das sind Momente einer gesteigerten Mobilität, deren Bilder, die wir auf den Monitoren sehen, laut Abel zu den einzigen Szenen im Film gehören, deren Montage den »Klischees des Actionkinos« entsprechen, wenn auch in einer stark mediatisierten Form (Abel 2013: 209). Der Film suggeriert nicht, dass es sich beim Computerspiel um echte Mobilität handelt. Es ist schließlich nur ein Spiel, und wie bei einer Fahrt im Vergnügungspark erreichen die Teilnehmenden kein Ziel, aber Farid genießt es und ist in der Lage, diesen Genuss mit anderen zu teilen. Als Johannes später im Film Farid bei Frau Wasser denunziert und sich dadurch einen Vorteil verschafft, ändert sich die Lage. Bei der anschließenden LAN-Party zeigt Heisenberg abwechselnd Großaufnahmen von beiden, und wie es im Drehbuch heißt: »Sie spielen konzentriert. Johannes Mimik und Körpersprache hat sich verändert. Er reagiert kaum und wirkt erstarrt – das kindliche Mitfiebernde vom Anfang ist verschwunden« (Heisenberg 2004: 65). Johannes erlebt einen Anflug von Kontrolle, da er durch das Spiel eine Illusion von Freiheit erfährt. Heisenbergs Kurzfilm Der Bombenkönig (2001) scheint den Stil dieser Sequenzen vorweggenommen zu haben. Dabei handelt es sich um eine Arbeit von fünfzehneinhalb Minuten, die Heisenberg während seines Studiums an der Hochschule für Fernsehen und Film in München konzipierte, drehte und inszenierte. In diesem kurzen dokumentarischen Werk geben vier Jugendliche einer anderen Person, die sich mit einem Game-Controller außerhalb des Bildes befindet, abwechselnd Be-

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fehle, welche Züge sie in einem Videospiel ausführen soll. Wir sehen nie das Spiel selbst, sondern in Nahaufnahme nur die Gesichter aus der Perspektive des Monitors, als ob es sich um einen Testdreh für die LAN-Party-Sequenzen in Schläfer handeln würde. Die Betrachter/-innen werden so in die Position des Computers versetzt. Die Spieler sind sich nicht bewusst, dass sie beobachtet werden. Möglicherweise wissen sie nicht einmal, dass sie gefilmt werden. Ihre Sprache ähnelt kaum menschlicher Kommunikation – sie scheinen mechanisch Befehle auszusprechen, um die Person zu instruieren, die die Steuerung übernommen hat. Der Austausch gleicht einem System von Relais und Reflexen. In den Perioden des Schweigens, wenn das Spiel vermutlich auf Pause steht, kann man das Verhalten der Jugendlichen so interpretieren, dass sie sich der Gegenwart der Kamera und der Person, die hinter ihr steht, bewusst sind, aber während des Spiels sind alle Zeichen zwischenmenschlicher Interaktion verschwunden. Der illusorische Eindruck, Kontrolle zu haben, hält in Schläfer nie lange an. Johannes muss sich eingestehen, dass die Dinge für ihn aus dem Ruder laufen. Besonders bewusst wird es ihm, als er am Ende eines Abends mit Farid und Beate – der Frau, um die beide Männer werben – Farid im romantischen Wettstreit unterliegt. Die drei teilen sich ein Taxi nach Hause, aber Johannes kann nicht verhindern, dass die beiden anderen gemeinsam aussteigen, um in seiner Abwesenheit weiter zu flirten. Das Fahrzeug fährt mit Johannes davon – in sein einsames Zimmer im fernen Vorort Obermenzing – und wir sehen aus seiner Perspektive, wie er hilflos zurückblickt, und ohnmächtig beobachten muss, wie Farid und Beate einander näherkommen. Er wird sich seiner Isolation bewusst, und das Bild aus Heck des Wagens, das sich langsam entfernt, ist ein Wendepunkt in der Erzählung – ähnlich wie die Einstellung von Antoine, als er in Sie küssten und sie schlugen ihn ins Erziehungsheim gebracht wird.9 (Abb. 12.2) Das symbolische Herzstück von Heisenbergs Film sind jedoch die Szenen, in denen drei Hauptfiguren – Johannes, Farid und Beate – zusammen eine GokartHalle besuchen. Die Gokart-Bahn – nicht die eigentlichen Fahrzeuge, sondern die Fahrbahn, auf der sie sich bewegen und die einer Möbiusschleife gleicht – sind dem Rotor in Truffauts Film vergleichbar. Die Bahn selbst ist unbeweglich, die Gokarts drehen sich im Kreis, und die höchste Freiheit, die Besucher/-innen haben, ist die Freiheit, die Mitspielenden zu provozieren. Bei ihrem ersten Besuch auf der

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Außer an Truffaut erinnert Heisenbergs Stil auch an andere französische Filmemacher. Abel stellt assoziative Verbindungen zu zwei kanonischen Werken des französischen Kinos her und nennt Renoirs La règle du jeu (Die Spielregel, 1939) und Godards Masculin Féminin (1966) als Einflüsse auf Schläfer. In Masculin Féminin ist Jean-Pierre Léaud, der auch den Antoine in Sie küssten und sie schlugen ihn spielt, in der Rolle, die die von Abel zitierte Bemerkung macht (Abel 2013: 212).

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Bahn versucht Johannes noch, die Aufmerksamkeit von Beate zu erregen. Heisenbergs Nahaufnahmen stellen diese Aktivität, die eigentlich Spaß machen soll, als stressauslösend dar. Das bisschen Kontrolle, das Johannes in seinem Gokart hat, wird dadurch untergraben, dass ihm bewusst ist, dass er mit Farid nicht mithalten kann. Er fährt im Kreis herum, wird aber von seinem Begleiter und seiner Begleiterin in die Zange genommen. Er findet keine Befriedigung, kein buchstäbliches oder metaphorisches Gefühl der Schwerelosigkeit. Erst später, als sie zum zweiten Mal die Gokart-Bahn besuchen, nachdem Johannes begonnen hat, Farids Position heimtückisch zu untergraben, schöpft er aus der Aktivität ein Gefühl der Macht. Beim ersten Besuch vermittelt der diegetische Sound einen Eindruck von Beklemmung; wir hören nur das ungleichmäßige Geräusch der Motoren auf der Rennstrecke. Doch beim zweiten Mal, unmittelbar nachdem Johannes eine lang ersehnte (sexuelle) Begegnung mit Beate hat, schließt die Musik auf der Tonspur – Lorenz Dangels geisterhafte Streicherkomposition – alle beunruhigenden diegetischen Klänge, alle unvorhersehbaren oder beunruhigenden Geräusche hermetisch aus. Zeitweise scheint Johannes in diesem Wettlauf die Nase vorn zu haben, Farid dagegen ist nervös und zerstreut. Johannes hat es geschafft, ein gewisses Maß an Kontrolle wiederzuerlangen (Abb. 12.3).

Abbildung 12.2: Oben: Antoine wird in ›Sie küssten und sie schlugen ihn‹ ins Erziehungsheim verfrachtet. Unten: Johannes sieht aus einem Taxi hilflos zu, wie sich Farid und Beate in Benjamin Heisenbergs ›Schläfer‹ (2005) näherkommen.

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Abbildung 12.3: Oben: Antoine wird in ›Sie küssten und sie schlugen ihn‹ gegen die Innenseite der Rotortrommel gedrückt. Unten: Johannes’ Reaktionen auf die Gokart-Fahrt in ›Schläfer‹.

In dieser zweiten Sequenz wirkt Heisenbergs Protagonist entspannter, denn sein Verrat hat ihm fälschlicherweise Eindruck vermittelt, dass er die Dinge im Griff hat. Das Gokart dient als perfekte Allegorie für diese Täuschung. Die Erwartungen beim Gokart-Fahren sind bemerkenswert niedrig: Man erwartet weder die wahre Freiheit noch die offene Straße, sondern nur ein plötzliches Gefühl des Antriebs, das sehr schnell zu Ende ist. In Johannes’ Fall bedeutet der Verrat an Farid, dass er die schmutzige Arbeit für jemand anders erledigt, und er stellt fest, dass seine eigenen Absichten, die ursprünglich nicht böswillig waren, unter dem Gewicht der Pläne von Frau Wasser untergegangen sind. Heisenberg zeigt, wie die Dinge aus dem Ruder laufen, aber Johannes hatte von Anfang an keine Chance, die Dinge zu kontrollieren. Daher ist es nur logisch, dass er am Ende reumütig und allein dasteht, offenbar verantwortlich für Farids Verhaftung, und im Stillen zu einem Gott betet, der ihm nicht antwortet. Vielleicht wendet sich Johannes in diesem Moment an Gott, weil er nie am Steuer gesessen hat, und sich danach sehnt, wie ein allwissender Erzähler einen Überblick zu haben. Aber es gibt keinen Fahrplan und die Angelegenheit lag nie in seiner Hand.

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Räuber oder Läufer? Heisenbergs darauffolgender Film Der Räuber basiert auf Martin Prinz’ gleichnamigem Roman von 2002 über den verurteilten Bankräuber und Marathonläufer Johann Kastenberger. Heisenberg, der mit Prinz zusammen das Drehbuch schrieb, fühlte sich vom literarischen Porträt eines kriminellen Sportlers, dem Moral gleichgültig zu sein scheint, angezogen. Heisenberg erklärt, dass er vom kargen und knappen Prosastil des Romans inspiriert wurde: »Moral [spielt] in dem Sinne keine Rolle. Es geht eben weniger um Psychologie als um den Umgang der menschlichen Sozietät mit dieser seltsamen Naturform – Räuber, Läufer, Getriebener, Liebender« (Schiefer 2008). Michael Sicinski beschreibt Heisenbergs Adaption als »unsentimentale Untersuchung von Arbeit und Bewegung« und fügt hinzu: »Es geht um den Wechsel zwischen verschiedenen Formen körperlicher Aktivität und ihrer Konfiguration im Raum, um die seltsame Anordnung von Elementen, die von einem Mann erzeugt wird, der weniger als menschliches Wesen als ein phänomenologisches Ereignis funktioniert.« (Sicinski o.J.) Der Räuber gehört zweifellos zum filmischen Genre der Neuen Welle – ein langsamer und bedachtsamer Film, der seine Bedachtsamkeit als Strategie des Widerstands einsetzt. Dabei stellt sich die Frage: Was bedeutet Heisenbergs Aufmerksamkeit auf das Thema der »körperlichen Aktivität«? Wie verhandelt er insbesondere die Verbindung zwischen der durchaus professionellen Sportlichkeit seines Protagonisten und seiner Kriminalität? Der Film beginnt in einer Justizvollzugsanstalt und erinnert damit an US-Filme aus den 1970er Jahren wie Robert Aldrichs Die härteste Meile (The Longest Yard, 1974) und Michael Manns Ein Mann kämpft allein (The Jericho Mile, 1979). Bei beiden klingt wiederum Die Einsamkeit des Langstreckenläufers an, vor allem dadurch, dass sie auf der einen Seite die Freiheit ihrer Sport treibenden Gefangenen und auf der anderen Seite die überheblichen Pläne ihrer Wärter einander gegenüberstellen. Heisenbergs Film beginnt zwar wie diese beiden Filme, danach aber verbringt er viel mehr Zeit außerhalb des Gefängnisses und hat daher wesentlich mehr mit einem Film wie Ulu Grosbards Stunde der Bewährung (Straight Time, 1978) gemeinsam, der davon handelt, wie ein Ex-Häftling nach seiner Entlassung versucht, den Gesetzen zu folgen und ehrlich zu bleiben. Rettenberger, dem wir zum ersten Mal begegnen, als er auf dem Gefängnishof seine Bahnen zieht, verliert seine Anstaltsmentalität nie vollständig. Er scheint nur wenig geneigt und sogar unwillig zu sein, sich wieder in die Gemeinschaft zu integrieren, sodass man seine soziale und räumliche Mobilität als dysfunktional bezeichnen könnte.10 Auch nachdem er in die Freiheit entlassen wird, wirkt er wie betäubt, als sei er noch im Gefängnis und zähle die 10

Zu dysfunktionaler Mobilität vgl. Cresswell und Merriman: »Die Mobilitätsbereiche, die von Verkehrsgeographen und anderen als kaputt, irrational und dysfunktional bezeichnet wer-

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Tage bis zu seiner Entlassung. Als wir ihn in den Wiener Nahverkehr folgen, wirkt er passiv und scheinbar ausdruckslos. Wir ahnen nicht, dass er unterwegs ist, um den ersten der zahlreichen Raubüberfälle des Films zu begehen. Anders als es den Anschein hat, ist dieses Verbrechen geplant – er hat seine Waffe und seine Maske dabei –, aber es gibt keine Exposition, die es ankündigt. Rettenberger scheint nicht dringend Geld zu brauchen, und der Film teilt uns nicht mit, warum er in alte Muster zurückfällt. Der Grund, weshalb Heisenberg zusätzliche Exposition vermeidet, liegt seiner Aussage nach darin, dass ihm das innere Erleben seines Protagonisten gleichgültig ist. In Interviews wiederholt er oft, dass sein Film eher Gemeinsamkeiten mit einem Tierfilm haben soll, den niemand aus Versehen als »psychologisch« bezeichnen würde. Seiner Meinung nach ist Der Räuber »in einigen Teilen durchaus ein Actionfilm mit klassischen Actionkinosequenzen«, aber er unterscheidet sich vom Actionfilm, weil »[d]ie Bewegung eher beobachtend [ist]. Und genau das interessiert mich: die genaue Beobachtung von Vorgängen und Verhalten.« Er fügt hinzu: »Wie bei einem guten Tierfilm baut man eine Bindung zu einem Wesen auf, ohne dass einem alles vorgekaut wird.« (Seidel 2010) Er würde es vorziehen, wenn die Zuschauer Rettenbergers Verhalten als triebhaft und impulsiv verstehen würden – ähnlich wie bei einem Tier. Seine Beschlüsse erscheinen unreflektiert, und Rettenberger entscheidet über sein weiteres Vorgehen auf die gleiche Art, wie die Protagonisten und Protagonistinnen der Berliner Schule Auto fahren: wie Automaten, die handeln, bevor sich das Bewusstsein überhaupt einschalten kann. Heisenberg will eine Figur porträtieren, die rein instinktiv handelt, und diese Unreflektiertheit zeigt sich darin, wie wenig er darüber nachdenkt, was sein nächster Schritt sein könnte, oder dass er keine Pläne für das angehäufte Geld zu haben scheint. In der ersten Actionsequenz des Films, als Rettenberger zum ersten Mal eine Bank ausraubt, wird er unterbrochen, als ein Hund in den Eingangsbereich zwischen die automatischen Schiebetüren tritt. Er erscheint als Eindringling, während der Raub noch im Gange ist. Rettenberger nimmt wahr, dass jemand hereinkommt, blickt zu ihm hinüber und richtet reflexartig seine Waffe auf ihn, weil er einen kurzen Augenblick nicht erkennt, dass es kein menschlicher Eindringling ist. Wir erfassen sofort, dass Rettenberger sich getäuscht hat, und verstehen, dass er einen Augenblick braucht, um zu begreifen, was er sieht, aber wir wissen nichts darüber, welche Gedankengänge es auslöst. Wir können spekulieren, dass er – als Filmfigur – im Hund seine Entsprechung sehen soll, das heißt, dass der Hund ihn widerspiegelt und einen Moment der Selbsterkenntnis auslöst, aber man kann auch spekulieren, dass er stattdessen sieht, was ihn vom Hund trennt. Vielleicht trifft er in dem Moment, in dem er beschließt, den Raub fortzusetzen, die den, werden lebendig, wenn wir sie in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken« (2011, S. 4f.). Siehe auch Bergmann (2008).

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Entscheidung, sich vom Hund zu unterscheiden. Er beschließt, weiterzumachen, das Gesetz zu brechen, und diese Weigerung, zu gehorchen, ist in diesem Sinne eine Entscheidung zum Dissens, die nicht nur als Reaktion oder als Ergebnis von Instinkten verstanden werden kann. Die Anwesenheit des Hundes ist eher ein Vergleich als eine Gleichsetzung. Es mag sein, dass Rettenberger läuft »wie ein Tier«, aber seine Ablehnung der Gesellschaft und ihrer Regeln ist sehr menschlich. Obwohl wir nichts von seiner Vorgeschichte erfahren, die uns erklären könnte, warum er sich dagegen entscheidet, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden oder erfüllende Beziehungen mit anderen Menschen aufzubauen, liefert uns Heisenberg genügend Beweise, um zu dem Schluss zu kommen, dass er in der Tat eine bewusste Entscheidung getroffen hat (Abb. 12.4). Als Rettenberger einen Magazinartikel über seine außergewöhnlichen Erfolge als Marathonläufer anschaut, beschreibt ihn die Schlagzeile als »großen Unbekannten«. Aber auch für seine Raubüberfälle erlangt er Bekanntheit und erscheint in der Zeitung: In dieser Überschrift wird »der Mann mit der Maske« ebenfalls als »Unbekannter« bezeichnet. Seine beiden Identitäten treffen sich also in ihrer Undurchschaubarkeit: Er ist ein geheimnisvoller Läufer und ein geheimnisvoller Bankräuber. In der Realität raubte Johann Kastenberger mit einer Ronald-ReaganMaske Banken aus und erhielt daher den Spitznamen »Pumpgun-Ronnie«. Heisenberg verwendet ebenfalls das Thema der Maske, verzichtet aber auf den kontextuell-historischen Bezug und lässt Reagan außen vor. Er erklärt in einem Interview: »Wir dachten daran, [für die Maske] Bush zu verwenden oder den Papst … Wir hatten alle möglichen lustigen Ideen, aber dann merkten wir, dass die Politisierung der Maske uns vom Kern dieser Figur wegführte. Er wäre dadurch zu jemandem geworden, der einen Kommentar zur Gesellschaft abgibt. Das hätte bedeutet, dass wir eine andere Art von Film machen hätten müssen« (Guillén 2010). Die Maske des fiktiven Räubers ist im Gegensatz zu der seines realen Gegenstücks nicht als Reagan zu erkennen. Abgesehen davon, dass die Maske die Physiognomie eines weißen Mannes zeigt, ist sie nicht weiter bemerkenswert: Ein unauffälliger weißer Mann raubt maskiert als unauffälliger weißer Mann Banken aus. Sie erinnert an die Masken, die die Angestellten in Hochhäuslers Falscher Bekenner (2005) während der Rollenspiele tragen, durch die sie vermutlich lernen sollen, ihre individuellen Identitäten zu unterdrücken. Schreibtischstühle sind wie Autositze so gestaltet, dass fast jeder darauf Platz nehmen kann. Die Masken, die an solchen Arbeitsplätzen getragen werden, sind nur insofern von Bedeutung, als sie stark idealisierte identische Subjekte in einer überautomatisierten Kultur darstellen.

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Abbildung 12.4: In Benjamin Heisenbergs ›Der Räuber‹ (2010) trifft Johann Rettenberger bei einem Raubüberfall auf einen Hund.

Jede Beschreibung der zentralen Sequenz des Films – dem ausführlich gezeigten Banküberfall in der Mitte des Films – muss erwähnen, dass der Regisseur der Versuchung widerstanden hat, die von André Bazin so propagierten langen Einstellungen zu verwenden. Heisenbergs Ansatz ist nicht formalistisch, und er scheut sich nicht davor schnelle Schnitte zu machen, wobei er sich mehr oder weniger auf die durchschnittlichen Einstellungslängen stützt, die aus Actionfilmen bekannt sind.11 Wir sehen eine Reihe von Aufnahmen aus Rettenbergers Sicht, von hinten über seine Schulter gefilmt, die mit halbnahen Einstellungen des laufenden Raubes kombiniert sind. Das, was wie eine lange Einstellung aussieht – kurz nachdem er die zweite der beiden Banken betritt, die er in seinem eindrucksvollen Raubzug ausraubt –, ist in Wirklichkeit nur achtundvierzig Sekunden lang – was wohl damit zusammenhängt, dass das sonstige Tempo der Handlung so hoch ist. Wir hören auf der Tonspur den Überfall ablaufen und können uns die Szene im Inneren der Bank bildlich vorstellen. Die Erwartung der anschließenden Verfolgungsjagd hat vielleicht sogar mehr Kraft als die Szene des Raubes selbst. Heisenberg lässt uns vor dem Eingang zur Bank stehen, wo wir dem Wechsel von der Alltagsstille einer gewöhnlichen Straße zum Jaulen der Sirenen der Polizei – die ihren Verdächtigen am falschen Ort sucht – ausgesetzt sind. Als die Polizei endlich Rettenbergers Spur aufnimmt und ihn durch ein Parkhaus jagt, wird die Dramatik durch die Verwendung einer Handkamera vermittelt. Abel hat Recht, wenn er sagt, dass die Bewegung der Hauptfigur etwas Animalisches hat (Abel 2013: 217–18). Man hat den Eindruck, auf eine rasante Fahrt mitgenommen zu werden, als ob man auf dem Rücken einer Ratte säße, die im Labor ihren Weg durch das Labyrinth sucht. Die percussionbasierte Musik setzt allerdings erst dann ein, als er anscheinend die Polizei abgehängt und das Parkhaus und die angrenzenden Gebäude verlassen hat. 11

Obwohl in den Filmen der Berliner Schule häufig lange Einstellungen verwendet werden, betrachten ihre Regisseure und Regisseurinnen sie nicht als Muss. Für eine Einschätzung siehe Koepnick (2013b: 195–203).

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Die Polizei ist ein entfernter Gedanke, und das pulsierende, treibende Schlagzeug kommt erst mit Verspätung dazu. Es untermalt die Bilder, in denen Rettenberger über einen Zaun springt, über ein Feld, vorbei an einem Spielplatz und tief in den Wald läuft. Es gibt keine Anzeichen, dass er weiterhin verfolgt wird. Er durchquert das weniger strukturierte Territorium des ländlichen Raums und scheint nur eines im Sinn zu haben: wegzukommen. Für seine Raubzüge hat er oft ein Fluchtauto benutzt, aber hier braucht er keines. Die Flucht zu Fuß ist sein bevorzugtes Mittel der Fortbewegung, und weil Rettenberger sich dafür entscheidet zu laufen, ist er das Symbol der Auflehnung für diese neue Welle. Wir werden Zeugen und Zeuginnen davon, wie sich sein Bedürfnis, woanders hinzukommen, ausdrückt – eine erwachsene Reprise von Antoines Flucht. Doch schließlich ist es Rettenberger selbst, der seine Geschichte zum Stillstand bringt. Ähnlich wie Antoine, Truffauts Nouvelle-Vague-Protagonist, der sich weigert, sich der französischen Gesellschaft anzupassen und ihre Erwartungen zu erfüllen, hält auch Heisenbergs Rettenberger selbst das Fortschreiten der Erzählung an. Nach seiner Festnahme und erneuten Flucht aus dem Polizeirevier versteckt er sich in einem Erdloch, das jedoch nur eine vorübergehende Zuflucht bietet. Danach findet er Unterschlupf in einer Wohnung, wird von einem Mann, den er als Geisel genommen hat, niedergestochen und verblutet schließlich auf dem Fahrersitz eines gestohlenen Autos. Die Montage, die diese letzte Sequenz begleitet, verrät uns einiges über sein Innenleben. Wie in Die Einsamkeit des Langstreckenläufers haben die Zuschauer/-innen guten Grund zu der Annahme, dass die Bilder, die er dabei sieht, diejenigen sind, die er nach und nach vor seinem inneren Auge sieht. Die Montage deutet darauf hin, dass Rettenbergers Ich dabei ist, sich zu entscheiden. Er trifft eine Wahl – seine Freundin Erika hatte ihn in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass er dazu in der Lage wäre. Sein Geist sortiert die Erinnerungen: Er denkt an sein leeres Zimmer, erinnert sich indirekt daran, wie er seinen Bewährungshelfer ermordete, und sieht Erika in Rückenansicht, wie sie durch den dunklen Flur ihrer Wohnung geht. Das mechanische Hin und Her der Scheibenwischer auf der Windschutzscheibe verbleibt während der gesamten Szene als Hintergrund. Er fährt auf den Standstreifen und seine letzten Worte sind deutlich als die eines Menschen erkennbar: Er bittet Erika nicht aufzulegen, um so lange wie möglich mit ihr verbunden zu bleiben, während er stirbt. Wir hören Erika über die schlechte Telefonverbindung hindurch stoßweise atmen, und dann schneidet Heisenberg auf Rettenbergers Blick durch die Windschutzscheibe: eine leere Autobahn, grau und trist unter einer niedrigen Wolkendecke. Er entscheidet, den letzten Faden, der ihn ans Leben bindet, loszulassen, doch die Scheibenwischer, die Straße und alle Insignien der hyperautomatisierten Gesellschaft, in die er hineingeworfen wurde, bleiben weiterhin bestehen und dauern an, unabhängig davon, wer am Steuer sitzt. Die letzten Momente des realen Kastenberger verliefen vollkommen anders. Laut Heisenberg fand der echte Räuber sein Ende bei einer Verfolgung auf der Au-

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tobahn, wo »er eine Straßensperre durchfuhr, dabei von hinten angeschossen wurde und sich danach selbst erschoss, bevor die Polizei ihn erreichte« (Covering Media 2010/2011). Heisenberg erklärt, dass eine solche geradlinige Auflösung in Form eines Selbstmords seiner Meinung nach nicht das richtige Ende für seinen Film zu sein schien, und merkt an, dass sein eigener Ausgang utopische Qualitäten habe: »Dieser Mensch, der immer in Bewegung sein musste, hat im Tod seinen Frieden gefunden. Das ist auch eine Erlösung und eine Art Glücksmoment, so traurig es auch ist. Er findet die Erlösung, die er in der Liebe nicht finden konnte.« (Covering Media 2010/2011) Auf dem Höhepunkt des Films sehen wir, wie Rettenberger seinen letzten Atemzug tut, aber der Stillstand, der eintritt, gleicht einer Befreiung; er kann endlich aufhören wegzulaufen. Angesichts der Entscheidungen, die er trifft, ist es schwierig, daran festzuhalten, dass seine Auflehnung rein instinktiv oder unwillkürlich war. Man sollte ihn eher als jemand einschätzen, der entschieden hat, sich zu verweigern; der der Bewegung der anderen seine eigene entgegensetzt. Seine konsequente Auflehnung ist jedoch mit der Vorstellung unnachgiebiger Athletik verbunden, denn im Akt des Laufens übernimmt er die Kontrolle über seine eigene Mobilität. Einfach nur Geld zu beschaffen, war nie sein Ziel. Selbstverständlich darf man den Rettenberger dieses Films nicht mit Antoine Doinel verwechseln; die Figur ist ein Mörder und seinen Entschluss, den Bewährungshelfer zu töten, kann man sogar als soziopathisch bezeichnen. Was er jedoch mit Antoine gemeinsam hat, ist, dass beide Figuren es vorziehen, sich selbst zu bewegen und nicht bewegt zu werden. Da sie gewöhnlich von Kräften manipuliert werden, die sich ihrer Kontrolle entziehen, besteht die Hauptform ihres Widerstands – möglicherweise die einzige Form, die ihnen bleibt, egal wie flüchtig sie sein mag – darin, zunächst »Nein« zu sagen und dann wegzulaufen, so schnell sie eben können. In Michael Manns Film Collateral (2004), der fünfundzwanzig Jahre nach Ein Mann kämpft allein veröffentlicht wurde, spielt Tom Cruise die Rolle des Vincent, eines entschlossenen und unermüdlichen Auftragskillers, der nie sein Ziel verfehlt. Als er für einen Auftrag nach Los Angeles kommt, benötigt er dafür ein Fahrzeug, und so heuert er Max an, einen Taxifahrer, der zufällig vor Ort ist und unfreiwillig Teil seines mörderischen Geschäfts werden soll. Als Vincent am Ende des Films mit silbern glänzendem Haar und einem metallisch-grauen Businessanzug Max durch die U-Bahn von Los Angeles verfolgt, wirkt er bedrohlich, weil er mit dem Zug zu verschmelzen scheint. Vincent ist ein Projektil, eine Tötungsmaschine, und es scheint, als würden die donnernden Motoren des Nahverkehrszugs selbst auf uns niederkommen. Dieser mechanistische Topos wird im zeitgenössischen Actionkino häufig verwendet. Aber egal, ob in Actionfilmen ein »Terminator«, ein »Transporter« oder ein »Mechanic« im Mittelpunkt steht, ihre Protagonisten können keine Vertreter einer neuen künstlerischen Welle sein, denn die Faszination, die diese Figuren ausüben, hängt damit zusammen, dass wir fasziniert davon sind, zu Maschinen zu werden. Diese rennenden Männer sind Allegorien, übersteigerte

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Versionen der administrativen Mächte, die unser Leben kontrollieren und uns von Ort zu Ort bewegen. Heisenbergs Rettenberger ist anders. Er befindet sich außerhalb dieser zunehmend automatisierten Gesellschaft. Seine Vorliebe für das Laufen bietet eine Möglichkeit, die gesellschaftspolitische Aussage des Films in Begriffe zu fassen: Unsere automatisierten Transportmittel, insbesondere die Systeme von Auto und Zug, sind klar erkennbare Ausdrucksformen der Hyperadministration. Sowohl in Heisenbergs Schläfer als auch in Der Räuber ist individuelle Kontrolle eine Illusion, unabhängig davon, ob man am Steuer sitzt oder nicht. Die Läufer, die in den NewWave-Filmen zu sehen sind, sind weder Terminatoren noch menschliche Triebwerke, sondern sie sollen uns daran erinnern, dass sich die meisten Türen inzwischen von selbst öffnen, dass unsere Autos uns sagen, wohin wir sie fahren sollen, und dass das Denken nur noch in den Zwischenräumen geschieht. Dass die Maschinen uns vorausgehen, dass wir in eine hochautomatisierte Welt hineingeboren werden, ist eine Tatsache. Um sich weit genug davon zu entfernen und die Dinge zum Stillstand zu bringen, und sei es auch nur für einen kurzen Moment, dafür sind viele Kilometer Langstreckenlauf erforderlich.

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Das geteilte Nachleben der Industriewirtschaft und ihrer prekären Solidaritäten DIE ZEIT: Sie haben mal Helmut Färber zitiert: »Gute Filme zeigen in 20 Jahren, warum und wie wir vor 20 Jahren gelebt haben.« Was wird man 2029 aus Jerichow über Deutschland 2009 erfahren? Petzold: Wenn man so denkt, hat man schon verloren. In dem Satz steckt eine Art Verantwortung gegenüber den Orten, den Verhältnissen, den Träumen, in denen man sich mit dem Kino automatisch befindet. Denken Sie zum Beispiel an Rosetta von den Brüdern Dardenne: Wenn man in 20 Jahren mal was über den Untergang der Lohnarbeit erfahren will, muss man sich diesen Film anschauen. Daraus wird jeder Soziologe oder Historiker mehr erfahren als aus jeder Statistik. (Nikodemus/Siemes 2009) Obwohl er wohl das bekannteste und gefeierteste Mitglied der Berliner Schule ist, scheint Christian Petzold mehr als andere international renommierte Regisseure und Regisseurinnen bereit zu sein, die Einflüsse seiner Filme direkt zu benennen.1 Er spricht regelmäßig von seiner großen und beständigen Wertschätzung für sowohl Autorenfilme als auch kommerzielle Filme, einschließlich der bleibenden Eindrücke, die Rainer Werner Fassbinder und Alfred Hitchcock bei ihm hinterlassen

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Petzolds Status als profiliertester Regisseur der Berliner Schule scheint zumindest vorläufig noch bestehen zu bleiben, wenn man auch nicht umhinkommt, sich zu fragen, ob seine Kollegin Maren Ade ihn bald übertreffen könnte: Ihr Film Toni Erdmann (2016) erntete bei den Filmfestspielen von Cannes 2016 Lob und Anerkennung. In Folge erreichte er über 860.000 Zuschauer und Zuschauerinnen in den deutschen Kinos, was ihn zum (bisher) erfolgreichsten Film der Berliner Schule macht.

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haben, sowie für eine breite Palette anderer Genres vom Western bis hin zum Horrorfilm. So hat er beispielsweise erklärt, dass John Carpenters Halloween (1978) einer seiner Lieblingsfilme sei, was für einen Regisseur, der dem Autorenfilm nahesteht, ungewöhnlich genug ist. Dieser Einfluss ist in vielen seiner Filme, wenn auch in angepasster Form, deutlich erkennbar. Er scheint zurückhaltender zu sein, wenn es um Filmemacher/-innen geht, die gegenwärtig aktiv sind. Jedoch gibt es einen international bekannten zeitgenössischen Filmemacher beziehungsweise ein Filmemacher-Duo, das er regelmäßig besonders hervorhebt: die Brüder Dardenne, die sich selbst als »eine Person« und »einen Filmemacher mit vier Augen« bezeichnet haben (Mai 2010). Der Ausschnitt aus dem eingangs zitierten Interview macht diese Wertschätzung deutlich: Petzold findet, Film solle Bilder erzeugen, die über ihren eigenen unmittelbaren Kontext hinausreichen und ihn überleben, aber die Frage, ob das seinen eigenen Filmen gelingt, verneint er und verweist stattdessen auf den in Cannes mit der Palme d’Or ausgezeichneten Film Rosetta (1999) der Dardennes. Diese Anerkennung ist in vielerlei Hinsicht nicht überraschend, da Petzold und die Dardennes ähnlich gelagerte politische und sozioökonomische Themen behandeln. Das könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie zumindest geografisch einen ähnlichen Hintergrund haben: Petzold verbrachte seine Kindheit und Jugend in Haan, einer Stadt, die etwa hundertfünfzig Kilometer entfernt vom belgischen Ort Seraing im Bezirk Lüttich, der Heimat der Dardennes, liegt – beides Regionen mit ähnlichem postindustriellen Hintergrund. Petzold wuchs in Nordrhein-Westfalen auf, dem industrie- und bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands. Dessen wirtschaftliche und politische Geschicke haben aufgrund der weltweiten Neuordnung und Neudefinition der industriellen Produktion als Wirtschaftsfaktor einen stärkeren Abstieg erlebt als jede andere Region der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland. Auch Seraing als Teil des größeren Ballungsraums Lüttich befindet sich im früheren Herzen der belgisch-wallonischen Industrieregion. Es erlebte einen ähnlichen historischen Bogen von organisierter Arbeiterschaft hin zu zunehmender Deindustrialisierung, wirtschaftlichen Kämpfen und dem anschließenden Verkümmern der organisierten und spontanen Arbeitersolidarität (O’Shaughnessy 2012). Ich möchte im Folgenden darlegen, wie das Aufwachsen in diesen Regionen bei allen drei Filmemachern tiefe Eindrücke hinterließ und ihr Verständnis der historischen und sozioökonomischen Zusammenhänge prägte. Es prädestinierte sie zum einen dafür, sich den sozialen und wirtschaftlichen Themen zu widmen, die dem künstlerisch ambitionierten Filmschaffen mindestens seit den 1920er Jahren vertraut sind; und zum anderen, in ihren Filmen das Konzept der politischen und wirtschaftlichen »Nachgeborenheit« sowie die (holprige) soziale Kontinuität unter dem Druck dieser schnellen und grundlegenden Veränderungen näher zu betrachten (zur Nachgeborenheit bei den Dardennes vgl. Lebrun 2010: 187; bei Petzold vgl. Fisher 2013: 83–84).

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Diese thematische Konstellation, vor allem was die Idee einer sozioökonomischen Nachgeborenheit betrifft, entwickelte sich, wenn man sich die Karriereleitern der Filmemacher ansieht, auf verblüffende Weise parallel, obwohl die Dardennes etwas älter (Jean-Pierre, geb. 1951; Luc, geb. 1954) und im internationalen Kunstfilmbetrieb etablierter sind als Petzold (geb. 1960). Die Dardennes haben Jahre damit verbracht, politisch motivierte Dokumentarfilme zu drehen, die sich vor allem mit ihrer Heimatregion Seraing beschäftigen, und sind dann mit Falsch (1987) und Je pense à vous (Ich denke an euch, 1992) bewusst zum Spielfilm übergegangen, wobei sie sich von diesen Filmen inzwischen weitgehend distanzieren. Der Durchbruch zu einem reifen und wiedererkennbaren Stil kam wie bei Petzold erst später, mit La promesse (Das Versprechen) von 1996, der gewöhnlich als der Grundstein ihrer Neuorientierung als Autorenfilmer angesehen wird (Mosley 2013, 76–85). Besonders interessant ist, dass die Dardennes sich nach ihren sozialkritischen Dokumentarfilmen mit den Spielfilmen Falsch und Ich denke an euch zunächst in eine eher kommerzielle Richtung bewegt haben, sich daraufhin aber bewusst vom kommerziellen Stil abwandten – oder zumindest etwas befangen davon Abstand nahmen (Mai 2010: 13). Insbesondere bei Ich denke an euch hatten sie das Budget, etablierte Schauspieler/-innen und die professionelle Crew einer kommerziellen Mainstream-Produktion. Nachdem der Film bei der Kritik und an den Kinokassen nur mittelmäßig abgeschnitten hatte, überdachten sie jedoch ihre Position, insbesondere ihren ästhetischen Ansatz, von Grund auf. Das Versprechen, für dessen Produktion sie vier Jahre brauchten, während derer sie ihre filmischen Methoden überprüften (und um Finanzierung kämpften), bewies sich als ein grundlegend anderer Film. Was Petzold betrifft, habe ich schon an anderer Stelle argumentiert, dass er bewusst am Rand des kommerziellen Systems des Genrekinos navigiert, indem er dessen Regeln zwar anwendet, aber gleichzeitig verändert und weiterentwickelt. Nach drei frühen Fernsehfilmen (Pilotinnen [1995], Cuba Libre [1996] und Die Beischlafdiebin [1998]) entstanden die Autorenfilme, die ihm den Durchbruch brachten, erst als er um die 40 Jahre alt war. Sein erster Kinospielfilm, Die innere Sicherheit (2000), brachte ihm den Deutschen Filmpreis in Gold für den besten Spielfilm ein. Wie Das Versprechen der Dardennes signalisiert Die innere Sicherheit auf der einen Seite eine bewusste Abkehr von den Parametern des kommerziellen Kinos, auf der anderen Seite aber auch eine Neuorientierung ihm gegenüber. Sowohl bei den Dardennes als auch bei Petzold entwickelte sich der spätere reife Stil als Reaktion auf die Unzufriedenheit mit der dokumentarischen Form und führte zur Entwicklung einer neuen, innovativen postrealistischen Ästhetik, die sich in filmtheoretisch untermauerten und reflektierten Spielfilmen niederschlug. Die dokumentarische Form, gegen die sich ihre gefeierten Spielfilme absetzen, ist bei den Dardennes ihre eigene: Sie hatten sich zunächst als vielgepriesene Dokumentarfilmer etabliert und setzten ihre wiederkehrenden Themen und formalen Neuerungen dann in ihrer Spielfilmarbeit fort (Mosley 2013: 42, 63). Die Doku-

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mentarfilmpraxis, vor deren Hintergrund Petzolds Spielfilme zu verstehen sind, ist dem Vernehmen nach diejenige seines einstigen Lehrers, Mentors und dann Mitautors Harun Farocki, eine der Schlüsselfiguren (wenn nicht gar die Schlüsselfigur) des deutschen Dokumentarfilms von den 1960er bis 2010er Jahren, der bei allen Spielfilm-Drehbüchern Petzolds bis Phoenix (2014) als Co-Autor fungiert. Dieser Bezug auf das Dokumentarische in ihren Arbeiten trägt meiner Meinung nach dazu bei, das ausgeprägte Gefühl der Nachgeborenheit in ihren Filmen zu erzeugen: Sowohl die Dardennes als auch Petzold greifen in ihren Spielfilmen Themen neu auf, die in der dokumentarischen Arbeit behandelt wurden, aber mit einem bewussten Gefühl des Danach-Kommens und vielleicht sogar Zu-spät-Kommens. Das ist mit einem klaren Gefühl der politischen Nachgeborenheit verbunden – das heißt, des Nachgeborenseins in Bezug auf eine Zeit, in der es ein stärker definiertes, politisches Bewusstsein, Solidarität und Organisation gab.

Die einsame Ästhetik des Niedergangs: Ziellose Körper Auf der narrativen Ebene führt dieses anhaltende Gefühl des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs zu isolierten, gar vereinsamten Protagonisten und Protagonistinnen, deren Charakter und Werdegang die sich verflüchtigenden Formen sozialer und politischer Kollektivitäten unterstreicht. In Das Versprechen entfremdet sich Igor immer weiter von seinem Freundeskreis, da er zunehmend in die korrupte Welt seines Vaters hineingezogen wird, der mit Menschenhandel sein Geld verdient; in dem viel gepriesenen Nachfolger Rosetta führt die gleichnamige Hauptfigur ein einsames Leben auf der Suche nach einer stabilen Arbeit, wobei ihre soziale Isolation und ihre Arbeitslosigkeit so stark miteinander verwoben sind, dass sie nicht wahrnimmt oder es nicht wahrnehmen kann, als der freundliche Riquet signalisiert, dass er ein romantisches Interesse an ihr hat (ein Beispiel dafür ist, dass sie ihn beinahe in einem Teich ertrinken lässt, mutmaßlich, damit sie an seinen Job kommt). In dem Film Die innere Sicherheit hat Jeanne, der erzählerische Mittelpunkt des Films, ein Leben geführt, das ähnlich arm an Freunden und Freundinnen und sozialen Kontakten ist. Diese Isolation setzt sich in Petzolds Spielfilm Gespenster (2005) fort, in dem Nina im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne eine Weiterführung von Jeanne sein könnte (dazu trägt bei, dass beide Figuren von der gleichen Schauspielerin Julia Hummer gespielt werden). Auf ähnliche Weise isoliert wie Jeanne, strebt sie danach, menschliche Kontakte aufzubauen und damit eine vermeintliche Normalität zu erreichen. In all diesen Fällen setzen die Regisseure eine auffallend sozial isolierte Figur ein, um darzustellen, wie in der Vergangenheit breite politische Solidaritäten die entsprechenden sozialen Kontexte geprägt haben und wie diese heute nur noch als Phantom ihrer selbst existieren. Bei den Dardennes sind es die Nachwehen der Arbeitersolidari-

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tät in der deindustrialisierten Wallonischen Region, deren Niedergang sie schon in ihren Dokumentarfilmen herausgearbeitet hatten; bei Petzold hallen in Die innere Sicherheit die Nachwirkungen der ehemaligen RAF-Terroristen wieder (Farocki hatte Verbindungen in diese Szene) und in Gespenster spüren wir die Nachbeben der großen historischen Umwälzungen in Deutschland, die in der Kulisse von BerlinMitte nachhallen (vgl. Fisher 2013: 84–85). Eine weitere bemerkenswerte Parallele besteht darin, dass die sozial isolierten Hauptfiguren der Filme, mit denen die genannten Regisseure ihren Durchbruch erzielt haben, allesamt junge Menschen sind. Das weist auf einen Aspekt in ihren Arbeiten hin, der bisher nicht ausreichend diskutiert wurde, wahrscheinlich weil die Bedeutung verschiedener Lebensabschnitte im Allgemeinen und der Jugend im Besonderen für Gesellschaft und Kultur in der anglo-amerikanischen Kulturwissenschaft meines Erachtens bisher insgesamt zu wenig beachtet wurde (Fisher 2007). In diesen Geschichten, die in einer Epoche des rasanten gesellschaftlichen Wandels angesiedelt sind, erscheint das Thema der Generationsunterschiede nicht nur, um den unvermeidlichen Niedergang der Ära der Kleinfamilie anzuzeigen, sondern auch, um die damit einhergehenden historischen Umwälzungen zu beschreiben: Die Perspektive auf Familie und ihre Strukturen, die in den Filmen der Dardennes und Petzolds bekanntermaßen eine wichtige Rolle spielt, wird dergestalt umkonfiguriert und zugespitzt, dass sie über den engen Fokus hinaus die schwindende Bedeutung sozialer Kollektive im Allgemeinen repräsentiert. Indem die Dardennes soziale und wirtschaftliche Veränderungen aus der Perspektive junger Menschen darstellen und ausloten, greifen sie bewusst die sozialkritische Tradition des italienischen Neorealismus auf, in dem Kinder und Jugendliche einen wichtigen Platz einnehmen. Laura Ruberto hat auf die Parallelen zwischen Das Versprechen und Vittorio de Sicas Ladri di biciclette (Fahrraddiebe, 1948) hingewiesen: In beiden Filmen spielen junge Menschen eine zentrale Rolle (Ruberto 2007). Daneben weist Mosley darauf hin, dass die Dardennes (bei einer Befragung des französischen Medienmagazin Télérama) Rossellinis Germania Anno Zero (Deutschland im Jahre Null, 1949) auf die Nummer Eins der Liste der Filme gesetzt haben, die sie beeinflusst haben (Mosley 2013: 33). Ich selbst habe in einem Beitrag über die Rolle von Kindern und Jugendlichen im frühen deutschen und italienischen Nachkriegsfilm (Fisher 2007) erörtert, wie bei Germania Anno Zero junge Menschen, deren sozioökonomische Handlungsfähigkeit sich an einer Übergangsphase befindet, eingesetzt werden, um die zerbröckelnden Grenzen einer Gesellschaft am Rande der Auflösung (oder sogar darüber hinaus) zu erkunden. In Au dos de nos images (2005), einem öffentlichen Arbeitsjournal/-tagebuch von Luc Dardenne, das die Arbeiten seit 1991 und bis L’enfant (Das Kind, 2005) behandelt, bestätigt dieser, dass die Brüder während der Produktion von Das Versprechen tatsächlich explizit Deutschland im Jahre Null im Kopf hatten. Sowohl Das Versprechen als auch Rosetta – die beiden Filme, mit denen den Dardennes der Durchbruch als international anerkannte Autoren-

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filmer gelang und die ihre Position international zementierten – stehen mit ihren jungen Protagonisten und Protagonistinnen im Zentrum unter dem Einfluss Rossellinis. Ähnliches gilt für Petzolds Die innere Sicherheit und Gespenster, wobei sich letzterer in seiner traumartigen Reise durch die Berliner Innenstadt mit einem Milieu auseinandersetzt, das noch dabei ist, (sowohl räumlich als auch zeitlich) die Folgen der Nachkriegszeit zu verarbeiten. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wurden sowohl die Dardennes als auch Petzold weitgehend mit der traditionsreichen Geschichte des Realismus im Film in Verbindung gebracht (Mosley 2013) – die genannten Einflüsse und ihre filmische Entwicklung scheinen dies nahezulegen. Wenn man sich jedoch die sozial isolierten jungen Protagonistinnen ihrer jeweiligen Durchbruchsfilme anschaut, deutet sich eine etwas komplexere Beziehung zum Realismus an. Die bewusste Distanz zum konventionellen Realismus – auch wenn sie sich mit Themen befassen, die in der realistischen Tradition stehen (insbesondere mit den Auswirkungen von Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen auf die Gesellschaft) – hat ihnen dabei geholfen, den besonderen Stil zu entwickeln, der ihnen zum Durchbruch verholfen hat. Sowohl für die Dardennes als auch für Petzold dienten die jugendlichen Hauptfiguren an den entscheidenden Punkten ihrer Karrieren dazu, sowohl den konventionellen Realismus als auch die vorherrschende Hollywood-Ästhetik (die Petzold kritisch als »Kino der Identifikation« bezeichnet (Abel 2008)) neu zu gestalten. Wie man es von Regisseuren des Autorenkinos erwartet, kritisieren die Dardennes und Petzold, dass die vorherrschende (Mainstream-)Filmästhetik die Zuschauer/-innen affektiv und emotional manipuliert; beide jedoch entwickelten erzählerische Verfahren, die es dem Publikum möglich machen, eine emotionale Bindung mit den Figuren aufzubauen, und gleichzeitig explizite gesellschaftliche Kritik zu üben, insbesondere bezüglich der transformativen Aspekte von Arbeit und Ökonomie. Bei der Entwicklung ihres jeweiligen narrativen Stils, der sich gegen die vorherrschende Filmästhetik richtet, denken sie im Besonderen darüber nach, wie der menschliche Körper im Mainstream-Kino normalerweise abgebildet wird. Zwar haben viele Filmwissenschaftler/-innen darauf hingewiesen, dass die DardenneBrüder in ihren Filmen etwas verwenden, was man als Körperkamera – corps-caméra – bezeichnen könnte (Cooper 2007: 76; Mai 2007), jedoch wurde die zentrale Bedeutung des Körpers für die Entwicklung ihrer künstlerischen Handschrift bisher vernachlässigt. Sowohl die Dardennes als auch Petzold sehen das HollywoodKino als emotional ausbeuterisch an, erkennen aber interessanterweise an, dass die Art und Weise, wie der Körper dort eingesetzt wird, machtvoll und einflussreich ist. In einem ungewöhnlich langen Eintrag in Au dos de nos images (2005) geht Luc Dardenne darauf ein, wie das Mainstream-Kino den Körper darstellt, und definiert dann eine Alternative. Zwei Tage danach erwähnt er, dass er Simon Wincers Free Willy (1993) gesehen hat und wie erstaunt er ist, wie emotional manipulativ

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die Bilder einsetzt werden. Er stellt fest: »Der Konsens, der heute vorherrscht, ist der einer Ethik des Mitleids. Er wird von einer Ästhetik des leidenden, ermordeten, verstümmelten, entstellten biologischen Körpers genährt, die von den Medien, vor allem im Fernsehen, unaufhörlich propagiert wird.« (Dardenne 2005: 36) Anstatt sich damit zu beschäftigen, was diese leidenden, toten und entstellten Körper hervorbringt – was, so Dardenne, voraussetzen würde, sie »sprechen« zu lassen –, begnügt sich diese vorherrschende visuelle Ästhetik damit, sie als Spektakel vorzuführen und sie damit nicht nur sprachlos zu machen, sondern völlig passiv als bloßes biologisches Material zu präsentieren. Dardennes Analyse erscheint besonders pointiert, weil er die Hollywood-Ästhetik nicht aus der Perspektive des ermächtigten Protagonisten betrachtet, der heroischen Kraft der Aufklärung und der aufklärerischen Subjektivität, die sogar in Superheldenschlachten immer häufiger zum Einsatz kommt, sondern das evozierte Mitleid in den Mittelpunkt stellt. Um dieses zu erreichen, werden auf der Leinwand regelmäßig passive Körper darstellt, um vorhersehbar und reduzierend affektiv-emotionale Mechanismen zu triggern und die Betrachter/-innen zu manipulieren. Bemerkenswert ist, dass Dardenne der kathartischen Funktion des Mitleids nach Aristoteles nicht viel oder gar nichts Positives abgewinnen kann: Seiner Meinung nach nutzen die passiven Körper auf der Leinwand die Emotionen der Zuschauer/-innen aus, die wiederum angesichts des Kontextes, der dieses Gemetzel hervorbringt, ebenfalls zu passiven Körpern werden. Solche Bilder lähmen vor allem das Denken, da sie meistens Überlegungen darüber ausschließen, wie diese bedauernswerten Körper in diesen Zustand gekommen sind. Dardenne kommt zu dem Schluss, dass wenn man einen Körper so filmt, dass er im Widerspruch zu dieser Ethik und Ästhetik steht, dies einen Akt des »kinematografischen Widerstands gegen die Verachtung des Menschlichen« darstellt (2005: 37). Widerstand – résistance – ist ein wichtiger Begriff für die Dardennes: Einer ihrer offenkundig politischen Dokumentarfilme, Au commencement était la résistance (1974–77), trägt ihn im Titel und es ist das unübersehbare erste Wort des vierhundert Seiten langen Au dos de nos images (»Résister jusqu’à la dernière énergie …«, Dardenne 2005: 9). Der Widerstand, den ihr späterer Stil erreicht, beruht, wie ich weiter unten ausführe, auf diesem sehr bewussten und konträren Einsatz der Körper ihrer Protagonisten und Protagonistinnen und der Beziehung der Kamera zu ihnen. Auch Petzold stellt den Körper in den Mittelpunkt der Art des Kinos, das er bewundert und versucht nachzubilden. Seiner Meinung nach hat das deutsche Kino nach dem Nationalsozialismus nicht wieder zu sich gefunden, nicht zuletzt, weil der Nationalsozialismus »uns [Deutschen] die Körper genommen hat« (Fisher 2013: 165), wodurch die spezifisch körperlichen Freuden und Risiken des Körpers zu einer Gefahr für das Kino wurden. Das Kino der 1950er Jahre war, laut Petzold, in der Folge unerträglich geschwätzig, voll von Literaturverfilmungen und Theaterinszenierungen. Als er den Siegeszug der US-amerikanischen Mainstream-Filmäs-

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thetik in der Nachkriegszeit erörtert, – über die auch Luc Dardenne im Nachgang von Free Willy nachdenkt – fokussiert Petzold ebenfalls den zielgerichteten Einsatz von Körpern und seinen Effekt auf die Zuschauer/-innen: »Ungefähr 1990 bin ich ins Kino gegangen, um Pretty Woman zu sehen … Da waren all diese Frauen, die nur hingegangen sind, um Richard Gere zu sehen, nicht für Julia Roberts. Und ich war verblüfft – sie schrien: ›Was für ein Mann!‹ Er hatte etwa zwei Stunden lang in einer Badewanne gesessen und dann drehte er das heiße Wasser wieder auf – mit seinem großen Zeh … Und die Frauen im Publikum kreischten einfach nur. Da wurde mir klar: Das ist das amerikanische Kino, das eine gewisse Physis hat« (Fisher 2013: 156). Petzolds Einsichten machen deutlich, dass die Vereinigten Staaten und ihre kulturelle Agenda in dem filmischen Vakuum, das der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, erfolgreich lustvolle Bilder des Körpers lieferten, die dann in den 1980er und 1990er Jahren gleichbedeutend mit dem Neoliberalismus und seinen leeren Versprechungen von individueller Freiheit, Mobilität und Fülle wurden. Pretty Woman hinterließ bei Petzold jedenfalls einen bleibenden Eindruck, denn er nahm den Film im Frühjahr 2016 in eine Carte-blanche-Sektion auf, die die komplette Retrospektive seiner Arbeiten im Wiener Filmmuseum begleitete. Sowohl die Dardennes als auch Petzold bauen in ihren späteren Arbeiten auf diese Einsichten in die Freuden und Gefahren des filmischen Körpers auf, indem sie versuchen, die Körperlichkeit zu ihren eigenen Bedingungen zu »brechen« (so Luc Dardennes). Wenn der filmische Körper bewusst eingesetzt wird, um Widerstand zu leisten (wie die Dardennes es ausdrücken), ist er in der Lage, die historischen Veränderungen in Ökonomie und Gesellschaft zu registrieren, denen sowohl die Dardennes als auch Petzold nachspüren wollen. Sie zielen darauf ab, diesen Körper zum Publikum sprechen zu lassen, die historischen Veränderungen auszudrücken, die er in sich trägt, und nicht einfach nur affektive Reaktionen hervorzurufen, die verschweigen, woher diese bedauernswerten Körper kommen. Sowohl die Dardennes als auch Petzold erreichen dies, indem sie sehr spezifische Körperverfahren einsetzen, die die Betrachter/-innen näher an den Körper ihrer jungen Protagonisten und Protagonistinnen heranführen und auf einer somatischen Ebene Empathie hervorrufen, während sie gleichzeitig intellektuelle Distanz und emotionalen Abstand von diesen sich abmühenden Jugendlichen schaffen. Obwohl sie bewusst das einsetzen, was ich im Folgenden als »körperlich intensivierende Bilder« bezeichnen werde – sie üben mit ihren Schauspielern und Schauspielerinnen, in ihren Darbietungen solche Bilder zu erzeugen –, belassen sie der Figur ihr Geheimnis. Das hält die Zuschauer/-innen einerseits bewusst auf Distanz, andererseits werden sie gleichzeitig durch die körperlich intensive Darstellung angezogen. Diese körperliche Nähe bei gleichzeitiger intellektueller Distanz versetzt die Zuschauer/-innen in das, was die Dardennes eine »moralische Trance« nennen und was Petzold als »Schwebezustand« bezeichnet, in dem das Verhältnis der Zuschauer/-innen zur Figur offen und unbestimmt bleibt (Dardenne 2005: 136; vgl.

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auch Lebrun 2010: 194; Fisher 2013: 19). Erst diese offene und unbestimmte Position führt dazu, dass die historischen, moralischen und politischen Stimmen hörbar und sichtbar werden, die die Filmemacher letztlich in ihren Filmen zeigen möchten.

Ambivalente Anfänge: Annäherung an jugendliche Ausreißerinnen Beide Filme erreichen diese körperlich-stilistische Raffinesse, indem sie bestimmte Werkzeuge einsetzen und andere vermeiden. Selbst wenn sie körperlich intensivierende Bilder einsetzen und damit das erzeugen, was Carl Plantinga als »sympathetische Emotion« (sympathetic emotion) (Plantinga 2009: 161) gegenüber ihren jungen Protagonisten und Protagonistinnen bezeichnet, entziehen sie die Figur, deren Körper intensiviert wird, den Zuschauer/-innen zur gleichen Zeit. Das zeigt sich etwa daran, dass schon zu Anfang, wenn die Zuschauer/-innen die jungen Protagonistinnen in Das Versprechen, Rosetta und Gespenster erst kennenlernen, die Filme das unterlaufen, was Plantinga (in Anlehnung an Murray Smith) als »moralische Verbundenheit« (moral allegiance) zu den Figuren bezeichnet (Plantinga 2009: 107). Im klassischen System fließen die sympathetischen Emotionen und die moralische Verbundenheit normalerweise zusammen, sodass die Zuschauer/-innen Mitgefühl zu der Hauptfigur entwickeln und daran glauben, dass sie innerhalb der Erzählung »Gutes« tut – oder jedenfalls eine »gute« Person ist, die einer tragischen Situation zum Opfer fällt. Aber die ungewöhnlichen Eröffnungen dieser Filme bringen dieses Mitgefühl und diese Verbundenheit ins Wanken. Dadurch vermeiden beide Filmemacher die doppelte Gefahr, entweder übermäßiges Mitleid mit dem Körper zu erzeugen oder in seiner Gegenwart zu schwelgen. In der Eröffnungssequenz von Rosetta beispielsweise werden die Zuschauer/innen sofort mit dem unbändigen Kampfgeist der gleichnamigen Protagonistin konfrontiert und gerade nicht mit dem leidenden biologischen »Material« ihres Körpers. Die ersten Bilder des Films zeigen die junge Protagonistin, wie sie durch die Flure einer Eiskremefabrik stürmt. Die Kamera ist ihr dicht auf den Fersen und hat Mühe, mit ihrem rasanten Vormarsch durch Fabrikflure und Brandschutztüren Schritt zu halten. Da die Kamera kaum in der Lage ist, ihr zu folgen, bleibt den Zuschauern und Zuschauerinnen nur der Blick auf ihren Rücken: Über eine Minute lang, die erste des Films, ist nur die Bewegungsunschärfe ihres Haarnetzes und ihres Arbeitskittels zu sehen. Den Zuschauern und Zuschauerinnen wird der Blick auf ihr Gesicht vollständig verwehrt, das vermutlich einen Hinweis darauf geben würde, warum sie so eilig unterwegs ist. Das Stampfen ihrer schweren, schnellen Schritte auf dem Industrieboden des Korridors und darauffolgend der Fabrikhalle unterstreicht, dass ihr entschlossenes Vorwärtsdrängen an den Marsch eines Sol-

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daten erinnert, und tatsächlich erwähnt Luc Dardenne in Au dos de nos images, dass Rosetta als Kriegsfilm zu verstehen ist (Dardenne 2005: 66). Dieser Subtext wird bestätigt, als Rosetta ihr gewünschtes Ziel erreicht und dort zunächst eine Kollegin beschimpft, bevor sie ihren Chef körperlich attackiert. In diesem Moment zeigt die Kamera endlich ihr Gesichts in einer mittleren Einstellung, allerdings nicht wie üblich mit einem Schnitt auf eine Großaufnahme während eines dramatischen Höhepunkts, sondern in dem Moment, als sie sich abrupt umdreht, um ihrem Chef mit höchster Wut gegenüberzutreten. In dieser langen Einstellung erscheint das erste Bild ihres Gesichts genau dann, als die Zuschauer/-innen erfahren, dass sie gefeuert wurde. Sie wird nicht entlassen, weil andere sie wegen ihrer Unpünktlichkeit denunziert haben (was ihr Verdacht gegenüber der Kollegin ist), sondern lediglich, weil ihre Probezeit vorbei ist, wie ihr Chef enthüllt – denn eine vorzeitige Kündigung ist bei dieser Art von gezinktem Arbeitsverhältnis immer möglich, egal wie gut sie ihre Karten ausspielt. Und in der Tat schafft sie es, dass sowohl die betretene Kollegin als auch ihr grausam pragmatischer Chef bestätigen, dass sie eine gute und produktive Arbeiterin ist, auch wenn diese Tatsache für den Verbleib in der Firma vollkommen irrelevant ist. Diese Szene kann man parallel zu den ersten Minuten von Das Versprechen betrachten, in denen illegale Migranten und Migrantinnen in den Neuwägen eines Autotransporters eingeschleust werden und dadurch den Niedergang der Schwerindustrie zu einer vorgetäuschten »New Economy« illustrieren. Auf ähnliche Weise erscheint die Fabrik in Rosetta als ein kraftloses Echo vergangener Arbeiterkämpfe und Arbeitersolidarität (Abb. 13.1).

Abbildung 13.1: ›Das Versprechen‹ – Parodien der industriellen Fertigung: Autotransporter als Vehikel für Menschenhandel

Als sie realisiert, dass das Ende ihres Arbeitsverhältnisses eine vollendete Tatsache ist – dass ihr Exitus schon geplant war, bevor sie überhaupt angefangen hatte –, holt sie zu einem Schlag direkt in die Kamera aus, die neben dem Chef positioniert ist, sodass ein Schlag gegen ihn auch ein Schlag gegen uns ist. Ihre

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frenetische Bewegung wird jedoch bald durch eine Reihe von plötzlich verschlossenen Türen beschränkt, die versinnbildlichen, dass die Handlungsmöglichkeiten in dieser Firma schwinden. Schließlich gelingt es ihr, in eine Umkleidekabine zu stürmen, wobei ihr nun nicht nur die Kamera, sondern auch zwei Sicherheitsleuten folgen. Als diese sie packen, klammert sie sich an die Spinde und wehrt sich in dieser unvergesslichen Szene mit jeder Faser ihres uniformierten Körpers gegen die Entfernung von ihrem Arbeitsplatz. Für die ersten Momente eines Films sind solche Bilder schockierend, was sich vor allem in der Intensität ihrer körperlichen Energie und Wucht ausdrückt. Diese erste Vorstellung der Figur Rosetta hebt die verblüffende körperliche Intensivierung in den Filmen der Dardennes hervor, indem der Film damit beginnt, die Aktivität einer Verzweiflungstat zu zeigen und nicht das bedauernswerte, passive Leiden. Zunächst – und das ist zentral für das Verfahren der Dardennes – jagt die Kamera Rosetta durch die Korridore nach und bleibt dann nah an ihr dran, als sie merkt, dass sie in die Enge getrieben ist. Indem sie sich weigern, längere Einstellungen zu verwenden, die normalerweise den Raum einführen (und die es den Zuschauern und Zuschauerinnen einfach machen würden, es sich in der konventionellen Konstruktion eines objektiven Raums bequem zu machen), verbleibt die Kamera der Dardennes dicht an Rosettas Körper und verletzt damit das, was Plantinga die proxemischen Muster des Kinos nennt, nämlich die Standards für die Distanz von Körpern voneinander, die – wie ich betonen möchte – sowohl von den Figuren als auch von der Kamera beachtet werden (Plantinga 2009: 120). Diese proxemischen Muster werden in den Filmen der Dardennes ständig verletzt, variiert und verändert, sowohl von der Kamera als auch von den Figuren (etwa in der frühen Szene von Das Versprechen, als der Vater Roger seinen Sohn Igor bittet, sich zu ihm zu beugen und ihm Ohrentropfen ins Ohr zu tröpfeln). Auf diese Weise rückt die berühmte corps-caméra – die Körperkamera – des reifen Stils der Dardennes die Zuschauer/-innen auf unangenehme Weise nah an die Figuren heran. Durch diese Nähe und gleichzeitige Abstoßung nehmen die Zuschauer/-innen einerseits emotional Anteil an Rosettas Notlage und distanzieren sich andererseits gleichzeitig durch die Verletzung des proxemischen Anstands von ihr: Sie sind ihr nahe, aber sie ist zu gewalttätig für diese Nähe. Daher ist es wichtig zu verstehen, wie die viel zitierte corps-caméra des Dardennes’schen Kinos im größeren Kontext traditioneller proxemischer Muster und ihrer Auffassung des Körpers in konventionellen Medien (einschließlich ihres Widerstands dagegen) funktioniert. Sie verwenden das, was Julian Hanich »körperliche Abschattung« nennt, indem sie Teile des Körpers hervorheben, um dadurch Sympathie zu erwecken (Hanich 2010: 102), und erreichen dadurch eine ähnliche Intensivierung von Nähe/Abstoßung. Dieser Mechanismus spielt eine zentrale Rolle sowohl für den Anfang von Rosetta (etwa, als sie sich an das dünne Blech der Spinde klammert, die die Realität der Arbeiterklasse weiterhin prägen) als auch in

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Das Versprechen (etwa, als Igor in den ersten Minuten des Films ein Loch in die Erde schaufelt, um eine Brieftasche zu vergraben, die er einer unglücklichen Rentnerin gestohlen hat). Solche körperlich intensiven Bilder, die in Nahaufnahme gefilmt wurden, ziehen die Betrachter/-innen an, aber es ist eine Nähe, die gleichzeitig Distanz schafft. Rosettas aggressive Anschuldigungen und ihr unvermittelter gewaltsamer Angriff auf ihren Chef sowie Igors beiläufiger Diebstahl von der Rentnerin, die gerade ihre Rente abgeholt hat, bringen die moralische Haltung der Zuschauer/-innen durcheinander. Gespenster war Petzolds erstes großes Projekt, nachdem er mit Die innere Sicherheit national bekannt worden war. Wie die Dardennes entschied er sich dafür, diesen wichtigen »zweiten Film« auf der zentralen Figur eines zunächst prekär beschäftigten, dann arbeitslosen jungen Menschen aufzubauen. Wie in Rosetta zeigt die erste Einstellung des Films seine Protagonistin Nina bei der Arbeit, in einer unsicheren Situation, die schon bald zu einer demütigenden wird. Mit einer orangefarbigen Bauarbeiterweste bekleidet sammelt Nina auf einer grünen Wiese im Park Müll auf – ein schöner Rahmen für eine untergeordnete, ja niedere Arbeit. Auch wenn Deutschland eine glorreiche industrielle Vergangenheit hatte – deren Abgesang Petzold in seinem Fernsehfilm Wolfsburg (2003) ablieferte –, so sind doch die besser bezahlten gewerblichen Stellen in der deutschen Hauptstadt offenbar verschwunden. Ninas Beispiel zeigt, dass selbst in einem wohlhabenden Land wie Deutschland tariflich geregelte manuelle Arbeit im Zuge der allgemeinen Entmaterialisierung der Arbeit vor allem für die jüngere Generation nicht mehr verfügbar ist. Petzold entschloss sich, eine solche Figur – eine junge Person, die eine sinnlose Arbeit ausübt – in den Mittelpunkt seines Films zu stellen, nachdem er im Park einer solchen Ein-Euro-Jobberin begegnet war. Diese Jobs (offiziell »Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung« genannt) wurden als Teil der Hartz-IV-Reformen 2004/2005 in der Zeit eingeführt, als der Film veröffentlicht wurde (Fisher 2013_ 80–81). Petzold war besonders schockiert darüber, dass es sich bei diesen prekären und befristet Beschäftigten nicht um »Lumpenproletariat oder Skinheads« handelte, sondern oft einfach um junge Leute, die sich nach der Schule eine kleine Auszeit gegönnt hatten, um sich plötzlich am unteren Ende einer erdrückenden Beschäftigungspyramide wiederzufinden (Fisher 2013: 81). In Petzolds Universum sind solche jungen Menschen schon in jungen Jahren zu Gespenstern geworden. Wenn das Los von Rosetta darin besteht, die immer schnellere Abwertung von Lohnarbeit zu diesem historischen Zeitpunkt zu entlarven, so zeigt die Art und Weise, wie Ninas Demütigung am Arbeitsplatz inszeniert wird, in ähnlicher Weise, dass die Geschäftsleitung die Entfremdung zwischen Kollegen und Kolleginnen in Kauf nimmt und sogar fördert, um die traditionelle Solidarität am Arbeitsplatz zu untergraben. Als ihr Vorgesetzter sie (angeblich) dabei erwischt, wie sie während der Arbeit faulenzt, verspottet er sie zunächst, beschuldigt sie dann, dass sie

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ihren Müllsack aus einem Mülleimer gefüllt habe (um vorzugeben, sie hätte gearbeitet), und entleert schließlich den fast vollen Sack auf die Wiese, damit sie ihn wieder aufsammelt. Die Demütigung durch ihren Chef führt dazu, dass sie sich von ihren Arbeitskameraden und -kameradinnen entfernt, selbst als sie versucht, wieder Anschluss an die Gruppe zu finden. Petzolds Inszenierung der Situation an Ninas Arbeitsplatz unterstreicht aber auch den Unterschied zum ästhetischen Ansatz der Dardennes, auch wenn beide in ihren Filmen die sozioökonomischen Bedingungen und das Verschwinden der Arbeitersolidarität vor allem für junge Menschen beklagen. Während der Arbeit wird Nina davon abgelenkt, dass sie beobachtet, wie eine junge Frau von zwei Männern verfolgt und angegriffen wird, offenbar weil sie etwas gestohlen hat. Kurz danach sieht Nina, die die Zuschauer/-innen gerade erst kennengelernt haben, die junge Frau – Toni – zum zweiten Mal, wieder bei einem Diebstahl. Nina folgt ihr abermals, wobei sie sich absichtlich von ihren Kollegen und Kolleginnen, die wie sie orangefarbene Westen tragen, entfernt. Ihre mäandernde Verfolgung von Toni wirkt fast wie aus einem Traum, da das Ausmaß der Gewalt (Toni wird zweimal angegriffen, während Nina zuschaut) überraschend scheint. Es könnte sich in der Tat um einen Tagtraum oder, wie die Zuschauer/-innen später erfahren, um eine verdeckte erotische Fantasie handeln.2 Obwohl Petzold betont, dass der Ausgangspunkt der Figur Nina dem Ökonomischen entspringt, hebt er hervor, dass er in der Inszenierung dieser denkwürdigen Eröffnungssequenz sowohl Märchen (insbesondere Das Totenhemdchen der Gebrüder Grimm) als auch das deutsche fantastische Kino (insbesondere F. W. Murnaus Nosferatu, eine Symphonie des Grauens, 1922) im Kopf hatte. Wie die Dardennes stellt Petzold die sich vollziehenden sozioökonomischen Transformationen dar; dabei verliert er aber die fantastischen Aspekte der Vorstellungskraft und des Unbewussten eines jeden Individuums nicht aus dem Blick und ist sich bewusst, dass das Kino seit jeher damit spielt und sie für sich einsetzt. Petzolds Inszenierung seiner jungen Protagonistinnen erweist sich, ähnlich wie bei Rosetta, als gleichzeitig intensivierend und distanzierend für die Betrachter/-innen: Ninas und bald auch Tonis Körper werden konsequent betont dargestellt, aber bleiben den Betrachter/-innen gleichzeitig rätselhaft. Eine der bemerkenswerten Merkmale des Märchens Das Totenhemdchen – und überhaupt vieler der oft schaurigen grimmschen Märchen – ist die gesteigerte Körperlichkeit. Das Märchen erzählt nicht einfach, dass ein kleiner Junge stirbt und seine Mutter ihn übermäßig betrauert, sondern beschreibt, wie sein Totenhemdchen so sehr mit ihren

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Für eine ausführlichere queere Analyse einiger Filme von Petzold vgl. Joy Castro, »›A Place without Parents‹: Queer and Maternal Desire in the Films of Christian Petzold«, in: Marco Abel/Jaimey Fisher (Hg.), »Christian Petzold: A Dossier«, in: Senses of Cinema 84 (September 2017), https://www.sensesofcinema.com/2017/christian-petzold-a-dossier/queer-and-m aternal-desire-christian-petzold/ (letzter Zugriff 24.6.2022).

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Tränen getränkt wird, dass er in seinem Sarg nicht einschlafen kann. Trotz des Motivs der gespenstischen Rückkehr von den Toten dreht sich die Erzählung um die grundlegenden materiellen Aspekte des irdischen Todes. Wie bei Rosetta – deren junges Leben sich im Schmelztiegel zwischen ökonomischer Entwürdigung und bedingungsloser Entschlossenheit entfaltet – liegt der Fokus bei der Vorstellung von Nina auf ihrem Körper, selbst wenn sie durch den Film zu schweben scheint. Wie im Märchen Totenhemdchen fixiert der Film zunächst ihre Kleidung, vor allem ihre T-Shirts. Als sie Toni endlich leibhaftig im Wald begegnet – vielleicht trifft sie sie wirklich, vielleicht ist es der Beginn eines Traums –, spielen Ninas Kleidung und ihre wiederholten Versuche, Tonis Körper zu bedecken, sofort eine wesentliche Rolle: Nina findet zunächst einen Ohrring auf dem Parkweg und zieht ihn an; sie entdeckt Tonis verlorenen Schuh (ein weiterer Verweis auf Märchen und ihre ökonomischen und körperhaften Bedeutungszusammenhänge); und schließlich zieht sie ihr eigenes T-Shirt aus, um es Toni zu geben, deren Bluse von den Männern, die sie angegriffen hatten, zerrissen wurde. Motive rund um Bekleidung und Outfit ziehen sich durch den ganzen Film und gipfeln in der Sequenz, als Nina und Toni für ein Casting zunächst Kleidung stehlen, um dann dort T-Shirts mit dem Namen der Produktion überziehen zu müssen. Die Umgestaltung des Körpers und damit des Selbst ist ein wiederkehrendes Thema in Petzolds Filmen, etwa in Die innere Sicherheit, wo sich in einer ähnlichen Szene die junge Protagonistin in der Bekleidungsabteilung eines Kaufhauses wiederfindet. Der haptische Charakter unserer neoliberalen Konsumgesellschaft wird dabei durch die Allgegenwart von Markenkleidung dargestellt (Fisher 2013: 93). Dieses Motiv der Bekleidung und der Umgestaltung des Körpers – sowie die fragilen Subjektivitäten, für die es steht – steigert die proxemische Intensität der Kamera und in Gespenster zusätzlich die Intensität zwischen den Hauptfiguren. Obwohl Petzolds Inszenierung die Zuschauer/-innen bewusst nah an Ninas Körper heranführt, so wirkt doch ihre emotionale und körperliche Offenheit Toni gegenüber zunehmend irritierend, denn diese scheint kein Problem damit zu haben, Nina ihrem Schicksal zu überlassen, je nachdem wie es ihr gerade passt. Darüber hinaus ist Toni (ähnlich wie Rosetta) mit plötzlicher Gewalt assoziiert – die nur allzu oft das Leben unter Armutsbedingungen prägt: Schon in den ersten zehn Minuten des Films wird sie zweimal körperlich angegriffen, im weiteren Verlauf des Films bedroht sie die Mutter eines ehemaligen Freundes mit einer großen Schere, bevor sie unvermittelt deren antike Kommode zerkratzt. Es ist dieselbe Schere, mit der Toni und Nina später die Sicherheitsetiketten aus den gestohlenen Kleidungsstücken schneiden. Diese unvermittelten Delikte sind für die Zuschauer/-innen nicht gerade eine Einladung, moralische Verbundenheit mit Toni zu entwickeln noch machen sie den Teil von Nina, der sich unausweichlich zu Toni hingezogen fühlt, sympatischer. Wieso Nina Toni trotz ihrer gewalttätigen und kriminellen Unberechenbarkeit so anziehend findet, bleibt rätselhaft: Vom verlo-

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renen Schuh über den gemeinsamen Ohrring bis hin zu den T-Shirts, die sie austauschen, scheint Nina auf unerklärliche Weise dem eigentümlichen Verlangen, Tonis körperliche Nähe zu suchen, unterworfen zu sein, wobei sie die gesellschaftlich einstudierte Proxemik der körperlichen Distanz immer wieder verletzt. Nina nimmt die egoistische Vertrautheit, die Toni ihr gegenüber an den Tag legt, als vermeintliche Intimität wahr. Zum Beispiel: Als Toni wieder bei Nina auftaucht, nachdem sie sie zunächst zurückgelassen hat, geht sie sofort in Ninas Badezimmer unter die Dusche; daraufhin küssen sie sich, was die Zuschauer/-innen wahrscheinlich erstmal etwas verblüfft. In diesem Moment tritt die Leiterin des Heims, in dem Nina lebt, ins Zimmer und teilt ihr mit, dass sie sich in ihrem 1-EuroJob mehr anstrengen muss, sonst fliegt sie aus dem Heim und verliert ihre letzte Chance. Während dieses aufschlussreichen Monologs über erzwungene Konformität und letzte Chancen taucht Toni aus ihrem Versteck auf, und Nina beschließt wieder einmal, ihr zu folgen, um in ihrer physischen Nähe zu bleiben, obwohl den Zuschauern und Zuschauerinnen immer klarer wird, dass weder Toni noch Ninas prekäres Arbeitsleben besonders aussichtsreich sind.

Die Undurchsichtigkeit der Nahaufnahme und die offenen Enden der Jugend Nach der komplexen und brutalen Einführungssequenz, in der die Zuschauer/innen Rosetta kennenlernen, schneiden die Dardennes auf ihr ruhiges, undurchdringliches Gesicht, ein Schnitt, der einen weiteren Aspekt ihrer aufmerksamen und genauen Darstellung von Körpern ins Spiel bringt: den äußerst sparsamen Einsatz von Nahaufnahmen von Gesichtern. Der Schnitt auf Rosettas Gesicht nach der Intensität der Eröffnungssequenz unterstreicht, dass die Zuschauer/-innen es währenddessen kaum sehen konnten, obwohl ihre abrupte Gewalttätigkeit einen der emotionalen Höhepunkte der Figur und des Films darstellt. Das ist überraschend, wenn man bedenkt, wie wichtig der Philosoph Emmanuel Levinas für das Kino der Dardennes ist und erscheint als stilistische Entscheidung zunächst nicht nachvollziehbar, denn das »Antlitz« spielt in Levinas’ Ethik des Anderen eine zentrale Rolle. Obwohl die Brüder den Einfluss Levinas’ auf ihr Denken explizit bestätigen (Dardenne 2005: 56), so zitieren sie auch eine Reihe anderer Philosophen und Schriftsteller und entwickeln ihre spätere Ästhetik anhand einer detaillierten Kritik der dominanten visuellen Medien. Das Fehlen von Großaufnahmen in Rosetta (und von Rosetta) unterstreicht, wie das althergebrachte System des Kinos, das die Dardennes geschickt variieren, den Einsatz von Levinas’ Ideen verkompliziert: Das Gesicht, vor allem in Großaufnahme, ist eine gängige Medienwährung, die das Mainstream-Kino regelmäßig und gerne einsetzt. Die Filme der Dardennes scheinen also eine bewusste Neuverhandlung zwischen der Großaufnahme des

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Gesichts und den intensivierten Aufnahmen des Körpers der Protagonistin, die ich zuvor skizziert habe, zu beinhalten. Diese Neuverhandlung macht deutlich, dass sie nicht nur das vertraute System der (vermeintlichen) Mainstream-Identifikation gegen eines der Kameranähe eintauschen (Cooper 2007: 84–85), sondern in ihren späteren ästhetischen Entscheidungen die Art und Weise, wie zeitgenössische Medien, insbesondere das Kino, den Körper darstellen und einsetzen, kritisieren und neu gestalten möchten. Der Schnitt auf Rosettas ruhiges Gesicht nach ihrem Kampf um Arbeit unterstreicht, dass sich die Dardennes in dieser entscheidenden Sequenz bewusst für die Abbildung des Rückens ihrer Protagonistin entschieden haben, so wie sie es zuvor wiederholt in Das Versprechen taten und später in Le Fils (Der Sohn, 2002) wieder tun werden. Im Gegensatz zu Levinas spielt der Rücken in ihren Filmen eine wichtige Rolle, was sich auch im Titel der beiden Bände von Lucs Arbeitsjournal andeutet (Au dos de nos images bedeutet gleichzeitig so viel wie »auf dem Rücken unserer Bilder« als auch »hinter unseren Bildern«). Dies ist ein durchaus provokanter Ansatz, denn das Gesicht und seine Nahaufnahme sind seit den Anfängen des Kinos von zentraler Bedeutung. So hat etwa Mary Ann Doane die vielen verschiedenen Theorien über das Gesicht in Großaufnahme nachgezeichnet, eine Tradition, die von Sergei Eisenstein und Béla Balázs bis zu André Bazin, Roland Barthes und Gilles Deleuze reicht (Doane 2003). Im klassischen Continuity-System Hollywoods führt ein Film die Zuschauer/-innen in seine besondere fiktionale Welt ein, indem er die emotionale Wertigkeit der Figuren betont und ihre Gesichter früh und oft zeigt. Solche Einstellungen, mindestens halbnahe und darauffolgend Nahaufnahmen, die leicht hinsichtlich affektiver und emotionaler Zeichen gelesen werden können, sind besonders wichtig, wenn der Schauspieler oder die Schauspielerin bekannt und Teil des Wertangebot des Films ist. Jedoch ist die Position der Zuschauer/-innen gegenüber den Protagonisten und Protagonistinnen bei den Dardennes eine andere: Sie intensivieren mit ihren Bildern zwar den Körper der Figuren, stellen sie jedoch konsequent als undurchsichtig, distanziert und rätselhaft dar, selbst wenn die Kamera nah bei ihnen verweilt. Die Gründe für diese Abwandlung des klassischen Systems werden nachvollziehbar, wenn die Brüder erzählen, wie sie im Jahr zuvor Rosetta gedreht hatten und danach Der Sohn planten: Sie deuten an, dass sie so oft von hinten gefilmt haben (was auch zur entscheidenden Strategie für die Aufnahmen von Olivier, einer der Figuren in Der Sohn, werden sollte), weil sie sie einerseits aufnehmen wollten wie einen Soldaten, der in den Krieg zieht, aber »zweifellos auch«, weil sie »das Gesicht« nicht darbieten wollten, »das zu oft gesehen, zu oft ins Bild gesetzt, zu oft enkodiert, zu oft verkauft, zu oft beworben wurde« (Dardenne 2005: 129). Sie schlagen vor, dass gegen einen solchen exzessiven Gebrauch des Gesichts – zu oft gesehen, zu oft verkauft, zu oft beworben – ein Bild notwendig ist, das »das Bild, das die Betrachter bereits gesehen und ausgespuckt haben, aufbrechen kann«. Das Bild, das

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sie bereits gesehen haben und kennen, ist für sie vor allem der Anblick eines leidenden, ängstlichen Gesichts, das ihre weiter gefasste Theorie des Körpers und der Zuschauerreaktionen aufnimmt, die weiter oben schon skizziert wurde. Die Idee des Aufbrechens dominanter Bilder ist sehr aufschlussreich, aber es scheint mir bemerkenswert, dass sie an dieser Stelle auftaucht, bei der Überlegung, wie genau das Gesicht und der Körper gezeigt werden sollen. In diesem Zusammenhang – während sie rechtfertigen, dass sie so oft Rosettas Rücken zeigen – enthüllen sie ihre Absicht, Olivier ebenfalls von hinten aufzunehmen. Oliviers Rücken, so schlagen sie vor, soll »wie ein Gesicht« werden, das spricht – ein sprechender Körper, der ihre Theorie (und Klage) über den stummen, bedauernswerten Körper ausdrückt. Sogar die Enden der besprochenen Filme verweigern den Zuschauern und Zuschauerinnen die Auflösung dieser Nahaufnahmen, indem das Schicksal der Protagonistinnen in der Schwebe verbleibt. Die Art und Weise, wie diese unterschiedlichen Filme enden, unterstreicht, dass die Nähe, die von der Kamera (und den Zuschauern und Zuschauerinnen) aufrechterhalten wird, eine undurchsichtige und herausfordernde Nähe ist und keine transparente und einfache Identität. Die Enden der Filme erinnern uns daran, dass diese Figuren, so fiktiv sie auch sein mögen, das unbekannte Andere bleiben und nicht von den Zuschauern und Zuschauerinnen – von ihrem Verständnis und ihrer emotionalen Beteiligung – übergreifend erfasst und eingeordnet werden können und sollen. Um diese ästhetischen Ziele zu erreichen, beschwören die Enden aller Filme eine überraschende narrative Wendung herauf, die jedes Mal anhand körperlich intensivierender und gleichzeitig schwer fassbarer Nahaufnahmen inszeniert wird, die deutlich machen, wie die jähe Veränderung die Unergründlichkeit der jungen Protagonisten und Protagonistinnen nur noch verstärkt. In Gespenster wandert Nina, nachdem Pierre das scheinbare Wiedersehensfrühstück von Françoise und ihr unterbrochen und Françoise weggeführt hat, (wieder einmal) allein durch den Tiergarten. Petzold zeigt sie sowohl hier als auch in der vorherigen Szene, als sie das Hotel verlässt, nur von hinten, sodass die Zuschauer/-innen nicht sehen können, wie sie darauf reagiert, dass ihre vermeintliche und ersehnte Mutter sich getäuscht hat und dass die verlorene Tochter Marie tot ist. Von Toni und Françoise verlassen, fällt Nina ein, dass sie in der Nähe des Ortes ist, an dem Toni Françoises Brieftasche weggeworfen hatte, und findet sie wieder – eine materielle und intensiv haptische Erinnerung an die schwer fassbaren abstrakten Beziehungen, die sich durch den ganzen Film ziehen. Die Nahaufnahmen, die dies verdeutlichen, zeigen nicht ihr Gesicht, sondern ihre Hände mit der Brieftasche, wie sie die Fächer durchwühlt. In der Brieftasche findet sie eine Reihe von computergenerierten Bildern, die von einem Originalfoto von Françoises verlorener Tochter ausgehend entwerfen, wie sie in ihren Teenagerund frühen Erwachsenenjahren aussehen könnte – vom Kleinkind bis zu einer Person, die Nina verblüffend ähnlich sieht. Mit diesen überraschenden Bildern scheint der Film die Hoffnung aufrechterhalten zu wollen, dass Nina tatsächlich die lang

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verschollene Tochter von Pierre und Françoise sein könnte, obwohl im Gegenschuss Ninas Gesicht bezeichnenderweise nur zur Hälfte zu sehen ist, da ihr Pony die andere Hälfte vollständig verdeckt und ihr Gesichtsausdruck nicht zu erkennen ist. Diese Fotos sind einer der Ausgangspunkte, der Petzold zu Gespenster inspiriert hat: Er erzählt, wie er in einem Postamt in Frankreich ein Plakat mit – wie er es nennt – »Geisterbildern« hängen sah: Computergenerierte Bilder von vermissten Kindern, die simulieren, wie sie vermutlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt aussehen würden. Er nennt diese Bilder »geisterhaft«, weil sie ausgehend von einer vertrauten Nahaufnahme des Gesichts die vermissten Kinder aus jeglichem sozialen Kontext herauslösen, als ob sich Menschen überhaupt ohne soziales Umfeld entwickeln und existieren können (Fisher 2013: 95–96). Ein wiederkehrendes Thema seiner Filme ist genau diese fehlgeleitete Fantasie: die imaginierte, aber unmöglichen Autonomie außerhalb der Komplexität sozialer Beziehungen. Solche Bilder spielen der Illusion der trauernden Eltern in die Hände, genau wie Autos, Kitschvillen und andere soziale »Blasen«-Orte (wie Petzold sie nennt). Nina wird sich dessen möglicherweise bewusst: Sie verwirft die Illusion des Wiedersehens mit verlorengegangenen Eltern, auf die das computergenerierte Portraitfoto hinzudeuten scheint, wirft Françoises Brieftasche weg und geht in den Park hinaus. Die Kamera bleibt zurück und zeigt nur ihren Rücken, sodass die Zuschauer/-innen trotz der Nahaufnahmen der Brieftasche und der Geisterbilder ihre Reaktion nicht sehen und lesen können: Sie bleibt ein Rätsel – für Françoise und für den Regisseur –, aber dadurch auch sie selbst. Die Kamera verweilt im Hintergrund, beobachtet sie, aber versucht nicht, Verständnis herzustellen. Die Sequenzen, mit denen Rosetta endet, erreichen etwas Ähnliches in Bezug auf die Kameraarbeit, die Nahaufnahmen, die verwirren und ablenken, und das ultimative Geheimnis der Figur. Nachdem Rosetta Riquet, der einzigen Person, die ihr gegenüber Interesse und Zuneigung bezeugt hat, praktisch den Job gestohlen hat, ruft sie ihren Chef an und teilt ihm mit, dass sie kündigt. Damit überlässt sie Riquet den wertvollen Job oder, was wahrscheinlicher ist, jemandem unbekannten, der oder die genauso verzweifelt ist und in dieser unvorstellbar harten Arbeitswelt ums Überleben kämpft. Angesichts dessen, was passieren wird, fragt man sich, warum sie sich überhaupt die Mühe macht, ihren Chef zu informieren, aber sie ist (fast) bis zum Ende eine gute Angestellte. Was die Inszenierung dieses Höhepunkts angeht, so umgibt sie nicht der geringste Hauch der Dramatik; den Zuschauern und Zuschauerinnen werden die Details bezüglich Rosettas schockierender Entscheidung vorenthalten. Die Kamera bleibt zwar nah am Körper der Schauspielerin, weigert sich aber eine klare Nahaufnahme ihres Gesichts zu zeigen, sowohl bevor als auch während sie den schicksalhaften Anruf tätigt. Wie Sarah Cooper (2007) argumentiert und wie Luc Dardenne in Au dos des nos images (Dardenne 2005: 73) bestätigt, bleibt Rosetta für die Zuschauer/-innen vollständig

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undurchschaubar, lediglich ein Antlitz im Sinne von Levinas, dessen Nahaufnahme in Gänze uns die Dardennes bewusst verweigern. Doch auch, wenn das so ist, bleibt es doch eine besondere Undurchschaubarkeit, die durch ihren Körper ausgeglichen wird. Was Rosetta als Nächstes tut, ist noch rätselhafter: Sie kocht ein Ei, was wir in Großaufnahme nachverfolgen können, und dreht dann hörbar die Propangasflasche auf, bevor sie seelenruhig den Spalt unter der Tür des ärmlichen Wohnwagens verstopft und sich ins Bett neben dem ihrer Mutter legt, wahrscheinlich um einen völlig unvermittelten, aber für die Dardennes typischen entdramatisierten erweiterten Suizid zu begehen. Das Zischen des offenen Gasventils ist das einzige Geräusch in diesem hochdramatischen Moment, denn die Dardennes vermeiden es so gut wie immer, nicht-diegetischen Ton einzusetzen. Die Zubereitung ihres Eies unterstreicht die oben beschriebene Art des mit dem Körper verbundenen Affekts, der auch hier eingesetzt wird, um unsere gleichzeitige Sympathie und Distanz zur Protagonistin zu betonen. Während sie so daliegt, fragt man sich, wie sie zuvor in aller Ruhe und Alltäglichkeit das Ei kochen, abkühlen, schälen und essen konnte (all das erleben die Zuschauer/-innen in haptischen Details, die zu somatischer Empathie und motorischer Mimikry einladen; vgl. Hanich 2010: 102 und Sobchack 1992 und 2004), ohne dass etwas über ihre Pläne durchscheint, ihre Mutter zu töten und ihr eigenes Leben zu beenden. Die Kamera ist nie direkt auf sie gerichtet, und den Zuschauern und Zuschauerinnen wird jede ausdrucksstarke Nahaufnahme dieses bedeutsamen Abschlusses ihrer Lebensgeschichte verwehrt – sei es ihres Gesichts oder eines anderen affektiv aufgeladenen Gegenstands. Was fortbesteht, wieder einmal und unauslöschlich, sind vielmehr die körperlichen Gesten, die zwar undurchsichtig bleiben, aber von dem Leiden sprechen, das ihr Körper im Laufe des Films erdulden musste (sie wurde zweimal gefeuert und gewaltsam fortgeschafft, außerdem von ihrer Mutter in den Teich gestoßen). In einer weiteren atemberaubenden erzählerischen Wendung hören die Zuschauer jedoch, wie das mörderische Gas langsam zur Neige geht: Die Entbehrungen der Unterschicht bedeuten, dass sie, die über keinerlei Ressourcen verfügt, nicht einmal kontrollieren können, wann und wo sie lebt. Inmitten dieser schockierenden Ereignisse erinnern uns die Dardennes an die Materialität von etwas, worüber die Zuschauer aus der Mittelschicht wahrscheinlich nie nachdenken: die Materialität von Gas und Wärme, ihr physisches Gewicht und ihre physischen Grenzen buchstäblich in einem Behälter. Ohne irgendeine Reaktion auf diese nunmehr dritte schockierende Entwicklung (kocht Ei, tötet Mutter/sich selbst, Gas geht aus) zu zeigen, setzt sie sich ohne Zögern von ihrem Beinahe-Totenbett auf, schlüpft in ihre klobigen Regenstiefel und macht sich ganz nüchtern daran, die schwere Gasflasche zur Verwaltung des Wohnwagenplatzes zu schleppen, um eine neue zu kaufen. Ihr Gesicht ist weiterhin nicht in Großaufnahme zu sehen, während sie wie Sisyphos seinen Felsblock das Gewicht der Flasche über den Platz schleppt –

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wobei wieder der Körper gegenüber dem Gesicht im Vordergrund steht – und es ist nicht zu erkennen, ob sie den erweiterten Suizid noch einmal überdenkt oder ob es sich nur um ein weiteres lästiges Hindernis in einem Leben voller Hindernisse handelt. Während sich Rosetta mit der neuen Gasflasche abkämpft, hören die Zuschauer das ferne Brummen eines Motorrollers, ein deutliches, kontinuierliches Geräusch, das das Zischen des Gases aufnimmt und es bezeichnenderweise ersetzt. Als das Heulen immer lauter wird und die Quelle schließlich in dem begrenzten Bildausschnitt, der für die Dardennes typisch ist, auftaucht, sehen die Zuschauer/-innen einen sichtlich erregten Riquet auf einem Motorroller, der Rosetta zum ersten Mal wieder gegenübertritt, seitdem sie sein unstatthaftes Waffelnebengeschäft verraten und er in der Folge seinen Job verloren hat – und sie ihm dadurch faktisch seine Arbeit gestohlen hat. Er umkreist sie aggressiv mit dem Motorrad, dessen aufheulender Motor sich wie Kriegsschrei anhört, wie eine wütende Meute, die sich auf ihren Angriff vorbereitet – es ist ein bemerkenswertes Schlussbild und erinnert an Derek Cianfrances denkwürdiges Bild eines in einem Käfig im Kreis fahrenden Motorrads in The Place Beyond the Pines (2012): Beides sind kraftvolle visuelle Metaphern für die Wut und gleichzeitige Beschränkung einer hilflosen Männlichkeit in diesem bestimmten historischen Moment. Rosetta lässt abrupt die Gasflasche los – überraschend angesichts ihrer bisherigen gedämpften Reaktion auf die nervenzerreißend brutalen Ereignisse – und beginnt zu weinen, vielleicht wegen des Gewichts der Flasche, vielleicht weil sie sich des erweiterten Suizids bewusst wird, vielleicht auch, weil sie endlich registriert, was sie Riquet angetan hat. Im Gegensatz zu dem Campingplatzangestellten, der ihr den Kanister verkauft hat, greift Riquet nach unten, um ihr zu helfen – die Zuschauer/-innen sehen, wie seine Hand in den Bildausschnitt eintritt, sich ausstreckt und ihr hilft, ihre unmögliche Last zu tragen. Während seiner unerwarteten Handlung steht sie auf und blickt nach vorne; die Zuschauer/-innen sehen einen Moment lang ihr Gesicht, eine letzte Großaufnahme, bevor der Film plötzlich mit einem Schwarzbild endet. Obwohl sie weint, bleibt ihr Gesicht, das den Zuschauern und Zuschauerinnen so oft vorenthalten wurde, bis zum Schluss – zu einem Zeitpunkt, wo man eine Art Auflösung erwarten würde – undurchschaubar: Das Geheimnis bleibt bestehen, die Zuschauer erfahren nie, warum sie weint, ob sie sich mit Riquet oder mit dem Leben im Allgemeinen versöhnt oder ob es vielleicht nichts von allem ist (Abb. 13.2). Das Versprechen liefert ein ähnliches, vielleicht sogar noch mysteriöseres Ende, in dem eine abrupte Entscheidung des jungen Protagonisten plötzlich den offensichtlichen erzählerischen Bogen des Films unterbricht und in eine andere Richtung lenkt. Obwohl Igor zu dem Zeitpunkt seinen Vater Roger bereits verlassen hat, nachdem dieser ihn angefleht hat, ihn nicht zu verraten, hat er Assita noch immer nicht die Wahrheit über Hamidous Tod erzählt. Der Plan – den ihre Freunde unterstützen – sieht vor, dass Assita mit dem Zug zu ihren am nächsten gelegenen

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Familienangehörigen fährt, bis sie Hamidous unerklärliches Verschwinden aufklären kann. Die Zuschauer/-innen sehen, wie Igor sie zum Bahnhof begleitet – sie verstehen, dass aus Igors Perspektive dieser Plan mutmaßlich bedeutet, dass sie sich unter den Schutz ihrer Familie (immer noch in Europa, wenn auch näher an Afrika) begibt und dass gleichzeitig Roger vor den Konsequenzen seines Mordes an Hamidou bewahrt wird. Doch als Assita die Treppe hinaufgeht, um zum Gleis zu gelangen, von dem ihr Zug abfährt, und die Zuschauer/-innen annehmen, dass nun die Geschichte abschließt, bricht Igor plötzlich das Schweigen, das zwischen ihnen herrscht, seit sie die Garage verlassen haben – eigentlich schon seit Hamidou gestürzt ist: Er sagt ihr die Wahrheit, nämlich dass Hamidou tot ist und dass sein Vater sich geweigert hat, ihn ins Krankenhaus zu bringen, »um Probleme zu vermeiden« – wohl die Probleme, die er bekommen hätte, wenn bekannt würde, dass er Menschen illegal ins Land schleust und ausbeutet. »Ich habe gehorcht«, gibt Igor zu.

Abbildung 13.2: ›Rosetta‹ – Die Vorbereitung der abschließenden Aufnahme des Gesichts (zweites Bild), das aber nichts enthüllt.

Nach dieser schockierenden Nachricht geht Assita zurück in die Bahnhofshalle, aus der sie gekommen sind. Die Zuschauer/-innen sehen wieder lediglich ihren Rücken in Reaktion auf das, wonach sie so lange gesucht und was sie gerade erfahren hat. Igors abrupte und völlig entdramatisierte Entscheidung und Assitas anschließendes Schweigen unterstreichen, dass die Zuschauer/-innen nicht wissen, was nun geschehen wird. Vor allem hat Igor zwar viel gesagt, aber nicht die ganze Wahrheit, denn er hat nicht erzählt, dass er versucht hat, Hamidous Leben mit einer Aderpresse zu retten, und dass sein Vater diese dann entfernt und den blutenden Mann somit absichtlich ermordet hat. Die Zuschauer/-innen wissen nicht, was mit diesem entscheidenden Detail geschehen wird: Wird Assita zur Polizei gehen? Wird sie es zuerst ihren burkinischen Freunden erzählen? Wird sie Roger zur Rede stellen? Die Antworten auf diese Fragen und die vertrauten filmischen Konflikte, die sich daraus ergeben könnten, werden alle hinfällig, als die Kamera –

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bemerkenswerterweise für einen (nicht so) dramatischen Höhepunkt des Films – plötzlich stehen bleibt. Sie verweilt an der gefliesten Wand des Bahnhofskorridors, während Assita und Igor den Gang und das Filmbild hinuntergehen (Abb. 13.3).

Abbildung 13.3: In der Schlussszene von ›Das Versprechen‹ sieht man die Rücken von Igor und Assita, wie sie sich entfernen.

Die Kamera wirkt plötzlich wie jemand, der sich im Erstaunen an die Wand lehnt, beobachtet, was passiert ist, und sich wundert. Igors Reaktion auf die Divergenz zwischen Assita und der nun ruhenden Kamera ist ebenfalls sehr bezeichnend: Zunächst ist er fassungslos, dann läuft er Assita hinterher, um sie einzuholen, kurz bevor der Film auf Schwarz schneidet. Zunächst ist unklar, ob er die Frau, die zum Ersatz für seine verschwundene Mutter geworden ist, die aber gleichzeitig seinen Vater ins Gefängnis bringen könnte, noch einmal begleiten wird. Aber Igor läuft los – mit plötzlichem, aber nun viel leichterem Schritt – und holt sie ein (trotz des Gepäcks, das er weiterhin trägt). Sein Aufbruch weg von der Kamera erinnert uns daran, dass die Kamera selbst oft in ähnlicher Weise hinterherhasten musste, um zunächst mit ihm – und dann mit Assita und ihm – Schritt zu halten; dass beieinander zu bleiben eine ethische Pflicht ist. Die Kamera ist drangeblieben – vor allem durch ihre körperlich detaillierte Darstellung, so wie bei diesem Hinterhereilen – und doch bleiben Igor und Rosetta, genauso wie Jeanne und Nina, für die Zuschauer/-innen ein ewiges Rätsel, das noch nachwirkt, auch wenn ihre Regisseure sie schon lange verlassen haben (Abb. 13.4).

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Abbildung 13.4: ›Gespenster‹ – Jeanne geht weg, die Zuschauer/-innen schauen ihr nach.

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14 Die Entstehung des Jetzt New-Wave-Filme in Berlin und Buenos Aires Gerd Gemünden

In der Einleitung zu ihrem Sammelband über das internationale Kunstkino setzen sich Rosalind Galt und Karl Schoonover in einem kontroversen Appell dafür ein, dessen Universalität anzuerkennen: »Wenn künstlerische Filme ein internationales Publikum erreichen sollen, müssen sie den Anspruch erheben, dass ihre Formsprache und ihre Geschichten über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verständlich sind. Ein Teil des Anspruchs des künstlerischen Films ist also die Behauptung der visuellen Lesbarkeit und kulturübergreifenden Übersetzung. Anders als das populäre Kino erhebt es nicht den Anspruch, eine lokal definierte Kultur auszudrücken, sondern eine Idee von (Film-)Kunst als solcher zu verkörpern.« Der Autor und die Autorin sind sich des ideologischen Ballasts bewusst, den ein solcher Anspruch auf universelle Lesbarkeit mit sich bringt, doch sie betonen, dass »das Problem der Universalität im Kunstkino zu kompliziert ist, als dass man es einfach dadurch lösen könnte, dass man diesen Anspruch ablehnt« (Galt/Schoonover 2010, S. 10). In diesem Essay möchte ich Galt und Schoonovers kontroverse These zur Universalität untersuchen, indem ich zwei jüngere Neue-Welle-Bewegungen – die Berliner Schule und das Neue Argentinische Kino (Nuevo Cine Argentino) – in einen Dialog bringe. Dabei stütze ich mich auf meinen kurzen Eintrag »Eclectic Affinities« im Band Berlin School Glossary: An ABC of the New Wave in German Cinema, wo ich die Berührungs- und Konvergenzpunkte zwischen der Berliner Schule und dem internationalen Arthouse- und Independent-Kino skizziert habe (Gemünden 2013). An dieser Stelle möchte ich systematischer untersuchen, wie die Filme der Berliner Schule und die des Neuen Argentinischen Kinos ihre jeweiligen Zuschauer/-innen durch Strategien der »visuellen Lesbarkeit« konstruieren und ansprechen, die sich bemerkenswert ähnlich sind. Die Affinitäten zwischen diesen beiden Bewegungen und ihren Ästhetiken sind jedoch nicht nur der oben genannten Universalität des Kunstkinos geschuldet, sondern genauso das Ergebnis ähnlicher politischer, wirtschaftlicher und kultureller Kontexte, die die Produktionsbedingungen und Rezeptionspraxen der betreffenden Filme geprägt haben. Mein Schwerpunkt liegt auf zwei bedeutenden Vertreterinnen des Neuen Argentinischen Kinos – Lisandro

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Alonso und Lucrecia Martel –, deren Filme ich in einen Dialog mit ausgewählten Werken von Regisseuren der Berliner Schule stellen werde. Die kulturellen und institutionellen Gründe für diese von mir behaupteten Affinitäten sind komplex und müssen kurz skizziert werden. Wie bei der Berliner Schule wurden die Regisseure und Regisseurinnen, die unter dem (ebenfalls umstrittenen) Begriff »Neues Argentinisches Kino« zusammengefasst werden, fast alle an Filmhochschulen ausgebildet, die in den 1990er Jahren in Buenos Aires und anderswo im Land entstanden sind. Dazu gehören, neben Martel und Alonso, etwa Martín Rejtman, Adrián Caetano, Pablo Trapero, Albertina Carri, Ana Poliak und noch einige andere mehr. Während der Regierungszeit von Präsident Carlos Menem (1989–99), die einer neoliberalen Agenda verpflichtet war und zahlreiche staatliche Unternehmen wie das Fernmeldewesen und die Fluggesellschaften privatisierte, wurde das Kino ironischerweise zu einem vom Staat geschützten Sektor, der die kulturellen Errungenschaften der Nation repräsentieren sollte. Umfassende Gesetze zur Filmförderung sowohl bezüglich der Produktion als auch des Vertriebs wurden verabschiedet, darunter das »ley del cine« (Kinogesetz). Dazu kam die Neugestaltung des Nationalen Instituts für Film und audiovisuelle Kunst INCAA (Instituto Nacional de Cine y Artes Audiovisuales). All das führte dazu, dass die argentinische Filmszene grundlegend revitalisiert wurde. Zu den sichtbarsten Ergebnissen gehören so prestigeträchtige und national wie international beachtete Filme wie Fabián Bielinskys Nueve Reinas (Nine Queens, 2000) und El aura (The Aura, 2005) sowie Juan José Campanellas El hijo de la novia (Der Sohn der Braut, 2001), Luna de Avellaneda (Avellaneda’s Moon, 2004) und der oscarprämierte El secreto de sus ojos (In ihren Augen, 2009) – die im Übrigen alle den Schauspieler Ricardo Darín in der Hauptrolle gemeinsam haben, was sicherlich kein Zufall ist. In ihrem Windschatten entwickelte sich ein kleinerer Kreis von leidenschaftlichen Autorenfilmemachern und -macherinnen, die bald begannen, auf nationalen und internationalen Filmfestivals prestigeträchtige Preise zu gewinnen. Eines dieser Festivals ist das BAFICI (Buenos Aires Festival of Independent Cinema), das 1999 ins Leben gerufen wurde und, wie der Name schon sagt, speziell neuere »unabhängige« Filme aus Argentinien zeigt (die Anführungszeichen sollen darauf hinweisen, dass dieses Adjektiv in Ermangelung einer starken nationalen Filmindustrie in diesem Zusammenhang eher bedeutungslos ist). Darüber hinaus wurde 1996 das einst angesehene, aber zwischenzeitlich pausierte Festival Internacional de Cine de Mar del Plata reaktiviert, das sich vor allem auf das lateinamerikanische und internationale Arthouse-Kino konzentrierte. Diese beiden Festivals sind heute die wichtigsten nationalen Kanäle für die Präsentation und – im Falle des BAFICI – die Koproduktion neuer argentinischer Filme. Neben den neueröffneten Filmhochschulen und den gesetzlichen Regelungen, die die Finanzierung und den Vertrieb von Filmen unterstützen, spielt die Filmkritik, sowohl im Print als auch online, eine wichtige Rolle bei der Förderung neuer Stimmen. Erwähnenswert sind Zeitschriften wie

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Film, Sincortes und Haciendo cine, die alle jeweils eine starke Online-Präsenz haben und sich zu etablierten Publikationen wie El amante cine gesellt haben. Ein besonderer Fall ist das 2013 erstmals erschienene Print-Magazin Las naves, denn es ist das direkteste und bewussteste Zeichen der Verbindung zwischen der Berliner Schule und einer ausländischen Filmbewegung. Gegründet mit der expliziten Unterstützung der deutschen Filmzeitschrift Revolver, die von Christoph Hochhäusler und Benjamin Heisenberg gegründet wurde und mit Hochhäusler als wichtigem Verbindungsmann, ist Las naves deutlich an das deutsche Magazin angelehnt, was soweit geht, das sogar das Taschenbuchformat übernommen wurde.1 Die erste Ausgabe hatte den Schwerpunkt »Manifiestos/Manifestos« und bestand aus vierzig kurzen programmatischen Beiträgen (auf Spanisch und Englisch), verfasst von zeitgenössischen Filmemachern und Filmemacherinnen – darunter die Revolver-Redakteure Hochhäusler und Franz Müller, eine bedeutende Auswahl argentinischer Regisseure und Regisseurinnen und einige international anerkannte Autorfilmer/-innen wie Apichatpong Weerasethakul und Carlos Reygadas. Viele dieser Manifeste waren bereits in früheren Ausgaben von Revolver erschienen, darunter auch welche von argentinischen Regisseuren und Regisseurinnen, was darauf hindeutet, dass Hochhäusler und Co. ihre südamerikanischen Kollegen und Kolleginnen schon seit längerer Zeit schätzten.2 Auch die Tatsache, dass Hochhäusler 2013 in der Jury des BAFICI saß, zeugt davon, dass er in der Filmszene von Buenos Aires einiges Ansehen genießt. Im Juni 2015 kuratierten die RevolverRedakteure Franz Müller und Hannes Brühwiler in Zusammenarbeit mit dem bekannten argentinischen Kritiker Luciano Monteagudo eine Filmreihe unter dem Titel »REVOLVER Buenos Aires. Deutsch-argentinische Film-Wahlverwandtschaften«, die zehn aktuelle argentinische Filme mit ihren deutschen Pendants zusammenbrachte, darunter sowohl Filme von Valeska Grisebach, Maren Ade und Harun Farocki als auch welche von Martel, Alonso, Caetano und Rejtman.3 Dass der Neue Argentinische Film in Deutschland hoch angesehen ist, zeigt sich auch in einer umfangreichen Retrospektive, die Alan Pauls 2015 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin kuratierte. In seinem Statement stellt Pauls fest: »In diesem sehr argentinischen und zugleich universellen Kino positioniert sich ästhetische Innovation in einem Spannungsverhältnis zum kritischen Wunsch, die blinden Flecken einer Gesellschaft aufzudecken, die aus der Krise ihren quasi natürlichen Zustand, ihr

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Einen Eindruck von der Zeitschrift kann man sich auf ihrer Website verschaffen: https://ww w.tenemoslasmaquinas.com.ar/las-naves (letzter Zugriff 24.6.2022). Hochhäusler ist erklärtermaßen ein Fan von Martel. Die Frau ohne Kopf hat ihn so beeindruckt, dass er versucht hat, Martels Kamerafrau Bárbara Álvarez für seinen Film Die Lügen der Sieger (2015) zu gewinnen, die jedoch aus Zeitgründen das Projekt nicht annehmen konnte. Siehe https://www.otroscines.com/nota?idnota=9507 und https://www.revolver-film.com/r evolver-in-buenos-aires/ (letzter Zugriff 25.6.2022).

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Imperium und ihre Leidenschaft gemacht hat.«4 Diese Beobachtung trifft, behaupte ich, in gewissem Maße auch auf die Berliner Schule zu und begründet letztlich die bemerkenswerten Parallelen zwischen den beiden Bewegungen. Neben den institutionellen und kulturellen Kontexten gibt es auch auf der persönlichen Ebene Gemeinsamkeiten zwischen der Berliner Schule und dem Neuen Argentinischen Kino. Die deutschen und die argentinischen Filmemacher/-innen gehören ungefähr der gleichen Generation an. Ihre Erschließung der Filmgeschichte fiel in eine Zeit, als zunächst der VHS-Player und später die DVD eingeführt wurden, sodass ihr Zugang zur Welt des (Kunst-)Kinos von den Vor- und Zurück-Tasten auf der Fernbedienung geprägt wurde. Daher ist ihr filmhistorischer Ansatz im Gegensatz zur Ausbildung von früheren Generationen von Cineasten höchst eklektisch, unsystematisch und nicht chronologisch. Wie schon oft festgestellt wurde, fehlt sowohl der Berliner Schule als auch dem Neuen Argentinischen Kino ein Manifest oder gar ein gemeinsamer Stil. Ihre jeweiligen »Mitglieder« haben sich oft dagegen verwehrt, unter einem gemeinsamen Etikett zusammengefasst zu werden, obwohl sie auf der anderen Seite von einer bestimmten Art der Markenbildung profitiert haben, die ihnen auf internationalen Festivals Türen geöffnet hat. Und auch wenn diese »Mitglieder« letztlich doch recht unterschiedliche Filme machen, stehen sie in ständigem Dialog miteinander und sind sich der Arbeit ihrer Kollegen und Kolleginnen durchaus bewusst. Darüber hinaus sind sie fester Bestandteil des internationalen Festivalbetriebs, der eine wichtige Rolle für ihre Bekanntheit spielt. Besonders eindrücklich sind die Auftritte von Martel und Alonso in Europa, die in Cannes und Berlin wichtige Preise und Anerkennung erhielten. Abgesehen vom institutionellen Rahmen gibt es bedeutende politische und wirtschaftliche Gemeinsamkeiten. Die Unterschiede zwischen Deutschland und Argentinien in diesen Bereichen überwiegen diese zwar eindeutig, aber um meiner Argumentation willen werde ich mich auf die Verbindungen konzentrieren, die durchaus vorhanden und auch signifikant sind. Sowohl die Filme des Neuen Argentinischen Kinos als auch der Berliner Schule beschäftigen sich auf indirekte, aber unbestreitbare Weise mit den Folgen der Globalisierung. (Es ist, wie schon erwähnt, beachtenswert, dass der argentinische Film zuerst von der Menem-Regierung und ihrer neoliberalen Agenda gefördert und damit zu einem geschützten Kulturgut wurde; weiterhin beachtenswert ist es, dass diese Agenda und ihre Folgen ein wichtiger Hintergrund und versteckter Subtext vieler Filme des Neuen Argentinischen Kinos wurden. Anders ausgedrückt: Letztlich machte

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Siehe https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2015/nuevo_cine_argentino/nuevo_cin e_argentino_start.php (letzter Zugriff 25.6.2022). Ich danke Marco Abel, der mich auf diese Retrospektive aufmerksam gemacht hat. Wie mir Hochhäusler sagte, gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen der Veranstaltung in Berlin und der von Revolver kuratierten Reihe in Buenos Aires.

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die Regierung ihre kreativsten und originellsten Kritiker erst möglich.) Während in Deutschland die Wiedervereinigung sowohl im Osten als auch im Westen des Landes dramatische Veränderungen mit sich brachte, erlebte Argentinien in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren eine beispiellose Serie wirtschaftlicher und sozialer Krisen. Diese beiden Brüche führten zur Erosion des Wohlfahrtsstaates, zu einem radikal veränderten Arbeitsmarkt und zu einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Man kann die ästhetischen Affinitäten zwischen den beiden Bewegungen – die Geschichten, die sie erzählen, die Art und Weise, wie sie sie erzählen, wo sie stattfinden und die Personen, die darin vorkommen –als ein Spektrum von Entscheidungen verstehen, die zumindest teilweise ein Versuch sind, neue Wege des Erzählens zu finden, um die radikalen Veränderungen in der Welt, in der die Regisseure und Regisseurinnen leben und arbeiten, verständlich zu machen. Die politische Dimension des Neuen Argentinischen Kinos – nicht nur die Art und Weise, wie es die Krise darstellt oder entscheidet, sie gerade nicht darzustellen, sondern auch, wie die Krise selbst zu einem Faktor wurde, der die Bewegung erst möglich gemacht hat – lässt sich in der Tat produktiv verstehen, wenn man Marco Abels rigoros deleuzianische Lesart der Berliner Schule auf sie anwendet. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass wichtige Kritiker/-innen des Neuen Argentinischen Kinos wie Joanna Page (2009), Jens Andermann (2012) und David Oubiña (2004) in ihren Interpretationen der Bewegung wiederholt auf Deleuze zurückgegriffen haben. In der Tat lässt sich das, was Abel »a-repräsentationalen Realismus« nennt, deutlich in den ästhetischen Präferenzen des Neuen Argentinischen Kinos wiedererkennen; wie die Berliner Schule handelt es sich hier um ein Kino der Reduktion und des Minimalismus (Abel 2014: 14). Es befasst sich ausschließlich mit der Gegenwart, und die meisten Filme erzählen Geschichten über Figuren, die scheinbar von ihrer Vergangenheit losgelöst sind (dabei klammern wir vorerst die Entwicklungen der letzten Jahre aus, die zunehmend darauf hinweisen, dass beide Bewegungen sich dem historischen Film zuwenden). Diese Filme sind zwar nie belehrend oder propagandistisch, aber sie thematisieren politische Entwicklungen, wie die Auswirkungen der Prekarisierung von Arbeit, die Auflösung der nuklearen Familien oder die neuen Migrationswellen nach Buenos Aires und in andere Regionen. Einzigartig für das Neue Argentinische Kino ist seine enge Beziehung zum italienischen Neorealismus, die sich vor allem in seinem Fokus auf die Arbeiterklasse, die abstiegsgefährdete Mittelschicht und auf Kinder zeigt. (Martín Rejtmans Rapado, ein früher Vorläufer, ist eine erweiterte Hommage an Vittorio De Sicas Ladri di biciclette [Fahrraddiebe, 1948]). Dieser Fokus geht einher mit einer Vorliebe für das Drehen an Originalschauplätzen, wobei häufig Orte abseits des Zentrums aufgesucht werden, beispielsweise die Vororte des Großraums Buenos Aires oder die Provinzen (insbesondere bei Alonso und Martel). Die minimalistische Form der

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Erzählung geht oft zusammen mit einem minimalistischen Schauspielstil. Viele Regisseure und Regisseurinnen verabscheuen das, was man in Argentinien »costumbrismo« nennt, ein Begriff, der einen manierierten Schauspiel- und Artikulationsstil beschreibt, der der Theatertraditionen entstammt. Stattdessen bevorzugen sie Laiendarsteller/-innen (Trapero und Alonso) oder bringen Laien mit erfahrenen Schauspielern und Schauspielerinnen zusammen, die oft entgegen ihrem Typ besetzt werden (Martel). In einem Artikel der New York Times aus dem Jahr 2009 prägte A. O. Scott den Begriff »Neo-Neorealismus«, um eine Reihe neuerer unabhängiger US-Filmemacher/-innen zu charakterisieren, deren Filme in krassem Gegensatz zu der eskapistischen Kost stehen, die die Hollywood-Studios nach dem 11. September 2001 produziert haben. Diese Filme, zu denen Kelly Reichardts Wendy and Lucy (2008), So Yong Kims Treeless Mountain (2008) und Ramin Bahranis Man Push Cart (2005) und Chop Shop (2007) gehören, setzen laut Scott auf eine Ethik der Repräsentation, die in Krisenzeiten an die Oberfläche tritt, und deren ursprünglicher Vertreter der italienische Neorealismus ist (siehe auch den Beitrag von Fech in diesem Band). Beim Betrachten von Bahranis Filmen stellt Scott fest, dass das »Beharren des Regisseurs auf die kleinsten Details der Kamerabewegung, des Ausdrucks und der Komposition mich daran erinnerte …, dass Transparenz, Unmittelbarkeit und ein Gefühl des Eintauchens in das Leben nicht das automatische Ergebnis des Einschaltens der Kamera sind, sondern Effekte des filmischen Handwerks und seiner sorgfältigen Anwendung« (Scott 2009). Scott erwähnt dabei zwar nicht die Filmemacher/-innen des Neuen Argentinischen Kinos, doch der ethische Impuls, der ihrer Ästhetik zugrunde liegt, ist selten besser zusammengefasst worden. Wie es für viele Bewegungen der New Wave üblich ist, lehnt auch das Neue Argentinische Kino die Filme ab, die ihm unmittelbar vorausgingen. Wenn sich die Berliner Schule gegen die Filme der 1990er und Nuller Jahre abgrenzt, die – passender- oder unpassenderweise – als deutsche Kostümfilme (»German heritage film« vgl. Koepnick 2002 und 2004) sowie als »Konsenskino« (Rentschler 2000) bezeichnet wurden, so ist für die Regisseure und Regisseurinnen des Neuen Argentinischen Kinos das Feindbild das Kino nach der Militärdiktatur der 1980er Jahre, das auf sehr allegorische und verdeckte Art und Weise Geschichten von Folter und politischem Opportunismus erzählte, um einem traumatisierten Volk die Gelegenheit zu geben, die Geschichte der Nation zu verarbeiten (wichtige Beispiele sind Eliseo Subielas Hombre mirando al sudeste [Man Facing Southeast, 1986] und Últimas imágenes del naufragio [Last Images of the Shipwreck, 1989]). Die neuen Regisseure und Regisseurinnen empfanden diese Filme als belehrend und moralisierend und warfen ihnen vor, dass sie den Kontakt zum Publikum verloren hatten. Dem setzten sie Filme entgegen, deren Schwerpunkt auf genauer Beobachtung und visueller Reflexion lag und die sich einer extremen stilistischen Strenge übten. Lisandro Alonso drückte es so aus: Eines der wenigen Dinge, das die verschiedenen Filmemacher/-

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innen des Neuen Argentinischen Kinos eint, ist »der Wunsch, ein ehrliches Kino zu machen« (West/West 2011: 38). Wenn man Christian Petzold als den international anerkanntesten Regisseur der Berliner Schule hervorheben möchte, so teilen sich auf der argentinischen Seite Lucrecia Martel und Lisandro Alonso diese Ehre. Martels internationaler Ruhm beruht auf ihrer Spielfilm-Trilogie, die alle in der Region Salta im Nordosten Argentiniens spielen, wo sie auch aufgewachsen ist: La Ciénaga (La Ciénaga – Morast, 2001), La niña santa (La niña santa – Das heilige Mädchen, 2004) und La mujer sin cabeza (Die Frau ohne Kopf, 2008). Alle drei Filme handeln von Familien aus dem Provinzbürgertum in spezifischen Krisenmomenten – sei es der soziale Abstieg von Plantagenbesitzern, die in ihrer eigenen Trägheit untergehen; das sexuelle Erwachen eines Teenagermädchens, das in religiösem Mystizismus gefangen ist; oder die existenzielle Krise einer Zahnärztin, die versucht, einen Unfall mit Fahrerflucht zu vertuschen. Martels Geschichten sind selten linear; stattdessen werden wir mit mäandernden Plots konfrontiert, die stark von den Konventionen des mündlichen Erzählens sowie von Volksmärchen und -sagen beeinflusst sind, nicht unähnlich der Erzählstruktur von Hochhäuslers Milchwald (2003) (Page 2013). Diese Geschichten sind oft von Figuren bevölkert, deren Beziehung zueinander im Unklaren bleibt und deren zombieartige Existenzen an Horrorfilme denken lässt. Auffallend ist Martels Kameraeinsatz, der die Personen oft aus schrägen Perspektiven einfängt, um eine Identifizierung zu erschweren. Häufig nimmt die Kamera den Blickwinkel von Kindern ein – vor allem in La Ciénaga – Morast –, mit dem Effekt, dass der Kamerablick sowohl neugierig als auch unheimlich wirkt. Ebenso eigenwillig ist ihr ausgeklügelter Einsatz des Tons, der sich aus vielen Schichten zusammensetzt und rigoros dem Primat des Visuellen widerspricht oder dieses unterläuft. Ein Beispiel dafür ist Die Frau ohne Kopf, der sich wie Petzolds Wolfsburg um einen Unfall mit Fahrerflucht dreht. (Als Martel 2009 während der Fragerunde nach der Vorführung von Die Frau ohne Kopf an der UCLA gefragt wurde, ob es eine Verbindung zu Wolfsburg gibt, antwortete sie, dass sie den Film nicht kenne – ein Hinweis darauf, dass das deutsche Interesse am neueren argentinischen Kino möglicherweise nicht auf Gegenseitigkeit beruht.5 ) Martels Film ist eine ausgedehnte Übung in Sachen Ungewissheit und Mehrdeutigkeit. Seine Protagonistin, die Zahnärztin Véronica, fährt an einem sonnigen Tag mit ihrem Auto eine staubige Straße entlang und überfährt ein unbekanntes Objekt – genauso wie Philipp, der Hauptfigur von Petzolds Film, ist sie für einen Moment von ihrem Handy abgelenkt. Sie hält zwar an, steigt aber nicht aus dem Auto, um nachzusehen. Als sie weiterfährt, sieht sie im Rückspiegel einen Hund, der auf der Straße liegt. 5

Wie Hochhäusler mir sagte, hat Martel wenig Interesse gezeigt, ein Interview für Revolver zu geben. Auch der Regisseur Santiago Mitre (El estudiante) und das Kollektiv Cine Pampero haben das Interesse der deutschen Cineasten an ihren Filmen nicht erwidert.

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Kurz darauf ist von einem vermissten Jungen die Rede, und danach wird in einem Entwässerungsgraben in der Nähe der Unfallstelle eine Leiche entdeckt. Véronica reagiert auf all das zunächst mit einer Mischung aus Schock und Verleugnung, was aber bald in einen veränderten Bewusstseinszustand der Entfremdung übergeht. Martel zufolge spiegelt das Verhalten der Protagonistin wider, was passiert, »wenn man die Verbindung zwischen den Dingen und die Verbindung zwischen einer Sache und dem, was sie einem bedeutet, verliert … Es geht nicht um eine Frau, die sich schuldig fühlt; es geht um eine Frau, deren Welt kurz vor dem Zusammenbruch steht.« (Wisniewski 2008) Jedes Gespräch, das Véronica führt, ist zusammenhanglos; alles, was sie tut, widerspricht dem wenigen, was sie sagt. Die Schwierigkeit, sie zu verstehen, wird durch die Tatsache verstärkt, dass der Film nicht einer Figur folgt, der bestimmte Dinge widerfahren; vielmehr zeigt er Véronicas Wahrnehmung und das, was sie denkt, was geschieht. Véronicas Kopf ist zwar der Ausgangspunkt, aber die Kamera befindet sich nicht in ihrem Kopf, sondern nur in dessen Nähe, unparteiisch und gnadenlos gleichgültig (Abb. 14.1).

Abbildung 14.1: ›Die Frau ohne Kopf‹

Martel hat erklärt, dass der Film von Herk Harveys US-amerikanischem Horrorfilm Carnival of Souls (1962) inspiriert wurde – übrigens ebenfalls ein wichtiger Einfluss auf Petzolds Yella (2007) –, in dem eine Frau bei einem Autounfall stirbt, aber ihr Leben als lebende Tote fortsetzt. Auch Véronicas Verhalten lässt sich am besten als zombiehaft beschreiben. Während sie hilflos durch das Leben stolpert, schließen sich die Männer um sie herum zusammen und versuchen systematisch, alle Spuren des Unfalls zu beseitigen, indem sie Unterstützung von einflußreichen Freunden einfordern. Dennoch gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen Die Frau ohne Kopf und Wolfsburg sowie den vielen anderen Filmen, die das gleiche Motiv eines tödlichen Autounfalls verwenden, darunter Juan Antonio Bardems Muerte de un ciclista (Tod eines Radfahrers, 1955), Terry Georges Reservation Road (Ein einziger Augenblick, 2007), Nuri Bilge Ceylans Üç Maymun (Drei Affen, 2008), Matthias

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Glasners Gnade (2012), Călin Peter Netzers Pozitia copilulu (Mutter & Sohn, 2013), Wim Wenders’ Every Thing Will Be Fine (2015) und eine Episode aus dem argentinischen Überraschungserfolg Relatos salvajes (Wild Tales – Jeder dreht mal durch!) von Damián Szifrón aus dem Jahr 2014. Martels Protagonistin – und das Publikum – weiß bis zum Ende nicht mit vollständiger Sicherheit, ob sie einen Menschen getötet hat oder nicht. Im Gegensatz zu Petzolds Film handelt es sich hier also nicht um ein Melodram über Schuld und Sühne, sondern um das Porträt einer Gesellschaft und einer Klasse, die sich der Sünde des Unterlassens schuldig macht und jegliche persönliche Verantwortung leugnet. Obwohl Wolfsburg vordergründig ein Film über das heutige Deutschland ist, enthält er eine wichtige historische Dimension, wie sowohl Marco Abel als auch Jaimey Fisher argumentiert haben (Abel 2013: 71; Fisher 2013: 68). Hinter der glatten Fassade der heutigen Hochburg der deutschen Automobilindustrie verbirgt sich das Gespenst des Nationalsozialismus, denn die Stadt wurde im Dritten Reich gezielt als Standort für die Produktion von Zivil- und Militärfahrzeugen ausgebaut. Die historische Dimension ist für Martels Film von noch größerer Bedeutung. Viele Kritiker/-innen haben Die Frau ohne Kopf als eine Allegorie auf das Argentinien der Diktatur gelesen: Der tote indigene Junge erinnert an die vorsätzlich Verschwundenen. Sein Tod wird verleugnet: Verónicas Familie schaut weg und tut so, als sei nichts geschehen (»no pasa nada« ist eine oft wiederholte Phrase im Film). Trotzdem vertuschen sie Beweise, nur für den Fall. Dies zeigt die erschreckende Machtfülle, die die Privilegierten über den Informationsfluss haben. Diese Lesart des Films wird unterstützt durch die vielen Verweise auf die 1970er Jahre, etwa die Kleidung, die Koteletten der Männer und die Musik aus dem Radio – eskapistische Lieder wie »Soleil, Soleil« und »Mammy Blue«, die Martel als »Soundtrack der Diktatur« bezeichnet hat (Taubin 2009: 23). Véronicas Sünde der Unterlassung steht symptomatisch für eine Gesellschaft der Verdrängung und Verleugnung, denn dieses Verhalten hat mit dem Ende der Diktatur nicht einfach aufgehört. Mit anderen Worten: Es wäre zu eng gefasst, Die Frau ohne Kopf als spezifischen Kommentar zum sogenannten »schmutzigen Krieg« zu lesen und zu unterstellen, dass mit dem Ende dieses Krieges alle von der Diktatur hervorgerufenen Verhaltensweisen aufgehört hätten zu existieren. Im Gegensatz zu ihren anderen Filmen hat Martel die politischen Implikationen von Die Frau ohne Kopf sehr deutlich herausgestellt: »Der soziale Mechanismus des Schweigens, der während der Diktatur existierte, ist immer noch lebendig. Er ist immer noch präsent in der Art und Weise, wie Armut geleugnet wird. Allerdings sind die Methoden ausgefeilter und deshalb auch akzeptierter geworden.« Und sie fügt hinzu: »Was mich an der Diktatur am meisten bedrückt, sind nicht die Verbrechen der Mörder – womit ich nicht sagen will, dass diese nicht schrecklich sind –, sondern die Komplizenschaft der Gesellschaft. Mit ihr müssen wir auch heute noch leben, denn sie funktioniert weiterhin auf die gleiche Weise. Der Neoliberalismus

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der 1990er Jahre hätte sich nicht durchsetzen können, wenn die zivilen Strukturen nicht zerstört worden wären … Die Diktatur trägt in den 1990er Jahren Früchte.« (D’Epósito 2008: 41). Dieses Beharren auf der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit entspricht eindeutig Petzolds Ansichten zur Politik, wie sie insbesondere in Die innere Sicherheit (2000), Barbara (2012) und Phoenix (2014) zum Ausdruck kommen. Neben Lucrecia Martel hat vor allem Lisandro Alonso Aufmerksamkeit erregt. Er hat an der Universidad del Cine in Buenos Aires studiert und seine Herangehensweise an das Filmemachen ist in vielerlei Hinsicht noch kompromissloser. Seine sogenannte Geister-Trilogie (man beachte die Parallele zu Petzolds GespensterTrilogie), bestehend aus La Libertad (Freedom, 2001), Los Muertos (The Dead, 2004) und Fantasma (2006), ist eines der radikalsten und umstrittensten Beispiele für ein Kino der langen Kameraeinstellungen. La Libertad zeigt in langen, ruhigen Einstellungen den Arbeitstag eines Holzfällers: die sorgfältige Auswahl der Stämme, den mühsamen Transport und den Verkauf an den örtlichen Zwischenhändler. Anschließend gibt er den geringen Erlös für Brennmaterial, Essen und Zigaretten aus, bevor er sich an seinem Lagerfeuer niederlässt. Los Muertos folgt der Entlassung eines Mannes aus dem Gefängnis und seiner Heimreise zu einer abgelegenen Insel im Flussdelta des Paraná-Flusses. Sein Wiedereintauchen in die Natur besteht aus kurzen, einsilbigen Gesprächen mit den anderen Dorfbewohnern und längeren Szenen, in denen er sein Geschick unter Beweis stellt, sich in der Wildnis zurechtzufinden. In diesen Filmen folgt Alonso den Grundsätzen des Neorealismus, was den Einsatz von Laiendarstellern und -darstellerinnen und das Drehen an Originalschauplätzen angeht, geht aber einen Schritt weiter.6 Nur wenige Regisseure und Regisseurinnen des zeitgenössischen Kinos widmen der Klangwelt und der Polyphonie, dem Kontrapunkt von künstlichen und natürlichen Geräuschen, so viel Aufmerksamkeit. Er bedient sich eines Stils des langsamen Kinos (lange und statische Aufnahmen), wobei er zur Verstärkung des Effekts oft darauf zurückgreift, den Leerlauf der Zeit zu zeigen. Kritiker haben unweigerlich behauptet, dass seine Filme die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentarfilm verwischen, aber eine solche Interpretation tendiert dazu, zu übersehen, welche Anstrengungen er aufwendet, um die Objekte seiner Filme, einschließlich der Figuren, möglichst natürlich und ungekünstelt erscheinen zu lassen. In seinem jüngsten Film Jauja (2014) hat sich Alonso dem Genre- und Erzählkino zugewandt, bleibt dabei aber »dem für ihn typischen Thema der einsamen Männer auf der Reise« (Quandt 2008, S. 331) treu.7 Das Drehbuch hat Alonso gemeinsam mit dem Dichter und Schriftsteller Fabián Casas verfasst, die Kamera übernahm

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Zu den neorealistischen Grundsätzen bei Alonso siehe Gundermann (o.J.). Interessanterweise verwendet der Kritiker James Quandt schon 2008 den Titel »Ride Lonesome« für seine Rezension von Alonsos Liverpool (2008), also zu einer Zeit lange bevor Alonso seinen Protagonisten in Jauja auf ein Pferd setzte.

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der finnische Kameramann Timo Salminen (bekannt für seine Arbeit mit Aki Kaurismäki), und der Weltstar Viggo Mortensen spielt die Hauptrolle. Es handelt sich dabei um einen Abenteuerfilm in der Kolonialzeit des 19. Jahrhunderts, der zur Zeit der sogenannten Conquista del Desierto spielt, der Eroberung der Wüste Patagoniens in den späten 1870er Jahren.8 Als Quasi-Western wurde der Film mit John Fords The Searchers (Der Schwarze Falke, 1956) verglichen, während seine scharfe Kritik an Rassismus und Kolonialismus an Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness (Herz der Finsternis, 1899) erinnert.9 Die Entscheidung für das Genre legt einen Vergleich mit Thomas Arslans Gold (2013) nahe, einem Western über deutsche Einwanderer, die sich im Zuge des Goldrauschs im späten 19. Jahrhunderts Goldsuchern in British Columbia anschließen, sowie mit Kelly Reichardts Meek’s Cutoff (Auf dem Weg nach Oregon, 2010), einer Geschichte über Siedler, die sich im Jahr 1848 auf dem Oregon Trail (einer Siedlerroute, die über die Rocky Mountains nach Oregon und Kalifornien führte) verirren. Der Protagonist von Jauja ist Gunnar Dinesen (Mortensen), ein dänischer Ingenieur im Dienst der argentinischen Armee, der an die verlassene Küste Patagoniens geschickt wird. Er wird von seiner jugendlichen Tochter Ingeborg begleitet, der einzigen Frau inmitten einer unberechenbaren Soldatenschar, die von Leutnant Pittaluga, einem Grobklotz und Lüstling, kommandiert wird, und der Ingeborg vor den Augen ihres Vaters gierig beäugt. Pittaluga gehört General Julio Argentina Rocas Wüstenkampagne an, deren Ziel die Ausrottung der indigenen Bevölkerung im südlichen und westlichen Zentralargentinien war, und die Pittaluga regelmä-

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Die Rolle des auch in Wirklichkeit mehrsprachigen Mortensen in Jauja kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wie mir Alonso in einem Gespräch während eines Besuchs am Dartmouth College im Januar 2016 erzählte, hat Mortensen den Film koproduziert, indem er fünfzig Prozent der Kosten übernahm, wichtige Vorschläge zum Drehbuch machte, für die Musik verantwortlich zeichnete und ein äußerst eifriger und eloquenter Fürsprecher des Films war (Hanover, New Hampshire, 15.1.2016). Siehe auch das Gespräch von Mortensen und Alonso mit dem Filmkritiker Kent Jones 2015 während des 52. New York Film Festival im Lincoln Center in New York: https://www.youtube.com/watch?v=hBQ9oVoJ21U (letzter Zugriff 25.6.2022). Insbesondere die Figur des Zuluaga, eines Offiziers von fast mythischen Ausmaßen, über den im Film immer wieder gesprochen wird, der aber nie zu sehen ist, hat Vergleiche mit Conrads Kurtz provoziert. Diese ungewöhnliche Figur führt Alonso erstmals in seinem Kurzfilm Sin título (Carta para Serra, 2011) ein, der Teil des Projekts Todas las cartas: Correspondencias filmicas von Jordi Balló war, bei dem ausgewählte Filmemacher und -macherinnen zusammengebracht und gebeten wurden, »filmische Briefe« für den jeweils anderen zu schreiben (in Alonsos Fall war der Adressat der katalanische Filmemacher Albert Serra). Am Ende von Alonsos zweiundzwanzigminütigem Film beschreibt ein langer Brief, der von Fabián Casas gelesen wird, die Heldentaten eines gewissen Diego Zuluaga, »einem Wilden in Militäruniform«.

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ßig als »Kokosnussköpfe« bezeichnet.10 Schon früh im Film brennt Ingeborg mit einem jungen Soldaten durch und Dinesen macht sich auf den Weg in die Wüste, um sie wiederzufinden. Im Gegensatz zu Fords Ethan Edwards ist Dinesen weder von Rassismus getrieben, noch ist der Nordeuropäer für das unwegsame Gelände gerüstet, was ihn schnell zu einer Art Don Quichotte werden lässt, der den Sinn für Zeit, Ort und Identität verliert. Was als Drama an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis beginnt, verwandelt sich langsam in eine träumerische, halluzinatorische Reise zu sich selbst, mit einer dänisch sprechenden Einsiedlerin (die möglicherweise Dinesens lang verschollene Tochter ist), die Dinesen geheimnisvolle Weisheiten auf den Weg gibt, und einer abschließenden Sequenz – möglicherweise einem Traum? –, die das Publikum in ein Schloss im heutigen Dänemark versetzt, wo eine behütete Ingeborg gerade erwacht, um einen sorglosen Waldspaziergang zu unternehmen. Was der Erzählung an Kohärenz und Logik fehlen mag, wird durch den verblüffenden visuellen Stil des Films wettgemacht, angefangen bei dem unerwarteten, an das Stummfilmkino erinnernden Filmformat von 1,33:1, das den Bildern eine malerische Anmutung verleiht. Alonso erklärt, dass »man bei einem Film über eine vergessene Epoche der Geschichte, die am Ende der Welt spielt, erwarten würde, dass natürliches Licht vorherrscht«, aber Kameramann Timo Salminen »entschied sich für eine theatralische und künstliche Form, die eine Welt für sich schafft«, ein starker Kontrast zum visuellen Stil der früheren Filme des Regisseurs (Alzalbert 2014: 34). Richard Porton drückt es so aus: »Der visuelle Stil wirkt so, als ob John Ford in den 1960er Jahren einen LSD-Western gedreht hätte. Dank der sorgfältigen Komposition gelingt es, eine greifbare Traumlandschaft zu schaffen, die den chimärenhaften Charakter von Dinesens vergeblicher Reise wunderbar unterstreicht.« (Porton 2015: 60) (Abb. 14.2) Dieser chimärenhafte Charakter legt auch einen weiteren wichtigen Referenzpunkt nahe, nämlich Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes (1972), ein Film, den Alonso sehr bewundert (West/West 2011: 38). Der Film spielt im Jahr 1560 und ist ein koloniales Abenteuer der anderen Art. Er folgt einer fiktiven spanischen Expedition, die von Peru aus aufbricht, um die mythische Goldstadt El Dorado zu finden. Ein zum Scheitern verurteilter Aufstand unter der Führung von Lope de Aguirre gegen den Anführer Don Pedro de Ursúa, die feindliche Landschaft, die Angriffe von weitgehend unsichtbar bleibenden Amazonasstämmen – all das führt schließlich zur völligen Vernichtung der Expedition, deren einziger Überlebender ein zunehmend manischer und verrückter Aguirre ist. Der Sog des Films rührt von der halluzinatorischen Darstellung der menschlichen Hybris und Tyrannei im Kontrast zu einer Landschaft, die sowohl als enorm schön als auch als völlig gleich-

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Für eine Diskussion der literarischen Darstellungen der Wüstenkampagne siehe Andermann (o.J.).

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gültig dargestellt wird, was alle menschlichen Bestrebungen, sie zu »erobern«, als lächerlich und vergeblich erscheinen lässt.

Abbildung 14.2: ›Jauja‹

Eine direkte Anspielung auf Aguirre ist die Titelkarte zu Beginn von Jauja, die erklärt, dass sich der Name auf das schwer fassbare El Dorado bezieht. In Alonsos Film geht es jedoch nicht um die Jagd nach Gold (auch bei der historischen Wüstenkampagne spielte das keine Rolle). Dieses Motiv bleibt Thomas Arslans Gold (2013) überlassen, einem Western über einen verhängnisvollen Treck deutscher Auswanderer, die während des Goldrausches in Alaska im späten neunzehnten Jahrhundert auf ihr Glück hoffen. Wie Jauja ist Gold von historischen Quellen inspiriert. Zwischen 1830 und 1900 wanderten mehr als fünf Millionen Deutsche in die Vereinigten Staaten aus, um der Armut und Verzweiflung zu entkommen, die in ihrer Heimat herrschten. Der Film folgt sieben von ihnen, die 1898 beschließen, nach Alaska weiterzuziehen, in der Hoffnung, dort Gold zu finden und ihr Glück zu machen. Arslan hat erklärt, dass er neben Tagebüchern und Reiseberichten auch Amateurfotos von hoffnungsvollen Goldgräbern zu Rate gezogen hat, deren Stil Kameramann Patrick Orth zu replizieren versuchte, indem er größtenteils ohne künstliches Licht arbeitete (Peitz 2013).11 Das Ergebnis ist ein düsteres Panorama

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Ein Beispiel für einen solchen Bericht von Reisenden aus dem Jahr 1898 findet sich hier: htt ps://www.joern.de/Klondyke.htm (letzter Zugriff 26.6.2022).

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einer abweisenden Berglandschaft mit labyrinthartigen Wäldern, das letztlich nur eine Überlebende übriglässt, die entschlossene und kämpferische Emily Meyer (Nina Hoss). Arslan wurde bekannt für seine Schilderungen des urbanen Berlin, sodass seine Wahl dieses Genres noch überraschender war als bei Alonso (und weitaus umstrittener, wie ich weiter unten ausführen werde). Obwohl Gold zahlreiche Handlungselemente enthält, die mit dem Western assoziiert werden – ein unzuverlässiger Anführer, finstere Viehdiebe, ein Speichenbruch am Wagen, eine grausige Beinamputation und ein Showdown in einem verlassenen Dorf –, versteht Arslan seinen Film als einen bloßen »Nachhall« klassischer Western (Peitz 2013).12 Arslans Terminologie spiegelt Petzolds Behauptung wider, dass seine Filme auf dem Friedhof des Genres stattfinden (vgl. Fisher 2013: 14). Das Hauptaugenmerk von Gold liegt auf der Darstellung der Mühsal und Monotonie, die die deutschen Einwanderer beim Durchqueren der unwirtlichen kanadischen Wildnis erfahren, statt auf der Handlung. Die Volkszugehörigkeit und die Landschaft erzeugen hier eine doppelte Entfremdung. Wie deplatziert die kleinkarierten, geschwätzigen und biertrinkenden deutschen Städter in der kanadischen Wildnis wirklich sind, kommt vielleicht am besten in der Szene zum Ausdruck, in der Müller in eine Bärenfalle tritt und Rossmann die Absurdität des Unfalls mit den Worten kommentiert: »Das ist ein verfluchtes Pech. In so einem riesigen Land in eine Bärenfalle zu treten.« Bald darauf legt dieser Namensvetter des Protagonisten von Franz Kafkas unvollendetem Roman »Der Verschollene« (auch bekannt unter dem Titel »Amerika« und ebenfalls ein deutscher Einwanderer, der nach New York kommt) seine Kleidung ab und verschwindet im Wald, um den Tod zu umarmen, genauso wie Inez, die Frau von Don Pedro de Ursúa, in Aguirre, die sich vom Dschungel aufnehmen lässt und darin verschwindet. Der starke Einfluss des Dänischen in Jauja unterstreicht ebenfalls die zunehmende Entfremdung – einerseits auf der philosophisch-existenzialistischen Ebene, andererseits trägt er auch zum eigenwilligen Sinn für Humor des Films bei (der Gold fast völlig abgeht). Als ausgebildeter Ingenieur versucht Dinesen, einem irrationalen Terrain Rationalität aufzuzwingen und scheitert dabei. Alonso kommentiert das folgendermaßen: »Er versucht, Dinge zu organisieren, die nicht organisiert werden können.« (Ratner 2015: 30) Seine Uniform und die Lieder, die er anstimmt, während er hoffnungslos auf seinem Pferd durch die Wüste Patagoniens irrt, sind aus der Zeit und dem Ort gefallen – sie stammen aus den DeutschDänischen Kriegen von 1848 und 1864, was seine Figur sowohl lächerlich als auch

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Siehe auch Arslans Interview für die Pressemappe des Films auf der Berlinale 2013, in dem er Gold als »Spätwestern« bezeichnet. Vgl. https://www.hoehnepresse-media.de/medien/go ld/download/PH_Gold.pdf (letzter Zugriff 26.6.2022)

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bedauernswert erscheinen lässt.13 Mit einem Säbel in der Hand jagt er vergeblich einen Eingeborenen nach (gespielt von Misael Saavedra, dem Holzfäller aus Freedom und Fantasma), der ihm gerade sein Gewehr, sein Pferd und seinen Hut gestohlen hat. Mortensens Dinesen könnte nicht weiter von seiner Rolle als heldenhafter Aragon in Peter Jacksons Der Herr der Ringe-Trilogie (2001, 2002, 2003) entfernt sein, die ihn weltberühmt machte.14 Sowohl in Gold als auch in Jauja ist die ehrfurchtgebietende, aber lebensfeindliche Landschaft mehr als nur der Hintergrund, vor dem die Handlung sich abspielt; sie wird zu einer eigenen Figur, die schließlich alle anderen dominiert. Eric Rentschler kommentiert: »Arslans Unterfangen – mit seinen endlosen Panoramen und seiner phantasmagorischen Fieberhaftigkeit, seinen unbevölkerten Landschaften und distanzierten Figuren – ist ein eindrucksvolles Experiment in Sachen Handlungsfreiheit und einer Leere, die so radikal ist, dass sie eine verführerische Unbestimmtheit gewinnt … Die Kargheit von Gold ist … hypnotisierend in ihrer psychedelischen Intensität.« (Rentschler 2013: 100) Eine minimalistische Handlung, eine leere, endlose Landschaft und eine glücklose Expedition stehen auch im Mittelpunkt von Kelly Reichardts Meek’s Cutoff. (Will Fech stellt in seinem Beitrag zu diesem Band ausführlich die zahlreichen Berührungspunkte zwischen der amerikanischen Independent-Filmemacherin und der Berliner Schule dar.) Meek’s Cutoff ist wie Gold und Jauja ein unkonventioneller Western, der die unerwartete Anziehungskraft dieses Genres für Arthouse-Regisseure und -Regisseurinnen unterstreicht und damit ein weiteres Beispiel dafür liefert, wie »das künstlerisch ambitionierte Kino die Idee des Genrekinos in Frage stellt«, wie Galt und Schoonover es ausdrücken (2010: 8). Reichardts Film hat mit seinen deutschen und argentinischen Pendants nicht nur gemeinsam, dass er sich kreativ mit Genrekonventionen auseinandersetzt, sondern auch dass alle drei Filme historische Ereignisse erkunden. Stephen Meek, die titelgebende historische Figur, war Scout und Pelztierjäger, der 1845 auf dem Oregon Trail auf der Suche nach einer Abkürzung eine Planwagenkolonne in der Hochwüste in die Irre führt. Wie Arslan entwickelten Reichardt und Drehbuchautor Jon Raymond die Geschichte der drei Familien, die Meek anheuern, um sie ins Willamette Valley zu bringen, auf der Basis von Tagebüchern. Ein solches Unterfangen kam in der damaligen Zeit einer Auswanderung aus den Vereinigten Staaten gleich, denn Oregon war, genauso wie British Columbia und Alaska, Neuland und nicht kartografiert.

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Wie Mortensen in dem schon angesprochenen Videointerview mit Kent Jones (vgl. Anm. 8) bemerkt: »Ich saß bei der Weltpremiere in Cannes zwischen vielen Dänen. Unsere Reihe hat fast den ganzen Film über gelacht.« Alonso hat erklärt, dass ihn Mortensens minimalistischer Schauspielstil (der sogar in Jacksons Trilogie zu sehen ist) angezogen hat: »Er mag kein Overacting, er ist sehr körperlich.« Zitiert in Nehm 2013: 110.

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Meek’s Cutoff ist wie Jauja und Gold im Wesentlichen die Chronik einer Reise ins Nirgendwo. Der Film begleitet die Gruppe bei der Überquerung eines Flusses an einem unbekannten Punkt des Weges und verlässt sie einige Tage später, hilflos verloren in der Wüste von Oregons Osten und verzweifelt auf der Suche nach Wasser. Die Dialoge sind so spärlich wie das Terrain, das die Auswanderer durchqueren – in den ersten sieben Minuten wird kein einziges Wort gesprochen. Die Kamera zeigt die sich schindenden Figuren oft in Halbtotalen, um ihre Verlorenheit zu betonen. Das wird durch den Ton noch verstärkt, der vor allem aus natürlichen Geräuschen besteht, wie dem Rascheln des Grases, dem Sich-Drehen der Wagenräder und dem Klirren der Blechtassen. Laut Michael Sicinski präsentieren alle drei Filme die Landschaft als »eine gebrochene Landkarte, eine Reihe von weiten, unüberschaubaren Flächen, die weder das Publikum noch die Figuren als Ganzes zu fassen vermögen«.15 In Schlüsselmomenten des Films verstärkt die minimalistische, beunruhigende Filmmusik von Jeff Grace eine Stimmung, die zwischen Angst, Erschöpfung und Hoffnung schwankt. In seinem Blog kommentiert Hochhäusler, dass der Stil des Films »über weite Strecken die Autorität der Recherche ausstrahlt. Die Strapaze der Dreharbeiten schreibt sich als eine Art Wahrheitssiegel ein.«16 Reichardt drehte den Film im Academy-Format von 1,37:1, das in der heutigen, von 16:9 dominierten Medienlandschaft vorsätzlich anachronistisch wirkt und die Orientierungslosigkeit der Siedler in der sie umgebenden Weite der Landschaft vermittelt – Alonso erzeugt mit seinem noch radikaleren Format von 1,33:1 einen ähnlichen Effekt. Reichardt kommentiert, dass sie sich für den fast quadratischen Rahmen entschieden hat, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer/-innen bei den Auswanderern zu halten und zu verbergen, was vor ihnen liegt (Ponsoldt 2011). Was vor ihnen liegen könnte und welcher Weg einzuschlagen sei, ist währenddessen Gegenstand immer intensiverer Debatten zwischen den drei Familienoberhäuptern, die zudem wachsende Zweifel an den Fähigkeiten ihres Führers hegen (eine weitere Ähnlichkeit mit Gold). Bezeichnenderweise sind die Frauen von der Männerwelt ausgeschlossen. Reichardt zeigt sie immer wieder im Vordergrund und außerhalb der Hörweite der Männer, die sich im Hintergrund beraten, während ihre Hauben ihre seitliche Sicht einschränken (was sie mit den Scheuklappen der Ochsen, die die Wagen ziehen, gemeinsam haben) (Abb. 14.3).

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Siehe Blog von Michael Sicinski: http://academichack.net/jauja.htm (letzter Zugriff 11.4.2022). Siehe Blog von Hochhäusler: https://www.revolver-film.com/filmclub-meeks-cutoff/ (letzter Zugriff 11.4.2022)

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Abbildung 14.3: ›Meek’s Cutoff‹

Diese doppelte Ausgrenzung ist der Grund für Verdruß aufseiten von Emily Tetherow (gespielt von Reichardts Stammschauspielerin Michelle Williams), die sich schließlich gegen Meek stellt und ihn mit einer Waffe bedroht. Wie Hoss in Gold, die ebenfalls mit Waffen umzugehen weiß, stellt Williams eine Frau dar, die ihre innere Stärke entdeckt, während die Männer um sie herum in ihrer Führungsrolle versagen. Eine der stärksten Umschreibungen des männerdominierten Westerngenres besteht hier eindeutig darin, dass der Film die wachsende Rolle der Frauen auf den Trails hervorhebt, die mehr Verantwortung übernehmen und nicht mehr alle Entscheidungen ihrer Männer einfach mittragen. Sowohl Emily Meyer aus Gold – wie in vielen Petzold-Filmen ist Hoss’ Figur bestrebt, eine dunkle und enttäuschende Vergangenheit hinter sich zu lassen – als auch Gunnar Dinesens Teenager-Tochter Ingeborg teilen diese Suche nach Unabhängigkeit. Ingeborg erklärt an einer Stelle: »Ich liebe die Wüste und die Art und Weise, wie sie in mich eindringt.« (»Me encanta el desierto, la forma que tiene de entrar en mi.«) und verweist damit darauf, dass die Landschaft ihre erotischen Fantasien weckt, um kurz darauf mit einem Soldaten durchzubrennen. Trotz der vielen Berührungspunkte, einschließlich Stellung dieser Filme im jeweiligen Gesamtwerk ihrer Regisseure, wurden Gold und Jauja von der Kritik sehr unterschiedlich aufgenommen, was viel über das Ansehen der jeweiligen Filmbewegung in ihren Heimatländern aussagt. Alonsos Jauja, der vom Berlinale World Cinema Fund koproduziert wurde, gewann 2014 in Cannes, wo er in der Nebenreihe »Un certain regard« lief, den Preis des Internationalen Verbandes der Filmkritik

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(FIPRESCI) und wurde sowohl in der argentinischen als auch in der internationalen Presse als spannende Neupositionierung des Regisseurs begrüßt.17 Luciano Monteagudo sprach vielen aus der Seele, als er schrieb: »Das Einzigartige an Alonsos fünften Spielfilm Jauja ist, dass ihm darin geglückt ist, sein Labyrinth zu verlassen, er sich dabei aber völlig treu geblieben ist.« (Monteagudo 2014) Sicinski sieht das ähnlich und beschreibt den Film als »logische Erweiterung des geduldigen materialistischen Kinos, das dieser Filmemacher schon immer gemacht hat«.18 Für Quintín, einen langjährigen Unterstützer Alonsos, »zeigt der Film, dass sein filmisches Werk ein viel breiteres Spektrum an Möglichkeiten hat, als viele bisher angenommen haben, und er zwingt einen dazu, sein Werk in seiner Gesamtheit zu betrachten, so wie man es mit dem Werk eines jeden Filmemachers mit großen ästhetischen Ambitionen tun würde« (Quintín 2014).19 Gold, der einzige deutsche Beitrag im Wettbewerb der Berlinale 2013, wurde dagegen nach seiner Premiere regelrecht verrissen.20 Ein besonderer Streitpunkt war Arslans Hinwendung zum Genrefilm. »Aber Berliner Schule und Western, das will nicht richtig passen«, stichelte Daniel Sander im Spiegel (2013). Mit dieser Einschätzung hat Sander allerdings nicht nur Arslans viel gelobten Thriller Im Schatten (2010) übersehen, der sehr wohl ein Genrefilm ist; er (und viele seiner Kollegen und Kolleginnen) hat auch die von der Kritik hochgelobten Filme von Petzold außer Acht gelassen, die allesamt Genrekonventionen auf höchst produktive Weise nutzen. Parallel zu Sander – der das, was er als Hinwendung eines Autorenfilmers zum populären Kino wahrnahm, ablehnte – kam weitere Kritik aus der entgegengesetzten Richtung. Sie drückte sich in einer allgemeinen Feindseligkeit gegenüber den Regisseuren und Regisseurinnen der Berliner Schule aus, die wiederholt von Filmemacherkollegen wie Doris Dörrie, Oskar Roehler und Dietrich Brüggemann geäußert wurde – und zwar wegen ihrer scheinbaren Geringschätzung des populären Kinos. Diese weit verbreitete Kritik hing der Bewegung lange nach, wie Abel (2013) gezeigt hat. Diese Form der Feindseligkeit fehlte im Fall der Rezeption des Neuen Argentinischen Kinos in Buenos Aires völlig – aber warum? Ein einfacher Grund dafür ist, dass das Neue Argentinische Kino trotz seines internationalen Erfolges im eigenen Land außerhalb von Expertenzirkeln weitgehend unbekannt geblieben ist. Während die Filme von Alonso und Martel im Ausland gefeiert wurden, wurden 17

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Wie mir Alonso in einem Gespräch erzählte, wollte Cannes ihn unter Druck setzen, den letzten Teil des Films, der in Dänemark spielt, zu kürzen, aber anders als bei La Libertad, wo er einwilligte, die Schlussszene zu streichen, in der Misael in Gelächter ausbricht, ließen er und Mortensen keine Änderungen zu (Hanover, New Hampshire, 15.1.2016). Siehe Sicinskis Blog: http://academichack.net/jauja.htm (letzter Zugriff 12.4.2022) An anderer Stelle unterstreicht Quintín, dass Alonso »der einzige Cineast seiner Generation ist, der wirklich bedeutsam ist« (Quintín 2009: 140). Siehe zum Beispiel die folgenden Beiträge: Brüggemann 2013; Sander 2013; und Young 2013.

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sie in Buenos Aires von der breiten Öffentlichkeit weitgehend ignoriert: Alonsos La Libertad zum Beispiel lief nur eine Woche lang in einem Kino, bevor er aus dem Programm verschwand (bis vor kurzem war der Film nicht einmal auf DVD erhältlich).21 Die Filme der Berliner Schule ziehen zwar auch in Deutschland nur wenige Zuschauer/-innen in die Kinos, allerdings werden sie aufgrund der Tatsache, dass sie ausnahmslos von den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten koproduziert wurden, im Fernsehen ausgestrahlt und erreichen dadurch ein breiteres Publikum. Der Begriff »Berliner Schule« selbst ist in Deutschland weit verbreitet, wenn auch nicht ausschließlich positiv besetzt. Darüber hinaus gibt es in Argentinien die verschiedenen Formen der staatlichen und öffentlichen Förderung kaum, die seit Jahrzehnten ein wesentlicher Bestandteil des deutschen Nationalkinos sind, – wobei das bereits erwähnte INCAA eine wichtige Ausnahme darstellt. Der kleinliche Neid auf öffentliche Förderungen – der eigentliche Antrieb etwa für Oskar Roehlers Angriffe auf die Berliner Schule – ist in Argentinien kein Thema (Suchsland 2005: 6). Während La Libertad als Low-Budget-Film von Alonsos Familie finanziert wurde – die Weigerung des Regisseurs, Drehbücher zu schreiben, macht ihn für die meisten INCAA-Förderungen ungeeignet –, wurde Martels Erstlingswerk La ciénaga (The Swamp) von internationalen Quellen finanziert, unter anderem vom Sundance Institute. Infolgedessen spielt das Neue Argentinische Kino in den innerargentinischen Debatten über den nationalen Film keine Rolle, obwohl es innerhalb des internationalen Kunstkinos fest etabliert und anerkannt ist. Die Karrieren von Pablo Trapero und Daniel Burman, ursprünglich zwei der wichtigsten Regisseure der Bewegung, veranschaulichen dieses Szenario sehr gut: In dem Maße, in dem sie sich stärker einem populären Kino zuwandten – in der Form von Liebesfilmen und Komödien – verschwanden sie aus dem Festivalbetrieb. Dieses Entweder-oder-Szenario ist in Deutschland nicht so ausgeprägt, wo die Grenzen zwischen Populärem und Künstlerischem fließender sind; vielleicht ist dies sogar eine falsche Dichotomie, wie Rentschler bezüglich der Angriffe auf Gold argumentiert hat, die er als »eine unaufrichtige und widersinnige Überreaktion« (2013, 100) bezeichnet. Die Hinwendung zum Genre als Form der Annäherung an das Populäre ist ein weiterer Berührungspunkt zwischen der Berliner Schule und dem Neuen Argentinischen Kino. Neben Arslan und Alonso ist auch Martel diesen Weg gegangen, ihr neuester Film Zama (2017) ist eine Adaption des gleichnamigen Romans von Antonio di Bendetto, der im späten 18. Jahrhundert spielt. Das digital gedrehte

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Wie Alonso erklärte: »Ich habe mich außerhalb Argentiniens immer mehr respektiert gefühlt als innerhalb des Landes. Los Muertos lief in Argentinien vor 3.500 Zuschauern in der ersten Woche, was nichts ist, aber es macht mich glücklich, denn bei La Libertad waren es nur 2.500. Der Film wurde nur in einem Kino gezeigt, aber jetzt in Frankreich läuft er in fünfzehn verschiedenen Kinos in der ersten Woche.« (Klinger 2005)

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Historiendrama ist Martels bisher größte Produktion und der erste ihrer Filme, der auf einer schon existierenden Quelle basiert. Auch Petzold hat sich mit Barbara und Phoenix von der ausschließlichen Verortung im Hier und Jetzt verabschiedet und setzt dies mit Transit – nach einem Roman von Anna Seghers aus dem Jahr 1944 – fort. Hochhäuslers Thriller Die Lügen der Sieger (2014), Benjamin Heisenbergs Komödie Über-Ich und Du (2014) und Jessica Hausners Amour Fou (2015), ein Kostümdrama über den Selbstmord Heinrich von Kleists im Jahr 1811 (ein angesichts des Themas überraschend komischer Film) sind allesamt Zeichen dafür, dass beide Bewegungen sich in eine neue Richtung entwickeln. Auch wenn ich mich an dieser Stelle nicht damit befassen möchte, ob »die Schule jetzt aus ist«, wie es Hochhäusler ausdrückt (2013: 28), oder über mögliche zukünftige Entwicklungen spekulieren will, sind die Parallelen in Bezug auf die neuen Wege, die diese Autorenfilmer/-innen eingeschlagen haben, offensichtlich. Es wird interessant sein zu sehen, welche Wellen auf diese Neuen Wellen folgen werden. Ich möchte Julio Ariza und Silvia Spitta für ihre Kommentare zu früheren Versionen dieses Aufsatzes danken.

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15 Auf dem Weg zu einer Ästhetik der Weltlosigkeit Béla Tarr und die Berliner Schule Roland Végső

Laut einer weit verbreiteten These lässt sich die grundlegende soziale Erfahrung der Gegenwart am besten durch das Paradox der Weltlosigkeit beschreiben: Während die Moderne uns durch verschiedene technische Erfindungen scheinbar einander nähergebracht hat, ist die soziale Erfahrung, die diesen neuen Formen der Vernetzung entspricht, tatsächlich die geteilte Erfahrung des Verlustes einer gemeinsamen Welt. Es hat sich herausgestellt, dass das Neue, was uns eigentlich noch enger hätte zusammenbringen sollen, uns am Ende weiter voneinander trennt. Was wir heute also gemeinsam haben, ist, dass wir fast nichts mehr gemeinsam haben. Diese gesellschaftliche Diagnose ist so einflussreich, dass wir ihre Auswirkungen in den unterschiedlichsten Diskursen verfolgen können. Sie ist Teil unserer philosophischen Auseinandersetzungen genauso wie unserer populären politischen Kommentare. Im schlimmsten Fall entzündet diese Art von Erzählung in uns Funken einer antitechnologischen Nostalgie, die davon träumt, zu einer früheren Periode der sozialen Entwicklung zurückzukehren. Im besten Fall zwingt sie uns dazu, die oft skrupellosen Ideologien im Zentrum der gegenwärtigen Technik-Utopien in Frage zu stellen, die uns irdische Unsterblichkeit zu einem Preis versprechen, den wir möglicherweise nicht zu zahlen bereit sind. Angesichts der allgemeinen Verbreitung dieser gesellschaftlichen Diagnose ist es nicht unbedingt einfach, sie auf den Punkt zu bringen und all ihre Variationen zu beschreiben.1 In den neueren Versionen dieses Narrativs wird der zeitgenössische Kapitalismus für diesen weltlosen Zustand der Globalisierung verantwortlich gemacht. Dieser Argumentation folgend ist der Preis, den wir für die vollständige Eroberung des »Weltmarktes« zahlen müssen, der Verlust der gemeinsamen 1

Im Allgemeinen können wir zwei große philosophische Ansätze zum Problem der Weltlosigkeit unterscheiden: den metaphysischen und den politischen. Heideggers Satz in Die Grundbegriffe der Metaphysik, wonach der Stein »weltlos« ist, ist das bekannteste Beispiel für den ersten (Heidegger 2010: 261). Diese Identifikation der Weltlosigkeit mit leblosen Objekten legt nahe, dass die Besonderheit des Menschen darin besteht, dass er weltbildend ist. Hannah Arendts Kritik der modernen Weltlosigkeit in The Human Condition ist das beste Beispiel für die zweite Position (Arendt 1998: 248–320).

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Welterfahrung. Der bekannteste Verweis bleibt in diesem Zusammenhang Marx’ vertraute Beschreibung des Kapitalismus im Kommunistischen Manifest: »Alles Ständische und Stehende verdampft.« (Karl Marx/Friedrich Engels 1974: 465) Laut dieser Analyse verhindert das Wesen des Kapitals an sich das Entstehen jeglicher Stabilität, Dauerhaftigkeit oder Beständigkeit: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können.« (Ebd.). Das Kapital ist per Definition weltlos. Eine zeitgenössische Version dieses Arguments findet sich bei Alain Badiou: »Als Kollateralaspekt hat der kapitalistische Nihilismus das Stadium erreicht, in dem jede Art von Welt nicht mehr existent ist. Es gibt heute keine Welt als solche mehr, nur noch einige einzelne und miteinander unvereinbare Situationen.« (Badiou 2011: 34) Das bedeutet, dass es zwei grundlegende Positionen gibt, wenn wir über den Status der Kunst in dieser gesellschaftlichen Situation sprechen. Die eine Seite argumentiert oft, dass Kunst, insofern man sie außerhalb der kapitalistischen Produktionslogik verortete, ein Bollwerk gegen diesen allgemeinen Ansturm der Weltlosigkeit sein könne. Die andere Seite erklärt, dass nicht einmal die Kunst den gesellschaftlichen Geschicken entkommen könne und dass der Schrecken unserer gegenwärtigen Situation am treffendsten durch die Tatsache ausgedrückt werde, dass die Kunst selbst weltlos geworden sei.2 Dieser Zwiespalt, nämlich einerseits die Kunst als Widerstand gegen die Weltlosigkeit und andererseits als ästhetischer Ausdruck derselben, wirft die Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, eine Ästhetik der Weltlosigkeit zu artikulieren. Schon der Begriff scheint uns mit einem Paradox zu konfrontieren. Eine der Grundfunktionen der Kunst scheint darin zu bestehen, uns andere Welten zu offenbaren. In diesem Sinne kann das Sprechen über die Ästhetik der Weltlosigkeit einem Sprechen in Widersprüchen gleichkommen. In dieser Debatte könnte es also um die eigentliche Grenze des Ästhetischen gehen. In einer Welt, in der unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte die grundlegenden Bedingungen der Welthaftigkeit als Form eines gemeinsamen Bezugssystems bedrohen, würde die Rolle der Kunst folglich darin bestehen, die Bedingungen dieses Verschwindens sichtbar zu machen. Die Grundthese dieses Aufsatzes ist, dass die Filme der Berliner Schule im Kontext dieser gesellschaftlichen Diagnose bezüglich der Paradoxien der moder-

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Die klassische Formulierung der ersten Position (nach der die Kunst wesentlich eine Form der Weltschöpfung oder Weltoffenbarung sei) findet sich in Heideggers Aufsatz »Der Ursprung des Kunstwerkes«. Die zweite Position (nach der die Kunst selbst heute weltlos sei) bildet die Grundlage von Luc Ferrys Kritik der postmodernen Weltlosigkeit in seinem Buch Homo Aestheticus (1993).

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nen Weltlosigkeit interpretiert werden sollten. Es wäre keine Übertreibung zu behaupten, dass so gut wie jeder Film, der von dieser Gruppe von Regisseuren und Regisseurinnen geschaffen wurde, ein Versuch ist, sich mit bestimmten Aspekten dieses Narrativs auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang stechen vor allem die Werke von Béla Tarr als unmittelbarer Bezugspunkt heraus. Der ungarische Regisseur, einer der noch lebenden Klassiker des Weltkinos, setzt sich in seinen Spätwerken wohl am konsequentesten und gelungensten mit der Weltlosigkeit der Gegenwart auseinander. Doch die Berliner Schule und Tarr repräsentieren ganz unterschiedliche Sensibilitäten.3 Tarrs Spätwerke (erschienen nach 1988) überschneiden sich mit dem Aufstieg der Berliner Schule in den 1990er Jahren, sodass man behaupten könnte, dass Tarrs Filme eine aus der vorherigen historischen Epoche herübergeholte, die der Berliner Schule jedoch eine neu aufkeimende filmische Denkweise darstellen. Dennoch kann man die Filme als Reaktionen auf die gleiche historische Realität interpretieren – auf das Ende des Kalten Krieges und den Aufstieg einer neuen kapitalistischen Weltordnung. Mit anderen Worten, diese beiden Formen des Kinos bewohnen die gleichen sozialen Räume, auch wenn sie auf unterschiedlichen sozialen Erfahrungen beruhen. In diesem Zusammenhang stellen Filme wie Szabadgyalog (The Outsider, 1981), Kárhozat (Verdammnis, 1988) und A torinói ló (Das Turiner Pferd, 2011) nützliche Kontrapunkte für die Filme der Berliner Schule wie Angela Schanelecs Marseille (2004) und Thomas Arslans Gold (2013) dar. Tatsächlich erlaubt uns dieser Vergleich, das Grundschema der zeitgenössischen Weltlosigkeit im Film zu entwerfen. Im Folgenden werde ich zunächst mithilfe von Tarrs letzten Film Das Turiner Pferd die politischen und metaphysischen Dimensionen der Weltlosigkeit in seinen Filmen aufdecken. Daraufhin wenden wir uns den ästhetischen Differenzen zwischen Schanelecs Marseille und Arslans Gold zu, die uns aufzeigen werden, dass sich die Berliner Schule nicht auf ein starres einheitliches Programm reduzieren lässt, auch wenn es offensichtlich Gemeinsamkeiten zwischen ihren Vertretern und Vertreterinnen gibt. Während Schanelecs Film eine ganz traditionelle Kritik der Weltlosigkeit präsentiert, weist Arslans Western darauf hin, dass es positive Formen der Weltlosigkeit geben könnte. Meine These im Folgenden ist also, dass Weltlosigkeit entweder erstens als politisches oder zweitens als metaphysisches Problem behandelt werden kann. Sie kann dabei radikal unterschiedliche Bedeutungen erhalten, da sie entweder drittens als radikale Entfremdung des Individuums oder viertens als positive Chance für neue Formen der Selbstverwirklichung gesehen werden kann, die heutzutage eher gefördert als kritisiert werden müssen. Aber es sind die Spannungen zwischen diesen vier Richtungen dieser beiden Achsen – Politik/Metaphysik und Kritik/Affirmation –, die 3

Neben diesem gemeinsamen thematischen Anliegen ist zu erwähnen, dass Tarr seit seinem 1989 DAAD-Stipendium in Berlin regelmäßig als Lehrer an der dffb (Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin) tätig war. Dadurch hatte er direkten Einfluss auf das deutsche Kino.

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den Begriff der Weltlosigkeit im Weltkino heute definieren, und nicht der Konflikt einer dieser Positionen mit den anderen.

Das Ende der Welt Sein letztes Filmprojekt beschrieb Tarr in einem Interview mit diesen Worten: »Ich möchte noch einen Film über das Ende der Welt machen und dann bin ich fertig mit dem Filmemachen.« (zitiert nach Kovács 2013: 145). Was bedeutet es also, dass es in Tarrs letztem Film um das »Ende der Welt« geht? Oder was bedeutet es, dass das Thema des »Weltuntergangs« als das verborgene Paradigma seines gesamten Schaffens behandelt werden könnte? Gewiss haben wir es hier nicht mit der Art von klischeehafter Apokalyptik zu tun, die einen Großteil der zeitgenössischen Katastrophenliteratur und Katastrophenfilme motiviert. Für diese ist die Katastrophe einfach das Mittel zur Rettung, und Rettung bedeutet hier nur die Erhaltung des gegenwärtigen sozialen und politischen Status quo. Wir sprechen auch nicht von der Art theologischer Apokalypse, die das Ende der Schöpfung buchstäblich als unmittelbar bevorstehendes Ereignis erwartet. Jacques Rancières Begriff der »Zeit danach« scheint eine genauere Annäherung an Tarrs Interesse am Ende der Welt zu liefern, indem er sich auf einen verlängerten und möglicherweise sogar ewigen Zustand bezieht, in dem das entscheidende Ereignis einer Geschichte bereits stattgefunden hat: Die Welt ist bereits untergegangen, doch die Existenz ist noch nicht zu Ende. In gewisser Weise stehen Tarrs frühe Filme der Ästhetik der Berliner Schule näher als die späten. Wie die Berliner Filme sind auch Tarrs frühe Arbeiten unmittelbar in die historische Gegenwart, in erkennbare soziale und wirtschaftliche Realitäten eingebettet und können als Dokumente des Zerfalls nach dem Ende der Welt gesehen werden. Die Arithmetik der Weltlosigkeit, die diese Filme vereint (aber auch seine späten Filme beherrscht), kennt drei grundlegende Entitäten: die Vielen (die Gesellschaft, die Gruppe, die Familie usw.), die Zwei (das Paar) und das Eine (das isolierte Individuum). Auf allen drei Ebenen stellen diese Filme jedoch eine beunruhigende Zweideutigkeit fest. Die Gruppe bietet dem Einzelnen angeblich die notwendige Gemeinschaft, aber die erstickende Nähe der anderen wird zur Quelle unerträglicher Konflikte, die unweigerlich zum Zerfall jeder sozialen Formation führen. In dieser Hinsicht ist der ungarische Titel Családi tűzfészek (Family Nest, 1979) sehr aufschlussreich. Der Originaltitel evoziert gleichzeitig das Bild des »Familiennests« (családi fészek) sowie die Katastrophe, die ein Feuer in einem Familiennest auslösen kann (das Wort tűzfészek bezeichnet eine Brandgefahr, den Herd des Brandes). In ähnlicher Weise evoziert das Paar das Gefühl der Liebe als den letzten menschlichen Wert, der in einer unbewohnbaren Welt verbleibt. Doch gerade die unterschiedlichen Formen der Verbindung stellen eine

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große Bedrohung für die Gruppe selbst dar. Das sehen wir in Panelkapcsolat (The Prefab People, 1982). Der Titel verweist auf die Unmöglichkeit des Paares: Er benennt eine vorgefertigte Beziehung (was der Kunstbegriff »Panel-kapcsolat« buchstäblich bedeutet), die als eine echte Beziehung nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das Paar kann daher nicht als dauerhafte Einheit konstituiert werden. Schließlich wird das Individuum, das weder die Gruppe noch das Paar bewohnen kann, in einem Zustand radikaler Isolation allein gelassen, der sinnvolles Handeln undenkbar macht. Während Isolation zunächst wie die notwendige Bedingung eines ermächtigenden Individualismus erscheinen mag, führt sie am Ende zu unerträglicher Einsamkeit. Dies ist die Geschichte von Szabadgyalog (The Outsider). Wieder einmal ist der Originaltitel Szabadgyalog im Wesentlichen zweideutig. Der Begriff »szabadgyalog« (buchstäblich ein »freier Fußsoldat«) ist ein technischer Ausdruck, der dem Schach entlehnt ist. Es bezieht sich auf einen Bauern, dessen Bewegung der gegnerische Bauer nicht entgegenwirkt. Die Mehrdeutigkeit liegt hier in der Dualität zwischen der Freiheit des Bauern, sich vorwärtszubewegen, und der vorbestimmten Richtung dieser Bewegung, die einfach nicht frei ist. Wir können daher in diesen Filmen von einer sozialen Arithmetik der Weltlosigkeit in dem Sinne sprechen, dass weder das Viele (die Vielzahl des Sozialen), noch die Zwei (die Dualität des Paares), noch das Eine (die Individualität) diesen Figuren einen stabilen Halt im Leben bieten kann. Ihre Existenz ist nicht mehr an eine sinnvolle Allgemeinheit gebunden. In dieser Hinsicht bleibt Szabadgyalog der Film, der einigen zentralen Anliegen der Berliner Schule am nächsten kommt. Thematisch lässt sich dieser Film gut mit Schanelecs Marseille sowie Arslans Gold vergleichen, da sie alle Geschichten über »Außenseiter« erzählen. Der Außenseiter ist genau derjenige, der keine gemeinsame Welt mehr bewohnt. András, die Hauptfigur des Films, ist ein junger Mann, der ziellos durchs Leben driftet. In der Eröffnungsszene sehen wir ihn als Krankenpfleger in einer Nervenheilanstalt arbeiten. Doch schon bald verliert er seinen Job, und der Film durchläuft eine scheinbar unmotivierte Abfolge von Lebensereignissen: András bekommt einen anderen Job; sein Sohn (der vielleicht tatsächlich sein Sohn ist oder nicht) wird von einer Frau geboren, mit der er nichts zu tun haben will; sein Bruder taucht plötzlich nach drei Jahren als Gastarbeiter in der DDR auf; er heiratet eine andere Frau namens Kati; einer seiner Saufkumpane stirbt; er wird DJ in einer Disco; sein Bruder und seine Frau haben eine Affäre; er erwägt, nach Budapest zu ziehen, um einen besseren Job zu finden; und schließlich, in der letzten Szene, sehen wir ihn und seine Frau in einem Restaurant, wo sie über ihre mögliche gemeinsame Zukunft diskutieren, da er zum zweijährigen Militärdienst eingezogen worden ist. Die Übergänge zwischen den Sequenzen sind abrupt und scheinbar unbegründet. Die Schnitte sind zunächst verwirrend für die Zuschauer, da wir einige Momente brauchen, um zu verstehen, wie die Geschichte zwischen den verschiedenen Szenen fortgeschritten ist. Es gibt nur zwei Dinge, die dem Leben von András eine gewisse Beständig-

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keit verleihen. Das erste ist sein Alkoholismus. Tatsächlich sind die verschiedenen Kneipen, die im Film vorkommen, die einzigen öffentlichen Räume, die ihm eine Art Gemeinschaft bieten. Das andere ist die Musik: András scheint ein einigermaßen begabter Geiger zu sein, aber er weiß nicht, wie er dieses Hobby zum Beruf machen soll. Auch die Kunst kann den bereits erlittenen Weltverlust nicht wettzumachen.4 Das Thema der Weltlosigkeit erhält jedoch in Tarrs späteren Filmen eine abstraktere existentielle Behandlung. Normalerweise wird Verdammnis als der erste Film des späten Stils zitiert, der auch einen apokalyptischen Ton einführte. Das Ende der Welt hat hier sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Bedeutung. In erster Linie bezieht es sich auf den Ort, an dem den Menschen die Möglichkeit, in einer gemeinsamen Welt zu leben, nicht mehr gegeben ist. Es benennt aber auch die für diesen Ort spezifische Zeitlichkeit. Die Existenz nach dem allgemeinen Zerfall der Welt hat bereits angefangen. Zum Beispiel beschrieb László Krasznahorkai (der Schriftsteller, dessen Werke die meisten von Tarrs Filmen nach Verdammnis inspirierten) die Weltanschauung, die er mit Tarr teilte, in Bezug auf die Negation der Welt selbst: Wir wollten eine allgemeinmenschliche existenzielle Notlage aus einem Blickwinkel darstellen, der jedoch nur von diesem spezifischen Ort aus verfügbar ist. … Wir haben die Welt nicht als etwas dargestellt, zu dem man bloß kategorisch Nein sagen kann, weil man nicht sieht, dass das Leben auch eine schöne Seite hat, dass es Freuden gibt und der Mensch hin und wieder glücklich sein kann. … Der Grund für dieses kategorische Nein zur Welt war kein Menschenhass. Wer so etwas in diesem Film sieht, liegt völlig falsch. (Kovacs 1988: 17) Aus diesen Worten lassen sich zwei wichtige Punkte ableiten. Der erste betrifft die erkennbar ungarischen oder osteuropäischen Schauplätze von Tarrs Filmen. Wie Krasznahorkai andeutet, ist Osteuropa hier streng genommen kein geopolitischer, sondern ein ontologischer Ort – eine Seinsweise, die gleichzeitig radikal an einen bestimmten Ort gebunden ist und über die geografischen Grenzen des im gewöhnlichen Sinne Osteuropa genannten hinaus verallgemeinert werden kann.5 Das heißt, Osteuropa in diesem existentiellen Sinn funktioniert so etwas wie ein »konkretes Allgemeine«: eine empirische Tatsache, die als Manifestation einer universellen Zwangslage fungiert. Aber Krasznahorkai gibt diesem konkreten Allgemeinen auch eine spezifische Bedeutung, wenn er es mit einem »kategorischen

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Dieses Hobby verbindet ihn mit Schanelecs Figur Sophie in Marseille. Beide haben ein Verhältnis zur Kunst (Musik und Fotografie) als persönliches Hobby. Zur inhärenten Weltlosigkeit von Hobbys siehe Arendts The Human Condition (1998: 117–18). Zur Diskussion über Osteuropa als ontologischen Ort vgl. meinen Essay »The Politics of Mood« (2008).

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Nein zur Welt« identifiziert. Das ist also der zweite wichtige Punkt: Osteuropa zeigt sich hier als eine mögliche ontische Metapher für die allgemeine Ontologie der Weltlosigkeit. Krasznahorkai achtet aber besonders darauf, diese Weltlosigkeit von vereinfachenden Formen des moralischen Nihilismus zu distanzieren. Wie er später im selben Interview betont, geht es dem Film darum, eine Veränderung beim Publikum herbeizuführen. Sie betrifft aber nicht die Tatsache der Weltlosigkeit selbst, sondern nur unsere Interpretationen dieser ontologischen Tatsache. Von der Existenz einer Welt in Verdammnis können wir daher nur in einem begrenzten Sinne sprechen. András Bálint Kovács beschrieb diese Erfahrung wie folgt: »Die Welt ist in diesem Film ziemlich statisch; die Bewegungen sind repetitiv, kreisförmig und haben keine Richtung. Die Kamera bewegt sich in dieser Welt der Gegenstände und fast eingefrorenen Menschen in seltsamen Haltungen, und enthüllt sie alle nach der Reihe, als irrte sie ziellos in einer toten Landschaft.« (Kovács 2013: 59) Streng genommen erleben die Charaktere in diesen späteren Filmen keine »Welt« (eine sinnvolle Allgemeinheit als Raum des menschlichen Handelns). Sie haben keine Welt, sondern nur Umgebungen – unmittelbare Umgebungen, die aus mehr oder weniger vertrauten Objekten, Landschaften, Tieren und Menschen bestehen. Dieses Terrain bietet ihnen nur ein sehr begrenztes Aktionsfeld. Die Bestandteile dieser »Umwelt« sind lose verbundene, kontingente Fragmente der Existenz, die in ihrer nicht reduzierbaren Besonderheit grundsätzlich als Fallen fungieren, in denen die menschliche Existenz gefangen und nur für einen flüchtigen Moment, der ein ganzes Leben dauert, festgehalten wird. Tarrs Figuren bewegen sich in dieser Umgebung, als würden sie sie nur zaghaft erkunden. Sobald sich etwas als reell und ungefährlich erwiesen hat, bewohnen sie diesen eingeschränkten Bereich mit der Stumpfheit eines übersättigten Tieres. Tarrs letzter Film, Das Turiner Pferd, handelt daher vom Ende der Welt in dem Sinne, dass er die absolute Entleerung des Repräsentationsfeldes inszeniert. Die Geschichte erzählt die letzten sechs Tage eines Vater-Tochter-Paares, das ein eintöniges Leben an einem ansonsten nicht näher bezeichneten ländlichen Ort führt. Ihr Haus liegt in einem Tal, das den absoluten Horizont ihrer Existenz darstellt. Die Geschichte legt nahe, dass jenseits der Hügel dieses Tals die ganze Welt bereits verschwunden ist oder sich im langsamen Prozess der vollständigen Auflösung befindet. Am Ende des fünften Tages legt sich eine unerklärliche Dunkelheit über die Reste der Welt. Am sechsten Tag existieren der Vater und die Tochter in dieser fast absoluten Stille und Dunkelheit. In der letzten Szene des Films sehen wir sie vor schwarzem Hintergrund am Tisch sitzen und versuchen, ihren normalen Tagesablauf mit dem Essen von Salzkartoffeln durchzustehen, aber die Tochter befindet sich jetzt in einem Zustand katatonischer Lustlosigkeit. Langsam hört auch der Vater auf, sie zu beschäftigen, und beide sitzen und starren vor sich hin, bevor die Szene ausgeblendet wird (Abb. 15.1).

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Abbildung 15.1: ›Das Turiner Pferd‹. Das letzte Bild aus Tarrs ›Das Turiner Pferd‹ bevor komplette Dunkelheit die ganze Welt aufschluckt.

Die Ästhetik des Films zwingt uns daher, uns einem seltsamen Paradoxon zu stellen. In dieser letzten Szene zwingt das Kino (die Kunst des Lichts) sein Publikum, auf eine stockdunkle Leinwand zu starren. Sämtliche ästhetischen Komponenten des Films lassen sich als solche fassen, die vor unseren Augen verschwinden: Die Geschichte wird vom Konflikt zwischen der kreisförmigen Wiederholung des gleichen geistlosen Tagesablaufs und der linearen Erzählung des Verschwindens dominiert; anders als in einigen früheren Tarr-Filmen ist der Dialog auf fast nichts reduziert; die Charaktere sind nicht zu durchdringen, da sie uns lediglich durch ihre sich wiederholenden Handlungen von außen präsentiert werden; und die Umgebung wird buchstäblich von der Dunkelheit verschluckt. Was am Ende bleibt (obwohl wir nicht genau wissen, wie lange), ist nur irgendein extradiegetischer Klang: die Stimme des Erzählers und die eindringliche Musik, die viele Szenen dominiert.

Sophies Welt(losigkeit) Eine der besten filmischen Metaphern des zeitgenössischen Paradoxons der Weltlosigkeit findet sich in Angela Schanelecs Orly (2010). Wie der Titel schon andeutet, fungiert der Flughafen (jeder Flughafen im Allgemeinen) hier als der symbolische Ort schlechthin, der uns vermeintlich miteinander verbindet, indem er Kanäle für die globale Zirkulation menschlicher Körper erstellt, aber auch einen einzigartig anonymen Raum produziert. Wir gehen zum Flughafen, um mit anderen Orten verbunden zu werden. Aber während wir am Flughafen sind, ist unsere künstlich erzwungene und oft unerträgliche Nähe zueinander eigentlich die Bedingung einer radikalen Isolation.

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Doch diese abstrakte Reflexion über die Funktion von Flughäfen spiegelt Schanelecs Intention nicht vollständig wider. In ihrem Film gehört nämlich die empirische Besonderheit des Südterminals des Pariser Flughafens wesentlich zur ästhetischen Erfahrung. Die Schönheit des Raumes wird zum Anlass für die ästhetische Betrachtung der Weltlosigkeit. Fast der gesamte Film spielt am Flughafen. Wir verfolgen die voneinander grundsätzlich unabhängigen Geschichten von vier Paaren: Eine junge Frau hat gerade mit ihrem älteren Liebhaber Schluss gemacht und ist im Begriff, Paris zu verlassen; ein Mann und eine Frau, zwei französische Emigranten, sitzen zufällig nebeneinander und beginnen zu plaudern – vielleicht sogar zu flirten; eine Mutter und ein Sohn sind auf dem Weg zur Beerdigung des Vaters des Jungen; und schließlich sehen wir ein junges deutsches Paar auf Urlaubsreise, das bereits völlig voneinander entfremdet zu sein scheint. Inmitten dieser Geschichten gibt es nur eine andere Figur, auf die wir immer wieder zurückkommen, die nicht Teil eines Paares zu sein scheint: eine junge Flughafenangestellte, die an einem Ticketschalter arbeitet.6 Die Geschichten berühren sich nur einmal, als der deutsche Mann des entfremdeten Paares die junge Frau aus der Eröffnungsszene zu verfolgen beginnt. Sie werden sich für einen flüchtigen Moment der Existenz des anderen bewusst, das führt aber nirgendwo hin. In einem Interview definierte Schanelec das Flughafenerlebnis so: »Am Flughafen weiß man, dass man irgendwann abfliegen wird und sich bis zum Moment des Abflugs eigentlich um nichts mehr kümmern muss. Und dadurch entsteht eine bestimmte Passivität. […] Die Menschen auf Flughäfen sind ja total anspruchslos und passiv (lacht). Anspruchslos und passiv! Zwei ganz negative Begriffe für alles, was Dramatik hervorrufen soll.« (Boehm/Lucius 2010) In Orly wird der Flughafen zu einem Raum der Suspension, der die Grenzen zwischen Geschwindigkeit und Stille, Aktivität und Passivität, Öffentlichkeit und Privatheit verwischt. Dieser Moment der Suspendierung hat seine eigene Zeitlichkeit, die nicht ganz dieselbe »Zeit danach« ist, die Tarrs Filme charakterisiert, vielmehr eine »Zeit davor«, die etwas über die conditio humana verrät. Die Suspendierung alltäglicher Aktivitäten in dieser anspruchslosen Passivität wird zum Anlass für eine Reihe möglicher Offenbarungen. Die Gewissheit des Abflugs vorwegnehmend, können wir für kurze Zeit aus der Alltagswelt heraustreten, um über unseren Platz in ihr mit neuer Intensität zu reflektieren. Man könnte sogar sagen, dass diese Suspension die eigentliche Bedingung für eine ästhetische Distanzierung von der Welt ist.

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Mit anderen Worten, hier ist dieselbe Arithmetik der Weltlosigkeit am Werk, die wir in Tarrs Werken identifiziert haben: Das Viele entspricht den Menschenmassen, die durch einen Flughafen passieren; die einzelnen Geschichten zeigen unterschiedliche Herangehensweisen an die Probleme der Beziehung zwischen zwei Menschen; und die Figur der einsamen Flughafenangestellten wird als (wiederkehrender) Refrain eingeführt, um uns auf die Isolation des Individuums aufmerksam zu machen.

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Was aber dieser neue Raum offenbart, ist keine tiefen Erkenntnisse über die Figuren, sondern eine Leere. In einem anderen Interview definiert Schanelec den eigentlichen Aufbau des Films im Hinblick auf die Entleerung aller Dinge: »[A]lles geht hin zur Leere. Dass es da dann nur noch die Worte gibt und das leere Bild, das finde ich schon ziemlich ideal. Der ganze Film ist von der ersten Einstellung hin zum Ende der Weg zu dem, was ich eigentlich wollte. […] Und am Ende gibt es nur noch den Off-Text und alle Menschen sind weg.« (Knörer 2010) Wir können also die Weltlosigkeit des Films mit den Begriffen Suspendierung, Passivität und Entleerung definieren. Diese Kategorien sind Begriffe zur Beschreibung einer bestimmten Reihe sozialer Erfahrungen und gleichzeitig Fachbegriffe, die die Ästhetik des Films definieren sollen. Denn was die oben angeführten Zitate zeigen, ist eine Parallelität zwischen dem Sozialen und dem Ästhetischen. Die tatsächliche Evakuierung des Flughafens am Ende des Films aufgrund eines nicht näher bezeichneten Notfalls spiegelt sich in der fortschreitenden Eliminierung filmischer Inhalte auf der Leinwand wider. Die Reise, der wir hier folgen, führt uns genau zu dieser Leere (die Schanelec oben als das bezeichnete, was sie eigentlich zeigen wollte). Während sich Orly auf die gemeinschaftliche Erfahrung der Weltlosigkeit konzentrierte, präsentiert uns Schanelecs Marseille (2004) das klassische Szenario der fortschreitenden Vereinzelung des Individuums. In den drei Teilen der Erzählung folgen wir einer jungen Deutschen, Sophie (Maren Eggert), die sich aus einer Laune heraus für einen zehntägigen Urlaub in Marseille entscheidet, als sie auf ein Wohnungstauschangebot antwortet. Der erste Teil des Films erzählt Sophies recht banale Erfahrungen in Marseille, wo sie die meiste Zeit damit verbringt, die Stadt zu fotografieren. Der zweite Teil zeigt Sophies Leben wieder in Berlin. Diese Sequenzen verschieben den Fokus von Sophie auf die Familie ihrer Freundin Hannah, die verheiratet ist und einen Sohn hat. Dieser Teil endet mit Sophies Entscheidung, nach Marseille zurückzukehren. Der kurze Schlussteil enthüllt die Nachwirkungen des Verbrechens, dem Sophie unmittelbar nach ihrer Rückkehr in die Stadt zum Opfer fällt. Diese glatte Handlungsbeschreibung wird jedoch der eigentlichen Komposition des Films nicht gerecht, die sich meist durch unerwartete Schnitte und plötzliche Sprünge auszeichnet. Was ist die Logik dieser Komposition? Zu Beginn des Films unterhält sich Sophie in einer Bar mit Pierre, dem Automechaniker, der ihr sein Auto vermietet hat, mit dem sie Marseille erkundete. Hier scheint der Film anzudeuten, dass es eine aufkeimende Romanze zwischen den beiden gibt, auch wenn wir nie sehen, dass sich tatsächlich ein Paar bildet. Nachdem Sophie die Autoschlüssel zurückgegeben hat, fragt Pierre: »Und hast du gemacht, was du tun wolltest?« Sophies merkwürdige Antwort, die sie beide zum Lachen bringt, lautet: »Ja. Aber ich wusste es erst, als ich es gemacht hab.« Diese Unterhaltung erläutert zugleich die Erzähllogik des Films und reflektiert die Darstellungstechniken Scha-

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nelecs. Als Pierre kurz nach diesem Gespräch fragt, warum Sophie sich entschieden hat, nach Marseille zu kommen, bleibt Sophies Antwort rätselhaft. Natürlich war da die Tatsache, dass sie noch nie zuvor in Marseille gewesen war. Aber das ist keine gute Erklärung. Es gibt viele andere Orte, die sie noch nicht gesehen hat, so lässt sich die konkrete Wahl von Marseille nicht mit dieser Logik erklären: »Ich hatte frei … Es gab keinen Grund. Ich kann machen, was ich will. Ich hatte frei.« Dieser Dialog mit Pierre reflektiert über die Motivationen für menschliches Handeln. Beide Teile des Gesprächs heben vernünftige Versionen alltäglicher Kausalität auf. Die Frage nach dem »Warum« macht wenig Sinn in dieser Welt, die – so scheint es – von der dummen Fatalität des Zufalls beherrscht wird. Der Grund für eine Handlung kann nicht im Voraus bestimmt werden. Nur die Tat selbst kann ihre eigene Vernünftigkeit offenbaren. Es geht hier um die Logik der rückwirkenden Projektion einer Ursache. Sophies Behauptung, sie habe getan, was sie tun wollte, obwohl sie nicht im Voraus wissen konnte, was sie tun wollte, bis sie es tatsächlich getan hat, legt nahe, dass die Dinge ihre eigenen Rechtfertigungen werden. Die direkte logische Kausalität funktioniert also nicht als der Klebstoff dieser Welt: die Dinge fallen auseinander. Weil sie nicht durch klar erkennbare starke Beziehungen verbunden sind, beginnen sie voneinander weg zu schweben wie Galaxien in einem expandierenden Universum. Aus einer gesellschaftlichen Perspektive ist Sophies Einwand gegen die Welt, dass sie rein theatralisch ist. Diese Kritik wird während eines Streits mit ihrer Freundin Hannah, die eine professionelle Schauspielerin ist, deutlich. Die Debatte wird von Hannah provoziert, die versucht, Sophie zu zwingen, etwas über ihre Beziehung zu Hannahs Familie zuzugeben. Warum bewundert Sophie Hannahs Mann und Sohn? Eine solche Bewunderung, behauptet Hannah, impliziert, dass sie selbst einfach dumm ist, wenn sie mit ihrem Familienleben nicht zufrieden ist. Eine Weile weigert sich Sophie, sich auf Hannas Provokationen einzulassen, aber schließlich wird sie unachtsam und sagt ihre Meinung. Ihr Standpunkt ist wichtig, weil er zunächst kontraintuitiv erscheint. Das Problem der heutigen Welt besteht nicht nur darin, dass die Menschen im Zeitalter der allgemeinen Konsumkultur gezwungen sind, so zu tun, als wären sie glücklich, obwohl ihr Leben in Wirklichkeit voller Leid und Elend ist. Sophies Argument geht darüber hinaus. Sie wirft Hannah vor, dass sie nur vorgibt, unglücklich zu sein, und behauptet, dass Hannah nur eine Rolle spielt, als wäre sie immer noch in einem der Tschechow-Stücke, die sie so sehr bewundert. In dieser Welt ist das Leiden ein Tschechow-Spiel, das wir nachahmen können. Das Problem mit der radikalen Theatralik der Welt ist also nicht, dass sie uns dazu zwingt vorzugeben, glücklich zu sein, wenn wir in Wirklichkeit unglücklich sind, sondern dass sie auch das Leiden selbst verdirbt. Wir können nicht einmal mehr auf authentische Weise leiden, da selbst das Leiden eine Aufführung ist. Wie es Sophie ausdrückt: »Du bist nicht unglücklich. Du spielst das bloß. Du spielst das, weil Du immer was spielen musst.« In einer Welt wie dieser

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sind wir der Möglichkeit beraubt, authentische Erfahrungen zu machen. Dies ist eine Welt, die nur vorgibt, eine Welt zu sein. Bezeichnenderweise scheint diese Konversation der Moment zu sein, als Sophie beschließt, nach Marseille zurückzukehren. Der Augenblick dieser Entscheidung legt nahe, dass Sophie sich an Marseille als den Ort erinnert, wo sie ohne diese Theatralik sie selbst sein konnte. Ihr normales Leben in Deutschland ist nur Täuschung, und um der Last dieser Scheinexistenz zu entkommen, sucht sie die Rückkehr an den Ort ihres authentischen Ich. Aber es gibt keine Rückkehr. Der Film hat die Unmöglichkeit einer solchen Rückkehr bereits demonstriert, als Sophie aus ihrem Urlaub nach Hause kam. In diesem Moment fühlt sich Deutschland für sie anders an. Es ist sicherlich kein Zuhause im wörtlichen Sinne. Was Hannah mit ihrer Welt verbindet, ist ihre Schauspielerei, die Tatsache, dass sie so tun kann, als würde sie in einer Welt leben. Aber alles, was Sophie hat, ist bloß ein Hobby. Die Funktion der Fotografie besteht vielleicht darin, die Welt darzustellen, um Sophie davon zu überzeugen, dass die Welt tatsächlich immer noch existiert (Abb. 15.2).

Abbildung 15.2: ›Marseille‹. Das letzte Bild aus Schanelecs ›Marseille‹ zeigt, wie Sophie, die ein gelbes Kleid trägt, in der Landschaft verschwindet.

Im letzten Abschnitt des Films, nachdem Sophie die Polizeistation in Marseille verlässt, sehen wir zwei separate Sequenzen, bevor der Film endet. Zuerst betritt Sophie völlig mittellos (sogar ihre Kleider wurden ihr von dem Räuber, der sie angegriffen hatte, gestohlen) das deutsche Konsulat. Dieser Akt scheint ein Versuch zu sein, nach Hause zurückzukehren. Doch die genaue Bedeutung dieser kurzen Szene ist schwer zu bestimmen, da wir plötzlich zum eigentlichen Schluss des Films übergehen. Wir sehen Aufnahmen des Strandes in Marseille bei Sonnenuntergang, mit vielen Menschen, die sich im Sand amüsieren. Es wird zunehmend dunkler,

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während lange, fast bewegungslose Aufnahmen einander folgen. Aber erst in der allerletzten Einstellung können wir Sophie erkennen, wie sie am Meeresufer entlang spaziert. Die Panoramaaufnahme des Strandes mit der Stadt im Hintergrund fokussiert auf nichts Konkretes, sodass wir zunächst nur mit Mühe das leuchtend gelbe Kleid erkennen können, das Sophie seit ihrem Verlassen der Polizeistation trägt. Ihre Figur ist recht klein und fügt sich in die Szenerie ein. Sie scheint die Landschaft zu betreten (wie auf einer ihrer Fotografien), ziellos umherirrend: Sie ist Teil der Szenerie und jedoch für immer von ihrer Umgebung isoliert. Die Szene inszeniert eine tragische Auseinandersetzung mit der Gleichgültigkeit alles Bestehenden.

Alles was glänzt Zusammen mit Christian Petzolds Barbara (2012) und Phoenix (2014) sowie Christoph Hochhäuslers Die Lügen der Sieger (2015) wird Thomas Arslans Gold (2013) oft als Zeichen dafür gewertet, dass die Berliner Schule schon vorbei ist, weil sie sich dem Genrefilm und historischen Themen verschrieben hat. Aber obwohl er ein Western ist, der im kanadischen Grenzland, der Frontier, spielt, demonstriert Gold einige der wichtigsten Kennzeichen der Berliner Schule. Sie betreten besonders hervor, wenn wir Gold Marseille gegenüberstellen. Beide Titel benennen ein schwer fassbares Objekt der Begierde (»Gold« als Belohnung für irdische Mühen und »Marseille« als Ort des unmöglichen Glücks), das die Macht hat, die Reise einer weiblichen Protagonistin in die absolute Isolation zu organisieren. In diesem Sinne erzählen beide Filme vom Abschied einer Heldin aus der Welt. Dieser Ausgang nimmt jedoch sehr unterschiedliche Formen an. In Marseille fällt die Heldin mitten in der Gesellschaft durchs Raster und findet sich in radikaler Isolation; in Gold ist es eine Reise in die Wildnis, die die Gelegenheit gibt, über die menschliche Individualität nachzudenken. Darüber hinaus wird dieser allgemeine Erzählrahmen durch eine Reihe ähnlicher Techniken präsentiert, die von lang andauernden Einstellungen und elliptischen Übergängen dominiert werden. Deutlich wird aber auch, dass Schanelecs Film in technischer Hinsicht gewagter ist als Gold: Seine Experimente mit abrupten Schnitten, die das Gefühl der erzählerischen Diskontinuität beim Zuschauer verstärken, verfahren kühner. Obwohl beide Filme einen ähnlichen Rhythmus haben, ist Gold traditioneller in der Kontinuität seiner Präsentation. Was Gold thematisch zu einem mehr oder weniger typischen Film der Berliner Schule macht, ist, dass er von Anfang an eine beharrliche Reflexion über die deutsche Identität bietet. Die Geschichte verfolgt eine Gruppe deutscher Einwanderer in Amerika, die auf eine Anzeige des zwielichtigen Wilhelm Laser geantwortet haben, der eine Goldsuchergruppe organisiert, um sich dem Klondike-Goldrausch anzuschließen. Laser knüpft ihnen ihr Geld und lässt sie im gelegensten Moment

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im Stich. Also beschließen sie, ihre Reise ohne ihn fortzusetzen. Allein in der Wildnis, zerfällt die Gruppe allmählich, bis nur noch das Quasi-Paar des Films übrigbleibt: Emily Meier (Nina Hoss) und der Packer Carl Boehmer (Marko Mandic). Diese Reduktion der ganzen Gruppe auf das Paar ist jedoch nicht der letzte Akt des Films. Es geht gerade darum zu zeigen, dass es ebenso unmöglich ist, das Paar zu erhalten, wie die Gesellschaft. So Gold endet mit Emilys völliger Isolation von der Welt. Von Anfang an macht Gold deutlich, dass wir es mit Figuren zu tun haben, die eine doppelte Verlagerung, und sogar Entortung, erfahren haben. Die Logik dieser doppelten Verlagerung ähnelt Sophies Erfahrungen in Marseille: Zuerst verlässt sie das Zuhause, das sich für sie nicht mehr wie ein Heim anfühlte, dann erlebt sie in ihrem neuen Zuhause die gleiche Isolation und Heimatlosigkeit. Im Verlauf der Geschichte von Gold erfahren wir mehr über die Hintergründe der einzelnen Figuren. Sie alle sind mit ihrem Leben in Amerika unzufrieden. Daher die doppelte Vertreibung: zuerst von Deutschland nach Amerika, dann von Amerika in den kanadischen Westen, einen Ort, den wir in diesem Zusammenhang mit Recht als »mitten im Nirgendwo« bezeichnen können. In gewissem Sinne sind wir wieder bei derselben Arithmetik: Die Nation repräsentiert die Vielen; die romantische Handlung repräsentiert das Paar; und Emilys Isolation am Ende repräsentiert das Individuum. Die Eröffnungsszenen thematisieren direkt die nationale Identität und legen nahe, dass die sieben unerfahrenen Abenteurer zusammenhalten sollten, weil sie Deutsche sind. Als die Gruppe in der ersten Nacht der Reise das Lager aufschlagen will, bietet Gustav Müller, ein aus Hannover stammender New Yorker Journalist, Emily seine Hilfe beim Aufbau ihres Zeltes an und warnt sie: »Wir als Deutsche müssen schließlich in der Fremde zusammenhalten.« Dann zeigt die Kamera Emilys Gesicht, und ihr Gesichtsausdruck ist nicht schwer zu interpretieren: Sie verdreht stumm die Augen mit genervter Gleichgültigkeit. Nachdem das Lager aufgebaut ist, hört die Gruppe Joseph Rossmann (ein Einwanderer, der den Slums von New York City entfliehen möchte) ein Lied auf seinem Banjo spielen: »Fare ye well, favorite homeland of mine/Oh, homeland of mine, farewell!« Aber der Film zeigt schließlich, dass nationale Identität nicht ausreicht, und er entlarvt sie als eine Fiktion gegenüber der Realität menschlicher Begierde und Habgier. Die allmähliche Erosion der Gruppe scheint also darauf hinzudeuten, dass es hier, statt einer Gruppenidentität, nur Individuen gibt, die miteinander durch andere Beziehungen als ihr »Deutschtum« verbunden sind. Der Zerfall dieser Miniaturgesellschaft offenbart jedoch etwas anderes als das bloße Nichts. Als die Gruppe auseinanderfällt, stehen wir nicht vor dem völligen Chaos oder der reinen Leere der Existenz. Der Verlust der Mitreisenden offenbart das Paar. Die Formation dieses Paares, das den ganzen Film über im Entstehen begriffen ist, die aufkeimende Romanze des Packers und des Dienstmädchens, lässt

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zunächst vermuten, dass die Lüge der nationalen Identität durch die Wahrheit der Liebe ersetzt wird. Obwohl das Verlangen nach Gold die Gemeinschaft korrumpierte, lebt immer noch die Hoffnung, dass die Liebe zumindest die minimale »Gesellschaft« der Zwei aufrechterhält. Nachdem Rossmann nackt in der Wildnis verschwunden ist (er scheint den Verstand verloren zu haben und rennt ohne Kleidung in den Wald, um nie wieder gesehen zu werden), haben Emily und Boehmer ihr erstes ernsthaftes Gespräch. Es stellt sich die Frage: Hätten Sie auch ohne mich die Entscheidung getroffen, die Reise fortzusetzen? Beide antworten: »Schon möglich.« Die Unklarheit der Antwort, nicht gerade ein leidenschaftliches Liebesgeständnis, lässt das Schicksal des Paares bereits ahnen. Böhmer fragt, ob Emily ihre Entscheidung bereue, aber ihre Antwort ist vorhersehbar: »Ich habe nichts, für was es sich lohnen würde, zurückzukehren.« Auf dem Weg zu ihrem bevorstehenden Erzählabschluss ist die Geschichte voller Omen, die die Erzählung direkt mit dem Thema der Weltlosigkeit verbinden. Am offensichtlichsten sind die verschiedenen Verweise auf den Handlungsort als das »Ende der Welt«. Gold beginnt mit einer Szene, als der Zug von Emily das Ende der Zugstrecke erreicht. Von hier an muss die Reise in einen »primitiveren« Zustand zurückfallen und zu Pferd weitergehen. In einer der letzten bewohnten Städte, an denen sie halt machen, geht Emily zum lokalen Postamt, um einen Brief zu schicken. Als sie anmerkt, wie teuer die Sendung ist, entgegnet der Postangestellte: »Sie sind hier am Ende der Welt.« Und als sie ihm ihr Reiseziel mitteilt, fügt er hinzu: »Dawson? Glauben Sie wirklich, Sie kommen da an?« Eine weitere Warnung kommt zu einem späteren Zeitpunkt auf der Reise, als die Gruppe das Nachtlager aufschlagen will und plötzlich ein Mann aus dem Nichts auftaucht, ohne ein Wort zu sagen durch das Lager geht und wieder in der Wildnis verschwindet. Der Mann sieht aus und bewegt sich wie ein Zombie, der menschlicher Kommunikation völlig unfähig ist. Es ist, als ob er sich der Welt um ihn herum nicht bewusst wäre. Als er verschwindet, sehen wir den Union Jack auf seinem Rucksack. Diese einsame Gestalt erscheint wie eine Vorahnung dessen, was die Gruppe am Ende der Reise erwartet. Aber auf der Ebene der Repräsentation ist das offensichtlichste Zeichen dafür, dass das Subjekt mit Weltlosigkeit konfrontiert wird, die allmähliche Entleerung des Gesichtsfelds, kurz bevor Emily und Boehmer den letzten bewohnten Außenposten ihrer geplanten Reise, die Stadt Telegraph Creek, erreichen. Diese Entleerung erinnert noch einmal an Das Turiner Pferd und Marseille. Die Reduzierung der Wildnis auf eine öde Wüste entspricht dem Triumph der absoluten Dunkelheit in Das Turiner Pferd und der Evakuierung des Flughafens in Marseille. Im ganzen Film wird die Wildnis hauptsächlich durch Bilder eines endlosen, tiefen, dunklen Waldes dargestellt. Doch kurz bevor sie Telegraph Creek erreichen, muss das Paar eine gefährliche Bergkette überqueren, in der es keinerlei Lebenszeichen gibt. Bezeichnenderweise findet dieser Szenenwechsel unmittelbar nach der Reduktion

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der Gruppe auf das Paar statt, in einem Moment, der mit der eigentlichen Bildung des Paares als Paar (unmittelbar nach ihrer ersten Umarmung) zusammenfällt. Der Hintergrund der Handlung (die sich auf bloße Bewegung reduziert) ist für eine längere Sequenz nichts als karge Felsen – eine tödliche Wüste, in der nichts wächst. Dies ist die auf ihr absolutes Minimum reduzierte Welt als bloße Existenzbühne. Niedergeschlagen und verlassen, sucht das Paar Schutz unter einem riesigen Felsbrocken. Dies ist der Moment der Rettung: Ein indianischer Scout taucht auf und bietet an, sie nach Telegraph Creek zu bringen. In diesem Sinne repräsentiert Telegraph Creek den Moment einer letzten Illusion. Das Paar wird endlich real, und die Liebenden leben für einen vorübergehenden Augenblick so, als hätten sie die Chance, diese Welt auf erfüllende Weise zu bewohnen. Emily sagt zu ihrem neuen Liebhaber: »Du siehst aus wie ein neuer Mensch.« Er antwortet: »Ich fühl mich auch so.« Aber dies ist noch nicht das Ende. Während die Gruppe von der Fiktion nationaler Identität getragen wurde, die schließlich durch die Begegnung mit der Wildnis zerstört wurde, birgt die Reduktion der Gruppe auf das Paar immer noch eine konstitutive Illusion. Liebe ist auch nicht die Antwort. Genauer gesagt wäre das Paar nur möglich, wenn die beiden in einer radikalen Isolation von der Welt leben könnten. Die Liebe funktioniert als Zugangspunkt zu einer Welt erst dann, wenn sie ihre Weltlosigkeit bereits akzeptiert hat. Eine radikale Isolation des Paares ist jedoch nicht möglich, da Böhmers Vergangenheit sie einholt. Wie wir früher erfahren haben, ist Boehmer von Beginn des Films an auf der Flucht, weil er einen Mann in Virginia getötet hat. Die Brüder des Toten haben ihn verfolgt, und im finalen Showdown in Telegraph Creek wird er von ihnen getötet. Aus diesem Grund sollte die letzte Szene von Gold den letzten Bildern von Marseille gegenübergestellt werden. Beide enden mit der gleichen filmischen Geste: Die radikal isolierte Heldin betritt die Panoramaaufnahme einer Landschaft. Aber trotz der visuellen Ähnlichkeiten haben die beiden Schlussszenen ganz unterschiedliche Bedeutungen. Das Ende bedeutete für Sophie ein Verschwinden in der Landschaft. Sie ist jetzt für immer Teil dieser Welt, die in der Aufnahme festgehalten wird, als ein weltloses Individuum. Die tragischen Untertöne dieser Schlussfolgerung sind kaum zu überhören. Aber Emilys Einzug in die Landschaft lässt sich besser als ein triumphaler Ausstieg aus dem Rahmen des Einzelbilds und der Welt beschreiben. Auch wenn Böhmers Tod für sie zweifellos ein tragisches Erlebnis ist, ruft Gold am Ende eine ganz andere Stimmung hervor. Nach dem Tod ihres Geliebten besucht Emily ein letztes Mal sein Grab, bevor sie ihre eigene Reise antritt. Wir sehen, wie sie sich mit einem deutlich sichtbaren Lächeln von seinem Andenken verabschiedet. Ein Mann auf dem Friedhof spricht sie an: »Wohin wollen Sie hin, Lady?« Emily antwortet, ohne sich auch nur umzudrehen: »Dawson.« (Abb. 15.3) Wie ist dieses Ende zu verstehen? Emilys letztes Lächeln und die unerschütterliche Bestätigung des Ziels der Reise legen die Möglichkeit nahe, die Weltlosigkeit

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als eine Art ethischen Sieg zu beanspruchen. »Dawson« als Emilys letzte Antwort an den Unbekannten benennt das Ding, für das bereits alles geopfert wurde. Es ist das mysteriöse Objekt, für das es sich tatsächlich gelohnt hat, die Welt hinter sich zu lassen. Als sie beschließt, die Reise fortzusetzen, obwohl sie weiß, dass sie auf einer Illusion beruhte, möchte sie etwas als wertvoll (als etwas für das es sich zu leben oder zu sterben lohnt) bekräftigen, obwohl es sich bereits als unzureichend erwiesen hat. Die Tragödie des Weltuntergangs wird zum potenziellen Triumph des Individuums über die Welt umgestaltet.

Abbildung 15.3: ›Gold‹. Das letzte Bild aus Arslans ›Gold‹ als Emily Meyer in der Landschaft verschwindet.

Schlussbemerkung Gemeinsam ist den hier besprochenen Filmen also die Tendenz zur Entleerung des Repräsentationsfeldes. Diese Strategie funktioniert sowohl auf der Ebene der repräsentierten Realität (sie alle thematisieren das Problem der Weltlosigkeit) als auch auf der Ebene der Repräsentation (sie setzen auf ästhetische Verfahren, die die Konstituierung einer einheitlichen fiktiven Welt zunehmend problematischer machen). Dabei zeichnet sich Tarrs letzter Film durch seine radikalen Schlussfolgerungen aus. So ließe sich auch sagen, dass er einen Höhepunkt des spätmodernen Experiments mit der Weltlosigkeit darstellt, der aber für die jüngere Generationen von Regisseuren und Regisseurinnen nicht mehr angemessen ist. In seinem letzten Film scheint Tarr zu dem Schluss zu kommen, dass das Kino seine paradoxe historische Mission erfüllt, wenn es seinem Publikum, das in einem dunklen Theater sitzt, eine leere dunkle Leinwand zeigt. Die Leere, aus der das Licht des Kinos hervorgegangen ist, wird wieder als eigentliches Ziel des Kinos erfüllt. Dem muss aber dialektisch hinzugefügt werden, dass die Dunkelheit vor dem Kino und die Dunkelheit, die nach dem Kino einsetzt, nicht dasselbe sind. Und der Unterschied wird der Umweg über die Geschichte des Kinos selbst gewesen sein. Na-

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türlich glaubt Tarr nicht, dass die Dunkelheit, die am Ende von Das Turiner Pferd hereinbricht, tatsächlich das Ende von allem ist. Auch nach dieser ästhetischen Katastrophe gibt es eine »Zeit danach«. Aber es ist Tarr nicht länger möglich, Teil dieser postapokalyptischen Welt zu sein. Wenn also einer der Einsätze von Tarrs Kino darin bestand, die konkrete Allgemeinheit Osteuropas als eine Art »ontologischen Ort« zu artikulieren, könnten wir abschließend fragen, ob es auch in den Filmen der Berliner Schule um etwas Ähnliches geht. Insofern der Signifikant »Berlin« etwas bezeichnet, was diese Filme alle gemeinsam haben, wäre es möglich, »Berlin« als ontologischen Ort zu interpretieren? Dabei kann man freilich nicht mehr auf der geografischen Besonderheit Berlins bestehen: Schließlich geht es weder in Marseille noch in Gold direkt um Berlin. Gleichzeitig könnte man aber erwägen, dass es in diesen Filmen dennoch um »Berlin« geht, aber nicht als eine abstrakte ontische Metapher für eine ontologische Form der Weltlosigkeit. Vielmehr könnte man – folgt man Krasznahorkais Argumentation – nachweisen, dass Berlin den spezifischen (historisch und kulturell konkreten) Standpunkt darstellt, von dem aus erstmals eine existenzielle Katastrophe sichtbar wird. Dieses existenzielle Drama ist also die inhärente Spaltung, die die deutsche Identität im Zeitalter der radikalen Weltlosigkeit von sich selbst trennt. So begriffen repräsentiert Berlin heute eine potenziell universalisierbare Tendenz. Übersetzt von Roland Végső

Literaturverzeichnis Arendt, Hannah (1998): The Human Condition, 2. Auflage, Chicago: University of Chicago Press. Badiou, Alain (2011): Polemics, übersetzt von Steve Corcoran, New York: Verso. Ferry, Luc (1993) Homo Aestheticus: The Invention of Taste in the Democratic Age, übersetzt von Robert de Loaiza, Chicago: University of Chicago Press. Heidegger, Martin (1980): »Die Ursprung des Kunstwerkes«, in: Holzwege, Frankfurt a.M.: Vittorio Klosterman. Heidegger, Martin (2010): Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann. Knörer, Ekkehard (2010): »Am Ende gibt es nur noch den Off-Text«, in: Taz.de 15.2.2010, https://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=be&dig=2010% 2F02%2F15%2Fa0175&cHash=6420826d2c (letzter Zugriff 25.6.2022) Kovács, András Bálint (1988): »Monológok a Kárhozatról«, in: Filmvilág (February), S. 16–19.

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Kovács, András Bálint (2013): The Cinema of Béla Tarr: The Circle Closes, London: Wallflower Press. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1974): Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz Verlag. Rancière, Jacques (2013): Béla Tarr: The Time After, übersetzt von Erik Benarek, Minneapolis: Univocal. Végső, Roland (2008): »The Politics of Mood: Ádám Bodor and Eastern Europe«, in: Hungarian Studies 22 (1–2), S. 181–204. von Boehm, Felix/von Lucius, Julian (2010): »Ich hab’ noch nie etwas gebaut. Angela Schanelec über ihren neuen Film Orly und den Einfluss von Räumen auf ihr Kino«, in: Critic.de 13.2.2010, https://www.critic.de/interview/ich-hab-noch-n ie-etwas-gebaut-3002/ (letzter Zugriff 25.6.2022)

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Mitwirkende

Marco Abel ist Professor für Anglistik und Filmwissenschaft und Leiter des Fachbereichs Englisch an der University of Nebraska-Lincoln. Er ist Autor zahlreicher Aufsätze über das deutsche Kino nach der Wiedervereinigung und von Interviews mit deutschen Filmregisseuren, die in Zeitschriften wie Cineaste, German Studies Review, Quarterly Review of Film and Video, Senses of Cinema, New German Critique und in einer Reihe von Sammelbänden zur deutschen Filmgeschichte veröffentlicht wurden. Er ist Autor von Violent Affect: Literature, Cinema, and Critique after Representation (University of Nebraska Press, 2007) und The Counter-Cinema of the Berlin School (Camden House, 2013), das 2014 mit dem German Studies Association Book Prize ausgezeichnet wurde, sowie Mitherausgeber von Im Angesicht des Fernsehens: Der Filmemacher Dominik Graf (text + kritik, 2010), Celluloid Revolt: German Screen Cultures and the Long Sixties (Camden House, 2018), More in Time: A Tribute to Ted Kooser (University of Nebraska Press, 2021) und Christian Petzold: Interviews (University Press of Mississippi, 2023). Außerdem ist er Mitherausgeber der Buchreihe Provocations, die von der University of Nebraska Press publiziert wird. Mit Jaimey Fisher hat er ein Dossier über Christian Petzold für Senses of Cinema herausgegeben. Derzeit arbeitet er an Mit Nonchalance am Abgrund: Das Kino der ›Neuen Münchner Gruppe‹ (1964–1972), das mit dem transcript Verlag erscheinen wird. Hester Baer ist Professorin für Germanistik an der University of Maryland, wo sie auch Mitglied des Kollegiums bei den Film- und Medienwissenschaften ist. Baers Forschungsschwerpunkte sind Geschlecht und Sexualität in Film und Medien, historische und zeitgenössische Feminismen sowie deutsche Literatur und Kultur im 21. Jahrhundert. Ihre Aufsätze über das deutsche Kino, digitale Medien und Feminismus sind in Discourse, Feminist Media Studies, German Quarterly und German Studies Review erschienen. Sie ist die Autorin von Dismantling the Dream Factory: Gender, German Cinema, and the Postwar Quest for a New Film Language (Berghahn Books, 2009), German Cinema in the Age of Neoliberalism (Amsterdam University Press, 2021) and The Cat Has Nine Lives (Camden House, 2022); Gastherausgeberin

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Die Berliner Schule im globalen Kontext

einer Sonderausgabe der Zeitschrift Studies in 20th and 21st Century Literature mit dem Titel »Contemporary Women’s Writing and the Return of Feminism in Germany (2011); und Mitherausgeberin von German Women’s Writing in the 21st Century (2015). Alice Bardan hat an der University of Southern California, Los Angeles, in Anglistik promoviert und dort ebenfalls ein Visual Studies Graduate Certificate erworben. Sie hat an mehreren Universitäten in Los Angeles zum Thema Dokumentarfilm und Fernsehen, Literaturverfilmung, sowie internationale Film- und Fernsehgeschichte unterrichtet. Sie lehrt derzeit an der Mount St. Mary’s University. Sie hat Beiträge für renommierte Zeitschriften wie Mass Communication and Society, Studies in Eastern European Cinemas, Feminist Media Studies und Wide Screen verfasst, und ihre Artikel wurden in mehreren Sammelbänden veröffentlicht, darunter Work and Cinema: Labor and the Human Condition (Palgrave, 2013), The Cinemas of Italian Migration: European and Transatlantic Narratives (Cambridge Scholars Publishing, 2013), Transnational Feminism in Film and Media (Palgrave, 2007), Not Necessarily the News? News Parody and Political Satire across the Globe (Routledge, 2012), Entertaining the New Europe: Popular Television in Socialist and Post-Socialist Europe (Routledge, 2012), The Blackwell Companion to East European Cinema (Blackwell, 2012), Branding PostCommunist Nations (Routledge, 2012) und in den Fachzeitschriften New Cinemas: Journal of Contemporary Film (2008), Flow (2010) und Popular Communication: The International Journal of Media and Culture (2012). Im Jahr 2012 hatte sie die Gelegenheit, als Mentorin für Studierende des American Pavilion Program bei den Filmfestspielen von Cannes zu arbeiten, und 2014 wurde sie eingeladen, bei der zwölften Ausgabe des Zagreb Film Festivals in der Jury zu sitzen. Roger Cook ist emeritierter Professor für Germanistik und ehemaliger Leiter des Film-Studies-Programms an der Universität von Missouri. Er hat viel über das Neue Deutsche Kino und den zeitgenössischen deutschen Film geschrieben. Er ist Mitherausgeber von The Cinema of Wim Wenders: Image, Narrative, and the Postmodern Condition (Wayne State University Press, 1996) und Berlin School Glossary: An ABC of the New Wave in German Cinema (Intellect, 2013). Er hat ebenfalls über die deutsche Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts geschrieben, mit einem besonderen Schwerpunkt auf Heinrich Heine. Er ist der Autor von By the Rivers of Babylon: Heinrich Heine’s Late Songs and Reflections (Wayne State University Press, 1998) und der Herausgeber von A Companion to the Works of Heinrich Heine (Camden House, 2003). Sein jüngstes Buch, Postcinematic Vision: The Coevolution of Moving-Image Media and the Spectator, erschien 2019 in der »Posthumanities Series« der University of Minnesota Press.

Mitwirkende

Robert Dassanowsky ist Distinguished Professor für Film und Austrian Studies an der University of Colorado, Colorado Springs, und arbeitet als unabhängiger Filmproduzent (über 25 Filme). Er ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, der Akademie des Österreichischen Films und der Europäischen Filmakademie. Außerdem ist er Fellow der Royal Historical Society und war Präsident der Austrian Studies Association. Zu seinen Büchern gehören Austrian Cinema: A History (McFarland, 2005); New Austrian Cinema (Mitherausgeber) (Berghahn, 2011); The Nameable and the Unnameable: Hugo von Hofmannsthal’s Der Schwierige Revisited (Mitherausgeber) (Iudicium, 2011); Quentin Tarantinos Inglourious Basterds: A Manipulation of Metafilm (Herausgeber) (Continuum, 2012); World Film Locations: Vienna (Herausgeber) (Intellect/University of Chicago Press, 2012); und Screening Transcendence: Film under Austrofascism and the Hollywood Hope 1933–1938 (Indiana University Press, 2018). Dassanowsky ist Mitglied der Redaktionen des Journal of Austrian Studies und der Colloquia Germanica sowie in der Jury von VIS: The Vienna Shorts Film Festival. Will Fech hat an der Mel Hoppenheim School of Cinema der Concordia University in Montreal, Quebec, Kanada, mit einer Dissertation zum Arthouse-Kino im Digitalzeitalter promoviert. Seine Buch- und Filmkritiken sind in Film and History, Film International und Synoptique erschienen; zuletzt veröffentlichte er »Ticket Stubs, Social Hub: Capital and Community Programming at the Mary Riepma Ross Media Arts Center« in der Zeitschrift The Projector: A Journal of Film, Media, and Culture. Im Jahr 2014 war er Ko-Kurator einer Retrospektive über die umfangreiche Karriere des amerikanischen unabhängigen Filmemachers Jon Jost im Mary Riepma Ross Media Arts Center in Lincoln, Nebraska. Jaimey Fisher ist Professor für Germanistik und für Film und digitale Medien an der University of California, Davis. Er ist der Autor von German Ways of War: The Affective Geographies and Generic Transformations of German War Films (Rutgers University Press, 2022), Treme (2019), Christian Petzold (University of Illinois Press, 2013) sowie Disciplining Germany: Youth, Reeducation, and Reconstruction after the Second World War (Wayne State University Press, 2007). Er ist Herausgeber des Bandes Generic Histories of German Cinema: Genre and Its Deviations (Camden House, 2013) und ist außerdem Mitherausgeber von Collapse of the Conventional: German Film and Its Politics at the Twenty-First Century mit Brad Prager (2010); mit Barbara Mennel, Spatial Turns: Space, Place, and Mobility in German Literary and Visual Culture (2010); und mit Peter Hohendahl Critical Theory: Aktueller Stand und Zukunftsperspektiven (2001). Gerd Gemünden ist Sherman Fairchild Professor of the Humanities und Professor für Germanistik, Film- und Medienwissenschaft und Vergleichende Literaturwis-

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Die Berliner Schule im globalen Kontext

senschaft in Dartmouth. Zu seinen Spezialgebieten gehören Geschichte und Theorie des deutschen Films, Filme aus Lateinamerika sowie das Thema Exil/Diaspora/ Migration. Er ist der Autor von Framed Visions: Popular Culture, Americanization, and the Contemporary German and Austrian Imagination (1998), A Foreign Affair: Billy Wilder’s American Films (2008), Continental Strangers: German Exile Cinema, 1933–1951 (Columbia University Press, 2014) und Lucrecia Martel (University of Illinois Press, 2019). Zu seinen Bänden als Herausgeber gehören Wim Wenders: Einstellungen (1993); The Cinema of Wim Wenders (1997); Germans and Indians: Fantasies, Encounters, Projections (2002); Dietrich Icon (2007); und Culture in the Anteroom: The Legacies of Siegfried Kracauer (2012); sowie Sonderausgaben der Zeitschrift New German Critique über den Regisseur Rainer Werner Fassbinder und über Film und Exil. Er ist Mitglied des Redaktionsbeirats von New German Critique und Film Criticism und Mitherausgeber (mit Johannes von Moltke) der Reihe Screen Cultures für Camden House. Sein jüngstes Buch ist Toni Erdmann, das in der Reihe »German Film Classics« von Camden House 2021 erschienen ist. Sein neuestes Projekt beschäftigt sich mit zeitgenössischen Horrorfilmen aus Lateinamerika. Lisa Haegele ist Assistenzprofessorin für Deutsch an der Texas State University. Sie promovierte 2014 in Germanistik und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Washington University in Saint Louis. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf dem deutschen Kino der Nachkriegs- und Gegenwartszeit mit einem besonderen Interesse an Gewalt und Politik. Texte von ihr sind in der Sonderausgabe »1968 and West German Cinema« (Hg. Christina Gerhardt) der Zeitschrift The Sixties: A Journal of History, Politics, and Culture (2017) und Berlin School Glossary: An ABC of the New Wave in German Cinema (Intellect, 2013) erschienen. Ihr Artikel über westdeutsche Exploitation-Filme der späten 1960er Jahre ist in Celluloid Revolt: German Screen Cultures in the Long 1968 (hg. von Christina Gerhardt und Marco Abel) erschienen. Zuletzt erschien ihr Artikel zu Roger Fritz’ Mädchen mit Gewalt in German #MeToo: Rape Cultures and Resistance, 1770–2020 (hg. Elisabeth Krimmer und Patricia Simpson). Derzeit arbeitet sie an einer Monografie über Gewaltgenres im westdeutschen Kino der 1960er und 1970er Jahre. Chris Homewood ist Associate Professor für Internationalen Film und Deutsch an der University of Leeds. Er ist Mitherausgeber (mit Paul Cooke) von New Directions in German Cinema (I. B. Tauris, 2011) und hat mehrere Artikel über die filmischen Darstellungen des deutschen Linksterrorismus veröffentlicht. Derzeit bereitet er unter dem Arbeitstitel »Screening Terrorism« eine Monografie zu diesem Thema vor. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen: »From Baader to Prada: Memory and Myth in Uli Edel’s The Baader Meinhof Complex (2008)«, New Directions in German Cinema; »Wind« in Roger Cook, Lutz Koepnick, Kristin Kopp und Brad Prager (Hg.), Berlin School Glossary: An ABC of the New Wave in German Cinema (Intellect,

Mitwirkende

2013); »›Directed by Hollywood, Edited by China‹? Chinese Soft Power, Geo-Imaginaries, and Neo-Orientalism(s) in recent U.S. Blockbusters« in: Robert Saunders and Vlad Strukov (Hg.), Popular Geoplitics: Plotting an Evolving Interdiscipline (2017); und »The Limits of Hollywood as an Instrument of Chinese Public Diplomacy and Soft Power« in: Stephanie Dennison and Rachel Dwyer (Hg.), Cinema and Soft Power: Configuring the National and Transnational in Geo-politics (Edinburgh University Press, 2021). Ira Jaffe ist emeritierter Professor und ehemaliger Leiter des Instituts für Filmkunst (früher Medienkunst) an der University of New Mexico (UNM). Er ist außerdem ehemaliger Ehrenprofessor und stellvertretender Dekan des College of Fine Arts der UNM. Er ist Autor von Slow Movies: Countering the Cinema of Action (Wallflower Press/Columbia University Press, 2014) und Hollywood Hybrids: Mixing Genres in Contemporary Films (Rowman and Littlefield, 2008) und Mitherausgeber von Redirecting the Gaze: Gender, Theory, and Cinema in the Third World (State University of New York Press, 1999). Sein Essay »Errol Morris’s Forms of Control« erschien in Three Documentary Filmmakers (State University of New York Press, 2009). Neben Errol Morris hat Jaffe auch über Robert Altman, Charlie Chaplin und Orson Welles geschrieben. Essays von ihm erschienen in Perspectives on Citizen Kane (G. K. Hall, 1996) und Hollywood as Historian: American Film in Cultural Context (University Press of Kentucky, 1983) sowie in Fachzeitschriften wie ARTSPACE, East-West Film Journal, Film International und Film Quarterly. Jaffe erhielt seinen BA und MFA (in Film, Radio und Fernsehen) von der Columbia University und promovierte (in Kino/Kommunikation) an der University of Southern California. Lutz Koepnick ist Max-Kade-Foundation-Chair für German Studies und Professor für Film und Medienkunst an der Vanderbilt University in Nashville. Koepnick hat zahlreiche Publikationen über Film, Medientheorie, visuelle Kultur, neue Medienästhetik und Geistesgeschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert veröffentlicht. Er ist der Autor von Resonant Matter: Sound, Art, and the Promise of Hospitality (2021); Fitzcarraldo (2019); Michael Bay: World Cinema in the Age of Populism (2018); The Long Take: Art Cinema and the Wondrous(2017); On Slowness: Toward an Aesthetic of the Contemporary (2014); Framing Attention: Windows on Modern German Culture (2007); The Dark Mirror: German Cinema between Hitler and Hollywood (2002); Walter Benjamin and the Aesthetics of Power (1999); und Nothungs Modernität: Wagners Ring und die Poesie der Politik im neunzehnten Jahrhundert (1994). Koepnick ist Mitautor von Windows | Interface (2007), [Grid Matrix] (2006) und Mitherausgeber verschiedener Sammelbände zu den Themen Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst und Theorie, Deutsches Kino, Klangkultur, Ästhetik der neuen Medien, ästhetische Theorie und Fragen des Exils. Zu seinen aktuellen Buchprojekten gehört eine Monografie über die Ästhetik der Interferenz.

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Die Berliner Schule im globalen Kontext

Inga Pollmann ist Associate Professorin am Institut für Germanistik und Slawistik sowie am Institut für Anglistik und Komparatistik an der University of North Carolina in Chapel Hill. Sie promovierte 2011 in Film- und Medienwissenschaften an der University of Chicago. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Geschichte der Filmtheorie an der Schnittstelle zu Naturwissenschaft und Philosophie sowie auf der beziehung des Bewegtbildes zu übergreifenden ästhetischen Fragen. Ihre Monografie Cinematic Vitalism: Film Theory and the Question of Life (Amsterdam University Press, 2018) untersucht die Rolle vitalistischer Vorstellungen vom Leben in Philosophie und Biologie für die Filmtheorie und -praxis von den 1910er bis zu den 1960er Jahren. Ihre Aufsätze sind in Zeitschriften wie Critical Inquiry, Germanic Review und Colloquia Germanica sowie verschiedenen Sammelbänden erschienen. Ihr aktuelles Projekt Mood, Medium, Milieu: Toward an Environmental Film Aesthetic untersucht die Entwicklung einer umweltlichen Ästhetik vom frühen Kino bis zum zeitgenössischen Arthouse-Kino. Im Jahr 2022–23 ist Pollmann Senior Fellow am Cinepoetics Center der Freien Universität Berlin. Brad Prager ist Catherine Paine Middlebush Chair of Humanities an der University of Missouri. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Filmgeschichte und zeitgenössischer deutscher Film, Holocaust Studies sowie die Kunst und Literatur der deutschen Romantik. Er ist der Autor von Studien zu Christian Petzolds Filme Phoenix (Camden House, 2019) und Yella (text + kritik, 2021), After the Fact: The Holocaust in Twenty-First-Century Documentary Film (Bloomsbury, 2015), The Cinema of Werner Herzog: Aesthetic Ecstasy and Truth (Wallflower, 2007) und Aesthetic Vision and German Romanticism: Writing Images (Camden House, 2007). Er ist Mitherausgeber von Visualizing the Holocaust: Documents, Aesthetics, Memory (Camden House, 2008), eines Bandes über das zeitgenössische deutsche Kino mit dem Titel The Collapse of the Conventional: German Cinema and Its Politics at the Turn of the Twenty-First Century (Wayne State University Press, 2010), der Herausgeber von A Companion to Werner Herzog (Wiley-Blackwell, 2012) und, zusammen mit Roger F. Cook, Lutz Koepnick und Kristin Kopp, von Berlin School Glossary: An ABC of the New Wave in German Cinema (Intellect, 2013). Im Jahr 2011 war Professor Prager DAAD-Gastprofessor an der Universität Paderborn, und im Jahr 2022 wurde ihm die Alexander Grass Memorial Fellowship des United States Holocaust Memorial Museums zugesprochen. Michael Sicinski ist Assistenzprofessor an der Fakultät für Anglistik und für Bildende Kunst der Universität Houston. Er hat zahlreiche Publikationen über das experimentelle Kino und über aktuelles Weltkino veröffentlicht. Roland Végső ist Professor für Englisch an der University of Nebraska-Lincoln, wo er literarische und kritische Theorie und Literaturen des 20. Jahrhunderts lehrt.

Mitwirkende

Seine Forschungsschwerpunkte sind zeitgenössische kontinentale Philosophie, Modernismus und Übersetzungstheorie. Er ist der Autor von The Naked Communist: Cold War Modernism and the Politics of Popular Culture (Fordham University Press, 2013) und Worldlessness After Heidegger: Phenomenology, Psychoanalysis, and Deconstruction (University of Edinburgh Press, 2020) und einer Reihe von Essays über moderne Literatur und kritische Theorie, die in Zeitschriften wie Cultural Critique, Epoché: A Journal for the History of Philosophy, CR: The New Centennial Review und Parallax veröffentlicht wurden. Darüber hinaus ist er der Übersetzer zahlreicher philosophischer Essays sowie von Rodolphe Gaschés Georges Bataille: Phenomenology and Phantasmatology (Stanford University Press, 2012) und Peter Szendy’s All Ears: The Aesthetics of Espionage (Fordham University Press, 2017). Er ist Mitherausgeber der Buchreihe Provocations, die von der University of Nebraska Press veröffentlicht wird.

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Personen- und Filmindex

1 12 Years a Slave 285 12:08 Uhr Jenseits von Bukarest – vgl. A fost sau n-a fost? 146, 147 9 9 Leben 63, 65 96 Hours – vgl. Taken 30 A Abel, Marco 7, 10, 12, 14-16, 18, 22, 24, 36, 38, 39, 41-43, 59, 67, 74, 88, 91, 92, 98, 100, 108, 109, 111, 115, 117, 126, 127, 129, 130, 131, 142, 147, 150, 155, 156, 158, 159, 164, 167, 170, 171, 176, 190, 192, 202, 214, 230, 252, 262, 282, 294, 297, 298. 305, 306, 313-315, 321, 332, 339, 354, 355, 359, 368, 393, 396 Ade, Maren – vgl. Alle Anderen; Der Wald vor lauter Bäumen; Toni Erdmann 9, 12, 13, 15, 29, 33, 36, 37, 39, 53, 54, 56, 57, 61-65, 71, 73, 84, 85, 89, 108, 235, 327, 353 Adorno, Theodor 168 A fost sau n-a fost? (12:08 Uhr Jenseits von Bukarest) 146 Aguirre, der Zorn Gottes 47, 362

Albert, Barbara – vgl. Böse Zellen; Fallen; Nordrand 13, 54, 56, 62, 63, 101-103, 106-108, 116 Aldrich, Robert – vgl. The Longest Yard 318 Alonso, Lisandro – vgl. Fantasma; Jauja; La libertad; Los muertos 10, 11, 46, 47, 183, 352-357, 360-369 American Beauty 229 amerikanische Nacht, Die – vgl. La nuit américaine 148 Amour Fou, 112, 116, 170 Andermann, Jens 355, 362 Anger, Kenneth – vgl. Fireworks 181 A nos amours (Auf das, was wir lieben) 158 Antonioni, Michelangelo – vgl. Professione: reporter 11, 40, 141, 145, 146, 155, 189-192, 199, 201, 204-207 Apichatpong Weerasethakul – vgl. A Letter to Uncle Boonmee; Loong Boonmee raleuk, chat; Phantoms of Nabua; Rak ti Khon Kaen; Sang sattawat; Sud pralad; Sud sanaeh 10, 16, 43, 235-257, 267, 272, 278, 353 Arendt, Hannah 47, 373, 378 Arnold, Andrea – vgl. Fish Tank; Red Road 54, 61, 65, 66, 69, 71 

Personen- und Filmindex

Arslan, Thomas – vgl. Dealer; Gold; Helle Nächte; Der schöne Tag; Im Schatten 12, 13, 1518, 33, 39, 47, 48, 60, 100, 112, 146, 148, 155, 157-159, 167, 190, 191, 193, 205, 214, 257, 277, 361, 363-365, 368, 369, 375, 377, 385, 389 Arte 64 Auf dem Weg nach Oregon – vgl. Meek’s Cutoff   361 Augé, Marc 156, 167, 292 Au dos de nos images 331-333, 336, 342 Aura, The – vgl. El aura 352 Avellaneda’s Moon – vgl. Luna de Avellaneda 352 Aydin, Gurkan 181 B Baader Meinhof Komplex, Der 114, 226  Badiou, Alain 47, 374 Bād Mā Rā Chāhad Bord (Der Wind wird uns tragen) 217 BAFICI 352, 353 Bahrani, Ramin – vgl. Chop Shop; Goodbye Solo; Man Push Cart 121, 123, 125, 142, 356 Ballast 121, 125 Barbara 16, 112, 146, 155, 157, 360, 370, 385 Bardem, Juan Antonio – vgl. Muerte de un ciclista 358 Bartleby 305, 311 Basis-Film 62 Baudelaire, Charles 197, 269 Bazin, André 126, 161, 162, 164, 200, 321, 342 Bella Martha 114 Benjamin, Walter 191, 198, 269, 270, 275, 397 Benny’s Video 103

Bergman, Ingmar 40, 319 Bergson, Henri 224, 225 Berlant, Lauren 53, 68 Beruf: Reporter – vgl. Professione: Reporter 40, 189, 190, 191, 195-197, 204, 205 Besson, Luc – vgl. Le Cinquième Élément 30 bewegte Mann, Der 114 Bielinsky, Fabián – vgl. El aura; Nueve Reinas 352 Bingöl, Yavuz 174 Bingül, Bilge 180 Bir Zamanlar Anadolu’da (Once Upon a Time in Anatolia) 173 Bitomsky, Hartmut 12, 13, 18, 190, 214 Blaszczyk, Bartek 129 Blissfully Yours – vgl. Sud sanaeha 43, 235, 236, 239-241, 243 Blue Valentine 37, 77-85, 91, 93  Boden, Anna – vgl. Half Nelson; Sugar 121, 123 Böse Zellen 106, 116 Bombenkönig, Der 314  Bordwell, David 42  Borth, Ninjo 133 Bourdieu, Pierre 292, 293  Boyle, Danny – vgl. Slumdog Millionaire 122 Brakhage, Stan 243  Breaktime – vgl. Zang-e Tafrih 223 Bresson, Robert – vgl. Pickpocket 16, 31, 148, 190, 201, 215 Brody, Richard 127, 128 Brown, Wendy 170, 171, 174  Brüggemann, Dietrich 368 Brühwiler, Hannes 353 Bungalow 16, 43, 44, 167, 180, 181, 193, 221, 226, 230, 236, 273-276, 300 Burman, Daniel 369

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Die Berliner Schule im globalen Kontext

Burmeister, Lennie 167, 221, 274 Bush, George 135, 320 Butler, Alison 61 Butler, Judith 300 C Caché 106 Caetano, Adrián 352, 353 Cahiers du Cinéma (journal) 28, 306, 307 Campanella, Juan José – vgl. Luna de Avellaneda; El hijo de la novia; El secreto de sus ojos 352 Când se lasă seara peste Bucuresti sau metabolism (When Evening Falls on Bucharest or Metabolism) 39, 146 Canguilhem, Georges 41, 192, 193, 206, 208 Carnival of Souls (Tanz der toten Seelen) 167, 175, 358 Carpenter, John – vgl. Halloween 328  Carri, Albertina 352 Casas, Fabián 360, 361 Cemetery of Splendor – vgl. Rak ti Khon Kaen 43, 239, 253, 254 Ceylan, Nuri Bilge – vgl. Bir Zamanlar Anadolu’da; İklimler; Kis Uykusu; Üç Maymun; Uzak 10, 39, 40, 167, 169, 171-176, 179, 182, 183, 185, 358 Chātami, Mohammad 215 Child’s Pose – vgl. Pozitia copilulu 359 Chop Shop 121, 122, 125, 356 Cianfrance, Derek – vgl. Blue Valentine 10, 37, 77, 78, 81, 84, 346 ciénaga, La (La ciénaga – Morast) 357, 369 ciénaga, La – Morast – vgl. La ciénaga 357

Cinquième Élément, Le (Das fünfte Element) 30 Cixous, Hélène 108 Close-Up – vgl. Nema-ye Nazdik 229 Collateral 323 Comoara (Der Schatz) 148 Conrad, Joseph – vgl. Heart of Darkness 252, 361 Coop 99 13 Crash Test Dummies 106 Családi tűzfészek (The Family Nest) 376 D Damasio, Antonio 228 Damnation – vgl. Kárhoza 375 Dardenne Brothers/Dardennes; Au dos de nos images; Falsch; Je pense à vous; La Promesse; Le Fils; Rosetta 45, 46, 68, 328-334, 337-339, 341, 342, 345, 346 Darín, Ricardo 108, 111, 237, 352 Dead, The – vgl. Los muertos 360, 369 Dealer 16 Death of a Cyclist – vgl. Muerte de un ciclista 358 Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin – vgl. dffb 12, 13, 15, 18, 190, 214, 375 de Lauretis, Teresa 67 Deleuze, Gilles 41, 42, 43, 200, 201, 206, 221, 222, 224-228, 230, 342, 355 Denis, Claire 54  Derrida, Jacques 164 Der schöne Tag 146, 155, 157, 158 De Sica, Vittorio – vgl. Lardi di biciclette; Umberto D. 136, 331, 355 Deutschland im Jahre Null – vgl. Germania Anno Zero 331

Personen- und Filmindex

dffb – vgl. Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin 12, 13, 15, 18, 190, 214, 375 Di Bendetto, Antonio 369 Die Praxis der Liebe 103 Dorfdisco 106 Drei Affen – vgl. Üç Maymun 169, 171, 173-176, 178, 179, 181-184, 358 Dreyer, Carl Theodor 40 E Edel, Uli – vgl. Der Baader Meinhof Komplex 114, 226, 396  Ehe der Maria Braun, Die 18 Einsamkeit des Langstreckenläufers, Die – vgl. The Loneliness of the Long Distance Runner 45, 305, 310-312, 318, 322  Ein Mann kämpft allein – vgl. The Jericho Mile 318, 323 einziger Augenblick, Ein – vgl. Reservation Road 358 El amante cine (journal) 353  El aura (The Aura) 352 El secreto de sus ojos (In ihren Augen) 352 El hijo de la novia (Der Sohn der Braut) 352 Erdbeben in Chili, Das 113  Erdem, Reha – vgl. Kaç Para Kaç 172 Erdoğan, Recep Tayyip 171  Eroica 113 Eustache, Jean 16  Every Thing Will Be Fine 359   Export, Valie – vgl. Die Praxis der Liebe 103, 106 F Fachverband der Film- und Musikindustrie (Austria) 115 

Fahrraddiebe – vgl. Lardi di biciclette 136 Fallen 108 Falsch 329 Falscher Bekenner 44, 101, 107, 230, 281, 283, 296, 299, 300, 320 Familienleben – vgl. Family Life 237 Family Nest, The – vgl. Családi tűzfészek 376 Fantasma 360, 365 Farahmund, Azadeh 215 Farocki, Harun 12, 13, 18, 46, 190, 214, 330, 331, 353 Fassbinder, Rainer Werner – vgl. Die Ehe der Maria Braun 18, 22, 236, 327, 396 Fellini, Federico – vgl. La strada 148, 154, 201 Fenster zum Hof, Das – vgl. Rear Window 110, 111 fetten Jahre sind vorbei, Die 226, 295 Fiala, Severin – vgl. Ich seh, ich seh 116 fünfte Element, Das – vgl. Le Cinquième Élément 30 Filmakademie Wien 13, 100 Fils, Le (Der Sohn) 342 Fireworks 181 Fisher, Jaimey 7, 10, 11, 15, 18, 24, 26, 27, 36, 37, 41, 45, 148, 155158, 167, 168, 170, 180, 184, 192, 220, 313, 328, 331, 333335, 338-340, 344, 359, 364, 393, 395 Fishtank 70 Fleck, Ryan – vgl. Half Nelson; Sugar 121, 123, 125  Ford, John – vgl. The Searchers 152, 361, 362 For Ellen 65 Foucault, Michel 41, 192, 206, 207 

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Die Berliner Schule im globalen Kontext

Fox Searchlight Pictures 124 Franz, Veronika – vgl. Ich seh, ich seh 116 Frau ohne Kopf, Die – vgl. La mujer sin cabeza 353, 357-359 Freedom – vgl. La libertad 360, 365 Free Willy 332, 334 Friedel, Christian 113 Friedemann Bach 113 Friedrich Schiller—Der Triumph eines Genies 113 Frozen River 125 Fürmann, Benno 169 G Galt, Rosalind 25, 26, 29, 30, 114, 288, 351, 365 Gebrüder Grimm – vgl.  Das Totenhemdchen 339 Gedeck, Martina 114 Gemünden, Gerd 11, 22-26, 29, 46, 47, 205, 351, 395 George, Terry – vgl. Reservation Road 358 Germania Anno Zero (Deutschland im Jahre Null) 331 Geschmack der Kirsche, Der – vgl. Ta’me gīlās 223, 224, 229, 231 Gespenster 46, 101, 155, 156, 157, 330332, 335, 338, 340, 343, 344, 349, 360 Glasner, Matthias – vgl. Gnade 359 Glück, Wolfgang 100 Gnade 359 Godard, Jean-Luc – vgl. Le Mépris; Masculin Féminin 148, 160, 161, 190, 201, 215, 236, 315 Gören, Şerif 173 Goethe! 112 Gold 16, 33, 47, 112, 205, 361, 363, 364369, 375, 377, 385-390

Goodbye, Dragon Inn – vgl. Bu san 44, 272 Goodbye Solo 121, 125 Grace, Jeff 366 Gräftner, Barbara – vgl. Mein Russland 106 Graf, Dominik 176, 393 Grisebach, Valeska – vgl. Mein Stern; Sehnsucht; Western 12, 13, 15, 16, 22, 24, 33, 36, 54, 56, 60, 61, 63, 71, 72, 100-102, 107-109, 190, 235, 353 Grosbard, Ulu – vgl. Straight Time 318 Gschlacht, Martin 62 Güney, Yilmaz – vgl. Yol 173 H Haas, Wolf 109 Haciendo cine (journal) 353 härteste Meile, Die – vgl. The Longest Yard 318 Half Nelson 121 Halloween 328 Hammer, Lance – vgl. Ballast 10, 121, 123, 125, 142 Haneke, Michael – vgl. Benny’s Video; Die Klavierspielerin; Der siebente Kontinent; Das weiße Band 13, 99, 100-103, 105107 Harather, Paul – vgl. Indien 102 Harvey, David 170, 175 Harvey, Herk – vgl. Carnival of Souls 167, 358 Haushofer, Marlen 114 Hausner, Jessica – vgl. Amour Fou; Hotel; Lourdes; Lovely Rita 10, 13, 37, 54, 56, 62, 63, 99, 101-103, 107-113, 116, 370 Heart of Darkness 361

Personen- und Filmindex

Heidegger, Martin 47, 373, 374, 399 Heisenberg, Benjamin – vgl. Der Bombenkönig; Der Räuber; Schläfer; Über-ich und Du 2, 13, 15, 37, 40, 45, 63, 104, 105, 111, 190, 223, 227, 272, 305, 313-324, 353, 390 Heiss, Sonja 63 Heldenplatz (Vienna) 104 Helle Nächte 16, 17  Henckel von Donnersmarck, Florian – vgl. Das Leben der Anderen 114, 122 Hennicke, André 169 Herr der Ringe, Der 365 Herzog, Werner – vgl. Aguirre, der Zorn Gottes 22, 47, 105, 362, 398 Hilligoss, Candace 167 Hinterholz 8 102 Hirschbiegel, Oliver 122 Hitchcock, Alfred – vgl. Rear Window 103, 110, 111, 113, 148, 152, 206, 327 Hochhäusler, Christoph – vgl. Die Lügen der Sieger; Falscher Bekenner; Milchwald; Unter dir die Stadt 10, 12, 13, 15-18, 22, 44, 46, 60, 100, 101, 123, 124, 127, 128, 141, 148, 150, 153, 167, 190, 201, 207, 230, 257, 281-283, 296, 298, 299, 313, 320, 353, 354, 357, 366, 370, 385  Hochschule für bildende Künste Hamburg 13 Hochschule für Film und Fernsehen “Konrad Wolf” PotsdamBabelsberg 13 Hochschule für Film und Fernsehen München 13

Hombre mirundo al sudeste (Man Facing Southeast) 356 Hoss, Nina 155, 169, 174, 218, 364, 367, 386 Hotel 107, 109, 110, 116 Hsiao-hsien, Hou 17, 257 Hummer, Julia 180, 330 Hundstage 101, 106 Hunger 44, 281, 283-288, 296 Hunt, Courtney – vgl. Frozen River 125 Hurensohn 106 I Ich denke an euch – vgl. Je pense à vous 329 Ich seh, ich seh 116 Iklimler (Jahreszeiten – İklimler) 173, 183 Import/Export 106 Im Schatten 16, 193, 368 In Between Days 65, 66, 69, 70, 71, 125 In den Tag hinein 69, 70, 71, 257 Indien 102 In ihren Augen – vgl. El secreto de sus ojos 352 innere Sicherheit, Die 44, 46, 156, 157, 180, 227, 261, 291, 292, 294-296, 329-332, 338, 340, 360  IRA (Provisional Irish Republican Army) 44, 281, 286, 287, 289 J Jackson, Peter – vgl. Herr der Ringe 365 Jahreszeiten – İklimler – vgl. İklimler 173, 183 Jascheroff, Constantin von 167, 230, 296 Jauja 47, 360, 361, 363-368

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Die Berliner Schule im globalen Kontext

Je pense à vous 329 Jericho Mile, The (Ein Mann kämpft allein) 318 Jerichow 156, 169, 174-177, 182, 184, 185, 327 Jesus, Du weisst 109 Jia, Zhangke – vgl. Tiān zhùdìng 168 Jopp, Vanessa 63 Jullien, François 44, 264, 265, 266, 277, 278 junge Törless, Der 108 Justa, Aleksandra 107 K Kaç Para Kaç (A Run for Money) 172 Kalt, Jörg – vgl. Crash Test Dummies 106 Kárhoza (Damnation) 375 Kar-Wai, Wong 43 Kastenberger, Johann 104, 318, 320, 322 Kaurismäki, Aki 361 Kawase, Naomie 10 Kelly, Grace 110 Kesal, Ercan 174 Khane-ye doust kodjast (Wo ist das Haus meines Freundes?) 222 Kiarostami, Abbas – vgl. Bād Mā Rā Chāhad Bord; Khaneye doust kodjast; Nema-ye Nazdik; Ta’m-e gīlās; Zange Tafrih 10, 17, 41, 42, 47, 213-218, 222-229, 231, 257, 272 Kim, So Yong -vgl. For Ellen; In Between Days; Lovesong; Treeless Mountain  Kis Uykusu (Winterschlaf ) 10, 36, 54, 61, 65, 66, 69- 71, 121, 123, 125, 130, 272, 356 Klassenfahrt 16, 129, 130, 132

Klavierspielerin, Die 101 kleine Fernsehspiel, Das (ZDF) 64 Kleist, Heinrich von – vgl. Das Erdbeben in Chili; Die Marquise von O; Über das Marionettentheater; Der zerbrochene Krug 112, 113, 370 Kluge, Alexander 102 Köhler, Ulrich – vgl. Bungalow; Montag kommen die Fenster; Schlafkrankheit 12, 13, 1517, 42-44, 46, 63, 167, 180, 190, 191, 193, 204, 214, 215, 221, 223, 235-239, 243-254, 257, 264, 273-278, 300, 313  Koepnick, Lutz 7, 10, 11, 17, 19-21, 23-25, 43, 44, 78, 200, 213215, 257, 312, 313, 321, 356, 396-398 Köse, Cafer 184 Komm, süsser Tod 102 Komplizen-Film 56, 62, 63, 66 Kore-eda, Hirokazu 10 Kracauer, Siegfried 198-200, 202, 270, 396 Kristeva, Julia 290 Kronthaler, Thomas – vgl. Die Scheinheiligen 30 L La libertad (Freedom) 360, 368, 369 Lang, Fritz 23 Lardi di biciclette (Fahrraddiebe) 136, 331, 355 Las naves (journal) 46, 353 Last Images of the Shipwreck – vgl. Últimas imágenes del naufragio 356 La strada (La Strada – Das Lied der Straße) 148, 154

Personen- und Filmindex

La strada – Das Lied der Straße – vgl. La strada 148 Léaud, Jean-Pierre 315 Leben der Anderen, Das 114, 122 Lemke, Klaus 18 Letter to Uncle Boonmee, A 43, 236, 239, 241, 245, 247, 248 Levinas, Emmanuel 341, 342, 345 List, Niki – vgl. Müllers Büro 103 Loach, Ken – vgl. Family Life 134, 237 Loneliness of the Long Distance Runner, The (Die Einsamkeit des Langstreckenläufers) 45, 310 Longest Yard, The (Die härteste Meile) 318 Longworth, Karina 110 Los muertos (The Dead) 360, 369 Lourdes 99, 109-113, 116 Lovely Rita 101, 107 Lovesong 65 Lubitsch, Ernst 18 Lucy 16, 38, 121, 128-139 Lügen der Sieger, Die 17, 353, 370, 385 Luna de Avellaneda (Avellaneda’s Moon) 352 Lust, Andreas 104 Lyotard, Jean-François 105, 109 M Mader, Ruth – vgl. Struggle 101, 103, 106, 108 Madonnen 65, 68, 71, 72  Madonnen Film 56, 63 Makhmalbaf, Samira 8 Man Facing Southeast – vgl. Hombre mirundo al sudeste 356 Mann, Michael – vgl. Collateral; The Jericho Mile 318, 323 Man Push Cart 121, 125, 356 Marais, Pia 108 Marquise von O, Die 113

Marshall, Garry – vgl. Pretty Woman 83 Marseille 15, 31, 40, 41, 44, 47, 101, 189, 191-194, 196-199, 203, 208, 223, 224, 262, 375, 377, 378, 382-388, 390  Martel, Lucrecia – vgl. La ciénaga; La mujer sin cabeza; La niña santa 10, 11, 46, 47, 54, 67, 352-360, 368-370, 396  Marx, Karl 374 Masculin Féminin 12 McQueen, Steve vgl. 12 Years a Slave; Hunger; Shame 11, 44, 281291, 301 Meek’s Cutoff (Auf dem Weg nach Oregon) 14, 365-367 Mein langsames Leben 15, 31, 44, 262, 263 Mein Russland 106 Mein Stern 16, 101 Melville, Hermann – vgl. Bartleby 311 Melville, Jean Pierre – vgl. Pickpocket 16 Medes, Sam – vgl. American Beauty 229 Menem, Carlos 352, 354 Mépris, Le (Die Verachtung) 148 Mercer, David 237 Milchwald 357 Montag kommen die Fenster 16, 43, 236, 238, 244, 246, 247 Monteagudo, Luciano 353, 368 Morel, Pierre – vgl. Taken 30 Mortensen, Viggo 361, 365, 368 Mozart 113 Müller, Franz 353, 364 Müller, Richy 180 Müllers Büro 103 Muerte de un ciclista (Death of a Cyclist) 358

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Die Berliner Schule im globalen Kontext

Mujer sin cabeza, La (Die Frau ohne Kopf ) 47, 357 Mulvey, Laura 215, 216 Murnau, F.W. – vgl. Nosferatu 23, 236, 339 Murnberger, Wolfgang – vgl. Komm, süßer Tod; Silentium 102, 109 Musil, Robert 108 Mutter & Sohn – vgl. Pozitia copilulu 359 N Nachmittag 202, 262 Nema-ye Nazdik (Close-up) 229 Nettelbeck, Sundra – vgl. Bella Martha 114 Netzer, Călin Peter – vgl. Pozitia copilulu 359 Neumann, Rüdiger 13 Nietzsche, Friedrich 168 niña santa, La (La niña santa- Das heilige Mädchen) 357 niña santa, La – Das heilige Mädchen – vgl. La niña santa 357 Nine Queens – vgl. Nueve Reinas 352 Nordrand 101, 106, 108 Nosferatu 339 Nueve Reinas (Nine Queens) 352,  nuit américaine, La (Die amerikanische Nacht) 148 O Odysseus 168 Özdemir, Muzaffer 176 Oldham, Will 138 Old Joy 66, 121, 135 Once Upon a Time in Anatolia – vgl. Bir Zamanlar Anadolu’da 173 Orly 15, 31, 44, 226, 262, 268-270, 380382 Orth, Patrick 246, 363

Outsider, The – vgl. Szabadgyalog 375, 377 Ozu, Yasujirō 40 P Panahi, Jafar 215 Paradies: Glaube 109 Patzak, Peter 100 Pasolini, Pier Paolo 217, 221, 222 Petzold, Christian – vgl. Barbara; Die innere Sicherheit; Gespenster; Jerichow; Phoenix; Wolfsburg; Yella 7, 9, 10-13, 15, 16, 18, 22, 26, 33, 36, 37, 39, 40, 44-47, 60, 99, 100, 101, 103, 111, 112, 146, 148-150, 155-158, 167-171, 174-176, 180, 184, 185, 190, 214, 218, 219, 227, 229, 235, 281, 283, 291, 292, 295, 313, 327-334, 338-340, 343, 344, 357-360, 364, 367, 368, 370, 385, 393, 398 Phantoms of Nabua 241, 245 Phoenix 9, 18, 47, 112, 235, 330, 360, 370, 385, 398 Pialat, Maurice – vgl. À nos amours 16, 158, 159 Pickpocket 16 Plätze in den Städten 15, 31 Pölsler, Julian Roman – vgl. Die Wand 37, 99, 113, 115, 116 Poliak, Ana 352 Police, Adjective – vgl. Polițist, adjectiv 146-148 Polițist, adjectiv (Police, Adjective) 146 Porumboiu, Corneliu – vgl. A fost sau n-a fost?; Când se lasă seara peste Bucuresti sau metabolism; Comoara; Polițist,

Personen- und Filmindex

adjectiv 10, 39, 41, 145-154, 156, 160-164 Pozitia copilulu (Mutter & Sohn) 359 Prada-Meinhof 295, 396 Prag, März 1992 31 Praxis der Liebe, Die 103 Prefab People, The – vgl. Panelkapcsolat 377 Pretty Woman 83, 334 Professione: Reporter 40, 189 Promesse, La 46, 329 R Räuber, Der 15, 40, 45, 104, 105, 305, 318-324 RAF – vgl. Rote Armee Fraktion 46, 180, 227, 282, 291, 292, 294, 295, 331 Rancière, Jacques, 24, 41, 376 Raymond, Jon 135, 136, 285, 365 Rear Window (Das Fenster zum Hof ) 110 Red Road 65, 71 Règle du jeu, La (Die Spielregel) 9, 315 Reichardt, Kelly – vgl. Meek’s Cutoff ; Old Joy; River of Grass; Wendy and Lucy 10, 36, 38, 39, 42, 54, 61, 65, 66, 69, 70, 71, 121, 123, 125, 128, 134-142, 356, 361, 365- 367 Rejtman, Martín 352, 353, 355 Relatos salvajes (Wild Tales – Jeder dreht mal durch!) 359 Renoir, Jean – vgl. La règle du jeu 9, 315 Rentschler, Eric 22, 101, 356, 365, 369 Reservation Road (Ein einziger Augenblick) 358 Rettenberger, Johann 104, 105, 305, 318-324 Revolver (journal) 11, 12, 46, 190, 223, 353, 354, 357 Reygadas, Carlos 353

Rich, B. Ruby 27 Richardson, Tony – vgl. The Loneliness of the Long Distance Runner 11, 45, 80, 310-312 Ritter, Thelma 110 River of Grass 65 Roehler, Oskar 91, 92, 368, 369 Rohmer, Eric 145, 158, 159 Rosemüller, Marcus – vgl. Wer früher stirbt, ist länger tot 30 Rosetta 46, 327, 328, 330, 331, 335-339, 341, 342, 344, 347 Rossellini, Roberto – vgl. Germania Anno Zero 331, 332 Rote Armee Fraktion – vgl. RAF 180, 281, 291 Rumsfeld, Donald 20 Run for Money, A – vgl. Kaç Para Kaç 172 Ruzowitzky, Stefan – vgl. Die Siebtelbauern 102 S Salminen, Timo 361, 362 Sander, Helke 67 Sands, Bobby 44, 281, 284, 286-291, 296 Sang sattawat (Syndromes and a Century) 235 Sang-soo, Hong 17, 248, 257 Sant, Gus Van 135, 136 Schanelec, Angela – vgl. Marseille; Mein langsames Leben; Nachmittag; Orly; Plätze in den Städten; Prag, März 1992; traumhafte Weg, Der 12, 13, 15, 18, 29-35, 40, 41, 43, 44, 47, 48, 54, 100, 101, 108, 167, 189, 190192, 198-206, 214, 223, 226, 261-264, 268-272,

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Die Berliner Schule im globalen Kontext

277, 278, 375, 377, 378, 380-382, 384, 385 Schatz, Der – vgl. Comoara 148 Scheinheiligen, Die 30 Schläfer 15, 45, 227, 313-317, 324 Schlafkrankheit 16, 43, 236-238, 244, 246, 247-253 Schleinzer, Marcus 105 Schlöndorff, Volker – vgl. Der junge Törless 108 Schmidt, Gordon 131 Schnitzer, Kim 130 Schnöink, Birte 113 Schönemann, Hinnerk 174 schöne Tag, Der 146, 155, 157, 158 Schoonover, Karl 25, 26, 29, 30, 288, 351, 365 Schrader, Maria 33 Schrader, Paul 200 Scott, A. O. 38, 79, 85, 121-128, 134, 140, 213, 356 Searchers, The 152, 361 Seidl, Ulrich – vgl. Hundstage;  Import/Export;  Jesus, Du weisst;  Paradies: Glaube 13, 101, 103, 106, 109 Seine einzige Liebe 113 Sehnsucht 16, 71-73, 108, 110, 235 Shame 285 Shaviro, Steven 170, 171, 175  Sicheritz, Harald – vgl. Hinterholz 8 102 Sicinski, Michael 23, 43, 214, 235, 318, 366, 368, 398 siebente Kontinent, Der 103 Siebtelbauern, Die 102, 107 Sie küßten und sie schlugen ihn – vgl. Les quatre cents coups 45 Silentium 109 Sillitoe, Alan 305, 310, 311 Slumdog Millionaire 122

Smith, Adam 171 Smith, Murray 355 Sobchack, Vivian 345 Sözer, Hilmi 169 Sohn, Der – vgl. Le fils 342, 352 Sohn der Braut, Der – vgl. El hijo de la novia 352 Soloway, Joey (Jill) 66 Speth, Maria – vgl. 9 Leben; In den Tag hinein; Madonnen; Töchter 12, 13, 36, 54, 56, 61, 63-65, 68-72, 108, 257 Spielregel, Die – vgl. La règle du jeu 315 Stewart, James 110 Steyerl, Hito 273 Straight Time (Stunde der Bewährung) 318 Stray Dogs – vgl. Jiao you 44, 260, 261, 265, 267, 271, 272 Striesow, Devid 174, 196, 275 Struggle 101, 106, 108 Stürminger, Michael – vgl. Hurensohn 106 Stunde der Bewährung – vgl. Straight Time 318 Subiela, Eliseo – vgl. Hombre mirando al sudeste; Últimas imágenes del naufragio 356 Sud pralad (Tropical Malady) 43, 236 Sugar 121, 122, 124, 125 Suner, Asuman 168, 169, 172, 173, 180, 183 Sungar, Ahmet Rifat 174 Svoboda, Antonin 62 Syndromes and a Century – vgl. Sang sattawat 235, 239, 241, 245, 247, 248, 272 Szifrón, Damián – vgl. Relatos salvajes 359

Personen- und Filmindex

T Taken (96 Hours) 30 Ta’m-e gīlās (Der Geschmack der Kirsche) 223 Tanz der toten Seelen – vgl. Carnival of Souls 167 Tarr, Béla – vgl. A torinói ló; Családi tűzfészek; Kárhoza; Panelkapcsolat; Szabadgyalog 11, 47, 48, 373-390 Testud, Sylvie 109, 110 Thatcher, Margaret 170, 175 Thome, Rudolf 18 Tiān zhùdìng (A Touch of Sin) 168 Todeschini, Bruno 109 Töchter 63, 65, 71 Toni Erdmann 9, 29, 33, 39, 63-65, 235, 327, 396 Totenhemdchen, Das 339, 340 Touch of Sin, A – vgl. Tian zhu ding 168 Trapero, Pablo 352, 356, 369 traumhafte Weg, Der 29-35 Treeless Mountain 65, 66, 71, 121, 123, 125, 356 Tropical Malady – vgl. Sud pralad 43, 235, 239-244, 247, 248 Trotta, Margarethe von 22 Truffaut, François – vgl. La nuit américaine; Les quatre cents coups 11, 40, 45, 148, 306312, 315, 322 Tsai, Ming-Liang – vgl. Bu san; Jiao you 11, 43, 44, 257, 260-267, 271-274, 278 Turiner Pferd, Das – vgl. A torinói ló 47, 375, 379, 380, 387, 390 Ü Ü Über-ich und Du 15, 370 Über das Marionettentheater 113 Üç Maymun (Drei Affen) 169, 358

Ú Últimas imágenes del naufragio (Last Images of the Shipwreck) 356 U Umberto D. 136, 140 Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben – vgl. Lung Bunmi raluek chat 43, 236, 239, 241, 245, 247, 248 Unter dir die Stadt 17, 207 Untergang, Der 122, 273 Uzak (Uzak – Weit) 172 Uzak – Weit – vgl. Uzak  172-174, 176, 183 V Verachtung, Die – vgl. Le Mépris 148, 160, 161, 333 Versprechen, Das – vgl. La promesse 46, 70, 181, 257, 329-331, 335338, 342, 346, 348 Voigt, Sören 222 Vor der Morgenröte 33 W Wald vor lauter Bäumen, Der 53, 54, 63, 65, 71, 73, 74 Waltz, Christoph 99 Wand, Die 99, 113-117 Warhol, Andy 243, 239 Weingartner, Hans – vgl. Die fetten Jahre sind vorbei 226, 295 weiße Band, Das 99, 107 Wenders, Wim – vgl. Every Thing Will Be Fine 22, 359 Wendy and Lucy (Wendy und Lucy) 69, 121-144, 356 Wendy und Lucy – vgl. Wendy and Lucy 38, 66, 70, 71, 121-144

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Die Berliner Schule im globalen Kontext

Wer früher stirbt, ist länger tot 30 Western 24, 33, 63 Wheatley, Catherine 107, 108 When Evening Falls on Bucharest or Metabolism – vgl. Când se lasă seara peste Bucuresti sau metabolism 39, 146, 149 Wild Tales – Jeder dreht mal durch! – vgl. Relatos salvajes 359 Williams, Michelle 66, 71, 78, 123, 134, 140, 367 Wincer, Simon – vgl. Free Willy 332 Winckler, Henner – vgl. Klassenfahrt und Lucy 12, 13, 16, 17, 22, 38, 39, 42, 121-144 Wind wird uns tragen, Der – vgl. Bād Mā Rā Chāhad Bord 217, 218, 223, 224 Winterschlaf   – vgl. Kış Uykusu 172, 173, 176, 183 Wo ist das Haus meines Freundes? – vgl. Khane-ye doust kodjast 222 Wolfsburg 46, 47, 313, 338, 357, 358, 359 Wortmann, Sönke – vgl. Der bewegte Mann 114 Wyborny, Klaus 13 Y Yella 16, 101, 155, 168, 169, 171, 174-176, 182, 184, 185, 218-220, 229, 313, 358, 398 Yol (Yol – Der Weg) 173 Yol – Der Weg – vgl. Yol 173 Z Zerbrochene Krug, Der 113 Zvyaginstsev, Andrej 183 Zan, Ni 266, 267 Zang-e Tafrih (Breaktime) 223 Zweig, Stefan 33

Medienwissenschaft Florian Sprenger (Hg.)

Autonome Autos Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Zukunft der Mobilität 2021, 430 S., kart., 29 SW-Abbildungen 30,00 € (DE), 978-3-8376-5024-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5024-6 EPUB: ISBN 978-3-7328-5024-2

Tanja Köhler (Hg.)

Fake News, Framing, Fact-Checking: Nachrichten im digitalen Zeitalter Ein Handbuch 2020, 568 S., kart., 41 SW-Abbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5025-9 E-Book: PDF: 38,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5025-3

Geert Lovink

Digitaler Nihilismus Thesen zur dunklen Seite der Plattformen 2019, 242 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4975-8 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4975-2 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4975-8

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Medienwissenschaft Ziko van Dijk

Wikis und die Wikipedia verstehen Eine Einführung 2021, 340 S., kart., 13 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5645-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5645-3 EPUB: ISBN 978-3-7328-5645-9

Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)

Zeitschrift für Medienwissenschaft 25 Jg. 13, Heft 2/2021: Spielen 2021, 180 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-5400-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5400-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-5400-4

Anna Dahlgren, Karin Hansson, Ramón Reichert, Amanda Wasielewski (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 6, Issue 2/2020 – The Politics of Metadata 2021, 274 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4956-7 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4956-1

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