Toleranz als Verfassungsprinzip: Prolegomena zu einer rechtlichen Theorie des pluralistischen Staates (Schriftenreihe der Hochschule Speyer ; Bd. 62) (German Edition) 3428038290, 9783428038299


106 66 6MB

German Pages 61 [62] Year 1977

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Toleranz als Verfassungsprinzip: Prolegomena zu einer rechtlichen Theorie des pluralistischen Staates (Schriftenreihe der Hochschule Speyer ; Bd. 62) (German Edition)
 3428038290, 9783428038299

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

GüNTER PüTTNER

Toleranz als V erfassun gsprinzi p

Schriftenreihe der Hochschule Speyer

Band 62

Toleranz als Verfassungsprinzip Prolegomena zu einer rechtlichen Theorie des pluralistischen Staates

Von

Prof. Dr. Günter Püttner

DUNCKER

&

HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

® 19'17 Duncker & Hurnblot, Berlln 41

Gedruckt 1977 bel Buchdruckere1 A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlln 61 Pr1nted 1n Germany ISBN S 428 03829 0

VORWORT Der vorliegende kleine Beitrag zum großen Thema Toleranz, das die deutsche und europäische Verfassungsgeschichte jahrhundertelang bewegt hat, ist aus meiner Speyerer Antrittsvorlesung vom 30. Juni 1975 hervorgegangen. Der leicht erweiterte Text und die eher willkürlich ausgewählten Anmerkungen können nur wenige Hinweise zu der weitgespannten und tiefgreifenden Problematik liefern; das meiste muß dem weiteren Nachdenken des Lesers oder einer künftigen, eingehenderen Untersuchung überlassen bleiben. Gleichwohl hoffe ich, einiges zur Klärung der besonders in jüngster Zeit im Zusammenhang mit dem Schulwesen viel diskutierten Fragen um Toleranz und Pluralismus im modernen demokratischen Staat beitragen zu können. Speyer, den 1. 10. 1976 Günter Püttner

INHALT

1. Zum Thema Toleranz ............................................

9

2. Toleranzbegriff und Toleranzmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

a) Zum Toleranzbegritf allgemein ................................

13

b) Das Lessing'sche Modell....... .. . .. .. ...... . .. . . . .. .. ... . .. .. .

15

c) Toleranz und Parität. ...... ..... ............ .. ... . . .. ...... . ..

16

d) Toleranz und Handeln im gesellschaftlichen Leben ..............

17

e) Trennung von Anhängern ditferenter Meinungen? ..............

19

3. Die Verwirklichung der Toleranz durch das Grundgesetz ...........

21

a) Der Toleranzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

b) Das Lessing'sche Modell .......................................

24

c) Toleranz und Parität ..........................................

26

d) Toleranz und Handeln im gesellschaftlichen Leben ..............

27

e) Trennung von Anhängern differenter Meinungen? ..............

31

4. Toleranz und demokratischer Staat ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

a) Zur .. Neutralität" des Staates. . . ..... . .. ...... ... . ... . .... .. ...

34

b) Demokratie und Toleranz ......................................

36

c) Toleranz und Staatsapparat (Verwaltung) ......................

41

d) Internationale Koexistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

5. Spezielle Bereiche .................................................

48

a) Die Schule ....................................................

48

b) Die Stadtplanung ..............................................

52

c) Persönlicher LebensstU ........................................

56

6. Hat das Toleranzprinzip Zukunft? ............................•...

59

1. ZUM THEMA TOLERANZ

Mit brennender Sorge! haben nicht wenige die Entwicklung der letzten Jahre in Staat und Gesellschaft verfolgt: Die Tugend der Toleranz, die in den Nachkriegsjahren als Antwort auf das Dritte Reich allgemein akzeptiert und praktiziert wurde, diese Tugend der Toleranz ist erneut in Gefahr geraten, womit viele, auch der Verfasser, lange Zeit nicht gerechnet hatten. Denn am hohen und grundlegenden Wert der Toleranz für unser Gemeinwesen bestand kein Zweifel. Aus dem breiten Kreis der Autoren, die das hervorhoben, ist beispielhaft Ernst Eduard Hirsch zu nennen, der die universelle Anerkennung des Toleranzprinzips als denknotwendige Voraussetzung für den Bestand einer differenzierten Gesellschaft bezeichnet;!; es ist Fritz Werner zu mmnen, der in seinem Festvortrag vor dem 44. Deutschen Juristentag 1962 die Bedeutung des Toleranzgedankens für die Rechtsordnung und die Verwirklichung des Rechts eindringlich dargelegt hat'. Aber die Tugend der Toleranz ist inzwischen nicht nur praktisch an vielen Stellen außer Übung gekommen und hat ihr Ansehen verloren, sie gilt nicht einmal mehr überall als Tugend und wird von manchen sogar grundsätzlich in Zweüel gezogen. So sehen die Amerikaner Wolfj, Moore und Marcuse in der Toleranz nur noch ein Hindernis für den gesellschaftlichen Fortschritt und suchen nach einer "neuen Philosophie des Gemeinwesens jenseits von Pluralismus und jenseits von Toleranz"'. Diese These hat auch in Deutschland ein nicht zu übersehendes 1 Dies in mäßigender Verteidigung eines Mannes, der sein mahnendes Wort in Zeiten grober Intoleranz mit dieser Formulierung einleitete und nun, nach dem Sterben der damaligen Diktatur, dem Vorwurf ausgesetzt ist, nicht scharf genug für die Unterjochten eingetreten zu sein. Ob der Vorwurf berechtigt ist oder nicht, mag offen bleiben, aber es sind die nicht zum Vorwurf berechtigt, die zur Intoleranz heutiger Diktatoren (östlicher Provenienz) schweigen oder ihr gar applaudieren. ! In: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, Berlin 1960, Art. Koexistenz, S.309. 3 Recht und Toleranz, Verhandlungen des 44. Dt. Juristentages, Bd. IIIB, Tübingen 1963, B 1 ff. , Robert Paul Wolfl, Jenseits der Toleranz, in: Wolff-Moore-Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, 7. Auf!. Frankfurt a. M. 1970, S.59.

10

1. Zum Thema Toleranz

Echo gefunden, etwa bei Hans Rytfel, der - bei aller Anerkennung des Wertes des Pluralismus im übrigen und bei aller Differenziertheit des Standpunktes - an einer Stelle den Pluralismus als "Ideologie des status quo" bezeichnet'. Vor allem aber ist diese Denkweise nicht nur in manchen Revolutionsspielen und Protestbewegungen der letzten Jahre, sondern auch in der Vorliebe mancher Demokraten für Konfrontation statt für Kooperation6 politisch spürbar geworden. Die Kontroverse ist für unser Gemeinwesen von höchster Bedeutung. Es muß gefragt werden, welche Stellung das geltende Verfassungsrecht dazu bezieht, ob es Toleranz fordert oder voraussetzt und ob es insbesondere, wenn man ein Spannungsverhältnis von Toleranz und gesellschaftlichen Fortschritt feststellen will, der Toleranz oder dem Fortschritt - was immer das sein mag - den Vorrang einräumt. Toleranz kann nicht isoliert betrachtet, sondern muß in Bezug gesetzt werden zu den Möglichkeiten aktiven politischen und administrativen Handelns oder auch - politikwissenschaftlich gesprochen - zur Innovationsfähigkeit des politischen Systems.

Es kann deshalb heute nicht mehr genügen, sich ohne nähere Begründung zum Gedanken der Toleranz zu bekennen, wie es das Bundesverfassungsgericht mehrfach getan hat7 • Vielmehr muß im einzelnen geprüft werden, was man rechtlich unter "Toleranz" verstehen kann und welche Stellung die Verfassung zum Toleranzgedanken einnimmt. Die Fragen sind deshalb so schwierig zu beantworten, weil das GrundI Rechtssoziologie, Neuwied und Berlin 1974, S.403, freilich in dem Sinne, daß auch der Pluralismus nicht immer ideologiefrei sei; als Abwertung des Pluralismus soll das nicht verstanden werden, wie Ryffel in seinem Werk "Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie" (Neuwied und BerUn 1969), S. 333 ff. erläutert. e Der Kommunalwissenschaftler hat dies vor allem in Form der Auflösung der sog. Rathauskoalitionen (Zusammenarbeit aller Parteien) unter Hinwendung zum Regierungs-Oppositions-Denken feststellen können, ein Denken, das in der Theorie vom Konfiikt als Motor gesellschaftlichen Fortschritts eine interessante Stütze findet. Vgl. beispielsweise Thomas Ellwein, Parteien und kommunale öffentlichkeit, AfK 1971, S.11 (21); zu den Möglichkeiten und Bedingungen einer Reform der Kommunalverfassung nach dem RegierungsOppositions-Modell vgl. Michael Borchmann, Die Reform der Kommunalverfassung, Frankfurter iur. Diss. 1975, S. 311 ff. Dies wäre nicht erwähnenswert, wäre nicht mancherorts hinter der Fassade der Mehrheitsentscheidung ohne Rücksicht auf die Interessen der Minderheit ein Moment der Intoleranz sichtbar geworden, das die frühere Technik einstimmiger Beschlüsse nach vorheriger informeller Interessenabklärung als ein Hilfsmittel praktischer Toleranz erscheinen läßt. Dazu unten Näheres S. 36 ff. 7 Vgl. insbesondere BVerfGE 5, S.139 (206, 223 f.); 12, S.3, S.306; 13, S.49; 19, S. 238; 32, S. 98 (108).

1. Zum Thema Toleranz

11

gesetz das Wort Toleranz nicht verwendet und expressiv verbis nichts über Toleranz aussagt, was vielleicht manchen Nichtjuristen überraschen dürfte. Wie so oft läßt sich nur aus der Interpretation verschiedener Vorschrüten ein Ergebnis hinsichtlich des Stellenwertes von Toleranz in der Verfassung gewinnen, ein Ergebnis also, das mit allen Vorbehalten gegen die beschränkte oder unbeschränkte Auslegung von Verfassungsvorschrüten belastet bleibt. Dennoch bestände Hoffnung auf ein hinreichend gesichertes Ergebnis, wenn wenigstens der Begriff der Toleranz außerhalb des Verfassungsrechts eindeutig festläge, also das, was die Befürworter mit der Toleranz fordern und was die Gegner kritisieren. Aber daran fehlt es völlig, und der Historiker würde, wenn er etwa vom Mailänder Toleranzedikt über den Augsburger Religionsfrieden und das Edikt von Nantes bis zum Konstitutionalismus das Terrain abschritte, eine kaum übersehbare Fülle verschiedenartiger Toleranzauffassungen und Toleranzrnodelle vorführen können. Es geht deshalb weniger um die Frage, ob das Grundgesetz Toleranz fordert, sondern darum, welche Art von Toleranz die Verfassung gebietet und verwirklicht sehen will. Dazu gehört auch die bekannte Frage nach der Toleranzgrenze. Der Verfassungsjurist ist damit zu einer grundlegenden Besinnung aufgerufen, die hier nicht voll geleistet, sondern allenfalls durch einige Vorüberlegungen gefördert werden kann. In diesem Zusammenhang wird vielleicht mancher fragen, warum gerade ein in erster Linie dem Verwaltungsrecht und der Kommunalwissenschaft verpflichteter StaatsrechtIer dieses Thema aufgreüt. Das Interesse hat durchaus einen Grund: Toleranz ist, wie angedeutet, nicht nur Bürger-Tugend, sondern mindestens in gleichem Maße eine Orientierungsfrage für den demokratischen und sozialen Rechtsstaat und seine Verwaltung. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Verfassungstreue der Beamten', die sich - im Gegensatz zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zur gleichen Frage' - ausführlicher mit der Toleranzfrage befaßt, mag vorerst als Hinweis dienen. Darüber hinaus sollte man beachten, daß sich Toleranzprobleme nicht nur im Staat und in der Gesellschaft allgemein stellen, sondern gerade auch im Bereich der örtlichen, der "kommunalen" Gemeinschaft, in den örtlichen Einrichtungen wie Schulen, Theatern und Betrieben, aber auch in der Stadtplanung. Die Erfahrungen des Verfassers in· , BVerwG vom 6. 2. 1975, NJW 1975, S. 1135 = BVerwGE 47, S.330 (350). , BVerfG vom 22. 5. 1975, BVerfGE 39, S.334 = DVBI. 1975, S. 817ft.; vgl. Klaus Stern, Zur Verfassungstreue der Beamten, München 1974.

12

1. Zum Thema Toleranz

Frankfurt a. M. bieten dafür reiches Anschauungsmaterial, etwa in Form des Streits um das Historische Museum oder um die Benennung einer Straße nach der Revolutionärin Rosa Luxemburg!o. Es soll deshalb im folgenden Abschnitt zunächst einiges zum Begriff der Toleranz gesagt werden, ferner in einem weiteren Abschnitt

einiges zur verfassungsrechtlichen Fundierung der Toleranz. Sodann soll den Anforderungen nachgegangen werden, die das Toleranzprinzip an Staat, Verwaltung und Rechtsordnung stellt, wobei beispielhaft einige der oben genannten Bereiche näher behandelt werden.

10 Diese Benennung erfolgte übrigens möglicherweise mit einer gewissen Raffinesse, die einen Schuß Toleranzdenken eingeschlossen haben mag: Es handelt sich bei der Rosa-Luxemburg-Straße um eine autobahnähnliche Schnellstraße, die einerseits als repräsentative, zur Ehrung geeignete Straße ausgegeben werden kann, die andererseits aber keine unmittelbaren Anwohner hat, so daß der Straßennahme in Adressen nicht auftaucht.

2. TOLERANZBEGRIFF UND TOLERANZMODELLE a) Zum Toleranzbegriff allgemein

Der Begriff der Toleranz ist wie so viele Begriffe im höchsten Maße unklar. Tolerieren heißt dulden, ertragen, oder, wie es Alexander Mitscherlich formuliertt, "ertragen des andern in der Absicht, ihn besser zu verstehen". "Indem man tolerant ist", führt Mitscherlich fort, "ebnet man nicht ein, sondern läßt Gegensätze bestehen". Der Begriff der Toleranz bringt somit nicht nur ein irgendwie geartetes, vielleicht gleichgültiges Dulden zum Ausdruck, sondern zugleich die Mühe und Last, die dieses Dulden verursacht, die Inkaufnahme eines nicht immer bequemen Anderen. Diese Komponente fehlt dem heute verbreiteteren Begriff "Pluralismus", der statt des Begriffes Toleranz vor allem in der politischen Wissenschaft und in der Sozialwissenschaft bevorzugt wird!. Dieser Begriff bringt mehr den gesellschaftlichen Zustand zur Geltung und weniger die Verhaltensweise, der er entspringt; sachlich ergibt sich sonst kein nennenswerter Unterschied. Wenn hier der Begriff Toleranz bevorzugt wird, dann einmal, weil er in der Rechtssprache eingeführter ist und größere historische Dimensionen eröffnet, zum anderen aber auch, weil es bei den heute gestellten Fragen nicht nur auf den gesellschaftlichen Zustand Pluralismus, sondern ganz wesentlich auf die ihn bedingende oder durch ihn geforderte Haltung der Toleranz ankommt Unter Juristen besteht allerdings Streit darüber, ob der Begriff der Toleranz tatsächlich mit einer bestimmten Verhaltensweise eines MenToleranz-überprüfung eines Begriffs, Frankfurt a. M. 1974, S.9. So verzeichnet etwa das Wörterbuch der Soziologie, hrsg. von Wilhelm Bernsdorf, 2. Auf!. Stuttgart 1969, nicht den Begriff "Toleranz", wohl aber den Begriff Pluralismus, den Winjried Stejjani dort als gesellschaftl. Zustand, als Theorie und als Merkmal freiheitlich-demokratischer Ordnung kennzeichnet. Ebenso das Handlexikon zur Politikwissenschaft, 2. Aufl. München 1972, hrsg. von Axel GÖrlitz. - Im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (Hdsw) fehlen merkwürdigerweise beide Begriffe, während die Staatslexika (Herder und Evang.) beide nebeneinander verzeichnen. 1

2

14

2. Toleranzbegrif'f und Toleranzmodelle

schen gegenüber anderen Menschen oder einer Gruppe gegenüber anderen Gruppen richtig umschrieben ist. Otto Busch komtpt in seiner geschichtlich angelegten Dissertation über Toleranz und Grundgesetz· zu dem Ergebnis, Toleranz sei zunächst eine bestimmte Beziehung zwischen Staat und Bürger gewesen (Edikt von Nantes usw.) und habe sich erst allmählich, ausgehend von Gedanken Voltaires\ auf das Verhältnis der Bürger und Gruppen untereinander ausgedehnt. Es bestehen erhebliche Zweifel an der Richtigkeit dieser These; anscheinend ging immer beides Hand in Hand, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung. Daß in obrigkeitsstaatlich geprägten Zeiten praktische Politik und die Literatur mehr von der Komponente Staat-Bürger geprägt ist, kann dabei sicherlich nicht verwundern, beweist jedoch keineswegs alles. Aber wie dem auch sei: Jedenfalls muß heute deutlich zwischen dem Verhältnis der Bürger untereinander und dem Verhältnis des Staates zu den unterschiedlichen Gruppen und Bürgern unterschieden werden. Folglich ist auch gesondert zu prüfen, welche Anforderungen an die Bürger und welche an den Staat gestellt werden, wenn Toleranz herrschen solll. Auf einen weiteren Aspekt, der später beim Schulwesen eine Rolle spielen wird, sei noch hingewiesen; Toleranz ist eine Frage der Achtung der Meinung eines anderen, aber eben der Meinung und Anschauung, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit nicht beweisbar ist oder deren Unrichtigkeitsbeweis den Meinungsinhaber nicht überzeugt. Manche Zeitgenossen glauben sich nun der Toleranzforderung dadurch enthoben, daß sie ihre Anschauung nicht als Meinung, als subjektive Anschauung oder Überzeugung empfinden und ausgeben, sondern als Wissenschaft bzw. als das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchung, an deren Richtigkeit füglich niemand zweifeln darf. Der Marxismus bezeichnet sich in diesem Sinne gern als Wissenschaft und nicht als Weltanschauung. Aus der Sicht des Toleranzgebots kann es indessen darauf nicht ankommen: Solange andere auch durch die "Wissenschaft" (die übrigens aus recht vielen höchst subjektiven Urteilen besteht) sich nicht überzeugen lassen, ist deren Unterdrückung Intoleran·z, auch wenn sie sich im Namen der Wissenschaft vollzieht. • Bonn 1967. S. 107. • Trait~ sur la tolerance. 1763. , Diese Erkenntnis ist übrigens alt und spielte im Zeitalter der Reformation eine wichtige Rolle; vgl. die Nachweise zur "privaten" und zur "öffentlichen" Toleranz bei Meinulf Barbers, Toleranz bei Sebastian Franck. Bonn 1964. S.69.

b) Das Lessing'sche Modell

15

b) Das Lessing'sche Modell

Zunächst ist aber der Frage näher nachzugehen, was denn dieses "dulden", "ertragen", "Gegensätze bestehen lassen" im einzelnen bedeuten soll. Gotthold Ephraim Lessing richtet in der berühmten Ringparabel' durch Nathan den Weisen an die drei Brüder und damit an die drei großen Religionen die Aufforderung, den Glauben an die absolute Richtigkeit der eigenen Anschauung aufzugeben und in guten Werken friedlich miteinander zu wetteüern. Jeder soll anerkennen, daß die Richtigkeit weltanschaulicher Thesen nicht beweisbar sei, daß auch der andere Recht haben könne, und er soll dementsprechend weise Zurückhaltung üben. Diese - schon bei Jean Bodin nachweisbare? These hat den Liberalismus des 19. und 20. Jahrhunderts stark beeinflußt, wenn nicht gar geprägt. Dennoch vermag diese Vorstellung nicht zu überzeugen. Lessing predigt, wenn man es näher besieht, überhaupt nicht die Toleranz zwischen den Anschauungen, sondern' verlangt von allen Beteiligten, ihre Anschauung soweit zu relativieren, daß jeglicher Grund für Konflikte entfällt. Toleranz wird nicht gefordert, sondern sie soll durch Abschaffung ihrer Voraussetzungen überflüssig gemacht werden. Die Vorstellung von gesellschaftlicher Harmonie durch Verzicht auf spezifische Anschauungen mit Richtigkeitsanspruch mag nach der Ergebnislosigkeit des 30jährigen Krieges verständlich erscheinen, doch dürfte uns heute der Überzeugungsverzicht als zu hoher Preis für gesellschaftliche Harmonie erscheinen. Außerdem ist - das zeigt die jüngste Geschichte - der Verzicht auf innere Überzeugungen nicht oder nur mit hartem staatlichen Zwang durchsetzbar. Und in diesem Punkt zeigt sich ein weiterer Mangel der Lessing'schen These: Wohl wird den drei Brüdern, die jeder den echten Ring zu besitzen glauben, eine Verhaltensmaßregel gegenüber ihren Mitbrüdern auf den Weg gegeben. Es fehlt aber jeder Hinweis auf die Folgerungen, die sich für das Wirken der Staatsgewalt ergeben, insbesondere, wie sich die Staatsgewalt im Falle der Verletzung der gebotenen Toleranz verhalten soll; und dieses Manko muß angesichts des Bemühens etwa im Edikt von Nantes, die Toleranz staatlicherseits durchzusetzen und zu garantieren', als emp, Nathan der Weise, 3. Akt., 7. Szene. ? Vgl Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Frankfurt a. M. 1970, S.285. 8 Vgl. Martin Knete, Die Herausforderung des Verfassungsstaates, Neuwied und Berlin 1970, S. 33 (in diesem Bestreben nach Durchsetzung der Toleranz

16

2. Toleranzbegrift und Toleranzmodelle

findlicher Mangel betrachtet werden. Aber das ist kein Grund, die mit großem Ernst vorgetragene These Lessings zu verachten .. Ihr liegt die schon auf Plato zurückführbare Ansicht zugrunde, daß Toleranz, verstanden als Duldung sich gegenseitig ausschließender Anschauungen, prinzipiell unmöglich sei und daß deshalb ein gesellschaftlicher Zustand, in dem Toleranz dieser Art notwendig wird, zu vermeiden oder abzuschaffen sei. Ob Lessing mit seiner pessimistischen Ansicht Recht hat, oder ob wir - vielleicht im Glauben an den Fortschritt der Menschheit - das organisierte Zusammenleben trotz verschiedenartiger Grundanschauungen für möglich halten dürfen, diese Frage ist kaum abschließend zu beantworten. Die Geschichte zeigt uns eine Fülle trauriger Erfahrungen und gescheiterter Versuche, Toleranz zu praktizieren; aber es hat auch Zeiten friedlichen Nebeneinanders gegeben. Die Hoffnung, daß Toleranz möglich sein werde, hat immer wieder die Verzweiflung über Haß und unüberbrückbare Gegensätze abgelöst'. Nach dem zweiten Weltkrieg folgte man der optimistischen Ansicht; vielleicht ist der Optimismus durch die Beobachtung Ernst Eduard HirschsI' bedingt, daß stark empfundene Gemeinsamkeiten gegenüber äußerer Bedrohung die Toleranz fördern und erleichtern (hier also die äußere Bedrohung aus dem Osten und die gemeinsame Abkehr vom Nationalsozialismus). c) Toleranz und Parität

Des öfteren wird - in eher historischer Betrachtung - zwischen Toleranz und Parität ein Unterschied gemacht; Toleranz soll nur Duldung, nicht aber Gleichberechtigung im Sinne von Parität bedeutenIl. Das Grundgesetz und die allgemeine Doktrin kennen jedoch eine solche Unterscheidung nicht. Die verschiedenen Weltanschauungen, Oberzeugungen und politischen Anschauungen sollen nicht nur geduldet werden, sondern in jeder Hinsicht gleichberechtigt sein. Das kommt staatsrechtlich weniger in den Grundrechten zum Ausdruck - diese könnten auch im Sinne bloßer Toleranz im historischen Sinn gedeutet werden - sondern vor allem in der Abkehr von jeglicher Staatssieht Kriele im Anschluß an Lecler das eigentlich Neue des Edikts von Nan-

tes).

, Vgl. Mitscherlich, a.a.O., S. 21. 10 a.a.O., S. 309. 1\ Vgl. Ulrich Eisenhardt, Der Begrift der Toleranz im öffentlichen Recht, JZ 1968, S.214 (S. 216 f.); auch Theodor Maunz, Toleranz und Parität im Deutschen Staatsrecht, München 1953, bes. S. 5 ff.

d) Toleranz und Handeln im gesellschaftlichen Leben

17

kirche und jeglicher staatsamtlicher Weltanschauung, also in dem Prinzip der Nicht-Identifikation, wie es Herbert Krüger nennti!. Die Schwierigkeiten, Toleranz durch ein irgendwie geartetes Paritäts- oder Beteiligungsmodell zu verwirklichen, liegen jedoch in einem anderen Punkt. Man hat es jedenfalls im modernen Staat und in der modernen Gesellschaft nicht mit wenigen großen, in sich geschlossenen Anschauungsgruppen zu tun, die man paritätisch nebeneinander stellen und am Gesamtleben quotenmäßig beteiligen könnte. Es stehen sich vielmehr zunehmend größere und kleinere Meinungsgruppen sowie Einzelindividuen mit besonderer Anschauung gegenüber, ferner organisierte und nicht organisierte Anschauungsgruppierungen, weiter überzeugte, missionarisch auftretende Anschauungsgruppen und eher indifferente Gruppierungen. Und dieses schon recht konfuse gesellschaftliche System kompliziert sich noch weiter dadurch, daß die nach einem Gesichtspunkt sich bildenden Gruppierungen (z. B. nach politischer Anschauung oder nach Lebensstil) nicht mit Gruppierungen nach anderen Gesichtspunkten (z. B. nach religiöser Überzeugung oder kultureller Neigung) übereinstimmen und ferner die sozialen Schichtungen diese Strukturen zusätzlich überlagernla. Bei dieser Sachlage können Paritätsmodelle immer nur punktuelle Lösungen für einzelne Fragen bieten, nicht aber Toleranz insgesamt in den Griff bekommen. Welche Probleme sich beispielsweise mit dem Versuch paritätischer Repräsentation von Anschauungen und Interessen in Rundfunkräten verbinden, ist bekannt und soll hier nur als verdeutlichendes Beispiel ohne nähere Ausführung genannt sein. d) Toleranz und Handeln im gesellschaftlichen Leben Bei der Frage der Toleranz ist in besonderem Maße darauf zu achten, ob außer der Toleranz innerer überzeugungen und Anschauungen und der Toleranz bei der höchstpersönlichen Lebensgestaltung (jeden nach seiner Fac;on selig werden lassen) auch so etwas wie Toleranz in den Bereichen möglich ist und gefordert werden kann, wo sich das aus bestimmten überzeugungen und Anschauungen motivierte Handeln nicht nur nebensächlich, sondern einschneidend auf Dritte auswirkt oder gar Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. Stuttgart 1966, S. 178 ff. la Eine bekannte Auswirkung dieses pluralistischen Geflechts ist die Suche nach entsprechend repräsentativen Abgeordneten (bzw. Kandidaten); einer soll z. B. SPD-Mann, Katholisch, Angestellter, Fußgänger und Nichtraucher sein, ein anderer CDU-Frau, evangelisch, Arbeiterin, Automobilistin usw. 11

2 Speyer 82

18

2. Toleranzbegriff und Toleranzmodelle

- wie bei der Umsetzung politischer Anschauungen in Gesetzgebung und Regierung - für das gesamte staatliche Leben bestimmend wird. Hier liegt der Prüfstein dafür, ob Toleranz möglich ist oder wie weit sie gehen kann und gehen soll. Die Geschichte der Interpretationsversuche soll hier nicht im einzelnen dargelegt werden. Im wesentlichen ist man sich darüber einig, daß ein Unterschied zu machen ist zwischen der Freiheit der Überzeugungen und Anschauungen - insoweit kann nahezu uneingeschränkte Toleranz herrschen - und der Freiheit, gemäß dieser Überzeugung im staatlichen und gesellschaftlichen Leben zu handeln - insofern gelten entscheidende Schranken, früher z. T. völlig repressive Schranken, heute sehr unscharf die "Schranken der allgemeinen Gesetze". Die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung belegen das recht deutlich: Man darf alles denken, aber ob man danach auch handeln darf, bestimmen die Gesetze, und sie verbieten es regelmäßig dann, wenn die Rechte anderer tangiert werden l4 • Die Rechtsordnung verlangt zwar nicht, wie es Lessing vorschlägt, den Verzicht auf die eigene Überzeugung, wohl aber den Verzicht auf das Handeln nach der eigenen Überzeugung, freilich nur, wo das Handeln sich in der Gesellschaft auswirkt und insbesondere die Rechte und Positionen Dritter beruhrt. Die ungestörte Religionsausübung in Form des Kultus wird uneingeschränkt gewährleistet und bleibt nicht wie früher auf das Recht der einfachen Hausandacht beschränkt. Ein Verbot der Totenehrung, wie es nach Sophokles Kreon der Antigone im Interesse der Staatsräson auferlegtelI, ist unter dem Grundgesetz nicht mehr denkbar. Aber sobald die Außenwirkung beginnt, wie etwa beim Läuten der Glocken oder bei der Demonstration auf der Straße, dann ist der Streit da und die Verbote beginnen, heute wie früher. Die Frage nach dem Begriff und den Modellen von Toleranz überschneidet sich insoweit - wie das Stichwort Pluralismus besser verdeutlicht - mit der Frage nach den Grenzen der Herrschaft (Einzeloder Mehrheitsherrschaft) im Staat und nach den Chancen von Minderheiten, Gruppen oder Individuen, entweder im Sinne der Kompromißaushandlung an den Entscheidungen sich beteiligen zu können oder aber "Freiräume" für eigenes Handeln und Gestalten zu bekommen. In 14 Vgl. bes. Art. 136 Abs.l WV: Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt 16 Sophokles, Antigone, bes. Verse 441 ff.

e) Trennung von Anhängern differenter Meinungen?

19

einem System, das tolerant genannt werden soll, muß zumindest in wichtigen Fragen ein hinreichendes Maß derartiger Chancen bestehen; es müssen aber sicherlich auch alle Gruppen und Individuen bereit sein, sich mit einem beachtlichen Maß an ihnen widerstrebender GeseIlschaftsgestaltung und an sie drückenden Pflichten abzufinden (Problem der Toleranzgrenze). Die Frage nach der Toleranz mündet an dieser Stelle in die allgemeine Frage nach dem sinnvollen Gleichgewicht zwischen der Freiheit des einzelnen und den Notwendigkeiten der öffentlichen Ordnung, die je nach den Beteiligten und den zu bewältigenden öffentlichen Aufgaben nach Raum und Zeit wohl immer unterschiedlich beantwortet wurde und wohl auch nur bezogen auf eine konkrete Situation voll beantwortet werden kann. e) Trennung von Anhängern differenter Meinungen?

Ein wichtiges, aber neuerdings häufig nicht genug beachtetes Grundproblem der Toleranz liegt darin, inwieweit die Anhänger einer Meinung innerhalb des Staates abgetrennten Raum für ihr Eigenleben beanspruchen können und inwieweit sie sich in das Gemeinschaftsleben und in Gemeinschaftseinrichtungen einfügen müssen mit der Folge, daß für die gemeinsame Pflege ihrer Anschauung praktisch keine Zeit oder kein Raum bleibti'. Soweit es um höchstpersönliche Dinge geht, mag die vermehrte Freizeit im modernen Staat zumindest in der zeitlichen Dimension einige gute Chancen eröffneni? Soweit es dagegen um Gruppen-Anschauungen geht, läßt bekanntlich die auf ein einheitliches Gemeinschafts- oder Gesellschaftsleben angelegte moderne Gesellschaft immer weniger Raum für "Sonder-"Anschauungen und Gruppen. Die immer einheitliche Erfassung aller in der einen Schule bildet den Anfang; das einheitliche Fernsehen für alle, die einheitlich konzipierte Stadt oder Gemeinde für alle, das einheitlich geformte Wirtschaftsleben für alle folgen; der Raum für ein besonderes Gruppenleben ist schmal geworden und seine Inanspruchnahme fordert, weil sie gegen den Trend der Zeit gerichtet ist (dazu unten), besondere Anstrengung auch bei an sich vorhandenem Interesse.

I' Die in etwas anderem Zusammenhang von Ernst FOTsthoff (Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971, S. 75 f.) beobachtete Schrumpfung des "beherrschten Lebensraumes" des Menschen betrifft durchaus auch den hier behandelten Bereich. 11 Inwieweit die faktischen Zwänge der heutigen Lebensform ein Anderssein des einzelnen ermöglichen, steht auf einem anderen Blatt, vgl. dazu unten unter 5 c.

20

2. Toleranzbegriff und Toleranzmodelle

Es fragt sich deshalb, ob unter der Devise Toleranz den Anhängern besonderer Anschauungen oder Lebensform ein Recht auf Absonderung bzw. auf einen abgesonderten Freiraum zugestanden werden muß und ob ein Staat, der dafür keinen Raum läßt, als intolerant bezeichnet werden kann. Bejaht man diese Frage, wozu der Verfasser neigt, so taucht allerdings die noch diffizilere Frage auf, ob der Staat bei der Sozialgestaltung positiv darauf sehen muß, sich regendem Interesse Raum zu schaffen, oder ob er unter geschickter Ausnützung des stillen Bündnisses der herrschenden Anschauung mit allen incli!ferenten Nichtdenkern und Mitläufern (deren es gar so viele gibt) dieses Interesse so abdrängen, isolieren und "verunsichern" darf, daß schließlich keine Forderung nach einem gesondertem Freiraum mehr aufkommt, sondern Resignation oder Vorsicht den Rückzug in ein stilles Ghetto nahelegen. Ergänzend mag nur an das Problem erinnert werden, ob der Staat dem Schwinden der Meinungspresse und überhaupt der Pressevielfalt weinenden (oder gar lachenden) Auges zusehen darf oder ob er positiv etwas tun muß, um die Pflege unterschiedlicher Ansichten in der Presse praktisch zu ermöglichen oder zu gewährleistenl8 •

18 Vgl. zu dem Problem, ob es ein Verfassungsgebot der Pressevielfalt gibt, statt vieler Joseph H. Kaiser, Presseplanung, Frankfurt a. M., 1972, S. 21 ff.

3. DIE VERWIRKLICHUNG DER TOLERANZ DURCH DAS GRUNDGESETZ Die Frage, inwieweit das Grundgesetz dem Prinzip der Toleranz huldigt und welches Modell ihm vorschwebt, ist, wie einleitend erwähnt, mangels einer eindeutigen Aussage nicht leicht auszumachen. Sicher ist aber jedenfalls, daß alle Anschauungen prinzipiell gleichberechtigt sind (Art. 3 GG) und eine Unterscheidung zwischen anerkannten und bloß geduldeten Religions- oder Anschauungsgruppen wie noch nach §§ 17 ff. bzw. §§ 20 ff. 11 11 ALR nicht mehr gemacht wird. Auf der anderen Seite ist die eher von der Weimarer Verfassung verwirklichte absolute Toleranz oder Liberalität gegenüber allen politischen Anschauungen deutlich eingeschränkt durch die bekannte Toleranzgrenze, wie sie in Art. 21 Abs.2 GG für die Parteien und in Art. 18 GG für Individuen zum Ausdruck kommt. Im übrigen regelt aber das Grundgesetz weder im Grundrechtsteil noch in den Staatsorganisationsvorschriften die Frage der Toleranz oder des Pluralismus; beide Begriffe tauchen weder direkt noch in Umschreibungen auf. In den Landesverfassungen ist es nicht anders, mit der einen, unten noch zu besprechenden Ausnahme der Schulartikel einiger Landesverfassungen, die den Grundsatz der Duldsamkeit für den Schulunterricht postulieren. Man ist daher gezwungen, aus den einschlägigen Grundrechten (insbesondere aus der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit, Art. 4 GG; der Meinungsfreiheit, Art. 5 GG und der Vereinigungsfreiheit, Art. 9 GG, aber auch aus Art. 2, 6, 7 GG) sowie den Kirchenartikeln l und aus den Grundbestimmungen über die Demokratie (Art. 20, 21, 38 GG) interpretierend zu entnehmen, wie Toleranz unter dem Grundgesetz zu verstehen ist. Eine umfassende Interpretation kann hier nicht vorgelegt werden, es sollen jedoch in der Reihenfolge der Gliederungspunkte des letzten Abschnitts einige Markierungspunkte herausgegriffen werden, die vielleicht geeignet sind, die Aussagen der Verfassung etwas deutlicher hervortreten zu lassen, als sie gemeinhin gesehen werden. I Meist wird das Toleranzgebot unter Art. 4 GG und nur dort eingeordnet, vgI. z. B. Maunz-DUng-Herzog, Rdnr. 20 t. zu Art. 4 GG (dagegen Rdnr.29, 34 usw. zu Art. 5 GG).

22

3. Die Verwirklichung der Toleranz durch das Grundgesetz a) Der Toleranzbegritf

Da der Toleranzbegriff im Grundgesetz nicht enthalten ist, kann es - man möchte sagen zum Glück - keine Begriffsinterpretation geben, die bekanntlich immer der Gefahr ausgesetzt ist, das erst ins Grundgesetz hineinzulesen, was man gerne herauslesen will. Leider zeigt das Grundgesetz aber auch in der Sache selbst auf weite Strecken ein keineswegs immer beredtes Schweigen. Was zunächst die Frage nach der Verhaltensweise der Bürger und Gruppen untereinander, also nach dem gegenseitigen Dulden und Ertragen betrifft, so kann dem Grundgesetz schon deshalb keine unmittelbare Aussage entnommen werden, weil es nach der Verfassung so gut wie keine Grundpflichtent gibt und weil die Grundrechte auch nicht auf dem Umweg über eine behauptete "Drittwirkung"a zu den Pflichten gegenüber anderen Bürgern deklariert werden können. Unter diesen Umständen kann aus der Gewährung der Glaubens-, tJberzeugungsund Meinungsäußerungsfreiheit an alle Bürger und der staatlichen Gewährleistung dieser Freiheiten (dazu im folgenden) durchaus geschlossen werden, daß es der Verfassung gleichgültig ist, ob die Bürger sich untereinander der Tugend der Toleranz befleißigen oder nur zähneknirschend die Freiheit des anderen hinnehmen. Andererseits war auch den Vätern des Grundgesetzes nicht unbekannt, daß ein demokratisches Gemeinwesen mit Mehrheitsherrschaft ohne einen hinreichend breiten Grundkonsens aller Beteiligten und ohne eine gewisse demokratische Gesinnung - die Toleranz einschließt - nicht bestehen kann4 ; allenfalls eine Diktatur kann unverträgliche Gruppen mit äußerem Zwang "friedlich" beisammenhalten. Gewiß hat das Grundgesetz aus der weisen Einsicht heraus, daß man Gesinnung und Tugend nicht erzwingen kann, auf pathetische Postulate wohl mit Recht verzichtet. Ob das Grundgesetz aber das, was einige Landesverfassungen als Erziehungsziel für die Jugend so deutlich herausstellen', nicht wenigstens als Ideal hätte postulieren sollen, bleibt doch sehr fraglich, zumal inVgl. Hans Hugo Klein, 'Ober Grundpflichten, Der Staat 1975, S. 153 ff. Statt vieler Maunz-DiLng-Herzog, Rdnr. 127 ff. zu Art. 1 Abs.3 GG. 4 So z. B. Ivo Frentzel und Kurt Biedenkopf in: Uwe Schultz, u. a., Toleranz, 1974, S.7 bzw. S.169; Gerd Joachim Sieger, Toleranz im Staat, Hannover 1965, S. 31. , Vgl. z. B. Art. 33 Verf. Rhl.-Pfalz (Erziehungsziele): Gottesfurcht, Nächstenliebe, Achtung, Duldsamkeit (!), Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit, Liebe zu Volk und Heimat ... , freie demokratische Gesinnung ... ; ähnlich Art. 56, Abs.4 Hess. Verf. t

I

a) Der Toleranzbegriff

28

folge der fast totalen Abstinenz des Verfassungstexes die Vorstellung des pluralistischen Staates im ganzen nur sehr vage und verschwommen im Grundgesetz sichtbar wird. Betrachtet man entsprechend den oben gegebenen Hinweisen die Frage der Toleranz im wesentlichen als ein Problem des Verhältnisses des Staates zu den Individuen oder Gruppen, die nicht der jeweils maßgeblichen Anschauung zuneigen, so sind auch in dieser Hinsicht die Aussagen des Grundgesetzes nur auf den ersten Blick präzise und eindeutig. Als eindeutig und klar könnte man nämlich die unbedingte und uneingeschränkte Gewährleistung der Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Weltanschauung in Art.4 GG betrachten, die angesichts der gleichzeitigen Abkehr von einer Staatskirche (Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 1 WV) oder anderen amtlichen Weltanschauung ein hohes und für alle Richtungen gleiches Maß an Toleranz anbieten will. Aber abgesehen von den sogleich zu behandelnden Schwierigkeiten ist damit allenfalls über die Komponente der Freiheit vom Staat, des Nichteinwirkens staatlicher Gewalt auf die Anschauungen, etwas ausgesagt, nichts oder fast nichts dagegen über die Einordnung der Weltanschauungen in das staatliche und soziale Leben. Wer die Grundrechte auch oder gar in erster Linie als Teilhaberrechte auffassen will·, müßte. eigentlich diesen Mangel besonders spüren. Mit Recht betont Roman Herzog?, daß die Festlegung des Toleranzgebots durch Art. 4 GG angesichts der Notwendigkeiten der Zusammenarbeit im modernen Staat nicht als Indifferenzgebot gegenüber den weltanschaulichen Gruppen verstanden werden kann. Der Staat kann vielmehr unter der Devise Toleranz gar nichts anders, als den verschiedenen Richtungen und Gruppen je nach ihrer Größe, ihrer Eigenart und ihren Zielen eine jeweils adäquate Stellung zuzuweisen', die durchaus verschieden ausfallen wird. Das Selbstverständnis der Gruppen kann kaum ganz außer Betracht bleiben, und bei der Gestaltung des öffentlichen Lebens und der öffentlichen Einrichtungen ist mit bloßer Toleranz im Sinne von Indifferenz nicht auszukommen, die nämlich in den Augen der großen • Es sei, ohne dies näher auszuführen, an dieser Stelle immerhin kurz vermerkt, daß die Teilhabelehre sich unausgesprochen immer an ganz bestimmten Grundrechten orientiert und beispielsweise auf Grundrechte wie Art. 4 GG so gut wie gar nicht paßt. 7 In: Maunz-Dürig-Herzog, Rdnr. 20,21 zu Art. 4 GG. , Mit Recht wird auch immer wieder darauf hingewiesen, daß das Grundgesetz selbst mit der Bezugnahme auf Gott in der Präambel der Verfassung (.. invocatio dei", vgl. Karl Doehring. Staatsrecht der Bundesrepubllk Deutschland, Frankfurt a. M. 1976, S. 41 ff.) das IndlfferenzprInzlp verlassen hat.

24

3. Die Verwirklichung der Toleranz durch das Grundgesetz

Konfessionen bereits als eine Form der Unterdrückung aufgefaßt würde (Bekämpfung durch Totschweigen) und zumindest auf eine Bevorzugung der Menschen ohne spezifische Anschauung hinausliefe. Die Achtung des Sonntags und der religiösen Feiertage (Art. 139 WV) und die Ermöglichung von Seelsorge "im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten und sonstigen öffentlichen Anstalten" (Art. 141 WV) beleuchtet beispielhaft die bestehenden Notwendigkeiten und Bedürfnisse. Es gibt aber, wie gesagt, in dieser Hinsicht in der Verfassung nur die genannten beispielhaften Regelungen, jedoch weder ein Gesamtkonzept noch eine halbwegs vollständige Kasuistik hinsichtlich der Einordnung der Weltanschauungsgruppen in das staatliche und soziale Leben. Was Toleranz unter Art. 4 GG tatsächlich bedeuten soll und bedeuten kann, ist damit von Verfassung wegen weitgehend offen. Die anderen Grundrechtsartikel und die staatsorganisatorischen Bestimmungen bieten eher noch weniger Klarheit. Ein klarer Toleranzbegriff oder ein konturenscharfes Toleranzmodell läßt sich, wie sogleich noch näher zu zeigen sein wird, dem Grundgesetz nicht entnehmen. b) Das Lessing'sche Modell

Angesichts des von Lessing geforderten Verzichts der Beteiligten auf den Glauben an die alleinige Richtigkeit ihrer Anschauung kann unter dem Grundgesetz das Lessing'sche Toleranz-Modell nicht zum Zuge kommen. Denn das Grundgesetz gewährt - und dies in Kenntnis der Existenz zahlreicher Religionen und Weltanschauungen mit Richtigkeitsüberzeugung - vor allem in Art. 4 GG das uneingeschränkte Recht auf eine feste, nicht relativierte überzeugung. Der Staat muß den einzelnen in seiner Überzeugung sogar schützen (Art. 1 Abs. 1 GG) und darf ihn nicht dazu anhalten, die Überzeugung von der Richtigkeit seiner Anschauungen mit Rücksicht auf die Bedenken seiner Umwelt aufzugeben oder einzuschränken. Es gibt auch nicht die Möglichkeit, Andersdenkende auf die innere oder äußere Emigration zu verweisen, die übrigens spätestens seit den dreißiger Jahren keineswegs mehr als beneficium betrachtet werden kann. Wenn aber der Staat den einzelnen nicht zur Aufgabe seiner Richtigkeitsüberzeugung zwingen darf, dann kann das auch der Mitbürger nicht, zumindest nicht mit Gewalt, solange dem Staat das Gewaltmonopol9 zusteht. • Vgl. dazu Detlef MeTten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, Tübingen 1975, der den Zusammenhang des Gewaltmonopols des Staates mit dem Toleranzprinzip kurz, aber treffend verdeutlicht (S. 51).

b) Das Lessing'sche Modell

25

Angesichts der eindeutigen Aussage des Art. 4 GG kann man nur mit Erstaunen feststellen, wie zähe sich die von Lessing inspirierte These gehalten hat, niemand dürfe nur seine eigene Ansicht für richtig halten. Entsprechende Andeutungen finden sich beispielsweise im KPDVerbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts wieder 1o• Das Bundesverwaltungsgericht gebrauchte jüngst in der Entscheidung zur Verfassungstreue der Beamten einige Formlierungen, die in diese Richtung deuten; es heißt dort in Anlehnung an frühere Entscheidungen, "das Bekenntnis" zur sozialistischen Revolution sei "durch Art. 4 Abs. 1 GG nicht gedeckt", denn dieses Grundrecht finde seine Schranken in der allgemeinden Wertordnung des Grundgesetzesll • Demgegenüber ist zu betonen, daß Art.4 GG im Gegensatz zu Art. 5 GG (der Meinungsäußerungsfreiheit) gerade nicht unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze steht. Die Überzeugung und das Bekenntnis sind heute ohne jede Einschränkung geschützt. Das läßt sich im übrigen auch aus dem vorbehaltlosen Schutz der klassischen Konfessionen herleiten. von denen bekannt war, daß sie von der ausschließlichen Richtigkeit der Kernthesen ihres Glaubens ausgehen. Dem Staat steht deshalb kein Mittel zur Verfügung, von den Anhängern einander unversöhnlich gegenüberstehender Anschauungen im Sinne des Ratschlags von Lessind eine Relativierung ihrer Überzeugung und einen darauf motivierten friedlichen Wetteifer zu fordern. Die daraus ersichtliche, relativ weitgehende Toleranz ist sicherlich durch einen Optimismus hinsichtlich des Grundkonsenses aller Demokraten begründet und wird im übrigen durch die sogleich zu behandelnde Einschränkung der Handlungsfreiheit in Ausübung der eigenen Überzeugung so erheblich eingeschränkt, daß von einer staats- oder gemeinschaftsgefährdenden Toleranz kaum gesprochen werden kann.

10 BVerfGE 5, 85 f'f. (S. 206 f.), freilich mit dem deutlichen Zusatz, daß es um die Frage der Durchsetzung der eigenen Ansichten im politischen Leben geht. 11 BVerwGE 47, S.330 (355), freilich unter Hervorhebung, daß der "theoretische Marxismus als weltanschauliches Bekenntnis" durch Art. 4 GG geschützt sei (Formulierung in Anlehnung an Maunz-Dürig-Herzog, Rdnr.67 zu Art. 4 GG); das ist indessen zu eng: auch das "Bekenntnis" (im Sinne von öffentlichem für-richtig-halten) zur Revolution fällt noch unter Art. 4 GG, und erst in der Stufe der Verwirklichung derartiger Gedanken beginnt die Problematik (s. unten).

26

3. Die Verwirklichung der Toleranz durch das Grundgesetz c) Toleranz und Parität

Daß die Verfassung alle Anschauungen gleich behandelt (Art. 4 GG, Art. 3 Abs.3, Art. 33 Abs. 3, Art. 140 GG), ist bereits mehrfach hervorgehoben worden. Man kann darin den Ausdruck einer Hinwendung zum Paritätsdenken anstelle von Indifferenz sehenu, doch ist auf der anderen Seite eine über Toleranz hinausgehende gesellschaftlich-staatliche Anerkennung im Sinne von institutionalisierter ParitätI;' nicht vorhanden oder allenfalls noch bei den großen Kirchen in einigen Sachbereichen spürbarl4 • Es ist deshalb sehr fraglich, ob man die gegebene weltanschauliche Gleichberechtigung als Verwirklichung eines ParitätsModells betrachten soll. Freilich besteht für den einfachen Gesetzgeber weitgehend die Möglichkeit, sich am Paritätsgedanken zu orientieren. Eine solche Orientierung scheitert aber über große Strecken daran, daß der Verfassungsgeber das ohen geschilderte pluralistische Gestrüpp sich überschneidender Einzel- und Gruppenanschauungen in keiner Weise geregelt oder in einen Ordnungsrahmen gefügt hat. Die Segnung der Glaubens- und Meinungsfreiheit wird ohne Unterschied nach Eigenart, Größe und Anschauungsbereich allen Individuen und Gruppen verliehen, aber nicht geregelt oder angedeutet, wie die gleichberechtigten Gruppen und Individuen im Rahmen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens kooperieren oder sich abgrenzen, teilhaben oder sich absondern, mitarbeiten oder sich zurückhalten sollen, müssen oder dürfen. Es mag sein, daß das Grundgesetz damit nur se-inem üblichen Duktus folgt, nicht Sachbereiche wie Kulturleben, Wirtschaftsleben UsW. organisch zu gestalten, sondern Grundrechte als Abwehr- und Freiheitsrechte additiv und mehr oder weniger beziehungslos nebeneinanderzustellen; jedenfalls wirkt sich der Mangel an Abstimmung der gegeneinander gerichteten Freiheits- und Wirkungsansprüche der Individuen und Anschauungsgruppen hier besonders aus. Wie man beispielsweise in der Schule oder im Kulturleben große Weltanschauungsgruppen und interessierte Individuen gleichbehandeln soll, wie man eigentlich Meinungsdifferente und Eiferer mit einem Maß messen kann und wie im Konfliktsfall die einzelnen und die So Herzog in Maunz-Dürig-Herzog, Rdnr. 22 zu Art. 4 GG. Vgl. Eisenhardt, a.a.O., (Anm. 10, 2. Abschnitt). 14 Vgl. Art. 137 Abs. 5 (Status als Körperschaften des öff. Rechts) und Abs. 6 WV (Steuererhebungsrecht). - Ausführlich zum Problem Peter Häber/e, "Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der vertaßten Gesellschaft, DöV 1976, S. 73 ff., bes. S. 79 f. 11

13

d) Toleranz und Handeln im gesellschaftlichen Leben

27

Gruppen zu behandeln hat, das alles wird hin und wieder punktuell vorgezeichnettS , ist aber nirgends umfassend oder beispielhaft mit der Möglichkeit der Verallgemeinerung geregelt worden. Die praktische Verwirklichung des Toleranz-Ideals ist, so könnte man sagen, offen gelassen. d) ToleTanz und Handeln im gesellschaftlichen Leben

Es ist bereits sichtbar geworden, daß die relativ weitgehEmde Gewährleistung von Toleranz im Sinne der Duldung aller Anschauungen im inneren Glaubens- und Meinungsbereich ("forum internum") unter dem Grundgesetz ausgeglichen wird durch eine fühlbare Beschneidung der Möglichkeiten, im Sozialleben nach der eigenen Überzeugung zu handeln ("forum externum"). Es läßt sich auch mit Ernst-Wolfgang BöckenföTde durchaus die Frage stellen, ob der Staat überhaupt zur Gewährleistung der Gewissensfreiheit im Sinne der Gewissensbetätigungsfreiheit in der Lage sei, ohne sich selbst, nämlich die Allgemeingültigkeit der Rechtsordnung, aufzugebenI•. Auf der anderen Seite hält gerade Böckenförde, und dies mit Recht. eine nur auf das forum internum beschränkte (Glaubens- und) Gewissensfreiheit für nicht sinnvoll und will sie nicht aus Art. 4 GG herauslesen17 • Aber es ergeben sich hier sehr enge Grenzen, die sicherlich weiter geöffnet werden könnten, wenn schon auf der Ebene des forum internum Einschränkungen zum Tragen kämen. Das Bestreben, Möglichkeiten der Lebensgestaltung und der Betätigung der eigenen überzeugung zu öffnen, kommt immerhin vielfach zum Ausdruck: Zunächst ist einzeln, im Familienbereich und in größerer Gemeinschaft die "ungestörte Religionsausübung" gestattet (Art. 4 Abs.2 GG), ein Recht, das zwar unmittelbar nur Kultus- und andere Symbolhandlungen umfaßtl8, im übrigen aber auf alle Anschauungen und Gruppen sinngemä~ erstreckbar ist und sich nahtlos an die Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 GG) anreiht. Das BVerfG hat die Freiheit der Religionsausübung in beachtenswerter, 11 Vgl. z. B. Art.7 Abs.3 GG: Religionsunterrricht an Schulen ist vorgesehen; die die weltanschauliche Bildung der "Nichtreligiösen" bleibt offen; Art. 136 Abs.4 WV: Vorrang der individuellen Glaubensfreiheit. 18 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, VVdStRL H. 28 (Berlin 1970), S.33f. 11 a.a.O., S. 50 ff. 18 Vgl. Maunz-Dürlg-HeTzog, Rdnr. 101 f. zu Art. 4 GG.

28

3. Die Verwirklichung der Toleranz durch das Grundgesetz

wenn auch nicht unproblematischer Weise auf die karitative Betätigung aus religiöser Motivation erstreckt und im konkreten Fall (Lumpensammlung) gewerbliche Interessen dahinter zurücktreten lassenI'. Diese Entscheidung verdient umso mehr Beachtung, als sie dem sonst allgemein praktizierten Vorrang der "allgemeinen Gesetze" (Art. 5 Abs.2 GG) bzw. der "bürgerlichen Rechte und Pflichten" (Art. 136 Abs. 1 WV) vor speziellen Betätigungen der Religionsausübung entgegentrit~; sie ist in dieser Form bisher einmalig geblieben. Man wird wohl annehmen müssen, daß Kirchen und Anschauungsgruppen nicht alle möglichen Arten von sozialer oder kultureller Betätigung auf diese Weise dem Staate abtrotzen können, daß aber umgekehrt - und darauf kommt es an - der Staat an geeigneter Stelle und besonders in traditionell verankerten Bereichen den Kirchen und Anschauungsgruppen Raum geben muß, um nach ihren Vorstellungen zu leben. Gelegenheiten wird es dazu immer geben, und Toleranz ist insoweit nicht nur eine Frage der gerechten Ordnung und klarer Prinzipien, sondern vor allem auch eine Frage des guten Willens und der Phantasietl • Freilich wird für den einzelnen und für Gruppen die Toleranzgrenze umso deutlicher spürbar, je mehr sich die weltanschaulich motivierte Handlungsweise im staatlichen und gesellschaftlichen Leben auswirkt und Dritte oder den Staat beeinträchtigt. Rechtlich kommt die damit angesprochene Toleranzgrenze, z. B. in Art. 18, ferner in Art. 9 Abs.2 und Art. 21 Abs. 2 GG zum Ausdruck. Danach können Parteien und Vereinigungen, die aktiv gegen die Verfassungsordnung ankämpfen, verboten werdenft • Zu nennen ist aber auch Art. 5 Abs. 2 GG, der die Freiheit der Meinungsäußerung nur in den Schranken der "allgemeinen Gesetze" schützt. Die Kernbestimmungen der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) enthält allerdings einen ähnlichen Vorbehalt nicht, und der Vorbehalt darf auch nicht einfach hinzugefügt werden, wie I' BVerfGE 24, S. 236 ff. (S. 245 ff.). 10 VgI. die Kritik von Herzog in Maunz-DiLrig-Herzog, Rdnr.1031104 zu Art. 4 GG. I1 Dieses Prinzip der phantasievollen Rücksichtnahme (freilich von beiden Seiten) ist sicherlich dem Herr-im-Hause-Prinzip vorzuziehen, welches beispielsweise den mit so viel Rechthaberei und Prinzipienreiterei geführten Kulturkampf unter Bismarck kennzeichnete. ft Die Pflege der Weltahschauung in GemeinsChaft stößt damit naturgemäß eher an die staatliche Toleranzgrenze als eine entsprechende Einzelbetätigung, vgI. BVerwGE 37, S~ 344 ff. (S. 359 ff.) - Bund für Gotterkenntnis, Ludendorff -.

d) Toleranz und Handeln im gesellschaftlichen Leben

29

bereits dargelegt wurde. Aber da es zur Effektuierung der Freiheit für alle irgendeiner Begrenzung oder Harmonisierung bedarf, kann auf die Herausarbeitung immanenter Schranken der Betätigung der Glaubensfreiheit im Wege der Verfassungsinterpretation nicht verzichtet werden, wenn man mit dem BVerfG die Freiheit der Religionsausübung bis in den sozialen Handlungsbereich erstreckt. Aber daß man nur im Rahmen der Gesetze nach seiner überzeugung handeln darf, ist noch nicht einmal alles. Der Staat nimmt auch das Recht in Anspruch, allgemeine Gemeinschaftspftichten zu statuieren und die Bürger auch gegen ihre Überzeugungen zum Handeln zu zwingen. Eine Ausnahme bildet das Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen (Art. 4 Abs.3 GG)ZS; jenseits dieser Ausnahme muß man sich den allgemeinen staatlichen Pflichten jedoch auch heute ohne Rücksicht auf die eigene Überzeugung fügen, beispielsweise der Schulpflicht, auf die noch zurückzukommen ist. Diese dargelegte Grenze der Toleranz, markiert durch sozial-relevantes Handeln, wirkt sich auf die verschiedenen Arten von Anschauungen und Überzeugungen sehr unterschiedlich aus. Wo es nur die Weltbeurteilung (Welt-Anschauung im engeren Sinne) oder um Fragen des persönlichen Lebensstils geht, drücken die Forderungen des Staates nicht allzu hart; hier gelingt es meistens, jeden nach seiner Fal;on selig werden zu lassen. Das Urteil des BVerfG, welches die Ablehnung einer Bluttransfusion aus überzeugungsgründen anerkennt24 , mag als Beleg dienen, ebenso das Urteil des BVerwG zur Ausnahme vom Bestattungszwang aus Gewissensgründen!5. Aber schon die klassischen Religionen und erst recht die neueren Anschauungen liberalistischer oder sozialistischer Art beschränken sich nicht auf Fragen der persönlichen Lebensgestaltung, sondern ziehen aus ihren Grundüberlegungen vor allem Folgerungen für das Handeln des einzelnen in Staat und Gesellschaft und darüber hinaus für die staatliche und gesellschaftliche Ordnung im ganzen. Indem nun der Staat Toleranz nur gegenüber der Überzeugung, nicht aber gegenüber den Folgerungen für das Sozialleben gewährt, zwingt er die engagierten Anhänger einer Anschauung fast zu einer Schizophrenie: Sie dürZS Zum Ausnahmecharakter dieser Vorschrift und ihrer Erträglichmachung durch "lästige Alternativen" vgl. BöckenföTde, a.a.O., S. 61 !f. 14 BVerfGE 32, S. 98!f. 15 DöV 1975, S. 392.

3. Die Verwirklichung der Toleranz durch das Grundgesetz

30

fen auf der einen Seite fest an ihre Sache glauben und dafür werben, müssen aber auf der anderen Seite tatenlos zusehen, wie man ihren Vorstellungen nicht folgt. Ich will durchaus anerkennen, daß in der damit geforderten Haltung so etwas wie menschliche Größe liegen kann, die den "wahrhaft toleranten" Menschen auszeichnet; man darf aber auf der anderen Seite nicht übersehen, daß die Rechtsordnung damit im allgemeinen eher den vorsichtigen, resignierenden oder gar den farblosen Menschentyp vor den engagierten und zum Handeln entschlossenen Menschen bevorzugt. Wenn aus diesem Grunde Wolfj, Moore und Marcuse gegen eine so verstandene Toleranz angehen-, sollte man das nicht von vornherein verurteilen, sondern anerkennen, daß diese genannten Begrenzungen für nicht wenige Menschen eine ernste Gewissensbelastung darstellen. Allerdings spricht Marcuse von "repressiver Toleranz", und darin sieht Sontheimer' nicht zu Unrecht eine contradictio in adiecto: Toleranz ist nicht repressiv, aber sie gibt niemandem ein Recht oder eine Chance, sich durchzusetzen. Wer das wie Marcuse und andere überzeugte Marxisten nicht ertragen kann, wird natürlich das System der Toleranz unerträglich finden. Aber was diese nicht voll durchdenken und näher ausmalen, ist die Alternative zum System der Toleranz, daß sich nämlich die reine und einzig richtige Lehre nur mit einem Maß an Gewalt durchsetzen läßt, die ein weit höheres Opfer an Humanität fordert als die Festlegung auf die Toleranz. Das Grundgesetz stellt sich bekanntlich derartiger Gewaltanwendung mit Entschiedenheit entgegen, wie Art. 18 GG - Verwirkung von Grundrechten -, Art. 21 Abs.2, Art. 9 Abs.2 GG - Partei- und Vereinigungsverbot - zeigen. Toleranz wird nur denen gewährt, die auch ihrerseits bereit sind, Toleranz zu üben . . Immerhin bleibt festzuhalten, daß die Toleranz vom engagierten und von sozialem Eifer erfaßten Menschen mehr verlangt als vom Zyniker, vom Gleichgültigen oder vom Skeptiker, um einige Formulierungen Peter von Oertzen's aufzugreifen". Sie verlangt wohl auch, darin stimme ich Dieter Lattmann zu, von der jüngeren, forscheren, handlungsentschlosseneren Generation mehr als von der älteren, abgeklärten, vielleicht schon resignierenden Generationa. Man kann durchaus mit a.a.O., bes. S. 45 ff., S. 91 ff. In: Schultz u. a.: Toleranz, a.8.0., S. 50. ft In: Schultz, u. a., Toleranz, 8.a.0., S.203. It Ebenfalls in Schul tz u. a., S. 1231. 11 17

e) Trennung von Anhängern differenter Meinungen?

31

Richard Reich fragen, ob Toleranz nicht ein Zeichen von Schwäche isfo, Schwäche nämlich insofern, als der Tolerante nicht die Kraft aufbringt, das für richtig Erkannte auch durchzusetzen. Doch die Einsicht, daß die mehr oder weniger gewaltsame oder überlistende Durchsetzung von Anschauungen gegen den Widerstand anderer nicht zu verantworten ist, wird man kaum als Schwäche betrachten dürfen, wiewohl sich hinter derart vorgeschobener Toleranz natürlich Schwäche und mangelndes Engagement verbergen können. Toleranz aus Einsicht kann jedoch durchaus auch als Zeichen von Stärke interpretiert werden. So behauptet das BVerwG im Verfassungstreue-Urteil" sicherlich nicht ohne Grund, daß nur ein starker, in sich gefestigter Staat tolerieren könne. Toleranz ist, um eine abschließende Definition zu versuchen, unter dem Grundgesetz die Tugend und die Notwendigkeit, sich mit einem anderen gesellschaftlichen Zustand abzufinden, als er der eigenen Überzeugung entspricht, soweit es nicht gelingt, diese mit den friedlichen Mitteln des Überzeugens und Gewinnens anderer durchzusetzen. Toleranz beinhaltet folglich für jeden, der das ohne Ergebnis versucht hat, ein entscheidendes Mißerfolgserlebnis. Insofern ist Toleranz nichts Bequemes; sie fordert etwas, vor allem von dem, dessen Anschauungen sich gerade und in erster Linie auf die Herbeiführung eines bestimmten gesellschaftlichen Zustands beziehen. e) Trennung von Anhängern differenter Meinungen?

Das Grundgesetz hat zu dem im Rahmen der Toleranz wichtigen Problem der Separation oder des Freiraums von Gruppen mit unterschiedlicher bzw. vom herrschenden Trend abweichender Anschauung kaum Stellung bezogen. Das früher übliche System der Konfessionsschulen, das wohl als signifikantester Ausdruck getrennter Pflege von Weltanschauungen dienen kann, ist nur in einzelnen Landesverfassungen verankert gewesen und inzwischen so gut wie ganz verschwunden; die Entscheidung des BVerfG, wonach Gemeinschaftsschulen "bei Beachtung des Toleranzgebots" nicht gegen die Verfassung verstoßenft , Politische Toleranz, Berlin 1965, S. 18 f. BVerwGE 47, S.330 (350). - Wenn es dort allerdings weiter heißt, die Stärke des Staates Bundesrepublik Deutschland bestimme sich an der Verfassungstreue seiner Beamten, so ist das - hoffentlich - etwas einseitig, denn in der Demokratie sollte die Verfassungstreue aller Bürger die Stärke des Gemeinwesens ausmachen. 10 31

82

3. Die Verwirklichung der Toleranz durch das Grundgesetz

bildet wohl den Abschluß einer Entwicklung, die hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden soll. Der gleiche Abbau konfessioneller Sondierung ist - insoweit freilich überwiegend ohne staatlichen Zwang&' - im Vereinswesen und auf kulturellem Gebiet seit langem zu beobachten. Eine Trennung gibt es nur noch im engeren kirchlichen Bereich und - z. T. eher zunehmend - im politischen und vorpolitischen Bereich, wo sich die Anhänger der verschiedenen "Blöcke" ein größeres Eigenleben geschaffen haben als früher. In allen öffentlichen Einrichtungen ist jedoch das Prinzip der Separierung nicht (mehr) anzutreffen, und die Frage, ob dieses Prinzip allgemein oder je nach der Sachlage mit dem Grundgesetz vereinbar wäre, wird kaum noch gestellt. In der Idee der Gesamtschule ("kompensatorische Erziehung"), im Bestreben nach "sozialer Mischung" im Rahmen der Stadtplanung und im Kampf gegen Standes-"Privilegien" macht sich sogar ein verbreiteter, auf Egalität und Nivellierung zielender Trend bemerkbar, dem das Grundgesetz, wie man beobachten kann, höchstens punktuell Hemmnisse in den Weg legt. Wie schwer es in einem solchen gesellschaftlichen System Minderheitsgruppen oder gar einzelne Andersdenkende haben, beleuchtet recht gut der vor Jahren viel diskutierte hessische SchulgebetsfallM , in dem das Gericht der Mehrheit das Gebet verbot, um den Dissidenten die Nicht-Offenbarung ihrer Ansicht zu ermöglichen. Würde mit umgekehrten .Vorzeichen heute so verfahren werden müssen, wäre die kompensatorische Erziehung längst in der Sackgasse. Entscheidend ist für den Verfassungsrechtier, ob es gegebenenfalls einen Anspruch einer Gruppe oder eines einzelnen auf freien Raum, auf Separation zur Pflege und Betätigung der besonderen Anschauungen und Interessen gibt. Man wird bislang kaum mehr als Art. 2 GG (Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit) ins Feld führen können, ein Recht also, das unter dem Vorbehalt der gesamten öffentlichen Ordnung steht und nach dem bisherigen Stand der Rechtslehre und Rechtsprechung beispielsweise keinen Anspruch auf Ausnahme von der Schulpflicht für den einzelnen oder auf Einräumung eines gesonderten Theaters, gesonderten Rundfunks oder gesonderten Friedhofs für Grup• BVerfG NJW 1976, S. 947 ff. mit einigen Nachweisen aus der langjährigen Entwicklung. a Es gab gelegentlich auch Druck. z. B. durch Verweigerung der Förderung konfessionell gebundener Sportvereine. M Hess. StGH in ESVGH 16, S.l ff.

e) Trennung von Anhängern differenter Meinungen?

33

pen begründen würde. Für Gruppen gewährt immerhin Art. 9 GG das Recht auf Zusammenschluß zu einer Vereinigung, worin aber kein Anspruch auf bestimmte Betätigungsmöglichkeiten enthalten ist35• Im übrigen bleibt nur die Chance, die de facto sich aus der Vermehrung von Freiheit ergebenden Möglichkeiten und allgemeine Freiheitsgarantien zu nutzen; ein spezifisches Recht auf Separierung gibt es nicht3e• Diese im Augenblick vielleicht etwas weit hergeholt erscheinende Frage kann möglicherweise bald für einen Personenkreis von Bedeutung werden, der bisher nicht genannt wurde, obwohl er unter dem Toleranz-Aspekt von interessanter Bedeutung ist, die Gastarbeiter. Wie wird sich der Staat stellen, wenn etwa die Spanier oder Türken eigene Schulen, eigene Kulturstätten37 , eigene politische Vereine fordern? Die bisher im Vordergrund stehende Parole der " Integration " der ausländischen Arbeitnehmer scheint mehr ein Anliegen gewisser deutscher Kreise als der Ausländer selbst zu sein, oder jedenfalls verstehen viele Ausländer darunter nur rechtliche Gleichstellung und nicht kulturelle "Integration"M. Das geschilderte weitgehende Fehlen entsprechender Verfassungsansprüche kann leicht zu einem Problem und zu einem Prüfstein für die Toleranz in Deutschland werden.

lI5 Anders nur bei Art. 9 Abs.3 GG, der insofern eine weitergehende Gewährleistung enthält; hier wird übereinstimmend in den Grundgesetz-Kommentaren betont, daß im Gegensatz zu Abs.1 die speZifischen koalitionsgemäßen Betätigungen von Abs.3 umfaßt werden. Vgl. dazu Schmidt-Bleibtreu I Klein, Art. 9, Rdnr.4; Bonner Kommentar, Art.9, Rdnr. 139 ff.; Leibholz-Rinck, Art. 9, Rdnr. 7 ff.; Maunz-Dürig-Herzog, Art. 9, Rdnr. 106 ff. M Beispielsweise sicher nicht auf besondere Stadtviertel für Anhänger einer besonderen Wohn- und Lebensfonn, vgl. unten unter 5 b. 37 Das Zugeständnis eigener Rundfunksendungen, wie sie bestehen, ist wohl eher als Servive-Angebot aufzufassen und nicht mit anderen Einrichtungen ohne weiteres vergleichbar. 88 Vgl. die ausführliche Studie von Peter Rothammer u. a. zur "Integration ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien im Städtevergleich", DIFUGutachten, Berlin 1974, die "Integration" definiert als "Schaffung und Durchsetzung gleichrangiger Teilnahmechancen bei der Versorgung mit Gütern und DiensUeistungen der sozialen Infrastruktur" (S. 5); mehr nicht!

3 Speyer 62

4. TOLERANZ UND DEMOKRATISCHER STAAT In einem System der Toleranz oder des Pluralismus kommt, wie gesagt, der Rolle des Staates als obrigkeitlicher Ordnungsrnacht und Gestalter des Soziallebens besondere Bedeutung zu. Es ist bisher zu wenig beachtet worden, daß der demokratische Staat mit dieser Rolle möglicherweise mehr Schwierigkeiten hat als ein monarchischer Nachtwächterstaat, in welchem der Fürst, gleichsam außerhalb der Gesellschaft stehend, den verschiedenen Gruppen und Individuen im Staat bei gutem Willen leicht neutral und ausgleichend gegenübertreten kann. Der moderne Staat mit seiner umfassenden Ordnungs- und Leistungsapparatur und mit der aus dem Demokratieprinzip folgenden Mehrheitsherrschaft unterliegt in dieser Hinsicht wesentlich anderen Bedingungen, denen nunmehr Aufmerksamkeit geschenkt werden soll.

a) Zur "Neutralität" des Staates Es kann also communis opinio gelten, daß aus dem Toleranzprinzip bzw. dem Pluralismus die Pflicht des Staates folgt, sich im Streit der Meinungen und Anschauungen "neutral" zu verhaltenI. Aber damit ist noch nicht viel ausgesagt; entscheidend kommt es darauf an, was "Neutralität" jenseits des allgemein anerkannten Gebots der "Nichtidentifikation"! im Spektrum zwischen Indifferenz und paritätischer Berücksichtigung aller Gruppen bedeuten so1l3. Wie kann der Staat neutral sein, der die für alle verbindliche Sozial- und Wirtschaftsordnung festlegt, durchsetzt und garantiert? Die Festlegung einer bestimmten Ordnung widerspricht doch völlig der Forderung an den Staat, sich im Streit der Meinungen und Überzeugungen neutral zu verhalten. Wie steht es also mit der Neutralitätspflicht des Staates? Expressis verbis ist sie nur punktuell, z. B. in Form des Verbots einer Staatskirche (Art. 137 Abs. 1 WV) verankert, womit wenig geholfen ist, und I Vgl. dazu ausführlich Klaus Schlaieh, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tüblngen 1972, S. 1 ff. (S. 5). I Vgl. Herbert Krüger, a.a.O. (Anm. 12, 2. Abschnitt). a So fragt mit Recht Schlaich, a.a.O., S. 25.

a) Zur "Neutralität" des Staates

35

sie kommt beispielsweise in Art. 56 Abs.3 der Hess. Verfassung zum Ausdruck, wo es heißt: "Grundsatz jeden Unterrichts muß die Duldsamkeit (!) sein. Der Lehrer hat in jedem Fach auf die religiösen und weltanschaulichen Empfindungen aller Schüler Rücksicht zu nehmen und die religiösen und weltanschaulichen Auffassungen sachlich darzulegen". Hier ist deutlich nicht von Indilferenz, sondern von Rücksichtnahme die Rede.

Im übrigen kann aber nur aus den Grundrechten und aus der Freiheit der Parteigründung auf eine gewisse Neutralitätspflicht des Staates geschlossen werden. Diese reicht dann aber nur so weit, wie diese Freiheitsverbürgungen gehen, bezieht sich also nur auf die Überzeugungs- und Bekenntnisfreiheit, nicht aber auf die Sphäre der Gestaltung des Wirtschafts- und Soziallebens. Folgerichtig hat das BVerfG seit der Investitionshilfeentscheidungt immer wieder betont, daß sich das Grundgesetz auf kein Wirtschaftssystem festgelegt habe und daß - hierauf kommt es an - der Gesetzgeber im Rahmen der Grundrechte frei ist, wie er die Wirtschaftsordnung gestalten will. Es gibt hier keine Neutralitätspflicht; auch keine Rücksichtnahmepflicht wie nach dem zitierten Hessischen Schulartikel. Mit anderen Worten: Der Gesetzgeber darf sich doch mit einer Anschauung identifizieren und daraus sein Modell bilden und verwirklichen, solange er nur die - vielfach nicht sehr ergiebigen - Grundrechte beachtet. Anders verhält es sich in den Fragen der persönlichen Lebensgestaltung; hier muß der Gesetzgeber nach dem BVerfG "das Recht so normieren, daß es den Bürgern die Freiheit läßt, bei der Gestaltung ihres Ehe- und Familienlebens ihren religiösen und weltanschaulichen Verpflichtungen mit allen Konsequenzen nachzuleben"5. Vor allem auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Soziallebens ist also die Idee vom rein neutralen Staat oder gar "Nachtwächter"Staat seit langem antiquiert. Der Staat treibt nicht erst seit jüngster Zeit aktive Sozial- und Wirtschaftspolitik und er mußte sie betreiben. In den Fragen der Vermögensumverteilung, des Schutzes der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber, der Wirtschaftsverfassung, der Mitbestimmung mußte der Staat Farbe bekennen. Er kann günstigstenfalls eine Mittelmeinung finden, die allen Anschauungen teilweise gerecht 4 BVerfGE 4, S. 7 ff.; später insbesondere BVerfGE 12, S. 345 ff. VWPrivatisierung -. 5 BVerfGE 10, S. 59 (85) zur Gleichberechtigung. Folgerichtig steht dIe Pflege der Nacktkultur in der Familie und die Erziehung in dieser RIchtung unter dem Schutz der Verfassung, BVerfGE 7, S. 320 ff.

36

4. Toleranz und demokratischer Staat

wird, er muß das aber nicht. Eine Pflicht, sich möglichst um ein Nebeneinander verschiedener Anschauungen zu bemühen, indem z. B. mitbestimmte und nicht mitbestimmte Unternehmen nebeneinander belassen werden (im Sinne Lessings könnte sich ja erweisen, wo hier der wahre Ring liegt), eine solche Pflicht des Gesetzgebers ist, soweit man sehen kann, zumindest als verfassungsrechtliche Pflicht von niemandem behauptet worden. Es ist allgemeine Ansicht, daß der Gesetzgeber ein Modell für alle verwirklichen darf. Und der Gesetzgeber muß zum Wohle aller aktiv werden; auch wenn es ausgeschlossen ist, allen völlig Recht zu geben, darf er sich nicht auf Neutralität im Sinne von Untätigkeit zurückziehen. Es läßt sich indessen sehr wohl die Frage stellen, ob dieser äußerst breite Handlungsspielraum des Gesetzgebers bei der Sozialgestaltung (keine Rücksichtnahmepflicht auf die verschiedenen Anschauungen) es noch rechtfertigt, von einem System der Toleranz zu sprechen, oder ob nicht im Zeitalter gestiegener Abhängigkeit des einzelnen vom Staat und seinen Leistungen dieses System eher einen Hang zur Intoleranz oder möglichen Intoleranz in sich trägt. Es fragt sich, ob die Möglichkeiten zur Rücksichtnahme nicht stärker ausgeschöpft werden müßten, um die latente Gefahr einer intoleranten Nivellierung zu bannen. Der Gesetzgeber kann nämlich seinen weiten Spielraum sehr verschieden nutzen: Er kann sich einseitig auf eine Richtung festlegen, er kann sich aber auch zu Interessenausgleich oder organisiertem Nebeneinander im Sinne von Toleranz entschließen. Welche Linie der Gesetzgeber einschlägt, hängt sicherlich zum großen Teil davon ab, wie "der Gesetzgeber" oder das Gesetzgebungsorgan verfaßt ist, und von welchen Verhaltensweisen und Anschauungen das Gesetzgebungsorgan beherrscht ist.

b) Demokratie und Toleranz Mit den letzten Bemerkungen ist die Frage des Verhältnisses von Demokratie und Toleranz aufgeworfen. Heutiger Gesetzgeber ist das vom Volke gewählte Parlament mit seiner Mehrheit und seiner Minderheit; er repräsentiert das in der Wahl zum Ausdruck gekommene Meinungsbild des Volkes, das sich nach dem Grundprinzip der Demokratie selbst regieren soll. Seit es nicht mehr Zufallsmehrheiten, sondern fest gefügte Parteien mit langfristiger politischer Arbeit gibt, läuft dieses demokratische System bekanntlich auf die Herrschaft der Partei oder Koalition hinaus, die die letzte Wahl gewonnen hat. Tendiert nun

b)

Demokratie und Toleranz

87

diese Mehrheit und tendiert die so konstruierte Demokratie zur Toleranz? Man kann zwar öfter lesen', daß die Toleranz die unverzichtbare Tugend und die Grundvoraussetzung der pluralistischen DemokTatie sei, ob aber die demokratische Staatsform diese ihre Voraussetzung fördert und sichert, ist eine ganz andere Frage. Offenbar besteht vielfach die Vorstellung, die Monarchie als die der Demokratie entgegengesetzte Staatsform sei, weil auf der Herrschaft einer kleinen Gruppe beruhend, von Natur aus toleranzfeindlich, während die Demokratie auf breite Zustimmung angelegt und damit toleranzfreundlich sei. Eine solche These ist, wenn man unter Monarchie auch die äußerst intoleranten neueren Diktaturen nationaler und kommunistischer Prägung begreift, vollauf gerechtfertigt. Aber auch wenn man die klassische, nicht diktatorische Monarchie ins Auge faßt, mag die These auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte in der Neuzeit verständlich erscheinen; insbesondere ist einzusehen, daß diejenigen, die im Kaiserreich in der Opposition standen und erst in der Demokratie zum Zuge kamen, solchem Denken huldigen. Die neuere Entwicklung läßt indessen ernsthafte Zweifel aufkommen, ob die Demokratie ihrer Natur und Struktur nach wirklich so toleranzfreundlich ist, wie man gemeinhin denkt. Man sollte statt allgemeiner Erwägungen über Herrschende und Beherrschte oder über Mehrheit und Minderheit vor allem auf das Problem der Toleranzverwirklichung durch Neutralität der Staatsgewalt im Blick behalten. Es wird zu wenig beachtet, daß die Neutralitätsthese eine typisch monarchische Position gewesen ist, die mit der Entwicklung des Souveränitätsanspruches in engem Zusammenhang steht. Der Monarch stellte sich gleichsam außerhalb des Meinungskampfes (oder versuchte das) und setzte die Staatsgewalt als eine Art neutrale Friedensrnacht zur Garantie des inneren Friedens zwischen den konkurrierenden Anschauungen ein. In der Tat kann ein Monarch, der nicht auf das Mehrheitsvotum angewiesen ist, bei gutem Willen ein ausgleichendes Element zwischen den verschiedenen Gruppen bilden. Nun wird allerdings nicht zu Unrecht eingewendet, daß es der Monarchie in Deutschland und anderswo weitgehend an diesem guten Willen gefehlt habe. Statt z. B. den Anhängern aller Religionen die Koexistenz zu sichern, wurde allzu lange nach dem Grundsatz "cuius regio, eius religio" verfahren, nämlich bis in das 19. Jahrhundert, und im Bereich des Wirtschafts- und Soziallebens läßt sich die Haltung der • Vgl. die Nachweise in Anm.32.

38

4. Toleranz und demokratischer Staat

Monarchie im 19. Jahrhundert wohl auch kaum mit dem Terminus "Neutralität" voll erfassen. Angesichts dieser Erfahrungen ist es nur natürlich, daß man sich von der Demokratie mehr versprach und mehr verspricht. Und Erfolge der Demokratie auf diesem Feld konnten in der Tat verbucht werden, allerdings immer am meisten unmittelbar nach dem überwinden der Monarchie bzw. der Diktatur des Dritten Reiches. Aber man darf nicht übersehen, daß in der Demokratie, verstanden als Herrschaft des Volkes nach dem Mehrheitsprinzip, ein Prinzip allseitiger Toleranz unmittelbar nicht enthalten ist und daß - darauf komt es an - die von der Mehrheit getragene Staatsgewalt im Prinzip nicht Neutralität, sondern die Verwirklichung der Vorstellungen der Mehrheit im Auge hat und nach dem System der Verfassung im Auge haben soll. Und wer will es einer Mehrheit, die nach hartem Wahlkampf an die Macht gekommen ist, eigentlich verdenken, daß sie nun nicht sogleich ihre Rolle wechselt und "neutral" wird, sondern das sie ihr Programm verwirklicht? Im übrigen verwendet das Grundgesetz den gleichen Terminus Gewissen, der in Art. 4 über die Gewissensfreiheit das Toleranzprinzip begründet, bemerkenswerterweise auch Art. 38: Die Abgeordneten, die im Namen des Volkes die Herrschaft ausüben, sind "nur ihrem Gewissen unterworfen". Damit ist nicht nur das freie Mandat verankert, sondern zugleich ausgedrückt, daß sich die Abgeordneten (auch als Vertreter des ganzen Volkes, wie es so wohlklingend heißt) nicht an einer Neutralitätsvorstellung, sondern an ihrem Gewissen, also ihrer persönlichen Anschauung zu orientieren haben. Irgendeine Verpflichtung, auch die Vorstellungen anderer zwecks Korrektur der eigenen Gewissensentscheidung zu berücksichtigen, gibt es de jure nicht. Die Minderheit ist also auf den guten Willen der Mehrheit angewiesen. Die Minderheit hat die Herrschaft der Mehrheit loyal zu akzeptieren, aber man kann ihr das, wie Böckenförde schreibt, nur zumuten, wenn sich die herrschende Gruppe nicht "absolut setzt", "sondern" auch dem Gegner die Chance der Machtgewinnung beläße. Aber was heißt dieses "absolut setzen"? Böckenförde verlangt a. a. O. eine "echte Bereitschaft zum Komprorniß", die aber weder vom Grundgesetz gefordert noch im Rahmen der Demokratievorstellungen allgemein anerkannt ist. Die Chance der Machtgewinnung durch die Oppo7 Ernst Wollgang Böckenlörde, Das Ethos der modernen Demokratie und Kirche, in: Hochland, 50. Jg. 1957/58, S.4 (9).

b) Demokratie und Toleranz

89

sition hat in den klassischen Demokratien bisher leidlich für eine Mäßigung gesorgt, ob sie aber einer abgegrenzten Minderheit im Streit mit einer geschlossenen Mehrheit etwas nützt, ist eine andere Frage. Damit ist aber die Demokratie, wenn sie nicht in Willkürherrschaft ausarten soll, auf eine weitgehende soziale Homogenität angewiesen oder sie braucht wenigstens einen breiten "Grundkonsens aller Demokraten", wie man es heute ausdrückt. Es herrscht soviel Toleranz, wie dieser Grundkonsens an Toleranz und Rücksichtnahme auf die Gestaltungsvorstellungen anderer einschließt. Bekanntlich hat schon Rousseau diese Homogenität der demokratischen Basis als Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie deutlich herausgestellt'. Wenn diese Homogenität in Gefahr gerät (wie in den letzten Jahren), tut sich auch die Demokratie schwer, und es fügt sich beinahe logisch an, daß die Demokratie den erklärten und gegen sie kämpfenden Systemgegnern keine Toleranz gewähren kann (vgl. Art. 9 Abs. 2, Art. 21 Abs.2 GG). Aber auch innerhalb des Kreises der Demokraten ist die Demokratie auf einen entsprechend hohen Grundkonsens angewiesen, wenn die Minderheit die Herrschaft der Mehrheit nicht als intolerant und unerträglich empfinden soll. Man wird vermuten dürfen, daß der geschilderte Trend zur einheitlichen Lebensgestaltung unter Zurückdrängung des Eigenlebens von Sonderanschauungen, wie er zu beobachten ist, mit dem Demokratieprinzip in enger Beziehung steht, vielleicht die Demokratie ermöglicht und stabilisiert, jedenfalls aber das geschilderte Manko an Neigung zur Toleranz angenehm in den Hintergrund treten läßt. Ob die Demokratie auch so angelegt werden kann, daß sie ein harmonisches Zusammenleben äußerst unterschiedlicher Volks- oder Anschauungsgruppen auf längere Sicht ermöglicht, müßte wohl erst noch geprüft werden.

Im übrigen dürfte die Erwartung des Verfassungsgebers, die Mehrheit und die Minderheit würden sich tolerant oder kooperativ verhalten, ihre Ursache in der erwähnten komplex-pluralistischen Struktur der Gesellschaft haben. Denn um eine große Partei und schließlich eine Mehrheit zu bilden, dazu bedarf es in der heutigen Demokratie der Gewinnung breiter Volksschichten, der Rücksichtnahme auf so viele Gruppen, Anschauungen und Interessen, daß sich am Ende selten eine einseitige Sondermeinung, sondern regelmäßig eine ausgeglichene Mittelmeinung als Mehrheitsstandpunkt durchsetzt. In der Bundesrepublik war auch tatsächlich lange Zeit ein derartiger Prozeß des e Jean Jacques

Rousseau, Du Contrat Social, zuerst 1762, 3. Buch, 4. Kapitel.

40

4. Toleranz und demokratischer Staat

Abschleifens einseitiger Vorstellungen zugunsten eines Kompromißprogramms zu beobachten, vor allem in den großen Parteien. Es kam die bekannte Entideologisierung der Parteien hinzu; man sprach nicht selten davon, daß die Programme der großen Parteien kaum noch zu unterscheiden seien. Diese Entwicklung hat gewiß ihre Nachteile gehabt, die ich nicht verkennen will; sie hatte aber in Bezug auf die Toleranzverwirklichung beachtliche Vorteile, indem sie nämlich die Berücksichtigung, wenn nicht gar Integration aller wichtigeren Interessen und Anschauungen in die politische Praxis bewirkte, allerdings um den nicht abzustreitenden Preis einer gewissen Beharrung und Innovationsfeindlichkeit. Vor einigen Jahren hat sich die Lage allerdings merklich geändert. Die kooperative Demokratie hat vielfach der konfrontativen Demokratie Platz gemacht: Man suchte wieder die Profilierung statt des Kompromisses; es bürgerte sich ein, auch knappe Mehrheiten voll auszuschöpfen. Hier soll dieser - übrigens keineswegs überall zu beobachtenden und bereits wieder abklingenden - Entwicklung trotz ihrer Bedeutung für das Toleranzprinzip nicht in aller Breite nachgegangen werden, doch erscheinen einige Bemerkungen zur Auswirkung dieser Tendenz nützlich. Vor allem in der örtlichen Demokratie, der kommunalen Selbstverwaltung, war es früher üblich, Mehrheiten nur sehr vorsichtig auszuspielen und alle maßgeblichen Kräfte an den Entscheidungsprozessen und an den leitenden Ämtern zu beteiligen9 • Man neigte dazu, dem anderen gar nicht erst Anträge und Vorstellungen zu präsentieren, die dieser als unerträglich und als intolerant empfinden könnte. Vielfach kam das darin zum Ausdruck, daß man in wichtigen Fragen Kompromisse schloß und im Gemeinderat einstimmig entschied. Das ist nun vielerorts anders geworden und es sind Bestrebungen zu beobachten, die Kommunalverfassung in Richtung auf ein "Stadtregierungsmodell" zu ändern: Die leitenden Beamten sollen richtungsgebunden und nur für die Wahlperiode des Gemeinderats bestellt werden 10• Es bestehen erhebliche Zweifel, ob die damit erstrebte Polarisierung der Selbstverwaltung und der Demokratie insgesamt wirklich förderlich ist. Die Bedenken verstärken sich, wenn zu hören ist, das traditionelle System des Kompromisses und der Einstimmigkeit führe zur Verschleierung gesellschaftlicher Konflikte, während es doch oberstes politisches Ziel sei, Konflikte transparent zu ma9

'0

Vgl. vorn die Nachweise und Bemerkungen in Anm.6, 1. Abschnitt. Vgl. dazu BOTchmann, a.a.O. (Anm.6).

c) Toleranz und Staatsapparat (Verwaltung)

41

chen. Aber gerade in der engeren örtlichen Gemeinschaft kommt es im Interesse guten Zusammenlebens darauf an, nicht Konflikte hervorzuheben oder gar zu maximieren, sondern Konflikte zu lösen, zu vermeiden oder auch beiseite zu drängen, wo es anders nicht geht. Gewiß bestimmt die Mehrheit, aber in der Stadt und der Gemeinde ist es lebenswichtig, daß sich auch die Minderheit wohlfühlt und nicht nur knurrend der Mehrheit beugt. Die traditionelle Methode des Vorgehens scheint mir deshalb den Notwendigkeiten der Tolera~z besser Rechnung zu tragen als die Konfliktstrategie. Damit soll nicht behauptet werden, daß Komprorniß und Toleranz das Gleiche sind. Aber man muß den Zusammenhang zwischen demokratischem Entscheidungsprozeß und Toleranz sehen und die notwendigen Folgerungen überdenken. Toleranz fordert eben in einem modernen Gemeinwesen mit allgemein verbindlicher Wirtschafts- und Sozialordnung die möglichst weitgehende Berücksichtigung aller Interessen und Anschauungen mit dem Ziel gesellschaftlicher Integration, und das bedeutet in der Regel die Erarbeitung eines konstruktiven und tragfähigen Kompromisses. Mit bloßer Neutralität, wie sie dem klassischen Toleranzmodell gegenüber Konfessionen entspricht, ist dem praktischen Problemen meist nicht beizukommen. Toleranz erfordert deshalb, wie schon betont wurde, nicht nur guten Willen, sondern auch konstruktive Phantasie und Klugheit, wenn sie nicht über farblose Kompromisse in öde Nivellierung oder Immobilismus abgleiten soll. Den Stellenwert von Phantasie und Staatsklugheit haben aber manche Monarchen besser erkannt als viele heutige Demokraten, die so gern auf das Willensmoment pochen. Toleranz ist die Kunst der Gestaltung des Soziallebens trotz unterschiedlicher Anschauungen; sie läßt sich, wie es Celsus für das Recht getan hat, als "ars aequi et boni" definieren. c) Toleranz und Staatsapparat (Verwaltung)

Bisher wurde viel vom Gesetzgeber und wenig von der Verwaltung gesprochen. Das hat seinen Grund darin, daß nach dem Grundgesetz für die Verwaltung andere Prinzipien maßgebend sind als für das Parlament. Im Bereich der Verwalt~ng ist es zweckmäßig, nicht so sehr nach der Rolle "der Verwaltung" unter dem Toleranzgebot zu fragen, sondern nach der Rolle und der Aufgabe des einzelnen Beamten, der im Einzelfall die Verwaltung zu repräsentieren hat und an dessen Ver-

42

4.

Toleranz und demokratischer Staat

halten der betroffene Bürger ermessen wird, ob Toleranz herrscht oder nicht. Auf den ersten Blick scheint die Verfassung das Problem durch die Diskriminierungsverbote des Art. 3 GG hinreichend gelöst zu haben; der dem Gesetz unterworfene Beamte hat ohne Ansehen der Person und der Anschauung des Betroffenen zu entscheiden. Für die weltanschauliche Toleranz scheint es aufgrund dieser Festlegung und der sich daraus ergebenden Neutralitätspfticht auch tatsächlich nur selten Probleme zu geben l1 • Umso häufiger stellt sich heute die Frage der parteipolitischen Neutralität der Beamtenl l • Zwar gilt der berühmte Satz der Weimarer Verfassung (Art. 130), wonach der Beamte Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei zu sein hat, nur noch als einfaches Bundesrecht fort (§ 35 BRRG, § 52 BBG). Aber die damit ausgedrückte Zurückhaltungspfticht des Beamten kommt durch Art. 33 GG auch heute zum Ausdruck, wenn es dort etwa heißt, daß jeder Deutsche nach Eignung und Leistung gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern habe und Bekenntnisse oder Weltanschauungen keinen Einfluß haben dürfen. Diese Position des Beamten ist einem demokratischen Staat, der auf der politischen Mündigkeit und dem Recht zum politischen Engagement für alle Bürger aufbaut, keineswegs eine Selbstverständlichkeit und vielleicht sogar ein Systembruch. Indem man nämlich glaubt, auf die eher aus der monarchischen Verfassungsstruktur stammende Neutralität der Verwaltung und des Beamten nicht verzichten zu können, räumt man im Grunde ein, daß das demokratische Mehrheitsprinzip - vielleicht im Interesse der Toleranz - einer Korrektur bedarf. Der Beamte darf sein Amt nicht als Plattform zur Verbreitung und Durchsetzung seiner Anschauungen verstehen, sondern muß Neutralität und Zurückhaltung üben. Es ist deshalb keineswegs glücklich, wenn das erwähnte Urteil des BVerwG zur Verfassungstreue der BeamtenI' das Toleranzprinzip immer nur im Sinne von Toleranz und Toleranzgrenze gegenüber den radikal denkenden Amtsbewerbern ins Spiel bringt, nicht aber im Sinne der Bereitschaft des Beamten zur Toleranz in der Amtsführung. Zur Verfassungstreue des Beamten gehört nämlich gerade auch die Bereitschaft, sein Amt neutral und unparteüsch zu ver11 Dabei wird von den Lehrern in der Schule zunächst abgesehen, wen darüber unten (unter 5 a) gesondert gesprochen werden soll. 1I VgI. dazu Sch14ich, a.a.O., S. 44 ff.; earl Hermann Ule, Konflikte zwischen Beamtenpftichten und Parteipftichten, in: Festschrift für Hans Schäfer, Köln u. a. 1975, S. 93 ff.; ferner meinen Beitrag in der Festschrift für Ule. I' BVerwGE 47, S. 330 ff.

c} Toleranz und Staatsapparat (Verwaltung)

48

walten und es nicht zur einseitigen Arbeit für eine Anschauung zu mißbrauchen". Daran fehlt es zwar regelmäßig, aber nicht nur bei den Anhängern radikaler Richtungen, die überall und in jeder Position für ihre Sache kämpfen wollen; daran fehlt es leider aber auch bei vielen Anhängern nicht-radikaler Richtungen neuerdings, indem auch diese ihr Amt als Plattform für eigene Vorstellungen mißverstehen. Damit ist freilich die Frage aufgeworfen, ob in unserem Staat der für keine Richtung engagierte, der farblose Bewerber, vielleicht gar der reine Opportunist zum Beamtenberuf besser geeignet ist als der auf eine Richtung festgelegte Bewerber. Die Pflicht zum jederzeitigen Eintreten für die Verfassung schließt nur aktive Verfassungsfeinde vom Staatsdienst aus - darin ist dem BVerwG voll beizutreten -, besagt aber wenig darüber, wie der Beamte sich angesichts der Tatsache zu verhalten hat, daß die Verfassung ein breites Spektrum von Anschauungen und sozialpolitischen Vorstellungen zuläßt. Die Verfassungsvorstellung von der Verwaltung als einem gleichsam meinungslosen, neutralen Apparat, der jeder Regierung gleichermaßen als Instrument zu dienen geeignet ist, verliert, so ist zu beobachten, zunehmend an tJberzeugungskraft. Man kann dafür in den Theorien über "Zielfindungsprozesse" innerhalb der Verwaltung und über die Mitbestimmung der Beamten deutliche Hinweise finden. Aber wie soll dann, und das erscheint langfristig wichtiger als die Radikalenfrage, das künftige Bild des Berufsbeamten im demokratischen Staat fixiert werden, wenn man Einseitigkeit im Interesse von Toleranz vermeiden will? Das Proporz-System österreichischer Manier hilft fast gar nichts, weil man es ja in concreto immer mit einem Beamten zu tun hat und weil sich Parteilichkeit kaum auf das einfache Schema von zwei großen Richtungen reduzieren läßt. Soll dem Beamten die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder wenigstens die aktive Mitarbeit in der Partei verboten sein? Diese früher heftig diskutierte und heute praktisch entschiedene Frage16 hat eine~seits besonders viel zur Erkenntnis des Problems beigetragen, andererseits aber auch in manchem die Weichen falsch gestellt: Indem man nämlich 1. So mit Recht Wiljried Berg, Politik, Beamtentum und politische Beamte, MDR 1973, S. 185 (187). 16 Vgl. statt vieler Carl Hermann Ule, Öffentlicher Dienst, in: Die Grundrechte Bd. IV/2, BerUn 1962, S.537 (601 ff.); Klaus Kröger, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Rechts der Beamten auf "parteipolltische Meinungsäußerungen" , AöR Bd. 88 (1963), S. 121 ff., sowie die Aufsätze von Perwo. Grabendorff und Adolj Arndt in ZBR 1954, S. 110 ff., S. 139 ff. u. S. 142 f.

44

4. Toleranz und demokratischer Staat

das Recht des Beamten auf politische Betätigung in den Vordergrund schob, lenkte man den Blick auf eine dem Problem nicht adäquate Subjektivierung, während es doch der Sache nach um ein grundlegende~ staatsrechtliches Konstruktionsprinzip geht. Übrigens ist es ein Unterschied, wenn nur einzelne Beamte gleichsam als Außenseiter ein Recht auf partei-politische Betätigung in Anspruch nehmen, die prägende Masse der Beamten aber in neutral-distanzierten Positionen verharrt. Inzwischen hat sich jedoch gerade in diesem Punkte das Bild sehr gewandelt: Große Teile, wenn nicht gar die Mehrheit der höheren und gehobenen Beamten dürfte heute einer politischen Partei angehören und sich auch aktiv dort betätigen. Das hat prägende Bedeutung und bringt die Neutralität der Verwaltung in Gefahr. Umso bedeutungsvoller ist die staatsrechtliche Grundfrage, welche Stellung das (unbestritten notwendige) Berufsbeamtentum im demokratischen Staat einnehmen kann und einnehmen soll. Dem Beamtenapparat kann auch und gerade in der Demokratie nur eine dienende Funktion ohne politische Eigenständigkeit zukommen, keineswegs aber eine Art Korrekturfunktion gegenüber der Demokratie in Form der Konservierung eines monarchischen Elements oder in Form der Herstellung politischer Kontinuität gegenüber dem periodischen Wechsel der Parlamente und Regierungen. Allenfalls wird man eine eigenständige Kompetenz kraft Sachverstands gegenüber dem ehrenamtlichen politischen Element anerkennen können. Auch die Neutralitätspflicht darf deshalb nicht mehr auf eine monarchische Neutralitätsposition gegründet sein, sondern muß aus der heutigen staatlichen Konstruktion heraus entwickelt werden. Gegen dieses Prinzip wird freilich im Zeitalter der durchgängigen politischen Affilierung der Beamtenschaft nicht nur punktuell, sondern systematisch gesündigt. Da ist zunächst die fast überall anzutreffende und kaum noch bekämpfbare Ämterpatronagel ', die sich erst mit der Durchpolitisierung der Verwaltung voll ausbreiten konnte; sie hat entgegen Art. 33 Abs. 2 GG das Leistungsprinzip zurückgedrängt. Viel bedenklicher sind andere Folgen: Das Schielen der Beamten auf die in der Partei (oder den Parteien) Gewaltigen, die Verschlechterung der Chancen für oppositionell eingestellte Beamte oder - bei Dauerherrschaft einer Partei - die einseitige politische Ausrichtung des Verwaltungskörpers. Damit werden nicht nur Andersdenkende unter Umständen 11

Vgl. Theodor EschenbeTg, Amterpatronage, Stuttgart 1961, bes. S. 21 tl.

c) Toleranz und Staatsapparat (Verwaltung)

45

chancenlos gestellt, sondern auch bedenkliche Praktiken der Kriecherei oder der pro-forma-Mitgliedschaft in bestimmten Parteien17 heraufbeschworen. Man wird deshalb fragen müssen, ob nicht dem in den letzten Jahren viel belächelten Beamtenethos, der "Tugend der Unparteilichkeit" und damit der Tugend der Toleranz wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Man wird aber auch fragen können, ob nicht die heute so gefeierte Verbreiterung der Demokratie durch Vermehrung der Mitgliedschaft in den großen politischen Parteien ein Irrweg ist und in eine Sackgasse führt. Unser perlamentarisch-demokratisches System ist wohl mehr, als man es bisher wahrhaben will, auf der politischen Neutralität der Masse des Volkes und der Masse der Beamten aufgebaut. Ein politisch einseitiger oder weltanschaulich gebundener Chorgeist in der Verwaltung widerspricht der aus dem Toleranzgebot folgenden Neutralitätspflicht. Die Verwaltung muß eine "offene" Verwaltung sein. Demgegenüber herrscht heute der Eindruck vor, daß .es hauptsächlich auf den gleichen Zugang für alle unabhängig von der jeweiligen Anschauung ankommei', wie Art. 33 GG und die Diskussion um den Radikalen-Erlaß zeigen. Wesentlich wichtiger ist jedoch das Problem der inneren Ordnung in der Verwaltung im Sinne von Toleranz: Es fragt sich, ob der Chorgeist die Toleranz erstickt, ob es sich als notwendig erweist, im Interesse von Toleranz alle heiklen Fragen auszuklammern (was häufig nur um den Preis steriler Immobilität möglich sein wird) oder ob es gelingt, unterschiedliche Standpunkte als Quelle größerer Breite und besserer Kontrolle des eigenen Denkens positiv zu werten und bewußt zu pflegen. Neuerdings fällt das Letztere schon in Hochschulen schwer, die doch gerade die Auf17 Die früher häufige Scheinmitgliedschaft in einer Kirche aus beruflichen Gründen entgegen der wirklichen Gesinnung sollte eigentlich noch in mahnender Erinnerung sein. Es soll inzwischen Parteimitglieder aus Karrieregründen geben, die bei geheimen Wahlen und Abstimmungen ganz anders stimmen. Ein derartiges Verhalten spricht nicht gerade für ein Vertrauen zu der in Staat und Verwaltung geübten Toleranz. 18 Wie wenig es genügt, nur bei der Zulassung großzügig zu sein, mag am Beispiel eines preußischen Beamten des 19. Jh. erklärt werden: Er legte zur Bewerbung eine Arbeit über die Rechtswidrigkeit der Enteignung der Kirchengüter durch den Reichsdeputationshauptschluß vor - was der preußischen Ansicht diametral widersprach -, wurde aber trotzdem im Sinne von Toleranz als Beamter angenommen. Er blieb jedoch ein ungeliebter Außenseiter; nur in seiner dichterischen Nebentätigkeit fand er Befriedigung, sicher keine ideale Lösung der Dinge (vgl. zu dem angesprochenen Fall die Fakten im Deutschen Literatur-Lexikon, 3. AufI.., München 1971, Art. Eichendorff sowie dazu Gerhard Möbus, Eichendorff in Heidelberg, Düsseldorf 1954, S.47, S. 103 sowie ders., Der andere Eichendorff, Osnabrück 1960, S. 138, S.187.

46

4. Toleranz und demokratischer Staat

gabe haben, unterschiedlichem Denken Raum zu geben; erst recht sind in anderen Einrichtungen oder gar Behörden Zweilei am Platz. d) Internationale Koexistenz Die seit jeher vorhandene völkerrechUiche Komponente des Toleranzprinzipsl' soll hier nicht im einzelnen behandelt werden; es geht lediglich um den Zusammenhang mit der innerstaatlichen Toleranz. Wer auf den ersten Blick von einer Parallelität von zwischenstaatlicher und innerstaatlicher Toleranz ausgehen will, wird sich, wenn er die Dinge näher nachprüft, innerhalb eines Blockes ähnlich strukturierter Staaten oft bestätigt sehen. Wo es aber um das Zusammenleben von Staaten mit unterschiedlicher "Gesellschaftsordnung"· geht, bedeutet Toleranz zwischen den Staaten, meist "friedliche Koexistenz"ll oder ähnlich genannt, nichts anderes als die wechselseitige Hinnahme von Toleranz und Intoleranz in den verschiedenen Staaten. Im Ergebnis wird damit die Intoleranz in den diktatorischen Staaten eher noch gefestigt, weil die Chance einer "Einmischung" von außen entfällt, während die Toleranz in freiheitlichen Staaten durch benachbarte Diktaturen und deren intolerante Anhängerschaft eher in Gefahr gebracht werden kann. Wer die Geschichte Deutschlands und Europas nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, benötigt dazu keinen Kommentar. Von einem sich ergänzenden System zwischen- und innerstaatlicher Toleranz kann daher wohl nur innerhalb einer Staatengruppe mit annähernd ähnlicher innerstaatlicher Toleranz die Rede sein. Daß für einen wirklichen auf Toleranz gegründeten internationalen Frieden alle Staaten eine freiheitliche Verfassung haben müßten, liegt auf der Hand und ist ein Gedanke, den bereits Immanuel Kant in seiner Schrilt "Zum ewigen Frieden" hat anklingen lassenl l • Solange das nicht erreichbar ist - und die Welt entwickelt sich nicht gerade in dieser Richtung -, wird man von einer ständigen Bedrohung der Toleranz 11 S. dazu R. Hofmann, "Toleranz", in: staatslexikon Bd. 7; Ernst E. Hirsch, a.a.O.; Ha.ns RyDel, Das Problem des Naturrechts heute, in: Naturrecht oder Redltspositivismus, hrsg. von W. Maihofer, S. 494 ff. (520). In völkerrechtlichen Lehrbüchern findet das Toleranzprinzip meist keine Erwähnung. • Mit derartigen zurückhaltenden Formeln pflegt man bekanntlich im Westen den Unterschied zwischen freiheitlichen Systemen und Diktaturen neuerdings zu umschreiben. 1I Vgl. Ernst E. Hirsch, a.a.O. n Erschienen 1975; vgI. dazu Hans-Jürgen Schlochauer, Die Idee des ewigen Friedens, Bonn 1953.

d) Internationale Koexistenz

47

von außen in den freiheitlichen Staaten ausgehen müssen. Nicht wenige Abstriche an der Verwirklichung des Toleranzprinzips in der Bundesrepublik gehen bekanntlich auf das Bemühen um Abwehr dieser Bedrohung zurück.

5. SPEZIELLE BEREICHE Im folgenden sollen für einige ausgewählte Bereiche die Konsequenzen und Probleme der Toleranzverwirklichung etwas näher ausgebreitet werden, um am konkreten Fall ersichtlich zu machen, worum es geht. a) Die Schule

Es klingt wie ein Gemeinplatz, daß in einem toleranten, pluralistischen Staat auch die Schule pluralistisch sein muß, daß sie den verschiedenen Anschauungen und Gruppen Rechnung tragen und Raum geben muß, daß sie also, wie es ETich FTisteT auf dem 51. Deutschen Juristentag ausdrückteI, Zurückhaltung üben muß. Wenn es richtig ist, daß demjenigen, dem die Jugend gehört, auch die Zukunft gehört, so besteht umso mehr Anlaß, die Toleranz im Schulwesen ernst zu nehmen und es auszuschließen, daß die jeweilige Mehrheit allein ihre Vorstellungen zum verbindlichen Erziehungsziel macht.

Das Problem des Pluralismus im Schulwesen ist deshalb so schwierig zu lösen, weil das deutsche Schulwesen durch ein weitgehendes Monopol des Staates gekennzeichnet ist. Es besteht allgemeine Schulpflicht, der Staat bestimmt die Schulformen, die Bildungsgänge und die Lehrinhalte bis in die Details mit Hilfe der in Art. 7 GG verankerten Schulaufsicht; darüber hinaus sind die meisten Schulen in der Hand des Staates oder der Gemeinden und Kreise. Es stellt sich schon wegen dieses Monopols die Frage der Toleranz und der Neutralität der Schule und des Lehrers in besonderem Maße. Es finden sich deshalb in den Landesverfassungen vielfach Bestimmungen, die das Prinzip der Toleranz für den Unterricht ausdrücklich hervorheben!. Rheinland-Pfalz ist darüber hinaus das einzige Bundesland, das in seiner Verfassung die Konsequenzen für die Lehreranstellung und die Lehrerbildung zieht; in Art. 36 heißt es: Lehrer kann nur werden, wer die Gewähr dafür bietet, sein Amt als Volkserzieher im Sinne der Grundsätze der Verfassung auszuüben. I Diskussionsbeitrag in der Abteilung Schule im Rechtsstaat am 15. 9. 1976. Art. 56 HessVerf.; Art. 33 Verf. Rhl.-Pfalz; Art. 26 Bremer Verf. usw.

!

a) Die Schule

49

Das ist mehr als die allgemeine Treuepflicht und die übliche Pflicht zur Zurückhaltung, wie es sie bei allen Beamten gibt. Und daraus ergeben sich für die staatliche Schulaufsicht und für die Lehrer eine Reihe von Forderungen und Problemen, die keineswegs leicht zu bewältigen sind~. Die geforderte Rücksichtnahme wäre relativ leicht zu verwirklichen, wenn es in der Schule nur um technisches Training von Fertigkeiten oder um fachliche Information ginge. Aber das trifft nicht zu: Es geht auch um die Einführung in das Gesellschaftsleben, in Religion und Kultur, in soziale und politische Anschauungen. Insoweit hat der Lehrer auf alle Anschauungen Rücksicht zu nehmen und die verschiedenen Anschauungen sachlich darzulegen, wie es etwa Art. 56 der Hessischen Verfassung formuliert. Aber eine solche Distanz wird auch dem besten Lehrer zumindest in der Grundschule und in den ersten Klassen der höheren Schulen kaum ganz gelingen; denn der Lehrer ist hier nicht nur Informant, sondern zugleich Erzieher, persönliches Vorbild, Bezugsperson für die Persönlichkeitsbildung oder wie immer man es nennen will. Und er soll das auch sein; die Verfassungen verlangen sogar von ihm, daß er die Schüler zu demokratischer Gesinnung, zur Nächstenliebe und zur Duldsamkeit erziehen müsse. Mit Neutralität ist das nicht zu machen, hier muß sich der Lehrer als Person einsetzen und es hängt von seiner Person ab, was die Schüler lernen und annehmen. Man kann sich mit Fug fragen, ob diese Rolle in einer Gesellschaft mit geringem allgemeinen Konsens überhaupt durchzuhalten ist, ob also nicht ein relativ breiter Kanon gemeinsamer Anschauungen im Volke notwendige Voraussetzung eines derartigen Erziehungssystems ist. Oder aber das System hat zur Folge, daß alle spezifischen Anschauungen und Meinungen ausgeklammert und abgeschliffen werden, mit anderen Worten eine Nivellierung der Meinungen herbeigeführt wird. Die für Erwachsene in der Verfassung festgelegte Toleranz würde damit in der Jugend durch Einheitsausbildung unterlaufen. Man könnte nach mancher bitteren Erfahrung in der Geschichte versucht sein, zu fragen, ob etwa nur eine solche nivellierende oder kompensatorische Erziehung die spätere Toleranzgewährung überhaupt erst möglich oder erträglich macht. Vielleicht ist diese Nivellierung auch ein allgemeiner Zug der Industriegesellschaft. Jedenfalls zeigt sich, daß es Vgl. meinen Aufsatz "Toleranz und Lehrpläne für Schule", DöV 1974, und zur Neutralitätspflicht des Beamten in der Festschrift für earl Hermann Ule . I

S.656 (659)

• Speyer 62

50

5. Spezielle Bereiche

falsch wäre, Toleranz nur statisch zu betrachten als ein System des Zusammenlebens ausgereifter Menschen mit festem Standpunkt. Der Meinungsfindungsprozeß in der jeweils heranwachsenden Generation gibt der Toleranz einen dynamischen Aspekt, der für das Ganze von erheblicher Bedeutung ist. In einem toleranten Staat muß zumindest die Möglichkeit offen stehen, auch Minderheits- oder Sonderanschauungen weiterzugeben und neue Anschauungen wachsen zu lassen. Von der Schule und vom Lehrer wird damit der Verzicht auf ein einseitiges, in einer spezifischen Richtung festgelegtes Unterrichtsprogramm verlangt. Diese Forderung erscheint den oft sehr engagierten und von ihrer Denkweise überzeugten Pädagogen nicht unbedingt plausibel und oft eher störend. Es geht dabei - wohl gemerkt - nicht nur um das Verbot radikaler, verfassungsfeindlicher Ansichten4, sondern auch um jede andere einseitige Festlegung. Die berühmten hesstschen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre verstoßen nicht in erster Linie dadurch gegen die Verfassung, daß sie verfassungswidrige Thesen enthalten (das ließe sich vielleicht verbal ausräumen), sondern dadurch, daß sie alles auf eine spezifische Linie festlegen und in keiner Weise dazu anhalten, auch anderen Anschauungen Rechnung zu tragens. Eine Profilierung der Erziehungsziele ist eben im weltanschaulich relevanten Bereich oberhalb des Grundkonsenses aller Demokraten nur sehr begrenzt möglich. • Vgl. Art. 56 Abs.5 S.3 HessVerf.: Nicht zu dulden sind Auffassungen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden. 6 VgI. dazu ein unveröffentlichtes Gutachten von Peter Lerche, Zur Verfassungsmäßigkeit der Hess. Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre, München 1974; Püttner, a.a.O.; Thomas Opperman-n, Nach welchen rechtlichen Grundsätzens ind das öffentliche Schulwesen und die Stellung der an ihm Beteiligten zu ordnen?, Gutachten C für den 51. Dt. Juristentag, München 1976, S. C 37, 79 f. und 97 f.; Jochen A. Frowein, Erziehung zum Widerstand?, in: Festschrift für Willi Geiger, Tübingen 1974, S. 579 ff. (bes. S. 585 ff.) ehTistian Tomuschat, Der staatlich geplante Bürger, in: Festschrift für Eberhard Menzel, Berlin 1975, S. 21 ff.; Wolfgang Brüggemann, Bildung oder Indoktrination?, Recldinghausen 1974, S. 75 ff. Die Frage von Bachof (Wolff-Bachol, Verwaltungs recht 11, § 101 VII f 4, S.438), ob die Schule denn früher neutral war (lt. Mahrenholtz auf dem 51. Juristentag 1976, Diskussion war sie nicht neutral, sondern "konservativ"), ist kein Gegenargument gegen die Forderung, daß es jedenfalls nun besser werden soll. Der Vermerk von Lutz Dietze (Die Reform der Lerninhalte als Verfassungsproblem, Frankfurt 1976, bes. S. 180 ff.), die Verfassungsmäßigkeit der Rahmenrichtlinien zu retten, beruht, wie Oppermann (a.a.O., C 96/97) mit Recht bemerkt, auf verbalem "Wegerklären" und entspricht nicht dem, was der Text dieser Richtlinien vermittelt. - Der 51. Deutsche Juristentag hat sich mit großer Mehrheit für eine tolerante, unterschiedlichen Kindes- und Elterninteressen Raum gebende Schule ausgesprochen.

a) Die Schule

51

Freilich kann der Staat auf die Festlegung eines einheitlich konzipierten Schulsystems nicht verzichten. Aber daraus ergibt sich ein Dilemma oder zumindest Spannungsverhältnis zwischen den Notwendigkeiten einer allgemeinverbindlichen Systemfestlegung und dem Postulat unterschiedlicher Bildungsinteressen und Lebensweisen. Am hessischen Förderstufen-Urteil' kann dies verdeutlicht werden: Die Schulbehörde hatte (regional) für das 5. und 6. Schuljahr die für alle Schüler verbindliche "Förderstufe" festgelegt und folgerichtig die entsprechenden Eingangsklassen der ortsansässigen Gymnasien geschlossen. Dagegen klagten Eltern mit dem Ziel, die sofortige Aufnahme ihrer Kinder auf das Gymnasium zu erreichen, gestützt auf die gesetzlich verbürgte freie Wahl dpr Schulform. Demgegenüber argumentierten die Vertreter der Schulbehörde, daß der geplante Schulversuch mit der Förderstufe nur einen Sinn habe, wenn er alle Schüler der betreffenden Jahrgänge umfasse, weil gerade erprobt werden solle, ob die Zusammenfassung aller Schüler eine Verbesserung der "Chancengleichheit" bewirken könne? Nach geltendem Recht wurde teilweise zugunsten der Eltern entschieden, mit Recht, wie ich meine. Man sollte aber die sehr ernste Konsequenz nicht übersehen, daß damit wegen der Toleranz zu Gunsten unterschiedlicher Erziehungs- und Bildungsvorstellungen auf die sog. kompensatorische Erziehung aller Schüler verzichtet werden muß. Wenn man der Meinung ist, daß die Förderung des gemeinen Wohls nur durch Erfassung und Einordnung aller möglich ist, muß notwendigerweise auf Toleranz im Sinne der Duldung unterschiedlicher Lebensstile verzichtet werden. Das ist aber, wie dargelegt, nach geltendem Verfassungsrecht im Weltanschauungs- und Kulturbereich wegen des Toleranzprinzips im Sinne des Nebeneinanders nicht zulässig. Bei der Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung im Staat herrscht bisher allerdings noch weitgehend der gegenteilige Standpunkt vor. Aus dem Toleranzprinzip folgt also für das Schulwesen zweierlei, das Recht auf diese "ideologisch tolerante Schule"8 und die Pflicht des Staates zur Wahrung und Förderung der Mannigfaltigkeit und Vielfalt • BVerfGE 34, S. 165 ff.; in weiteren Einzelfällen haben die hessischen Verwaltungsgerichte entschieden. 1 Merkwürdigerweise glaubten die Anhänger der Förderstufe bzw. der Gesamtschulen das Ergebnis der Versuche bereits zu kennen, woraus zu ersehen ist, daß es sich nicht um echte Versuche handelte, sondern die schrittweise Einführung einer neuen Schulform (so ohne Umschweife § 3 BremSchulG vom 18. 2. 1975, GBl. S.89). • Vgl. Oppermann, a.a.O., C 92 ff.

••

52

5. Spezielle Bereiche

im Schulwesen. Den immer wieder spürbaren Versuchen und Versuchungen zur Gleichmacherei sind damit entscheidende Grenzen gesetzt. Die heftigen Debatten um diese Forderungen an das Schulwesen (z. B. auf dem 51. Deutschen Juristentag 1976) zeigen deutlich, daß es zwar leicht ist, allgemein zum Toleranzprinzip ja zu sagen, schwierig dagegen, die Folgerungen in der Praxis zu ziehen, vor allem dann, wenn sie der Verwirklichung eigener Wunschvorstellungen im Wege stehen. Das Recht jedes Kindes und jedes Jugendlichen, seine einmalige und unverwechselbare Persönlichkeit zu entfalten (Art. 2 Abs.1 GG), setzt dem toleranten Staat nun einmal erhebliche Grenzen bei der "Formung" (Erziehung) junger Menschen nach vorgestellten Zielen. Man kann sich deshalb fragen, ob nicht eine Auflockerung des staatlichen Schulmonopols durch Privatschulen und ergänzende freie Bildungseinrichtungen die Dinge sehr erleichtern würde. Jedenfalls darf der Staat eigene Initiativen der Jugendlichen und Eltern nicht verhindern oder abdrängen, auch nicht durch eine den Tag füllende Ganztagsschule. Toleranz ist auch hier wieder, um es zu wiederholen, ganz wesentlich eine Frage rücksichtsvoller und phantasievoller Gestaltung der öffentlichen Bildungseinrichtungen. b) Die Stadtplanung

Das Thema Stadtplanung im Zusammenhang mit Toleranz mag vielleicht manchen zunächst überraschen. Wer indessen die Stadtplanung näher untersucht, wird feststellen, daß sich hier nicht selten ein recht einseitiger Gestaltungseifer bemerkbar macht. Die Neigung vieler Planer, sich an einem geschlossenen "Leitbild" auszurichten, will nicht immer recht zu einem Pluralismus der Wohn- und Lebensauffassungen passen. Die viel geforderte "Demokratisierung" der Planung kann den Trend zu einer uniformen, wenn auch nach der Mehrheit ausgerichteten Stadtgestaltung eher noch verstärken'. Demgegenüber ist zu fragen, ob nicht in die Theorie der Stadtplanung und überhaupt in die Theorie der Stadt ein stärkeres Element von Pluralismus einzubringen wäre. Dazu bedürfte es allerdings einer stärkeren Besinnung auf das, was das Typische einer Stadt ausmacht ("Stadtluft macht frei"!?), es bedürfte vielleicht einer "Theorie der Stadt", wie es sie im Augenblick • Vgl. etwa Martin Wagner I Rüdiger Stratmann, Demokratische Stadtplanung, dargestellt an einem entwicklungsplanerischen Beispiel, AfK 1974, S. 291 ff.; hier sind die praktischen Vorgänge und Ergebnisse demokratischer Planung deutlich aufgezeigt.

b) Die Stadtplanung

58

allenfalls ansatzweise gibt tG • Nun zeigt allerdings die städtische Lebensform seit der antiken Polis eine Fülle von politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ästhetischen Komponenten, in denen das Spannungsverhältnis von Pluralismus und "Geschlossenheit" in jeweils anderem Licht erscheint. Die räumliche Nähe in der Stadt und die besondere städtische Aufgabe haben, wenn man Verallgemeinerungen wagen will, bei aller städtischen Offenheit für Neues, Fremdes und anderes immer eine starke Antriebskraft zur Ausbildung einer inneren Einheitlichkeit und Geschlossenheit gegeben, ein Spezifikum, das sich erst neuerdings mit der Verstädterung größerer Räume aufzulösen beginnt. So konnten Minderheiten gerade in Städten nicht immer leicht integriert werden, wovon die räumliche Abgrenzung in Form von Ghettos beredtes Zeugnis ablegt. Andererseits sind es immer die Großstädte gewesen, in denen auch kleine Minderheiten die Chance der Kommunikation und der Entwicklung eines Eigenlebens bekamen, ein Element des Pluralismus, das sich jedoch in der Stadtplanung nur hin und wieder niedergeschlagen hat. Bemerkenswert ist hingegen, daß sich in den Städten so gut wie immer eine Hierarchie der Wohnquartiere bemerkbar machte, sei es in der Form getrennter Wohnviertel für unterschiedliche Stände, sei es in der Form der Gruppierung der vornehmsten Häuser um den Markt und entsprechender Abstufung nach außen, sei es in der Form "schichtenspezifisch" gegliederter Stadtviertel in modernen Städten. Dem arbeiten bekanntlich viele Städteplaner und Kommunalpolitiker heute unter dem Motto der Egalität (keine Privilegien für bestimmte Schichten!) aktiv entgegen, indem sie eine Durchmischung der Viertel mit Wohnblöcken und Einrichtungen aller Arten und Stufen fördern, ein Bemühen, das sich unter Toleranzgesichtspunkten sehr eingehend kritisieren ließe. Hier soll indessen nur auf die Verschiedenartigkeit der Ansätze hingewiesen werden. Die Schwierigkeiten, vom Wesen und von den Aufgaben der Stadt her zu einer adäquaten Theorie der Stadtplanung zu kommen, liegen damit auf der Hand; sie sind für den Soziologentl nicht einfacher als für andere Beteiligte. Es sollen deshalb hier nur auf dem engeren Ge10 Der Aufsatz von Rolf Richard Grauhan (Zur politischen Theone der Stadt, AfK 1965, S. 87 ff.) stellt einige bemerkenswerte Gesichtspunkte zusammen, unter denen aber Pluralismus oder etwas Vergleichenbares fehlt. tl Vg!. Hans Paul Bahrdt, SOziologische Überlegungen zum Städtebau, Hamburg 1961/1969; Helmut Klages, über einige Probleme der Zusammenarbeit des Städtebauers mit dem Soziologen, AfK 1966, S. 66 ff.; Bernhard Schäfers, Soziologie als mißdeutete Stadtplanungswissenschaft, AfK 1970, S. 240 ff., mit weiteren Nachweisen.

54

5. Spezielle Bereiche

biet der Stadtplanung einige Anmerkungen zu den rechtlichen Geboten für die Planung angebracht werden, naturgemäß unter dem Blickwinkel, inwieweit sie den Planer zu einem pluralistischen Verständnis von Planung, also von Duldung (Toleranz) unterschiedlicher Lebens- und Gestaltungsformen anhalten oder eher dem Hang zur geschlossenen Konzeption entgegenkommen. Das Bundesbaugesetz geht bekanntlich von der gemeindlichen Planungshoheit aus (§ 2 Abs. 1), schränkt aber das gemeindliche "Plannungsermessen" insbesondere dadurch eini!, daß sich die Pläne nach den sozialen und kulturellen Bedürfnissen "der" Bevölkerung zu richten haben und öffentliche und private Belange gegeneinander und untereinander "gerecht abzuwägen" sind (§ 1, Abs.4), ferner bestimmte Erfordernisse zu berücksichtigen sind (Gottesdienst, Wirtschaft, Verkehr, Verteidigung). Die Vorschriften sind offenbar von der Vorstellung beherrscht, daß "die" Bevölkerung einheitliche "Bedürfnisse" (besser: Wohnwünsche) habe und daß andere Belange diesen Bedürfnissen entgegenstehen. Die Belange sind "abzuwägen"; als Ergebnis der Abwägung kann sich durchaus das Überwiegen des einen Interesses über das andere ergeben. Nirgends ist vorgeschrieben, daß allen Interessen irgendwo und an irgendeiner Stelle Rechnung zu tragen ist13 • Wenn eine Gemeinde sich der Wohnform des Hochhauswohnens beispielsweise völlig verschreibt, hindert sie nichts daran: Sie kann ein gesamtes Neubaugebiet so planen und braucht nicht etwa einer Minderheit von Einfamilienhaus-Liebhabern auch Gelände für diese Wohnform vorzubehalten. Das bewußte Dulden und Fördern von verschiedenen Wohnformen nebeneinander ist nicht vorgeschrieben; es wird immer "gegeneinander abgewogen"l~ und nicht nebeneinander gestellt. Das gilt auch für Sanierungs- und Entwicklungsvorhaben, für die nach §§ 10, 54 StBauFG die gleichen Planungsgrundsätze gelten. Die Beteiligung der Betroffenen an der Neuordnungsplanung (§ 9 StBauFG) und der Denkmalsschutz (§ 10 Abs. 1 S. 2 StBauFG) ändern daran nichts oder jeden11 Vgl. die übersicht bei Hans Schrödter, Bundesbaugesetz, 3. Auft., München 1973, Rdnr. 14 zu § 10 BBauG. 11 Der Pferdefuß derartiger Regelungen ist lange Zeit nicht ganz bemerkt worden; er zeigt sich heute darin, daß lästige Großanlagen wie Kernkraftwerke überall bei der Abwägung den kürzeren ziehen können und nirgends zum Zuge kommen. l~ VgL Schrödter, a.a.O., Rdnr. 19 f'f., und beispielsweise OVG Münster, DVBl. 1972, S. 687 f'f. (Floatglas), wobei in der Rspr. naturgemäß immer ein Projekt streitig ist, so daß logischerweise um den Vorrang des einen oder anderen gestritten wird.

b) Die Stadtplanung

55

falls nicht viel (gelegentlich kann sich eine Pflicht zur Erhaltung historischer Komplexe neben modernen ergeben). Die einheitliche planerische Konzeption bleibt möglich und steht weitgehend als Modell hinter dem Gesetz. Unter dem Gesichtspunkt des Pluralismus oder der Toleranz wird man daran einige Kritik vorbringen können. Natürlich läßt sich nicht bestreiten, daß aus ästhetischen und funktionalen Gründen bestimmte Komplexe nach bestimmten Gesichtspunkten sinnvollerweise einheitlich bzw. aufeinander abgestimmt gestaltet werden sollten. Aber es fragt sich, ob man nicht de jure von der Planung verlangen müßte, daß sie unterschiedlichen Wohnwünschen und Wohnformen durch Ausweisung verschiedenartiger Wohn- und Geschäftsgebiete Rechnung trägt, wie das ja vielerorts de facto durchaus geschieht. Das setzt freilich einen Verzicht auf Bevormundung oder gar Erziehung durch Bau- und Wohnformen voraus. Als richtungsweisend kann immer noch die Entscheidung des BVerwGII zum Friedhofsrecht gelten, wonach im Falle des Verbots dunkler polierter Grabsteine auf dem allgemeinen Areal des Friedhofs ein abgeteilter Sonderbereich zur freien Gestaltung auch für die Anhänger dieser Grabpflegeform geschaffen werden muß. Der positive Wert von Mannigfaltigkeit und deren Duldung wird hoffentlich allgemeiner zum Durchbruch kommen. Wenn darüber hinaus der Stadtplaner Hanns Adrianl' vehement die Beschränkung der individuellen Gestaltungsfreiheit des Mieters beklagt, der durch die festliegende Bausubstanz und die Vorschriften der Hausordnung völlig eingeengt wird, so möchte man ihm unter dem Vorzeichen der Toleranz voll zustimmen. Ob allerdings die entsprechenden Vorwürfe mit Begriffen wie "Renditehaus", "frühkapitalistische Züge" oder "Skandal" des Mietrechts in die richtige Richtung zielen, ist angesichts der Tatsache, daß sich die überwiegend als Vermieter auftretenden gemeinnützigen und oft sogar städtischen Wohnungsbauunternehmen in vorderster Linie dieser Reglementierungen bedienenl7 , doch etwas zweifelhaft. Vor allem aber müßten die Planer E 17, S. 119 ff. - Vgl. dazu Günter Püttner, Städtebau und Privatrecht, 1966, S. 112 ff. (S. 117 f.). Eine grundsätzliche Tendenz der Judikatur in diesem Sinne hat sich seitdem - vielleicht mangels geeigneter Gelegenheiten - nicht ergeben. 11 Anmerkungen zur Gestalt unserer Städte, AfK 1974, S. 240 ff. (S. 246). 11 Die Lektüre der Hausordnungen großer Wohnungsunternehmen ist für einen Anhänger des Toleranzprinzips immer in besonderem Maße deprimierend, wiewohl häufig wegen der Enge des Zusammenlebens kaum eine andere Wahl bleibt. Um so wichtiger ist es unter Toleranzgesichtspunkten, daß 11

AfK

56

5. Spezielle Bereiche

selbst von der nachkriegsbedingten Uniformität neuer Bauten abrükken und der individuellen Gestaltung mehr Raum eröffnen. Daß viele der kritisierten Neubauviertel auf einem Gelände stehen, auf dem sich vorher die Kleingärtner höchst individuell und oft recht einfallsreich ihre Umwelt gestaltet hatten, sollte wenigstens als geschichtliche Reminiszens vermerkt bleiben. Im übrigen ist damit die Frage der persönlichen Lebensgestaltung des einzelnen in der modemen Welt aufgeworfen, der im folgenden Abschnitt gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. c) Persönlicher Lebensstil

Die Frage der Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung findet unter dem Gesichtspunkt der Toleranz oft nicht die genügende Aufmerksamkeit. Oder aber man setzt zu unbesehen die Duldung und Hinnahme jedweden persönlichen Lebensstils mit Toleranz gleich und glaubt sich damit der Probleme enthoben. Wer meint, Toleranz in diesem Sinne müsse eine Selbstverständlichkeit sein und intolerantes Herumrühren in den Angelegenheiten anderer sei längst überwunden und nur noch bei unverbesserlichen Moralisten oder Besserwissern zu finden, macht sich die Sache offensichtlich zu einfach. Es steht dem nicht nur die Lebensgewohnheit (vor allem in kleinen Orten) und die oben erwähnte Tendenz der moder:1en Gesellschaft zur Ausbildung einheitlicher, tonangebender Verhaltensmuster\8 im Wege, sondern auch die Tatsache, daß sich die meisten Äußerungen privater Lebensgestaltung doch wiederum spürbar im Sozialleben auswirken und bald hier, bald dort auch die Rechte Dritter tangieren. Es beginnt damit, daß die meisten Menschen nicht einzeln, sondern in Familien 19 leben und daß dem Staat und auch für Interessenten an "unverträglichen" Lebensäußerungen Wohnrnöglichkeiten, z. B. in Einfamilienhäusern, geschaffen werden (man denke etwa an die Halter von gefährlichen oder lästigen Tieren wie größeren Hunden, Schlangen usw.). 18 Ein anschauliches Beispiel auf dem Feld der persönlichen Lebensgestaltung bildet die Mode, die nicht nur auf die Frauen gewisser Jahrgänge eine beachtliche Faszination (z. B. hinsichtlich Kleidung und Frisur) ausübt, sondern ganz allgemein zu den bestimmenden Faktoren des persönlichen Verhaltens gehört. Die Auswirkungen auf die staatliche Rechtsordnung werden sichtbar, wenn es etwa um den Schulverweis oder disziplinarische Bestrafung von Soldaten wegen einer bestimmten Haartracht geht (vgl. BVerwGE Bd. 46, S. 1 fl.). Die Tatsache, daß in den letzten Jahren (wie übrigens auch früher) manche Meinungsgruppe ihre Haltung durch eine besonders einheitliche Kleidung, Haartracht oder Verhaltensweise zu demonstrieren suchte und sucht, macht das Problem keineswegs einfacher. 1. Vgl. insoweit § 8 1111 ALR: Der Hausvater kann Andernsdenkende nicht zur Teilnahme am häuslichen Gottesdienst zwingen.

c) Persönlicher Lebensstil

57

der Gesellschaft beispielsweise die Verwahrlosung von Kindern in der Familie nicht gleichgültig sein kann; es setzt sich dahin fort, daß die Enge der Nachbarschaft hinsichtlich Lautstärke, Partnerschaftsverhältnissen usw. gewisse Rücksichtnahmegrenzen zieht, und daß schließlich in öffentlichen Einrichtungen und im Sozialleben insgesamt immer nur ein Komprorniß zwischen den mehr oder weniger störenden Lebensäußerungen des einzelnen und dem Anspruch der anderen auf Wohlbefinden und Störungsfreiheit erreicht werden kann. Dem Problem kann hier nicht in seiner ganzen Breite nachgegangen werden. Beispielhaft sei aber auf das Problem der Toleranz zwischen Rauchern und Nichtrauchern hingewiesen: Während bis vor wenigen Jahren der Anspruch der Raucher auf jederzeitige Betätigung ihres Vergnügens fast unumstritten anerkannt war und nur in wenigen öffentlichen Einrichtungen (Eisenbahnen) Nichtraucher-Bereiche existierten, ist heute unter dem Eindruck der Berichte über die Gesundheitsschädigung der unfreiwilligen Mit-Raucher eine deutliche Gegenwehr der Nichtraucher in Form der Forderung von Rauchverboten spürbar. Erste Gerichtsentscheidungen haben der Forderung nachgegeben und aus Art. 2 Abs.2 S.l GG (körperliche Unversehrtheit) für bestimmte geschlossene Veranstaltungen ein Rauchverbot für erforderlich erachte~, womit aber die Rechtsfrage keineswegs erledigt isfl l • Auch wo es nicht um physische, sondern "nur" um psychische Einwirkung geht, kann die Frage jederzeit akut werden; ob man sich wirklich jede Art von Kleidung und ungepflegter Erscheinung immer und überall bieten lassen muß, ist doch wohl nicht ein für allemal zu beantworten. Auch in diesem Punkt bleibt auf das Problem des sozialen Friedens hinzuweisen: Absolute Toleranz wird Frieden nur bewirken können, solange ein breiter Konsens für entsprechende Toleranz vorhanden ist; andernfalls wirkt die Durchsetzung von Toleranz für Dinge, die anderen unerträglich erscheinen, eher friedensstörend. Freilich hängt in diesem Bereich besonders viel von einer toleranzfördernden Erziehung ab. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß im persönlichen Lebensbereich der Begriff der Toleranz keineswegs nur für ein positives Verhalten der Rücksichtnahme steht, sondern im Gegenteil weitgehend einen negativen Beigeschmack in dem Sinne besitzt, daß der Tolerante prinzipien-, !O Vgl. OVG Berlin NJW 1975, S. 2261 = DöV 1975, S. 610 (Fachhochschule) und VG Schleswig in JR 1975, S. 130 (ärztl. Fortbildungsveranstaltung). 11 Vg!. die Gegenthese von Rupert Scholz, Nichtraucher kontra Raucher, JuS 19'76, S. 232 ff.; s. auch Kommunalpolitische Blätter, Heft 8, 1976, S.695/696.

58

5. Spezielle Bereiche

moral- und anstandslos an dem unangemessenen Verhalten anderer keinen Anstoß nimmt und sich in den Verdacht der Billigung dieser Handlungsweise oder gar des Mittuns bringt. In engeren gesellschaftlichen Gruppen, oft auch in der großstädtischen Nachbarschaft, wird offenbar eine Neutralität oder Gleichgültigkeit gegenüber einem als unerwünscht geltenden Verhalten immer noch oder wie eh und je als Negativum gewertet. Der abwertende oder eigentümliche Beigeschmack des Begriffs Toleranz kommt vielleicht am klarsten in Anzeigen zum Ausdruck, in denen ein "tolerantes" Paar ein gleiches zur "Freizeitgestaltung" sucht, aber auch wer sich in Heiratsanzeigen als" tolerant" ausgibt, will doch offenbar den Eindruck erwecken, an das moralische Verhalten anderer einschließlich des gesuchten Partners geringere Anforderungen zu stellen als andere oder als die tonangebende Allgemeinheit. Dies alles brauchte nicht erwähnt zu werden, käme nicht bei dieser Gelegenheit die Tendenz der Menschen zum Ausdruck, am Leben und Lebensstil ihrer Mitmenschen Anteil zu nehmen, sich daran zu orientieren, sich damit auseinanderzusetzen, jedenfalls nicht jedes persönliche Verhalten kommentarlos zu tolerieren. Man mag einen anderen Stil für besser halten, wird aber gut daran tun, der sozialen Wirklichkeit und dem herrschenden Verhaltensstil ins Auge zu sehen. Dies vor allem deshalb, weil es dem Staat, gerade aber dem toleranten Staat, schwerlich möglich sein wird, gegen die Natur der Menschen zu handeln und ein Maß an Toleranz zu verlangen, das dem inneren Bedürfnis des Menschen widerspricht. Freilich fordert Art. 1 Abs. I S. 2 GG nicht ohne Bedacht, daß der Staat den einzelnen bei der Ausübung seiner Grundrechte zu schützen habe, worin sicherlich ein Bemühen um Schutz auch ungewöhnlicher Lebensstile eingeschlossen sein muß. Eine rechtlich exakte Abgrenzung dürfte schwierig sein und nur wenig nützen, wenn sie nicht breitere Zustimmung findet. Damit aber bedarf es letzlich doch einer gewissen Erziehung zur Toleranz, wie sie oben im Schulabschnitt behandelt wurde und wie sie in einigen Landesverfassungen angesprochen ist. Die Frage der Grenze von taktvoller Zurückhaltung gegenüber fremden Lebensstilen einerseits und berechtigter Anstoßnahme andererseits wird sich jedenfalls mit den Mitteln staatlicher Gewalt kaum gegen den Willen der durchschnittlichen Bürger durchsetzen können.

6. HAT DAS TOLERANZPRINZIP ZUKUNFT? Gerade die zuletzt behandelten konkreten Bereiche haben Größe und Grenzen, Ideal und Dilemma der Toleranzidee sichtbar gemacht. Sie haben auch gezeigt, daß nicht nur in der Gesellschaft toleranzfreundliche und toleranzwidrige Trends durcheinander gehen, sondern daß auch die vom Grundgesetz geprägte Rechtsordnung toleranzfördernde und toleranzhemmende Regelungen in sich vereint. Die Frage nach der Zukunft der Toleranz und des Pluralismus ist daher nicht nur wegen des Vorrückens totalitärer Systeme in der Welt nicht leicht und nur mit großer Skepsis zu beantworten, abgesehen davon, daß Prognosen über die längerfristige Entwicklung von Staat und Gesellschaft ohnedies in den Bereich der Spekulation gehören. Beobachtet man die genannten Trends in der Gesellschaft, so fällt bei grundsätzlicher Bejahung des Toleranzgedankens durch die überwiegende Mehrheit in Deutschland' ein eher toleranzfeindlicher Zug in manchem Detail und eine Tendenz zur Konformität und Uniformität auf, die im Ergebnis auf eine zwar nicht direkt intolerante, aber doch auch nicht positiv pluralistische Zurückdrängung aller "Sonder"-Anschauungen und Eigenwilligkeiten hinausläuft und die leicht in offene Intoleranz umschlagen kann. Dabei ist sehr die Frage, ob man diese Tendenz, wie eben geschehen, durch Vokabeln wie "Uniformität" mit einem negativen Akzent versehen soll oder ob sich nicht in dieser Tendenz ein im Prinzip eher positiv zu wertendes - Streben und Suchen der Menschen und der Gesellschaft nach Möglichkeiten und Ideen zur Bewältigung der Zukunft und nach Antwort auf die heutigen Lebensfragen ausdrückt, beruhend auf dem mehr oder weniger vagen Ge~hl, von allen bisherigen Religionen und Anschauungen keine hinreichenden Impulse und Antworten erhalten zu haben und zu erhalten. Der "moderne Mensch" und die "moderne Gesellschaft" befinden sich nach der , Die Forderung nach einer "toleranten Sdlule" wurde auf dem 5l. Deutschen Juristentag 1976 trotz der darin enthaltenen Kritik an den Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre mit 129 gegen 3 Stimmen bei 6 Enthaltungen angenommen; eine Gegentendenz etwa im Sinne von Marcuse (a.a.O.) kam nicht auf.

60

6. Hat das Toleranzprinzip Zukunft?

Analyse des Soziologen und des Philosophen auf der Suche nach einer neuen tragfähigen Lebensgrundlage. Die "unruhige Gesellschaft" braucht "jenseits abstrakter Toleranz" eine neue Orientierung zwischen Freiheit und Ordnungl, die jedenfalls in den Grundlagen eine gemeinsame Neuorientierung sein muß und nicht lediglich ein Konglomerat pluralistisch-unverbunden aneinander gereihter verschiedenartiger Antworten sein kann. Durchaus auf der gleichen Linie liegt die Beobachtung des Philosophen, wonach das Suchen des "erlösungsbedürftigen" Menschen nicht zuletzt aus eine "öffentliche Tugend" zielt, eine allgemeine Tugend mit "neuen Überzeugungen", denen gegenüber die Allgemeinheit bzw. die Massenmedien nicht " neutral , pluralistisch, aufgeschlossen gehalten" werden können3 • Wer nach Antworten sucht, dem erscheint die Gleichgültigkeit der bürgerlichen Gesellschaft nicht als positiv zu bewertende Toleranz im Sinne bewußter Duldung des anderen, sondern als "provozierende Toleranz", als "eine Art Libertinage gegenüber der letzten Auskunft"·. Der Jurist mag tausendmal vor der Gefahr des totalen Staates und der totalen Gesellschaft warnen und Offenheit fordern8 , er kommt an der Tatsache nicht vorbei, daß gemeinsame Ratlosigkeit und gemeinsames Suchen nach neuem Halt in einer Gesellschaft zunächst einmal auf neue gemeinsame Antworten zielen und nicht auf Toleranz und Pluralismus. Toleranz ist damit eher das Leitbild einer statischen, differenziert ausgeprägten, sich ihrer Anschauungen sicheren Gesellschaft, während eine zu neuen Ufern aufbrechende, dynamische Gesellschaft jedenfalls zunächst mit dem Toleranzprinzip nicht viel anfangen kann. Die Zukunft der Toleranz ist daher ungeachtet aller bestehenden rechtlichen Sicherungen weitgehend davon abhängig, von welchen Zügen und Tendenzen unsere Gesellschaft geprägt ist und in den nächsten Jahren geprägt sein wird. Toleranz hat ferner mit Blick auf die nachwachsende, noch meinungsoffene Jugend immer einen dynamischen Aspekt. Die Jugend will nicht nur Standpunkte übernehmen, sondern sich auch neue Standpunkte erobern. Unter diesem dynamischen Aspekt kann Toleranz leicht als das Prinzip der Beharrung beim Bestehenden angeprangert 2 Vgl. Helmut Klages, Die unruhige Gesellschaft, München 1975, besonders S.177. I Vgl. HeTbert KTemp, Am Ufer des Rubikon, Eine politische Anthropologie, Stuttgart 1973, S. 166 und S. 165. • KTemp, a.a.O., S. 159. 5 Vgl. jüngst etwa WalteT Schmtdt, Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen zwischen staatlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Macht, AöR Bd.101 (1976), S. 24 (S. 42 f.).

6. Hat das Toleranzprinzip Zukunft?

61

und mißverstanden werden. Es stehen sich ja nicht nur alte und junge Menschen, sondern auch alte und junge Anschauungen gegenüber, sicherlich mit unterschiedlichen Startchancen. Die Verfassung macht zwar, das soll nochmals betont werden, zwischen alten und neuen Anschauungen keinen Unterschied; beide sind gleichberechtigt und genießen gleichermaßen Toleranz, auch wenn das de facto auf eine günstigere Position für bestehende Ansichten hinauslaufen sollte oder hinausläuft. Wenn der Bremer Hochschullehrer Hinz gesagt haben soll: "Historisch überwundenes hat auch unter dem Anspruch Pluralismus kein Wiedergeburtsrecht"', so ist das rechtlich sicher unhaltbar: Auch wer sich zu einer nach dem Bremer Pluralismusverständnis "überwundenen" Ansicht bekennt, hat das gleiche Recht für sich. Aber es ist natürlich eine ganz andere Frage, ob die Gesellschaft damit allein zufrieden ist und ob sie nicht auf dem Weg zu neuen Positionen faktisch einem solchen Standpunkt huldigt, also diejenigen, die den neuen Weg nicht mitgehen wollen, allenfalls belächelt duldet, solange sie sich ruhig verhalten, und eher aggressiv beiseitestößt, wenn sie sich der neuen allgemeinen Position oder Moral in den Weg stellen. Doch lehrt die Geschichte, daß über kurz oder lang wieder Neues sich Bahn bricht und daß noch jeder, der die Vernunft aller auf seiner Seite zu haben glaubte, bald wieder auf die Toleranz angewiesen ist, die er zuvor gering achtete. Wenn die Rechtsordnung deshalb auch gegenüber heftigen Zeitströmungen und Zeitaufbrüchen am Toleranzprinzip festhält, erweist sie auf lange Sicht gerade den Menschen eine Wohltat, die ihr zunächst wenig abgewinnen konnten. Die Grundrechte der Verfassung verdienen deshalb auch in wirren Zeiten unbedingte Verteidigung; im letzten Jahrzehnt haben sie, wie es scheint, die Bewährungsprobe im ganzen bestanden. Gleichwohl bleibt die Prognose für Toleranz und Pluralismus über die nächsten Dezennien ungewiß, ebenso ungewiß, wie es jeder Entwurf "Zum ewigen Frieden"7 immer gewesen ist.

• Ich entnehme die Äußerung einem Aufsatz in der Beilage zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. 6. 1975, S. 3. 7 Vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, 1795 und dazu Ernst E. Hirsch, a.a.O., bes. S.301.