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German Pages 265 [268] Year 2007
Enders/Kahlo (Hrsg.) Toleranz als Ordnungsprinzip?
fundamenta iuris Schriftenreihe des Leipziger Instituts für Grundlagen des Rechts Band 6
CHRISTOPH ENDERS /MICHAEL KAHLO (Hrsg.)
Toleranz als Ordnungsprinzip? Die moderne Bürgergesellschaft zwischen Offenheit und Selbstaufgabe
mentis PADERBORN
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung
Einbandabbildung: Der Einband zeigt eine emblematische Darstellung der Tolerantia aus dem Buch des Joannes Sambucus: Les emblemes von 1567 (S. 147).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http //dnb.d-nb.de abrufbar. = fundamenta iuris, Band 6
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706 © 2007 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Straße 19, D-33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Satz und Druck: Druckhaus Plöger ISBN 978-3-89785-485-7
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Paul Warmbrunn Die (religiöse) Toleranz in historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . .
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Janez Kranjc Das Problem rechtlicher Regelung religiöser Toleranz im Hinblick auf das Toleranzpatent Joseph II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jörg Berkemann Die Emanzipation der deutschen Juden und der Begriff der Toleranz
71
Arnulf von Scheliha Toleranz als Botschaft des Christentums? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
Ralf Poscher Spinoza und das Paradox der Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
Michael Kahlo John Lockes Philosophie der Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
Jürgen Engfer Lessings Plädoyer für Toleranz. Die Struktur seiner Begründungen
159
Ludwig Siep Toleranz und Anerkennung bei Kant und im Deutschen Idealismus
177
Werner Stegmaier Nietzsches Kritik der Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
Helmut Goerlich Glaubens- und Religionsfreiheit in »Zeiten des Multikulturalismus« in völker-, europa- und verfassungsrechtlicher Sicht – oder vom Staatskirchenrecht zu einem allgemeinen Religionsrecht? . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Rainer Zaczyk Das Toleranzgebot als strafrechtsbegrenzendes Prinzip? . . . . . . . . . .
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Christoph Enders Toleranz als Rechtsprinzip? – Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben anhand höchstrichterlicher Entscheidungen . . . . . 243 Liste der Teilnehmerinnen und Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Der als ein praktisches Prinzip verstandene Toleranzgedanke ist nicht nur in Deutschland gerade in neuerer Zeit zu einem zunehmend wichtigen Gegenstand der Diskussionen um die Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Staatsbürgerschaften, Sprachen, kultureller Prägungen und Konfessionen in einer offenen Rechtsgesellschaft geworden.1 Die damit angesprochene Frage nach der Eignung des Toleranzgedankens als Praxisgrundsatz betrifft zunächst das innerstaatliche Zusammenleben in rechtsstaatlich-freiheitlich verfaßten Republiken2, wie sie die in der Europäischen Union verbundenen Staaten, trotz mancher struktureller Unterschiede, darstellen. So bildet und entwickelt sich Sozialität in einem Europa zunehmend »offener Staaten« (di Fabio) schon seit geraumer Zeit nicht allein mehr zwischen den jeweils gleichsam angestammten Staatsbürgern gegeneinander abgegrenzter Nationen, die durch gemeinsame Sprache, eine bei aller Pluralität doch eben auch gemeinsame Kultur, ihren identitätsstiftenden (positiven oder negativen) Bezug auf ganz bestimmte Traditionen sowie eine, nämlich die christliche (wenngleich durch zwei verschiedene Kirchen repräsentierte) Religion immer schon miteinander verbunden sind. Vielmehr haben wirtschaftlich bedingte und durch politische Unterdrückung resp. Verfolgung im Herkunftsland forcierte Migrationsbewegungen zusammen mit der Öffnung der Staaten der Europäischen Union füreinander und mittlerweile auch der Erweiterung dieser Union zu einer Europäisierung und »Internationalisierung« der Lebensverhältnisse auch in Deutschland geführt, unter deren Bedingungen die Fragen der gesellschaftlichen Ordnung des Zusammenlebens und deren tragender Prinzipien neu, jedenfalls aber in veränderter Form sich stellen. Geht es doch jetzt nicht 1 Vgl. beispielhaft etwa die in Frankreich diesbezüglich intensiv geführten, auch politischen Auseinandersetzungen in Reaktion auf die 2005 erfolgten nächtlichen Gewaltausbrüche vor allem Jugendlicher zunächst in Vororten von Paris und dann in zahlreichen weiteren französischen Städten. 2 Dieser Begriff wird hier in dem von Kant verwendeten Sinn einer nach den Prinzipien der Freiheit (als Mensch), der Unterstellung unter eine gemeinsame öffentliche Rechtsgesetzgebung und der Gleichheit (als Staatsbürger) konstruierten, durch Gewaltenteilung (insbesondere »das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt ... von der gesetzgebenden«) gekennzeichneten Staatsverfassung verwendet, vgl. dens., Zum Ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, AA VIII, S. 349 f.; ähnlich schon ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII, S. 289 ff., sowie später: Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Staatsrecht, §§ 45 ff., bes. § 49, AA VI, S. 313 ff., bes. S. 316 ff.
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Vorwort
allein mehr um die Probleme des Umgangs mit (bei aller Pluralität) jedenfalls partiell gleichsam vertrauten Mitbürgerinnen und Mitbürgern, deren Lebensformen, praktizierten Einstellungen und Haltungen3, sondern – das vielzitierte Schlagwort von der »Multikulturalität« zeigt dies schon an – vielmehr um die Gestaltung einer Ordnung, die eine freiheitlich orientierte und organisierte Koexistenz auch mit solchen und für solche Mitmenschen und Bevölkerungsgruppen darstellt, deren Identität und Lebenseinstellungen sich unter dem Einfluß anderer (»fremder«) Kulturen, Traditionen und Konfessionen entwickelt haben. Und im Kontext der damit angesprochenen Dimension kommt das Gebot der Toleranz notwendig und in neuer Weise in den Blick: Zu untersuchen und begrifflich aufzuklären ist nämlich jetzt, ob und – falls ja – auf welche Weise und in welchem Umfang Toleranz als praktisches Prinzip (auch) unter den gerade bezeichneten Bedingungen bestimmend werden soll und kann. Diese Aufgabe ist freilich nicht allein für den Bereich des innerstaatlichen Zusammenlebens gestellt, sondern gewinnt möglicherweise noch an Bedeutung dann, wenn man den Blick auf die Ordnung des Völkerrechts oder auch Phänomene wie den Bereich der Internationalen Strafgerichtsbarkeit richtet. Das legt bereits der Umstand nahe, daß eine dem nationalen Rechtsstaat entsprechende, mit grundlegenden Ordnungskompetenzen (Gesetzgebung) und notfalls weit gehenden, durchgreifenden Zwangsbefugnissen (Exekutive) ausgestattete Institution auf dem Gebiet der zwischenstaatlichen (Rechts-)Verhältnisse nicht existiert4 – ein Zustand, der insbesondere angesichts der vielfältigen, zunehmend intensiver werdenden Wechselwirkungen, in denen nicht nur die Verhaltensweisen der Staaten zueinander stehen, sondern auch das Handeln von deren Bürgerinnen und Bürgern, einen zumindest in mancher Hinsicht andersartigen Umgang mit Differenzen und Konflikten erfordert, die sich aus dieser sog. Globalisierung der Lebens- und Existenzverhältnisse ergeben. Vor allem aber hat jede (rechtliche) Ordnung 3 Auch diese mögen freilich »Toleranz« erfordern, besonders dann, wenn sie von gesellschaftlichen Minderheiten vertreten und verwirklicht werden, die deren Duldung oder Anerkennung von den Anderen/der Mehrheit fordern. 4 Daß dieser Zustand kein bloßes Faktum ist, sondern daß vielmehr gute Gründe dafür sprechen, die Einrichtung eines Völkerbundes nach Art der Vereinten Nationen im Vergleich zu der Idee einer Weltrepublik als vorzugswürdig zu erachten, haben zuletzt besonders die Bemühungen um eine angemessene Auseinandersetzung mit Kants Völkerrechtsphilosophie aus Anlaß des 200. Jubiläums der Veröffentlichung seiner »Friedensschrift« gezeigt; vgl. dazu nur V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf »Zum Ewigen Frieden«, 1995; ferner die Beiträge in den Sammelbänden von: O. Höffe (Hg.), Zum ewigen Frieden, 1995, und M. Lutz-Bachmann (Hg.) Frieden durch Recht, 1996; sowie die Rezensionen von G. Geismann, Nachlese zum Jahr des ewigen Friedens. Ein Versuch, Kant vor seinen Freunden zu schützen, Logos, N. F. 3 (1996), S. 317 ff., und ders., Kants Weg zum Frieden, in: H. Oberer (Hg.), Kant. Analysen – Probleme – Kritik, Bd. III, 1997, S. 333 ff.
Vorwort
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für eine solche, sich immer weiter ausbildende »Weltgesellschaft ohne Weltrepublik« der naturgemäß und geschichtsbedingt heterogenen Zusammensetzung einer solchen Gesellschaft Rechnung zu tragen, die notwendig zusätzliche Probleme des praktischen Umgangs mit schon ursprünglich unterschiedlichen sprachlichen, religiösen, rechtlichen und anderen kulturellen Identitäten miteinander aufwirft, die sich als Toleranzprobleme auffassen lassen. Trotz der damit beschriebenen Bedeutung dieser Aufgabe steht deren Bewältigung, auch bei Berücksichtigung mancher verdienstlicher Bemühungen gerade in jüngster Zeit,5 derzeit noch aus. So ist zum Beispiel zu vermerken, daß schon Begriff und Reichweite, aber auch die aus diesen zu entwickelnden Funktionen der Toleranz als gesellschaftliches Ordnungsprinzip weder an sich noch in dessen Verhältnis zu anderen ordnenden Institutionen menschlichen Zusammenlebens, vornehmlich zum Recht, zureichend geklärt sind, wie exemplarisch der Verweis auf vier verschiedene Konzeptionen der Toleranz (Erlaubnis- oder Duldungs-, Koexistenz-, Respekts- und Wertschätzungskonzeption) anzeigt, die unlängst Rainer Forst in seiner Habilitationsschrift vorgetragen hat.6 Solche Klärung erfordert vielmehr koordiniert-vielschichtige Gedankenund Begründungsgänge, wie sie vorzüglich dadurch möglich werden, daß man die durch die relevanten Einzeldisziplinen jeweils beizutragenden Untersuchungen, die der genaueren Aufklärung der Toleranzidee und deren Praxis gewidmet sind, so zusammenführt, daß dadurch schrittweise der Grund für einen angemessenen Begriff der Toleranz gelegt wird. Der vorliegende Band versammelt ganz in diesem Sinne die wissenschaftlichen Erträge einer interdisziplinären Tagung, die das Institut für Grundlagen des Rechts der Universität Leipzig – gemeinsam mit der Fritz-Thyssen-Stiftung und mit freundlicher Unterstützung der »Vereinigung von Förderern und Freunden der Universität Leipzig e.V.« – unter dem Titel »Toleranz als Ordnungsprinzip? – Die moderne Bürgergesellschaft zwischen Offenheit und Selbstaufgabe« – vom 14. bis 17. Juni 2006 in Leipzig veranstaltet hat. Dementsprechend bringen die nachstehenden ideengeschichtlichen, theologischen, philosophischen und juristischen Beiträge nicht nur die Perspektiven der jeweiligen Einzelwissenschaft zur Geltung, sondern können als interdisziplinärer Dialog gelesen und verstanden werden, wie er im Fortgang des Kolloquiums – nicht nur zwischen den Referenten, sondern auch unter leb5 Zu denken ist etwa an den im Jahr 2000 erschienenen, von R. Forst edierten Sammelband »Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend« mit den wichtigen Beiträgen u. a. von R. Bubner, O. Höffe, A. Margalit, M. Nussbaum, M. Walzer und B. Williams. 6 Vgl. R. Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, bes. S. 42 ff.
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Vorwort
hafter Beteiligung der weiteren, in der Teilnehmerliste am Ende des Bandes namentlich aufgeführten Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer – tatsächlich und mit großer Intensität geführt wurde.7 Die Reihenfolge der hier abgedruckten, zur Drucklegung überarbeiteten und um Fußnoten ergänzten Beiträge folgt daher auch allein methodischen Erwägungen, die eine gedankliche Gliederung der Referate in drei Teile nahelegten. Der erste, der Geschichte der Toleranz gewidmete Schwerpunkt trägt dabei mit den Beiträgen von Paul Warmbrunn (Speyer)8, Janez Kranjc (Ljubljana) und Jörg Berkemann (Hamburg) dem Umstand Rechnung, daß Begriff und Praxis der Toleranz weit, nämlich bis in die Antike zurückreichende historische Wurzeln aufweisen, die auch im neuzeitlichen Verfassungsstaat durchaus noch von erheblicher, unter den oben beschriebenen gegenwärtigen Bedingungen der Europäisierung und »Internationalisierung« möglicherweise sogar von (wieder) wachsender Bedeutung sind. In einem zweiten Schritt werden in grundlegender Absicht theologische und philosophische Perspektiven des Toleranzproblems thematisiert. Daß die Auseinandersetzung mit der theologischen Perspektive sich dabei mit dem Beitrag von Arnulf von Scheliha (Osnabrück) auf das Selbstverständnis des Christentums konzentriert, hat seinen Grund vor allem in den christlichen Traditionen (»Wurzeln«) des Abendlandes, durch welche diese Perspektive zugleich mit der (neuzeitlichen) Geschichte von Begriff und Praxis der Toleranz verwoben ist9 und dadurch im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung des Toleranzgedankens steht.10 Dies gilt nicht weniger 7 Trotz der Fruchtbarkeit vieler Diskussionsbeiträge verbot sich deren in mancher Hinsicht an sich wünschenswerter Abdruck vor allem wegen des damit verbundenen erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwandes. Allen Diskutanten sei jedoch auch an dieser Stelle nochmals herzlich für ihre Mitwirkung gedankt. Inwieweit ihre Diskussionsbeiträge als Anregungen in die vorliegende Veröffentlichung eingeflossen sind, werden sie bei der Lektüre der nachstehenden Druckfassungen der Vorträge selbst feststellen können. 8 Für die Ausarbeitung und Zur-Verfügung-Stellung seines für den genannten Abschnitt grundlegenden Textes danken die Herausgeber dem Autor, Herrn Dr. Paul Warmbrunn, auf das herzlichste. Seine Bereitschaft, diesen Einführungsbeitrag zu übernehmen und in ganz eigenständiger Form innerhalb von nur drei Monaten praktisch neu zu bearbeiten, nachdem der Tagungsreferent sich aus persönlichen Gründen außerstande sah, eine Druckfassung seines Vortrages anzufertigen, kann Herrn Warmbrunn nicht hoch genug angerechnet werden. 9 In dieser Hinsicht ist etwa daran zu erinnern, daß Begriff und Praxis der Toleranz in ihrem neuzeitlichen Verständnis in Deutschland sich nicht zuletzt im Gefolge der Ausbildung christlich-religiöser Pluralität im 16. Jahrhundert, besonders nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, entwickelt haben. 10 Eine Zwischenstellung zwischen diesen beiden Perspektiven (Geschichte und Religion) nimmt im übrigen auch der bereits erwähnte Beitrag Jörg Berkemanns ein, der das Thema »Die Emanzipation der deutschen Juden und der Begriff der Toleranz« behandelt. Insofern
Vorwort
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für die philosophische Perspektive, die durch die folgenden Beiträge von Ralf Poscher (Bochum), Michael Kahlo (Leipzig), Jürgen Engfer (Berlin), Ludwig Siep (Münster) und Werner Stegmaier (Greifswald) zur Sprache gebracht wird, in denen zentrale »klassische Positionen« zur philosophischen Aufklärung des Toleranzbegriffs behandelt und dabei insbesondere auf ihre Tauglichkeit für eine Antwort auf die thematische Leitfrage hin untersucht werden. Nun wären die Bemühungen um eine zureichend fundierte und präzise Bestimmung des Toleranzbegriffs, dessen Bedeutung und Funktionen auch in der Gegenwart, ersichtlich unvollständig, wenn sie nicht auch – worauf vorstehend bereits hingewiesen wurde – auf dessen Verhältnis zu anderen Ordnungsprinzipien und Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, namentlich zum Recht und dessen Grundsätzen, bezogen wären. Dieser Bezug wird abschließend durch die Beiträge von Helmut Goerlich (Leipzig), Rainer Zaczyk (Bonn) und Christoph Enders (Leipzig) hergestellt, deren Gegenstand exemplarische Rechtsprobleme der Toleranz bilden. Die ausgewählten Beispiele sollen dabei nicht nur die wachsende Brisanz verdeutlichen, die Problemen der Toleranz auch heute, im säkularisierten Staat, noch zukommt und die sich an zahlreichen bekannten Entscheidungen der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung ablesen läßt. Vielmehr läßt sich an ihnen auch die Funktion sowie die Reichweite der Toleranzidee als mögliches Ordnungsprinzip gewissermaßen in concreto genauer erfassen und zugleich veranschaulichen.11 Mit den behandelten Rechtsproblemen wird daher nicht zuletzt der rechtsprinzipielle Rang des Toleranzgebots in einer rechtsstaatlich entwickelten Ordnung angesprochen. Gewiß ist auch mit den in diesem Band versammelten Beiträgen nicht mehr als ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer Aufklärung und Bestimsteht das Judentum hier – pars pro toto neben dem Christentum – stellvertretend auch für die anderen Weltreligionen, deren eigene Toleranzperspektive sowie den toleranten oder intoleranten Umgang mit diesen. Die sachlich an sich gebotene Einbeziehung dieser Religionen, insbesondere auch des Islam, war angesichts des zeitlichen Rahmens der Veranstaltung unmöglich zu leisten. Eine umfassendere und intensivere Aufnahme des theologischen Diskurses sowie der religiösen (oder jedenfalls religiös motivierten) Praxis dieser Konfessionen muß deswegen einer künftigen Fortsetzungsveranstaltung vorbehalten bleiben. Die hervorgehobene Behandlung der Juden und der jüdischen Religion erscheint uns angesichts der besonderen Bedeutung sachlich gerechtfertigt, die dem Judentum in der Geschichte Europas zukommt und die auch durch den mörderischen Versuch der Nationalsozialisten, »die Juden« als Volk und mit ihnen »das Judentum« sowie »die jüdische Kultur« zu vernichten, nicht auszulöschen war und ist. 11 Gedacht ist dabei etwa an die bekannten und vieldiskutierten Entscheidungen zum Schulgebet, zum Kruzifix im Klassenzimmer, zum Kopftuchstreit und zum Problem des Schächtens.
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Vorwort
mung der Toleranzidee getan, dem weitere Bemühungen werden folgen müssen. Wie wichtig und dringlich solche Bemühungen sind, haben nicht nur die teilweise vehementen Reaktionen auf die Regensburger Universitätsrede des Papstes gezeigt.12 Um so mehr sind wir der Fritz-ThyssenStiftung zu Dank für den großzügigen Druckkostenzuschuß verpflichtet, ohne den die Publikation dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre. – Herzlich zu danken ist aber auch Frau Anja Schmidt dafür, daß sie die Arbeit an ihrer Dissertation unterbrochen hat, um die nicht immer einfache Schlußredaktion für die einzelnen Beiträge zu übernehmen, und für die Umsicht und Geduld, mit der sie diese Aufgabe bewältigt hat. Schließlich ist in formaler Hinsicht darauf hinzuweisen, daß sich die in den Beiträgen verwendeten juristischen Abkürzungen über das Abkürzungsverzeichnis der deutschen Rechtssprache von H. Kirchner und C. Butz (zuletzt 5. Aufl. 2003) erschließen lassen. Leipzig, im Mai 2007 Christoph Enders
Michael Kahlo
Benno Zabel
12 Vgl. Papst Benedikt XVI. (J. Ratzinger), Glaube, Vernunft und Universität (Vorlesung an der Universität Regensburg vom 12.9.2006), abgedruckt in: FAZ vom 13.9.2006, S. 8. – Daß insbesondere die scharfen Reaktionen, welche die vorbezeichnete Rede vor allem in manchen »islamischen Staaten« erfahren hat, durch Mißverständnisse oder politische Absichten beeinflußt gewesen sein mögen, ändert an diesem Erfordernis ersichtlich nichts: Je unbestimmter die Vernunft in interreligiösen und zwischenstaatlichen Verhältnissen bleibt, um so mehr Raum bietet sich dem »Diskurs« für derartige Reaktionen.
Paul Warmbrunn
Die (religiöse) Toleranz in historischer Perspektive Der Begriff Toleranz1 wird heute in den verschiedensten Kontexten verwandt;2 vorrangig wird er jedoch nach wie vor mit dem religiös-weltanschaulichen Bereich in Verbindung gebracht. Die religiöse Toleranz hat eine lange, bis in die Spätantike zurückreichende Geschichte. Im nachfolgenden geschichtlichen Überblick soll aber die Frühe Neuzeit, das Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung, im Mittelpunkt stehen. Der Verlust der mittelalterlichen Einheit der Kirche im christlich-abendländischen Raum durch die reformatorische Bewegung bedeutete für die Toleranz eine besondere Herausforderung; überspitzt gesagt, mußten Formen des Zusammenlebens mit Menschen gefunden werden, die nach dem mittelalterlichen Ketzerrecht eigentlich hätten hingerichtet werden müssen. Einander ausschließende Wahrheits- und Heilsansprüche bargen ein explosives Potential in sich, das nach Lösungsversuchen verlangte.
I. Einleitung: Begriffsgeschichte Toleranz ist ein Konfliktbegriff;3 konstitutiv für ihre Entstehung und Anwendung ist ein Konflikt zwischen Werten und Wahrheitsansprüchen, die sich nicht zur Deckung bringen oder zumindest in ein abgestuftes Verhältnis zueinander setzen lassen. Mit einem solchen Wertekonflikt kann man in unterschiedlichster Weise umgehen; die Möglichkeiten reichen von der intransigenten, gewaltsamen Durchsetzung des eigenen Anspruchs bis zum 1 Grundlegende Handbuchartikel: E. Stöve, Toleranz I., in: G. Krause/G. Müller (Hrsg.) Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 33, 2002, S. 646 ff. (vgl. auch H. Rosenau, Toleranz II. u. P. Gerlitz, Toleranz III.); Versch. Verf., Toleranz/Intoleranz, in: H. D. Betz u. a. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 4. Aufl., Bd. 8, 2005, Sp. 458 ff., bes. M. Ohst, IV: Geschichtlich, Sp. 461 ff. 2 Zur Begriffsdefinition und den ideengeschichtlichen Grundlagen vgl. R. Forst (Hrsg.), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, 2000, bes. ders., Einleitung, S. 7 ff. 3 Vgl. zum Folgenden Stöve, Toleranz (Fn. 1), S. 646 f.
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Paul Warmbrunn
indifferenten, wertungebunden Laissez faire. Zwischen den Polen Intransigenz und Indifferenz erstreckt sich das Feld der Toleranz, ergibt sich ein breites Spektrum möglicher Arrangements, die den Konflikt erträglich machen oder sogar ins Positive wenden können. Man kann drei Typen von Toleranz unterscheiden: – die pragmatische oder formale Toleranz, die auf die Durchsetzung des eigenen Werte- und Wahrheitsanspruchs zugunsten eines anderen, momentan höher eingeschätzten Gutes, z. B. des Friedens oder der gesellschaftlichen Wohlfahrt, verzichtet. Sicherlich am erfolgreichsten und am häufigsten angewendet, gerät sie gleichwohl leicht in den Geruch des Opportunismus; – die Konsens(us)-Toleranz: sie sucht bei aller Verschiedenheit in der äußeren Ausprägung nach Übereinstimmung im Kernbereich, um die Punkte, in denen keine Verständigung möglich ist, als »adiaphorisch«, nebensächlich und unwesentlich zu entschärfen. Eine solche Form der Toleranz wurde in den Religionsgesprächen der Reformationszeit ebenso wie in den Bemühungen um eine natürliche Religion in der Aufklärung angestrebt; – die dialogische oder inhaltliche Toleranz: sie geht in einem historistischen Ansatz von der Zeitbedingtheit und geschichtlichen Veränderbarkeit von Werten und Überzeugungen aus; die Auseinandersetzung mit dem Andersgläubigen ist dann weder von Abwehr noch von Missionierungsstreben geprägt, sondern von einer ideellen Konkurrenz, die eine positive Anerkennung fremder Religion und dadurch auch eine Erweiterung und Bereicherung des eigenen Glaubenslebens sucht. Angesichts der Aggressivität und Unbedingtheit, mit der Wahrheitsüberzeugungen und Wertevorstellungen oft vertreten werden, hat Toleranz vielfach einen schweren Stand – und dies umso mehr angesichts des inneren Widerspruchs, daß Toleranz, konsequent angewendet, sich selbst abzuschaffen droht. Die ihr innewohnende Tendenz zur Beliebigkeit ist mit einem Verlust an Motivationskraft verbunden, und auf diese Weise indifferent gewordene Gesellschaften sind der Gefahr fundamentalistischer Regression mit allen Formen der Intoleranz in besonderer Weise ausgesetzt. Toleranz muß einen Mittelweg zwischen den Extremen Fundamentalismus und Indifferenz finden, um dem Wertekonflikt, mit dem gesellschaftliches Leben immer verbunden ist, seine zerstörerische Kraft zu nehmen und – so das Ideal – ihn sogar produktiv umzusetzen.
Die (religiöse) Toleranz in historischer Perspektive
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II. Theoretische Begründung im Humanismus und in der Reformationszeit Die Entstehung des religiösen Toleranzgedankens in der Frühen Neuzeit vollzog sich höchstens am Rande, meist jedoch außerhalb der etablierten Kirchen.4 Angestoßen wurde die Toleranzdiskussion des 16. Jahrhunderts von den Humanisten.5 Erasmus von Rotterdam (1469-1536)6 schlug als erster 1526 eine begrenzte und individuelle Toleranz vor, die er allerdings dem vorrangigen Ziel einer Wiedervereinigung der sich trennenden Glaubensparteien unterordnete: »ut utrique parti sit locus, et suae quisque conscientiae relinquatur, donec tempus adferat occasionem concordiae (daß jedem Teil ein Standpunkt eingeräumt und jeder bei seiner Überzeugung gelassen werde, bis die Zeit die Gelegenheit zu einer Einigung bringt)«7.
Zu Protagonisten in der nachfolgenden Toleranzdiskussion wurden eher gesellschaftliche Außenseiter: der Schriftsteller und Prediger Sebastian Franck (1499-1542/43)8, der sich in bewußter Abkehr von einem dogmatischen Luthertum den Täufern zugewandt hatte und ein unstetes Wanderleben führte, und der gebürtige Savoyarde und Basler Gräzist Sebastian Castellio (1515-1563)9. Franck legte bereits 1539 ein zweifelsfreies Bekenntnis zur Toleranz ab: »Mir ist ein Papist, Lutheran, Zwinglian, Tauffer, ja ein Türck ein guter bruder, der mich zu gut hat und neben im leyden kann, ob wir gleich nit ainerley gesinnt, durchauß eben sind, biß uns Gott ein mal in seiner Schul zusamen hilfft und eins sinns macht.«10 4 Vgl. K. v. Greyerz, Religion und Kultur. Europa 1500-1800, 2000, hier S. 243. 5 Vgl. zum Folgenden P. Warmbrunn, Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648, 1983, S. 4 f. 6 Vgl. H. Klueting, »Lasset beides miteinander wachsen bis zur Ernte«. Toleranz im Horizont des Unkrautgleichnisses (Mt 13, 24-30). Martin Luther und Erasmus von Rotterdam, in: H. Lademacher u. a. (Hrsg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, 2004, S. 56 ff., bes. ab S. 64; dort auch E. Stöve, Luther, Erasmus und das Problem der Toleranz, S. 68 ff., bes. S. 78 ff. 7 Zitiert nach H. Lutz, Reformation und Gegenreformation, 1979, S. 167. 8 Zu ihm L. Blaschke, Der Toleranzgedanke bei Sebastian Franck, in: H. Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, 1977, S. 42 ff. 9 Vgl. die grundlegende Biographie von H. R. Guggisberg, Sebastian Castellio 1515-1563. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter, 1997. 10 S. Franck, Das verbütschiert, mit siben Sigeln verschlossen Buch, Augsburg 1539, fol. 427 a; vgl. auch E. Wolgast, Religionsfrieden als politisches Problem der frühen Neuzeit, Historische Zeitschrift (HZ) 282 (2006), S. 59 ff., hier S. 93 mit Anm. 95.
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Paul Warmbrunn
Castellio griff die Ideen Francks auf11 und wandte sich mit seiner 1554 veröffentlichten Schrift De haereticis an sint persequendi unmittelbar gegen Johann Calvin, seinen Genfer »Gottesstaat« und die Hinrichtung des Antitrinitariers Michel Servet.12 In Castellios Toleranzschriften13 spielt das Unkrautgleichnis in Mt 13, 24-30 eine zentrale Rolle. Sie stießen namentlich in der Schweiz, Süddeutschland, England, Siebenbürgen und Polen auf starke Resonanz und wurden auch von dem niederländischen Späthumanisten Dirk Volckertszoon Coornhert (1522-1590)14 intensiv rezipiert. Castellio blieb einflußreich, solange die Toleranzdiskussion unter christlichen Vorzeichen geführt wurde, dann löste ihn Pierre Bayle (1647-1706) als Leitfigur ab. Zuvor bereits hatte Martin Luther den Begriff der tolerantia in die deutsche Schriftsprache eingeführt, allerdings im negativen Sinne, wenn er am 12. Juni 1541 in einem Brief an die Fürsten Johann und Georg von Anhalt die auf den Religionsverhandlungen des Regensburger Reichstags von 1541 vorgeschlagene befristete Duldung der abweichenden Überzeugung der anderen Konfession bis zum Entscheid eines Konzils kategorisch ablehnte: »Ich kan auch nit bedengken, Das einiche vrsach vorhanden sey, die gegen got die tollerantz (!) mochte entschuldigen, Dieweill kein schwacheit der Obrigkeiten nach der Ihenigen halben, die sich der kirchen Ambt und Ministerien vff dem andern theill annhemen, vorhanden ist, Sondern Lautere vorsetzliche Tyranney, die wurden auch nymmermehr starck werden vnd In ewiger Tollerantz wollen verharren, vnd solche Artigkel vor Recht verdeidingen. Die wollen aber wir, wie Ich ewern f. g. negst gesagt, vordampt haben, Dieweill sie Iren Irthumb wissen vnd dannocht vor recht halten vnd vorteidingen wollen.«15
Die Religionsgespräche der Reformationszeit hatten eine Konsens-Toleranz der Art zum Ziel, daß man sich mit dem Anderskonfessionellen auf einen Kern essentieller Glaubensüberzeugungen einigte und die Punkte, in denen keine Einigung möglich war, als nebensächlich, als »adiaphorisch«, anstehen ließ. Ihnen war damit kein Erfolg beschieden, was wohl weniger an mangelnder Verständigungsbereitschaft der Theologen, die gerade in Regensburg 11 Guggisberg, Castellio (Fn. 9), S. 145 ff. 12 Darin zeigt sich deutlich, wie sehr auch der Protestantismus zum rigorosen Einschreiten gegen vermeintliche Häretiker, vor denen man unschuldige Seelen zu schützen habe, entschlossen war. 13 Außer in den genannten in einem zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Manuskript »De haereticis [...] non puniendis«, einer Antwort auf die Gegenschrift von Theodor Beza (15191605) »De haereticis a civili magistratu puniendis«. 14 Vgl. H. Duits, Ein Trompeter der Wahrheit. Dirk Volckertszoon Coornhert, unermüdlicher Streiter für Toleranz und gegen Tyrannei, in: Lademacher u.a. (Hrsg.), Toleranz (Fn. 6), S. 142 ff. 15 M. Luther, Briefe, Weimarer Ausgabe (WA), Bd. 9, 1941, S. 441.
Die (religiöse) Toleranz in historischer Perspektive
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oder auf dem Augsburger Reichstag von 1530 große Leistungen erbracht haben, als an der Verhärtung der konfessionspolitischen Rahmenbedingungen lag. Hinter den religiös-konfessionellen Überzeugungen verbargen sich zudem oft alles andere als theologische Interessen, und auch die gerade in der Reformationszeit ausgeprägte Tendenz, Äußerlichkeiten wie Laienkelch, Priesterehe oder Fastengebote als identitätsstiftende Unterscheidungsmerkmale zu instrumentalisieren, wirkte einer Verständigung entgegen.
III. Augsburger Religionsfriede von 1555 als Ausgangspunkt für eine gesetzliche Regelung von Toleranz und Religionsfreiheit Das Ringen in der Reformationszeit um die wahre Kirche endete in einem Patt: Der Augsburger Religionsfrieden16 legte die konfessionellen Auseinandersetzungen des Reformationszeitalters in Form eines Kompromisses zwischen den künftig reichsrechtlich allein anerkannten Bekenntnissen, der katholischen und der Augsburgischen (= lutherischen) Konfession, vorläufig bei,17 wobei die theologische Wahrheitsfrage bewußt ausgeklammert wurde. Er reiht sich ein in eine lange Abfolge von Friedensschlüssen zwischen verschiedenen Konfessionen, die bereits vor der Reformation mit dem Kuttenberger Religionsfrieden von 148518 in Böhmen zwischen Katholiken und Utraquisten einsetzt, hat jedoch gleichwohl eine einzigartige und herausragende Stellung in der europäischen Reichsgeschichte als Beginn einer Koexistenz von katholischem und evangelischem Bekenntnis, das die Ein16 Aus den zum Jubiläumsjahr 2005 neu erschienenen Veröffentlichungen seien hier nur herausgegriffen: A. Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, 2004; C. A. Hoffmann u. a. (Hrsg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden (Ausstellungskatalog), 2005; W. Wüst u. a. (Hrsg.), Der Augsburger Religionsfriede 1555. Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung, 2005; speziell zur Toleranz H. Gabel, Der Augsburger Religionsfriede und das Problem der Toleranz im 16. Jahrhundert, in: Lademacher u.a. (Hrsg.), Toleranz (Fn. 6), S. 83 ff.; dort auch P. Warmbrunn, Toleranz im Reich vom Augsburger Religionsfrieden bis zum Westfälischen Frieden – Kirchen- und Landesordnungen und gesellschaftliche Praxis, S. 99 ff.; H. Schilling, Das lange 16. Jahrhundert – der Augsburger Religionsfrieden zwischen Refomation und Konfessionalisierung, in: Hoffmann (Hrsg.), Frieden (s. o. diese Fn.), S. 19 ff.; dort auch A. Gotthard, Säkularisierung – Toleranz – Menschenrechte. Ideen- und mentalitätsgeschichtliche Blicke auf die Augsburger Ordnung, S. 282 ff. 17 Die im Folgenden skizzierte Problematik erstmals ausführlich erörtert von N. Paulus, Religionsfreiheit und Augsburger Religionsfriede, Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 149 (1912), S. 356 ff.; wieder abgedruckt in: Lutz, Toleranz (Fn. 8), S. 17 ff. Gute Zusammenfassung der Friedensbestimmungen bei M. Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 1983, S. 33 ff.; zum allgemeinen Kontext zusammenfassend Wolgast, Religionsfrieden (Fn. 10). 18 Vgl. Wolgast, Religionsfrieden (Fn. 10), hier S. 63 f.
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heit von Kirche und Kaisertum beendete sowie eine Zeit der konfessionellen Duldung wie des religionspolitischen Konflikts gleichermaßen einleitete. Als wichtigste Bestimmung des Augsburger Religionsfriedens wurde jedem Reichsstand das ius reformandi19 eingeräumt, das Recht, sich für eines der beiden Bekenntnisse zu entscheiden und seinen Untertanen die Annahme der gewählten Konfession vorzuschreiben. Damit galt für das Reich künftig Bikonfessionalität, allerdings bei konfessioneller Einheitlichkeit seiner Glieder. Die »Tendenz zur Territorialisierung der Konfession«20 wurde – erstmals 1582 durch den Greifswalder Juristen Joachim Stephani21 – in dem griffigen Schlagwort cuius regio, eius religio zusammengefaßt. Bekenntnisfreiheit wurde im Augsburger Religionsfrieden also nicht allen Gläubigen, sondern nur den Reichsfürsten eingeräumt. Dennoch wurden Bestandteile des Friedenswerks von 1555 zum Ausgangspunkt einer gesetzlichen Regelung von Toleranz und Religionsfreiheit. Die Voraussetzungen hierzu schufen die Aufspaltung des Eintracht-(concordia-)Begriffs und die Legitimierung der konfessionellen Zwietracht (discordia) als politischer Lebensform.22 Diese Entwicklung muß vor dem Hintergrund eines sich im 16. Jahrhundert wandelnden rechtstheoretischen Umfelds gesehen werden: mehr und mehr setzten sich das Vertragsdenken und ein am Individuum orientiertes Rechtsverständnis durch. Ein im Hinblick auf Toleranz und Religionsfreiheit zukunftsweisender Ansatzpunkt war das in § 24 des Religionsfriedens festgelegte Emigrationsrecht aus Glaubensgründen, das beneficium emigrandi23, nach Martin Heckel »das erste allgemeine Grundrecht, das das Reich durch das geschriebene Verfassungsrecht jedem Deutschen garantierte«24. Es unterschied den Augsburger Religionsfrieden von allen anderen Religionsfrieden. Auch katholische Landesherrn konnten gegen Untertanen, die sich zur Augsbur19 Vgl. B. C. Schneider, Ius Reformandi. Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches, 2001; s. auch Gotthard, Religionsfrieden (Fn. 16), S. 100 ff. 20 W. Schulze, Ex dictamine rationis sapere. Zum Problem der Toleranz im Heiligen Römischen Reich nach dem Augsburger Religionsfrieden, in: M. Erbe u. a. (Hrsg.), Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans R. Guggisberg, 1996, S. 223 (S. 227). 21 »Ut cuius sit regio ..., eius etiam sit religio«; vgl. Schneider, Ius Reformandi (Fn. 19), S. 312. 22 Vgl. Schulze, Toleranz (Fn. 20), S. 227 und 239; vgl. auch ders., Augsburg und die Entstehung der Toleranz, in: J. Burkhardt/S. Haberer (Hrsg.), Das Friedensfest. Augsburg und die Entwicklung einer neuzeitlichen Toleranz-, Friedens- und Festkultur, 2000, S. 43 (48). Zur Einordnung in die allgemeine Toleranzdiskussion auch ders., Pluralisierung als Bedrohung: Toleranz als Lösung, in: H. Duchhardt (Hrsg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, 1998, S. 115 ff. 23 Vgl. Schneider, Ius reformandi (Fn. 19), S. 157 ff. 24 Vgl. Heckel, Deutschland (Fn. 17), S. 47 f.
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gischen Konfession bekannten, nicht mehr mit dem Ketzerrecht der vorreformatorischen Zeit, sondern »nur« noch mit Landesverweisung vorgehen. Zur Duldung Andersgläubiger ließen sich die Territorialherren hierbei nicht auf Grund einer abstrakten Toleranzidee, sondern aus politisch-praktischen Erwägungen bewegen: Wenn man die eigenen Untertanen im fremden Gebiet schützen wollte, mußte man sich auf dieses Prinzip einlassen, auch wenn man eigentlich strikt dagegen war.25 In § 27 des Vertragswerks wurde den gemischtkonfessionellen Reichsstädten ein gleichfalls zukunftsgerichteter Sonderweg gewiesen: der Stadtobrigkeit, mochte sie nun selbst katholisch, evangelisch oder konfessionell gemischt sein, wurde das Recht genommen, von dem den Territorialherren zustehenden ius reformandi Gebrauch zu machen. Den Bekennern der beiden im Religionsfrieden allein zugelassenen Konfessionen wurde Toleranz gewährt und dem zahlenmäßig schwächeren Bekenntnis Minderheitenschutz garantiert.26 Die Bestimmungen von § 27 des Augsburger Religionsfriedens stellen damit »den einmaligen Versuch der Religionsparteien von 1555 dar, von Reichs wegen ein gedeihliches Zusammenleben der beiden Konfessionen in einem geschlossenen politischen Raum zu ermöglichen oder zu erzwingen«27. Erstmals wurden in einem Dokument der Reichsverfassung alle Bewohner eines Gemeinwesens verpflichtet, das andere Bekenntnis des Mitbürgers zu achten und auf den Frieden zwischen den Konfessionen Rücksicht zu nehmen.28 Legt man strenge Maßstäbe an, dann waren allerdings nur acht der damals etwa 65 Reichsstädte bikonfessionell: Ulm, Donauwörth, Kaufbeuren, Leutkirch, Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl. In den erstgenannten vier Städten kamen die Katholiken nicht über den Status einer politisch einflußlosen Minderheit hinaus. Dagegen dominierten in Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl seit den Verfassungsänderungen Karls V. von 1548-1551 die Katholiken in den Ratsgremien, obwohl sie in der Stadtbevölkerung zahlenmäßig in der Minderheit waren. Verfassungsrechtlich gingen diese vier Reichsstädte von 1648 bis zum Ende des Alten 25 Vgl. Schulze, Augsburg (Fn. 22), S. 50. 26 Vgl. G. Pfeiffer, Der Augsburger Religionsfriede und die Reichsstädte, Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben (ZHVS) 61 (1955), S. 213 ff.; Schneider, Ius reformandi (Fn. 19), S. 155, und Gotthard, Religionsfrieden (Fn. 16), S. 252 ff. 27 L. Weber, Die Parität der Konfessionen in der Reichsverfassung von den Anfängen der Reformation bis zum Untergang des alten Reiches im Jahr 1806, 1961, S. 148. 28 Vgl. hierzu und zum Folgenden Warmbrunn, Konfessionen (Fn. 5), S. 2; zur führenden paritätischen Stadt Augsburg auch G. Gottlieb u. a. (Hrsg.), Geschichte der Stadt Augsburg, 2. Aufl. 1985, hier insbesondere die Beiträge von H. Immenkötter, Kirche zwischen Reformation und Parität, S. 391 ff., und W. Schulze, Augsburg 1555-1648: Eine Stadt im Heiligen Römischen Reich, S. 433 ff.
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Reiches einen Sonderweg: im Westfälischen Frieden, Artikel V § 3 des Osnabrücker Friedensinstruments (Instrumentum Pacis Osnabrugense, künftig: IPO), wurde für sie die numerische Parität im Sinne einer Zahlengleichheit von Katholiken und Lutheranern in allen Ämtern und städtischen Entscheidungsgremien festgelegt.29
1. Intoleranz und Toleranz in Kirchen- und Landesordnungen des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts In den zur Regelung des kirchlich-religiösen und gesellschaftlichen Lebens in den evangelisch gewordenen Städten und Territorien erlassenen Kirchenund Landesordnungen30 begegnet Toleranz weder als Begriff noch inhaltlich.31 Der Landesherrschaft ging es ja darum, ihren Anspruch auf konfessionelle Geschlossenheit zu untermauern. Konfessionelle Eintracht in Städten und Territorien bedingte aber Unduldsamkeit gegenüber den Untertanen, die sich die vorherrschende Konfession nicht zu eigen machen wollten. So prägt eine negative, ausschließende Begrifflichkeit wie nit dulden oder nit leiden die entsprechenden Bestimmungen in den Ordnungen. Die gleichen Verben »dulden« und »leiden« werden in den Judenordnungen des 16. Jahrhunderts32 gebraucht, um Möglichkeiten und Grenzen der Duldung des Kults und der Erwerbstätigkeit von Juden durch die christlichen Mitbürger zu definieren.33 In den Ordnungen der bikonfessionellen Städte34 wurde vor allem auf die Ausgrenzung aller anderer protestantischer Richtungen außer der Augs29 S. ausführlich hierzu unter IV. 30 Zu den Kirchenordnungen allgemein: E. Wolf , Ev. Kirchenordnungen, in: RGG (Fn. 2), Bd. 3, 3. Aufl. 1959, Sp. 1497-1499; A. Sprengler-Ruppenthal, Kirchenordnungen, evangelische, in: TRE (Fn. 2), Bd. 18, 1989, S. 670 ff. Maßgebliche Edition: E. Sehling u. a. (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, 15 Bde., 1902-1977, teilw. Neudruck 1970 ff. Zum vielschichtigen Begriff der (insbesondere für die frühe Neuzeit charakteristischen) Landesordnungen vgl. W. Brauneder, Landesordnung, in: A. Erler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 2, Berlin 1978, Sp. 1405 ff. 31 Vgl. K. Schreiner/G. Besier, Toleranz, in: O. Brunner (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, 1990, S. 445 (486 f., Schreiner). 32 Vgl. etwa zu den hessischen Judenordnungen F. Battenberg, Judenordnungen der Frühen Neuzeit, in: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen, 1983, S. 83 ff.; ders., Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. 1, 1990, S. 194 ff.; sowie allgemein den Beitrag von Jörg Berkemann, in diesem Band, S. 71 ff. 33 Vgl. zum Folgenden auch Schreiner, Toleranz (Fn. 31), S. 486 f. 34 Vgl. Sehling, Kirchenordnungen (Fn. 30), Bd. 12, 1963, S. 15 ff. (Augsburg), S. 117 ff. (Dinkelsbühl).
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burgischen Konfession Wert gelegt, während sie sich über das Zusammenleben der zugelassenen Konfessionen, also von Katholiken und Lutheranern, weitgehend ausschweigen. An den Polizeiordnungen der Stadt Augsburg läßt sich der Wandel nach der karolinischen Verfassungsänderung und der Einführung der Bikonfessionalität beispielhaft aufzeigen. Wo es ging, wurden konfessionsspezifische, d. h. protestantische Tendenzen getilgt.35 Ausdrückliche Verweise auf Gottes Wort oder das Evangelium fielen weg oder wurden durch neutrale Formulierungen ersetzt. Der reformatorische Impetus einer durchgreifenden Verchristlichung der Gesellschaft und der Schaffung eines protestantischen Gemeinwesens über den Weg der Kirchenzucht und christlichen »Polizei« wich einem vorsichtigen, zwischen beiden Konfessionen ausgleichenden Vorgehen der Stadtobrigkeit, das eine konfessionsneutrale, sich allein auf allgemein christliche Grundsätze stützende Begründung erforderte. Diese darf nicht als Anerkennung des Prinzips der Gewissensfreiheit mißverstanden werden. Im Gegenteil war dem Rat an einer größtmöglichen Kontrolle der religiösen Einstellung der Untertanen gelegen – die er deswegen immer zum öffentlichen Bekenntnis ihres Glaubens aufforderte und ermutigte –, um konfessionelle Konflikte innerhalb der Stadtmauern damit möglichst zu kanalisieren. Nicht der Toleranz wollte er damit zum Durchbruch verhelfen, sondern pax und concordia unter den Stadtbürgern, den aus der Spätantike überkommenen zentralen Werten der Stadtgemeinde.36
2. Ansätze zur theoretischen »politischen« Begründung von Toleranz in der Staatsrechtslehre Die zukunftsweisenden Elemente des Augsburger Religionsfriedens im Hinblick auf die Toleranz dürfen also nicht darüber hinweg täuschen, daß man auch für die Zeit danach im Regelfall von einer grundsätzlichen Intoleranz der Konfessionsparteien und ihrer Wortführer in den Territorien ausgehen muß. Dieser Zustand wurde jedoch nicht überall kritiklos hingenommen; zunehmend begann sich tolerantes Denken Bahn zu brechen. Dies betrifft sowohl die theoretische Diskussion um Toleranz und Gewissensfreiheit37 in der Staatsrechtslehre als auch die Praxis, wo sich in konfessionellen Mischformen die Einwohner im alltäglichen Miteinander arrangieren mußten. 35 Vgl. zum Folgenden B. Roeck, Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, 1989, Bd. 1, S. 237 f. 36 Vgl. Roeck, Krieg und Frieden (Fn. 35), S. 231. 37 Vgl. hierzu E. Dreitzel, Toleranz und Gewissensfreiheit im konfessionellen Zeitalter. Zur Diskussion im Reich zwischen Augsburger Religionsfrieden und Aufklärung, in: D. Breuer (Hrsg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, 1995, S. 115 ff.
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Angeregt durch aus Italien und Frankreich importierte Denkrichtungen, bahnte sich im Reich mit ersten Vorläufern in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts seit etwa 1600 ein grundsätzlicher Wandel im politischen Denken an.38 Dieses war seit der Reformationszeit mit der Religion verknüpft und grundsätzlich intolerant. Die Staatsräson forderte demnach an sich den geschlossenen Konfessionsstaat. Konnte dieser jedoch nicht erreicht werden und waren anders Frieden und staatliche Ordnung nicht zu gewährleisten, dann war für eine Reihe von Staatstheoretikern aller drei Konfessionen im Reich auch die Konzeption eines gemischtkonfessionellen Staates denkbar. In der theoretischen Diskussion nach dem Augsburger Religionsfrieden trat die »politische« Begründung der Toleranz39 in den Vordergrund, wobei der Begriff der »Freistellung«40 des individuellen Bekenntnisses (autonomia), wie sie von den Protestanten auf den Reichstagen immer wieder gefordert wurde, eine zentrale Rolle spielte. Die katholische Staatslehre und Reichspublizistik, so von dem Reichshofratssekretär Andreas Ernstenberger41, sah sie prinzipiell als Gefährdung der gegebenen Ordnung42 an.43 Demgegenüber wirkt die Position des katholischen Staatsmanns und Kriegsobersten Lazarus von Schwendi (1522-1584)44 weg- und zukunftsweisend. Er kämpfte in Büchern, politischen Denkschriften und einem europaweiten Briefwechsel gegen die latente Bürgerkriegsgefahr im Reich und forderte als Voraussetzung für eine neue »ainigkeit« im Reich die Duldung der Lutheraner als »ein Nothweg und Aufenthalt gemeiner wesens und friedens (...)«. Die Toleranz sollte sich nach diesem Entwurf zwar nur auf das katholische und das Augsburgische Bekenntnis erstrecken, deren Angehörige sollten 38 Vgl. zum Folgenden W. Weber, Staatsräson und konfessionelle Toleranz. Bemerkungen zum Beitrag des politischen Denkens zur Friedensstiftung 1648, in: Burkhardt/Haberer (Hrsg.), Friedensfest (Fn. 22), S. 166 ff. 39 Vgl. Schulze, Toleranz (Fn. 20), S. 224 f. 40 Vgl. G. Westphal, Der Kampf um die Freistellung auf den Reichstagen zwischen 1556 und 1576 (Diss.), 1976. 41 Franciscus Burgkard (d. i. A. Ernstenberger), De autonomia das ist: Von Freystellung mehrerley Religion [...], München 1586; vgl. auch Schneider, Ius reformandi (Fn. 19), S. 182 f. 42 So wenn er schreibt, daß »autonomia oder die Freystellung anders nicht ist, dann ein freye Willkür und macht anzunemen, zu thun, zu halten und zu glauben, was einer selbst will und ihm gut dünckt oder gefellig ist« (Burgkard (Ernstenberger), autonomia (Fn. 41), fol. 1v). 43 Dazu ausführlich M. Heckel, Autonomia und Pacis Compositio. Der Augsburger Religionsfriede in der Deutung der Gegenreformation, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonische Abteilung (ZSRG KA) 76 (45, 1959), S. 141 ff.; vgl. auch Schulze, Toleranz (Fn. 20), S. 231. 44 Vgl. W.-D. Mohrmann, Bemerkungen zur Staatsauffassung Lazarus’ von Schwendi, in: H. Maurer/E. Patze (Hrsg.), Festschrift für Berent Schwineköper, 1982, S. 501 ff.; W. E. J. Weber, Politische Integration versus konfessionelle Desintegration, in: Hoffmann, Frieden (Fn. 16), S. 131 ff., hier S. 141.
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aber unabhängig von ihrem Wohnort Gewissensfreiheit genießen, wenn sie sich sonst gehorsam zeigten. Lazarus von Schwendi muß als früher Verfechter politisch argumentierender Toleranzideen Zacharias Geizkofler (1560-1617)45 zur Seite gestellt werden. Als Reichspfennigmeister der Jahre 1589-1604 dem Haus Habsburg eng verbunden, blieb er gleichwohl zeitlebens evangelisch und unterhielt gute Beziehungen zu vielen lutherischen Reichsständen. Die dadurch gewonnene unabhängige, eigenständige Position zwischen den Konfessionsparteien prädestinierte Geizkofler zu einer ausgedehnten Ratgebertätigkeit. Vor dem Hintergrund der aus religiöser Zerstrittenheit resultierenden Leiden anderer Völker einerseits, der Beispiele konfessioneller Toleranz wie etwa dem polnischen46 andererseits begründete er religiöse Toleranz nicht wie Schwendi als Notlösung, sondern mit politischer Klugheit und der Einsicht, daß das Gewissen des Menschen nicht durch Zwang beeinflußt werden könne.47 Toleranz erscheint so als Voraussetzung eines neuen Friedens auf der Grundlage der Einführung der vollen Parität auf Reichsebene. Hierbei ließ sich Geizkofler von drei Grundsätzen leiten: sich an den Lehren der Geschichte zu orientieren, aus eigenem Schaden lernen – wozu der durch die Reformation verursachte Zustand des Reichs das beste Anschauungsmaterial bot! – und ex dictamine rationis sapere48, d. h. nach der Richtschnur des Verstandes zu denken und zu handeln. Insgesamt ist in der theoretischen Diskussion der zweiten Hälfte des 16. und des beginnenden 17. Jahrhunderts eine fortschreitende Vervielfachung und Ausdifferenzierung der Argumente für Toleranz zu beobachten, »wobei sich die Schwerpunkte allmählich aus dem religiös-theologischen Bereich in die Sphäre säkularisierter Gedanken und Beweisführung verschieben«49. Dabei verdrängten häufig ökonomisch-soziale Gesichtspunkte die philosophisch-ideengeschichtliche Argumentation.50 Diese führten zur Entstehung »praktischer und gesetzlich fundierter Regelungen des religiösen und kirchlichen Pluralismus, d. h. des friedlichen Nebeneinanders verschiedener Konfessionen oder sogar verschiedener Religionen in ein und demselben Staatswesen«51. 45 46 47 48 49
Vgl. Schulze, Toleranz (Fn. 20), S. 233 ff. Vgl. Wolgast, Religionsfrieden (Fn. 10), S. 84. Vgl. Schulze, Toleranz (Fn. 20), S. 235. Zitiert nach Schulze, Toleranz (Fn. 20), S. 235. H. R. Guggisberg, Wandel der Argumente für religiöse Toleranz und Glaubensfreiheit im 16. und 17. Jahrhundert, in: Lutz, Toleranz (Fn. 8), S. 455 (458). 50 Vgl. E. Hassinger, Wirtschaftliche Motive für religiöse Duldsamkeit im 16. und 17. Jahrhundert, Archiv für Reformationsgeschichte (ARG) 49 (1958), S. 226-245; H. Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert, 1972, bes. S. 29 ff. und 161 f. 51 Guggisberg, Argumente (Fn. 49), S. 455.
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3. Gesellschaftliche Praxis: Pragmatische Toleranz im Interesse des Friedens und Gemeinwohls Gab es aber auch an der »Basis« Ansätze zur Durchbrechung der grundsätzlichen Intoleranz in religiös-konfessionellen Fragen, welche Motive lagen ihnen zugrunde und ließen sie sich mit der aufgezeigten theoretischen Argumentation in Verbindung bringen? Der beste Ansatzpunkt, um die Entstehung toleranter Verhaltensweisen in der Praxis nachzuweisen, sind konfessionelle Mischformen,52 wie sie nach 1555 in vielen Städten und Territorien des Reichs entstanden.53 Die durch den Augsburger Religionsfrieden geschaffene Ordnung erwies sich nämlich schon bald als brüchig. Am augenfälligsten wurde sie durch den Übertritt zahlreicher lutherischer Landesherrn zum Calvinismus unterminiert, z. B. in Kurpfalz (1560), der Stadt Bremen (1568), in Nassau (1577), Wittgenstein, Solms, Wied (1577 bis 1586), PfalzZweibrücken, Tecklenburg und Steinfurt (1588), Anhalt (1596), Hessen-Kassel (1604) und Lippe (1605). In all diesen Territorien mußten die Untertanen den Übergang zur reformierten Konfession nachvollziehen, so daß die reichsrechtliche Bikonfessionalität bald nur noch auf dem Papier bestand. In Brandenburg54 war Kurfürst Johann Sigismund über das Prinzip, nur eine Kirche im Land als voll berechtigt anzuerkennen, hinausgegangen, indem er 1611 in Ostpreußen der katholischen Kirche und, nachdem er selbst 1613 zum Calvinismus übergetreten war, 1615 in seinem gesamten Territorium der reformierten Kirche die Gleichstellung mit der bisherigen lutherischen Landeskirche vertraglich zusicherte,55 was in generalisierter Form auch in Art. VII § 1 Eingang in das Westfälische Friedenswerk fand.56 52 Hierzu allgemein: E. W. Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildungen im Zeitalter der Glaubenskämpfe, 1965, bes. S. 68 ff. 53 Vgl. A. Schindling/W. Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650 (KLK 49-53, 57-58), 7 Bde., 1989-1997; Zusammenfassung und Ausblick auf die Zeit nach 1648 von A. Schindling, Andersgläubige Nachbarn. Mehrkonfessionalität und Parität in Territorien und Städten des Reichs, in: K. Bußmann/H. Schilling (Hrsg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa. Ausstellungskatalog, 1998, Bd. 1, S. 465 ff. 54 Vgl. G. Heinrich, Brandenburg II: Reformation und Neuzeit, in: TRE (Fn. 2), Bd. 7, 1981, S. 111 ff.; ders., Zur Religionstoleranz in Brandenburg-Preußen, in: M. Schlenke (Hrsg.), Preußen. Politik, Kultur, Gesellschaft, 1986, Bd. 1, S. 83 ff.; und M. Rudersdorf/A. Schindling, Kurbrandenburg, in: Schindling/Ziegler, Territorien (Fn. 54), Bd. 2, 1990, S. 34 ff. 55 Er mußte hierbei den Ständen jedoch einräumen, daß das Land lutherisch blieb, nur die Dynastie, der Hof, die hofnahe Beamtenschaft und die Landesuniversität Frankfurt an der Oder vollzogen den Übertritt zum reformierten Bekenntnis, das damit den Status einer Hof- und Beamtenreligion erhielt; vgl. A. Erler, Toleranzedikt, brandenburgisches, in: HRG (Fn. 30), Bd. 5, 1998, Sp. 273 f. 56 K. Müller (Bearb.), Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge, 3. Aufl. 1975, S. 46 f. (Text), S. 132 f. (Übersetzung).
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Durch die Erbschaft von Kleve, Mark und Ravensberg 1609/14 hatte sich für ihn auch der Zwang zur Duldung katholischer Untertanen ergeben, hatten die klevischen Herzöge doch in ihren Territorien frühzeitig die freie Entfaltung aller drei Konfessionen – Katholiken, Lutheraner und Reformierte – zugelassen und damit auf ihr Reformationsrecht verzichtet. So hatten sie eine Politik der Duldung dieser drei Bekenntnisse in den fünf Territorien des jülich-klevischen Erbes – Jülich, Berg, Mark, Kleve und Ravensberg – eingeführt, die durch die Erbverträge zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg und durch den Westfälischen Frieden nicht mehr in Frage gestellt wurde. Damit war Brandenburg schon vor dem Westfälischen Frieden zu einem paritätischen protestantischen Staat geworden. Ökonomische Motive veranlaßten die Landesherren vielfach zur Duldung konfessioneller Minderheiten,57 auch und gerade der nicht im Augsburger Religionsfrieden reichsrechtlich anerkannten Bekenntnisse. So wurden die als wirtschaftlich äußerst tüchtig anerkannten Täufer58 durch katholische Herrschaften noch am Ende des 16. Jahrhunderts toleriert. Schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, verstärkt seit etwa 1600 gingen einzelne Territorialherren und Stadtobrigkeiten dazu über, religiösen Gruppen, die nicht der Landeskonfession angehörten, freie Religionsausübung einzuräumen.59 Eine Vorreiterrolle nahmen die »Exulantenstädte« ein, in denen Glaubensflüchtlingen religiöse Toleranz gewährt wurde.60 Die ihnen verbrieften Privilegien waren mit der Leitvorstellung des geschlossenen Konfessionsstaats sicher nicht mehr vereinbar. Obwohl in ihnen die Toleranz nicht beim Namen genannt wird, können sie als authentische und wegweisende Dokumente religiöser Toleranzpolitik angesehen werden. Für die protestantische Reichsstadt Ulm, in der sich eine kleine, wenn auch zusehends schrumpfende katholische Minderheit halten konnte, hat Peter Thaddäus Lang verschiedene Formen toleranten bzw. intoleranten Verhaltens der Mehrheitskonfession nachgewiesen und in diesem Zusammenhang den anschaulichen Begriff des »Toleranzgefälles« geprägt.61 Demzufolge wurden katholische Laien von der evangelischen Bevölkerungsmehrheit am ehesten geduldet, der weltliche Klerus schon weniger und katholische Institutionen wie Klöster gar nicht. Auch in sozialer Hinsicht war ein solches 57 Vgl. Hassinger, Motive (Fn. 50). 58 Die Täufer gehörten ihrerseits zu den aus der Reformation hervorgegangenen religiösen Strömungen, die am frühesten und am entschiedensten Toleranz und Religionsfreiheit forderten; vgl. H. S. Bender, Täufer und Religionsfreiheit im 16. Jahrhundert, in: Lutz, Toleranz (Fn. 8), S. 111 ff. 59 Vgl. Schreiner, Toleranz (Fn. 31), S. 538 f. 60 Vgl. Schilling, Exulanten (Fn. 50); ders., Die Stadt in der Frühen Neuzeit, 1993, S. 109 f. 61 Vgl. P. Th. Lang, Die Ulmer Katholiken im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Lebensbedingungen einer konfessionellen Minderheit, 1977, bes. S. 151.
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»Toleranzgefälle« von der adelig-patrizischen Oberschicht über die einfache Handwerkerschaft bis hin zur städtischen Unterschicht nachweisbar. Für die bikonfessionellen Reichsstädte nach § 27 des Augsburger Religionsfriedens sprachen die Juristen am Reichskammergericht in Speyer bereits davon, zwei Religionen »tolerieren« zu wollen: tolerare duas religiones62. Dabei bestanden in ihnen keine günstigen Startbedingungen für das Entstehen toleranten Verhaltens, war doch die aus dem Mittelalter überkommene Einheitlichkeit von Kirchen- und Bürgergemeinde zugunsten des Nebeneinanders der beiden 1555 reichsrechtlich anerkannten Konfessionen, die jeweils für sich einen ausschließlichen Öffentlichkeitsanspruch proklamierten, aufgehoben worden. Die innere Stabilität der Stadtgemeinde und die Fähigkeit jedes Einzelnen zu einem toleranten Verhalten dem anderskonfessionellen Mitbürger gegenüber wurden damit auf eine harte Probe gestellt. Gleichwohl nahmen von 1555 bis etwa 1580 die konfessionellen Spannungen sowohl an Zahl als auch an Heftigkeit deutlich ab.63 Hielten sich nach dem Religionsfrieden die kaiserliche Zentralgewalt und die protestantischen Fürsten mit einer direkten Intervention zugunsten einer der beiden Konfessionen zurück, so herrschten in der Bürgerschaft, was die Unterscheidung evangelischer und katholischer Glaubensinhalte betraf, noch vielfach Unsicherheit und Vermischung. Oftmals war daher die Grenze zwischen einer ursprünglichen konfessionellen Toleranz und religiös-konfessioneller Indifferenz nicht genau zu ziehen.64 Die Stadtbürger/innen und Einwohner/innen der reichsstädtischen Landgebiete wußten vielfach nicht, welche Elemente für ihr Bekenntnis konstitutiv waren, ja es kam vor, daß sie sich nicht einmal im klaren waren, ob sie evangelisch oder katholisch waren. Dies förderte ein unbefangenes, freies, »tolerantes« Verhalten zwischen den Angehörigen der beiden Bekenntnisse. So kamen in den ersten Jahrzehnten des Nebeneinanders Heiraten über Konfessionsgrenzen hinweg, die Übernahme von Patenschaften für Angehörige der anderen Konfession und offen erklärte oder insgeheim vollzogene Übertritte zum anderen Bekenntnis sehr oft vor und wurden auch vom Rat geduldet. Im bikonfessionellen Milieu der später paritätischen Reichsstädte konnte sich sogar eine weitgehend konfessionsfreie Lebensweise wie bei dem Augsburger Goldschmied David Altenstetter herausbilden,65 der, wegen Friedensbruchs in Fronfeste gelegt, in seiner Vernehmung noch 1598 zu Protokoll gab, daß er sowohl die katholische wie auch die zwinglische und lutherische 62 Zitiert nach Schulze, Augsburg (Fn. 22), S. 46. 63 Vgl. Warmbrunn, Konfessionen (Fn. 5), S. 388 f. 64 Vgl. am Beispiel einer anderen konfessionellen Mischform, nämlich den Dörfern Bötzingen und Königschaffhausen am Kaiserstuhl, einem badisch-(vorder)österreichischen Kondominat mit Untertanen verschiedener Konfession: H. R. Schmidt, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert, 1992, S. 103 f. 65 Vgl. hierzu vor allem Roeck, Krieg und Frieden (Fn. 35), Bd. 1, S. 117 ff.
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Lehre kenne und schätze. Er neige zwar der katholischen Konfession zu, habe sich aber noch nicht endgültig entschieden. Diese Aussagen wurden bestätigt, als man bei einer Durchsuchung seiner Wohnung neben Werken humanistischer Gelehrter wie Erasmus von Rotterdam tatsächlich Schriften zu allen drei Konfessionsrichtungen fand. Auch die bikonfessionellen Reichsstädte wurden, unübersehbar seit etwa 1580, zunehmend von der allgemeinen Konfessionalisierung erfaßt, die – Hand in Hand mit der Verfestigung innerkirchlicher Strukturen – zur Verstärkung des konfessionellen Bewußtseins des Einzelnen, zu einer deutlicheren Hervorhebung der trennenden Elemente gegenüber den verbindenden und zur Ausgrenzung fremdkonfessioneller Mitbürger führte,66 bis hin zu Konflikten, die, wie der Kalender- und Vokationsstreit in Augsburg der Jahre 1583-1591,67 in handfesten, teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen gipfeln konnten.68 Dieses gestärkte konfessionelle Bewußtsein schlägt sich nach 1580 auch in einem starken Rückgang der gemischtkonfessionellen Ehen nieder. Andererseits lassen sich in diesem Zeitraum gerade in der gebildeten Oberschicht viele Beispiele eines vorurteilsfreien, toleranten Miteinanders zwischen den Konfessionen und eines wissenschaftlichen Meinungsaustauschs in irenischem Geist – wie der Briefwechsel des Rektors des Gymnasiums von St. Anna, Elias Ehinger, mit den Jesuiten, besonders Pater Jeremias Drechsel69 – nachweisen. Daß man sich arrangieren konnte, davon zeugt auch das weitgehend reibungslose Funktionieren des Simultaneums an St. Martin in Biberach – dort hat es bis heute Bestand! – und an der Karmeliterkirche in Ravensburg.70 Auch in den gemischtkonfessionellen Reichsstädten war, von Ausnahmen in der gebildeten Oberschicht abgesehen, für eine inhaltliche Toleranz kein Platz, die auf eine Überwindung der Glaubensspaltung hinarbeitete und den anderskonfessionellen Mitbürger in seinen Überzeugungen zu ach66 Vgl. Warmbrunn, Konfessionen (Fn. 5), S. 389 f. 67 Hierzu vgl. F. Kaltenbrunner, Der Augsburger Kalenderstreit, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (MIÖG) 1 (1880), S. 497 ff; die ausführlichste Zusammenfassung des neuesten Forschungsstands bei Roeck, Krieg und Frieden (Fn. 35), Bd. 1, S. 125 ff. 68 Hierzu jetzt H.-Chr. Rublack, Gewalt und Toleranz im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Erbe, Querdenken (Fn. 20) S. 321 f. 69 Vgl. K. Köberlin, Geschichte des humanistischen Gymnasiums bei St. Anna in Augsburg von 1531-1931, 1931, S. 147. Umgekehrt war der katholische Stadtpfleger und Humanist Marcus Welser d. J. mit einer stattlichen Anzahl evangelischer Gelehrter wie dem Rektor des Gymnasiums bei St. Anna David Höschel, dem Arzt Adolf Occo III und den Juristen Marquard Freher und David Rehm befreundet; vgl. L. Lenk, Augsburger Bürgertum im Späthumanismus und Frühbarock, 1968, S. 162 f. 70 Vgl. Warmbrunn, Konfessionen (Fn. 5), S. 222 ff., zu Ravensburg jetzt A. Schmauder (Hrsg.), Hahn und Kreuz. 450 Jahre Parität in Ravensburg, 2005.
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ten suchte. An den Streitigkeiten um Rechtspositionen und den Kontroversen der Geistlichen nahm auch der einfache Stadtbürger engagiert Anteil. Andererseits zwangen die Erkenntnis, daß beide Konfessionen in der Stadt bestehen bleiben würden und ein Arrangement damit unausweichlich sei, und die Erfahrung des Aufeinander-Angewiesen-Seins im Wirtschaftsleben und im Alltag71 zu pragmatischen Lösungen des Zusammenlebens im Sinne eines Modus vivendi auf relativ bescheidenem Niveau. Im Reich schienen – um ein Fazit der Zeit von 1555 bis 1618 zu ziehen – anders als in Frankreich, wo die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch eine rasche Abfolge von Religionskriegen und Religionsfrieden bis zum Edikt von Nantes 1598 gekennzeichnet war,72 und den Niederlanden, wo es im gleichen Zeitraum ebenfalls zu erbitterten Auseinandersetzungen um die Religionsfreiheit kam,73 durch den Interessenausgleich des Augsburger Religionsfriedens von 1555 die Weichen zu einer positiven Entwicklung gestellt zu sein. Er legte die Entscheidung über den konfessionellen Status eines Territoriums grundsätzlich in die Hände des Landesfürsten und räumte den Einwohnern der konfessionell gemischten Reichsstädte zudem eine gewisse paritätische Ordnung und religiöse Toleranz ein, womit sich das Prinzip der Toleranz, wenn auch sehr eingeschränkt, erstmals in der Reichsverfassung durchgesetzt hatte.74 Der im Augsburger Religionsfrieden unternommene Versuch, religiösem Dissens seine politische Brisanz zu nehmen, hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Andererseits erwies sich der Ansatz, dies ausschließlich auf dem Wege der Verrechtlichung des Dissenses zu versuchen, nicht auf Dauer als tragfähig. Dazu trugen vor allem folgende Faktoren bei: – das Aufkommen des Calvinismus im Reich (»Zweite Reformation«), ausgehend vom Konfessionswechsel Kurfürst Friedrichs III. von der Pfalz 1561, dessen Forderung nach Anerkennung als dritter Konfession und Expansion im Verbund mit den westeuropäischen Staaten, – die Verfestigung der konfessionellen Gegensätze, 71 Vgl. meine These, die »bikonfessionell-paritätischen Städte« hätten »als Vorreiter und Bahnbrecher« hin zu mehr Toleranz gewirkt, weil »in einem langen Lernprozeß die Einwohner beider Konfessionen zu einer toleranten Haltung dem Mitbürger, der die eigene Glaubensüberzeugung nicht teilte, gegenüber veranlaßt wurden« (Warmbrunn, Konfessionen (Fn. 5), S. 405), vor dem Hintergrund der von E. François gewonnenen Ergebnisse für die Zeit nach 1648 teilweise in Frage gestellt bei Schilling, Stadt (Fn. 60), S. 107 f. 72 Vgl. Wolgast, Religionsfrieden (Fn. 10), S. 75 ff. 73 Wolgast, Religionsfrieden (Fn. 10), S. 81 f. 74 Vgl. H. Peterse, Irenik und Toleranz im 16. und 17. Jahrhundert, in: Bußmann/Schilling (Hrsg), Krieg und Frieden (Fn. 53), Bd. 2, S. 165 ff., hier S. 270 f. Skeptischer Wolgast, Religionsfrieden (Fn. 10), S. 96: »Eine Verwirklichung der modernen Idee der Toleranz ist in den Religionsfrieden der frühen Neuzeit nicht zu erkennen.«
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– die – evangelischerseits an den Begriff der »Freistellung« gekoppelten – juristischen Auseinandersetzungen um die Auslegung des Religionsfriedens und – die Verbindung von religiös motivierter Machtpolitik und mangelndem Friedenswillen. Letztere führten schließlich in die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges,75 die den bestehenden Modus vivendi zwischen den Konfessionen seiner schwersten Belastungsprobe aussetzte. In diesem europäischen Krieg,76 der uns heute als die »große Verneinung der Toleranz«77 erscheint, gelangte vollends eine Konfessions«politik« zum Durchbruch, die, gestützt auf die im Reich Krieg führenden Parteien, offen auf die Wahrung von Machtpositionen und Besitzständen und auf die Rückgewinnung verloren gegangenen Terrains abzielte. Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in den Jahren 1629-1635, einsetzend mit der Durchführung des Restitutionsedikts vom 6. März 1629.78 Auch der schwedische König Gustav Adolf, dessen Eingreifen der Bedrückung der Protestanten ein vorläufiges Ende bereitete, ließ sich weniger vom Gedanken der religiösen Toleranz als vom Bestreben, seiner Konfession Freiheit, ja Vorrang zu verschaffen, leiten. Bei aller Verschärfung der Konfrontation zwischen den Konfessionen fanden gleichwohl – aufgrund der kriegsbedingten Verwerfungen wohl häufiger als zuvor – weiterhin Heiraten über Konfessionsgrenzen hinweg und Übertritte zum anderen Bekenntnis statt.79
75 Guter Überblick bei G. Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg, 5. Aufl. 2002. 76 Zu »konfessionellen Religionskriegen« jetzt allgemein A. Angenendt, Toleranz und Gewalt, 2. Aufl. 2007, bes. S. 442 ff. 77 Schulze, Pluralisierung (Fn. 22), S. 136. 78 Augsburg wurde geradezu zum »Modellfall« für seine Durchführung; vgl. Roeck, Krieg und Frieden (Fn. 35), Bd. 2, S. 655 ff. 79 Ein Beispiel aus Augsburg für die Emanzipation des Gewissens des Einzelnen auch in einem durch verschärfte konfessionelle Konflikte gekennzeichneten Umfeld ist der Fall des zum Katholizismus konvertierten Augsburger Neubürgers Hans Schuester, der für seine beabsichtigte Heirat mit einer Protestantin »wegen besorgenden Schimpfs, so ime bei offentlichem kirchgang begegnen mochte«, die bischöfliche Erlaubnis zur Einsegnung in seinen eigenen vier Wänden erhielt: Stadtarchiv Augsburg, Dispensationes p[un]cto der HaußCopulationen 1548-1648, 1639 Nov. 20; vgl. Warmbrunn, Konfessionen (Fn. 5), S. 270 f.; sowie Roeck, Krieg und Frieden (Fn. 35), Bd. 2, S. 852 f.
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IV. Der Westfälische Friede von 1648 als Meilenstein auf dem Weg zu religiöser Toleranz und Parität Der Westfälische Friede von 164880 bestätigte in seinen Religionsklauseln (Art. V-VII IPO)81 die Grundbestimmungen des Passauer Vertrags von 1552 und des Augsburger Religionsfriedens von 1555 (Art. V § 1 IPO) und besiegelte damit die Glaubensspaltung endgültig. Dennoch stellte er eine wichtige »Wegmarke der Toleranz«82 dar. Diese wird in Art. V § 34 IPO83 erstmals auch namentlich erwähnt, wenn vorgeschrieben wird, daß Katholiken in protestantischen, Lutheraner und Reformierte in katholischen Ländern »nachsichtig geduldet werden sollen (patienter tolerentur)« und ihnen die private Hausandacht freigestellt werden soll, wenn sie »im übrigen ihre Pflicht mit gebührendem Gehorsam und Untertänigkeit erfüllen und zu keinen Unruhen Anlaß geben (in caeteris officium suum cum debito obsequio et subiectione adimpleant nullisque turbationibus ansam praebeant)«84. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Untertanen verpflichtet seien, sich der vom Landesherrn »rezipierten« Kirche ein- und unterzuordnen (religio recepta), Andersgläubige im Territorium aber insoweit Toleranz genießen, daß ihnen eine individuelle, auf den häuslichen Bereich bezogene Religionsausübung gestattet wird (religio tolerata).85 Diese Art von »Gewissensfreiheit« blieb aber weiterhin eine Ausnahmeregelung. Die Anerkennung der Augsburgischen Konfession wurde auch auf die Reformierten ausgedehnt, womit die im Gefolge der »Zweiten Reforma80 Dazu immer noch grundlegend: F. Dickmann, Der Westfälische Frieden, 7. Aufl. 1998. Grundlegende Quellenedition: M. Braubach/K. Repgen (Hrsg.), Acta Pacis Westphalicae, Serie 1 ff., 1962 ff. Einen Überblick über die überreiche Literatur verschafft H. Duchhardt (Hrsg.), Bibliographie zum Westfälischen Frieden, 1996. Von den Veröffentlichungen zum Friedensjubiläum 1998 selbst sei hier nur die Aufsatzsammlung von dems. (Hrsg.), Der Westfälische Friede (Fn. 22); herausgegriffen. 81 Dazu Dickmann, Westfälische Frieden (Fn. 80), S. 343 ff.; ders., Das Problem der Gleichberechtigung der Konfessionen im 16. und 17. Jahrhundert, Historische Zeitschrift (HZ) 201 (1965), S. 265 ff., auch in: Lutz, Toleranz (Fn. 8), S. 203 ff.; Schmidt, Dreißigjährige Krieg (Fn. 75), S. 77 f. Zusammenfassung aus jüngster Zeit von R. G. Asch, Das Problem des religiösen Pluralismus im Zeitalter der »Konfessionalisierung«: Zum historischen Kontext der konfessionellen Bestimmungen des Westfälischen Friedens, Blätter für deutsche Landesgeschichte (BllDtLdG) 134 (1998), S. 1 ff. 82 Schulze, Pluralisierung (Fn. 22), S. 140. 83 Als Textgrundlage wird im Folgenden genommen: Müller, Instrumenta (Fn. 56). Prägnante Darstellung der Religionsvereinbarungen bei P. Hinschius (Sehling), Westfälischer Frieden, in: J. J. Herzog (Begr.), Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche (RE), Bd. 21, 3. Aufl. 1908, S. 160 ff. 84 Müller, Instrumenta (Fn. 56), S. 37 (Text), 125 (Übersetzung); vgl. auch Schneider, Ius Reformandi (Fn. 19), S. 488 ff. 85 Vgl. Besier, Toleranz (Fn. 31), S. 496.
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tion« in vielen Territorien des Reichs entstandene lutherisch-reformierte Zweikonfessionalität festgeschrieben wurde. Nach Art. 7 § 2 IPO wurden neben ihnen jedoch keine »Sekten«, d. h. im damaligen Sprachgebrauch sonstige christliche Religionsgemeinschaften, im Reich geduldet. Den Reichsständen wurde erneut das Reformationsrecht (ius reformandi) zugesprochen, so daß sie unter den drei anerkannten Konfessionen wählen und die Konfessionszugehörigkeit ihrer Untertanen bestimmen durften86. Gleichzeitig wurde das Kirchenrecht des Landesherrn jedoch durch die – dem Prinzip des cuius regio eius religio explizit übergeordnete – Normaljahrsregelung stark begrenzt. Demnach sollte den Untertanen, die 1624 – für die Reformierten in der Kurpfalz als Ausnahmeregelung 161887 – ein Recht auf Religionsausübung besessen hatten, dieses in derselben Form auch weiterhin zustehen. Hierbei wurde nach dem Grad der 1624 bzw. 1618 genossenen Religionsausübung unterschieden zwischen öffentlicher Religionsausübung (exercitium religionis publicum) unter Einschluß von Kirchtürmen, Glockengeläut, Eingang des Gotteshauses zur Straße und weiteren Vorrechten, privater Religionsausübung (exercitium religionis privatum) ohne diese Vorrechte und der einfachen Hausandacht (devotio domestica), die sich auf das Beten und Singen in engem Familienkreis beschränkte. Wer nur die Hausandacht beanspruchen konnte, d. h. im Normaljahr ohne Recht zur Religionsausübung gewesen war, durfte vom Landesherrn ausgewiesen werden (ius expellendi) oder konnte die ungestörte Emigration in Anspruch nehmen (beneficium emigrandi). Die Religionsfreiheit war also durch die Bestimmungen des Westfälischen Friedens doppelt eingeschränkt: einmal durch ihre Einteilung in drei rechtliche Klassen, dann aber – noch gravierender! – dadurch, daß sich die Landesherren ebenso wie ihre Untertanen nur zu einer der drei anerkannten Hauptkonfessionen bekennen durften. Waren im Bereich der privaten Religionsausübung Kompromisse notwendig, so konnte das Problem der Rolle der Konfessionen in der Reichsverfassung mit der vollständigen Einführung der Parität,88 der 86 Damit wurde – mit den weiter unten genannten gravierenden Einschränkungen freilich – »das Kirchenregiment endgültig zu einem Bestandteil der Landeshoheit« (Asch, Pluralismus (Fn. 81), S. 2). 87 Art. IV § 6 IPO (ante motus Bohemicos). Andernfalls hätte Karl Ludwig (1617-1680), der als Kurfürst von der Pfalz wieder eingesetzte Sohn des »Winterkönigs« Friedrich V., ein katholisches Land übernehmen müssen; vgl. A. Ernst, Die reformierte Kirche der Kurpfalz nach dem Dreißigjährigen Krieg (1649-1685), 1996, S. 10 ff. 88 Vgl. dazu Warmbrunn, Konfessionen (Fn. 5), S. 7 ff., Weber, Parität (Fn. 26), sowie die grundlegenden Handbuchartikel: E. Sehling, Parität, in der RE (Fn. 83), Bd. 14, 1904, S. 689 ff.; Ch. Link, Parität, in: RGG (Fn. 2), Bd. 6, 4. Aufl. 2003, Sp. 940 f.; J. Listl, Parität, in: J. Höfer/K. Rahner (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Bd. 7, 3. Aufl. 1998, Sp. 1387 f.
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»Gleichberechtigung verschiedener Bekenntnisse und Bekenntnisgemeinschaften (bzw. Weltanschauungen und Weltanschauungsgemeinschaften) in einer politischen Verfassungsordnung auf der Grundlage ihrer Gleichwertigkeit und ihres Gleichranges«89, in allen Gremien auf Reichsebene durch die Bildung der Corpora Catholicorum und Evangelicorum und der Möglichkeit der itio in partes in Konfessions- und all denjenigen Fragen, in denen beide Parteien nicht übereinstimmten (Art. V § 52 IPO),90 einer grundsätzlichen, theoretisch klaren Lösung zugeführt werden.91 So innovativ diese auch wirkt, wurde sie schon auf den Verhandlungen der Reichstage von 1592 bis 1608 vorbereitet und setzt eine bereits im Augsburger Religionsfrieden von 1555 begründete »Linie der Verrechtlichung des konfesssionellen Konflikts«92 fort. Mit der verfassungsrechtlichen Verortung der itio in partes wurde der – schon 1555 grundsätzlich anerkannte – Dissens in Konfessionsfragen endgültig legitimiert und vom Geruch der Ketzerei und Rebellion befreit. Parität bedeutet die rechtliche Verankerung der auf gegenseitige Toleranz gegründeten Koexistenz zweier oder mehrerer Konfessionen. Sie erhält »ihre materielle Substanz aus der konkreten Verfassungsordnung«93, wobei die Anerkennung von Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit der Bekenntnisse ihren weitgehend gesicherten Anteil an der politischen Führung des Gemeinwesens mit einschließt. Waren zwar schon im Augsburger Religionsfrieden von 1555 die katholische und die Augsburgische Konfession in dem Sinne gleichberechtigt, daß die Stände des Reiches sich für eine von ihnen entscheiden durften, so fehlt die Absicherung der politischen Partizipation in den Vertragswerk, so daß man noch nicht von einer vollen Parität wird sprechen dürfen. Diese fand explizit erst in das Westfälische Friedenswerk von 1648 Eingang und wurde in Art. V § 1 IPO als aequalitas exacta mutuaque definiert.94 Die Parität auf Reichsebene kontrastierte jedoch mit
89 So die grundlegende Definition von M. Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: E. Friesenhahn/U. Scheuner (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts in der Bundesrepublik Deutschland, T. 1, 1974, S. 445. Vgl. auch ders., Autonomia (Fn. 43); ders., Staat und Kirche nach der Lehre der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonische Abteilung (ZSRG KA) 42 (1956), S. 117 ff. und 43 (1957), S. 202 ff.; und ders., Parität, in: ZSRG KA 49 (1963), S. 260 ff. 90 Vgl. M. Heckel, Itio in partes. Zur Religionsverfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in: ders., Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte, 1989, Bd. 2, S. 636 ff. 91 Vgl. zum Folgenden: Schulze, Pluralisierung (Fn. 22), S. 138 f. 92 Schulze, Pluralisierung (Fn. 22), S. 138. 93 Heckel, Religionsrechtliche Parität (Fn. 89), S. 451. 94 Müller, Instrumenta (Fn. 56), S. 25 (Text), S. 113 (Übersetzung).
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der Nicht-Parität in den Territorien des Reichs, von der es nur wenige Ausnahmen gab. Wie im Augsburger Religionsfrieden wurde den bikonfessionellen Städten auch im Westfälischen Frieden ein zukunftsweisender Sonderweg zugestanden. In Art. V § 3 IPO wurde die numerische Parität für die Städte Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl reichsrechtlich festgelegt.95 Grundlage dieser Sonderregelung war die – auf evangelischer Seite seit langem angestrebte – Unterscheidung zwischen den ecclesiastica, den religiös-konfessionellen Belangen, für die das »Normaljahr« 1624 ausschlaggebend war, und den politica, den politisch-verfassungsmäßigen Angelegenheiten. In letzteren blieb der Stand des Normaljahrs unberücksichtigt zugunsten einer »durchgehenden Gleichheit« (»Äqualität«), um so eine konfessionspolitische Neutralisierung des Gemeinwesens zu erreichen. In mehreren weiteren Paragraphen von Art. V wurde die Grundlage für die Durchführung der Parität in Augsburg (§§ 4-6) und den drei anderen Reichsstädten (§§ 11, 29 und 49) im Sinne einer strikten Ämterparität durch kollegiale Doppelbesetzung der städtischen Ämter mit Katholiken und Protestanten geschaffen. Auch die Pfarrstellen und Pfarrämter wurden, wo möglich, verdoppelt, beide Konfessionen hatten eigenes Kirchenvermögen, Bildungswesen und kulturelle Einrichtungen, bis in die Mentalitäten wirkte sich die Parität aus, so daß in der Tat eine »unsichtbare Grenze«96 diese Reichsstädte teilte. Mit der Parität wurde eine alte Forderung der Evangelischen97 erfüllt, die ihre Einführung – ganz anders als ihre katholischen Mitbürgerinnen und Mitbürger – mit Jubel98 aufnahmen. Als Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen des Dreißigjährigen Kriegs wurde im Westfälischen Frieden, der die Grundlage des Religionsrechts bis zum Ende des Alten Reiches bildete, unter maßgeblichem Einfluß eines aus Italien rezipierten neuen politischen, auf die Staatsräson zentrierten Denkens die konfessionelle Toleranz erstmals als reichsrechtlicher Begriff eingeführt und durch die Einführung der Parität auf Reichsebene in 95 Zitiert nach: Müller, Instrumenta (Fn. 56), S. 26 (Text), 114 (Übersetzung). Ausführlich hierzu: Warmbrunn, Konfessionen (Fn. 5), S. 180 ff. 96 So schon im Titel der vorzüglichen Arbeit von E. François, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806, 1991; vgl. auch ders., De l’uniformité à la tolérance: confession et société urbaine en Allemagne. 1650-1800, Annales 37 (1982), S. 783 ff. 97 Zuerst wohl 1562 von den Biberacher Protestanten erhoben; vgl. K. Diemer, Von der Bikonfessionalität zur Parität, in: D. Stievermann (Hrsg.), Geschichte der Stadt Biberach, 1991, S. 289ff., hier S. 290 f. 98 Das am 8. August 1650 erstmals begangene Augsburger Friedensfest erinnert bis heute daran; vgl. Burckhardt/Haberer (Hrsg.), Friedensfest (Fn. 22); sowie H. Gier (Hrsg.), 350 Jahre Augsburger Hohes Friedensfest. Ausstellungskatalog, o. J. [2000].
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einer Verfassungsordnung verankert. Dies bedeutete sicherlich eine wichtige Zwischenstation auf dem Weg zu Toleranz und Religionsfreiheit, auch wenn die in der pedantischen Auslegung der Normaljahrsklausel in den Territorien oder der Paritätsbestimmungen in den davon betroffenen Reichsstädten zum Ausdruck kommende Verrechtlichung des Konfessionskonflikts im Reich die Diskrepanz zu modernen Vorstellungen von Toleranz und Religionsfreiheit offenbarte.99 Zudem trat das Argument der konfessionellen Einheitlichkeit zunehmend hinter Machtinteressen und der Staatsräson zurück, die Konfessionen ordneten sich mehr und mehr den Zwecken des Territorialstaats unter. Um der katholischen Toleranzlehre entgegenzukommen, wurden die Religionsbestimmungen unter den Vorbehalt einer auflösenden Klausel gestellt (Art. V § 1 IPO): Sie sollten demnach nur so lange ihre Gültigkeit behalten, bis eine friedliche Einigung in Religionsstreitigkeiten erzielt worden sei. Von der katholischen Kirche wurden die in Richtung Toleranz weisenden Bestimmungen des Westfälischen Friedens in der Bulle Zelo domus Dei Papst Innozenz’ X. vom 20. November 1648 für null und nichtig erklärt, und auch die evangelische Lehre von der custodia in Glaubensfragen war mit diesen letztlich nicht vereinbar. Gleichwohl hat das Osnabrücker Friedenswerk die Basis für das Entstehen weiterer konfessioneller Mischformen100 teils geschaffen, teils verbreitert. Zu ihrem Entstehen trugen vor allem zwei Faktoren bei: einerseits die Migrationsbewegungen nach Kriegsende – viele Fürsten holten ohne Ansehen der Konfession Einwanderer zur Wiederbesiedelung ihrer entvölkerten Territorien oder zur Förderung ihrer Residenz- und anderer Städte ins Land, wodurch neue »Experimentierfelder der Toleranz«101 entstanden –, andererseits die Fürstenkonversionen und Konfessionswechsel im Herrscherhaus.102 In Abgrenzung vom nach wie vor als Regelfall angesehenen geschlossenen Konfessionsstaat entwickelten sich nach 1648 im Reich folgende Typen des Zusammenlebens von zwei oder mehr Konfessionen:103 die von Institutionen gestützte katholische Minderheit in einem mehrheitlich 99 Vgl. Asch, Pluralismus (Fn. 81), S. 31. 100 Überblick bei François, Grenze (Fn. 96), S. 230 ff. 101 Schulze, Pluralisierung (Fn. 22), S. 139 f. 102 Beispielsweise die Nachfolge der katholischen Linie Pfalz-Neuburg auf die reformierte Linie Pfalz-Simmern in der Kurpfalz 1685; vgl. M. Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2: Neuzeit, 1992, S. 153-160; P. Warmbrunn, Von der Vorherrschaft der reformierten Konfession zum Nebeneinander dreier Bekenntnisse: Reformierte, Lutheraner und Katholiken in Kurpfalz und Pfalz-Zweibrücken zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Ende des Alten Reiches, Blätter für deutsche Landesgeschichte (BllDtLdG) 134 (1998), S. 95-121. 103 Vgl. A. Schindling, Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit, in: ders./Ziegler, Territorien (Fn. 53), Bd. 7, S. 9 ff.
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protestantischen Umfeld (z. B. in evangelischen Reichsstädten wie Frankfurt am Main, Nürnberg, Speyer); die anderskonfessionelle reichsunmittelbare Enklave in einem konfessionell homogenen Territorium oder einer Stadt (z. B. die Grafschaft Ortenburg und die Reichsstadt Regensburg im katholischen Bayern); die vom Normaljahr geschützte evangelische Gemeinde unter katholischer Landesherrschaft; das durch auswärtige Garantien geschützte System der evangelischen Friedenskirchen oder Gnadenkirchen in Schlesien; die fließenden Konfessionsgrenzen in einigen Kondominaten; das tolerierte Nebeneinander von Reformierten und Lutheranern; das tolerierte Nebeneinander aller drei im Reich zugelassenen Konfessionen (z. B. in der Kurpfalz und in Pfalz-Zweibrücken);104 die institutionalisierte Parität. Die Alltagsrealität in diesen Mischformen für die Zeit nach 1648 war durch eine zunehmende Verfestigung der konfessionellen Identitäten und durch eine stärkere wechselseitige Abgrenzung gekennzeichnet: für das besonders gut untersuchte Augsburg läßt sich nachweisen, daß konfessionelle Mischehen und Konversionen bis zum Ende des Alten Reiches eine seltene Ausnahme blieben.105 Das Bild wäre jedoch unvollständig und einseitig, wenn nicht Lutheraner und Katholiken auch »durch gemeinsame Interessen und gegenseitige Abhängigkeiten, einander geleistete Dienste und nachbarschaftlichen Zusammenhalt auf vielfältige Weise miteinander verbunden«106 gewesen wären, zumal sich viele Lebensbereiche der Konfessionalisierung ganz entzogen. Darüber hinaus stellt Wolfgang Wüst für das ausgehende 17. und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Reihe von »Anzeichen« fest, daß Augsburg »als Pflanzstätte von Toleranz und Ausgleich durchaus auf dem Parkett der europäischen Staaten einen Namen hatte«107. In der bikonfessionell-paritätischen Alltagsrealität waren somit »Betonung von Unterschieden und Toleranz [...] die beiden einander ergänzenden Seiten ein und derselben Realität«108, es entwickelte sich ein »Miteinander trotz und in der Trennung«109. 104 Vgl. hierzu z. B. die demographisch und mentalitätsgeschichtlich ausgerichtete Fallstudie von P. Zschunke, Konfession und Alltag in Oppenheim. Beiträge zur Geschichte von Bevölkerung und Gesellschaft einer gemischtkonfessionellen Kleinstadt in der Frühen Neuzeit, 1984 (dazu Schilling, Stadt (Fn. 60), S. 109 f.). 105 Vgl. François, Grenze (Fn. 96), S. 190 ff., sowie W. Wüst, Konfession, Kanzel und Kontroverse in einer paritätischen Reichsstadt. Augsburg 1555-1805, Blätter für deutsche Landesgeschichte (BllDtLdG) 134 (1998), S. 123 ff., hier S. 132 ff. 106 François, Grenze (Fn. 96), S. 230. Vgl. zum Folgenden auch Schilling, Stadt (Fn. 60), S. 109 f. 107 W. Wüst, Die Pax Augustana als Verfassungsmodell: Anspruch und Wirklichkeit, in: Burkhardt/Haberer (Hrsg.), Friedensfest (Fn. 22), S. 99. 108 François, Grenze (Fn. 96), S. 230. 109 François, Grenze (Fn. 96), S. 229.
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V. Aufklärung und Säkularisation: Der Weg zur verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit So waren schon durch den Westfälischen Frieden die Weichen für eine Überwindung der religiösen Intoleranz gestellt. Einen wichtigen Schub für ein toleranteres Miteinander der Konfessionen brachte die Frühaufklärung,110 die intolerantes Handeln einer grundsätzlichen Kritik unterzog. Vorreiter der Toleranzdiskussion waren im 17. Jahrhundert die Niederlande, in denen der jüdische Gelehrte Baruch de Spinoza (1632-1677)111 erstmals das zur Machtsicherung der Herrschenden immer wieder vorgetragene Argument, eine abweichende religiöse Überzeugung sei die Vorstufe zum politischen Ungehorsam, ad absurdum führte und umgekehrt plausibel machte, daß nur tolerante Gemeinwesen stabil sein könnten. Der im 18. Jahrhundert einsetzende Säkularisierungsprozeß führte zur Bildung des konfessionell neutralen modernen Staates. Dabei wurde die für die Toleranzpatente des 16. und 17. Jahrhunderts charakteristische Verbindung von religiöser Duldung und Diskriminierung in bürgerlichen Rechten aufgegeben zugunsten einer »Staatsbürgerlichen Parität« im Sinne einer bürgerlichen Gleichberechtigung unter Außerachtlassung von Religionsverschiedenheit, für die drei Elemente konstitutiv waren: Individuelle Religionsfreiheit, Freiheit der öffentlichen Religionsausübung für jede Religionsgemeinschaft und Zuerkennung des grundsätzlich gleichen staatskirchenrechtlichen Status an alle Religionsgemeinschaften. Erstmals wurden die Grundsätze der Religionsfreiheit und der Trennung von Kirche und Staat in Artikel 16 der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776112 ausgesprochen; in der amerikanischen Verfassung vom 17. September 1787 erhielten sie Verfassungsrang. In Österreich erreichte der Einfluß der Aufklärung unter Joseph II. (1765/80-1790) sowohl in seinen Regierungsmaßnahmen wie in der Gesetzgebung seinen Höhepunkt.113 Mit dem Toleranzpatent vom 13. Oktober 1781114 wurde er zum Bahnbrecher der religiösen Toleranz. Allerdings blieb 110 Vgl. Dreitzel, Toleranz (Fn. 37), S. 127 f. 111 Vgl. zu Spinoza ausführlich Ralf Poscher, in diesem Band, S. 129 ff. 112 Wortlaut zitiert bei Warmbrunn, Konfessionen (Fn. 5), S. 10 Anm. 37, nach H. S. Commager (Ed.), Documents of American History, 3. Aufl. New York 1947, S. 104; vgl. dort auch das »Virginia Statute of Religious Liberty« vom 16. Januar 1786, S. 125 f. 113 Vgl. zum Folgenden H. Conrad, Religionsbann, Toleranz und Parität am Ende des Alten Reiches, in: Lutz, Toleranz (Fn. 8), S. 155 (171 ff.); vgl. auch ausführlich Janez Kranjc, in diesem Band S. 41 (bes. S. 56 ff.). 114 Wortlaut bei G. Frank, Das Toleranz-Patent Kaiser Josephs II. Urkundliche Geschichte seiner Entstehung und seiner Folgen, Wien 1882, S. 37 ff.; I. Gampl, Toleranzpatent, österreichisches, in: HRG (Fn. 30), Bd. 5. 1998, Sp. 274 ff.
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diese auf bestimme Bekenntnisse – genannt werden die Augsburgischen und Helvetischen Religionsverwandten (Lutheraner und Reformierte) und die nicht unierten Griechen – beschränkt, die ihrerseits mit der römisch-katholischen Religion, der weiterhin der Vorzug der öffentlichen Religionsausübung eingeräumt wurde, in keiner Weise die staatskirchenrechtliche Parität erlangten. In Preußen war schon seit dem Übertritt des kurfürstlichen Hauses zum reformierten Bekenntnis 1613, besonders aber unter Friedrich dem Großen eine mit den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens und des Westfälischen Friedens nicht mehr zu vereinbarende weitreichende Toleranz praktiziert worden. Ihren gesetzlichen Niederschlag fand sie erst in dem Edikt vom 9. Juli 1788, die Religionsverfassung in den preußischen Staaten betreffend, das nach seinem geistigen Urheber Johann Christoph Woellner (1732-1800) auch »Woellnersches Religionsedikt« genannt wurde. Über dessen Bestimmungen hinausgehend, enthielt das am 1. Juni 1794 in Kraft getretene Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten die Proklamation der Glaubens- und Gewissensfreiheit.115 Auch die – im nur kurze Zeit gültigen Toleranzgesetz Ludwigs XIV. vom 28. November 1787116 gipfelnde – französische Toleranzgesetzgebung in den letzten Jahren des Ancien Régime und die in der Revolutionszeit erlassene Bestimmung der Verfassung vom 3. September 1791, in der die Freiheit des Religionskults proklamiert wurde,117 sind wegweisend für die moderne Vorstellung von Toleranz und Parität geworden.
VI. Mentale Abschottung der Konfessionen statt Konfessionsstaat seit 1803 Mit dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803, mit Mediatisierung und Säkularisation war der Konfessionsstaat frühneuzeitlicher Prägung und mit ihm die konfessionelle Einheitlichkeit in den meisten der übrig gebliebenen – vielfach durch Einverleibung oft anderskonfessioneller Gebietsteile stark vergrößerter – Territorialstaaten untergegangen.118 Diese sahen sich zu einer 115 »11. Titel: Von den Rechten und Pflichten der Kirchen und der geistlichen Gesellschaften, §§ 1-3 und 40«, zitiert bei Conrad, Religionsbann (Fn. 113), S. 186. 116 Vgl. hierzu und allgemein zu Frankreich im Aufklärungszeitalter den M. Gilli, Toleranz, in: H. Reinalter (Hrsg.), Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa, 2005, S. 613 ff. 117 »Titre 1 : La liberté à tout homme ... d’exercer le culte religieux auquel est attaché«, vgl. Conrad, Religionsbann (Fn. 113), S. 188 f. 118 Zum Folgenden auch: Angenendt, Toleranz (Fn. 76), S. 446 ff.
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grundsätzlichen Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat veranlaßt. Die Religionsedikte Bayerns und Württembergs vom 10. Januar bzw. 14. Februar 1803 standen am Anfang einer Entwicklung, die religiöse Toleranz und Parität zum verfassungsrechtlich gesicherten Grundsatz auch in den einzelnen Gliedstaaten des Deutschen Bundes erhob.119 Diese Entwicklung setzte sich ins 20. Jahrhundert fort: Sowohl in der Weimarer Verfassung von 1919 wie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949120 erhielten Religions- und Gewissensfreiheit Verfassungsrang. Prinzipiell gesehen war Toleranz damit kein Problem mehr; dies bedeutete aber noch lange nicht, daß diese sich auch in der gesellschaftlichen Praxis durchgesetzt hätte. Auf die konstitutionell garantierte Religions- und Gewissensfreiheit reagierten Kirchen und Theologien ganz unterschiedlich. Im Protestantismus war dabei das Spektrum der Antworten naturgemäß sehr vielfältig. Chancen zu einem Ausgleich in zentralen Lehrauffassungen wurden in den noch ganz vom Geist der Aufklärungstheologie bestimmten innerprotestantischen Kirchenunionen des frühen 19. Jahrhunderts121 nicht genutzt. Die römische Kirche bekämpfte von Anfang an die verfassungsmäßige Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit122 und unterband alle ökumenischen Ansätze zugunsten einer größtmöglichen inneren Geschlossenheit. Eine Einheit der Christen konnte man sich bei einer solchen Sichtweise nur durch »Rückkehr« zur alten Kirche vorstellen. Stimmen wie die des Kirchenhistorikers Ignaz Döllinger (1799-1890), die der kirchlichen Verurteilung von Häresien die Berechtigung absprachen, blieben Meinungsäußerungen intellektueller Außenseiter und wurden, wie Döllingers weiteres Schicksal zeigt, ihrerseits dem Verdikt der Amtskirche unterzogen.123 In ihrer Identitätswahrung nun auf sich allein gestellt, entwickelten die Kirchen neue Abwehrmechanismen: sie schotteten sich zunehmend ab und bildeten eigene Milieus heraus. Als Reaktion auf den römisch-katholischen Ultramontanismus konstituierte sich 1866 auf evangelischer Seite der »Evan119 Als Beispiel seien die Bestimmungen der besonders fortschrittlichen Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22. August 1818 zitiert: »§ 18. Jeder Landes Einwohner genießt der ungestörten Gewissensfreyheit und in Ansehung der Art seiner Gottesverehrung des gleichen Schutzes. § 19. Die politischen Rechte der drey christlichen Religionstheile sind gleich«, vgl. H. Fenske, 175 Jahre badische Verfassung, hrsg. v. Stadt Karlsruhe – Stadtarchiv –, 1993, S. 124. 120 Vgl. U. Scheuner, Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, in: Lutz, Toleranz (Fn. 8), S. 372 ff. 121 Beispielweise der pfälzischen Union von 1818; vgl. S. Schnauber/B. H. Bonkhoff, Quellenbuch zur Pfälzischen Kirchenunion und ihre Wirkungsgeschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, 1993. 122 Insbesondere Papst Gregor XVI. in seiner Enzyklika Mirari vos vom 15. August 1832. 123 Vgl. W. Brandmüller, Ignatz von Döllinger am Vorabend des I. Vatikanums, 1978.
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gelische Bund« zur Verteidigung eigener Belange gegen katholische Übergriffe; er war aber seinerseits in der Wahl seiner Mittel keineswegs wählerisch. In ihrem Bestreben nach Selbstkonsolidierung bedienten sich die Konfessionen der neu entstandenen Organisationsformen und Medien: sie unterhielten eigene Schulen, Vereine, Parteien und Zeitungen. Im Kaiserreich sahen sich die Katholiken nach 1870 in mehrfacher Hinsicht – zahlenmäßig, sozial und vor allem kulturell – weiterhin ins Hintertreffen geraten. Suchten die Protestanten ihre Überlegenheit auf letzterem Feld im »Kulturkampf« auszuspielen, so scharten sich die Katholiken um so fester um Kirche und Papst und gingen insgesamt geschlossener und gestärkt aus den Auseinandersetzungen hervor.
VII. Ausblick auf die Nachkriegszeit: Ökumenische Bewegung und Herausforderungen der Gegenwart Erst durch die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer Annäherung der beiden Konfessionen mit nachhaltiger Wirkung. Die beiden 1940 erschienenen Bände des Kirchenhistorikers Joseph Lortz (1887-1975) über die Reformation in Deutschland124 mit einem ganz neuen katholischen Lutherbild, das eine positive Würdigung des Reformators vor dem Hintergrund einer im Spätmittelalter verfallenden Kirche einschloß, bereitete eine ökumenische Wende vor. Die Anstöße der neu in Gang gekommenen Diskussion zwischen den Theologen beider großen Konfessionen wurden im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) aufgegriffen, das sich erstmals zur historischen Mitschuld an der Trennung der Kirche bekannte, an der die heute Getrennten keine Schuld treffe, und die Bedeutung der Taufe als allen gemeinsames Sakrament hervorhob.125 In der Konzilskonstitution Dignitatis humanae personis nahm die römische Kirche erstmals zur Religions- und Gewissensfreiheit eine positive Haltung ein. Der Konsens-Toleranz ist im Zuge der ökumenischen Bewegung neue Bedeutung zugewachsen; sie wird zunehmend in Richtung inhaltliche126 bzw. dialogische Toleranz weiter entwickelt. Ihre Chancen wie Probleme sind beispielsweise bei den Verhandlungen um ein gemeinsames katholischlutherisches Dokument zur Rechtfertigungslehre, das nicht zufällig am 31. Oktober 1999 in Augsburg der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, deutlich geworden. Das in den Friedensschlüssen von 1555 und 1648 begründete 124 J. Lortz, Die Reformation in Deutschland, 1940 (und zahlreiche weitere Auflagen in den folgenden Jahren). 125 Konzilskonstitution Lumen gentium. 126 Vgl. G. Mensching, Toleranz und Wahrheit in der Religion, 1966, S. 18.
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Modell besonderer Beziehungen zwischen dem Staat und den als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfaßten Kirchen überträgt diesen – anders als in laizistisch verfaßten Staaten – eine Mitverantwortung für das friedliche, tolerante Zusammenleben der Menschen.127 Politik und Kirchen sehen sich heute gleichermaßen mit der durch Globalisierung und immer neue Migrationswellen verursachten Entwicklung zu einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft als ganz neuen Herausforderung konfrontiert. Wege zu einem vorurteilsfreien, toleranten Miteinander von Menschen aller Ethnien und Religionen zu finden, das die Extreme Indifferenz und Fundamentalismus vermeidet, und die dabei auftretenden Konflikte in ähnlicher Weise zu lösen und zu entschärfen, wie dies im Alten Reich unter ganz anderen Rahmenbedingungen zwischen den divergierenden Territorien und Konfessionen möglich war, bleibt auch im neuen Jahrtausend Herausforderung und Aufgabe der noch getrennten Christenheit.
127 Vgl. Schilling, Jahrhundert (Fn.16), S. 33 f.
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Das Problem rechtlicher Regelung religiöser Toleranz im Hinblick auf das Toleranzpatent Joseph II. I. Das Toleranzedikt von Nikomedia und das Mailänder Toleranzedikt Das Toleranzpatent, das am 13. Oktober 1781 von Kaiser Joseph II. erlassen wurde, gewährte den Protestanten sowie den nichtunierten GriechischOrthodoxen1 die private Ausübung ihrer Religion und auch in bürgerlicher Hinsicht größere Gleichberechtigung mit den Katholiken. Die römischkatholische Kirche behielt jedoch ihre dominante Stellung bei. Am 2. Januar 1782 wurde von Joseph II. noch das Toleranzpatent für die Wiener Juden erlassen, das den Juden die Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilzunehmen, eröffnete. Beide Rechtssätze waren Folgen diverser Entwicklungen und Tendenzen. Einerseits stellten sie ein Beispiel von Bestrebungen dar, kirchliche Angelegenheiten der staatlichen Gewalt zu unterwerfen. Andererseits aber waren sie Ausdruck der neuzeitlichen Idee der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der religiösen Toleranz. Zu dieser Toleranzidee trug die kritisch-zweifelnde Grundhaltung des Aufklärungszeitalters mit ihrem religiösen Indifferentismus und Relativismus wesentlich bei. Gleichzeitig aber bedeutet die Toleranzidee die Abkehr vom religiösen Staatsabsolutismus und das Ende des mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 eingesetzten Grundsatzes cuius regio eius religio. Das Toleranzpatent Joseph II. war, wie bereits angedeutet, Ausdruck neuer geistiger Strömungen. Als Versuch, das Problem der religiösen Toleranz rechtlich zu regeln, war es indessen nicht neu. Den ersten Versuch in 1 Unierte, d.h. mit Rom geeinte, Kirchen heißen offiziell Katholische Ostkirchen (Ecclesiae orientales). Es handelt sich um 21 Ostkirchen, die mit der katholischen Kirche in Glaubens-, Gebets- und Sakramentengemeinschaft stehen. Sie erkennen den römischen Papst als Oberhaupt an, feiern jedoch den Gottesdienst nach verschiedenen östlichen Riten. Unierte Zweige gibt es in praktisch allen ostchristlichen Kirchen. Ihre Rechtlage regelt heute das im Jahre 1990 von Papst Johannes Paul II. promulgierte Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen (Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium – CCEO).
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dieser Reihe stellte das Toleranzedikt von Nikomedia vom 30. April 311 dar.2 Mit ihm gewährte der todkranke Kaiser Galerius (250-311) auf seinem Sterbebett den Christen die freie Ausübung ihres Glaubens, so lange die öffentliche Ordnung dadurch nicht gestört werden würde. Das Edikt beendete die diokletianischen Christenverfolgungen3 und stellt einen Schritt auf dem Weg zur Duldung des Christentums dar. Seit den Edikten des Decius4 (249) war nämlich die Darbringung eines Opfers an die römischen Götter (supplicatio) als Zeichen der Solidarität mit dem bedrohten Staat für alle Reichsbewohner (d.h. auch die Kinder) vorgeschrieben.5Auf diese Weise sahen sich Christen, die seit der constitutio Antoniniana (212) römisches Bürgerrecht hatten, zum Bekenntnis zu den römischen Göttern und somit zum Verrat ihres Glaubens gezwungen. Kaiser Valerian setzte diese Politik in den Jahren 257/58 fort. Sie war nunmehr direkt gegen die christlichen Organisationen gerichtet.6 Aufgrund dieser Haltung wurden tausende Menschen inhaftiert, zum Teil gefoltert und hingerichtet. Diese Maßnahmen hob Kaiser Galien (260) durch zwei Edikte auf.7 Sie machten das Christentum 2 S. dazu J.R. Knipfing, The Edict of Galerius (311 A.D.) reconsidered, Revue Belge de Philologie et d’Histoire 1, 1922, S. 689 ff. 3 Grundlegend dazu J. Moreau, Die Christenverfolgung im Römischen Reich, Berlin 1961 (2. Aufl. 1971); Lit. s. bei R. Bratozˇ, Il cristianesimo aquileiese prima di Costantino: fra Aquileia e Poetovio: Fonti per la storia della chiesa in Friuli. Udine 1999, S. 355 f., Fn.1.; S. auch S. Corcoran, The Empire of The Tetrarchs, 2. Aufl., Oxford 2000, S. 179 ff.; W. Dahlheim, Geschichte der römischen Kaiserzeit, 2. Aufl. 2003, S. 121 ff., v. a. 130 ff. mit Lit. S. 281 ff., v. a. 285 f., J. Bleichen/L. Gall/H. Jakobs (Hrsg.), Grundriß der Geschichte, Bd. 3, 1989, S. 123 ff. 4 Grundlegend dazu: E. Liesering, Untersuchungen zur Christenverfolgung des Kaisers Decius (Diss.), 1933; J. Molthagen, Der römische Staat und die Christen, 1975, S. 61 ff.; M. Sordi, .I cristiani e l’impero romano, Milano 1984, S. 359 ff.; H. A. Pohlsander, The Religious Policy of Decius, Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW) II 16, 3, 1986, S. 1826 ff.; J.B. Rives, The decree of Decius and the religion of Empire, Journal of Roman Studies (JRS) 89, 1999, S. 135 ff.; R. Selinger, The Mid-Third Century Persecution of Decius and Valerian, 2002. Der Text der Edikte ist nicht erhalten. Vgl. auch G. Alföldy, Die Krise des Imperium Romanum und die Religion Roms, in: W. Eck (Hrsg.), Religion und Gesellschaft in der römischen Kaiserzeit, Kolloquium zu Ehren von Friedrich Vittinghoff, Köln, Wien 1989, S. 53 ff. 5 Über die vollbrachte supplicatio bekam man eine Bestätigung (libellum). S. ein Beispiel in Fontes iuris romani anteiustiniani (FIRA), III, editio altera, Florentiae 1969, S. 593 f. Mehr dazu: A. Bludau, Die ägyptischen Libelli und die Christenverfolgung des Kaisers Decius, Freiburg 1931; P. Keresztes, The Decian Libelli and Contemporary Literature, Latomus 34, 1975, S. 761 ff. 6 Vgl. dazu P. Keresztes, Two Edicts of the Emperor Valerian, Vigiliae Christianae 29, 1975, S. 81–95; M. M. Sage, The Persecution of Valerian and the Peace of Gallienus, Wiener Studien 96 (N.F. 17), 1983, S. 137 ff.; K.H. Schwarte, Die Christengesetze Valerians, in: W. Eck (Hg.), Religion und Gesellschaft (Fn. 4), S. 103ff. 7 Vgl. dazu: M. Sordi, I rapporti fra il Cristianesimo e l’impero dai Severi a Gallieno, Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW) II 23, 1, 1979, S. 371 ff. und P. Keresztes, The
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zwar nicht zu einer religio licita, sie sicherten ihm aber die Duldung bis Diokletian, der mit dem Erlaß von 4 Edikten (303/304) eine neue Welle der Christenverfolgung auslöste.8 Um die innere Gefahr für das Reich endgültig zu beseitigen, versuchte man, das Christentum auszurotten. Ein Edikt von 304, hinter dem Caesar Galerius stand, erneuerte den Opferzwang im ganzen Reich und verordnete für Verweigerer Zwangsarbeit oder Tod.9 Das Toleranzedikt desselben Galerius entstand unter sehr spezifischen Umständen. Der krebskranke Kaiser, der nach mehreren Operationen10 bei verschiedenen Göttern vergeblich Heilung suchte,11 versprach auf dem Sterbebett von Schmerzen gequält, den Tempel des christlichen Gottes zu erneuern und für das verursachte Verbrechen einzustehen,12 und erließ das Toleranzedikt. Trotz der Umstände, in denen es entstand, war das Edikt von Galerius für die Christen nicht besonders schmeichelhaft abgefaßt. In dem von Lactantius und Eusebios angeführten Text13 zeigt der Kaiser keine
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Imperial Roman Government and the Christian Church II. From Gallienus to the Great Persecution, Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW) II 23, 1, 1979, S. 375 ff. Beide Autoren meinen, daß durch die Edikte Galliens ein neuer Rechtszustand eingetreten ist. Der herrschenden Meinung nach, stellten die Edikte den Rechtszustand vor den großen Christenverfolgungen unter Decius und Valerian wieder her. Vgl. J. Molthagen, Der römische Staat und die Christen im zweiten und dritten Jahrhundert, 2. Aufl. 1975, S. 99 ff.; P. Guyot/R. Klein (Hrsg.), Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen, Bd.1, 1993, S. 396 Fn. 87. Vgl. Keresztes, Imperial Roman Government (Fn. 7), S. 375 ff.; Corcoran, Empire of The Tetrarchs (Fn. 3); weitere Lit. bei R. Bratoz ˇ, Il cristianesimo aquileiese (Fn. 3). Grundlegend dazu C. Carsten, Christenverfolgung, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, hrsg. v. K. Ziegler/W. Sontheimer, 1979. Vgl. Lactantius, Lucii Caecilii liber ad Donatum confessorem de mortibus persecutorum XXXIII, 2: »Medici secant curant. Sed inducta iam cicatrice scinditur vulnus et rupta vena fluit sanguis usque ad periculum mortis, vix tamen cruor sistitur. Nova ex integro cura. Tandem perducitur ad cicatricem. 3 Rursus levi corporis mulneratur; plus sanguinis quam ante decurrit. Albescit ipse atque absumptis viribus tenua tur, et tunc quidem rivus cruoris inhibetur. 4 Incipit vulnus non sentire medicinam; proxima quaeque cancer invadit et quanto magis circumsecatur, latius saevit.« Lactantius, De Mortibus Persecutorum (Fn. 10), XXXIII, 5: »Confugitur ad idola ...« Lactantius, De Mortibus Persecutorum (Fn. 10), XXXIII, 11: »Novi doloris urgentis per intervalla exclamat se restituturum dei templum satisque pro scelere facturum. Et iam deficiens edictum misit huiusmodi ...« Vgl. Lactantius, De Mortibus Persecutorum (Fn. 10) XXXIV: »Inter cetera quae pro rei publicae semper commodis atque utilitate disponimus, nos quidem volueramus antehac iuxta leges veteres et publicam disciplinam Romanorum cuncta corrigere atque id providere, ut etiam Christiani, qui parentum suorum reliquerant sectam, ad bonas mentes redirent, 2. siquidem quadam ratione tanta eosdem Christianos voluntas invasisset et tanta stultitia occupasset, ut non illa veterum instituta sequerentur, quae forsitan primum parentas eorundem constituerant, sed pro arbitrio suo atque ut isdem erat libitum, ita sibimet leges facerent quas observarent, et per diversa varios populos congregarent. 3. Denique cum eiusmodi nostra iussio extitisset, ut ad veterum se instituta conferrent, multi periculo subiugati, multi
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besondere Begeisterung für die Christen. Er schreibt: »Aus irgendwelchem Grunde hatte sie solcher Eigenwille erfaßt und solche Torheit befallen (tanta eosdem Christianos voluntas invasisset et tanta stultitia occupasset), daß sie nicht mehr den Bräuchen der Alten folgten, die vielleicht sogar ihre eigenen Ahnen dereinst eingeführt hatten, sondern nach eigenem Gutdünken so, wie jeder wollte, sich selbst Gesetze machten und sich an diese hielten und da und dort bunte Menschenmengen versammelten.« Gewissermaßen verteidigte er seine Christenverfolgung, indem er meinte, daß man versucht hatte, die Christen wieder zu Sinnen zu bringen (»disponimus ... cuncta corrigere atque id providere, ut etiam Christiani, qui parentum suorum reliquerant sectam, ad bonas mentes redirent«). »Als nun durch uns ein Erlaß erging, der sie zu den von den Vorfahren festgelegten Sitten zurückführen sollte, wurde sehr vielen der Prozeß gemacht, und sehr viele gerieten in Verwirrung und erlitten auf mannigfache Weise den Tod.« Und weil der Kaiser bemerkte, daß viele Christen nur aus Angst nachgaben (»multi periculo subiugati«) und daß viele andere als Folge der erwähnten Maßnahmen weder den himmlischen Göttern die schuldige Verehrung erwiesen noch den Gott der Christen verehrten (»nec diis eosdem cultum ac religionem debitam exhibere nec Christianorum deum observare«), verfügte er in seiner Milde (clementia) und Gnade (indulgentia), ihnen zu erlauben, wieder Christen zu sein und ihre Versammlungsorte einzurichten, wenn sie dabei nicht gegen die Ordnung verstoßen (»ut denuo sint Christiani et conventicula sua componant, ita ut ne quid contra disciplinam agant«). Am Ende seines Edikts nahm der kranke Kaiser das Angebot der christlichen Fürbitten an, indem er schrieb: »In Ansehung dieses unseres Gnadenerlasses sollen sie daher zu ihrem Gott für unser Wohlergehen, für das des Volkes und ihr eigenes flehen, damit das Staatswesen in jeder Beziehung unversehrt bleibe und sie sorgenlos in ihren Wohnungen leben können (debebunt deum suum orare pro salute nostra et rei publicae ac sua, ut undique versum res publica praestetur incolumis et securi vivere in sedibus suis possint).«
etiam deturbati sunt. 4. Atque cum plurimi in proposito perseverarent ac videremus nec diis eosdem cultum ac religionem debitam exhibere nec Christianorum deum observare, contemplatione mitissimae nostrae clementiae intuentes et consuetudinem sempiternam, qua solemus cunctis hominibus veniam indulgere, promptissimam in his quoque indulgentiam nostram credidimus porrigendam. Ut denuo sint Christiani et conventicula sua componant, ita ut ne quid contra disciplinam agant. 5. aliam autem epistolam iudicibus significaturi sumus quid debeant observare. Unde iuxta hanc indulgentiam nostram debebunt deum suum orare pro salute nostra et rei publicae ac sua, ut undique versum res publica praestetur incolumis et securi vivere in sedibus suis possint.« Vgl. auch Eusebius, Kirchengeschichte 8, 17, 10; zu einer deutschen Übersetzung des Eusebius-Textes vgl. http://www.unifr.ch/ bkv/kapitel.php?ordnung=17&werknr=9&buchnr=30&abschnittnr=54 (12.03.2007).
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Obwohl Kaiser Galerius nicht von Toleranz, sondern von Gnade und Milde spricht, ist sein Edikt der Idee nach ein Toleranzedikt. Es erkannte das Christentum als religio licita an. Der alte Grundsatz, daß die Religionsausübung für das Heil des Staates entscheidend wäre, wurde auch auf das Christentum ausgedehnt. Das Edikt schuf die rechtliche Grundlage für die Duldung der Christen, wobei der traditionelle Staatskult weiterhin bestand. Es ging also nicht um Religionspluralismus, sondern um die Duldung einer, für den Kaiser eher exotischen, Religion. Als Folge dieses Edikts wurden zahlreiche Christen aus den Gefängnissen entlassen. Das Toleranzedikt des Galerius wurde sowohl von Konstantin als auch von seinem kaiserlichen Gegner Maxentius akzeptiert. Die Schlacht an der Milvischen Brücke (312) war deswegen kein Kampf des Christentums gegen das Heidentum. Hinter dem Toleranzedikt von Nikomedia kann man die Ansätze einer sehr liberalen Idee finden: solange die Gläubigen nicht gegen die rechtliche Ordnung verstoßen, ist ihre Religion keine öffentliche Angelegenheit. Dieser Idee begegnet man schon in der Gesetzgebung Solons 594 v. Chr. Im Zuge seiner Reform öffnete Solon die freie Möglichkeit, Vereine und Körperschaften (sog. hetairia) zu gründen sowie ihre Statute frei zu gestalten, so lange sie nicht gegen die Gesetze des Volkes verstießen.14 Auch Galerius erlaubte den Christen die Religionsausübung unter der Voraussetzung, daß sie nicht gegen die öffentliche Ordnung verstießen. Obwohl das Toleranzedikt von Mailand (313)15 in gewissem Sinne nur die Fortsetzung, Bestätigung und Ausweitung des Toleranzedikts von Niko14 Das Gesetz zitiert der römische Klassiker Gaius: Gai. D. 47,22,4: »Sodales sunt, qui eiusdem collegii sunt: quam graeci »hetaireian« vocant. his autem potestatem facit lex pactionem quam velint sibi ferre, dum ne quid ex publica lege corrumpant. sed haec lex videtur ex lege Solonis tralata esse. nam illuc ita est …« 15 Vgl. den Text bei Lactantius, De Mortibus Persecutorum (Fn. 10), XLVIII, 2-12: »Cum feliciter tam ego [quam] Constantinus Augustus quam etiam ego Licinius Augustus apud Mediolanum cinvenissemus atque universa quae ad commoda et securitatem publicam pertinerent, in tractatu haberemus, haec inter cetera quae videbamus pluribus hominibus profutura, vel in primis ordinanda esse credidimus, quibus divinitatis reverentia continebatur, ut daremus et Christianis et omnibus liberam potestatem sequendi religionem quam quisque voluisset, quod quicquid divinitatis in sede caelesti. Nobis atque omnibus qui sub potestate nostra sunt constituti, placatum ac propitium possit existere. 3 Itaque hoc consilium salubri ac reticissima ratione ineundum esse credidimus, ut nulli omnino facultatem abnegendam putaremus, qui vel observationi Christianorum vel ei religioni mentem suam dederet quam ipse sibi aptissimam esse sentiret, ut possit nobis summa divinitas, cuius religioni liberis mentibus obsequimur, in omnibus solitum favorem suum benivolentiamque praestare. 4 Quare scire dicationem tuam convenit placuisse nobis, ut amotis omnibus omnino condicionibus quae prius scriptis ad officium tuum datis super Christianorum nomine videbantur, nunc libere ac simpliciter unus quisque eorum, qui eandem observandae religionis Christianorum gerunt voluntatem. Citra ullam inquietudinem ac
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media war, ging es inhaltlich wesentlich weiter. Es regelte nämlich nicht nur die Lage der Christen, sondern schuf die rechtliche Grundlage für die freie Glaubensentscheidung für alle Religionen. Mit diesem Rechtsakt haben die Kaiser Konstantin I. im Westen und Licinius im Osten nicht nur den Christen, sondern allen die freie Religionsausübung erlaubt (»quo scires nos liberam atque absolutam colendae religionis suae facultatem isdem Christianis dedisse ... etiam aliis religionis suae vel observantiae potestatem similiter apertam et liberam pro quiete temporis nostri concessam, ut in colendo quod quisque delegerit, habeat liberam facultatem«). Die Kaiser hoben dazu noch die Zwangsmaßnahmen gegen die Christen auf und verfügten die Rückgabe der beschlagnahmten Kirchengüter an die Christen.
molestiam sui id ipsum observare contendant. 5 Quae sollicitudini tuae plenissime significanda esse credidimus, quo scires nos liberam atque absolutam colendae religionis suae facultatem isdem Christianis dedisse. 6 Quod cum isdem a nobis indultum esse pervideas, intellegit dicatio tua etiam aliis religionis suae vel observantiae potestatem similiter apertam et liberam pro quiete temporis nostri concessam, ut in colendo quod quisque delegerit, habeat liberam facultatem. honori neque cuiquam religioni aliquid a nobis . 7 Atque hoc insuper in persona Christianorum statuendum esse censuimus, quod, si eadem loca, ad quae antea convenire consuerant, de quibus etiam datis ad officium tuum litteris certa antehac forma fuerat comprehensa. Priore tempore aliqui vel a fisco nostro vel ab alio quocumque videntur esse mercati, eadem Christianis sine pecunia et sine ulla pretii petitione, postposita omni frustratione atque ambiguitate restituant; qui etiam dono fuerunt consecuti, eadem similiter isdem Christianis quantocius reddant, etiam vel hi qui emerunt vel qui dono fuerunt consecuti, si petiverint de nostra benivolentia aliquid, vicarium postulent, quo et ipsis per nostram clementiam consulatur. Quae omnia corpori Christianorum protinus per intercessionem tuam ac sine mora tradi oportebit. 9 Et quoniam idem Christiani non [in] ea loca tantum ad quae convenire consuerunt, sed alia etiam habuisse noscuntur ad ius corporis eorum id est ecclesiarum, non hominum singulorum, pertinentia, ea omnia lege quam superius comprehendimus, citra ullam prorsus ambiguitatem vel controversiam isdem Christianis id est corpori et conventiculis eorum reddi iubebis, supra dicta scilicet ratione servata, ut ii qui eadem sine pretio sicut diximus restituant, indemnitatem de nostra benivolentia sperent. 10 In quibus omni bus supra dicto corpori Christianorum intercessionem tuam efficacissimam exhibere debebis, ut praeceptum nostrum quantocius compleatur, quo etiam in hoc per clementiam nostram quieti publicae consulatur. 11 Hactenus fiet, ut, sicut superius comprehensum est, divinus iuxta nos favor, quem in tantis sumus rebus experti, per omne tempus prospere successibus nostris cum beatitudine publica perseveret. 12 Ut autem huius sanctionis benivolentiae nostrae forma ad omnium possit pervenire notitiam, prolata programmate tuo haec scripta et ubique proponere et ad omnium scientiam te perferre conveniet, ut huius nostrae benivolentiae [nostrae] sanctio latere non possit.« Die griechische Übersetzung des Textes führt auch Eusebios, Kirchengeschichte X, 5, 1-14, an. Vgl. die deutsche Übersetzung auf http://www.unifr.ch/bkv/kapitel.php?ordnung=4&werknr=9%20target=&buchnr=32&abschnittnr=56 (12.03.2007). S. dazu: T. Christensen, The So-Called Edict of Milan, Classica et Mediaevalia 35, 1984, S. 129–175; weitere Lit. s. bei: R. Bratozˇ, Il cristianesimo aquileiese (Fn. 3), S. 360, Fn. 13.
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Die Kaiser betonten die Notwendigkeit, im Interesse der Allgemeinheit die Verehrung der Gottheit zu regeln (»inter cetera quae videbamus pluribus hominibus profutura, vel in primis ordinanda esse credidimus, quibus divinitatis reverentia continebatur«). Sie haben deshalb »den Christen als auch überhaupt allen Menschen freie Vollmacht gewährt, der Religion anzuhängen, die ein jeder für sich wählt, damit die Gottheit auf ihrem himmlischen Throne – was immer ihr Wesen sein mag – uns und allen unseren Untertanen friedlich und gnädig gesinnt sein kann«. Den Kernstück ihres Edikts bildete der Beschluß, wonach »keinem Menschen die Möglichkeit verweigert werden soll, sein Herz entweder dem Kult der Christen zu weihen oder aber der Religion, die er selbst für die angemessenste hält (nulli omnino facultatem abnegendam putaremus, qui vel observationi Christianorum vel ei religioni mentem suam dederet quam ipse sibi aptissimam esse sentiret)«. Auf diese Weise glaubten die Kaiser die Gewogenheit und Gnade der höchsten Gottheit zu gewinnen (»ut possit nobis summa divinitas, cuius religioni liberis mentibus obsequimur, in omnibus solitum favorem suum benivolentiamque praestare«). Neben der Glaubensfreiheit gewährte das Edikt den Christen auch eine sofortige Rückerstattung ihrer beschlagnahmten Güter. Das Toleranzedikt von Mailand ist das Zeichen einer sehr liberalen Religionspolitik. Im Unterschied zum Edikt von Nikomedia, findet man hier keine Erwähnung der öffentlichen Ordnung mehr. Die Religionsfreiheit scheint eine echte, bedingungslose Freiheit zu sein, die jedem zusteht. In diesem Sinne ist das Wort Toleranzedikt eine nicht sehr genaue Bezeichnung für das Edikt von Mailand. Denn in einem Rechssystem, das volle Religionsfreiheit gewährleistet, kann nicht mehr von Toleranz gesprochen werden. Einem so liberalen Kozept begegnet man erst viele Jahrhunderte später wieder.16 16 In seinem Brief an die jüdische Gemeinschaft in Genoa (507/511 – Cassiodorus, Variae 2,27) schrieb der Ostgotenkönig Theoderich (474-526) u. a.: »Wir können den Glauben nicht befehlen, weil keiner gezwungen werden kann, gegen seinen Willen zu glauben (religionem imperare non possumus, guia nemo cogitur ut credat invitus).« Einem ähnlichen Gedanken begegnen wir in dem Brief des Ostgotenkönigs Theodakat (534-536) an Kaiser Justinian (535 – Cassidarus, Variae 10, 26, 4): »Wenn Gott das Bestehen verschiedener Religionen duldet, dürfen wir nicht nur eine auferlegen (nam cum divinitas patiatur diversas religones esse, non unam non audemus imponere).« Von den neuzeitlichen Rechtssätzen vgl. z. B. Art. 10 der französischen Menschenrechtsdeklaration (Déclaration des droits de l’Homme et du citoyen) vom 26. August 1789: »Nul ne doit être inquiété pour ses opinions, mêmes religieuses, pourvu que leur manifestation ne trouble pas l’ordre public établi par la loi.« (i. V. m. Art. 4 und 5). Vgl. auch Amendment I der amerikanischen Verfassung (ratifiziert 1791): »Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.«
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Die wahre Dimension beider Rechtsätze kann man indessen nur im Lichte der römischen Beziehung zum Christentum verstehen. Die römische Gesellschaft und Politik begegneten dem Christentum mit Ablehnung und Nichtachtung. Tacitus und Suetonius bezeichneten es als Aberglaube (superstitio) und als Übel (malum),17 Plinius als Irrsinn (amentia)18 usw. Seit Marcus Aurelius galten die Christen als Atheisten,19 die das Wohlwollen der Götter gefährdeten.20 Wenn sie denunziert wurden, mußten sie durch die Darbringung eines Opfers an die römischen Götter ihren Glauben verneinen, anderenfalls wurden sie bestraft.21 Die Christenverfolgungen wurden zunächst als lokale Pogrome und später, d.h. seit Decius und vor allem Diokletian als organisierte Verfolgungen durchgeführt. Dabei versuchten die Christen, sich als loyale Staatsbürger darzustellen.22 Deswegen forderten die
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Vgl. auch § 17 der (österreichischen) sog. Pillersdorfschen Verfassung (Allerhöchstes Patent vom 25. April 1848): »Allen Staatsbürgern ist die volle Glaubens- und Gewissens- so wie die persönliche Freyheit gewährleistet.« sowie Art. 14 des österreichischen Staatsgrundgesetzes aus dem Jahre 1867: »Die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit ist jedermann gewährleistet. Der Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnisse unabhängig; doch darf den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen. Niemand kann zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer kirchlichen Feierlichkeit gezwungen werden, insofern er nicht der nach dem Gesetze hiezu berechtigten Gewalt eines Anderen untersteht.« Vgl. auch Art. 135 der deutschen Reichsverfassung aus dem Jahre 1918: »Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutze. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt.« Tacitus, Annales XV, 44: » … quos per flagitia invisos vulgus Chrestianos appellabat. Auctor nominis eius Christus Tibero imperitante per procuratorem Pontium Pilatum supplicio adfectus erat; repressaque in praesens exitiablilis superstitio rursum erumpebat, non modo per Iudaeam, originem eius mali, sed per urbem etiam, quo cuncta undique atrocia aut pudenda confluunt celebranturque.« Suetonius, De vita Caesarum, Nero, 16, 3: 2: » … afflicti suppliciis Christiani, genus hominum superstitionis nouae ac maleficae.« Plinius, Epistulae, 10, 96: »Interrogavi ipsos an essent Christiani. Confitentes iterum ac tertio interrogavi supplicium minatus; perseverantes duci jussi. Neque enim dubitabam, qualecumque esset quod faterentur, pertinaciam certe et inflexibilem obstinationem debere puniri. Fuerunt alii similis amentiae … «. Vgl. Martyrium Polycarpi 9, 2; Tertullian, Apologeticum 24, 6. Vgl. H. Cancik/ H. Schneider (Hrsg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 12/1, 2002; Toleranz, S. 664. Vgl. den Brief Trajans an Plinius, Plinius, Epistulae, 10.97: »Conquirendi non sunt; si deferantur et arguantur, puniendi sunt, ita tamen ut, qui negaverit se Christianum esse idque re ipsa manifestum fecerit, id est supplicando dis nostris, quamvis suspectus in praeteritum, veniam ex paenitentia impetret.« Tertullian, De idolatria, 15,3: »Reddenda sunt Caesari quae sunt Caesaris. Bene quod apposuit: et quae sunt dei deo. Quae ergo sunt Caesaris? Scilicet de quibus tunc consultatio mouebatur, praestandusne esset census Caesari an non. Ideo et monetam ostendi sibi dominus postulauit et de imagine, cuius esset, requisiuit, et cum audisset Caesaris, reddite, ait, quae
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christlichen Apologeten auch für die Christen religiöse Freiheit. So sagt Tertullian: »Sehet vielmehr zu, ob nicht auch das auf den Vorwurf der Gottlosigkeit hinausläuft, wenn man jemand die Freiheit der Religion nimmt und ihm die freie Wahl seiner Gottheit verbietet, so daß mir nicht freisteht, zu verehren, wen ich will, sondern ich gezwungen werde, den zu verehren, den ich nicht will. Niemand möchte wohl von jemand geehrt werden wollen, der es nicht gern tut, nicht einmal ein Mensch.«23 Die libertas religionis stand jedoch im scharfen Gegensatz zur Idee der absoluten Macht. Der absolute Herrscher sah in der Religion eine Garantie für die gesellschaftliche Kohärenz und Stabilität. Der Staatskult war der gemeinsame Nenner, ein Mittel zur Stärkung der Konsistenz der Staatsmacht. Konsequenterweise betrachtete man den Religionspluralismus als die potentielle Abschwächung und Destabilisierung dieser Herrschaft und somit der Einheit in der Gesellschaft. In diesem Sinne gibt bei Cassius Dio Maecenas dem Kaiser Augustus folgenden Rat: »Willst du wahrhaft unsterblich werden, so … verehre hinfort selbst die Gottheit allenhalben, ganz nach der Väter Sitte und nötige auch die anderen, sie zu ehren. Die aber hiervon abweichen, die verabscheue und bestrafe, und zwar nicht allein der Götter wegen (denn wer sie verachtet, wird nichts anderes mehr achten), sondern auch, weil Leute, die an ihre Stelle irgendwelche neuen göttlichen Wesen setzen, viele dazu verleiten, sich eigene Gesetze zu machen, woraus dann Konspirationen, Spaltungen und Intrigen entstehen, was der Monarchie ganz und gar unzuträglich ist. Dulde deshalb keinen Gottlosen und keinen Zauberer.«24 Diesem Glauben an die Notwendigkeit einer für alle verbindlichen staatlichen Religion begegnet man auch im absoluten Staat der Neuzeit. Auch dort sieht man im religiösen Pluralismus eine Gefahr für die Einheit und Stabilität der Staatsmacht.25 Das aber steht in krassem Gegensatz zu den liberalistischen Ideen der Aufklärung.
sunt Caesaris Caesari, et quae sunt dei deo, id est imaginem Caesaris Caesari, quae in nummo est, et imaginem dei deo, quae in homine est, ut Caesari quidem pecuniam reddas, deo temetipsum.« 23 Tertullian, Apologeticum, 24, 6: »Videte enim ne et hoc ad inreligiositatis elogium concurrat, adimere libertatem religionis et interdicere optionem divinitatis, ut non liceat mihi colere quem velim, sed cogar colere quem nolim. Nemo se ab invito coli volet, ne homo quidem.« 24 Cassius Dio, Römische Geschichte, 52, 36, 1-2; zit. nach der deutschen Übersetzung des obigen Textes in: G. Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXXIII, Berlin, New York 2002, S. 648. 25 Kein Wunder also, daß das Entstehen totalitärer Systeme eine an die Religion grenzende Ideologie begleitet. Deswegen steht das totalitäre System jeder Form des organisierten Glaubens, die sich nicht unterwerfen läßt, feindlich gesinnt gegenüber.
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II. Europa als orbis Christianus Kein Wunder also, daß Theodosius im Jahre 380 das Christentum zur staatlich verfügten Religion erhob,26 und zwölf Jahre später die Darbringung der Opfer an Bilder ohne Empfindungsvermögen (»sensu carentibus simulacris«), d. h. die Riten der alten römischen Religion verbot. Der Verstoß gegen dieses Verbot wurde dem Majestätsverbrechen gleichgestellt.27 Interessanterweise kam es zu diesem Verbot nur 21 Jahre nach der Einführung der vollen Religionsfreiheit.28 Den Grund dafür kann man wohl in dem Wunsch nach der Stärkung der Einheit der Zentralmacht sehen. Das Verbot der alten römischen Religion bezog sich auf ihre öffentliche Ausübung. Man konnte also noch immer glauben, was man wollte. Unter Kaiser Justinian wurde jedoch auch der Inhalt des Glaubens im Gesetz vorgeschrieben.29 In einem solchen System gab es keinen Raum mehr für Andersgläubige.30 Die Reichskirche diente dem Kaisertum und der Stärkung seiner absoluten Macht. Die rechtliche Festlegung der Glaubenssätze regte aber die Auseinandersetzung mit verschiedenen Häresien an.31 Man versuchte also durch die pax ecclesiae und die religionis unitas die Macht des Kaisertums zu stärken.32
26 Vgl. Imppp. Gratianus, Valentinianus et Theodosius C. Th. 16.1.2 (= C. 1, 1, 1), pr.: »Cunctos populos, quos clementiae nostrae regit temperamentum, in tali volumus religione versari, quam divinum petrum apostolum tradidisse Romanis religio … » 27 Imppp. Theodosius, Arcadius et Honorius C. Th. 16.10. 12. pr.: »Nullus omnino ex quolibet genere ordine hominum … in nulla urbe sensu carentibus simulacris vel insontem victimam caedat vel secretiore piaculo larem igne, mero genium, penates odore veneratus accendat lumina, imponat tura, serta suspendat. 1. Quod si quispiam immolare hostiam sacrificaturus audebit aut spirantia exta consulere, ad exemplum maiestatis reus licita cunctis accusatione delatus excipiat sententiam competentem, etiamsi nihil contra salutem principum aut de salute quaesierit« (392). Vgl. auch. Impp. Arcadius et Honorius C. Th. 16, 10, 13 pr.: »Igitur universi, qui a catholicae religionis dogmate deviare contendunt, ea, quae nuper decrevimus, properent custodire et quae olim constituta sunt vel de haereticis vel de paganis, non audeant praeterire, scituri, quidquid divi genitoris nostri legibus est in ipsos vel supplicii vel dispendii constitutum, nunc acrius exsequendum« (395) und C. Th. 16, 10, 14: »Privilegia si qua concessa sunt antiquo iure sacerdotibus ministris praefectis hierofantis sacrorum sive quolibet alio nomine nuncupantur, penitus aboleantur nec gratulentur se privilegio esse munitos, quorum professio per legem cognoscitur esse damnata« (396). 28 Vgl. Imppp. Valentinianus, Valens et Gratianus C. Th. 9.16.9: » … leges …, quibus unicuique, quod animo inbibisset, colendi libera facultas tributa est« (371). 29 Vgl. Iustinianus C. 1. 1. 5. 30 S. Iustinianus C. 1, 1, 8, 12: » … pauci quidam infideles et alieni sanctae dei catholicae atque apostolicae eccelsiae contradicere Iudaicae ausi sunt adversus ea, quae ab omnibus sacerdotibus secundum vestram doctrinam recte tenentur… ». 31 S. z. B. Iustinianus C. 1, 1, 5, 3, C. 1, 1, 6, C. 1, 1, 7 usw. 32 Iustinianus C. 1, 1, 8, 3: »Hoc est enim, quod vestrum firmat imperium, hoc, quod vestra regna conservat.« Diese Worte schrieb Papst Johannes an Kaiser Justinian.
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Das Monopol des christlichen Glaubens hat trotz der anfänglichen Widerstände der »alten« Religionen das religiöse Leben auf dem europäischen Kontinent durch Jahrhunderte hindurch geprägt. Die Identität Europas hat sich im Mittelalter als jene des orbis Christianus definiert. Die religiösen Gegebenheiten mittel- und westeuropäischer Völker können im religiösen Sinne bis zur Reformation als sehr kompakt und einheitlich bezeichnet werden. Trotz Spannungen und Differenzen wurden der Glaube als christlicher Glaube bzw. die christliche Identität nie in Zweifel gezogen. Mit Ausnahme der Juden, die als sog. deicidae, d. h. Gottesmörder, in dieser Hinsicht ein eigenes Problem darstellten, waren Andersgläubige nur Fremde, die als solche behandelt wurden und keine bedeutende Minderheit darstellten. Deswegen war die religiöse Toleranz auch kein echtes Problem. Die Selbstverständlichkeit der christlichen Orthodoxie, d. h. des christlichen Glaubens im Sinne des einzig richtigen Glaubens, erklärt u. a. auch die Selbstverständlichkeit mit der man Häresien entgegentrat bzw. mit der man die Bevölkerungen neu entdeckter Länder missionierte. Die (auch erzwungene) Umkehr zum christlichen Glauben galt als der einzige Weg zum Heil und wurde als Pflicht angesehen.33 Auf die religiösen Vorstellungen europäischer Völker haben das Alte Testament und seine Idee des auserwählten Volkes einen großen Einfluß ausgeübt. Wesentlicher Bestandteil dieser Vorstellungen war das Bündnis, das Gott mit dem auserwählten Volk geschlossen hat. Die Idee des auserwählten Volkes war auch für das Christentum prägend und wurde vor allem von den französischen Königen in Anspruch genommen.34 Sie beeinflußte zudem das politische Denken, vor allem die Frage der obersten Gewalt. Die tatsächliche Macht des Kaisers trachtete nach der Unabhängigkeit von der päpstlichen Vorherrschaft und umgekehrt: Die Päpste versuchten, ihre volle Gewalt auch praktisch, d.h. nicht nur im Krönungsritual, durchzusetzen. Einer der
33 Vgl. Matthäus 28, 19: »Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« 34 Mit der Bulle Rex gloriae schrieb der Papst Clemens V. (wohl unter dem Druck des französischen Königs), dem französischen Königreich eine Mission zu, die der Mission des israelitischen Volks im Alten Testament ähnelte. Die Franzosen waren dementsprechend das auserwählte Volk des Neuen Testaments und ihr König als Rex christianissimus defensor Ecclesie der natürliche Herrscher und Verteidiger der christlichen Welt. Vgl. Regestum Clementis Papae V, hrsg. von Benedittini, Roma 1885-88, 701, a. I, p. 411: » … sicut israeliticus populus in sortem hereditatis dominice ad divina misteria et beneplacita exequenda celesti iudicio electionis assumptus fuisse dignoscitur, sic regnum Francie in peculiarem populum electum in executione mandatorum celestium specialis honoris et gratie titulis insignitur«, zit. nach A . Diotti, Testi medievali di interesse dantesco I, P. Dubois, De recuperatione Terre Sancte, Dalla »Respublica Christiana« ai primi nazionalismi e alla politica antimediterranea, Firenze 1977, 32.
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Höhepunkte dieser Auseinandersetzungen stellte die Absetzung und Exkommunizierung des Kaisers Friedrich II. durch Papst Innozenz IV. auf dem Konzil von Lyon im Jahre 1245 dar. Trotz dieser Auseinandersetzungen waren jedoch beide Gewalten Teile derselben Ideenwelt mit denselben Werten. Der Zusammenbruch des mittelalterlichen abendländischen Universalismus hat deswegen u. a. die Entstehung eines neuen Problems zur Folge gehabt, nämlich der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Staat und der Kirche. Die radikalsten Vertreter eines laizistischen Staates wollten dem Gott oder der Kirche keinen Raum in der modernen Staatsgewalt geben. Die gemäßigteren wollten der Kirche die Stellung eines kontrollierten und geduldeten Fremdlings im säkularisierten Staat zubilligen. Die Lehre der Kirche von der potestas directa in temporalibus mußte am Anfang des 17. Jahrhunderts der Lehre von der potestas indirecta in temporalibus weichen. Nach dieser Theorie kam der Kirche eine indirekte Gewalt in weltlichen Dingen zu, sofern es sich um Angelegenheiten handelte, die in Beziehung zur Kirche stehen. Wie alle Änderungen hat sich auch diese nur langsam vollzogen. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts hat Papst Leon XIII. durch Unterscheidung der res mere ecclesiasticae (d.h. in der ausschließlichen Zuständigkeit der Kirche), res mere civiles (in ausschließlichen Zuständigkeit des Staates) und res mixtae (d.h. im Bereich beider Kompetenzen liegend) eine grundsätzliche Abgrenzung festgelegt. Von den politischen Dimensionen muß man jedoch die religiösen Überlegungen, die die Beziehungen zu Andersgläubigen bestimmt haben, unterscheiden. Hier haben einige Momente eine entscheidende Rolle gespielt.
III. Der Glaube erduldet nichts In seiner berühmten Deuteronomium-Vorlesung35 hat Martin Luther unter anderem gesagt: »Die Liebe erduldet alles, sie toleriert alles; der Glaube erduldet nichts, und das Wort Gottes toleriert nichts, sondern das Wort muß vollkommen rein sein.« Das ist m. E. die schönste Erklärung der religiösen Intoleranz: aus der Liebe zu Gott darf man keine Fälschung der Lehre oder Gotteslästerung zulassen und aus reinster Nächstenliebe muß man alles für das ewige Heil seines Nächsten tun. Dieses Paradoxon kann erklären, warum die Glaubenskriege immer so grausam waren und warum sie eine solche Mobilisierungskraft entfalteten. 35 M. Luther, Vorlesung über das Deuteronomium Mosi cum annotationibus, 1525, WA, T. 14, 669: »Caritas omnia suffert, omnia tolerat, fides nihil suffert et verbum nihil tolerat, sed perfecte purum esse debet verbum.«
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Schon aus dem Alten Testament stammen gewisse Vorstellungen, die die Beziehungen zu Andersgläubigen mitbeeinflußt haben. Darunter sind nur einige zu nennen. Das erste ist das Verbot der Blasphemie, die im alten Testament mit dem Tode bestraft wurde.36 Dieselbe Strafe erwartete jene, die fremde Götter anbeteten.37 Der Gott Israels duldete keine Konkurrenz: »Du darfst dich nicht vor einem andern Gott niederwerfen. Denn Jahwe trägt den Namen ›der Eifersüchtige‹; ein eifersüchtiger Gott ist er.«38 Das dritte, auch sehr wichtige Verbot des Alten Testaments war jenes der Anstiftung zum Abfall vom Gott. Es ging um falsche Propheten und Traumseher sowie um die heimliche Anstiftung zum Abfall vom Gott.39 Diese wurden mit dem 36 3. Buch Mose 24, 15-16: »Sag den Israeliten: Jeder, der seinem Gott flucht, muß die Folgen seiner Sünde tragen. Wer den Namen des Herrn schmäht, wird mit dem Tod bestraft; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Der Fremde muß ebenso wie der Einheimische getötet werden, wenn er den Gottesnamen schmäht.« 37 4. Buch Mose 25, 1-5: »Als sich Israel in Schittim aufhielt, begann das Volk mit den Moabiterinnen Unzucht zu treiben. Sie luden das Volk zu den Opferfesten ihrer Götter ein, das Volk aß mit ihnen und fiel vor ihren Göttern nieder. So ließ sich Israel mit Baal-Pegor ein. Da entbrannte der Zorn des Herrn gegen Israel und der Herr sprach zu Mose: Nimm alle Anführer des Volkes und spieße sie für den Herrn im Angesicht der Sonne auf Pfähle, damit sich der glühende Zorn des Herrn von Israel abwendet.« 38 Vgl. 2. Buch Mose 34, 14. Vgl. auch: 5. Buch Mose 4, 24: »Denn der Herr, dein Gott, ist verzehrendes Feuer. Er ist ein eifersüchtiger Gott.« Ebenso: 5. Buch Mose 6, 15: »Denn der Herr, dein Gott, ist als eifersüchtiger Gott in deiner Mitte. Der Zorn des Herrn, deines Gottes, könnte gegen dich entbrennen, er könnte dich im ganzen Land vernichten.« 39 Vgl. z. B. 5. Buch Mose 13, 2-6: »Wenn in deiner Mitte ein Prophet oder ein Traumseher auftritt und dir ein Zeichen oder Wunder ankündigt, wobei er sagt: Folgen wir anderen Göttern nach, die du bisher nicht kanntest, und verpflichten wir uns, ihnen zu dienen, und wenn das Zeichen und Wunder, das er dir angekündigt hatte, eintrifft, dann sollst du nicht auf die Worte dieses Propheten oder Traumsehers hören; denn der Herr, euer Gott, prüft euch, um zu erkennen, ob ihr das Volk seid, das den Herrn, seinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele liebt. Ihr sollt dem Herrn, eurem Gott, nachfolgen, ihn sollt ihr fürchten, auf seine Gebote sollt ihr achten, auf seine Stimme sollt ihr hören, ihm sollt ihr dienen, an ihm sollt ihr euch fest halten. Der Prophet oder Traumseher aber soll mit dem Tod bestraft werden. Er hat euch aufgewiegelt gegen den Herrn, euren Gott, der euch aus Ägypten geführt und dich aus dem Sklavenhaus freigekauft hat. Denn er wollte dich davon abbringen, auf dem Weg zu gehen, den der Herr, dein Gott, dir vorgeschrieben hat. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen.« Vgl. auch 5. Buch Mose 13, 7-12: »Wenn dein Bruder, der dieselbe Mutter hat wie du, oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau, mit der du schläfst, oder dein Freund, den du liebst wie dich selbst, dich heimlich verführen will und sagt: Gehen wir und dienen wir anderen Göttern, die du und deine Vorfahren noch nicht kannten, unter den Göttern der Völker, die in eurer Nachbarschaft wohnen, in der Nähe oder weiter entfernt, zwischen dem einen Ende der Erde und dem andern Ende der Erde – dann sollst du nicht nachgeben und nicht auf ihn hören. Du sollst in dir kein Mitleid mit ihm aufsteigen lassen, sollst keine Nachsicht für ihn kennen und die Sache nicht vertuschen. Sondern du sollst ihn anzeigen. Wenn er hingerichtet wird, sollst du als Erster deine Hand gegen ihn erheben, dann erst das ganze Volk. Du sollst ihn steinigen und er soll sterben; denn er hat versucht, dich vom Herrn, deinem Gott, abzubringen, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Ganz Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten und nicht noch einmal einen solchen Frevel in deiner Mitte begehen.«
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Tode bestraft: »Wenn dann noch einer als Prophet auftritt, so werden sein Vater und seine Mutter, die ihn hervorgebracht haben, zu ihm sagen: Du sollst nicht am Leben bleiben; denn du hast im Namen des Herrn Falsches gesagt. Sein Vater und seine Mutter, die ihn hervorgebracht haben, werden ihn durchbohren, weil er als Prophet auftrat.«40 Diese und ähnliche Verbote zitierte man nicht nur in den Kämpfen gegen Häretiker im Mittelalter, sondern man verwendete sie oft auch in den religiösen Auseinandersetzungen der Reformationszeit. Man stützte sich auf sie, obwohl man auch im Alten Testament ohne Schwierigkeiten Stellen findet, welche die friedliche Natur Gottes hervorheben.41 Bedenkt man diese Verbote, so sieht man, daß eine religiöse Toleranz nur im sozialen, nicht aber auch im religiösen Sinne denkbar ist: man kann zwar mit Andersgläubigen friedlich umgehen, ohne dabei jedoch ihre Religion als gleichwertig mit der eigenen zu betrachten. Die religiöse Toleranz war dementsprechend sowohl durch die erwähnten Erwägungen religiöser Natur als auch durch die politische Stellung der Kirche bestimmt. Diese hat im Laufe der Zeit ihren Einfluß großenteils eingebüßt. Luthers Lehre von der Freiheit des Christenmenschen, der weder dem Papst noch der Kirche unterworfen war, verursachte ein Vakuum, in dem der Gewalt des Staates keine irdische Gewalt der Kirche gegenüberstand.42 Anfang des 16. Jahrhunderts wurden zum ersten Mal in Kursachsen durch Organe des Kurfürsten lutherische Kirchenvisitationen durchgeführt. Der Staat war auf dem Weg, das Kirchenregiment an sich zu ziehen. Die Staatskirchenhoheit hat ihr Entstehen der Reformation zu verdanken. Die Staatskirchenhoheitstheorie wurde indessen durch den Calvinismus geschaffen.43 Ihr Hauptvertreter war der Utrechter Theologieprofessor Gusbert Voet, der jedoch der staatlichen Gewalt in der Ausübung der Kirchenhoheit mit dem Grundsatz der Gewissensfreiheit und einer beschränkten Bekenntnisfreiheit Grenzen setzen wollte. Pufendorf und Thomasius befürworteten indessen den kirchenhoheitlichen Territorialismus, wonach es der weltlichen Obrigkeit zukomme, in ihrem Territorium die kirchlichen Angelegenheiten durch ihre Organe besorgen zu lassen. Die Theorien des Gallikanismus, Febronianismus, Josephinismus haben zusammen mit der Naturrechtslehre 40 Vgl. Sacharja 13, 3. 41 1. Buch der Chronik 22, 8-9: »Da erging das Wort des Herrn an mich: Du hast viel Blut vergossen und schwere Kriege geführt. Du sollst meinem Namen kein Haus bauen, denn du hast vor meinen Augen viel Blut zur Erde fließen lassen. Doch wurde dir ein Sohn geboren. Dieser wird ein Mann der Ruhe sein: Ich will ihm Ruhe vor allen seinen Feinden ringsum verschaffen. Salomo ist sein Name und in seinen Tagen werde ich Israel Frieden und Ruhe gewähren.« 42 Vgl. W. M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. III, Wien, München, 1959, S. 48 f. 43 Vgl. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Fn. 42), S. 49.
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das System der Staatskirchenhoheit auch für katholische Länder wissenschaftlich begründet. Es wurden verschiedene Hoheitsrechte des Staates festgelegt, die die Lage der Kirche bestimmten.44 Die radikalen, atheistisch gewordenen Tendenzen der aufgeklärten Philosophie zusammen mit dem revolutionären Antiklerikalismus führten 1793 im revolutionären Frankreich zur Schließung der Kirchen und zum Verbot des katholischen Gottesdienstes.45 Der nunmehr allmächtige Staat dekretierte 1794 die Anerkennung eines höchsten Wesens, das den traditionellen christlichen Gott ersetzen sollte. Von noch größerer Bedeutung als die Einführung des Staatskults46 und als der gewaltsame Versuch, die katholische Tradition auszurotten, war indessen die Einführung der Religionsfreiheit und die volle Unterordnung der Religionsausübung unter die staatliche Gewalt. Dementsprechend hat die französische Verfassung vom September 1791 alle Glaubensgelübde abgeschafft und neben der freien Wahl der Religion auch das Recht der Bürger eingeführt, ihre Priester frei zu wählen.47 Dazu bestimmte die Verfassung vom Fructidor 1795 auch, daß den öffentlichen Funktionären die höchste Autorität zukäme, wodurch eine öffentliche kirchliche Gewalt verfassungswidrig wurde.48 44 Z. B. ius advocatiae bzw. protectionis (Schutzrecht über die Kirche), ius inspectionis (staatliche Aufsichtsrecht), ius cavendi (Vorbeugungsrecht), ius placeti (Recht auf vorgängige Genehmigung päpstlicher oder bischöflicher Anordnungen), ius exclusivae (das Recht dem Staat nicht genehmen Kandidaten von der Bestellung zu einem kirchlichen Amt auszuschließen), ius appellationis (Recht auf Berufung gegen die Entscheidungen kirchlicher Organe bei staatlichen Stellen), ius dominii supremi (das staatliche Obereigentum an kirchlichen Gütern), ius reformandi (Recht auf Abstellung kirchlichen Mißbrauchs). 45 Am 23. November 1793 hatte der Präsident der Kommune, Pierre Gaspard Chaumette, das Gesetz vorgeschlagen, nachdem alle Kirchen in Paris für den katholischen Gottesdienst geschlossen werden sollten. Das Gesetz wurde verabschiedet, die Kirchen geschlossen und der katholische Gottesdienst verboten. Dem Beispiel der Hauptstadt folgte auch die Provinz. 46 Es ging um den sog. Culte de la Raison mit einer Déesse de la Raison bzw. um den Culte à l’Être Suprême. Das höchste Wesen ruft auch die erste revolutionäre Verfassung, d. h. die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 1779 an. Dort liest man am Anfang: »En conséquence, l’Assemblée Nationale reconnaît et déclare, en présence et sous les auspices de l’Etre suprême, les droits suivants de l’Homme et du Citoyen … «. 47 Vgl. Constitution française du 3 septembre 1791, Préambule: » … La loi ne reconnaît plus ni voeux religieux, ni aucun autre engagement qui serait contraire aux droits naturels ou à la Constitution …TITRE PREMIER – Dispositions fondamentales garanties par la Constitution: … La Constitution garantit pareillement, comme droits naturels et civils … La liberté à tout homme … d’exercer le culte religieux auquel il est attaché; … Les citoyens ont le droit d’élire ou choisir les ministres de leurs cultes.« Vgl. auch Art. 122 der Verfassung aus dem Jahre 1793 (La Constitution garantit à tous les Français le libre exercice des cultes …), sowie Art. 354 der Verfassung aus dem Jahre 1795. 48 Vgl. Art. 351: »Il n’existe entre les citoyens d’autre supériorité que celle des fonctionnaires publics, et relativement à l’exercice de leurs fonctions.«
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IV. Der Weg zur religiösen Toleranz in der Habsburgermonarchie Parallel mit dem Entstehen der Staatskirchenhoheit entwickelte sich auch die Idee der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der Toleranz. In seinem Buch Nation Österreich49 betont Ernst Bruckmüller die Bedeutung der kultur-religiösen Seite für das richtige Verstehen der habsburgischen Staatsbildung. Diese »steht in engstem Zusammenhang mit der Kaiser-Idee und mit der erfolgreichen katholischen Reform. Speziell im Nahbereich des Kaisers mußte die barocke Neigung zu einer alle Sinne ergreifenden Repräsentation göttlicher Majestät gerade durch die Person des Kaisers und seine Art des Auftretens eine besondere Entfaltung finden. Gemeinschaft des religiösen Handelns war für die Grundlegung des Gemeinsamkeitsbewußtseins vorsäkularisierter Gesellschaften außerordentlich wichtig. ... Diese Herstellung der Religionseinheit durch den Landesfürsten war bloß dann zu rechtfertigen, wenn – mindestens in der Theorie – eine umfassende Verantwortung des Fürsten für das zeitliche und ewige Heil der Bewohner seiner Lande bestand. Diese Verantwortung äußerte sich jedenfalls bei der Durchführung der Gegenreformation, ist aber auch bei Joseph II. und seinen peniblen Regelungen der Vorschriften für die Gestaltung des Gottesdienstes spürbar.« Diese sog. pietas Austriaca50 war ein bedeutendes Element in der Gestaltung der offiziellen Politik des Wiener Hofes zu anderen Religionen. Nicht nur politische Erwägungen, sondern auch die persönliche Frömmigkeit der Herrscher51 haben diese Politik wesentlich beeinflußt. Die religiöse Toleranz, d. h. die Duldung Andersgläubiger, ist nämlich unzertrennlich mit der individuellen Religiosität verbunden. Die Beziehung zu Andersgläubigen wird also auch durch eigene Glaubensvorstellungen geprägt. Es ist vor allem wichtig, ob die eigene Überzeugung oder Glaubensgebote jemanden dazu bewegen, daß er andere zu bekehren versucht oder mit ihnen in Streitigkeiten über religiöse Sachen gerät. Deswegen könnte man das Problem der religiösen Toleranz auf der individuellen Ebene im Sinne der oben erwähnten lutherischen Worte als Problem »des Glaubens und der Liebe« bezeichnen. Auf der kollektiven Ebene war es jedoch immer ein politisches Problem und somit ein Problem der Politik. Hier ging es insbesondere um die Stabilität 49 E. Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, 2. Aufl., Wien, Köln, Graz 1996, S. 208 ff. 50 Mehr dazu A. Coreth, Pietas Austriaca. Österreichische Frommigkeit im Barock, 2. Aufl., Wien 1982. 51 In Bezug auf die Religiosität der Kaiserin Maria Theresia vgl. F. Maaß, Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich 1760-1790. Amtliche Dokumente aus dem Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Bd. I, Wien 1951, S. 3 ff.
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des Staates und die Macht, welche durch interreligiöse Spannungen gefährdet wurde. Und so wie auch sonst im Leben der mittlere Weg der schwierigste ist, so ist auch in Glaubenssachen der Weg vom Monopol einer (staatlichen) Religion zur Toleranz und zur Religionsfreiheit hin mit vielen Problemen verbunden. Der absolute Staat versuchte auch durch seine Vereinheitlichungstendenzen, die gesellschaftlichen Prozesse zu steuern und seine Macht zu stärken bzw. absolute Macht zu erlangen. Auf diesem Weg war die religiöse Vielfalt eine Störung, welche diverse negative Folgen hatte. Die Glaubenskriege, die der Reformation folgten, zeigten, wie heikel und explosiv das Zusammenleben mehrerer Religionen sein kann und mit welcher Leichtigkeit die religiösen Gefühle für politische Ziele mißbraucht werden können. Sie mobilisierten ungeahnten Haß bzw. Zerstörungskräfte. In einer Zeit, in der die Religion die Identität des Einzelnen noch entscheidend prägte, war die religiöse Homogenität ein wichtiger politischer Faktor. Aus Sicht des absoluten Herrschers erschwerte die Glaubensvielfalt die Kontrolle, erhöhte das Risiko sozialer Spannungen und Konflikte, wirkte destabilisierend, zerstreute die Loyalitäten und erleichterte die Subversion von außen und von innen, machte die staatliche Verwaltung heterogener und dadurch komplizierter usw. Deswegen neigte auch der absolute Staat, obwohl weniger aus religiösen Gründen (die vielleicht bei der Bekämpfung der Häresien in Mittelalter stärker waren), zur repressiven Eliminierung der Abweichungen von der offiziellen Religion. Im 18. Jahrhundert kam es unter Karl VI.52 und Maria Theresia zur gewaltsamen Umsiedlung steirischer und oberösterreichischer Lutheraner nach Siebenbürgen, denen erst 1774 ein Ende gemacht werden konnte. Im Hinblick auf die Religionswirren war die Politik des Wiener Hofes sehr pragmatisch. Die Einheit des Staates und auch die dominante Stellung der katholischen Kirche sollten erhalten werden. Man bemühte sich deswegen, die Probleme womöglich zu vertuschen und vor allem Zugeständnisse an Andersgläubige nur so zu gewähren, daß sie von anderen nicht bemerkt werden konnten.53 Auf diese Weise sollten Eskalationen verhindert werden 52 So hatten z. B. im März 1734 Bauern aus dem Drautal dem Religionskommissar Graf Grottenegg eine Bittschrift überreicht, in der sie um Religionsfreiheit ansuchten. Die Antwort der Grazer Regierung lautete: »Die Rädelsführer seien festzunehmen und nach Siebenbürgen zu transmigrieren.« Am 1. Oktober 1734 wurden 24 Männer unter der Bewachung von 20 Dragonern nach Siebenbürgen abgeschoben. Vgl. http://www.museumonline.at/ 1999/schools/classic/spittaladdrau/NonFrame/HTML/VERFOLGT.htm (12.03.2007). 53 Einen interessanten Überblick s. in: J. Kropatschek (k.k. wirk. Hofkonzipisten, und öffentlichen Lehrer der Gesetzkunde und Kreisamtspraxis bey der k.k. Arcierenn Leibgarde gallizischer Abtheilung) Oestreichs Staatsverfassung vereinbart mit den zusammengezogenen bestehenden Gesetzen zum Gebrauch der Staatsbeamten, Advokaten, Oekonomen, Obrigkeiten, Magistrate, Geistlichen, Bürger und Bauern, zum Unterrichte, für angehende
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und etwaige Zugeständnisse als Ausnahmen dargestellt werden, welche die Regeln nur bestätigen. Demzufolge beschränkte sich die Toleranz ursprünglich nur auf die private Religionsausübung und auf die prinzipielle Gleichstellung der Katholiken mit den Akatholiken. Aus einem zeitlichen Abstand von mehr als 200 Jahren heraus betrachtet, erscheint diese Politik als eine Politik der kleinen Schritte im großen und ganzen als gut und vernünftig. Bedenkt man nämlich die tektonischen Folgen der josephinischen Kirchenreform54 und insbesondere die Tatsache, daß durch das Toleranzpatent die katholische Mehrheit ihr Monopol am Zugang zu den Ämtern, Ausbildung und Erwerb der Liegenschaften usw. verlor, so muß man gestehen, daß es (auch) dank der geschickten Politik zu keinen verhängnisvollen Reaktionen und Auseinandersetzungen kam. Eine der wichtigsten Persönlichkeiten hinter dieser Politik war der Staatskanzler Fürst von Kaunitz.55 Er spielte die entscheidende Rolle in der Gestaltung der Kirchenpolitik von Kaiserin Maria Theresia und Kaiser Joseph II. und auch in ihrer Konsolidierung nach dem Inkrafttreten der Reformen.56 Es folgen einige Beispiele seiner Geschäftsmänner, Zweyter Band Enthält zwey Hauptstücke der dritten Abtheilung, Wien, zu finden bey Johann Georg Edlen von Mößle, kaiserl. königl. privileg. Buchhändler (ohne Angabe des Erscheinungsjahres; die Einleitung hat das Datum 4. Oktober 1774), S. 538 ff. 54 Auf kirchlichem Gebiet war Joseph II. Territorialist. Außer der Verwaltung der Sakramente und der Innenverhältnisse des Klerus unterstanden alle äußeren Verhältnisse der Kirche der Gewalt des Staates. Für seine Kirchenpolitik sind neben der Territorialisierung der Kirche noch seine Reformen im Hinblick auf die Erziehung des Klerus, seine Stellung im Staat, auf die Sekularisation der Klöster, Kultus und religiöses Volksleben bzw. auf die religiöse Toleranz kennzeichnend. Die Literatur dazu ist enorm. Die folgende Zusammenstellung nennt nur einige Werke: L. Mikoletzky, Kaiser Joseph II. Herrscher zwischen den Zeiten, 2. Aufl., 1990; T. C. W. Blanning, Joseph II, London, New York 1994; F. Fejtö, Joseph II. Un Habsbourg révolutionnaire. Essai biographique, Paris 1994; H. Fink, Joseph II. Kaiser, König und Reformer, Düsseldorf, Wien, New York 1993; K. Gutkas, Kaiser Joseph II. Eine Biographie, Wien, Darmstadt 1989; J. Weidenholzer, Der sorgende Staat. Zur Entwicklung der Sozialpolitik von Joseph II. bis Ferdinand, Wien, München, Zürich 1985; R. Kusej, Joseph II. und die äußere Kirchenverfassung Innerösterreichs (Bistums-, Pfarr- u. Kloster-Regulierung). Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Staatskirchenrechtes, Stuttgart 1908 (Nachdruck Amsterdam 1965); H. Franz, Studien zur kirchlichen Reform Joseph II. mit besonderer Berücksichtigung des vorderösterreichischen Breisgaus, Freiburg 1908; K. Ramshorn, Kaiser Joseph II und seine Zeit, Leipzig 1845; S. Brunner, Joseph II. Charakteristik seines Lebens, seiner Regierung und seiner Kirchenreform, Freiburg 1885; H. Klueting (Hrsg.), Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen, 1995; Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. I, Wien 1951, Bd. II, Wien 1953. 55 Wenzel Anton Graf Kaunitz (1711-1794), seit 1764 Reichsfürst von Kaunitz-Rietberg. 56 Es ist z. B. interessant zu beobachten, wie Kaunitz während des Papstbesuchs im Jahre 1782 in Wien dafür sorgte, daß der Kaiser in den persönlichen Gesprächen mit dem Papst von seiner Kirchenpolitik nicht abwich. Vgl. dazu die Dokumente in: Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. II., Nr. 123-168 (S. 299 ff.), v. a. Nr. 157 (S. 333 ff.) bzw. den zusammenfassenden Überblick S. 78 ff.
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Schriftstücke, die seine Politik illustrieren. Als es 1777 in Mähren zu Religionswirren kam, argumentierte der Staatskanzler Fürst Kaunitz in seinem Vortrag vom 23. Mai 177757 an die Kaiserin folgendermaßen: »Kann ich selbsten bezeugen, daß schon seit vielen Jahren sich der Ruf von heimlichen Irrglaubigen und Ketzereyen in Mähren ausgebreitet haben. Das Übel ist also nicht neu. Es ware seithero nur verdeckt und dessen eigentliche Umstände verborgen. Vordermalen aber mag unter anderen die zwar in den meisten cathechismis enthaltene aber bey den gegenwärtigen Umständen unvorsichtige Frage der Missionarien, wes Glaubens diese Leuthe seyen, dem offentlichen Ausbruch Gelegenheit gegeben haben. …. Kann man sich nicht mit der Hoffnung schmeicheln, daß ein schon seit vielen Jahren eingeschliechenes Gift der Ketzerey sich auf einmal oder in Kurzer Zeit und durch gewaltsame Mittel ausrotten lasse. Im Gegentheil hat die Erfahrung schon vielfältig bestättiget, daß durch den gebrauchten Zwang und Straf die Gemüther noch mehr erhärtet und in ihrem fanatismo bestärket worden seyen. Aus diesen Wahrheiten ergiebet sich meines ohnmaßergebigsten Ermessens die natürliche Folge, daß es auf dasjenige, was von dermalen provisorie ohne weiterem Verzug und was für das Künftige zur völligen Ausrottung des Übels zu verfügen sey, ankommen wolle. Wie dann in Ansehnung des provisorii vor allen Dingen darauf zu sehen ist, daß der weitere Ausbruch des Übels und der offentlichen Unruhen so viel immer möglich verhindert und das Feuer, welches nicht gleich ersticket werden kann, doch von weiterer Ausbreitung abgehalten werde. Es ist also die erste Bemühung dahin zu richten, daß die Sache wieder in die vorhinige Umstände gelange, mithin die Irrglaubigen ihre öffentliche Glaubensbekenntnis und Verlangen eines freyen Religionsexercitii nicht weiters betreiben, sondern wie bishero, bey Ausübung ihres geheimen Gottes-Dienstes bewenden lassen, damit man Zeit und Gelegenheit gewinne, die diensamste Hülfsmittel anwenden zu können. Es ist aber zur Erreichung dieses Endzwecks, sich nicht sowohl der geistlichen, als der weltlichen Verwendung und Hülfe zu bedienen, da eine Überzeugung der Irrlehre nicht so geschwind, sondern allein mit der Zeit durch Gelassenheit, Sanftmuth und deutliche Unterweisung bewirkt werden kann. Hingegen wird es nöthig seyn, dem verführten Volk durch weltliche commissarios oder Beamte begreiflich und auf das überzeugendste vorstellig zu machen, daß die Landesgesetze und Verfassung keine andere Religion und öffentliche Gottes-Dienste als den römisch-katholischen gestatten, daß die Apostasie und der Abfall von diesem heiligen Glauben zu Ketzereyen nach den Gesetzen die schärffeste Leib- und Lebensstrafe verdiene und daß daher der gewagte Schritt, sich öffentlich und ohne Scheu zur lutherischen Religioin zu bekennen schon wirklich auf ein großes Verbrechen hinauslaufe, daß aber Ihre Majestät solches Vergehen aus landesmütterlichen Gnade nicht sowohl einer Boßheit als Unwissenheit und Verführung beymessen und dahero nicht nach der Schärfe zu bestra57 Vgl. Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. II, Nr. 49, S. 217 ff.
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Fürst Kaunitz war sich auch der Fehler der Kirche bewußt, die den Abfall vieler verursacht oder beschleunigt hatte. In demselben Vortrag schreibt er: »So viel aber für das Künftige die gänzliche Ausrottung des Übels anbetrifft, so muß man dessen eigentliche Quelle und Ursprung nicht außer Augen setzen, wenn anders etwas Gedeihliches bewirket werden soll. Man hat aber nicht nöthig diesen Ursachen mühesam nachzuspüren, da selbige sonder Zweifel von der nämlichen Beschaffenheit als jene sind, welche die Irrlehre des Luthers veranlaßt haben. Es wurde nämlich unsere heilige Religion dem in aller Unwissenheit gehaltenen Volk in der abscheulichen Gestalt abgeschildert, als ob sie durch Anbethung der Heiligen sich einer Abgötterey schuldig machete, auf Eigennutz und Herrschbegierde der Pfafferey gegründet seye und nur allein in nichts bedeutenden äußerlichen Ceremonien bestünde etc. Zum Unglück hat die Unwissenheit unserer Geistlichkeit und wohl gar ihre unrichtige Begriffe von der Wesenheit unserer Religion das widrige Vorurtheil bestärket und wenn solches einmal Wurzel gefaßt hat, so kann es nicht befremdlich fallen, daß auch rechtschaffene Gemüther sich lieber den härtesthen Strafen unterwerfen als bei einer Religion beharren, welche sie einer offenbaren Abgötterey schuldig zu seyn glauben. Bey solchen Anständen will es meines unmaßgeblichen Darfürhaltens hauptsächlich und fast allein darauf ankommen, das verführte Volk vollständig zu überweisen und zu belehren, daß es sich von unserer Religion einen grundfalschen Begriff gemacht habe und sich durch boßhafte Einblasungen auf strafbare Irrwege verführen lassen. Nachdem aber der Glaube sich nicht erzwingen läßt, sondern durch Überzeugung bewirkt werden muß, so ist es nicht gleichgültig, sondern von der größte Wichtigkeit zu dem Unterrichte des Volkes solche Geistliche zu gebrauchen und auszuwählen, welche nicht nur hinlängliche Gelehrsamkeit, sondern auch die nöthige Sanftmuth und Erfahrung besitzen, wie die Gemüther eines verführten Volks am leichtesten zu gewinnen und zurecht zu leiten seyen, als wozu die treffliche Anleitung eines Bossuet58 und Muratori,59 so von dem römischen Hofe selbsten approbiret worden, am sichersten zum Muster dienen dörften.« 58 Jacques Bénigne Bossuet (1627-1704), französischer Prediger und Schriftsteller. Bekannt sind seine Zitate, z. B. »Dieu se rit des hommes qui se plaignent des conséquences alors qu’ils en chérissent les causes oder La sagesse humaine apprend beaucoup, si elle apprend à se taire.« 59 Ludovico Antonio Muratori (1672-1750), italienischer Erudit und Kleriker.
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Die Kaiserin hat von den Vorfällen auch ihren Sohn, den Kaiser Joseph II., der sich in Frankreich befand, benachrichtigt. Joseph II. glaubte, daß die Zeit für einen entscheidenden Schritt reif wäre. Er bat seine Mutter, allen ihren Untertanen Religionsfreiheit zu gewähren und von jedem Gewissenszwang abzusehen. Er schrieb: »Die Dinge nur halb thun, stimmt nicht zu meinen Prinzipien; man bedarf entweder einer Völligen Freiheit des Cultus, oder Sie müssen alle aus ihren Ländern vertreiben können, die nicht dasselbe Glauben wie Sie, und die nicht die gleiche Form annehmen wie Sie, um den gleichen Gott anzubeten und dem gleichen Nächsten zu dienen. So lang der Dienst des Staates besorgt, das Gesetz der Natur und der Gesellschaft beobachtet wird, so lang Euer höchstes Wesen nicht entehrt, sondern respectirt und angebetet wird, was habt Ihr zeitliche Verwalter Euch in andere Dinge zu mischen? Der heilige Geist soll die Herzen erleuchten; Eure Gesetze werden nie etwas anders erreichen, als seine Wirkungen zu schwächen. Das ist meine Gesinnung; Eure Majestät kennen sie und ich besorge, daß meine vollständige Überzeugung mich mein ganzes Leben hindurch hindern wird, sie zu ändern.«60
Die Kaiserin war entsetzt und wies ihren Sohn in einem Schreiben ernsthaft zurück.61 Joseph sah sich veranlaßt, den Eindruck durch die Versicherung seiner Rechtsgläubigkeit abzuschwächen. Inzwischen versuchte die Kaiserin, dem Rat des Staatskanzlers folgend, die Abtrünnigen mit solchem Eifer zu bekehren, daß ihr der Papst dafür seinen wärmsten Dank aussprechen ließ. Die Abfallbewegung kam zwar zum Stillstand, die zum Luthertum übergetretenen Gemeinden ließen sich aber nicht mehr zum katholischen Glauben zurückgewinnen. Nun stand die Kaiserin vor der schweren Gewissensfrage, ob nach dem Scheitern der friedlichen Mittel nicht die Zeit für Gewaltanwendung gekommen sei. Eine Spezialkommission, die an Ort und Stelle die Lage noch einmal genau geprüft hatte, sprach sich dahin aus, daß neben Belehrung auch die Hilfe des Militärs zur Verhinderung unerlaubter Zusammenkünfte und unbefugter Auswanderungen nötig war. Dazu wollte man die Gemeindevorsteher verhaften und ihnen wegen Volksaufwiegelung den Prozeß machen. Trotz der Empfehlung der Kommission, die gewaltsamen Maßnahmen sofort anzuwenden, zögerte die Kaiserin in der Hoffnung, daß das Ziel auf gütlichem Wege erreicht würde. Nur wenn auch dieser Versuch erfolglos bleiben sollte, hatten die Behörden die Schuldigen im Sinne der geltenden Gesetze von Haus und Hof zu vertreiben, sie in Ungarn, getrennt von anderen Protestanten, anzusiedeln und ihnen die Kinder wegzunehmen. 60 Vgl. Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. II., S. 50. 61 Vgl. Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. II., S. 50.
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Als Joseph II. das erfuhr, forderte er die Kaiserin auf, das Reskript zurückzunehmen, oder seine Demissionierung zu akzeptieren: Es sei notwendig, der ganzen Welt kundzutun, daß er mit diesen Dingen nichts zu tun habe. Sein Gewissen, seine Pflicht und das, was er seinem Rufe schuldig sei, verlangten dies von ihm. Dazu schrieb er: »Ich finde mich daher verpflichtet, aufs entschiedenste zu erklären, und ich werde es beweisen, daß, wer immer dieses Rescript ersann, der unwürdigste Ihrer Diener und daher ein Mann ist, der nur meine Verachtung verdient; denn seine Arbeit ist ebenso unvernünftig als verfehlt.«62 In dieser schwierigen Lage, in der die Kaiserin zwischen ihrem Gewissen und der Forderung ihrer Kommission auf der einen und dem Verlangen ihres Sohnes auf der anderen Seite zu wählen hätte, wandte sie sich an ihren Kanzler um Rat und Hilfe. Kaunitz war für diese Frage nicht unmittelbar zuständig, sie gehörte in das Ressort der böhmisch-österreichischen Hofkanzlei. Deswegen mußte seine Antwort allgemein ausfallen. Er versuchte, in ihr die Grundsätze darzulegen, nach denen die religiösen Probleme in der Monarchie gelöst werden sollten. In seinem Vortrag vom Oktober desselben Jahres (1777)63 machte er die Kaiserin darauf aufmerksam, daß sich »bereits über hundert Jahre vor der sogenannten Reformation ... unter der Benennung Calixtiner, Utraquisten oder Hussiten mehr oder weniger Irrgläubige in Böhmen, Mähren und Schlesien befunden« haben. Solche Irrgläubige hätten sich nach Zeit und Umständen bald öffentlich, bald insgeheim erhalten. Im Geheimen unter Kaiser Ferdinand II., der sie nicht dulden wollte, öffentlich hingegen unter den Kaisern Rudolph und Mathias »welche nicht nur denenselben, sondern allen andern Gattungen der Irrgläubigen die öffentliche und unbeschränkte Religions-Übung mit alleiniger Ausnahme der Dominial- und Kirchengüter zugestanden haben. Unter Kaiser Ferdinand dem zweyten wurde diese Toleranz aufgehoben, seit dieser Zeit nie wieder gestattet und durch die Patente vom Jahre 1726 und 1754 der Irrglaube als ein Kapital-Verbrechen unter den schärfsten Straffen verbothen«. Kaunitz betonte, daß die Gewaltanwendung erfolglos geblieben ist: »Diese unüberlegte Zumuthung und die ferners beygefügte Versicherung, daß man weder Zwang noch Bestraffungen zu besorgen habe, hat verschiedene ganze Dorf-Gemeinden zur öffentlichen Erklärung, daß sie lutherisch seyn und bleiben wollten, ja sogar zu anderweiten sträflichen Ausschweifungen verleitet.« Nach dieser Bestandsaufnahme argumentierte Kaunitz gegen die Anwendung gewaltsamer Mittel in religiösen Angelegenheiten, denn »aller gewaltsamer Gewißens-Zwang sei nach der Wesenheit und dem Wahren 62 Vgl. Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. II., S. 51. 63 Vgl. Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. II., Nr. 50, S. 219 ff.
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Geist der Religion ganz unerlaubt«. Er wies alle drei Optionen zurück, die der Landesfürst nach dem damals geltenden Recht in der Behandlung der Andersgläubigen zur Verfügung hatte, nämlich: Irrgläubige in seinem Staate nicht aufzunehmen, sie aus dem Staat auszuweisen oder sie in andere Gegenden seines Staates zu übersiedeln. Kaunitz war hierin sehr klar: »Nun ist von der ersten Gattung dieser landesfürstlichen Rechte bey den gegenwärtigen Umständen keine Frage. Durch die Ausübung der zweyten Befugnis wird aber der Staat entvölkert und andurch seine wesentlichste Hauptwohlfahrt umgestürzt. Bei der dritten ergeben sich gleichfalls fast unübersteigliche Schwierigkeiten …«. Er sah nur einen Weg: »So bleiben keine andern Mittel übrig, als eines Theils eine mehr oder minder beschränkte politische Toleranz und andern Theils die anzuhoffenden gedeylichen Wirkungen eines bescheidenen apostolischen Eifers der Geistlichkeit und ihres mit christlicher Liebe begleiteten auferbaulichen Betrages.« Dabei betonte Kaunitz ausdrücklich: »Diese Toleranz macht jedoch keineswegs nothwendig, daß die obgleich allen ächten Religions- und Staats-Grundsätzen zu wider laufende Patente von 1726 und 1754 öffentlich aufgehoben oder sonst irgend einige neue Verordnung kund gemacht werden, sondern, da es hiebey lediglich auf eine still schweigende Connivenz ankommt, so wäre meines Erachtens eine umständliche geheime Instruction an das mährische Landes-Gouvernement per rescriptum zu erlassen …«. Im darauffolgenden Text hat Kaunitz in 8 Punkten einen Vorschlag zur Lösung des Problems ausgearbeitet. Seiner Meinung nach sollte man vorerst feststellen, ob, »da die Erkänntniß des wahren Glaubens eine Gabe Gottes und die ursprüngliche Wirkung einer göttlichen Erleuchtung ist, die nur durch geistlich Überzeugungs-Gründe befördert, keineswegs aber durch äußerliche Gewalt erzwungen werden kann, … Irrgläubige bloß Irrgläubige sind, dabey aber sich ruhig, friedsam und den übrigen Pflichten ihres Standes gemäß verhalten, oder ob sie sich zugleich solche äußerliche Handlungen zu Schulden kommen lassen, welche die öffentliche Ruhe stören oder stören können«. Dabei sollte man gegen jene, die sich »eine förmliche Aufwiegelung oder Zusammenrottierung zu schulden kommen lassen, nach geltenden Criminalgesetzen vorgehen. Die bloß Irrgläubigen sollten der eifrigen Vorsorge des geistlichen Hirtenamtes überlassen«. Kaunitz schreibt: »Was ihre ReligionsÜbungen betrift, so ist ihnen zwar kein eigener Pastor oder irgend etwas, so auf eine Publicität hinausläuft, zu gestatten, jedoch dabey zu connivieren, wann sie in ihren eigenen Häusern jeder für sich oder auch mehrere zusammen ihre Andachts-Übungen pflegen«. Dabei sollte man nur diejenigen bestrafen, die »ihre Andachts-Übungen nicht in ihren zugeschloßenen Häusern, sondern mit irgend einer Art von Publicität oder in einem eigends dazu bestimmten Orte verrichten oder öffentlich gegen die römisch-katholische
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Religion lästern, oder sich zu öffentlichen Lehrern und Anführern aufwerfen, andere mit Gewalt oder Drohungen von dem Übertritt zur römisch-katholischen Religion abzuhalten oder in ihren Irrglauben einzuziehen sind«. Kaunitz betonte nachdrücklich, daß »eine mit Gewalt erzwungene Anhörung der heiligen Messe, noch mehr aber die Verrichtung der Beichte und am meisten ein solcher Empfang des heiligen Abendmals die größte Profanation der Geheimniße unsers Glaubens sei«. Trotzdem müßten die Irrgläubigen ihre Kinder vom katholischen Pfarrer taufen lassen und sich selbst von ihm trauen lassen, weil der Landesfürst wissen muß, ob seine Untertanen wahre Christen sind und in gültiger Ehe zusammenleben. Kaunitz meinte, daß es keinen Sinn machte, die Häretiker dazu zu zwingen, an dem katholischen Religionsunterricht teilzunehmen, denn der Zwang erzeuge nur Widerwille und Haß. Das aber gelte seiner Meinung nach nicht für ihre Kinder, »welche nach Gesetzen keinen freyen Willen haben, folglich zur Anhörung der Christenlehren und des römisch-katholischen ReligionsUnterrichts … angehalten werden können, weil, da denenselben der Landesfürst die Mittel nicht benihmt, ihre Kinder zu Hause nach ihrer Religion unterrichten zu können, die irrglaubige Väter ihres Orts nicht befugt seyn können, solche von dem Unterricht in der Religion ihres Souverains, welcher als der Vater seines ganzen Volks anzusehen ist, abzuhalten«. Die böhmisch-österreichische Hofkanzlei äußerte sich sehr kritisch zu den Standpunkten von Kaunitz. Sie verlangte nicht nur die Anwendung der Patente aus den Jahren 1726 und 1754 und die Bestrafung aller Irrgläubigen, sondern warnte Kaunitz, daß das Zugeständnis, in Privathäusern Gottesdienste zu feiern, auf eine bürgerliche Toleranz hinauslaufen würde, die der Grundverfassung der Monarchie und den einzelnen Landesgesetzen widerspräche.64 Kaunitz wies alle diese Argumente mit den zitierten Gründen entschieden zurück. Die Kaiserin hat seine Grundsätze in einem Handbillet, das sie am 14. November 1477 an die böhmisch-österreichische Hofkanzlei erlassen hat, gebilligt, darunter vor allem die Notwendigkeit der stillschweigenden Toleranz. Diese stellte in Mähren die Ruhe wieder. Leider kam es aber zu den von Kaunitz so gefürchteten Inquisitionen, d. h. polizeilichen Nachforschungen, die im Volke die Sehnsucht nach Freiheit der Religion gerade noch stärkten. Nach zwei Jahren kam es dazu, daß die Bewohner dreier Gemeinden verlangten, daß sie ihre Gottesdienste frei und offen feiern dürften. Jetzt reichte Kaunitz’ Taktik nicht mehr. Die Anwendung von Gewalt hielt er für unangebracht, gleichzeitig aber konnte man sich nicht mehr auf eine stillschweigende Duldung beschränken. Deswegen entwarf er ein Patent, das, auf 64 Vgl. Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. II., Nr. 51, S. 224 f.
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politische Toleranz gegründet, allen Gewissenszwang aufheben, die den Irrgläubigen zugedachten Strafen vermeiden und den mährischen Protestanten das freie und ungehinderte exercitium religionis privatissimum gestatten würde. Ziel des Patentes war nicht, die Häretiker zu bekehren, sondern die Leute zu beruhigen und ihnen klar zu sagen, was zulässig und was verboten war. Der Einwand, daß sich auch andere auf dieses Patent berufen könnten, wies er zurück, weil in ihm nur gesagt und zugestanden würde, was man im gleichen Falle allen anderen eben auch zugestehen würde und zugestehen müßte. Der Kaiser lehnte das Patent ab und forderte die Kaiserin auf, das Bekehrungswerk allein der Kirche zu überlassen. Kaunitz schlug der Kaiserin vor, die Toleranz noch zu erweitern und den Neoprotestanten zu erlauben, daß sie zur österlichen Zeit das Abendmahl in den protestantischen Kirchen in Ungarn empfangen dürften. Nach schweren Gewissenskämpfen entschloß sich die Kaiserin gegen das Patent, weil sie dem Ideal ihrer Vorfahren treu bleiben wollte, die den konfessionellen Staat aus den Stürmen der Reformation gerettet und dann durch Jahrhunderte hindurch verteidigt hatten. Für Kaunitz, der die Toleranz für einen wesentlichen Zug des modernen Staates hielt, war das eine Niederlage. Trotzdem waren seine Bemühungen nicht erfolglos. Das Toleranzpatent Joseph II. war im gewissen Sinne ihre Frucht und bedeutete einen großen Schritt zum modernen Staat.
V. Das Toleranzpatent Joseph II.65 Schon kurz nach dem Tode seiner Mutter hob Joseph die Religionskommissionen auf und stellte die zwangsweise Umsiedlung der sog. Ketzer ein. Die größte Neuerung war jedoch die Aufhebung des Religionspatentes66 am 65 Neben der oben Fn. 54 angeführten Literatur zu Joseph II. und zum Josephinismus vgl. dazu auch B. R. Barlow, The Results of the Edict of Toleration in the Southern Austrian Province of Carinthia during the Reign of Joseph II, Diss., Louisiana State University 1990; P. F. Barton (Hrsg.), Im Lichte der Toleranz, Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jh. in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen, Wien 1981; G. Frank, Das Toleranz-Patent Kaiser Joseph II. Urkundliche Geschichte seiner Entstehung und seiner Folgen, Wien 1882; J. Karniel, Die Toleranzpolitik Kaiser Josephs II., Gerlingen 1986; La tolérance civile. Colloque int. organisé à l’Univ. de Mons du 2.-4. sept. 1981 à l’occasion du 2. centenaire de l’Edit de Joseph II, actes publiés par R. Crahay, Bruxelles 1982; E. Melmuková, Patent zvany tolerancní, Praha 1999; Ch. H. O’Brien, Ideas of Religious Toleration at the Time of Joseph II. A Study of the Enlightenment Among Catholics in Austria, Philadelphia 1969; H. Patzelt, Anfänge der Toleranzzeit in Österreichisch-Schlesien, Wien 1981. 66 Das Religionspatent erließ Maria Theresia im Jahre 1778. Dem zufolge durfte niemand ohne pfarramtliches Attest über seinen katholischen Glauben als Untertan ein Haus kaufen oder als Dienstbote zugelassen werden. Lutherische Bücher sowie nichtkatholische Andachten in
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30. Juni 1781. Die Vorschrift, mit der das geschah, kann als eine Art Toleranzpatent betrachtet werden,67 denn sie beseitigte die Ungleichbehandlung der Protestanten gegenüber den Katholiken. Dort liest man: »Seine Kaiserlich königliche Majestät haben sich allergnädigst zu entschliessen bewogen gefunden, daß das ganze Religionspatent, wo irgend eines eingeführet ware, von nun an aufgehoben, alle darinnen anbefohlene Ausübungen eingestellet, und in keinem Stücke, außer daß sie kein öffentliches Religions-Exercitium haben, ein Unterschied zwischen katholisch- und protestantischen Unterthanen mehr gemachet werden solle.«
Daß man trotz allem noch immer Vorsicht walten lassen wollte bzw. daß es noch gewisse Vorbehalte gab, kann man dem darauf folgenden Text entnehmen: »Verlangend aber die muthwillige Aufhetzere oder im Lande herum irrende Verführere, wären solche nach den allgemeinen politischen Grundsätzen einzuziehen, und zu bestrafen.«
Die Aufhebung des Religionspatents war jedoch nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer systematischen Regelung dieses Gebiets. In diesem Hinblick ging es Joseph II. um die Ausdehnung der Toleranz, die in Ungarn, Siebenbürgen, Österreichisch-Schlesien, Galizien und in den Freihäfen von Triest und Fiume bereits praktiziert wurde, auf die ganze Monarchie. Die Hofkanzlei erhob Bedenken gegen die Absicht des Kaisers, zu diesem Zweck ein Toleranzpatent zu erlassen. Der Kaiser gab nicht nach und entwarf am 15. September 1781 eine »Resolution über die bürgerliche Toleranz«68, in der er die Hauptzüge der »christlichen Tolleranz« darlegte. Aus dieser Resolution geht seine Absicht, im Sinne der vorherigen Praxis kein öffentliches Patent zu erlassen, klar hervor: »Ich will jedoch, um diese erklärte christliche Tolleranz in Ausübung zu bringen, den Weg einer offentlichen Kundmachung keinerdingen einschlagen, folglich ist über all dieses kein Patent oder sonstige öffentlich gedruckte Verordnung zu erlassen … sondern nach dieser erklärten Vorschrift solle durch blose Dispensaden Familien wurden verboten. Nur Katholiken durften heiraten. Protestantische Eltern wurden vor die Entscheidung gestellt, katholisch zu werden und ihre Kinder zu behalten oder von ihnen getrennt und nach Siebenbürgen umgesiedelt zu werden. Die Kinder wurden dann in Klöstern katholisch erzogen. 67 Vgl. den Text in: Protokoll deren kaiserlich-königlich-landesfürstlichen Verordnungen, und Gesetze in publico eccelsiasticis von 1770 bis inclusive 1782, Samt einem weitläufigen alphabetisch und kronologischen Register über jede in dem Werke behandelte Gegenstände, Erster Band, Grätz mit von Widmanstättensche Schriften (Ohne Angabe des Erscheinungssjahres), Nr. 62, oder dasselbe, Verlegts Franz Xav. Miller im Büchergewölb bei Allerheiligen (Ohne Angabe des Erscheinungssjahres), Nr. 62. 68 Vgl. den Text in: Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. II., Nr. 96 und 96a (S. 272 f.).
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tionen de casu in casum zu Werk gegangen, derley Dispensationen aber keineswegs erschweret, sondern vielmehr nach Beschaffenheit der Umstände und suppositis supponendis gegen schwere Verantwortung jedermann ertheilet, mithin in diesem Sinne ohne all offentliche Publication die Absicht auf das schicksamste und geschwindeste in Erfüllung gesetzet werden.«
Schon am 17. September 1781 erließ der Kaiser ein »Patent für Galizien in Unterthansachen und Toleranzwesen«69, wo unter anderem »denen Protestanten gestattet seyn, aller Orten nach ihrer Religion ganz ungestört zu leben, und zu betten«. Auch aus diesem Schreiben geht der Hauptzug der vorherigen Religionspolitik deutlich hervor. Man kann sie in folgenden Worten zusammenfassen: Nicht provozieren und die allgemeinen Regeln individuell anwenden. Fürst Kaunitz und Staatsrat Freiherr von Gebler drängten jedoch auf Öffentlichkeit. Vor allem Gebler behauptete, daß die Geheimhaltung der Vorschrift ihre Umsetzung in die Tat verhindern würde. Der Kaiser erkannte das am 13. Oktober 1771 in einer Mitteilung an Kaunitz an, der er den Text des kaiserlichen Toleranzpatents anschloß.70 In seiner Mitteilung schrieb er: »Ungeachtet in Meiner dem Fürsten … communicirten Resolution wegen Einführung einer kristlichen Toleranz … so habe ich doch aus wichtigen Betrachtungen und damit meine Entschließung nach ihrem wahren Innhalt und Verstand zu jedermanns Kenntniß gebracht, auch alle falsche Auslegungen derselben und alle daraus entstehende Irrungen beseitiget werden mögen, räthlich befunden, hievon wieder abzugehen und Meine Anordnung allgemein bekannt zu machen. Zu diesem Ende ist die Verfügung zu treffen, daß in einem jeden Lande die anbefohlenermaßen über dieses angeordnete Toleranzsistem zu erlassende Circularien in einer mehreren Anzahl als zu ebengesagter Absicht sonst nöthig wäre, in öffentlichen Druck gegeben, auch den verlegenden Buchdrucker in der Hauptstadt jeder Provinz gestattet werde, an jedermann, der es verlanget, solche gedruckte Circularien abzugeben und andurch die genugsame Verbreitung auf einmal zu bewirken. Hiernächst ist in den in der Hauptstadt jeder Provinz herauskommenden Zeitung die Kundmachung nach dem formulari, welches hier beylieget und in einer getreuen Uebersetzung, welche in der lateinischen, französischen und wälschen Sprache von der Staatskanzley zu besorgen und den betref69 Vgl. den Text in: Vollständige Sammlung aller seit dem glorreichen Regierungsantritt Joseph des Zweyten für die k.k. Erbländer ergangenen höchsten Verordnungen und Gesetze, Erster Theil, Nr. 334, S. 395 ff; Protokoll deren kaiserlich-königlich-Landesfürstlichen Verordnungen und Gesetze, Nr. 67 (Fn. 67), oder dasselbe, Verlegts Franz Xav. Miller im Büchergewölb (Fn. 67), Nr. 67. Beide Texte sind nicht identisch; es gibt aber keine wesentlichen Unterschiede. Der Text des Toleranzpatents ist auch im Internet zu finden, u. z. auf http://www.evang1.at/toleranzpatent.0.html (12.03.2007). 70 Vgl. den Text in: Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. II., Nr. 104 und 104a. (S. 278 f.).
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Janez Kranjc fenden Hofstellen, die solche von da abzuholen angewiesen sind, mitzutheilen seyn wird, unter dem Artickel Wien einzuschalten und so zu jedermans Wissenschaft zu bringen.«
Der Weg zur Veröffentlichung des Toleranzpatents war damit offen. Vier Tage darauf veröffentlichte die Wiener Zeitung die kaiserliche Entscheidung und das Patent erging an alle Länderstellen. Der veröffentlichte Text71 unterscheidet sich ziemlich von dem bereits erwähnten an Kaunitz geschickten Entwurf.72 Die Hauptbestimmungen des Toleranzpatents, das für Protestanten sowie nichtunierte Griechisch-Orthodoxen bestimmt war, sind: – Je hundert Familien durften sich ein Bethaus und Schule erbauen, auch wenn sie nicht zusammen, sondern mehrere Stunden auseinander lebten; weiter entfernte mußten sich in das nächste Bethaus in der Monarchie begeben. Die Bethäuser durften kein sichtbares Zeichen einer Kirche haben, wie Turm, Glocken oder einen Eingang an der Straße, durften aber aus beliebigen Material erbaut werden. – Die Akatholiken durften ihre Schulmeister behalten. – Die Akatholiken durften ihre Pastoren wählen und brauchten eine kaiserliche Bestätigung , wenn diese sie dotieren wollten. – Die Stolgebühren73 blieben dem lokalen katholischen Pfarrer. – Die Zuständigkeit für »das Religionswesen der Accatholicorum betrefenden Gegenständen« wurde auf Landesstellen übertragen. – Die Ausstellung des Reverses, d. h. der rechtsverbindlichen Erklärung über Kindererziehung in gemischten Ehen, wurde aufgehoben. War in der gemischten Ehe der Vater katholisch, so wurden alle Kinder katholisch erzogen; war der Vater akathoholisch und die Mutter katholisch, folgte die religiöse Erziehung der Kinder dem Geschlecht. – Die Akatholiken wurden zum »Häuser- und Güter-Ankauf, zu dem Bürger- und Meisterrechte, zu akademischen Würden, und Civil-Bedienstungen« durch Dispensation zugelassen. Die Eidesformel wurde ihren Religionsgrundsätzen gemäß gestaltet. Sie durften nicht gezwungen werden, an Prozessionen der dominanten Religion teilzunehmen. Beförderungen, Wahlen und die Vergabe von Diensten mußten, wie im Militär, ohne jede Rücksicht auf die Konfession vorgenommen werden.
71 Vgl. den Text z. B. in: Vollständige Sammlung aller seit dem glorreichen Regierungsantritt Joseph des Zweyten für die k. k. Erbländer ergangenen höchsten Verordnungen und Gesetze (Fn. 69), Nr. 305, S. 263 ff. 72 Vgl. Maaß, Der Josephinismus (Fn. 51), Bd. II., Nr. 104a (S. 278 f.). 73 Gebühren, die bei der Vornahme bestimmter gottesdienstlicher Handlungen erhoben werden durften.
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Der Erlaß des Toleranzpatents war bestimmt ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Religionsfreiheit. Doch mußte das Gesetz noch in die Praxis umgesetzt werden.74 Das war keine leichte Aufgabe. Jeder, der sich unter das Patent stellen wollte, mußte sich individuell melden und offiziell zu seiner jeweiligen akatholischen Religionszugehörigkeit erklären. Jene, die sich zu einer anderen als einer der drei im Toleranzpatent benannten Religionen erklären wollten, wurden auf der Stelle abgewiesen und als katholisch behandelt.75 Die Erklärungen zur protestantischen Religion wurden nur bis zum 1. Januar 1783 angenommen. Nach diesem Datum mußte sich jeder, der sich als Akatholik melden wollte, durch sechs Wochen hindurch einem »zwangsfreien und liebvollen« Unterricht im katholischen Glauben unterziehen.76 Trotz derartiger Schwierigkeiten stieg die Zahl der Evangelischen in den deutsch-böhmischen Erblanden von 73.722 im Jahre 1782 auf 156.865 im Jahre 1788.77
VI. Zum Schluß Das Toleranzpatent eröffnete einen Weg, der über die sog. Pillersdorfsche Verfassung und das Staatsgrundgesetz aus dem Jahre 1867 in die uneingeschränkte Glaubensfreiheit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte78 bzw. der Europäischen Menschenrechtskonvention79 mündete. Das ist ein langer Weg, der noch nicht zu Ende gegangen ist. Die Rechtsprechung 74 Einen sehr aufschlußreichen Überblick vgl. in: Praktische Anwendung aller k. k. Verordnungen in geistlichen Sachen Publico-Ecclesiasticis vom Antritte der Regierung weiland Marien Theresien bis ersten May 1788. Hrsg. von J. Schwerdling, Titular-Domherrn von Königgräz, und Kuraten der Hauptpfarrkirche zu Wienerisch-Neustadt, Wien, 1788, S. 433 ff. 75 Praktische Anwendung aller k. k. Verordnungen in geistlichen Sachen (Fn. 74), S. 443. 76 Praktische Anwendung aller k. k. Verordnungen in geistlichen Sachen ((Fn. 74), S. 445 f. 77 Vgl. K. Müller, Joseph II., in: D. A. Hauck (Hrsg.), Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, begr. von J. J. Herzog, 3. Aufl., Leipzig 1901, Bd. 9, S. 375. 78 Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948): »Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.« 79 Vgl. Art. 9 der EMRK (1950): »(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Art. 9 bildet zusammen mit Art. 10 (Freiheit der Meinungsäußerung), Art. 11 (Versammlungs- und Ver-
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des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zeigt, daß es noch Probleme mit der Durchsetzung der Glaubensfreiheit, vor allem im Hinblick auf den Schutz der religiösen Minderheiten gibt.80 An verschiedenen Regelungen dieses Gebiets zeigt sich, daß das Problem des friedlichen Zusammenlebens unter den Anhängern verschiedener Religionen kein ausschließlich rechtliches Problem ist und mit rechtlichen Mitteln nicht endgültig gelöst werden kann. Die Religiosität ist nach wie vor ein psychologisches und gesellschaftliches Phänomen, das im gewissen Sinne unbestimmbar ist und das sich auf die Dauer nicht steuern oder lenken läßt. Deswegen kann man von seinen Erscheinungsformen (und Folgen) immer wieder überrascht werden. Die Lösung des Problems friedlichen Zusammenlebens mehrerer Religionen kann nur in der Vertiefung und Stärkung einer Kultur des Zusammenlebens überhaupt gesucht werden, welche allein Toleranz im Verhältnis zu Nicht- bzw. Andersgläubigen gewährleisten kann. Sie ist insbesondere in einer nicht homogenen Gesellschaft von besonderer Bedeutung, in der diverse Unterschiede leicht zu Auseinandersetzungen führen können. Nachdem in vielen modernen Gesellschaften die Glaubensfreiheit zur Selbstverständlichkeit geworden ist, spielt heute die kollektive Religion (mit der Ausnahme des Islam) anscheinend keine besonders wichtige Rolle mehr. In den demokratischen Ländern gibt es keine Staatsreligion oder religionsähnliche Ideologie mehr. Das bedeutet indessen nicht, daß die moderne Gesellschaft in diesem Hinblick stabil ist. Auch der im Bezug auf die Wertdimensionen seiner Existenz abgestumpfte Konsummensch kann nämlich durch diverse (aber-)glaubensbezogene Momente mobilisiert und zur Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt gebracht werden. Deswegen müßte man sich also im Hinblick auf die Durchsetzung der Glaubensfreiheit für die Stärkung und Vertiefung der Kultur zwischenmenschlicher Beziehungen, vor allem für eine Kultur der verantwortungsvollen Toleranz einsetzen. Diese wird sehr oft mit Permissivität und Desinteresse verwechselt, welche im Gegensatz zur wirklichen Toleranz die Probleme nur aufschieben und somit auf die Dauer erschweren. Die Durchsetzung der Menschenrechte und Freiheiten kann nur mit Engagement und Verantwortlichkeit eines jeden erreicht werden. Man muß aber dabei davon ausgehen, daß die endgültige Lösung dieser Probleme ein Ideal ist, dem wir uns nur mehr oder weniger erfolgreich annähern können. Dabei kann das Recht zwar den Rahmen festlegen, die gelebte Kultur aber nicht wesentlich beeinflussen. einigungsfreiheit) sowie Art. 14 (Diskriminierungsverbot) einen komplexen Schutz der geistigen Sphäre des Menschen.« 80 Mehr dazu in: J. A. Frowein/W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRKKommentar, 2. Aufl., Kehl am Rhein, Straßburg, Arlington, 1996, S. 367 ff.
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Die Emanzipation der deutschen Juden und der Begriff der Toleranz I. Erste Emanzipationsphase 1780-1800 1. Im Jahr 1781 wandten sich elsässische Juden an Moses Mendelssohn in Berlin mit der Bitte, für sie eine Schutzschrift, ein Mémoire, an den französischen Staatsrat zu verfassen.1 Das war keineswegs ein ungewöhnlicher Vorgang. Juden benötigten nicht selten derartige Schutz- und Verteidigungsschriften. Das eine oder andere Mal geschah dieses vielleicht auch nur vorbeugend. Moses Mendelssohn (1728-1786) galt innerjüdisch seit längerem als eine anerkannte Autorität, der auch im nicht-jüdischen Umfeld ein erheblicher Einfluß nachgesagt wurde.2 Diese Annahme war zumindest für das preußisch-brandenburgische Gebiet vollkommen berechtigt. Seit etwa Anfang der 70er Jahre hatte sich Mendelssohn innerjüdisch und im christlich geprägten Umfeld einen bemerkenswerten Ruf erworben. Er war in Berlin eine bekannte Persönlichkeit. Er verfügte über sehr gute Verbindungen zu Persönlichkeiten des hohen preußischen Beamtentums und war Teil der berlinischen literarischen und philosophischen Szene. Im Jahr 1771 war Mendelssohn zum Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt worden. Seine Aufnahme in die Akademie scheiterte indes, weil Friedrich II. die Wahl nicht bestätigte.3 Da Mendelssohn fließend hoch1 Die Mehrzahl der auf etwa 50.000 geschätzten Juden Frankreichs wohnte zu dieser Zeit im Elsaß und in Lothringen, eine zweite deutlich kleinere Gruppe in dem ehemals päpstlichen Gebiet um Avignon. Aus den französischen Stammlanden waren die Juden 1394 vertrieben worden. 2 Vgl. H. M. Graupe, Die Entstehung des modernen Judentums. Geistesgeschichte der deutschen Juden 1650-1942, 2. Aufl. 1977, S. 93 ff.; M. A. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749-1824, 1994, S. 13 ff. 3 Die Darstellung ist umstritten. Sie entspricht wohl nicht den neueren Forschungsergebnissen. Tatsächlich erschien Moses Mendelssohn nicht auf der Vorschlagsliste, die dem König zur Unterschrift vorgelegt wurde.
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deutsch sprach, also nicht nur jiddisch, wie es die Umgangssprache der Juden war, und über einen scharfen analytischen Kopf verfügte, durften die Elsässer Juden in der Tat einiges von ihm an Vermittlung erwarten.4 Mendelssohn lehnte die Bitte der Elsässer Juden ab, in ihrer Sache selbst tätig zu werden. Er bat statt dessen den preußischen Geheimen Kriegsrat und späteren Diplomaten Christian Wilhelm von Dohm, eine Schutzschrift abzufassen. Dohm nahm sich der Sache – man muß schon sagen, mit einer gewissen Begeisterung – an. Noch Ende 1781 verfaßte er eine umfassende Verteidigungsschrift und fügte dieser eine 154seitige Streitschrift bei, die sich als das grundlegende Buch zur Judenfrage dieser ersten Aufklärungsepoche erweisen sollte.5 Über die bürgerliche Verbesserung der Juden nannte er sein Werk. Den Ausdruck »Emanzipation« kannte man zu diesem Zeitpunkt nicht. Wie war die Lage der deutschen Juden, die Dohm, ein Freund nicht nur Mendelssohns, sondern auch Lessings und Nicolais, des einflußreichen Berliner Verlegers, zu beurteilen hatte? Und welche Gründe bestanden, daß die Schrift eines preußischen Verwaltungsbeamten einen geradezu bahnbrechenden Erfolg zu haben schien? Sie traf gewiß eine Frage der Zeit.
2. Die deutschen, ja die europäischen Juden lebten seit Jahrhunderten als eine eigene, geradezu randständige Gruppe. Sie waren eine besondere Glaubens-, Rechts-, Kultur- und Volksgemeinschaft.6 Das galt in der Erinnerung der Zeitgenossen seit jeher. Nicht zu Unrecht wurden sie als »hochdeutsche Nation« bezeichnet.7 Die Juden befanden sich außerhalb der im 18. Jahrhundert weitgehend noch ständisch verfaßten Ordnung der gesamten Gesellschaft. Sie waren als »Ausländer« geduldet, standen unter Fremden4 Zu Moses Mendelssohn vgl. W. Vogt, Moses Mendelssohns Beschreibung der Wirklichkeit menschlichen Erkennens, 2005; H. Knobloch, Herr Moses in Berlin. Auf den Spuren eines Menschenfreundes, 1979, erneut 2006; M. Albrecht, Moses Mendelssohn 1729-1786. Das Lebenswerk eines jüdischen Denkers der deutschen Aufklärung, 1986. 5 Vgl. A. A. Bruer, Geschichte der Juden in Preußen (1750-1820), Frankfurt/M./New York, 1991, S. 64; F. Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. II, 1990, S. 85 ff.; R. Rürup, The Tortuous and Thorny Path of Legal Equality. »Jew Laws« an Emancipatory Legislation in Germany from the Late Eighteenth Century, in: Leo Baeck Institute Year Book 31 (1986), S. 3 ff. 6 Vgl. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, 1983, S. 248. 7 Vgl. J. Katz, Die Entstehung der Judenassimilation in Deutschland und deren Ideologie, Diss., 1935, abgedruckt in: J. Katz, Emancipation and Assimilation. Studies in Modern Jewish History, Farnborough, 1972; ders., Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, 1989.
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recht, waren in ihrer Berufswahl außerordentlich beschränkt, ohne originäres Aufenthaltsrecht. Sie lebten in ihrer sprachlichen und kulturellen Sonderart nahezu mittelalterlich, einem sozialen und lokalen Ghetto ähnlich, von der nicht-jüdischen Umwelt fast pariahaft behandelt. Als Minderheit in einem heutigen Sinne wurden sie nicht wahrgenommen. Die Juden waren einfach anders.8 Als fremde Nation gehörten sie nicht dazu. Und sie selbst, die Juden, sahen dies kaum anders. Es bestand kein gesellschaftlich-politischer Auftrag, die Juden – nämlich als »Juden« – in das Gemeinschaftswesen zu integrieren. Damit entfiel jede Frage einer Assimilation, eine solche der sozial wirksamen Akkulturation und kulturellen Diversität ohnedies.9 Die Rabbiner sagten ihren Glaubensbrüdern, daß sie in der Diaspora gleichsam nur auf der Durchreise seien und das gelobte Land, Zion, sie als Rückkehrer erwarte. In ihren Gebeten beschworen sie diese eher messianisch verstandene Zukunft täglich. Verfolgungen, soziale Diskriminierungen interpretierten sie, fast alttestamentarisch, als Gottesprüfungen, welche ihrer glaubensbezogenen Standfestigkeit dienten. So hatte es ihnen ihr größter Philosoph, Moses Maimonides, im 12. Jahrhundert erklärt. Und daran hielten sie fest. Die Antwort auf die »Judenfrage« beschränkte sich in aller Regel darauf, ein Duldungskonzept zu entwickeln, in dem Juden gegen Angriffe auf Leib und Leben geschützt waren und eine soziale Existenz in ihrer Sonderung gewährleistet sein sollte.10 An einer ökonomischen »Ausnutzung« der Juden war man gleichwohl äußerst interessiert.11 In diesem Sinne verstand sich letztlich noch das Toleranzpatent von Joseph II. von Österreich (1741 [1765]-1790) vom 13. Oktober 1781, obwohl dieses zugleich ein zentraler Punkt der josephinischen »neuen« Kirchenpolitik war und das am 2. Januar 1782 durch ein weiteres Patent für die »Besserstellung der Juden« ergänzt wurde. In diesem ergänzenden Patent wurden den Juden die drückendsten und demütigendsten Bestimmungen der frühe8 Vgl. G. Kisch, Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters. Nebst Bibliographien, 2. Aufl. 1978; J. Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770-1870, 1973, erneut 1986. 9 Vgl. zur Begrifflichkeit u. a. Th. Baumer, Handbuch Interkulturelle Kompetenz, Zürich, 2002; vgl. ferner N. Römer, Tradition und Akkulturation. Zum Sprachwandel der Juden in Deutschland zur Zeit der Haskalah, 1995; T. Maurer, Migration von Juden – eine Problemskizze, in: K. Militzer (Hrsg.), Probleme der Migration und Integration im Preußenland vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, 2005, S. 217 ff. 10 Vgl. materialreich V. Eichstädt, Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage, Bd. 1, 1938; preußische Dokumente bei I. Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte in Preußen, 1912; A. H. Brammer, Judenpolitik und Judengesetzgebung in Preußen 18121847, 1987. 11 Vgl. E. Hassinger, Wirtschaftliche Motive und Argumente für religiöse Duldsamkeit im 16. und 17. Jahrhundert, Archiv für Reformationsgeschichte (ARG) 49 (1958) S. 226 ff.
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ren barbarischen Judengesetzgebung erlassen.12 Das Wort »Toleranz« wurde hier noch ganz im Sinn der Erlaubnis oder Konzession einer Religionsfreiheit gegenüber Andersgläubigen verstanden.13 Von einer auch nur annähernden Gleichstellung konnte noch keine Rede sein. Toleranz wurde hier eher in des Wortes eigentlichem Sinne benutzt, nämlich die Anwesenheit von Juden unter näheren Voraussetzungen oder Bedingungen zu »dulden«.14 Das Toleranzedikt vom 2. Januar 1782 war daher in weiten Zügen im Kern nichts anderes als eine modernisierte Form der Judenordnungen des ausgehenden Mittelalters und der begonnenen Neuzeit, und zwar mit dem Ziel der Anpassung an die christliche Gesellschaft. An eine grundlegende Änderung des Verhältnisses zwischen Juden und christlich geprägter Gesellschaft im Sinne einer »offenen Gesellschaft«, also im Sinne eines eigenständigen Nebeneinanders, war keineswegs gedacht. Der öffentliche Gottesdienst und die Benutzung des hebräischen Buchdrucks wurden untersagt. Außerhalb des privaten Lebens sollten die jiddische und die hebräische Sprache nicht genutzt werden. Das Gedankengut der Aufklärung und die Verwaltungsreformen bewirkten im Laufe des 18. Jahrhunderts auch in der Habsburger Monarchie nur einen langsamen Wandel der Anschauungen von der Unduldsamkeit zu einer toleranteren Haltung. Dafür waren viele Gründe maßgebend und die Anhänger der »Toleranz« teilten diese verschiedenen Gruppen unterschiedlich zu. Von einer wirklich rational-aufklärerischen Grundhaltung konnte für diesen Zeitpunkt nicht gesprochen werden.15 Über die Motive Josephs II., der sich selbst stets als treuen Sohn der katholischen Kirche bezeichnete, ist viel gerätselt wor12 Vgl. J. Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur, Teil 4, Zürich, 1983 (erstmals 1927), S. 163. Das Toleranzpatent zugunsten der Juden galt (nur) in den österreichischen Erblanden, ferner in Böhmen, Mähren, Schlesien und Ungarn; vgl. zum Toleranzpatent Joseph II. auch den Beitrag von Janez Kranjc, in diesem Band S. 41 (56 ff.). 13 Der Ausdruck »Toleranz« im Sinn einer zumeist beschränkten Religionsfreiheit gegenüber Andersgläubigen kam in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, zunächst in Deutschland und in den Niederlanden auf, in Frankreich etwas später, zur Zeit des Edikts von Nantes (13.4.1598), das am 18. Oktober 1685 aufgehoben wurde. Das Verbum tolerare verwendet schon Thomas von Aquin im Bezug auf die Heiden: Utrum vitus infidelium sint tolerandi. A. Mitscherlich, Toleranz – Überprüfung eines Begriffs, 1974. 14 Vgl. P. Browe, Die religiöse Duldung der Juden im Mittelalter, AfkKR 118 (1938) S. 3 ff.; vgl. ferner R. Bleistein, Eine europäische Geschichte der Toleranz, Stimmen der Zeit (StZ) 217 (1999) S. 59 ff.; R. Claus, Toleranz. Beitrag zur Diskussion einer Problematik, 1985. 15 Vgl. H. Wagner, Die Idee der Toleranz in Österreich, Religion und Kirche in Österreich, in: Institut für Österreichkunde (Hrsg.), Religion und Kirche in Österreich, Wien, 1972, S. 111 ff.; K. Lohrmann, Zwischen Finanz und Toleranz: Das Haus Habsburg und die Juden. Ein historischer Essay, Graz/Wien/Köln, 2000; P. F. Barton (Hrsg.), Im Lichte der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ihre Voraussetzungen und ihre Folgen, Wien, 1981.
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den.16 Bereits unter Franz II. (1768 [1792]-1835) wurde die »Erteilung der Toleranz«, wie man die behördliche Genehmigung nannte, an den Besitz eines Vermögens von mindestens 10.000 Florin (Gulden) gebunden.17 Hätte man am Beginn des 18. Jahrhunderts einen hinreichend »aufgeklärten« Nicht-Juden gefragt, ob er mit dem Ausdruck »Judenfrage« etwas anfangen könne, so hätte er den Kopf geschüttelt. Auch der Ausdruck »Emanzipation« wäre ihm gänzlich unbekannt gewesen. Da beides, nämlich die sog. Judenfrage und die Emanzipationsfrage, zu diesem Zeitpunkt als eine begriffliche Zuordnung nicht einmal bekannt waren, stellte sich naturgemäß auch nicht die weitere Frage, ob es zwischen beiden einen Zusammenhang geben könne. Tatsächlich entstand der Begriff der Emanzipation erst in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts und in bezeichnender Weise zu einem Zeitpunkt, als die erste deutsche und österreichische Emanzipationsphase mit dem Abschluß des Wiener Kongresses bereits der Vergangenheit angehörte.18
3. Die sozial und kulturell eher mittelalterliche Lage der gesamten Gesellschaft veränderte sich in Deutschland etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts.19 Keiner war zu diesem Zeitpunkt wichtiger und einflußreicher als der hallen16 Vgl. J. Karniel, Die Toleranzpolitik Kaiser Joseph II., 1986; P. Landau, Zu den geistigen Grundlagen des Toleranz-Patents Kaiser Josephs II., Österreichisches Archiv für Kirchenrecht (ÖAKR) 32 (1981), S. 187 ff. Vgl. auch K. Schreiber, »Duldsamkeit« (tolerantia) oder »Schrecken« (terror). Reaktionsformen auf Abweichungen von der religiösen Norm, am Beispiel des augustinischen Toleranz- und Gewaltkonzeptes und dessen Rezeption im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: D. Simon (Hrsg.), Religiöse Devianz. Untersuchungen zu sozialen, rechtlichen und theologischen Reaktionen auf religiöse Abweichungen im westlichen und östlichen Mittelalter, (Ius commune. Sonderheft 48), 1990, S. 159 ff. 17 Vgl. W. Häusler, Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus. Das österreichische Judentum des bürgerlichen Zeitalters (1782-1918), in: A. Drabek (Hrsg.), Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte, Wien, 1988, S. 83 ff. Vgl. ferner auch P. Baumgart, Die »Freiheitsrechte« der jüdischen Minorität im Staat des aufgeklärten Absolutismus – Das friederizianische Preußen und das josephinische Österreich im Vergleich, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, 1981, S. 121 ff.; P. Baumgart, Die jüdische Minorität im friederizianischen Preußen, in: O. Hauser (Hrsg.), Vorträge und Studien zur preußisch-deutschen Geschichte, Köln/Wien, 1983, S. 1 ff.; ders., Jüdische Minorität und von der Aufklärung erfaßte Reformstaaten im Reich am Vorabend der Emanzipation, in: H. Neuhaus/B. Stollberg-Rilinge (Hrsg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, 2002, S. 341 ff. 18 Zur Begriffsgeschichte des Wortes »Emancipation« vgl. R. Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 159 ff. 19 Vgl. H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700-1815, 1996, S. 59 ff., 218 ff.
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sische Philosoph Christian Freiherr von Wolff (1679-1754). Wolff hatte 1712 sein Werk Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihren richtigen Gebrauch in Erkenntnis der Wahrheit publiziert, die sog. Deutsche Logik. Im Jahr 1721 erschien von ihm ein zweites Werk von maßgebendem Einfluß unter dem Titel Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insbesondere dem gemeinen Wesen. Als Wolff 1754 starb, befand man sich in einer Art gesellschaftlicher Aufbruchstimmung, ohne daß bereits Ziele und Wege wirklich deutlich waren. Wolf hatte zahlreiche Anhänger gefunden, unter anderem Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der sich in dieser Zeit zum führenden Vordenker für das neue Selbstbewußtsein des Bürgertums entwickelte.20 Anhänger von Wolff waren in gewisser Weise auch Kant und Mendelssohn. Viel bedeutsamer war für den vorliegenden Zusammenhang indes, daß um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Lehrstühle der deutschen Universitäten nahezu durchgehend mit Wolffianern besetzt waren und diese das intellektuelle und moralische Bewußtsein der dort Studierenden mitprägen konnten. Hierzu zählte zunehmend die höhere Beamtenschaft, namentlich in Preußen, nachdem die Kirchen eine Art Ausbildungsmonopol längst verloren hatten. Der Absolutismus der Fürsten versuchte bekanntlich, die Aufbruchstimmung dieser Zeit im Modus des »aufgeklärten« und des »dienenden« Fürsten aufzufangen.21 So war es nicht überraschend, daß sich, auch in Preußen, einer allmählich wachsenden Mittelmacht, im Beamtentum inzwischen ein aufgeklärter und aufklärender Liberalismus etabliert hatte, ein Liberalismus, der einen Transformationsprozeß der Gesellschaft von der feudalen Ständegesellschaft zur bürgerlichen Klassengesellschaft wahrnahm und sich dort selbst einordnete. 20 Lessing trat in den zahlreichen Auseinandersetzungen mit den Vertretern der herrschenden Lehrmeinung für Toleranz gegenüber den anderen Weltreligionen ein. In seiner Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechts« (1777, 1780) legte er seine Position zusammenhängend dar. Vgl. zu Lessing Jürgen Engfer, in diesem Band S. 159 ff., D. Hildebrandt, Lessing. Biographie einer Emanzipation, München, 1982; kritisch M. Zimmermann, Lessing contra Sem´- Literatur im Dienste des Antisemitismus, in: St. Moses/A. Schone (Hrsg.), Juden in der Deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion, 1986, S. 179 ff. Die wichtigsten philosophischen Beiträge zur Toleranzdebatte waren bereits vor der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erschienen, nämlich u. a. B. de Spinoza, Tractatus Theologico-Politicus, 1670, anonym, vgl. zu Spinoza Ralf Poscher, in diesem Band S. 129 ff.; P. Bayle, Commentaire Philosophique sur ces paroles de Jésus-Christ: contrain-les d’entrer (1686); J. Locke, Epistola de tolerantia – A Letter Concerning Toleration, Gouda [lat.] 1689, London [engl.] 1689, vgl. zu Locke Michael Kahlo, in diesem Band S. 145 ff.; eher schwächer Fr.-M. Voltaire, Essais sur la tolérance, Genf – 1763, anonym; Leipzig 1775. 21 Vgl. F. Hartung, Der aufgeklärte Absolutismus, in: HZ 180 (1995), S. 15 ff.; F. Priebatsch, Die Judenpolitik des fürstlichen Absolutismus im 17. und 18. Jahrhundert, in: Gustav Fischer (Hrsg.), Forschungen und Versuche zur Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Festschrift Dietrich Schäfer zum 70. Geburtstag, Jena, 1915, S. 564 ff.
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Die »aufgeklärten« Fürsten selbst hatten unter dem Einfluß des Merkantilismus und den Ansätzen einer Freihandelslehre begonnen, eine aktive Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu entwickeln. Dem stand eine feudale Gesellschaft konträr gegenüber. Sowohl den universitären Staatstheoretikern als auch den Praktikern war längst bewußt, daß die Ziele der ökonomischen Modernität in der Bildung einer bürgerlichen, partiell autonomen Gesellschaft liegen mußten. In ihr mußte eine individuelle, soziale und ökonomische Durchlässigkeit bestehen, um eine allumfassende Prosperität der Gesellschaft zu erreichen.22 Das würde am besten gelingen, wenn man eine freie Konkurrenz aller gesellschaftlichen Kräfte zuließe. Zur Vorgeschichte der Frage nach dem Verhältnis von Emanzipation der Juden und Toleranz gehört dieser hier nur skizzierte Transformationsprozeß.23 In diesem Prozeß der Entfeudalisierung schien die soziale Stellung der Juden ersichtlich virulent zu sein. Die weitere Existenz einer randständigen Gruppierung, wie sie die Juden jahrhundertlang waren, war in dem Konzept eines staatlich gelenkten und bürokratisch zu entwickelnden Wohlfahrtstaates eine deutliche Friktion. Daher mußte über die Möglichkeiten nachgedacht werden, die Juden in die entstehende neue Gesellschaft einzubeziehen.24 Diese Frage zielte auf die ökonomische und soziale, dann auch rechtliche Integration der Juden in die sich formierende bürgerliche Gesellschaft. Die Frage – fast eine solche der Methode – war in den Köpfen etwa der hohen preußischen Beamtenschaft als solche präsent, wie eine derartige Integration der Juden zugunsten einer friktionsfreien bürgerlichen Gesellschaft erreicht werden könnte. Eine verbreitete Ansicht war hierzu, die Juden selbst müßten sich zunächst ändern, um sie alsdann, also bereits angepaßt, in die bürgerliche Gesellschaft als gleichberechtigt aufnehmen und damit integrieren zu können. Nicht wenige, auch innerhalb des deutschen Judentums, namentlich in Berlin, glaubten, daß gerade dies auch die eigentliche, indes kaum ausgesprochene Absicht von Moses Mendelssohn sei. 22 Vgl. problemöffnend F. Battenberg, Die jüdische Wirtschaftselite der Hoffaktoren und Residenten im Zeitalter des Absolutismus, Aschkenas 9 (1999) S. 31 ff.; P. von der Osten-Sacken, Lessings »Nathan« und das Neue Testament, Evangelische Theologie (EvTh) 56 (1996), S. 44 ff.; R. Ries, Hofjuden als Vorreiter? Bedingungen und Kommunikationen, Gewinn und Verlust auf dem Weg in die Moderne, in: A. Herzig/H. O. Horch/R. Jütte (Hrsg.), Judentum und Aufklärung. Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit, 2002, S. 30 ff. 23 I. Elbogen/E. Sterling, Die Geschichte der Juden in Deutschland, 1935, erneut 1993; J. Toury, Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum (1780-1850). Eine Dokumentation, Tel Aviv, 1972; D. Sorkin, The Transformation of German Jewry, 1780-1840, New York, 1987; Sh. Volkov, Die Juden in Deutschland 1780-1918, 1994. 24 Vgl. Toury, Bürgertum (Fn. 23), S. 144 ff., 198 ff.; J. Katz, Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne, 2002, S. 225 ff., 258 ff.; F. J. Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlich-sozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Historische Zeitschrift (HZ) 245 (1987), S. 545 ff.
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Nach dessen Tode im Jahre 1786 entwickelte sich eine innerjüdische Aufklärungspartei, vor allem die Berliner Maskalin.25 Diese war von der Notwendigkeit einer innerjüdischen Reform überzeugt. Ohne Frage kam dieser innerjüdischen Aufklärung, der Haskala, die sich auch für eine soziale Gleichberechtigung einsetzte, seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts eine wichtige Bedeutung zu, um das Selbstverständnis der Juden zu ändern, die Mehrheit der Juden gleichsam von innen für die angestrebte Integration in eine bürgerliche Gesellschaft aufgeschlossen zu machen. Bereits in den 70er Jahren hatte David Friedländer (1750-1843) in Berlin den innerjüdischen Reformprozeß angestoßen.26
4. Der häufige Verweis auf Moses Mendelssohn und insbesondere auf Gotthold Ephraim Lessing hatte bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu dieser gewissen ideologischen Überformung der Emanzipationsfrage geführt. Immer wieder wird Lessing mit seiner Ringparabel Nathan der Weise aus dem Jahre 1779 herangezogen.27 Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Bereits 1754 hatte Lessing in seinem Lustspiel Die Juden einen »edlen Juden« als Hauptperson gestaltet, der allen Vorurteilen mit Toleranz und Menschlichkeit begegnete.28 Es war für die Zeitgenossen kein Geheimnis, 25 Vgl. M. Zimmermann, Aufklärung, Emanzipation, Selbstemanzipation, in: K. Gründer/N. Rothenstreich (Hrsg.), Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht, 1990, S. 143 ff.; A. Funkenstein, Das Verhältnis der jüdischen Aufklärung zur mittelalterlichen jüdischen Philosophie, in: K. Gründer/N. Rothenstreich (Hrsg.), Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht, 1990, S. 13 ff.; C. Schulte, Die Jüdische Aufklärung, 2002. 26 Vgl. I. Freund, David Friedländer und die politische Emanzipation der Juden in Preußen, Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 6 (1936) Nr. 2, S. 77 ff.; S. M. Lowenstein, The Jewishness of David Friedländer and the crisis of Berlin Jewry. Ramat-Gan [Israel], 1994; vgl. auch M. Graetz, in: M. Breuer/M. Graetz, Deutsch-Jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd. I, S. 324 ff.; A. Herzig, Die ersten Emanzipationsbestrebungen im Zeitalter Napoleons, in: P. Freimark/A. Jankowski/I. Lorenz (Hrsg.), Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung, 1991, S. 130 ff. 27 Hierzu kritisch K. L. Berghahn, Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung, 2001; vgl. weiterführend Karl S. Guthke, Lessings Horizonte. Grenzen und Grenzlosigkeit der Toleranz, 2003; A. Overath/N. Kermani/R. Schindel, Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings »Märchen vom Ring« im Jahre 2003, 2003; vgl. auch M. Lutz-Bachmann/A. Fidora (Hrsg.), Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter, 2004; G. Stemberger, Lessings »Nathan« und das Neue Testament, Evangelische Theologie (EvTh) 56 (1996), S. 44 ff.Vgl. auch G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, [anonym], Braunschweig – 1777; [anonym], Berlin – 1777 (Erstausgabe). 28 G. E. Lessing, Die Juden. Ein Lustspiel in einem Aufzuge. Verfertigt im Jahre 1749, erschienen erst 1754. Lessing, der »Die Juden« als Zwanzigjähriger schrieb, antwortete in dem Jahr der Aufführung: »Noch alsdann, wenn mein Reisender ein Christ wäre, würde sein Cha-
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daß Lessing damit Moses Mendelssohn meinte. Man darf auch annehmen, daß in der literarischen Szene Berlins dieses Bild der verständnisvollen religiösen Toleranz ein Gegenstand eifriger Diskussion war. Mendelssohn selbst trug das Seinige dazu bei, als er in seiner 1783 erschienenen Abhandlung Jerusalem, oder die religiöse Macht und das Judenthum eine Art staatsrechtlich konstituierten und zu tolerierenden Pluralismus forderte und gerade in der gleichzeitig möglichen Mannigfaltigkeit Plan und Endzweck der göttlichen Vorsehung zu begreifen suchte.29 Die confessio judaica Mendelssohns ist eine theoretisch fundierte Abhandlung über das richtige Verhältnis von Staat und Religion. Von Kant, Garve und Herder bewundert, wurde sie in kürzester Zeit neben Lessings Nathan der Weise zur meistdiskutierten Toleranzschrift dieser Zeit. Aber darf man daraus folgern, daß die treibenden politischen Kräfte sich von dieser Debatte um eine religiöse Toleranz wirklich leiten ließen? Natürlich forderte Mendelssohn Glaubensfreiheit vom Staat und Gewissensfreiheit von der christlichen Kirche und er beteiligte sich aktiv an der in diesen Jahren geführten Toleranzdebatte. Gleichzeitig war er die führende Gestalt in der innerjüdischen Aufklärung. Mendelssohn kämpfte also gleichsam für eine aufklärende Toleranz nach außen und nach innen. Aber man kann konkret nicht aufweisen, daß Mendelssohn deshalb in Preußen zu einer Tendenzwende beitrug. Der in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts von ihm und anderen geführte deutschjüdische Dialog war gewiß von hoffnungsvoller Prognose gewesen, aber verklärt leicht den Blick, darin bereits eine verwirklichte Toleranz zu sehen. Gegen die Dominanz eines christlich tradierten Antijudaismus vermochte dieser öffentlich geführte Dialog, die Aufklärung, die Vorurteilskritik mancher Philosophien und die Ansätze einer allgemeinen Volkserziehung letztlich nur wenig auszurichten.30 Was hier durch Lessing thematisiert wurde, war die Frage der religiösen Toleranz, keineswegs der politischen und der sozialen Toleranz. Die Romantifizierung eines »edlen« Juden verdeckte geradezu die prinzipiellere Frage nach einer integrierenden Anpassung der Juden einerseits und die Veränderung der dominant christlichen Gesellschaftsformen andererseits im Sinne einer plural gestalteten bürgerlichen Gesellschaft. Es war daher eher die Frage, wer sich eigentlich zu emanzipierakter sehr selten sein, und wenn das Selten bloß das Unwahrscheinliche ausmacht, auch sehr unwahrscheinlich...« Vgl. weiterführend D. Arendt, Gotthold Ephraim Lessing. Nathan der Weise. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas, 1998. 29 Vgl. M. Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Mit dem Vorwort zu Manasse ben Israels »Rettung der Juden« und dem Entwurf zu »Jerusalem«, hrsg. v. M. Albrecht, 2005. Vgl. dazu M. Albrecht, Moses Mendelssohn. Judentum und Aufklärung. In: Philosophen des 18. Jahrhunderts. Eine Einführung, hrsg. v. L. Kreimendahl, 2000, S. 209 ff. 30 Vgl. die insoweit beißende Kritik bei I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1783], Akademie-Ausgabe VIII, S. 33 ff.
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ren hatte: Die Juden als randständige Gruppe oder das nicht-jüdische Umfeld? Gleichwohl zog der dominierende religiöse Toleranzanspruch den bisher unangefochtenen Absolutheitsanspruch der christlichen Religion in Zweifel und sollte auch in Zweifel gezogen werden. Denn dieser Anspruch setzt zwangsläufig eine gegen Juden gerichtete Abgrenzung und Ablehnung voraus. Insoweit bedingte die von Dohm geforderte Änderung zugleich eine Entkonfessionalisierung des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft. Daß dies möglicherweise eine Erosion religiöser Oligopole bedingen konnte, wagte Dohm vermutlich kaum zu denken, geschweige denn als Voraussetzung für eine »bürgerliche Verbesserung der Juden« öffentlich zu fordern.31 Diese Beurteilung schließt die externe Annahme nicht aus, daß auch Dohm unter dem Einfluß des allgemeinen Erziehungsgedankens der Aufklärung stand, und zwar ohne daß er, anders eher Lessing, das religiöse Bewußtsein der Menschheit als einer geschichtlichen oder heilsgeschichtlichen Entwicklung unterworfen angesehen hätte. Es gehört ferner zu einer verbreiteten Legende, daß die hier skizzierte erste Phase dessen, was man erst später Emanzipation der deutschen Juden nannte, durch Gedanken einer ethisch und humanitär verstandenen Toleranz ausgelöst wurde. Die Phase der frühen Aufklärung wird leicht mit einer ethisch motivierten und religiösen Toleranz gleichgesetzt. Das ist stark verkürzend. Bei genauerer Betrachtung lagen die Zielsetzungen einer ethischen und einer aufklärerischen Toleranz keineswegs stets vor. Ebenfalls zu einer verbreiteten Legendenbildung gehört es, daß die deutsche Philosophie der Aufklärung mehr oder minder durchgehend einer Emanzipation der Juden grundsätzlich positiv oder doch wohlwollend bis tolerant gegenüberstand. Das ist ein Irrtum.32 Vielmehr wird eine vielfältige Kritik geführt an den religiösen, kulturellen und geistigen Grundlagen des Judentums, an der jüdischen Religion selbst und der aus ihr entwickelten jüdischen Philosophie und an den angeblich stereotypen Verhaltensweisen und Persönlichkeitsund Charaktermerkmalen der Juden. Das gilt selbst von Jean-Jacques Rousseau, der in dieser Zeit als einer der engagiertesten Verfechter des Toleranzgedankens gilt. Auf der konkreten Ebene vermochte auch der durch die philosophische Aufklärung begründete Universalismus und das damit ver-
31 Vgl. U. Wyrwa, Die Emanzipation der Juden in Europa, in: E.-V. Kotowski/J. H. Schoeps/H. Wallenborn (Hrsg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, 2001, S. 336 ff. 32 Vgl. Nachweise etwa bei M. Brumlik, Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, 2000; G. Hentges, Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und »Wilden« in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, 1999; H. Gronke/Th. Meyer/B. Neisser (Hrsg.), Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung, 2001.
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bundene Prinzip der materiellen Gleichheit aller Menschen offensichtlich zeitbedingte Konzessionen zu machen. Es spricht viel für die Annahme, daß Kant, aber später auch Fichte und andere bereits in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts die gesamte Debatte über eine jüdische Gleichstellung auf ein Religionsproblem und bei der Präponderanz der christlichen Kirchen auf eine Duldung, also auf eine Toleranz im engeren Sinne, reduziert haben.33
5. Christian Wilhelm Dohm und mit ihm weite Teile des höheren preußischen Beamtentums sahen die sog. Judenfrage grundlegend anders. Sie leugneten nicht, daß es auch moralische und humanitäre Aspekte gebe, die nach einer Gleichbehandlung der Juden verlangten. Der Gedanke eines interreligiösen, und zwar kollektiv geführten Dialoges, wie man es heute modern formulieren würde, war für sie außerhalb jeder Perspektive gesellschaftlicher Entwicklung. Dies entsprach nahezu spiegelbildlich dem Desinteresse der Juden an einer derartigen Sichtweise. Dazu muß man sich der sozio-demographischen Struktur der jüdischen Gemeinschaft vergewissern, um die Realitätsferne der teilweise abgehobenen, ja fast elitären Sichtweise einer früh-emanzipatorischen Zielsetzung zu erfassen. Vor 1800 gehören etwa 1-2% der deutschen Juden der Oberschicht an. Dagegen sind etwa 70-75% sog. Bettel- und Elendsjuden.34 In fast moderner soziologischer Analyse konstatierte Dohm, erst die bisherigen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse hätten zu dieser Sonderung der Juden geführt. Es seien die Fehler der bisherigen Regierungen gewesen, welche die trennenden Grundsätze von Christen und Juden hergestellt hätten. Die Politik dieser Regierungen bezeichnete Dohm als »ein Überbleibsel der Barbarei der verflossenen Jahrhunderte, eine Wirkung fanatischen Religionshasses, die der Aufklärung unserer Zeit unwürdig, durch dieselbe längst hätte getilgt werden sollen«.35 33 Vgl. Berghahn, Grenzen der Toleranz (Fn. 27), S. 183 ff.; ähnlich die Übersichtsrezension von U. Homann, Nicht immer waren die deutschen Philosophen Juden wohlgesonnen. Bücher über judenfeindliche Tendenzen der Aufklärung, in: Philosophischer Literaturanzeiger 55 (2002), H. 2, S. 193 ff. 34 Im Jahre 1848 sind in Preußen 30 % dem Groß- und Mittelbürgertum und 25 % dem Kleinbürgertum zuzurechnen; etwa 40 % der deutschen Juden lebten immer noch am oder unter dem Existenzminimum, vgl. J. Toury, Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847-1871, 1977, S. 100 ff.; Gegen Ende des 19. Jahrhunderts liegt die Zahl der »Unterschichtjuden« in Deutschland bei etwa 5 %. 35 Chr. W. (v.) Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin/Stettin, 1781, Bd. I, S. 34; vgl. weiterführend M. Brumlik, Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, 2000; einen Gesamtüberblick gibt A. Wierlacher (Hrsg.), Kulturthema Toleranz. Zur Grundlegung einer interdisziplinären und interkulturellen Toleranzforschung, 1996.
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Im Sinne der deutschen Aufklärung dieser Zeit, welche Mißstände grundsätzlich auf vernunftwidrige äußere Umstände zurückzuführen geneigt war, forderte Dohm als getreulicher Anhänger von Christian Wolff, den Juden die Möglichkeit der »Verbesserung« durch eine möglichst umfassende Gleichberechtigung zu eröffnen. Dann werde man sehen, ob die Juden gewissermaßen nützliche Glieder der bürgerlichen Gesellschaft werden würden. »Der Jude ist noch mehr Mensch als Jude, und wie wäre es möglich, daß er einen Staat nicht lieben sollte, in dem er ein freyes Eigenthum erwerben, und desselben frey geniessen könnte, wo seine Abgaben nicht größer als die andrer Bürger wären, und wo auch von ihm Ehre und Achtung erworben werden könnte?«36 Das alles sollte – daran ließen Dohm und andere keinen Zweifel – unter Führung und Autorität des Staates geschehen, der als Hüter und Diener der bürgerlichen Gesellschaft gesehen wurde.37 Werde diese utilitaristisch motivierte Hoffnung enttäuscht, so werde man, so sah es auch Dohm, die Juden wegen fehlender Integrationswilligkeit des Landes verweisen müssen.38 Das hatte durchaus eine gewisse Ähnlichkeit zum Antisemitismus des späten Luther.39 Es sollte also ganz bewußt ein staatlich gelenkter Konformitätsdruck ausgelöst werden. Die Juden sollten ausdrücklich als nützlich in eine merkantilistische Wirtschaftspolitik einbezogen werden. Das bedingte eine individuelle Handlungsautonomie des einzelnen Juden. Dabei diente als Referenzgruppe unverändert die christlich-bürgerliche Gesellschaft, die zu diesem Zeitpunkt einen theologischen Pluralismus nicht einmal im Ansatz erkennen ließ. Dohm entwickelte mithin nicht ein religiöses oder sozialethisches, sondern zuvörderst ein politisches Programm. Dieses enthielt neun Forderungen. Er nannte es »Ideen, wie die Juden glücklichere und bessere Glieder der bürgerlichen Gesellschaft werden könnten«.40 Danach sollten die Juden u. a. die gleichen Rechte wie alle anderen Untertanen eines Landes haben, die Freiheit der Berufswahl und den Zugang zum Ackerbau erhalten. Ihnen sollte schließlich die freie Religionsausübung gewährt sein. Tatsächlich stellt das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 ein gutes Jahrzehnt später einen ersten wichtigen Schritt dar, um die Juden in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Wesentliche Teile der traditionellen jüdischen Rechtsautonomie wurden beseitigt. Dies sollten erste Schritte sein. 36 Dohm, Bürgerliche Verbesserung (Fn. 35), Bd. I, S. 7 ff. 37 Vgl. Rürup, Emanzipation (Fn. 18), S. 20 mit Verweis auf R. Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815-1848, in: W. Conze (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848, 1962 (2. Aufl. 1970), S. 79 ff. [81]. 38 Dohm, Bürgerliche Verbesserung (Fn. 35), Bd. II, S. 242; vgl. auch Bruer, Geschichte der Juden (Fn. 5), S. 64. 39 M. Luther, Von den Juden und ihren Lügen, 1543. 40 Dohm, Bürgerliche Verbesserung (Fn. 35), Bd. I, S.109 ff.
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Weitere Rechtsgewährungen sollten vom jeweils erreichten Stand der Normalisierung der Juden abhängig sein. Obwohl diesen Zustand jüdische und nicht-jüdische Aufklärer und Reformer als einen wichtigen Etappensieg in der Lösung der sog. Judenfrage ansahen, wurde diese Entwicklung, namentlich von der jüdischen Orthodoxie, als eine neue Form der Bedrohung empfunden. Die jüdische Orthodoxie stand den beschwichtigenden Worten, etwa des sich bildenden Reformjudentums, man wolle keine Assimilation, sondern nur angemessene Bedingungen zur Akkulturation erreichen, durchgehend ablehnend, zumindest äußerst skeptisch gegenüber.41 Bei einer objektiven Betrachtung waren die reformerischen Fortschritte letztlich gering. Sie brachen in Preußen nahezu vollständig ab, als das Land in die Auseinandersetzungen mit dem napoleonischen Frankreich gezwungen wurde. Tatsächlich war das Konzept von Dohm und anderen ohnedies verwässert gewesen. Denn nur ein vom Staat kontrolliertes System von Vorgaben und Begrenzungen sollte die gewünschte soziale und bürgerliche Verbindung von Christen und Juden gewährleisten. Das alles sollte ein langfristiger Erziehungsprozeß sein. Die Vorstellung eines säkularisierten Gesellschaftssystems mit einer Neutralisierung des Konfessionellen lag außerhalb einer konzeptionellen Gedankenführung. Seit der Französischen Revolution und mit der Französischen Revolution als Schibboleth verlief die Geschichte der Juden in Frankreich und die der Juden in Deutschland gegenläufig. Denn dort folgten auf die staatsbürgerliche Gleichberechtigung durch die Revolution die gesellschaftliche Integration und die bildungsbürgerliche Akkulturation des Juden zum Israélite français. An die Radikalität der Franzosen, deren Nationalversammlung 1791 den Juden sofort und unbedingt die volle und uneingeschränkte Gleichstellung gesetzlich zugestanden hatte, war in Deutschland nicht zu denken.42 Das christliche Weltbild blieb auch für die preußischen Reformer die Leitkultur. Ihm hatten sich die Juden anzupassen. Als Grundsatz galt die Anpassung an die Werte des Bürgertums, wie sich diese seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hatten. Das Judentum sollte sich nach eigenen Vorgaben in seinem religiösen wie sozialen und kulturellen Selbstverständnis anpassen (akkulturieren), ohne dabei aber seine eigene Kultur aufzugeben. Dessen Kernbestand schien indes von außen, d.h. gerade von dem nicht-jüdischen Umfeld bestimmt zu sein. Von einer revolutionären Forderung und ihrer Umsetzung in Liberté, Egalité, 41 Vgl. M. Breuer, Jüdische Orthodoxie im deutschen Reich 1871-1918. Die Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, 1986, S. 34 ff., 255 ff.; P. P. Gründwald, Eine jüdische Offenbarungslehre Samson Raphael Hirsch, Bern/Frankfurt/M., 1977; vgl. ferner Battenberg, Das Europäische Zeitalter (Fn. 5), S. 159 ff. 42 Vgl. Historische Kommission für Westfalen (Hrsg.), Jüdische Quellen zur Reform und Akkulturation der Juden in Westfalen, bearb. von A. Herzig, 2005.
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Fraternité, welche auch den Juden zugute kommen sollte, war man auch in dem von Österreich geführten Kaiserreich noch weit entfernt. Für Dohm und andere, die über gesellschaftliche Strukturen eines vom Staat geleiteten Wohlfahrtstaates nachdachten, war es ein kaum bezweifelter Befund, daß eine nicht angepaßte Judenschaft eine soziale Destabilisierung des Gesamtsystems bedeuten könnte.43 Aus diesem Grunde müßten die Juden an die allgemeine Gesellschaft herangeführt und letztlich integriert werden. Ließ sich diese Zielsetzung auch mit Hilfe von Vorstellungen einer religiös oder aufklärerisch motivierten Toleranz begründen, war dies zur Realisierung zwar hilfreich, aber letztlich nicht bestimmend. Immer wieder wurde die Frage gestellt, ob denn die Juden überhaupt »reif« seien, Staatsbürger zu werden, obwohl dieser Status nach Begriff und Inhalt seinerseits kaum präzise war.44 Nach den beiden polnischen Teilungen 1793 und 1795 vergrößerte sich die Zahl der Juden unter preußischer Herrschaft schlagartig. 180 000 von insgesamt 220 000 lebten in den neuen Provinzen. Der von einwanderungswilligen Juden aus dem russischen Teil Polens ausgeübte Bevölkerungsdruck wurde dann auch einer der wichtigsten politischen Beweggründe, der zunehmend die preußische Führung von der Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der die Juden betreffenden Rechtsverhältnisse überzeugte.
II. Die Zwischenphase der Emanzipation 1812/1815 1. Am 11. März 1812 wurde in Preußen das Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in den Preußischen Staaten publiziert.45 Die Präambel des Ediktes vermerkte, daß Friedrich Wilhelm III. beschlossen habe, 43 Vgl. auch K. Schreiner, Toleranz, in: O. Brunner u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, 1990, S. 445 ff. 44 Vgl. D. Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, 2001; ders., Staatsangehörigkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, in: J. Kocka/C. Conrad (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten, 2001, S. 48 ff. 45 Zur Entstehung des Ediktes vgl. A. Stern, Die Entstehung des Ediktes vom 11. März 1812, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem preußischen Staat, in: ders., Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit 1807-1815, Leipzig 1855, S. 225 ff.; S. Hartmann, Die Bedeutung des Hardenbergschen Edikts von 1812 für den Emanzipationsprozeß der preußischen Juden im 19. Jahrhundert, in: B. Sösemann (Hrsg.), Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen, 1993.
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»den jüdischen Glaubensgenossen in Unserer Monarchie eine neue, der allgemeinen Wohlfahrt angemessene Verfassung zu ertheilen und erklären alle bisherige, durch das gegenwärtige Edikt nicht bestätigte Gesetze und Vorschriften für die Juden für aufgehoben«.46 Maßgebend war für dieses Edikt der Staatskanzler Karl August Freiherr von Hardenberg (1750-1822). Das Edikt betraf nur 70.000 Juden in Preußen, nach anderen Schätzungen nur 30.000, keineswegs alle. Die ein Jahr zuvor eingeführte allgemeine Gewerbefreiheit galt jetzt auch für sie. Ihnen war der Zugang zu kommunalen und akademischen Ämtern möglich. In den Staatsdienst bei Verwaltung, Justiz und Militär konnten die preußischen Juden dagegen nicht eintreten.47 Das war nur erlaubt, wenn sie zuvor konvertiert waren. Eine Toleranz gab es hier nicht. In jedem Falle verlangte diese offizielle Version der Toleranz von den preußischen Juden, daß sie sich charakteristischer Überreste ihrer Gruppenidentität entledigen mußten, um den Eintritt in die gesellschaftliche Normalität zu erreichen. Die Juden mußten sich in Sprache, jiddisch wurde weitgehend aufgegeben, in Kleidung und in Bildung dem nicht-jüdischen Umfeld anpassen. Die nunmehr Emanzipation genannte Gleichstellung bestand also nicht in einer inhaltlichen Öffnung der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft, indem parallele Handlungsmuster als gleichberechtigt angesehen werden konnten, sondern in einem von Staats wegen inaugurierten und kontrollierten Anpassungsprozeß. Das alles näherte sich funktional stark einer sozial geforderten materiellen Konversion. Diese blieb nur deshalb formal aus, weil gleichzeitig im christlichen Bereich eine deutliche Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft zu Säkularisierung eintrat. Das politisch gewollte Ziel war – wie es Dohm eine Generation zuvor postuliert hatte – die soziale und ökonomische Durchlässigkeit der »bürgerlichen Gesellschaft« und ihre darauf beruhende potentielle Homogenität. Aber im Gegensatz zur französischen Emanzipationspolitik der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts setzte man in Deutschland die Ziele einer »Emanzipation« der Juden nur im Modell eines staatlich gelenkten Erziehungsprozesses fort. Die erfolgreiche Emanzipation der Juden stand in Deutschland also nicht am Anfang, sondern war durchgehend als eine Endstufe gesellschaftlicher Entwicklungen konzipiert. Das immer noch bestehende obrigkeitliche Staatsverständnis forderte dazu, daß allein der Staat Träger des sozialen, ökonomischen und humanitären Fortschritts zu sein hatte. Vergröbernd ließe sich sagen, daß man die Emanzipation der Juden nur schrittweise zulassen wollte und sie keineswegs humanitärer Selbstzweck sein 46 Preußische Gesetz-Sammlung 1812, S. 17, abgedruckt bei E. R. Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl. 1978, S. 49 ff. 47 Vgl. R. Rürup, Die Emanzipation der Juden und die verzögerte Öffnung der juristischen Berufe, in: H. Heinrichs (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 1 ff.
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sollte. Der Nachweis ist leicht zu führen, daß auch das Hardenberg´sche Edikt von 1812 nur recht bedingt aus einem aufklärerischen Geist der Toleranz geboren wurde, mochte auch Hardenberg, hierin begleitet durch Wilhelm von Humboldt, persönlich für eine umfassende Gleichstellung der Juden auch aus Gründen einer religiös verstandenen Toleranz eintreten.48 Er fand keine Gefolgschaft. Unverändert blieb auch jetzt noch das wichtigste Motiv der »Besserstellung« der Juden die Steigerung der Leistungsfähigkeit von Staat und Gesellschaft.49 Daher müsse der Staat den Absonderungsgeist der Juden durch Verhinderung ihrer selbst gewählten sozialen und rechtlichen Ghettoisierung, durch Zerstörung ihrer religiös-gemeindlichen Organisationen und durch Verschmelzung mit dem nicht-jüdischen Umfeld beseitigen. Das Hardenberg´sche Edikt von 1812 muß daher vor dem Hintergrund der preußischen Reformzeit verstanden werden. Die Judenemanzipation des Jahres 1812 war Teil eines großen Reformwerkes der preußischen Bürokratie. Nach den verlorenen Schlachten von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 und der napoleonisch-französischen Dominanz auf dem westeuropäischen Kontinent setzte in Preußen im Herbst 1807 eine umfassende Reformbewegung ein, die den seit längerem bestehenden nachfriederizianischen Reformstau aufzulösen suchte.50 Der grundlegende Gedanke, wie ihn auch der durchaus konservative, den Juden keineswegs wohlwollende Karl vom und zum Stein (1757-1831) vertrat, war der politischen Ökonomie von Adam Smith (1723-1790) entnommen. Der englische Wohlfahrtsstaat galt auf dem Kontinent in seiner ökonomischen Prosperität als außerordentlich erfolgreich. Maßgebender Baustein war danach, davon waren die reformwilligen preußischen Beamten überzeugt, das autonom handlungsfähige, emanzipierte Individuum. Das entsprach zudem einer naturrechtlich fundierten Sozialtheorie, wie sie in Ansätzen bei Christian Wolff zwei Generationen zuvor entwickelt worden war und die als Legitimationsbasis, soweit diese überhaupt benötigt wurde, dienen konnte. Auf dieser Grundlage setzte die preußische Reformbürokratie eine Konsolidierung der Staatsfinanzen, eine Neuregelung der Verwaltung, eine durchgehende Revision der Kommunalverfassung im Sinne einer maßgebenden Selbstverwaltung, eine Heeresreform, eine Bauernbefreiung und die Einführung einer tatsächlich umfassen48 Vgl. I. Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812, 1912, Bd. 2, S. 169 ff.; vgl. ferner Katz, Ghetto (Fn. 8), S. 188 f.; M. Richarz, Der Eintritt der deutschen Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678-1848, 1974, S. 97 ff. 49 Bruer, Geschichte der Juden (Fn. 5), S. 257 ff. 50 Ähnlich H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700-1815, Bd. 1, 1987, S. 407 f.; Bruer, Geschichte der Juden (Fn. 5), S. 257.
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den, von Vorgaben der Stände emanzipierten Gewerbefreiheit in kürzester Zeit durch. Etwa um 1808 war das Reformwerk nahezu abgeschlossen. Wiederum war die Frage der Emanzipation der Juden vor dem Hintergrund einer aufgeklärt-etatistischen Konzeption und zum Vorteil eigener staatlicher Effizienz beantwortet worden, gleichsam als eine Abwandlung der seinerzeitigen Sichtweise von Christian Wilhelm Dohm, nicht so sehr aus liberal-toleranter Einsicht, mochte man sich damit damals und heute auch gerne schmücken.51 In dieses Reformwerk gehörte, gewiß am Ende stehend, auch das Edikt von 1812. Die Juden wurden, vereinfacht gesagt, zu einem Bestandteil des preußischen Modernisierungsprogramms erklärt. Die Sicht der auf Reformarbeit gerichteten preußischen Bürokratie war es, die Juden als engagierte und dankbare Neubürger – das Edikt spricht von »Einländern« – in den Staat zu integrieren, um von ihren Leistungen zu profitieren. Ein derartiges Konzept verband sich mit zwei als vorteilhaft angesehenen Nebenwirkungen. Zum einen konnten die Juden aus ihrem randständigen Status einer inferioren Klasse zugunsten einer allgemeinen bürgerlichen Gesellschaft herausgeführt und diese in ihrer auf Leistung bezogenen Durchlässigkeit zusätzlich legitimiert werden. Zum anderen diente die zu erreichende Abkehr der Juden von ihrer eigenen Kultur dem Postulat moderner Staatlichkeit, in dem es galt, jede religiös-kirchliche Bestimmtheit zugunsten einer staatlichen Effektivität im Sinne eines säkularisierten Staates zumindest zu mindern.52 Das preußische Edikt von 1812 war also in seiner Zielsetzung keineswegs von dem Grundgedanken der Toleranz getragen. Vielmehr waren es staatsbezogene Zweckmäßigkeitsgründe. Daß das Edikt von den preußischen Juden teilweise euphorisch begrüßt wurde, ändert daran nichts. Das Reformwerk war nicht zuletzt unter dem Legitimationsdruck zustande gekommen, den Reformvorstellungen auch der Französischen Revolution zumindest teilweise entgegenzukommen. Frankreich selbst hatte sich inzwischen indes von seinem ursprünglichen, liberal-revolutionären Emanzipationskurs entfernt.
51 Vgl. H. R. Yousefi/K. Fischer (Hrsg.), Interkulturelle Orientierung – Grundlegung des Toleranz-Dialogs, 2004; vgl. ferner J. Wienand, Nebeneinander – Miteinander – Füreinander. Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa. 3. Konstanzer Europakolloquium 2005, erschienen als: C. Augustin/J. Wienand/C. Winkler, Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa, 2006. 52 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: K. Doehring/W. Georg Grewe (Hrsg.), Säkularisation und Utopie. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 75 ff., erneut in: E.-W. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, S. 92 ff.
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2. Die staatsbezogenen Zweckmäßigkeitsgründe konnten sich ändern, oder jedenfalls die hierauf bezogene Sichtweise. Das Edikt von 1812 erbrachte auch keineswegs eine Rechtsgleichheit in jeglicher Hinsicht. Aktive politische Rechte und öffentlich-rechtliche Rechtspositionen hatte das Edikt den Juden nur eingeschränkt zugestanden. Noch blieb es also bei einem Sonderrecht. Antisemitische Strömungen waren vorhanden und wurden politisch wahrgenommen, wenn nicht sogar gefördert.53 Auch auf dem Wiener Kongreß konnten die Juden eine völlige rechtliche Gleichstellung nicht erreichen. Die wohlwollenden Initiativen von Hardenberg und auch von Metternich zugunsten der Juden scheiterten. Die Vertragsstaaten, die sich bereits in einer Restaurationsphase befanden, wollten in der sog. Judenfrage freie Hand haben und behalten. Die Frage der sozialen und politischen Toleranz gegenüber Juden, um deren Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft zu befördern, wurde wieder zunehmend negativ beantwortet. Auf eine gemeinsame Judenpolitik konnten sich die fast vierzig Staaten nicht einigen. In Art. 16 Abs. 2 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815 hieß es: »Die Bundesversammlung wird in Berathung ziehen, wie auf eine möglichst übereinstimmende Weise die bürgerliche Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens in Deutschland zu bewirken sey, und wie insonderheit denselben der Genuß der bürgerlichen Rechte gegen die Uebernahme aller Bürgerpflichten in den Bundesstaaten verschafft und gesichert werden könne; jedoch werden den Bekennern dieses Glaubens bis dahin dieselben von den einzelnen Bundesstaaten bereits eingeräumten Rechte erhalten«.54
Das im letzten Halbsatz enthaltene Wörtchen »von« wurde alsbald dahin verstanden, daß nur solche rechtliche Regelungen Bestand haben sollten, die von einer seinerzeit legitimen Regierung erlassen worden waren. Das war bei den Vasallenstaaten Napoleons, namentlich dem Königreich Westfalen, nicht der Fall gewesen. Die emanzipatorische französische Gesetzgebung sollte beseitigt, jedenfalls nicht fortgesetzt werden. Erfüllt wurde die kom53 Vgl. etwa exemplarisch bereits K. W. F. Grattenauer, Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden. Stimmen eines Kosmopoliten (1791), der 1791 eine Entfernung der Juden aus dem Reich gefordert hatte; J. F. Fries, Über die Gefährdung des Wohlstands und des Charakters der Deutschen durch die Juden, Heidelberg, 1816; F. Rühs, Die Rechte des Christenthums und des deutschen Volks, vertheidigt gegen die Ansprüche der Juden und ihrer Verfechter, 1816; weiterführend L. Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. V, 1983, S. 199 ff.; materialreich F. Kobler (Hrsg.), Juden und Judentum in deutschen Briefen aus drei Jahrhunderten, 1984 (Nachdruck, zuerst Wien, 1933). 54 Abgedruckt bei Huber, Dokumente deutscher Verfassungsgeschichte (Fn. 46), S. 84 ff.
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promißhafte Zusage des Art. 16 Abs. 2 der Bundesakte zu keinem Zeitpunkt. Die noch als gegeben angenommene religiöse Homogenität sollte die fehlende nationale Identität gerade substituieren. Die Lage nach dem Wiener Kongreß war für die Juden, insbesondere für ihren aufgeklärten Teil, ein herber Rückschlag. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein galten in Preußen seit 1815 insgesamt 22 verschiedene Regelungen, die den Status eines Juden näher bestimmten. Das Edikt von 1812 selbst galt nur in den preußischen Provinzen Mark Brandenburg, Schlesien, Pommern und Ostpreußen, war also in seiner territorialen Ausdehnung ohnedies stark begrenzt.55 Die preußischen Juden mußten sich bitter getäuscht sehen. Denn vor allem die städtischen Juden hatten seit den Worten von Moses Mendelssohn in einem starken Maße einen innerjüdischen Reformprozeß in der Annäherung an das nicht-jüdische Umfeld durchlaufen, der durchaus die Gefahr des Schisma des deutschen Judentums in sich barg.56 Tatsächlich gewannen seit der Mitte der 20er Jahre im Zuge der politischen Restauration diejenigen wieder die Oberhand, welche einer Emanzipation der Juden nicht nur kritisch, sondern geradezu feindselig gegenüberstanden.57 Die erste Phase der Judenemanzipation nebst der skizzierten Zwischenphase war damit um 1815 beendet. Von einer aufklärerisch gebotenen Toleranz war nichts zu bemerken, sie gab es nicht. Auch nicht-jüdische Fürsprecher mit politischem Gewicht gab es nicht mehr, im Gegenteil, eine emanzipationsfeindliche Stimmung, auch in der Öffentlichkeit, nahm zu.58 Die Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere die Landbevölkerung, war in einem erheblichen Maße emanzipationsfeindlich und stand gleichsam in der Kontinuität tradierter Vorurteile. Daß die sog. Judenfrage andererseits unverändert im öffentlichen Interesse stand, hatte für die Juden daher kaum einen Vorteil, sondern begründete nicht selten eine isolierende, der allmählichen Eingliederung der Juden gerade entgegengesetzte Tendenz der öffentlichen Meinungsbildung. In den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts mehrten 55 Bruer, Geschichte der Juden (Fn. 5), S. 325 ff.; S. Zittartz-Weber, Zwischen Religion und Staat. Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815-1871, 2003. 56 Vgl. A. Funkenstein, Reform und Geschichte: Die Modernisierung des deutschen Judentums, in: Sh. Volkov (Hrsg.), Deutsche Juden und die Moderne, 1994, S. 1 ff.; Sh. Volkov, Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland, Historische Zeitschrift (HZ) 253 (1991), S. 603 ff.; A. Brämer, Judentum und religiöse Reform: der Hamburger Israelitische Tempel 1817-1938, 2000. 57 Vgl. Bruer, Geschichte der Juden (Fn. 5), S. 333 ff., hinsichtlich Preußen; vgl. auch E. Hamburger, One Hundred Years of Emancipation, in: Leo Baeck Institute Yearbook 1969, S. 3 ff. 58 Vgl. D. Preissler, Frühantisemitismus in der Freien Stadt Frankfurt und im Groß-Herzogtum Hessen (1810 bis 1860), 1989, S. 61 ff.; R. Erb/W. Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780-1860, 1989, S. 86 ff.
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sich antijüdische Exzesse.59 Gegen sie schritt die staatliche Macht nicht ein. An eine durch politische Autorität verordnete Toleranz zugunsten der Freisetzung emanzipatorischer Kräfte war angesichts einer christlich geprägten, teilweise romantisierenden Staatsidee dieser Jahre nicht ernsthaft zu denken.60 Das den Juden im Edikt von 1812 zugesprochene Recht zur Bekleidung akademischer Lehr- und Schulämter wurde 1822 »wegen der bei der Ausführung sich zeigenden Mißverhältnisse aufgehoben«. Die Ausübung von Gemeindeämtern, die den Juden nach der Städteordnung und dem Edikt von 1812 gestattet war und die sie seitdem fast 20 Jahre lang wahrgenommen hatten, wurde durch die revidierte preußische Städteordnung von 1831 dahingehend eingeschränkt, daß zu Bürgermeistern und Oberbürgermeistern »nur diejenigen befähigt« seien, die »sich zur christlichen Religion bekennen«. 1835 wurden die Juden in Preußen vom Schiedsamt ausgeschlossen, da die »jüdischen Staatsbürger« von der Verwaltung richterlicher Ämter gesetzlich ausgeschlossen wurden. Vom Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1840 erhofften sich viele preußische Juden einen Fortschritt in der Judenemanzipation. Das Selbstbewußtsein der Juden war in den letzten Jahren gewachsen, sie verstanden sich als loyale preußisch-deutsche Staatsbürger und hofften, daß Friedrich Wilhelm IV. nun die rechtliche Gleichstellung vollziehen werde. Sie wurden von der Kabinettsordre vom 13. Dezember 1841 schwer enttäuscht. In seiner Odre hatte der König seine 59 Vgl. zeitgenössisch E. Meyer, Gegen L. Börne, den Wahrheits-, Recht- und Ehrvergessenen Briefsteller aus Paris, Altona, 1831; ders., Nachträge zu der Beurtheilung der Börn´schen Briefe aus Paris (1832); Meyer verneinte in beiden Pamphleten gegen Ludwig Börne jede »Besserungsmöglichkeit« der Juden; vgl. hierzu G. Riesser, Börne und die Juden. Ein Wort der Erwiderung auf die Flugschrift des Herrn Dr. Eduard Meyer gegen Börne, Altenburg, 1832; zur Hep-Hep-Bewegung (1819, 1835). Vgl. dazu u.a. H. Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, 1988, S. 66 ff.; J. Katz, Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819, 1994; Erb/Bergmann, Judenemanzipation (Fn. 58), S. 218 ff.; St. Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815-1948/59), 1993; E. Sterling, Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815-1850), 1969, 171 ff.; Preissler, Frühantisemitismus (Fn. 58), 1989, S. 349 ff.; Battenberg, Das Europäisches Zeitalter (Fn. 5), S. 123 ff.; N. Hortitz, »Früh-Antisemitismus« in Deutschland (1789-1871/72). Strukturelle Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation, 1988, S. 55 ff.; M. Zimmermann, Antijüdischer Sozialprotest? Proteste von Unter- und Mittelschichten 1819-1835, in: A. Herzig/D. Langewiesche/A. Sywottek (Hrsg.), Arbeiter in Hamburg, 1983, S. 89 ff. (2. Aufl. 2000). 60 Vgl. G. F. W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin, 1822; J. v. Stahl, Der christliche Staat, Berlin, 1847; ders., Der Protestantismus als politisches Prinzip, Berlin, 1853; vgl. allg. H.-J. Wiegand, Das Vermächtnis Friedrich Julius Stahls. Ein Beitrag zur Geschichte konservativen Rechts- und Ordnungsdenkens, 1980; A. Nabrings, Der Einfluß Hegels auf die Lehre vom Staat bei Stahl, Der Staat 22 (1983), S. 169 ff.; H. Brandt (Hrsg.), Restauration und Frühliberalismus 1814-1840, 1979.
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staatstheoretischen Vorstellungen und die geplante Judenpolitik formuliert. Friedrich Wilhelm IV., dessen Weltbild stark vom Katholizismus und dem Glauben an das Gottesgnadentum seiner Herrschaft geprägt war, verstand die Juden nicht als Teil des preußischen Volkes, sondern sah in ihnen ein eigenes »Volk«, das sich durch seine Religionsverfassung seine nationale Eigentümlichkeit erhalten habe.
III. Zweite Emanzipationsphase 1848/49-1869/1871 1. Im Rückblick wird man feststellen müssen, daß das ständische Feudalzeitalter auf deutschem Boden etwa zwischen 1845 und 1850 endgültig endete. Die Zeitphase der sich dynamisch entwickelnden Industrialisierung und die Macht einer politisch agilen Volkssouveränität haben sehr unterschiedliche Beobachter wie Jacob Burckhardt (1818-1897[1868]) und Friedrich Engels (1820-1895[1878]) als eine Kulturschwelle beurteilt. Später hat man von einer deutschen Doppelrevolution gesprochen.61 Zögernde demokratische Veränderungen in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, später zumeist als Vormärz bezeichnet, waren erste Vorläufer. Es war geradezu unausweichlich, daß in dieser Umbruchphase die sog. Judenfrage wieder gestellt und erneut beantwortet werden mußte.62 Die Lage hatte sich inzwischen innerjüdisch deutlich verändert, teilweise auch reformjüdisch konsolidiert. Es darf in Erinnerung gebracht werden, daß im ausgehenden 18. Jahrhundert Autoren wie etwa Christian Wilhelm Dohm oder auch Mirabeau eine kritische Theorie über die Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen der allgegenwärtigen Judenfeindlichkeit entwickelt hatten.63 Nach ihrer Auffassung waren die Gründe für die Judenfeindlichkeit nicht bei den Juden selbst zu suchen, sondern in den sozialen, politischen und rechtlichen Bedingungen, unter denen Juden leben mußten. In der Umkehrung dieses sozialwirksamen Kausalverhältnisses hatten die Reformer die Möglichkeit gesehen, die sog. Judenfrage im Wege einer »Emanzipation«, d. h. durch eine positive Veränderung der sozialen Bedin-
61 Vgl. allg. H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1815-1845/49, Bd. 2, 1987, S. 585 ff. 62 Vgl. Toury, Geschichte der Juden (Fn. 34); S. Jersch-Wenzel, Rechtslage und Emanzipation, in: M. Brenner/S. Jersch-Wenzel/M. A. Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. II, 1996, S. 15-56; Brammer, Judenpolitik (Fn. 10). 63 Zu Mirabeau (1749-1791) vgl. Battenberg, Das Europäische Zeitalter (Fn. 5), S. 97 ff.
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gungen jüdischer Existenz, zugunsten der bürgerlichen, eigentlich nichtständischen Gesellschaft zu beantworten.64 Diese These, mehr konnte es mangels korrekter empirischer Absicherung im ausgehenden 18. Jahrhundert kaum sein, fand im reformorientierten deutschen Judentum in dem jüdischen Juristen Gabriel Riesser (1806-1863) seit Anfang der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts einen exzellenten Vertreter.65 Die öffentlichkeitswirksame Tätigkeit Riessers, dem eine juristische Privatdozentur in Heidelberg und Jena versagt worden war, galt seit Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden in Deutschland. In zahlreichen Abhandlungen und Reden hatte er die Gleichheit der Juden gefordert.66 Tatsächlich trat in den 30er Jahren des 19. Jahrhundert eine »Verbürgerlichung« der deutschen Juden ein.67 Im Frühjahr 1848 war Riesser Mitglied des Frankfurter Vorparlaments, später Mitglied der deutschen Nationalversammlung der Paulskirche 1848/49, dort Ende 1848 einer der Vizepräsidenten. Riesser, für die Juden geradezu eine Lichtgestalt, war von ungewöhnlicher rhetorischer Begabung. Er hatte – schärfer als Dohm und andere – erkannt, daß eine soziale Emanzipation der Juden nur auf zwei Wegen überhaupt möglich sein konnte: Entweder wurde die Emanzipation durch eine soziale Anpassung der Juden an das nicht-jüdische Umfeld erreicht. Das war mit einer weitgehenden Aufgabe kultureller Identität und Integrität 64 Vgl. Rürup, Emanzipation (Fn. 18), S. 152.; R. Koselleck, The European Revolutions of 1848 and Jewish Emancipation – A Comment, in: W. E. Mosse/A. Pauckert (Hrsg.), Revolution and Evolution 1848 in German-Jewish History, 1981, S. 55 ff. 65 Zu Gabriel Riesser u.a. M. Zimmermann, Hamburgischer Patriotismus und deutscher Nationalismus, 1979, S. 36 ff., 106 ff., 172 ff.; W. Fiedler, Gabriel Riesser (1806-1863). Vom Kampf für die Emanzipation der Juden zur freiheitlichen deutschen Verfassung, in: H. Heinrichs u.a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 85 ff.; G. Arnsberg, Gabriel Riesser als deutsch-jüdischer Intellektueller und liberaler Ideologe, Menora 2 (1991), S. 81 ff., jeweils m. w. N.; R. Koch (Hrsg.), Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 – ein Handlexikon der Abgeordneten der deutschen verfassungsgebenden ReichsVersammlung, 1989, S. 338 f. 66 Etwa G. Riesser, Denkschrift über die bürgerlichen Verhältnisse der hamburgischen Israeliten zur Unterstützung von denselben an einen Hochedlen und Hochweisen Rath übergebenen Supplik, Hamburg, 1834. S. 78; G. Riesser, Über die Stellung der Bekenner des Mosaischen Glaubens in Deutschland. An die Deutschen aller Confessionen, Altona, 1. Aufl. 1830, 2. Aufl. 1831; ders., Vertheidigung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden gegen die Einwürfe des Herrn Dr. H. E. G. Paulus. Den gesetzgebenden Versammlungen gewidmet, Altona, 1831; ders., Die jüdische Nationalabsonderung nach Ursprung, Folgen und Besserungsmittel, 1831; ders., Kritische Beleuchtung der in den Jahren 1831 und 1832 in Deutschland vorgekommenen Ständischen Verhandlungen über die Emancipation der Juden, 1833; ders., Denkschrift an die hohe Badische Ständeversammlung, eingereicht von Badischen Bürgern israelitischer Religion zur Begründung ihrer Petition um völlige bürgerliche Gleichstellung, Heidelberg, 1833. 67 Vgl. Sh. Volkov, Die Verbürgerlichung der Juden. Eigenart und Paradigma, in: J. Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, 1995, S. 105 ff.
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der Juden verbunden. Die Juden blieben Objekt eines Erziehungsgedankens. Oder das nicht-jüdische Umfeld mußte sich umgekehrt ändern und im Sinne einer pluralen Gesellschaft auf der Grundlage entkonfessionalisierter Leitvorstellungen entwickelt werden. Das war – bei einer innerjüdischen Betrachtung – ein fundamentaler Strategiewechsel.68 Dieser konnte allerdings so lange keine hinreichende Aussicht auf Erfüllung haben, als die maßgebenden politischen Kräfte in den 20er und 30er Jahren einen reaktionären Kurs verfolgten. Riesser erkannte scharfsinnig, daß einer wirklichen Emanzipation der Juden im Sinne einer ethisch motivierten Toleranz unverändert der Ausschließlichkeitsanspruch des Christentums, dieser vielfach sogar staatskirchenrechtlich abgesichert, entgegenstand. Solange der Primat des Christentums letztlich unangefochten blieb, schien es kaum möglich zu sein, auf eine auf wechselseitige Toleranz aufbauende Gesellschaft zu hoffen. Das Wort des Apostels Paulus caritas omnia tolerat (1. Kor. 13, 7) schien wenig an Einsichten zu vermitteln. Die von Lessing, Mendelssohn und auch besonders von Kant inaugurierte »Vernunftsreligion« war am jeweiligen christlichen Vorverständnis weitgehend gescheitert.69 Riesser erkannte, daß die ersichtlich fortschreitende Säkularisierung die Umwelt der Juden und der Nichtjuden erfaßt hatte. Die Religion verlor zwar zunehmend ihre Stellung als lebensregelnde Macht bei Juden und bei Nichtjuden. Die jüdische Erziehung war von einer »weltlichen« bereits in starkem Maße verdrängt worden. Die Juden begannen auch aus eigenem Antrieb, sich ihrer als fremdländisch geltenden Gewohnheiten Stück für Stück zu entledigen. Sie verzichteten auf ihre mittelalterliche Kleidung, unter anderem den langen schwarzen Rock, sie stutzten sich den Bart, und sie begannen die deutsche Sprache zu lernen und sie auch zu benutzen.70 Aber solange ein christlich geprägtes Gesellschaftsverständnis dominant blieb oder jedenfalls als dominant galt, wurde eine gegenüber Juden geforderte Toleranz letztlich aus der Sicht einer herrschenden Gesellschaftsmehrheit, eben der christlichen, definiert, nicht indes als Ergebnis pluraler Ordnung verstanden. Die Juden wollten nicht »identisch«, sondern akkulturell und plural sein.71 68 Zu Ansätzen dieser Zielvorstellungen bei Riesser vgl. J. Berkemann, Dänischer Schutzjude oder emanzipierter hanseatischer Staatsbürger? Die Gutachtertätigkeit Gabriel Riessers als »Staatsrechtler« 1835, in: A. Brämer/S. Schüler-Springorum/M. Studemund-Halévy (Hrsg.), Aus den Quellen. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte. Festschrift für Ina Lorenz zum 65. Geburtstag, 2005, S. 176 ff. 69 Vgl. M. Mendelssohn, Phaedon oder die Unsterblichkeit der Seele, 1767; G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1789; I. Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793; ders., Streit der Fakultäten, 1787. 70 J. Toury, Deutsche Juden im Vormärz, Bulletin der LBI Nr. 29 (1956), S.65 ff., nimmt an, daß 1843 noch 55 % der deutschen Juden »noch nicht völlig in den Amalgamierungsprozeß einbezogen« waren. 71 Vgl. S. Hall, Die Frage der kulturellen Identität, in: ders. (Hrsg.), Rassismus und kulturelle Identität, 1994, S. 180 ff.; L. Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, 2000.
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Aus den sich anbahnenden Veränderungen sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Welt zog Riesser den strategischen Schluß, daß bei allen noch vorhandenen Unterschieden die Juden keine fremde Nation mehr seien, sondern längst sozial eingegliederte deutsche Bürger.72 Er forderte eine freiheitsbezogene Gleichberechtigung der Juden daher nicht, weil sie Juden seien und ihnen deshalb, wie jeder anderen Gruppe im Staat, eine Gleichstellung mit allen anderen Gruppen zukomme, sondern die deutschen Juden seien Deutsche, die sich allein durch ihre Konfession von anderen Deutschen, die eine andere Konfession hätten, unterschieden.73 Die tragfähige und rechtfertigende Unterscheidung liege nicht in rechtlichen oder sozialen Gegebenheiten, sondern ausschließlich auf der Ebene der Konfession. Die für diese Auffassung zu gewinnenden politischen Kräfte sah Riesser bei den Liberalen und bei den Demokraten.74 Um kräftige Worte war Riesser nicht verlegen. 1832 formulierte er, aus heutiger Sicht fast agitatorisch: »Wer mir den Anspruch auf mein deutsches Vaterland bestreitet, der bestreitet mir das Recht auf meine Gedanken, meine Gefühle, auf die Sprache, die ich rede, auf die Luft, die ich atme; darum muß ich mich gegen ihn wehren, wie gegen einen Mörder.«75
In den süddeutschen Parlamenten war die Frage einer Emanzipation der Juden durch rechtliche Gleichstellung zwar immer wieder Gegenstand öffentlicher Erörterungen.76 Einen Durchbruch gab es dennoch nicht. Der pragmatisch ausgerichtete Reformliberalismus der 30er Jahre scheute offenbar vor einer prinzipiellen Entscheidung zurück.77 Auch innerjüdisch war 72 Vgl. allg. M. Stolleis, Untertan-Bürger-Staatsbürger. Bemerkungen zur juristischen Terminologie im späten 18. Jahrhundert, in: R. Vierhaus (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, 1981, S.65 ff.; vgl. Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen (Fn. 44), S. 27 ff.; A. Fahrmeir, Nineteenth-Century German Citizenships: A Reconsideration, in: Historical Journal 40 (1997), S. 721 ff. 73 Vgl. weiterführend E.-W. Böckenförde, Die Nation – Identität in Differenz, in: Kr. Michalski (Hrsg.), Identität im Wandel, Bd. VI, 1995, S.129 ff.; M. Brenner, Vom Untertanen zum Bürger, in: ders./S. Jersch-Wenzel/M. A. Meyer, Deutsch-Jüdische Geschichte der Neuzeit, Bd. II, S. 260 ff.; E. Lindner, Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Ära bis zum Kaiserreich, 1997. 74 Vgl. weiterführend D. Langewiesche, Liberalismus und Judenemanzipation in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: P. Freimark/A. Jankowski/I. S. Lorenz (Hrsg.), Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung, 1991, S. 148 ff. 75 Riesser, Börne und die Juden (Fn. 59). 76 Vgl. Darstellungen hinsichtlich Baden bei Rürup, Emanzipation (Fn. 18), S. 46 ff. 77 Rürup, Emanzipation (Fn. 18), S. 99; vgl. ferner H.-J. Salecker, Der Liberalismus und die Erfahrung der Differenz. Über die Bedingungen der Integration der Juden in Deutschland, 1999; D. Langewiesche, Gesellschafts- und verfassungspolitische Handlungsbedingungen und Zielvorstellungen europäischer Liberaler in den Revolutionen von 1848, in: W. Schieder (Hrsg.), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, 1983, S. 341 ff.
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die Auffassung von Riesser keineswegs unumstritten. Die von ihm propagierte bewußte Konfessionalisierung des Judentums verdeckte, daß für das Verständnis des traditionsbezogenen Judentums unverändert eine wirkliche Einheit der Religion des Einzelnen und der abstammungsmäßig verbundenen Gesamtheit bestand und dies auch nicht auflösbar war. Für die jüdische Orthodoxie, welche die politische und rechtliche Konzession eines religiös gebundenen Judentums durchaus anerkannte, konnte der Strategiewechsel von Riesser kaum eine anzustrebende Lösung der Emanzipationsfrage sein. Aber diese innerjüdische Orthodoxie verlor unter den Juden selbst seit der vormärzlichen Aufbruchstimmung und der sich anbahnenden revolutionären Stimmung der Nichtjuden zunehmend an Rückhalt.78 Riesser forderte keine revolutionäre Veränderung der nicht-jüdischen Gesellschaft, um darin das Ziel der Gleichstellung aller zu erreichen. Das hätte für ihn außerdem leicht den strafbewehrten Vorwurf des Hochverrates bedeutet. Aber an der politischen Notwendigkeit einer evolutionären Veränderung mit denselben Ergebnissen zweifelte er nicht. Der Staat müsse den Juden, so seine Rhetorik, einen staatsbürgerlichen Schutzstatus nicht erst einräumen, die Juden hätten diesen Status längst. Aus diesem Befund müßten lediglich die am Grundsatz der Gleichheit abzuleitenden Folgerungen gezogen werden.
2. Seit dem März 1848 sollte sich die Möglichkeit einer wirklich strukturellen Veränderung der deutschen Gesellschaft ergeben und damit ein erneuter Anstoß zu einer Emanzipationsgesetzgebung. Gabriel Riesser war in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt worden. Er konnte hier rasch eine parlamentarische Karriere machen.79 In seiner berühmt gewordenen Rede vom 28. August 1848 in der Paulskirche, obwohl zu diesem Zeitpunkt dem Verfassungsausschuß der Nationalversammlung nicht angehörend, sprach er sich leidenschaftlich für die Aufnahme eines Emanzipationsartikels als Grundrecht in der Reichsverfassung aus. Riesser hielt an seiner in den 30er Jahren entwickelten Strategie fest, wie die Emanzipation zu erreichen sei. Die liberalen Abgeordneten sollten davon überzeugt werden, daß die von ihnen vielfach beschworene allgemeine Freiheit und Gleichheit »vor dem Gesetz« sich notwendig auf jedermann beziehe und damit die Gleichberechtigung der Juden einschließe. Ausnahmeregelungen dürfe es nicht geben, und sie hätten sich, sollten sie tatsächlich aus Gründen des Gemeinwohls nötig sein, auch auf Nichtjuden, also Christen, zu beziehen. Und er versprach pathetisch: 78 Vgl. zur Neuorthodoxie Breuer, Jüdische Orthodoxie (Fn. 41), S. 27 ff. 79 Zu Gabriel Riesser u.a. E. Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands, Tübingen, 1968, S. 180 ff.; Koch (Hrsg.), Handlexikon (Fn. 65), S. 338 f.
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Jörg Berkemann »Die Juden werden immer begeistertere und patriotischere Anhänger Deutschlands unter einem gerechten Gesetz werden. Sie werden mit und unter den Deutschen Deutsche werden. Vertrauen Sie der Macht des Rechts, der Macht des einheitlichen Gesetzes und dem großen Schicksal Deutschland.«80
Das stenographische Protokoll verzeichnete lebhaften Beifall des Plenums zu diesen Worten. Riesser hatte eine Gegenrede zu den Ausführungen des Abgeordneten Moritz (von) Mohl (1799-1875) gehalten.81 Dieser hatte ausgeführt, daß die »Israeliten« vermöge ihrer Abstammung nicht dem deutschen Volk angehörten, vielmehr »Schacherjuden« und daß alle israelitischen Viehhändler »mit wucherlicher Aussaugung der armen Bauern« befaßt seien.82 Das Protokoll vermerkt dazu »deutlicher Widerspruch im Plenum«. Die Bemerkungen Mohls waren im Plenum durch Zischen unterbrochen worden. Nach einem Zwischenruf erklärte Moritz von Mohl, er erfülle nur seine Pflicht gegenüber dem deutschen Volk und wisse wohl, daß er sich dadurch unbeliebt mache. Mit großer Mehrheit verabschiedete dagegen das Plenum den Grundsatz der Religionsfreiheit und der staatlichen Neutralität: »Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt. Den staatsbürgerlichen Pflichten darf dasselbe keinen Abbruch tun.«83
Man hat Riesser aufgrund seiner Parlamentsrede als Initiator dieser Grundfreiheit, dieses Kernsatzes der Emanzipation, angesehen. Das entsprach nicht der tatsächlichen historischen Entwicklung. Bereits der erste interne Redaktionsentwurf des am 24./25. Mai 1848 eingesetzten Verfassungsausschusses der Nationalversammlung vom 14. Juni 1848, erstellt von dem Historiker Johann Gustav Bernhard Droysen (1808-1884) und dem Juristen Georg Karl Christoph Beseler (1809-1888), enthielt nahezu wortgleich diese Regelung.84 Sie war im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung zu 80 F. Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Constituierenden National-Versammlung zu Frankfurt/M., 1848-49, Bd. III, S. 1757. 81 Sein Bruder, Robert von Mohl (1799-1875), prägte als einer der ersten den Begriff des Rechtsstaates als Negation des »aristokratischen« Polizeistaates. Am 25. September 1848 wurde er Justizminister der Provisorischen Zentralgewalt, trat aber am 17. Mai 1849 zurück; vgl. allg. B. Stöcker, Die Gemeinwohltheorie Robert von Mohls als ein früher Ansatz des sozialen Rechtsstaatsprinzips, 1992. 82 Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht (Fn. 80), Bd. III, S. 1754 f. 83 Vgl. Text bei Huber, Dokumente deutscher Verfassungsgeschichte (Fn. 46), Bd. 1, S. 375 ff. 84 Zu Georg Beseler vgl. B.-R. Kern, Georg Beseler. Leben und Werk, 1982; H. Brunner u.a. (Hrsg.), Juristische Abhandlungen, Festgabe für Georg Beseler zum 6. Januar 1885, Berlin, 1885 (Reprint 1979).
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keinem Zeitpunkt erkennbar umstritten.85 Am 18. Juli 1848 hatte der Abgeordnete Franz Schuselka (1811–1886) im Plenum den Antrag gestellt, die Nationalversammlung wolle die Judenfrage durch besondere Abstimmung ausdrücklich und feierlich dahin entscheiden, daß sie die völlige Gleichberechtigung der Juden für eine Ehren- und Gewissenspflicht des deutschen Volkes erklärt.86 Der Antrag fand keine parlamentarische Unterstützung.87 Die Gleichstellung der Juden galt vielen Abgeordneten der Nationalversammlung bereits als politisch selbstverständlich und durch die zu verabschiedenden Grundrechte rechtlich hinreichend gewährleistet.88 Indes hatte der Antrag wegen der vorhandenen antisemitischen Ausschreitungen zu Beginn der Revolutionszeit durchaus seinen berechtigten Sinn.89 Die insoweit spärlichen Quellen zeigen deutlich, daß sich der 30köpfige Verfassungsausschuß sehr bewußt war, daß mit der Forderung der Gleichheit vor dem Gesetz zugleich die volle Emanzipation der Juden ausgesprochen werde.90 Gerade zur Verstärkung des Gleichheitssatzes schlug das Mitglied des Ausschusses Hermann von Beckerath (1801-1870) vor, außer der Gleichheit der bürgerlichen und politischen Rechte ausdrücklich auch die gleiche Anstellungsfähigkeit auszusprechen. Dagegen gab es Bedenken. Die Aufzeichnungen von Droysen, der Schriftführer des Verfassungsausschusses war, geben dazu folgendes wieder: »Jürgens warnt vor der überraschenden Emancipation der Juden, deren Princip er allerdings anerkenne; aber es sei nicht sowohl der Gegensatz der Confession, sondern namentlich der Nationalität, der tief in dem Leben des Volkes wurzele und Antipathien rege halte, die man nicht so ohne Weiteres tilge. Gagern macht bemerklich, daß die Emancipation der Juden nicht ausdrücklich ausgesprochen 85 J. G. Droysen (Hrsg.), Die Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses der deutschen Nationalversammlung, Erster Teil, Leipzig, 1849, S. 363 f.; F. Bobusch, Verfassungsrechtliche Grundlagen der Glaubensfreiheit. Religionsverfassungsrecht in den deutschen Verfassungsberatungen seit 1848, Diss., 2002, S. 39. 86 Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht (Fn. 80), Bd. II, S. 985. Zur Person Franz Schuselka (1811-1886) vgl. H. Best/W. Weege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, hrsg. von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien, 1996; ferner Koch (Hrsg.), Handlexikon (Fn. 65), S. 378; F. Fellner, F. Schuselka. Ein Lebensbild (Diss.), Wien 1948. 87 Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht (Fn. 80), Bd. I, S. 985. 88 Bobusch, Glaubensfreiheit (Fn. 85), S. 51. 89 Zu den antisemitischen Tendenzen vgl. M. Botzenhart, 1848/49: Europa im Umbruch, 1998, S. 72 f., S. 184 ff. 90 Droysen (Hrsg.), Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses (Fn. 85), S. 8 f., S. 34 ff.; Nachweise auch bei H. Scholler, Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche. Eine Dokumentation, 2. Aufl. 1982, S. 238; L. Bergsträsser (Hrsg.), Die Verfassung des Deutschen Reiches vom Jahre 1849. Mit Vorentwürfen, Gegenvorschlägen und Modifikationen bis zum Erfurter Parlament, Bonn, 1913, zu § 137 Reichsverfassung.
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Jörg Berkemann sei, und daß namentlich die Juden selbst besorgt sein würden, sie gerade jetzt ausdrücklich hervorgehoben zu sehen.«91
Die Frage, »ob die Gleichheit vor dem Gesetz für alle Religionsverwandte gelten solle«, wurde bejaht. So kam man in dem Verfassungsausschuß überein, die Frage der Emanzipation der Juden nicht ausdrücklich textlich zu deklarieren. Der Berichterstatter des Verfassungsausschusses, Beseler, führte dazu im Plenum der Nationalversammlung aus: »Nur in einer Beziehung und zwar mit Rücksicht auf die Rechtsverhältnisse der Juden ist heute ein Antrag eingebracht worden; aber ich glaube, meine Herren, diese Frage ist in der öffentlichen Meinung Deutschlands entschieden. Ich glaube nicht, daß sie noch behandelt werden kann vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit; sie ist eine Frage der Nothwendigkeit geworden. Und welche Folgen sie auch haben mag, wir müssen ihnen festen Blicks entgegensehen. Schlechter als unter den Ausnahmegesetzen wird die Lage der Sache jedenfalls nicht werden.«92
Der Gegenantrag des Abgeordneten Mohl fand bei der formellen Behandlung nicht einmal die erforderliche formelle Unterstützung, um ihn überhaupt zur Sachabstimmung zu bringen.93 Der Antrag des Verfassungsausschusses wurde nach Ablehnung einiger mündlich gestellter Änderungsanträge unverändert angenommen.94 Gleichwohl bleibt es das historische Verdienst von Riesser, im Plenum einen letzten Angriff gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden abgewehrt zu haben. Am 21. Dezember 1848 verabschiedete die Nationalversammlung den Grundrechtskatalog. Er wurde am 28. Dezember 1848 im Reichsgesetzblatt bekannt gemacht.95 De jure traten damit die Grundrechte im Gebiet des gesamten erstrebten großdeutschen Reiches in Kraft. In 20 deutschen Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes wurden in unmittelbarer Nachfolge der Paulskirchenverfassung entsprechende Gleichstellungsgesetze verkündet.96 Österreich, Preußen, Bayern und Hannover weigerten sich, dies anzuerkennen.97 Ende 1850 setzte, maßgebend initiiert durch Österreich-Ungarn, die 91 Droysen (Hrsg.), Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses (Fn. 85), S. 9. Carl Heinrich Jürgens (1801-1860) gehörte bereits dem Fünfzigerausschuß an. Dieser war ein vom 4. April 1848 bis zum 18. Mai 1848 eingesetzter permanenter Ausschuß des Frankfurter Vorparlamentes zur Überbrückung der Zeit bis zum Zusammentritt der Frankfurter Nationalversammlung und zur Repräsentation gegenüber dem Bundestag des Deutschen Bundes. 92 Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht (Fn. 80), Bd. III, S. 1762. 93 Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht (Fn. 80), Bd. III, S. 1766 r. Sp. 94 Wigard (Hrsg.), Stenographischer Bericht (Fn. 80), Bd. III, S. 1769. 95 Vgl. J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 1985, S. 48 (2. Aufl. 1998). 96 Vgl. Battenberg, Das Europäische Zeitalter (Fn. 5), S. 143 f. 97 Kühne, Reichsverfassung (Fn. 95), S. 49; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 1960, S. 782 f. (3. Aufl. 1988).
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Reaktion ein. Die Deutsche Reichsverfassung und mit ihr der Versuch, eine liberale Grundverfassung einzuführen, war gescheitert. Der deutsche Bund wurde reorganisiert. Der Bundesbeschluß vom 23. August 1851 erklärte die Grundrechte des deutschen Volkes reichsrechtlich für nicht gültig und verpflichtete die einzelnen Bundesstaaten, entsprechende einzelstaatliche Gesetze außer Kraft zu setzen. In einigen Bundesländern blieb es gleichwohl bei einer, dann zumeist nur geminderten Gleichstellung. Letztlich konnten insgesamt nur etwa 20 % aller deutschen Juden formal an der Gesetzgebung der Reichsverfassung auf Dauer partizipieren. Alle anderen Juden – namentlich in Österreich und Preußen – befanden sich wieder auf dem rechtlichen Stand der Vormärzzeit.98
3. Um die Jahreswende 1858/59 entwickelte sich ein dritter Versuch, die sog. Judenfrage durch eine gesetzliche Entscheidung im Sinne völliger Gleichstellung zu beantworten. Unter dem Eindruck der englischen Emanzipationserfolge und der sog. Neuen Ära der Regentschaftszeit des Kronprinzen und späteren Kaisers Wilhelm I., aber auch der Wirtschaftskrise 1857, sollte es einen neuen Anlauf zugunsten einer liberalen Verfassungsentwicklung geben.99 Hamburg und Frankfurt am Main mit jeweils zahlenmäßig starken Judengemeinden hoben 1859/60 als die ersten deutschen Staaten alle emanzipationsbeschränkenden Bestimmungen auf.100 1862 folgte das Großherzogtum Baden mit dem Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten.101 Es sollte noch etwa 10 Jahre dauern, bis am 3. Juli 1869 für den Norddeutschen Bund das Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung nach längeren parlamentarischen Verhandlungen verabschiedet und nach Zustimmung des Bundesrates verkündet werden konnte. Die seit Jahrzehnten angestrebte 98 Toury, Geschichte der Juden (Fn. 34), S. 299 ff., 307. 99 Vgl. näher Battenberg, Das Europäische Zeitalter (Fn. 5), S. 145 f.; zum »Klimawechsel« vgl. auch E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 2. Aufl. 1978, S. 272 ff.; T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, 1983, S. 697-704; E. Frie (Hrsg.), Preußens Weg in die politische Moderne. Verfassung – Verwaltung – politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade, 2001; vgl. auch S. Na´aman, Der Deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürgertums 1859-1867, 1987. 100 Vgl. Hamburger Verfassung von 28. September 1860 (Art. 110), dort sogar mit der Trennung von Kirche und Staat. 101 Vgl. »Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten«, dazu Rürup, Emanzipation (Fn. 18), S. 87 ff.
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Emanzipationsgesetzgebung, die 1871 auf die süddeutschen Staaten ausgedehnt wurde, hatte damit ihren Abschluß gefunden. Dem norddeutschen Gesetz lag indes ein politisches Geschäft zugrunde. In der von ihm als unbedeutend angesehenen Frage der jüdischen Gleichstellung war Bismarck den Forderungen der liberalen Mehrheit des Reichstages entgegengekommen.102 Letztlich hatten erst das Bündnis zwischen Bismarck und den Nationalliberalen einerseits und konservative Kräfte der Ministerialbürokratie andererseits die rechtliche Gleichstellung der Juden möglich gemacht. Von einem Grundgedanken der gegenüber Minderheiten zu übenden Toleranz war man jedenfalls auf Seiten der Regierung weit entfernt. Für die Nationalliberalen war für ihr Engagement gewiß auch der Gedanke bestimmend, daß die Juden zu etwa 70 % liberale Parteien wählten.103 Die krasse Ungleichbehandlung der Juden in bürgerlicher Hinsicht war beseitigt worden. Das politische Wahlrecht war staatsbürgerlich gesichert, obwohl die Aufstellung jüdischer Kandidaten schwankend blieb.104 Der wesentliche Mißstand blieb die Verwaltungspraxis in der Stellenvergabe im öffentlichen Dienst. Bei einem evangelischen, katholischen und jüdischen Bevölkerungsanteil, der sich im Jahr 1905 im Deutschen Reich auf 62,1%, 36,5% und 1%, belief, waren von 100 deutschen Akademikern 68,16% evangelischen, 22,5% katholischen und 9,5% jüdischen Glaubens.105 Nach der Statistik der amtlichen Berufszählung des Jahres 1907 waren hingegen von den höheren Beamten im Reich und in den Einzelstaaten nur 1,93% jüdischen Glaubens gegenüber 71,2% evangelischer und 25,9% katholischer Konfession.106 Die Juden waren mithin in der Gruppe der Beamten des höheren Dienstes zwar bevölkerungsmäßig überparitätisch vertreten, im Hinblick auf ihre erwor102 Battenberg, Das Europäische Zeitalter (Fn. 5), S. 145 f.; J. Toury, Geschichte der Juden (Fußn. 34), S. 334 ff. 103 Vgl. J. Toury, Die politische Orientierungen der Juden in Deutschland von Jena bis Weimar, 1966, S. 138. M. Liepach, Das Wahlverhalten der jüdischen Bevölkerung in der Weimarer Republik. Zur politischen Orientierung der Juden in der Weimarer Republik, 1996. 104 Vgl. eingehend Hamburger, Juden im öffentlichen Leben (Fn. 79), S. 170 ff. 105 Die angeführten Zahlen beruhen auf Angaben des preußischen Kultusministers Gustav Konrad Heinrich v. Gossler (1838-1902) im preußischen Abgeordnetenhaus, Sten. Ber., 33. Sitzung vom 20.3.1890, S. 872 und auf H. A. Krose (Hrsg.), Kirchliches Handbuch für das Katholische Deutschland, Bd. 1, Freiburg 1908, S. 80, zitiert hier nach J.-D. Kühne, Reichsverfassung (Fn. 95), S. 307; vgl. auch J. Röhl, Beamtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland, in: M. Stürmer (Hrsg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918, 1970 (Nachdruck 1984), S. 287 (296). 106 R. Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867-1890, 1957, S. 249; vgl. ferner T. Maurer, Integration und Selbstbehauptung. Bildungsgeschichte als Zugang zur Entwicklung der jüdischen Minderheit in nichtjüdischen Gesellschaften, Judaica 59 (2003), S. 82 ff.; dies., Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780-1933). Neuere Forschungen und offene Fragen, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 4. Sonderheft, 1992, S. 1 ff., S. 167 ff.
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bene fachliche Eignung jedoch mit 7,5 % bzw. mit 4/5 unterrepräsentiert. In dieser offensichtlichen Diskriminierung zeigte sich für die Juden selbst, daß sie trotz rechtlicher Gleichstellung nach fast einer Generation einen Zustand individueller Parität nicht erreicht hatten. Der soziale und ökonomische Erfolg der Mehrheit der deutschen Juden lag daher nicht in einer allseits gelungenen sozialen Integration, sondern unter anderem in ihrem großen Bildungsstreben und in der Wahrnehmung jener Chancen, welche die industrielle Revolution ihnen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts außerhalb der öffentlichen Strukturen des Wilhelminischen Reiches bot.107 Man hat diesen Zustand später pointiert als eine »negative Symbiose« bezeichnet.108
IV. Antisemitismus 1. Das Ziel der »von oben« betriebenen Emanzipationspolitik war im Kern stets die soziale und ökonomische Integration der Juden in die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft gewesen. Seit dem Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts war dies in den Vorstellungen der Bürokratie und vieler liberaler Politiker nur im Modus der Assimilation möglich. Um es ein wenig plakativ zu sagen: Man verlangte nicht mehr, daß die Juden zum Christentum konvertierten, aber forderte von ihnen, daß sie aufhörten, Juden zu sein.109 Der Ausdruck »Dejudaisierung« war ein gern benutztes Schlagwort dieser Zeit. Es kennzeichnete in seinem kaum reflektierten Gebrauch, daß es sich für die Fürsprecher der Juden, nämlich die Liberalen und die Demokraten, in der Umbruchsphase der Jahre 1845 bis 1850 gar nicht oder doch kaum um eine prinzipiell ethische Haltung zugunsten einer religiösen oder kulturell-sozialen Toleranz handelte, sondern ausschließlich um eine Änderung des gesamtgesellschaftlichen Systems. Das hatte Riesser seinerzeit 107 Vgl. S. Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg, 2004; M. Richarz, Eintritt deutscher Juden in die akademischen Berufe (Fußn. 48), S. 164 ff.; L. Cecil, Wilhelm II. und die Juden, in: W. E. Mosse/A. Paucker (Hrsg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, S. 313 ff. 108 Vgl. D. Diner, Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz, in: ders. (Hrsg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, 1987, S. 185 ff.; S. Gilman, Negative Symbiosis: The Re-emergence of Jewish Culture in Germany after the Fall of the Wall, in: K. L. Berghahn (Hrsg.), The German-Jewish Dialogue Reconsidered, New York, 1996 (German Life and Civilization; Bd. 20), S. 207 ff.; vgl. auch H. Hecker/W. Engel (Hrsg.), Symbiose und Traditionsbruch: Deutsch-Jüdische Wechselbeziehungen in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, 2003. 109 Rürup, Emanzipation (Fn. 18), S. 107; D. Arendt, Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas, 1998.
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zutreffend gesehen. Die von den Liberalen und den Demokraten politisch verfochtene Entkonfessionalisierung der bürgerlichen Gesellschaft mochte Raum für eine Minderheitenpolitik schaffen, aber es gab kein Konzept für eine Politik gleichberechtigter Minderheiten. Was geleistet wurde, war, die Juden als Individuen an den Status der rechtlichen und sozialen Gleichheit heranzuführen. Hier mochten auch Gedanken der Toleranz mitschwingen. Aber für Juden, die sich gerade durch ihre Verbundenheit mit dem Judentum als Gruppe verstanden und in dieser Gruppenidentität ihre existenzielle Legitimation fanden, mußte dieses Ergebnis defizitär erscheinen. Heinrich Heine (1797-1856) hatte 1828 mit bemerkenswerter Weitsicht die Frage der Emanzipation als »die große Aufgabe unserer Zeit«, als eine solche der ganzen Welt betrachtet, nicht nur der Frankfurter Juden.110 Eine grundlegende Neujustierung der deutschen bürgerlichen Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts war nicht gelungen. Solange eine durchaus machtbewußte Beamtenschaft dem Gedankengut der Aufklärung aus eigener Überzeugung folgte, war die den Juden »von oben« zuerkannte Emanzipation hinreichend gesichert und nur einzelnen Schwankungen unterworfen. Jede tatsächliche Änderung der in der Breite der bürgerlichen Gesellschaft bewußtseinsmäßig nicht wirklich verankerten Vorstellungen über emanzipatorische Freiheiten mußte die sog. Judenfrage wieder virulent erscheinen lassen.111
2. Diese Lage trat in der Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhundert ein. Die Zeit, in der die Gesellschaft den Status des Judentums als einer bewußt akzeptierten Minderheit als eine Selbstverständlichkeit hätte verstehen und als Teil ihres »sozialen Alltags« hätte erfahren können, war zu kurz. Hinzu kam, daß – aus vielerlei Gründen – die bürgerlich-liberale Bewegung zum Stillstand kam. Die von dieser Bewegung ausgehende leitende Dominanz ihrer politischen und sozialen Normen verlor in der öffentlichen Meinung zunehmend ihre bestimmende Kraft.112 Bewertungsverschiebungen im national110 Zitiert nach K. M. Grass/R. Koselleck, Emanzipation, in: Brunner u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe (Fn. 43), Bd. X, 1975 (Nachdruck 1979), S. 153 (167). 111 D. Claussen, Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Genese des modernen Antisemitismus, 1987; aus anderer Sicht Berghahn, Grenzen der Toleranz (Fn. 27); M. Horkheimer/T. W. Adorno, Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung, in: dies., Dialektik der Aufklärung, 1981, S. 192 ff. 112 Vgl. Rürup, Emanzipation (Fn. 18), S. 198 ff.; ferner P. G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, 1966; J. Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, 1989; Erb/Bergmann, Judenemanzipation (Fn. 58); H. Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, 1988; weiterführend F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, 1985.
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staatlichen Denken, die rückblickend kaum verständliche politische Agitation gegen den römischen Katholizismus und polizeistaatliche Abwehr der sich aufbauenden Sozialdemokratie waren nicht zu übersehende Merkmale einer gesellschaftlichen Strukturkrise, die sich mit ökonomischen Mißerfolgen verbanden. Die Krisenmentalität selbst nahm zu und konstituierte sich in einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den Entscheidungen eines ökonomischen und politischen Liberalismus bürgerlicher Offenheit.113 Bereits seit Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhundert war die anschwellende Literatur einer antijüdisch akzentuierten Gesellschafts- und Kulturkritik wahrnehmbar.114 Die sog. Berliner Bewegung des Hofpredigers Adolf Stoecker (1835-1909), begleitet von dem überaus anerkannten Historiker an der Berliner Humboldt-Universität, Heinrich von Treitschke (1834-1896), setzte diese bürgerliche Stimmung mit dem Kampfbegriff des Antisemitismus bekennend und politisch um.115 Der von Treitschke aufgenommene Ausruf Die Juden sind unser Unglück wurde zum gängigen politischen Schlagwort. Es bestimmte in den kommenden Jahrzehnten plakativ jede antisemitische Zielrichtung.116 Im April 1881 wurde dem Reichskanzler Bis113 A. Gotzmann, Zwischen Nation und Religion: Die deutschen Juden auf der Suche nach einer bürgerlichen Konfessionalität, in: ders./R. Liedtke/T. van Rahden (Hrsg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933, 2001, S. 241 ff. 114 Vgl. W. Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum, Bern 1879; materialreich D. Claussen (Hrsg.), Vom Judenhaß zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte, 1987; W. Benz (Hrsg.), Die »Judenfrage«. Bibliographie, Schriften zur Begründung des modernen Antisemitismus 1780 bis 1918, 2002; N. Kampe, Studenten und »Judenfrage« im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, 1988. 115 H. v. Treitschke, Unsere Aussichten, Preußische Jahrbücher 44 (November 1879), S. 572 ff., separat 1880 unter dem Titel »Ein Wort über unser Judentum«, dort auch der Ausdruck »Die Juden sind unser Unglück«. Treitschke bezeichnet an der angegebenen Stelle die Juden als eine »Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge« und »deutsch redender Orientalen«. Vgl. weiterführend W. Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, 1965 (Nachdruck 1988); H. Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, 1967; vgl. ferner W. Jochmann, Stoecker als nationalkonservativer Politiker und antisemitischer Agitator, in: G. Brakelmann/M. Greschat/W. Jochmann (Hrsg.), Protestantismus und Politik. Werk und Wirken Adolf Stoeckers, 1982, S. 123 ff. Eine deutliche Gegenposition nahm der liberale Historiker T. Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, Berlin, 4. Aufl. 1880 [abgedruckt auch in: Josef Wiesehöfer (Hrsg.), Theodor Mommsen. Gelehrter, Politiker und Literat, 2005, S. 137 ff.], ein. Vgl. auch K. Krieger, Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879-1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, 2003. 116 Vgl. P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt/M., 1986; U. Wyrwa, Heinrich von Treitschke. Geschichtsschreibung und öffentliche Meinung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschafte (ZfG) 51 (2003), S. 781 ff.
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marck eine Petition mit 1/4 Million Unterschriften überreicht, die sog. Antisemiten-Petition. Mit ihr wurde »die Emanzipation des deutschen Volkes von einer Art Fremdherrschaft« gefordert.117 Die sog. Judenfrage schien wieder gestellt.118 Wie immer sie beantwortet wurde, sie zu stellen war erneut eine öffentliche politische Frage geworden, und zwar jenseits gesellschaftstheoretischer Diskurse. Offenkundig war in dem verstrichenen Jahrhundert das Bewußtsein, es gebe eine Judenfrage und diese sei mit einer nur rechtlichen Emanzipation keineswegs abschließend beantwortet, in den Grundströmungen der Gesellschaft unverändert latent vorhanden geblieben.119 Daß die sog. Judenfrage öffentlich, intensiv und zudem mit allen Zeichen einer »Selbstbetroffenheit« gestellt wurde, war bei aller Irrationalität im Rückblick nicht zuletzt Ausdruck einer sozialen und ökonomischen Krise. Die Gleichstellung oder eine Sonderstellung der Juden im Gemeinwesen wurde wieder als ein belastendes »Problem« bestimmt. Das gesellschaftliche und politische Modell, Emanzipation der Juden durch Toleranz gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten zu verwirklichen, war – hatte es dieses Modell überhaupt je gegeben – auf deutschem Boden in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts endgültig gescheitert. Der moderne Antisemitismus ist auch ein postemanzipatorisches Phänomen. Gemeinsame Grundlage aller antisemitischen Vorstellungen war und ist die Annahme, daß ein emanzipiertes Judentum eine gesellschaftliche Macht darstelle, gegen die sich die Nichtjuden in einem Abwehrkampf befänden. Wer sich in einem Abwehrkampf befindet, kann tolerantes Verhalten nicht zeigen, denn dies wird ihm durch das Kollektiv als Schwäche ausgelegt werden. Die Wilhelminische Gesellschaft, die in ihren Funktionseliten diesen Mechanismus nicht durchschaute, befand sich gleichsam in einem intoleranten Teufelskreis. Die deutschen Juden gaben auf diese Entwicklung des Antisemitismus zwei konträre Antworten. Die einen, und dies war die Mehrheit, wollten ihr 117 Vgl. Battenberg, Das Europäische Zeitalter (Fn. 5), S. 195; W. Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindlichkeit in Deutschland 1870-1945, 1988, S. 30 (49 ff.); ferner Erb/Bergmann, Judenemanzipation (Fn. 58); zeitgenössisch etwa F. Fries, Über die Gefährdung des Wohlstands und des Charakters der Deutschen durch die Juden, Heidelberg 1816, hier zitiert nach K. H. Rengstorf/S. v. Kortzfleisch (Hrsg.), Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden, Bd. II, 1970, S. 191. 118 Vgl. A. Bein, Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, 1980; H. Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, 1988; D. Claussen, Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus, 1987; Massing, Vorgeschichte (Fn. 116). 119 Vgl. R. Rürup, Emanzipation und Krise – Zur Geschichte der »Judenfrage« in Deutschland vor 1890, in: Werner Mosse/Paucker (Hrsg.), Juden im Wilhelminischen Reich (Fn. 107), S. 1 ff.
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»Deutschtum« sichtbar steigern. Sie gründeten 1893 den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.120 Eine innerjüdische Minderheit hatte die Hoffnung auf eine emanzipatorische Toleranz aufgegeben. Sie sah in einer bewußten Trennung die auf Dauer allein mögliche und gültige Antwort auf die sog. Judenfrage, welche nach ihrer Ansicht die deutsche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit nur durch eine intolerante Apartheidspoltik beantwortet wissen wollte. Der in Paris geführte Dreyfuß-Prozeß (1894) schien vielen europäischen Juden nicht nur die Fragwürdigkeit, sondern Zwecklosigkeit einer sozialen Integration und einer Akkulturation der Juden in einer als »offen« angesehenen bürgerlichen Gesellschaft nachdrücklich vor Augen zu führen. Eine national-jüdische Bewegung im westund auch besonders im osteuropäischen Judentum entstand, die sich bald den Namen »Zionismus« gab.121 In der Außenwahrnehmung des nicht-jüdischen Umfeldes schien die Existenz des Zionismus, der sich durchgehend als nicht religiös, sondern ethnisch verstand, gerade die antisemitische Grundauffassung der Andersartigkeit der Juden zu bestätigen.122 Eine Folgeerscheinung des als gescheitert angesehenen Liberalismus war die Rückbesinnung vieler deutscher Juden auf ihre Wurzeln. Ihre kulturelle Seite hatte die zionistische Bewegung in der von Martin Buber um die Jahrhundertwende initiierten, später von Franz Rosenzweig fortgeführten (deutschen) Jüdischen Renaissance. Im Jahre 1912 veröffentlichte der jüdische Publizist Moritz Goldstein (1880-1977) im »Kunstwart« – eine konservative Zeitschrift, die bereit war, die unterschwellige Ablehnung der Juden zur Sprache zu bringen – seinen Artikel Deutsch-jüdischer Parnaß. Darin benannte er das Dilemma, in dem sich die akkulturierten Juden befänden: »Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht. Wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck 120 Vgl. dazu A. Barkai, Wehr Dich! Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893-1938, 2002; vgl. ferner ders., Hoffnung und Untergang. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1998; U. Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, 2001; P. Schumann, Jüdische Deutsche im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 43 (1992), S. 32 ff. 121 Der Begriff wurde 1890 von dem jüdischen Wiener Journalisten Nathan Birnbaum [Mathias Acher] (1864-1937) geprägt. Der Ausdruck wird allerdings zumeist auf Theodor Herzl (1860-1904) zurückgeführt. Bereits 1882 hatte Leo Pinsker (1821-1891) sein Werk »Autoemanzipation« (d.h. Selbstbefreiung) veröffentlicht; vgl. ferner Y. Eloni, Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914, 1987. 122 Ob der Zionismus seinerseits (mittelbar) zu einer Verstärkung des Antisemitismus geführt hat, ist eine umstrittene Forschungsfrage. Die Zusammenhänge sind bislang nicht hinreichend geklärt, vgl. R. Heuer/R.-R. Wuthenow (Hrsg.), Antisemitismus, Zionismus, Antizionismus 1850-1940, 1997; M. Eliav, Zur Vorgeschichte der jüdischen Nationalbewegung in Deutschland, Bulletin des Leo-Baeck-Instituts 12 (1969), S. 282 ff.
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haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die anderen fühlen uns ganz undeutsch.«123
Die Mehrheit der deutschen Juden gab indes nicht auf. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, erfaßte die deutschen Juden nahezu aller Richtungen eine Welle des Patriotismus. Man zeichnete Kriegsanleihen in kaum erwarteter Opferbereitschaft. Man nahm des Kaisers Wort am 4. August 1914 in seiner Thronrede im Reichstag, es solle Burgfrieden herrschen und er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, ernst und wörtlich.124 In der Jüdischen Rundschau heißt es: »Wir deutschen Juden kennen trotz aller Anfeindungen in den Zeiten des Friedens heute keinen Unterschied gegenüber anderen Deutschen. Brüderlich stehen wir mit allen im Kampfe zusammen«.125
Dieser Patriotismus der Juden brach jäh zusammen, als bekannt wurde, daß die oberste Heeresleitung im Oktober 1916 mit Billigung des (preußischen) Kriegsministers Adolf Wild von Hohenborn (1860-1925) eine Zählung veranlaßt hatte, um die Zahl der an der Front kämpfenden jüdischen Soldaten festzustellen. Diese sog. »Judenzählung« war die erste statistische Erfassung der Juden unter den deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs.126 Vordergründig diente der Erlaß der Beschwichtigung des Antisemitismus, der gerade im deutschen Offizierskorps stark verbreitet war. Als nach dem Kriege sich Soldatenvereine bildeten, verweigerte man den jüdischen Frontsoldaten die Mitgliedschaft und schuf so eigene »Arierparagraphen«.127 Die
123 M. Goldstein, Deutsch-jüdischer Parnaß, Der Kunstwart 25 (1912), März-Heft, S. 290, vgl. dazu A. Herzog, Zu Modernitätskritik und universalistischen Aspekten der »Jüdischen Renaissance« in der deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundertwende und 1918, Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 2 (November 1997), http://www.inst.at/trans/2Nr/herzog.htm 124 Näheres bei Battenberg, Das Europäische Zeitalter (Fn. 5), S. 244. 125 Vgl. N. T. Gidal, Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, 1997, S. 13. 126 Vgl. dazu H. Walle, Deutsche jüdische Soldaten 1914-1945, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Deutsche jüdische Soldaten 1914-1945, 1981 (3. Aufl. 1987), S. 9 ff.; E. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 1969, S. 532 ff.; W. Grab, Der preußisch-deutsche Weg der Judenemanzipation, in: F. J. Bautz (Hrsg.), Geschichte der Juden, 1987, S. 140 (S. 161); M. Messerschmidt, Juden im preußisch-deutschen Heer, in: Deutsch-jüdische Soldaten 1914-1945, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Deutsche jüdische Soldaten 1914-1945, 1981, S. 39 (S. 61). 127 Der Hauptmann Leo Löwenstein (1879-1956) gründete im Februar 1919 den »Reichsbund jüdischer Frontsoldaten« (RjF), in dem das Wirken aller jüdischen Kriegsteilnehmer Anerkennung finden sollte. Der Reichsbund umfaßte in der Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts etwa 40.000 Mitglieder. Vgl. dazu U. Dunker, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919-1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrvereins, 1977.
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soziale Integration der Juden als jüdische Minderheit, selbst in der Verteidigung des Vaterlandes, war erneut gescheitert. Die Juden, die ein Jahrhundert lang versucht hatten, sich aus ihrem sozialen, politischen und rechtlichen Ghetto emanzipatorisch zu befreien, waren auf eine bürgerliche Gesellschaft gestoßen, die sich ihrerseits nicht im Sinne minderheitenbezogener Toleranz hatte emanzipieren können. Der analysierende Blick muß bei der Frage der sozial-emanzipatorischen Akkulturation der Juden gewiß auch auf die spezifisch innerjüdischen Modernisierungskräfte und auf die Sozialisationsinstanzen wie Schule, Synagoge und Öffentlichkeit gerichtet werden. Es gelang der nicht-jüdischen und verbürgerlichten Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts indes nicht, die auf die Glaubensfreiheit des Einzelnen bezogene Religionskultur und die politische Kultur der säkularisierten Gemeinschaft wahrnehmbar zu unterscheiden und dies im Bewußtsein der Gesamtgesellschaft als plurale Selbstverständlichkeit zu verankern.128 Mit dieser politischen Hypothek betrat man das 20. Jahrhundert. Eine auf kulturelle und soziale Verschiedenheit, auf einen gelebten Wertpluralismus und eine auf Meinungsvielfalt eingeübte demokratische Gesellschaft gab es in Deutschland nicht.129
128 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit (Fn. 52), S. 60 f.; T. Luckmann, The Invisible Religion. The Problem of Religion in Modern Society, London/New York 1967; K. Kippert, Die pluralistische Gesellschaft als struktureller Bezugsrahmen für die Erziehung zur Toleranz, in: ders. (Hrsg.), Gedanken zur Soziologie und Pädagogik. Festschrift für Ludwig Neundörfer zum 65. Geburtstag, 1967, S. 28 ff. 129 Vgl. hierzu die bestechende Analyse von W. Grab, Zwei Seiten einer Medaille. Demokratische Revolution und Judenemanzipation, 2000; ferner P. Pulzer, Jews and the Crisis of German Liberalismen, in: Friedrich-Naumann-Stiftung (Hrsg.), Das deutsche Judentum und der Liberalismus, 1986, S. 124; eindrucksvoll M. Walzer, Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz, 1998 (On toleration, New Haven 1997).
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Toleranz als Botschaft des Christentums? Auf den ersten Blick dürfte es so scheinen, als sei die im Titel gestellte Frage klar zu bejahen. Denn unstrittig ist, daß die großen Kirchen in Deutschland die negative und positive Religionsfreiheit des Grundgesetzes akzeptieren, die Gegenwart und Konkurrenz anderer Religionen billigen und das in Deutschland verbreitete Phänomen der Religionslosigkeit hinnehmen. Insoweit dürfte Toleranz aus christlicher Sicht als Ordnungsprinzip der Gesellschaft gelten.1 Bei näherem Hinsehen zeigt sich freilich, daß diese These der Präzisierung bedürftig ist. Denn mindestens zwei Einschränkungen sind anzubringen. Einmal ist daran zu erinnern, daß diese Haltung nicht selbstverständlich ist, sondern theologisch über einen längeren Zeitraum hinweg aufgebaut wurde. Darauf soll im ersten Teil dieses Beitrages näher eingegangen werden. Zum anderen ist zu notieren, daß sich im weltweiten Maßstab die These von der Toleranz des Christentums veruneindeutigt. Als Beispiele sei auf die tendenzielle Intoleranz der national gesinnten orthodoxen Kirchen ebenso verwiesen wie auf die politische Theologie der wiedergeborenen Christen in den USA oder auf die fundamentalistischen Abgrenzungsdiskurse evangelikaler Gemeinschaften, in denen die Wahrheit der Religion gegen die gesellschaftlichen Realitäten in Stellung gebracht wird. In diesem Milieu hat der Begriff »Fundamentalismus« seine historischen Wurzeln2 und es sei daran 1 Vgl. exemplarisch die sog. Demokratie-Denkschrift der EKD »Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Chance« (1985), in: Kirchenamt im Auftrage des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.), Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bd. 2/4: Soziale Ordnung, Wirtschaft, Staat, 1982, S. 9 ff. Darin findet sich ein ausdrückliches Bekenntnis zur Toleranz: »Toleranz ist ein grundlegendes Strukturmerkmal der freiheitlichen Demokratie.« (S. 24). 2 Vgl. M. Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung. Amerikanische Protestanten (1910-28) und iranische Schiiten (1961-79) im Vergleich, 1990; ders., Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«, 2. Aufl. 2001; T. Meyer, Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne, 1991; ders., Identitäts-Wahn. Die Politisierung des kulturellen Unterschieds, 1997; G. Küenzlen, Sind nicht die Fundamentalismen der anderen das Problem, sondern womöglich auch die fundamentalistische Moderne selbst?, in: Verband evangelischer Missionskonferenzen (Hrsg.), Fundamentalismus, Jahrbuch Mission 1995, 1995, S. 1 ff.
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erinnert, daß er ein modernes Phänomen bezeichnet, das grundsätzlich in allen Religionen identifiziert werden kann.3 Die Frage nach der Toleranz im oder durch das Christentum kann daher nur kontextbezogen beantwortet werden. Denn in der christlichen wie in anderen Religionen gibt es innere Dispositionen sowohl für Intoleranz als auch für Toleranz. Daher bedarf es einer kontinuierlichen theologischen Vergewisserung der religiösen Quellen für Toleranz, die die in der Gegenwart gestellten Probleme einzubeziehen hat. Aus diesen Erwägungen ergibt sich die Gliederung dieses Beitrages. Zunächst werden die Toleranz begründenden Quellen des lateinischen Christentums vorgestellt (I.), in einem zweiten Teil soll auf den gegenwärtigen philosophischen Toleranzdiskurs eingegangen werden (II.), bevor abschließend die Frage beantwortet wird, ob und inwieweit Toleranz als Botschaft des Christentum gelten kann (III.).
I. Theologische Quellen für das Toleranzdenken im lateinischen Christentum 1. Die römisch-katholische Kirche Die scholastische Theologie des mittelalterlichen Katholizismus hatte ein gestuftes System von Toleranz gegenüber Anders- bzw. Nichtgläubigen entwickelt. Die Stufung bezog sich sowohl auf den Kreis der Adressaten kirchlichen Zwangs als auch auf die Zwangsausübung selbst. Im Folgenden seien die wesentlichen Gesichtspunkte aus der Summa Theologica des Thomas von Aquin (1224/25-1274) zusammengefaßt: Biblisches Fundament aller Argumente ist die allegorische Auslegung des in der Luther-Bibel sog. Gleichnisses Vom Unkraut unter dem Weizen4. Hier ergeht auf die Frage der Knechte, ob sie das mit dem Weizen wachsende Unkraut jäten sollen, die Antwort des Herrn: »Nein! Damit ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Laßt beides miteinander wachsen bis zur Ernte.«5 Diesem Wort entnimmt man die grundsätzliche Weisung, niemanden mit Gewalt zum Glauben zu zwingen. Allerdings werden einige Ausnahmetatbestände zur Geltung gebracht, die im Ergebnis intolerante Maßnahmen begründen. Grundlegend dafür ist die 3 Vgl. A. v. Scheliha, Fundamentalistische Abgrenzungsdiskurse in Christentum und Islam, in: H. Schmid/A. Renz/J. Sperber/D. Terzi (Hrsg.), Identität durch Differenz. Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam, 2007, S. 220 ff. 4 Mt 13, 24-30. 36-43. 5 Mt 13, 28 f.
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Differenzierung zwischen Ungläubigen, bei denen noch einmal zwischen Heiden und Juden unterschieden wird, den Häretikern und den Apostaten. Gegenüber den Heiden und Juden wird festgestellt, daß ihr freier Wille nicht mit Zwangsmitteln zum Glauben gewendet werden kann. Mit Verweis auf die Geschichte vom großen Abendmahl6 wird aber die Möglichkeit begründet, sie zu nötigen,7 »dem Glauben nichts in den Weg zu legen, sei es durch Lästerungen oder durch bösartiges Zureden oder gar durch offene Verfolgungen«8. Diese Nötigung schließt, wie Thomas ausführt, auch die Option eines offenen Krieges ein, der aber nicht das Ziel hat, die Ungläubigen zum Glauben zu zwingen, sondern lediglich die Glaubenshindernisse zu beseitigen. Für den Fall, daß zwar die Hindernisse beseitigt worden sind, Heiden und Juden aber nicht zum Glauben kommen, kann deren Religionsausübung toleriert werden. Für den heidnischen Gottesdienst liegt dies im Ermessen der menschlichen Obrigkeit, die ihr Vorbild in der göttlichen Schöpfungsweisheit hat und daher, wenn es politisch opportun ist, »manche Übel [dulden kann], damit man sich nicht noch schlimmeren Übeln aussetze«9. Dagegen wird die Toleranz gegenüber dem jüdischen Ritus mit dem Hinweis begründet, daß in ihm die Wahrheit des christlichen Glaubens »vorgebildet war«. Christen steht hier »im Bilde vor Augen …, was wir glauben«10. Sie erkennen also das Eigene im Fremden wieder und das begründet Toleranz. Den Häretikern gegenüber gilt das Prinzip der Nicht-Toleranz. Denn das Abweichen von der rechten Lehre und der von der Kirche verordneten frommen Praxis ist ein so schwerwiegendes Delikt, daß »die Häretiker, sobald sie der Häresie überführt sind, nicht nur aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, sondern auch rechtens getötet werden«11. Die Tugend der Barmherzigkeit fordert zwar, daß die Kirche vor der Einleitung von Zwangsmaßnahmen zwei Warnungen ausspricht. Hält der Häretiker aber an seinem Irrtum fest, wird die Kirche ihn zum Schutz des Seelenheils der ihr anvertrauten Gläubigen durch Bannspruch von der Kirche absondern und einem weltlichen Gericht übergeben, »damit er durch den Tod von der Welt getilgt werde«12. Kehrt ein Häretiker nach erfolgter Mahnung seine Irrlehre 6 Lk 14, 15-24. 7 »Und der Herr sprach zu dem Knecht: Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, daß mein Haus voll werde.« (Lk 14, 23). 8 Die Zitate aus der Summa Theologica des Thomas von Aquin werden hier nach der Deutschen Thomas-Ausgabe, Bd. 15, 1950 wiedergegeben. Thomas, Summa Theologica, Bd. IIII, q. 10, 8, S. 212. 9 Thomas, Summa Theologica (Fn. 8), Bd. II-II, q. 10, 11, S. 225. 10 Thomas, Summa Theologica (Fn. 8), Bd. II-II, q. 10, 11, S. 225. 11 Thomas, Summa Theologica (Fn. 8), Bd. II-II, q. 11, 3, S. 241. 12 Thomas, Summa Theologica (Fn. 8), Bd. II-II, q. 11, 3, S. 242.
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widerrufend in den Schoß der Kirche zurück, nimmt sie ihn wieder zum Zwecke der Buße auf. Im Wiederholungsfalle aber führt auch die kirchliche Barmherzigkeit zum Todesurteil, denn die Ketzer werden »zwar wieder aufgenommen zur Buße, nicht aber so, daß sie von der Verurteilung zum Tode befreit werden«13. Ähnlich verhält es sich im Falle der Apostasie. Auch die Abtrünnigkeit vom einmal angenommenen Glauben ist eine schwere Verletzung der Gott gegenüber eingegangenen Pflichten und sanktionsbewehrt,14 weil vom Apostaten zu vermuten ist, daß er andere Seelen der Kirche abspenstig machen will. Daher sind »solche ... auch mit körperlichen Mitteln zu nötigen, zu erfüllen, was sie versprochen, und festzuhalten, was sie ein für alle Mal angenommen haben«15. Wie ist das mit dem »Toleranz-Gleichnis« vom Unkraut unter dem Weizen zu vereinbaren? Es wird argumentiert, daß durch das Unkraut der Apostaten und Ketzer der gesunde Weizen zu Schaden käme, würden beide gemeinsam wachsen und wuchern. Daher ist in diesem Fall das vorzeitige Jäten des Unkrautes nicht nur erlaubt, sondern auch geboten.16 Der tiefste Grund für die religiöse Intoleranz liegt also, wie Perry Schmidt-Leukel zutreffend herausgearbeitet hat, in der Sorge um das Seelenheil der der Kirche anvertrauten Gläubigen.17 Es zeigt sich, daß im mittelalterlichen Katholizismus ein gestuftes System von Toleranz und Zwang gegenüber Nicht- und Andersglaubenden etabliert wurde, das strukturell dem Toleranzsystem im Islam nicht unähnlich, inhaltlich jedoch anders positioniert ist. Beiden Religionen ist gemeinsam, daß Apostaten und Ketzern drakonische Maßnahmen drohen. Während aber die Christen Juden und Heiden in gestufter Weise tolerieren können, bekundet der Islam Toleranz gegenüber den »Leuten der Schrift«, also Juden und Christen, während gegen die »Heiden« Zwangsmaßnahmen möglich sind.18 Die Grundlinien dieser Argumentation des Thomas19 sind im Prinzip bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in Geltung geblieben. So heißt es beispielsweise in der zweiten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche 13 14 15 16 17
Thomas, Summa Theologica (Fn. 8), Bd. II-II, q. 11, 4, S. 246. Vgl. Thomas, Summa Theologica (Fn. 8), Bd. II-II, q. 12, 12, S. 253 f. Thomas, Summa Theologica (Fn. 8), Bd. II-II, q. 10, 8, S. 213. Vgl. Thomas, Summa Theologica (Fn. 8), Bd. II-II, q. 11, 3, S. 243. Vgl. P. Schmidt-Leukel, Ist das Christentum notwendig intolerant?, in: R. Forst (Hrsg.), Toleranz: Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, 2000, S. 177 ff. 18 Vgl. A. T. Khoury, Toleranz im Islam, 2. Aufl. 1986. 19 Daß die Bestimmung des Begriffs der Toleranz, seine philosophisch-theologische Begründung und ihre lebenspraktische Umsetzung im Mittelalter durchaus gegenläufig waren, dokumentiert der Band: A. Patschovsky/H. Zimmermann (Hrsg.), Toleranz im Mittelalter, 1998.
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apodiktisch: »Die kath. Kirche u. der Katholik sind ... absolut intolerant wegen des Anspruchs, die absolut u. allein wahre Religion zu haben ... Die Verwerfung der innerchristl. Häresie von der Urzeit her ist der schärfste Ausdruck dieser wesensnotwendigen theoret. Intoleranz.«20 Ausdrücklich wird festgehalten, daß daher der »Glaubensstaat für das Ideal«21 gehalten wird, um diese Position durchzusetzen. Innerhalb ihres kirchlichen Einflußbereiches »muß« die katholische Kirche »die freiwillige Ablösung von ihr durch Schisma, Häresie u. Apostasie als unrechtmäßig ansehen; dadurch sind Zwangsmaßnahmen gegen die Personen gerechtfertigt«22. Diese Haltung begründet ein problematisches Spannungsverhältnis zum modernen Verfassungsstaat, das Papst Pius XII. (1876/1939 – 1958) in seiner Rede Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft durch einen argumentativen Spagat zu überbrücken versucht hat. Der Papst setzt dabei zwei Prinzipien in ein sich wechselseitig kontrollierendes Verhältnis. Das erste Prinzip ist die autoritative Durchsetzung der religiösen Wahrheit, der die Kirche und jeder Katholik verpflichtet sind. »Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion.«23 Dieser Intoleranz wird ein zweites Prinzip gegenübergestellt, nämlich das friedliche Miteinander in der Völkergemeinschaft auf der Basis eines Völkerrechtes. Dieses Prinzip repräsentiert das höhere Gut, so daß um seinetwillen religiöse Pluralität und »Toleranz unter bestimmten Umständen«24 erlaubt sind. Daraus folgt für den katholischen Juristen und Staatsmann, daß »die Pflicht, sittliche und religiöse Verirrungen zu unterdrücken ... keine letzte Norm des Handels sein [kann]. Sie muß höheren und allgemeineren Normen untergeordnet werden, die … es … als den besseren Teil erscheinen lassen, den Irrtum nicht zu verhindern, um ein höheres Gut zu verwirklichen.«25 Die Verordnung des Friedens vor der dogmatischen Intoleranz ist also das Ergebnis einer sittlichen Abwägung, die kontextbezogen gilt.26 20 A. Strucker, Duldung, religiöse, in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Bd. 3, 1. Aufl. 1931, Sp. 483-486, (483). 21 Strucker, Duldung, religiöse (Fn. 20), Sp. 484. 22 Strucker, Duldung, religiöse (Fn. 20), Sp. 484. 23 Pius XII, Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft, in: A.-F. Utz/J.-F. Groner (Hrsg.), Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII, Bd. II, Freiburg/Schweiz, 2. Aufl. 1954, Nr. 3978. 24 Pius XII, Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft (Fn. 23), Nr. 3984. 25 Pius XII, Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft (Fn. 23), Nr. 3977. 26 Ausdrücklich weist der Papst darauf hin, daß diese Abweichung das Ergebnis einer Lagebeurteilung und Abwägung ist. »In solchen Einzelfällen ist die Haltung der Kirche vom Schutz und von der Rücksichtnahme auf das Bonum commune, das Gemeinwohl der Kirche und des Staates in den verschiedenen Staaten einerseits und andererseits das Gemeinwohl der universalen Kirche des Reiches Gottes auf der ganzen Erde, bestimmt.« (Pius XII, Die religiöse Toleranz in einer Staatengemeinschaft (Fn. 23), Nr. 3984).
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Eine fundamentale Veränderung zur Toleranz vollzieht das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner 1965 verabschiedeten Erklärung über die Religionsfreiheit (Dignitas Humanae Personae), die Toleranz nicht mehr als mögliches Ergebnis einer politisch-moralischen Abwägung vorstellt, sondern als den in der Würde der menschlichen Person direkt begründeten Regelfall. Zwar geht man noch immer davon aus, daß die »einzige wahre Religion ... in der katholischen, apostolischen Kirche«27 verkörpert ist. Aus dieser dogmatischen Einsicht wird aber nicht mehr Intoleranz abgeleitet. Vielmehr erfolgt auf der Basis einer naturrechtlichen Argumentation eine ausführliche Begründung der negativen und positiven Religionsfreiheit, die individuellen, institutionellen und kollektiven Zwang von der Religion fernhält und die Möglichkeit zur freien religiösen Bildung des Einzelnen unter Außenstützung entsprechender Institutionen einfordert. Bemerkenswert ist, daß auch für den Binnenraum der Kirche die Fälle von Häresie und Apostasie nicht eigens erörtert werden. Vielmehr wird eingeschärft, »daß der Mensch freiwillig durch seinen Glauben Gott antworten soll, daß dementsprechend niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden darf. Denn der Glaubensakt ist seiner Natur nach ein freier Akt«28. Zu Recht hat Ernst-Wolfgang Böckenförde darauf aufmerksam gemacht, daß die römisch-katholische Kirche erst mit dieser »Erklärung über die Religionsfreiheit« die Gewissensfreiheit allgemein zugestanden und ein positives theologisches Verhältnis zur modernen Gesellschaft und zum säkularen Verfassungsstaat mit den durch ihn ermöglichten Freiheiten aufgebaut hat.29
27 Erklärung über die Religionsfreiheit, in: Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen Teil II, 1967, Artikel 2, S. 715. 28 Erklärung über die Religionsfreiheit (Fn. 27), Artikel 10, S. 733 ff. 29 Vgl. dazu E.-W. Böckenförde, Einleitung zur Textausgabe der ›Erklärung über die Religionsfreiheit‹ (1968), in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957-2002, 2004, S. 231ff. Dagegen stellen die dogmatischen Kommentare zum Konzilstext auf die Kontinuität der römischen Lehrentwicklung ab. Aber Feststellungen wie die, »daß die Lehre von Dignitatis humanae völlig im Rahmen der Tradition liegt« (J. C. Murray, Zum Verständnis der Entwicklung der Lehre der Kirche über die Religionsfreiheit, in: J. Hamer/Y. Congar (Hrsg.), Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit, 1967, S. 125 (163)), sind angesichts der faktisch vollzogenen Brüche als abwegig zu bezeichnen. Vgl. dazu auch die Ausführungen des römisch-katholischen Dogmatikers G. Essen, Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts. Religion im Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat und säkularer Zivilgesellschaft, 2004, S. 19 ff. Essen verweist darauf, daß einige CSU-Abgeordnete im Parlamentarischen Rat gegen das Grundgesetz gestimmt hätten, weil es mit seinen Prinzipien der Volkssouveränität und den grundrechtlichen Freiheiten nicht im Einklang mit dem damaligen römisch-katholischen Staatsverständnis gestanden habe.
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2. Das reformatorische Christentum Für die reformatorische Theologie stellte sich, historisch betrachtet, das Problem der Toleranz völlig anders als für die katholische Tradition, weil man der Kirche gegenüber auf die Freiheit des Gewissens und auf die Duldung des von der Kirchenlehre abweichenden Verständnisses der christlichen Wahrheit abstellte. Es sei hier nur knapp an Martin Luthers berühmte Worte auf dem Wormser Reichstag erinnert, mit denen er sich gegenüber der obrigkeitlichen und kirchlichen Macht auf die Heilige Schrift und die Vernunftgründe bezieht und sein Gewissen als exklusive Instanz der Bewahrheitung des Glaubens namhaft macht. Hier allein entfaltet die göttliche Wahrheit ihre bindende Wirkung, so daß »contra conscientiam agere neque tutum neque integrum sit«30. Das Zitat zeigt an, daß es der reformatorischen Theologie nicht allein um die Forderung nach bloßer Koexistenz des neuen mit dem alten Glauben ging, sondern um Toleranz aus Prinzip. Zu deren Begründung lassen sich zwei Argumentationsstränge voneinander unterscheiden. Die erste und sozialethische Begründung ist eine Konsequenz aus Martin Luthers Lehre von den beiden Regierweisen Gottes. Nach dieser Lehre hat Gott die weltliche Obrigkeit eingesetzt und mit der Aufgabe betraut, durch das Gesetz – und nötigenfalls auch mit dem Schwert – für Recht und Ordnung zwischen den Menschen zu sorgen, den Frieden zu erhalten und die Verbrecher zu strafen. Als biblische Hauptbelege dafür gelten Römer 13, 17 und 1. Petr. 2, 13-14, die vorzüglich von den Christen Gehorsam dieser weltlichen Obrigkeit gegenüber verlangen. Daneben steht Gottes geistliches Regiment, das um den inneren Menschen, seine Seele und ihr ewiges Heil bekümmert ist. Hier regiert Gott durch sein von der Kirche verkündigtes Wort, das den Menschen überzeugen und zum Glauben führen soll. An Wort und Geschichte Jesu Christi wird dabei deutlich, daß dieses Regiment vollkommen gewaltfrei ausgeübt wird, weil »Christus on zwang un drang on gesetz und schwerd eyn frey willig volk haben sollt«31. Die Differenz von »Gesetz« und »Wort« ermöglicht eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen weltlichem und geistlichem Regiment. Die Macht der Obrigkeit erstreckt sich nur »uber leyb und gutt und was eußerlich ist auf erden«32. Geht sie darüber hinaus, »greyfft sie Gott ynn seyn regiment und verfuret und verderbet die seelen«33. Denn weil die Seele »auß aller menschen hand 30 Die Zitate aus Luther werden hier nach der Weimarer Ausgabe [WA] wiedergegeben. M. Luther, Wormser Reichstag, WA 7, 1897, S. 814 (838). 31 Luther, Von weltlicher Obrigkeit, WA 11 (Fn. 30), 1900, S. 229 (253). 32 Luther, Von weltlicher Obrigkeit, WA 11 (Fn. 30), 1900, S. 262. 33 Luther, Von weltlicher Obrigkeit, WA 11 (Fn. 30), 1900, S. 262.
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genomen und alleyne unter Gottis gewallt gestellet«34 ist, ist es »umb sonst unnd unmüglich … yemant zu gepieten oder zu zwingen mit gewallt, sonst oder so zu glewben«35. Die göttliche Wahrheit gehorcht also einer gänzlich anderen Sach- und Vollzugslogik als die zwangsbewehrte Gewalt menschlicher Institutionen. Zum Glauben kann daher niemand gezwungen werden. Auch Unglaube und Ketzerei sind zu tolerieren. »Denn ketzerey kan man nymer mehr mitt gewallt weren. … Gottis wort soll hie streytten, wenns das nicht auß richt, tzo wirtts wol unaußgericht bleyben von welltlicher gewallt.«36 Zum Heil der Seele gehört eine vollständige Kongruenz von Form und Inhalt des Heilsvollzuges. Daher schließen Glaube und Gewalt einander aus. Auf die zweite und dogmatische Argumentation zur Begründung von Toleranz hat Gerhard Ebeling aufmerksam gemacht.37 Er bezieht sich auf eine Passage in Martin Luthers Disputatio de iustifiactione, in der der Begriff der »Toleranz Gottes« als Schlüsselbegriff der Rechtfertigungslehre dient.38 Danach gründet die Rechtfertigung des sündigen und gottlosen Menschen in der »Toleranz und Weisheit Gottes«39, der um eines höheren Zieles, nämlich um seines künftigen Reiches willen, den Gottlosen und seine üblen Werke nicht verstößt und bestraft. Gott erträgt das Böse in der Welt wie man eine Krankheit erträgt, um dennoch weiter zu leben40 oder wie eine weise Regierung um des guten Friedens willen auch einem unredlichen Bürger das Bürgerrecht beläßt.41 Diese göttliche Toleranz gilt auch denen, die schon glauben. »Auch gegen die Kirche und seine Heiligen auf Erden übt er eine ähnliche Geduld (tolerantia) und Güte, denn er erträgt (tolerat) sie und erhält sie, weil sie Erstlinge seiner Schöpfung unter uns sind, und erklärt sie schließlich auch für gerecht und Kinder seines Reiches.«42 Der Gerechtfertigte ist nicht effektiv gerecht, sondern »in der 34 35 36 37 38
39 40 41 42
Luther, Von weltlicher Obrigkeit, WA 11 (Fn. 30), 1900, S. 263. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, WA 11 (Fn. 30), 1900, S. 264. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, WA 11 (Fn. 30), 1900, S. 268. Vgl. G. Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft (1981), in: T. Rendtorff (Hrsg.), Glaube und Toleranz. Das theologische Erbe der Aufklärung, 1982, S. 54 ff. »So darf man weder die Person des Gottlosen, der sich um Gerechtigkeit müht, noch die Schönheit seines Werkes ansehen, sondern die unbegreifliche Geduld (tolerantia) und Weisheit Gottes, der das geringere Übel trägt, damit nicht durch ein größeres Übel alles vernichtet werde« (Luther, Thesenreihe über Römer 3, 28, WA 39/I (Fn. 30), 1926, S. 82 (82) These 13 f. (Übersetzung von K. Aland)). »tolerantiam et sapientiam Dei« (Luther, Thesenreihe über Römer 3, 28, WA 39/I (Fn. 30), 1926, S. 82, These 14). Vgl. Luther, Thesenreihe über Römer 3, 28, WA 39/I (Fn. 30), 1926, S. 82, These 15. Vgl. Luther, Thesenreihe über Römer 3, 28, WA 39/I (Fn. 30), 1926, S. 83, These 19. Luther, Thesenreihe über Römer 3, 28, WA 39/I (Fn. 30), 1926, S. 83, Thesen 21 f. (Übersetzung von K. Aland).
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Bewegung und im Lauf nach der Gerechtigkeit«43, also zugleich noch Sünder.44 Die göttliche Toleranz bezieht sich auf den Gottlosen ebenso wie auf den Gerechtfertigten. Im Kern leben also alle Menschen von der Toleranz Gottes und daraus ist die sittliche Forderung nach Toleranz zwischen den Menschen abzuleiten. Weil Gott allein Richter ist, kann es kein menschliches Urteil geben, das an die Stelle seines Urteils treten könnte. Es gibt vielmehr eine Solidarität zwischen den Menschen als Sünder, die eine wechselseitige Maßregelung nicht gestattet, sondern den Anderen in Liebe duldet.45 Toleranz in diesem Sinne ist ein Abbild der Toleranz Gottes mit dem Sünder. Diese dogmatische Begründung des Toleranzgedankens ist von Theologen der Gegenwart unterschiedlich durchgeführt worden. Gerhard Ebeling46 und Christoph Schwöbel47 verorten den Grund der Toleranzidee in der Rechtfertigungslehre und betonen im Anschluß an Luther deren harmatiologischen Kern. Für Ernst Wolf fällt die Toleranz »in den Bereich der Heiligung«48. Martin Honecker begründet die Toleranz eschatologisch, weil die Wahrheit nicht Besitz, sondern Verheißung ist.49 Für Gerhard Sauter ist Toleranz in der »trinitarischen Struktur der christlichen Theologie«50 fundiert. Diese ans Kuriose grenzende Bandbreite von Möglichkeiten zeigt, wie unproblematisch für die reformatorische Theologie Gewissensfreiheit und Toleranz sind, denn bei den genannten Variationen handelt es sich um Differenzen, die für die Sachhaltigkeit der vorgetragenen Argumentation keinerlei Konsequenzen haben. Man kann daher die reformatorische Begründung von Toleranz so zusammenfassen, daß zum Inhalt des christlichen Glaubens auch die Art seines Zustandekommens gehört. Die Rechtfertigung des Sünders durch den barmherzigen Gott, der die Sünde des Menschen erträgt und sie ihm in Jesus Christus nicht anrechnet, wird dem 43 Luther, Thesenreihe über Römer 3, 28, WA 39/I (Fn. 30), 1926, S. 83, These 23 (Übersetzung von K. Aland). 44 Vgl. Luther, Thesenreihe über Römer 3, 28, WA 39/I (Fn. 30), 1926, S. 83, These 24. 45 » … quantum ipsi amplificent charitatem et concordiam, Nos dei verbum. Ibi nihil concessum. Sed in charitate omnia volumus tolerare et credere. Quid nocet, quod alius me bescheisset? Das schad mir nichts.« (Luther, In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius, WA 40/II (Fn. 30), 1914, S. 1-184, (47),12-48, (2)). 46 Vgl. Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft (Fn. 37), S. 54 ff. 47 Vgl. C. Schwöbel, Toleranz aus Glauben. Identität und Toleranz im Horizont religiöser Wahrheitsgewissheiten, in: ders., Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, 2003, S. 217 ff. 48 E. Wolf, Toleranz nach evangelischem Verständnis, in: H. Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, 1977, S. 135 (154). 49 M. Honecker, Grundriß der Sozialethik, Berlin/New York, 1995, S. 705. 50 G. Sauter, Wahrheit und Toleranz, in: T. Rendtorff (Hrsg.), Glaube und Toleranz, 1982, S. 128 (137).
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Menschen nur von Gott her im Glauben erschlossen, so daß das einzelne Gewissen freigestellt ist gegenüber allen menschlichen Machtansprüchen, kirchlicher Indoktrination oder obrigkeitlicher Zwangsgewalt. Die im reformatorischen Denken vorliegende prinzipielle Vorordnung der Gewissensfreiheit gegenüber der Obrigkeit ist im späten 19. Jahrhundert von Georg Jellinek (1851-1911) zur Grundlage jener ideengeschichtlichen Konstruktion erhoben worden, nach der das moderne Menschenrechtsdenken aus der reformatorischen Gewissens- und Religionsfreiheit hervorgegangen sei.51 Wie immer das ideengeschichtliche Konstrukt Jellineks zu beurteilen ist, gegenwärtig wird der methodische und »konzeptuelle Zusammenhang«52 von Gewissensfreiheit und Toleranz von Autoren von Böckenförde53 bis Habermas immer wieder hervorgehoben. Gleichwohl muß der historischen Wahrheit Raum gegeben werden, denn auch im reformatorischen Lager ist es zu Ausbrüchen von Intoleranz gekommen. Martin Luther hat das gewaltsame Vorgehen gegen die aufständischen Bauern auch damit begründet, daß sie »die aller grosten Gotteslesterer und schender seynes heyligen namen«54 seien. In Genf hat Johannes Calvin mit der Hinrichtung des Antitrinitariers Michel Servet den ersten religiösen Mord der Reformation begangen. In der Reformationszeit wurde die Freiheit des Gewissens vor allem mit der göttlichen Zuständigkeit für das Seelenheil und mit der Worthaftigkeit des Glaubens begründet, aber (noch) nicht als individuelles Menschen- oder Grundrecht begriffen.
II. Aspekte des gegenwärtigen philosophischen Diskurses Nach dieser grundsätzlichen theologischen Klärung sollen aus dem aktuellen philosophischen Diskurs zum Toleranzbegriff55 vier Aspekte hervorgehoben werden, bei denen eine weitreichende Übereinstimmung festzustellen ist. Sie 51 Vgl. G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1895), in: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 2. Aufl. 1974, S. 1 ff. 52 J. Habermas, Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion: Philosophische Aufsätze, 2005, S. 258 (260). 53 E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1992, S. 200 ff. 54 Luther, Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, WA 18 (Fn. 30), 1908, S. 357 (358). 55 Die gründlichste philosophische Analyse des Toleranzbegriffs hat R. Forst (Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, 2003) vorgelegt. Auf die von Forst vorgetragene Begründung kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden.
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bilden gewissermaßen den Horizont für die Beantwortung der Frage nach dem Beitrag des christlichen Verständnisses von Toleranz in der Gegenwart.
1. Multikulturelle Vervielfältigung des Toleranzbedarfs Unter dem Vorzeichen von Migration und Globalisierung ergibt sich ein erhöhter Toleranzbedarf, der den paradigmatischen Fall von Toleranz, das Dulden des Nebeneinanders unterschiedlicher Religionen, erheblich verkompliziert hat. Der Begriff bezieht sich, wie die amerikanische Philosophin Wendy Brown feststellt, nicht mehr nur auf den Schutz divergierender Überzeugungen, sondern »auf ein Ethos und eine Praxis des Zusammenlebens von Menschen verschiedenster Hautfarben, Ethnien, Kulturen und sexueller Praktiken«56. Die Schnittstellen verlaufen nicht mehr, wie in den klassischen Toleranztheorien bis zum Kommunitarismus noch unterstellt, zwischen fest umrissenen sozialen Größen, sondern im Nahbereich des individuellen Lebens. Michael Walzer stellt pointiert fest: »Toleranz beginnt nun schon in der Familie, wo wir Frieden schließen müssen mit der ethnischen, religiösen und kulturellen Zugehörigkeit unserer Ehepartner, unserer Schwiegersöhne und –töchter, unserer Kinder und auch mit unserem eigenen zusammengesetzten oder geteilten Selbst.«57 Daraus folgt, daß Toleranz vor allem als Tugend einzuschätzen ist, die sich vorzüglich in der Lebenswelt zu bewähren hat.58
2. Das Recht als Rahmen von Toleranz Konsens herrscht darüber, daß das freiheitliche Recht diejenige Institution ist, die die Rahmenbedingungen für eine plurale Toleranzkultur bereitstellt.59 Seine Aufgabe besteht in der gesetzlichen Regulierung des friedlichen Zusammenlebens freier Menschen. Insofern kann man sagen, daß die »rechtsstaatliche Freiheitsordnung … eine Ordnung institutionalisierter Toleranz«60 ist. Außerhalb der Duldung stehen damit solche Positionen, die mit Gewalt die freiheitliche Rechtsordnung zu kontaminieren trachten. Freilich ist damit das Thema Toleranz nicht erledigt, was durch zwei Überlegungen gezeigt werden kann. 56 W. Brown, Reflexionen über Toleranz im Zeitalter der Identität, in: R. Forst (Hrsg.), Toleranz (Fn. 17), S. 257 ff. (259). 57 M. Walzer, Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz, 1998, S. 107. 58 Vgl. O. Höffe, Toleranz: Zur politischen Legitimation der Moderne, in: R. Forst (Hrsg.), Toleranz (Fn. 17), S. 60 ff. 59 Vgl. dazu Helmut Goerlich, in diesem Band S. 207 ff. 60 Christoph Enders, in diesem Band S. 243 (245).
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Einmal ist zu notieren, daß die nationalen Rechtssysteme aufgrund kultureller, rechtsgeschichtlicher und rechtsdogmatischer Gewichtungen die Grenzen von Toleranz unterschiedlich bestimmen, wie Winfried Brugger am Beispiel der »Haßrede« eindrucksvoll in seinen vergleichenden Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen Recht vorgeführt hat.61 »In den USA ist die Meinungsfreiheit in aller Regel … das gegenüber anderen Interessen und Verfassungswerten vorrangige Recht. In Deutschland dagegen ist Persönlichkeitsschutz und dahinter stehende Menschenwürde wichtiger. Bei deren Verletzung, bei Formalbeleidigung und Schmähung und unwahren Behauptungen tritt die Freiheit der Rede zurück.«62 Insofern erweist sich auch das Rechtssystem als kontextbezogen und die Bestimmung der Grenzen der Toleranz als rechtsspezifisch differenzierungsbedürftig. Sodann wird registriert, daß sich innerhalb von Recht und Toleranz Formen von Diskriminierungen einstellen können und zwar dort, wo angesichts realer Machtverhältnisse »das Objekt der Toleranz … gerade dadurch, daß es toleriert wird, so konstruiert [wird], als sei es marginal, unterlegen, anders, als stünde es außerhalb der Gemeinschaft«63, sei fremd, ja feindlich. Dabei handelt es sich um einen Sachverhalt, den schon Herbert Marcuse als »repressive Toleranz« bezeichnet hatte.64 Dieser Fall stellt sich insbesondere dort ein, wo Toleranz bloß als eine »Art des lieblosen Lebens und LebenLassens«65 verstanden wird und asymmetrische gesellschaftliche Machtkonstellationen den Anderen auf seine Andersheit festlegen. Inzwischen ist durch das im EU-Recht verankerte Diskriminierungsverbot rechtliche Abhilfe geschaffen worden, aber mit ihrer institutionellen und lebensweltlichen Umsetzung verbindet sich die bleibende Aufgabe, subkutane Prozesse sozialer Exklusion aufzuspüren.
3. Der überrationale Charakter des Anderen und die Bedeutung der Religionen Der wachsende Toleranzbedarf wird auch durch die Einsicht fundiert, daß die Gründe für das Anderssein des Anderen nur teilweise rationalisierbar und daher bloß partiellen Übersetzungsleistungen zugänglich sind. Bekanntlich vertritt Jürgen Habermas die These, daß nur das- oder derjenige Gegenstand 61 Vgl. W. Brugger, Verbot oder Schutz der Haßrede. Rechtsvergleichende Beobachtung zum deutschen und amerikanischen Recht, AöR 128 (2003), S. 372 ff. 62 Brugger, Verbot oder Schutz der Haßrede (Fn. 61), S. 380. 63 Brown, Reflexionen über Toleranz (Fn. 56), S. 260 f. 64 Vgl. H. Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, 1966, S. 101 f. 65 M. C. Nussbaum, Toleranz, Mitleid und Gnade, in: R. Forst (Hrsg.), Toleranz (Fn. 17), S. 144 (160).
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der Duldung sein kann, der für seine Position vernünftige Gründe geltend machen kann, die nicht nur subjektiv für gut gehalten werden, sondern »öffentlich als legitim gelten dürfen«66. Dieses hochnormative Toleranzverständnis läuft aber auf ein Diktat der öffentlichen Vernunft hinaus, die dem überrationalen Charakter der religiösen, ethischen und kulturellen Differenzen nicht gerecht wird. Gerade in liberalen Konzeptionen, in denen zwischen Gerechtigkeit und Gutem unterschieden und die Wahl des Guten der Option des Einzelnen anheim gestellt wird, wird darauf Wert gelegt, daß den darin wirksamen überrationalen Motiven und Handlungsweisen Anerkennung entgegenzubringen ist. Das aber bedeutet, daß man sie nicht nur in einer formal-vernünftigen Weise gleichbehandeln kann, sondern ihnen auch lebensweltliche Entfaltungsmöglichkeiten einräumen muß, damit sie bei Wahrung der Gleichheit aller jeweils in ihrer Andersheit zur Geltung und Anerkennung gebracht werden können. In diesem Zusammenhang wird – im Blick auf das Religionsrecht – oft der Laizismus kritisiert, der zugunsten einer egalitären Freiheitsidee die Bedeutung der überrationalen Differenzfaktoren unterschätzt. Daher hat Rainer Forst den Begriff der Toleranz als »RespektKonzeption qualitativer Gleichheit« ausgelegt, der »zufolge die Bürger einander als rechtlich-politisch gleichberechtigte und doch ethisch unterschiedliche Personen anerkennen und sehen, daß aus ethischen Unterschieden besondere rechtliche Anerkennungsformen folgen können – sofern dies reziprok-allgemein mit dem Verweis auf gleiche Chancen, ethisch-kulturelle Identitäten auszubilden bzw. zu erhalten …, zu rechtfertigen ist«67. Als Paradigmen für die Überrationalität der Andersheit gelten noch immer die Religionen, weil in ihnen religiöse Gewissheit, ethnische Abkünftigkeit, kulturelle Traditionen und sittliche Bindung des Gewissens ineinander liegen und sie entsprechenden Toleranzbedarf erzeugen, wenn sie innerhalb einer Religionskultur zu stehen kommen. Als kulturelle Sinngebilde folgen sie nicht der gleichen Rationalität wie die Gerechtigkeit und die Freiheit, die als Fundament des Rechts gelten. Aber zugleich sind sie wegen ihrer individuellen und gesellschaftlichen Prägekraft für die Begründung von und die Bildung zur Toleranz wichtig und unverzichtbar, weil sich in der Religionskultur eben auch wesentliche Klärungen für das Selbstverständnis der Gesamtgesellschaft vollziehen. Drei Aspekte seien angeführt: a) Einmal sind die Religionen in ihrer Geschichte selbst Subjekte und Objekte von Toleranz und Intoleranz gewesen.68 Aus der Vergegenwär66 Habermas, Religiöse Toleranz (Fn. 52), S. 265. 67 Forst, Toleranz im Konflikt (Fn. 55), S. 697. Zum Begriff der Anerkennung vgl. den Beitrag von Ludwig Siep in diesem Band, S. 177 ff. 68 Vgl. zur Geschichte der Juden in Deutschland den Beitrag von Jörg Berkemann in diesem Band, S. 71 ff.
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tigung dieser religiösen Erinnerungen läßt sich die leid- und wechselvolle Geschichte der Durchsetzung von Toleranz entnehmen und für die Gegenwart aufbereiten. b) Wegen der lebensgeschichtlichen und kulturellen Prägekraft der Religionen entzünden sich noch immer strittige Grenzfälle an religiösen Themen, gerade in einer Rechtskultur wie der unseren, die den Religionen viel zutraut und daher der positiven Religionsfreiheit erheblichen Raum gibt.69 In diesem Rahmen kollidieren gelegentlich – anders als innerhalb laizistischer Rechtsordnungen – religiöse Riten und Ausdrucksformen miteinander oder mit den Ansprüchen Anderer (z.B. des Staates) und lösen dadurch Konflikte aus. Daher können von einer innerlich pazifizierten Religionskultur wichtige Impulse für den Abbau gesellschaftlicher Diskriminierungen und Intoleranz ausgehen. Eine freiheitliche und tolerante Religionskultur kann, so nun doch zu Recht Jürgen Habermas, daher ein ›Schrittmacher‹ sein für die Gewährung und Gestaltung kultureller Rechte für andere, bisher marginalisierte ethnische, kulturelle oder soziale Minderheiten.70 c) Voraussetzung dafür ist, daß die Gestaltung der Religionsfreiheit von aufgeklärten Religionen übernommen wird, die dann Träger und ›Motor‹ einer ethischen Toleranzkultur werden. Dazu gehört, daß die Religionen die ambivalenten Prädispositionen zu Intoleranz und Toleranz überwinden, indem sie die Toleranzidee dogmatisch reformulieren und durch Bildungsanstrengungen zu ihrer Verinnerlichung beitragen. In diesem Sinne verweist etwa Paul Ricoeur auf das aufgeklärte Christentum, in dem er den Geist der gegenseitigen Anerkennung und des Respekts vor der Vielfalt wieder erkennt. Wesentliche Merkmale sind für ihn die historische Selbstkritik und die Entdeckung der inneren Pluralität, die Kirche als freie Interpretationsgemeinschaft und die Ausdifferenzierung von Religion und politischer Macht. Ricoeur schließt daraus, daß die im Christentum erarbeitete »Anerkennung in der Verschiedenheit auch auf die nicht-christlichen Religionen« ausgedehnt werden soll, »ohne daß die Christen gezwungen wären, in einen vagen Synkretismus zu verfallen«71. Das Christentum wäre ein Vorbild einer toleranten Selbstliberalisierung auch anderer Religionen. 69 Vgl. dazu Christoph Enders, in diesem Band S. 243 (251 ff.). 70 »Die Einbeziehung religiöser Minderheiten ins politische Gemeinwesen weckt und fördert die Sensibilität für die Ansprüche anderer diskriminierter Gruppen. Die Anerkennung des religiösen Pluralismus kann diese Vorbildfunktion übernehmen, weil sie auf exemplarische Weise den Anspruch von Minderheiten auf Inklusion zu Bewußtsein bringt.« (Habermas, Religiöse Toleranz (Fn. 52), S. 274). 71 P. Ricoeur, Toleranz, Intoleranz und das Nicht-Tolerierbare, in: R. Forst (Hrsg.), Toleranz (Fn. 17), S. 26 (41 ff.).
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4. Toleranz als moralische Ressource für gesellschaftliche Inklusion Der Toleranzbedarf erhöht sich, wenn man innerhalb der rechtlichen Ordnung und der von ihr ermöglichten Pluralität auf zivilgesellschaftliche Selbstorganisation mit dem Ziel von sozialer Inklusion abstellt. Dann könnte sich, wie der Streit um die Mohammed-Karikaturen deutlich macht, aus dem Toleranzgebot die Anmutung ableiten lassen, aus Gründen des Respekts vor der religiösen Position des Anderen die grundrechtlichen Spielräume etwa im Bereich der Meinungs- und Kunstfreiheit nicht auszuschöpfen. Dafür ist es aber erforderlich, daß man die soeben angedeutete Bewegung auf den Anderen hin vertieft. In diesem mentalen Aufgeschlossensein für den Anderen steckt eine ganze Bandbreite von kognitiven, emotionalen, volitiven und sittlichen Voraussetzungen, auf deren Entfaltung im philosophischen Gegenwartsdiskurs ein Schwerpunkt liegt. Der »Respekt ... auf der konkreten Ebene des Verhältnisses von Mensch zu Mensch«72 kann hochgezont werden über das »Mitleid«73 und die »Kooperation«74 bis hin zu einer »enthusiastische[n] Bejahung der Differenz«75. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff des Verstehens.76 Toleranz im pointiert sittlichen Sinne schließt also eine Hermeneutik des Anderen ein.
III. Der Beitrag des Christentums zur Begründung und Belebung einer toleranten Religionskultur Vor diesem Hintergrund sollen abschließend aus theologischer Perspektive einige Anmerkungen zum Beitrag des Christentums zur Begründung und Belebung einer Toleranzkultur angebracht werden. Dazu knüpfe ich an den Ergebnissen des ersten Teils an und gehe von der dort begründeten These aus, daß für das lateinische Christentum der Gegenwart Toleranz zum Kernbestand gehört und daß es in diesem Sinne als gesellschaftlicher Faktor der Internalisierung der rechtlichen, sittlichen und religiösen Dimension von Toleranz gelten kann. Denn in der Religion wird der Mensch seines Selbst in der »Für«-Perspektive thematisch. Martin Luthers Einsicht von der Gewis72 73 74 75
Ricoeur, Toleranz (Fn. 71), S. 36. Nussbaum, Toleranz, Mitleid und Gnade (Fn. 65), S. 160. Schwöbel, Toleranz aus Glauben (Fn. 47), S. 241. Walzer, Über Toleranz (Fn. 57), S. 20. Dazu kritisch R. Bubner, Die Dialektik der Toleranz, in: R. Forst (Hrsg.), Toleranz (Fn. 17), S. 45 ff. 76 »Es erscheint notwendig, sowohl die Norm als auch die Antagonisten zu verstehen, um die es in dieser Konzeption der heutigen Gesellschaft geht.« (Brown, Reflexionen über Toleranz (Fn. 56), S. 265).
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sensbestimmtheit des Glaubens bedeutet für das Thema »Toleranz«, daß in der Religion die eigene Lebensgewißheit so angeeignet wird, daß die dabei erfahrene Freiheit auch den Anderen zugemessen wird. Insofern liegt im Glauben eine selbstbewußte und wechselseitige Inanspruchnahme und Gewährung von Toleranz vor, die ihre Wirksamkeit innerhalb des durch das Recht gesteckten Rahmens, aber vor allem in vorrechtlichen Bezügen entfaltet. Insofern ist Toleranz eine sittliche Tugend.77 Hierzulande nährt sich dieses Toleranzbewußtsein wesentlich von der Erinnerung an die eigene Religionsgeschichte, in der Christinnen und Christen einerseits ebenso Opfer intoleranter Repression gewesen sind wie sie andererseits Andersglaubende verfolgt haben. Diese historische Erinnerung stützt den prinzipiellen Charakter der Einsicht in die symmetrische Toleranz, wie sie heute und hierzulande im Verhältnis zu Andersglaubenden unstrittig ist. Für diesen historischen Erschließungszusammenhang erweist sich die Entstaatlichung der christlichen Kirchen als entscheidender Katalysator. Die in der Unterscheidung der beiden Regierweisen Gottes ideell bereits in der Reformationszeit geprägte und in der europäischen Freiheitsgeschichte vollzogene Differenzierung von Religion und staatlicher Gewalt ist für den Aufbau einer religiös begründeten Toleranzkultur von nicht zu unterschätzender Bedeutung, weil hegemoniale Interessen abgestreift werden und Religion ohne sie ganz bei sich selbst ist. Diese Verknüpfung der Differenzierung von Religion und staatlicher Macht einerseits mit der Toleranz andererseits läßt sich übrigens gegenwärtig auch im Islam beobachten. Denn überall dort, wo von muslimischen Gelehrten Toleranz historisch und systematisch begründet wird, wird faktisch auf diese Differenzierung abgestellt.78 Es zeigt sich dabei auch, daß der Begründungszusammenhang dort ganz anders verläuft, weil der Vertragsidee darin eine wesentliche Bedeutung zukommt. Toleranz liegt in der inneren Logik des Vertragsdenkens insofern begründet, weil mit einem Vertrag auf der Basis von Leistung und Gegenleistung das Zugleich von Gleichheit und Ungleichheit mit dem Vertragspartner anerkannt wird. Über die formale Symmetrie, die mit dem Vertragsdenken idealiter verbunden ist, läßt sich innerhalb der christlichen Denkungsart noch ein besonderes Interesse an einer Hermeneutik des Anderen identifizieren, die die Toleranz von einem bloßen Ertragen des Anderen weg und hin zu einem 77 Vgl. A. v. Scheliha, Toleranz als Tugend in einer multikulturellen Gemeinschaft, in: ders., Der Islam im Kontext der christlichen Religion, 2004, S. 110 ff. 78 Vgl. exemplarisch A. Falaturi, Toleranz und Friedenstraditionen im Islam, in: ders., Der Islam im Dialog, 5. Aufl. 1996, S. 75 ff. Falaturi unterscheidet innerhalb der Sunna vom Propheten konsequent zwischen religiösen (d. h. toleranten) und politischen Motiven des Handelns.
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emphatischen Verstehen führt. Dazu sei an die Toleranz Gottes mit den sündigen Menschen angeknüpft. »Sünde« bezeichnet ja das Selbstverhältnis des Menschen vor Gott, in dem der Mensch sich versteht als jemand, der den göttlichen Ansprüchen an sein Leben genügen will, es aber niemals vermag. Im Begriff der Sünde verbirgt sich also eine Hermeneutik des Ich, das die eigene Lebensgeschichte in der unauflöslichen Dialektik von Forderung, Vollbringen und Unvermögen versteht. Die Rechtfertigung des Sünders aber löst den Persönlichkeitswert aus dieser Dialektik heraus ohne diese zu überspringen, denn das konkrete Selbstverstehen bleibt daran gebunden (simul iustus et peccator). Im Außenverhältnis wird diese Hermeneutik des Ich strukturell auf den anderen Menschen übertragen. Der dogmatische Grundbegriff lautet nun: »Liebe«. Damit ist keine utopische Verschmelzungsideologie gemeint, sondern die fürsorgende Zuwendung zum Anderen. Freiheitstheoretisch formuliert geht es um die Unterstützung des Anderen in seiner Selbstzweckhaftigkeit mit dem Ziel,79 daß er die in ihm und nur in ihm liegenden Potenziale entfalten und Anlagen ausbilden kann.80 Folgt man dieser Spur, dann liegt in der Logik der Liebe nicht nur die Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit, sondern auch der Versuch seines Verstehens. Der christliche Glaube schließt also nicht nur ein Sich-SelbstVerstehen vor Gott ein, sondern, ethisch gewendet, auch ein sympathetisches Interesse am Anderen. Daher liegt in der christlichen Religion neben der Absage an Gewalt, der Betonung der Worthaftigkeit des Glaubens, dem Vertrauen auf die Kraft des Argumentes auch eine prinzipielle Disposition zum Dialog vor. Daß mit dieser dialogischen Kultur des wechselseitigen Verstehens ein wichtiger Schritt über die bloße Anerkennung von Alterität hinaus getan wird, wird sofort deutlich, wenn man erwägt, daß mit der bloßen Anerkennung diese Andersheit durch Fremdzuschreibung – womöglich repressiv – zementiert werden kann. Diesen Vorgang hat Wendy Brown zutreffend als den »äußerst heimtückischen Aspekt des gegenwärtigen Toleranzdiskurses«81 beschrieben. Verfolgt man aber mit der Kultur der Toleranz nun eine inklusive Absicht, dann müssen Prozesse der Naturalisierung von Andersheit abgebaut und durch eine verstehende Dialogkultur das Bewußtsein der Kontingenz von Andersheit mitgeführt werden. Erst dadurch ergibt sich 79 Ich folge hier den dogmatischen Bestimmungen von A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. III, 2. Aufl. 1883. Danach »ist die Liebe auf die Förderung des erkannten oder geahnten Selbstzweckes des Andern gerichtet.« (S. 259). 80 Eine freiheits- und individualitätstheoretische Umformung dieser Gedanken hat Friedrich Schleiermacher vorgelegt. Dazu U. Barth, Das Individualitätskonzept der ›Monologen’. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Dogmatik, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, 2004, S. 291 (320 f.). 81 Brown, Reflexionen über Toleranz (Fn. 56), S. 278.
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eine wirkliche »Zivilisierung der Differenz«. Toleranz in diesem Sinne dient dann nicht kulturellem oder religiösem Artenschutz,82 sondern der kooperativen Koexistenz von Personen oder Gruppen, die einander gerade nicht als fensterlose Monaden begegnen, sondern sich in und durch die tolerante Dialogsituation weiter entwickeln und ihre Identität in der Begegnung mit dem Anderen neu arrangieren. Es geht, wie jüngst Hartmut Kreß im Anschluß an Gustav Mensching betont hat,83 um ein wechselseitiges Enrichment, das seinen ›Grund‹ und ›Motor‹ in der Verstehenskultur des Christentums findet. Der Effekt eines wechselseitigen Enrichments werden gesellschaftliche Inklusionsprozesse und – bezogen auf die Religionskultur – weit reichende Liberalisierungsvorgänge sein. Denn im dialogischen Verstehensprozeß wird das Andere im Eigenen und umgekehrt angeschaut. Der als Verstehensprozeß angelegte Dialog führt zu einer reflexiven Vertiefung des Eigenen durch die Erfahrung des Fremden und enthält das Potential für notwendige Umorientierungen auf der Basis der jeweils selbst mitgebrachten Sinnressourcen. Diese Hermeneutik bezieht sich nicht nur auf religiöse Alterität, sondern wird auch der modernen Vervielfältigung der Differenzen gerecht, weil sich das Verstehen-Wollen auch auf das ethnisch und kulturell Fremde, auf den neuen Lebensstil und auf die andere Orientierung bezieht – ohne jeden Zwang, es sich aneignen zu müssen. In der sich zunehmend plural auffächernden Religionskultur wird diese auf Verstehen des Anderen ausgerichtete Haltung vor allem im Dialog zwischen den Vertretern der Religionen wirksam, der von den Kirchen, Organisationen und Verbänden vor Ort durchgeführt wird. Darin wird exemplarisch die Balance zwischen der Anerkennung, dem Verstehen des Anderen und dem Aushalten bleibender Differenzen eingeübt. Solche Differenzen stellen sich ein in der Religionsdogmatik, in Fragen nach der Gestaltung der Gesellschaft ebenso wie bei denen des alltäglichen Lebens – bis hinein in die Lebensgemeinschaften, die quer zu den unterschiedlichen ethnischen und religiösen Herkunftskulturen eingegangen werden. Hier wie dort gibt es – auf der Basis von Gemeinsamkeiten – bleibende Differenzen, die aber nur durch wechselseitiges Verstehen in lebensdienlicher Weise als solche festgestellt und gelegentlich – so es lebensweltlich möglich ist – auch in partielle Konsense überführt werden.84 In diesem Bereich wirkt sich die 82 Vgl. D. Grimm, Kann der Turbanträger von der Helmpflicht befreit werden?, FAZ 141 (21. Juni 2002), S. 49. 83 Vgl. H. Kreß, Kultur der Toleranz – ein Gebot der Stunde, Zeitschrift für evangelische Ethik (ZEE) 47 (2003), S. 83 (86). 84 Vgl. A. v. Scheliha, Theorie der Religionen und moderner Synkretismus, in: C. Danz/U. H. J. Körtner (Hrsg.), Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, 2005, S. 43 ff.
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auf Dialog und Verstehen angelegte Arbeit von Theologie und Kirchen schon jetzt positiv aus. Es zeigen sich darin auch positive Rückwirkungen für das Christentum: Denn durch den Dialog mit Muslimen und Juden ist inzwischen ein erkennbar größeres Interesse an der christlichen Prägung der eigenen Herkunftskultur gewachsen, das zeigt nicht zuletzt der philosophische Diskurs der Gegenwart zum Thema »Toleranz«. Die Tatsache, daß wir es in Deutschland mit einer im Großen und Ganzen befriedeten Religionskultur zu tun haben, ist also nicht nur der grundgesetzlich garantierten negativen und positiven Religionsfreiheit geschuldet, sondern auch das Ergebnis dieser vom Christentum ausgehenden und Verstehen intendierenden Dialogoffenheit, die z.B. von vielen Muslimen in Deutschland mit einer entsprechenden Offenheit beantwortet wird. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man die Verhältnisse in anderen Ländern anschaut. Insofern ist die in Deutschland gegenwärtig existierende Religionskultur cum grano salis von Toleranz, Friedfertigkeit und Vorurteilsfreiheit gekennzeichnet und sie ist damit ein Beleg dafür, daß religiöse Toleranz nicht, wie viele Fundamentalisten aller Lager immer unterstellen, eine Vergleichgültigung der Wahrheit bedeutet, sondern deren höchste Konkretion, insofern das dialogische Verstehen der Weg ist, den die Botschaft der christlichen Religion nehmen will.
Ralf Poscher
Spinoza und das Paradox der Toleranz In pluralistischen Gesellschaften steht Toleranz hoch im Kurs. Toleranz ist eines der Konzepte, mit denen pluralistische Gesellschaften versuchen, potentielle Konflikte zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen zu mäßigen, die ihren Pluralismus mit konstituieren. Toleranz wird nicht nur ethisch und politisch, sondern auch rechtlich gefordert: So zählt Toleranz zu den gesetzlich vorgeschriebenen Erziehungszielen für öffentliche und private Schulen.1 Politische Feinde müssen sich tolerieren, und der Staat ist sogar verpflichtet, Verfassungsfeinde zu tolerieren – wenigstens solange sie sich nicht organisatorisch verfestigen oder als Einzelne die Voraussetzungen der Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG erfüllen. Toleranz wird von den verschiedenen Religionen erwartet und in einigen Fällen auch aus religiösen Gründen gewährt. Toleranz ist eines der Konzepte, um mit dem Pluralismus zurechtzukommen; Relativismus und die Idee eines überlappenden Konsensus sind andere. Jedes dieser Konzepte hat seine eigenen Probleme. Toleranz erweist sich jenseits aller ethischen Begründungsfragen bereits anfällig für begriffliche Kritik. Eine Kritik ist als das Paradox der Toleranz bekannt. Diese begriffliche Kritik kann auf die augustinischen Wurzeln der Toleranzdiskussion zurückgeführt werden. Zu Beginn soll das Paradox der Toleranz anhand des Arguments von Augustinus erläutert werden. Der zweite Teil ist der Untersuchung gewidmet, wie Spinoza, der noch vor Locke einer der ersten Verfechter von religiöser Toleranz sowie von Gedanken- und Redefreiheit wurde, sein Konzept entwickelt und wie Spinoza die Herausforderung der Paradoxie innerhalb seiner rationalistischen Metaphysik meistert. Ein kurzer dritter Teil gilt einigen Bemerkungen dazu, inwiefern sich Spinozas Überlegungen zur Auflösung des Paradoxes der Toleranz von seiner Metaphysik abstrahieren lassen.
1 Siehe § 3 Abs. 3 Nr. 7 SchulG Bln.; § 12 Abs. 3 S. 4 BbgSchulG; § 5 Abs. 1 S. 2 BremSchulG; § 2 Abs. 1 Satz 2, 1. Spstr. HmbSG; § 2 Abs. 2 5. Spstr. HSchG; § 2 Abs. 1 S. 2 SchulG M-V; § 2 Abs. 1 Satz 3, 3. Spstr. NSchG; § 2 Abs. 5 Nr. 4 SchulG NRW; § 1 Abs. 2 Nr. 8 SchulG LSA; § 2 Abs. 1 Satz 4 ThürSchulG; lediglich in Bezug auf den Sexualunterricht § 100b Abs. 1 Satz 2 SchG BW und § 1 Abs. 3 Satz 3 SchulG RPh.
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I. Das Paradox am augustinischen Ursprung der Toleranzdiskussion »Toleranz« wurde in die politische Philosophie wesentlich durch einen Denker eingeführt, der durch ihre Negation berühmt wurde: Augustinus.2 Auf der einen Seite empfahl er der Kirche, Sünder, Juden und Prostituierte zu tolerieren – aber nur weil er Toleranz, verglichen mit strafrechtlicher Verfolgung, als das kleinere Übel für die Einheit der Kirche erachtete.3 Auf der anderen Seite lehnte Augustinus als Bischof von Hippo Toleranz in Glaubensfragen ab und rechtfertigte – auf entsprechende Anwürfe reagierend – ausdrücklich die von ihm auch praktisch betriebene Anwendung von Gewalt besonders in der Auseinandersetzung mit den Donatisten in seinem Bistum. Die Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit den Donatisten war eine jener Auseinandersetzungen innerhalb des frühen Christentums, in denen sich die katholische Kirche konstituiert und ihre Gestalt gewonnen hat. In der Sache ging es um eine Frage, die für die Autorität der Amtskirche von größter Bedeutung war: die Wirksamkeit amtskirchlicher Entscheidungen! Die Donatisten weigerten sich, die kirchliche Autorität von Amtsträgern anzuerkennen, die sich schwerer Sünden schuldig gemacht hatten. Konkret ging es in der Zeit unmittelbar nach den letzten großen Christenverfolgungen darum, ob sog. Traditoren, die unter der Verfolgung nicht standhaft geblieben waren und den Verfolgern die heiligen Schriften ausgeliefert hatten, kirchliche Ämter bekleiden und Sakramente spenden konnten. Die Donatisten erkannten weder entsprechende Amtsträger noch von ihnen gespendete Sakramente an. Angesichts des Destabilisierungspotentials, das ein solcher Heiligkeitsvorbehalt für die im Entstehen begriffene Amtskirche bedeutete, wundert es nicht, daß die Lehre der Donatisten verworfen und ihre Anhänger von der Kirche und der ihr nun zugewandten weltlichen Gewalt verfolgt wurden. In seiner Ablehnung der Toleranz gegenüber den Donatisten wurde der »Lehrer der Gnade« aber nicht nur von dem Zweck geleitet, die Einheit der christlichen Kirche zu stiften, sondern auch von theoretischen Gründen. Augustinus legte seine Gründe in seinem Brief an Vincentius dar, der Augustinus’ Gewaltanwendung gegen die Donatisten in Frage gestellt hatte. Gegen das Argument, daß Gewalt ein Akt der Feindseligkeit und des Hasses sei, bittet Augustinus Vincentius zu überlegen, ob nicht das Gegenteil der Fall sei. Für Augustinus ist es die Toleranz, die tatsächlich einen wahren Akt der Feindseligkeit und des Hasses darstellt: 2 G. Schlüter/R. Grötker, Toleranz, in: J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 10. Aufl. 1988, Sp. 1251/1252; R. Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 69 ff. 3 Schlüter/Grötker, Toleranz (Fn. 2), Sp. 1251/1252.
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»Würden wir nun ... unsere Feinde, die unseren Frieden und unsere Ruhe durch alle möglichen Gewalttat und Hinterlist stören, derart verachten und ertragen, daß wir auf nichts sinnen, nichts tun, wodurch sie in Schrecken gesetzt und gebessert werden könnten, so würden wir in Wahrheit Böses mit Bösem vergelten. Denn wenn jemand sähe, wie sein Feind, durch ein gefährliches Fieber wahnsinnig geworden, dem Abgrund zuliefe, würde er ihm da nicht Böses mit Bösem vergelten, wenn er ihn so laufen ließe, statt ihn zurückzuhalten und binden zu lassen?«4
Für Augustinus sind Schrecken und Gewalt nicht als solche von Übel. Schrecken und Gewalt können Mittel der Freundschaft und Nächstenliebe sein, wenn sie genutzt werden, um der Wahrheit zu dienen, um die Abtrünnigen und Sünder vor der ewigen Verdammnis zu retten und um sie näher an den wahren Gott heranzuführen.5 Aufgrund seines durch Erweckung gefestigten Glaubens und der Autorität der Kirche war Augustinus sich sicher, zwischen wahr und falsch unterscheiden zu können – zumindest hinsichtlich der Glaubensfragen, hinsichtlich derer die Donatisten irrten. Diese Argumentation mag in der heutigen säkularen Welt merkwürdig erscheinen.6 Aber ist sie wirklich so fern von unserem Alltag, bei dem es uns auch zuweilen sicher erscheint, was wahr und was falsch, was richtig und was verkehrt ist? Nutzen wir nicht, z. B. als Eltern, unsere Autorität, Nötigung oder vielleicht sogar milde Gewalt, wenn wir feststellen, daß unsere Kinder Gefahr laufen, sich selbst zu schaden oder zu verletzen und wir es nicht geschafft haben, sie argumentativ zu überzeugen?7 In der modernen Meta-Ethik wird die Frage unter dem Begriff des Paradoxes der Toleranz diskutiert. Susan Mendus hat es so formuliert: »Normally we count toleration as a virtue ... However, where toleration is based on moral disapproval it implies that the thing tolerated is wrong and ought
4 A. Augustinus, Brief an Vincentius, in: K. Flasch (Hrsg.), Aurelius Augustinus, 1996, S. 424, 425. 5 Augustinus, Brief an Vincentius (Fn. 4), S. 430. 6 Augustinus’ Argumentation spiegelt sich in Isaak Berlins Argumentation gegen die positive Freiheit wider. Für Berlin kann die Idee, daß es objektives Wissen über die richtige Ausübung von Freiheit gebe, leicht so verbogen werden, daß sie zu Unterdrückung und Totalitarismus führt. Er könnte Augustinus Befürwortung der Intoleranz zur Bestärkung dieser These zitieren. Zum Verhältnis von Berlins Thesen zu Spinoza D. West, Spinoza on Positive Freedom, in: G. Lloyd (Hrsg.), Spinoza. Critical Assessments, Routledge 2001, S. 3, und die Antwort von I. Berlin, A Reply to David West, in: G. Lloyd (Hrsg.), Spinoza. Critical Assessments, Routledge 2001, S. 207, 223; auch M. Walther, Politische und ethische Freiheit oder Spinozas Dialektik der Freiheit, in: M. Senn/M. Walther (Hrsg.), Ethik, Recht und Politik bei Spinoza, 2001, S. 89. 7 So das Beispiel von Berlin, Reply (Fn. 6), S. 224.
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not to exist. The question arises why it should be thought good to tolerate.«8 Um das Paradox vollkommen zu machen, muß ergänzt werden, daß Toleranz auch dann keine Tugend sein kann, wenn wir nicht über absolute Wahrheiten verfügen. Wenn wir nicht über eine absolute Wahrheit verfügen, gibt es auch nichts zu tolerieren.9 Relativisten müssen nicht tolerant sein. Toleranz scheint von unserem Wissen um Wahrheit, Recht und Unrecht abzuhängen, aber ein Wissen um Wahrheit, Recht und Unrecht scheint mit »Toleranz« nicht vereinbar.
II. Spinozas Toleranzkonzeption 1. Der augustinische Ausgangspunkt Spinoza wußte zwischen wahr und unwahr, richtig und falsch zu unterscheiden. Sein metaphysisches System basiert auf der Möglichkeit absoluten Wissens. Er stellt adäquate und wahre Ideen inadäquaten und verzerrten Ideen gegenüber. Spinoza war kein Relativist. Insoweit war er strukturell in einer augustinischen Position. Augustinus gewann sein absolutes Wissen – jedenfalls nach seiner Erweckung10 – aus der Offenbarung; Spinoza erlangte absolutes Wissen aus der Vernunft.11 Auch bei Spinoza ist es diese Art von absolutem Wissen, die auf der einen Seite die Toleranz zu einem bedeutungsvollen Konzept macht, aber auf der anderen Seite ihre Rechtfertigung offen läßt. Auf den ersten Blick war Spinoza durch den metaphysischen und epistemologischen Entwurf seiner Theorie anfällig für die augustinische Argumentation gegen die Toleranz. So ist Spinoza etwa davon überzeugt, daß es ein gemeinsames Interesse der Menschen gibt, auf der Grundlage der Vernunft12 zu handeln – ein guter Grund Uneinsichtig-
8 S. Mendus, Toleration and the Limits of Liberalism, Macmillan 1989, S. 18 f.; siehe auch Schlüter/Grötker, Toleranz (Fn. 2), Sp. 1258; Forst, Toleranz (Fn. 2), S. 35 ff. m. w. N. 9 Daß Toleranz sich von Indifferenz unterscheidet, ist oft angemerkt worden. Siehe G. P. Fletcher, The Instability of Tolerance, in: D. Heyd (Hrsg.), Toleration: an Elusive Virtue?, Princeton 1996, S. 158, 158; B. Williams, Toleration: An Impossible Virtue?, in: D. Heyd (Hrsg.), Toleration: an Elusive Virtue?, Princeton 1996, S. 18, (19). 10 Eine Kurzdarstellung der intellektuellen Entwicklung von Augustinus bei K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, 1986, S. 27 ff. 11 B. de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung (Erstveröffentlichung: 1677, Übersetzung: W. Bartuschat, 1999), II. Teil, LS 34 »Jede Idee, die in uns unbedingt, also vollkommen ist, ist wahr.« Zum absoluten Wissen F. Amann, Ganzes und Teil. Wahrheit und Erkennen bei Spinoza, 2000, S. 135. 12 Spinoza, Ethik (Fn. 11), IV. Teil, LS 35, FS 1,2.
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keit nicht zu tolerieren.13 Aber im Gegensatz zu Augustinus, der die erste ethische Verteidigung der Intoleranz geschrieben hat, ist Spinoza als der Philosoph bekannt, der als einer der ersten die Gedanken- und Redefreiheit verteidigte, noch bevor Lockes Brief über Toleranz den Begriff auf die Agenda des klassischen Liberalismus setzte.14 Wie konnte Spinoza, dessen metaphysischer Standpunkt dem des Augustinus ähnelte, zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen?
2. Eine augustinische Erklärung für Spinozas Verteidigung der Toleranz Eine Antwort auf diese Frage könnte lauten, daß er es nicht tat. In der Literatur zu Spinoza und Toleranz gibt es eine Tendenz, sich auf seine politischen Schriften zu fokussieren und Spinozas Verteidigung der Toleranz streng instrumentell zu interpretieren.15 Im Theologisch-Politischen Traktat entwickelt Spinoza seine Begründung für die Freiheit des religiösen Glaubens, der Gedanken und des Redens vor dem Hintergrund der Legitimation staatlicher Souveränität. Spinozas Ausgangspunkt ist das natürliche Recht des Individuums, welches sich nach seiner faktischen Macht bestimmt.16 Im Naturzustand ist dieses Recht nicht viel wert. Es gerät in Konflikt mit den Rechten und der Macht der anderen und gewährt nur ein Leben in »Feindschaft, Haß, Zorn und Hinterlist.«17 Wie bei Hobbes empfiehlt die Vernunft eine Verbindung der Menschen unter einer souveränen Staatsmacht durch die Übertragung der eigenen Macht und damit des eigenen Rechts auf den Staat. Wie gelangt Toleranz in dieses doch eher totalitaristische Szenario, für welches Hobbes, abgesehen von der Gedankenfreiheit des Forum internums18, keinen Platz sah – eine Konzession, durch die Carl Schmitt den liberalen Keim des Todes in den
13 M. A. Rosenthal, Tolerance as a Virtue in Spinoza’s Ethics, Journal of the History of Philosophy 39 (2001), S. 535 (551). 14 J. C. Laursen, Spinoza on Toleration, in: G. J. Nederman/J. C. Laursen (Hrsg.), Difference and Dissent, Lanham 1996, S. 196 f., hält Lockes Brief für von Spinoza beeinflußt. 15 Z. Levy, Toleranz und Freiheit laut Spinoza und Mendelsohn, Prima Philosophia 11 (1998), S. 177 ff; Laursen, Spinoza on Toleration (Fn. 14); Rosenthal, Tolerance as a Virtue (Fn. 13); T. Verbeek, Vérité et »tolerance« dans le Traité théologico-politique de Spinoza, in: L. Simonutti (Hrsg.), Dal Necessario al Possibile, Milano 2001, S. 7. 16 B. de Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat (Erstveröffentlichung: 1670, Übersetzung G. Gawlick, 2. Auflage 1984), Kap. 16, S. 237. 17 Spinoza, Traktat (Fn. 16), Kap. 16, S. 234. 18 T. Hobbes, Leviathan (Erstveröffentlichung 1651, Übersetzung: W. Euchner, 1984) 37. Kap., S. 340, 42. Kap., S. 398 ff.
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Leviathan gelegt sah?19 Aus Spinozas Sicht hat das Individuum nicht in einer juristischen Weise seine Rechte auf den Souverän übertragen, so daß es gänzlich ohne eigene Macht dem Staat gegenübersteht.20 Durch die Übertragung der Macht auf den Souverän nimmt das Individuum an der Erschaffung einer Macht teil, die viel stärker als seine ist. Das Individuum sieht sich so zwar im Staat mit einer Macht konfrontiert, die Regeln auferlegen und fast jeden Widerstand überwinden kann – wenn nicht durch bessere Einsicht des Individuums, dann durch Nötigung, Gewalttat und alle anderen Techniken der Macht. Doch selbst wenn regelmäßig die Macht des Souveräns unüberwindbar ist, ist das Individuum niemals aller seiner Macht und natürlichen Rechte beraubt. Das Individuum kann nicht nur seine Macht und sein Recht innerhalb der vom Souverän gesetzten Grenzen ausüben, sondern es verbleibt ihm auch stets ein Rest seiner Macht, die gegen den Souverän eingesetzt werden kann. Der Souverän ist nur so lange souverän, wie er über die souveräne Macht verfügt. Das zwingt den Souverän, vorsichtig zu sein. Spinoza erinnert ihn daran, daß »zwei gemeine Soldaten es unternommen haben, dem Römischen Reich einen neuen Herrscher zu geben, und sie haben es vollbracht«21. Der Souverän riskiert Machtverluste, wenn er versucht eine Regel aufzuerlegen, die geeignet ist, Wirren oder Aufruhr zwischen den Bürgern zu schaffen, da solche stärker gefürchtet werden müssen als jeder andere Feind des Staates.22 Ein Grund für Wirren und Aufruhr kann die Unterdrückung der freien Rede sein. Nach Spinoza kann niemand das Denken eines Anderen kontrollieren.23 Eine Sichtweise, die von Locke geteilt wurde.24 Da Menschen ein ununterdrückbares Verlangen danach haben, ihre Ideen zu teilen, kann ihnen nicht effektiv verboten werden, ihre Gedanken auszutauschen. Somit hat der Staat keine effektive Macht, die Gedanken- und Meinungs-
19 C. Schmitt, Der Leviathan (Erstveröffentlichung 1938, mit einem Nachwort von G. Maschke, 1995) S. 79 ff., Schmitt identifiziert Spinoza mit dem Totengräber, der seinen Spaten genau in den Spalt sticht, den Hobbes offen gelassen hat. Zu dem antisemitischen Element von Schmitts Kritik und seiner Inkonsistenz siehe H. Hofmann, Das Politische in Spinozas »Politischem Traktat«, in: J. Bohnert u.a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach, 2001, S. 429, 433 ff. 20 B. de Spinoza, Briefwechsel, (Erstveröffentlichung: 1674, Übersetzung und Anmerkungen C. Gebhardt 1914), durch weitere Briefe sowie durch eine Einleitung und Bibliographie ergänzt von M. Walther, 3. Aufl. 1986, Kap. 16, S. 237. 209 Ep. 50. 21 B. de Spinoza, Politischer Traktat (Erstveröffentlichung in der »Opera Posthuma« 1677, Übersetzung: W. Bartuschat, 1994), Kap. 7, § 14, S. 109. 22 Spinoza, Traktat (Fn. 16), Kap. 17, S. 248.; Fn. 21, Kap. 7, § 14. 23 Spinoza, Traktat (Fn. 16), Kap. 20, S. 257. 24 J. Locke, Ein Brief über Toleranz (Erstveröffentlichung 1689), J. Ebbinghaus (u.a. Übers.), 2. Aufl. 1957, S.15 ff., 79.
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freiheit zu unterdrücken. Die Anwendung von Gewalt und Terror, um eine Unterdrückung zu erreichen, wäre vergeblich und nur eine unvernünftige Quelle für Störungen und Aufruhr, welche wiederum den Staat in Gefahr brächten.25 So scheint im Theologisch-Politischen Traktat Toleranz eine Frage der Staatsraison oder, wie es in einem englischsprachigen Beitrag heißt, der »Realpolitik«26 zu sein. Ein Souverän sollte die Meinungsfreiheit nicht wegen des Eigenwertes der Toleranz gewähren, sondern als technisches Instrument zur Sicherung seiner Macht und mithin seiner Existenz einsetzen. Für Spinoza scheint Toleranz lediglich eine instrumentelle Funktion für die Machterhaltung des Souveräns zu haben. Wie schwach eine solche Konzeption der Toleranz wäre, wird offensichtlich,27 wenn man Spinozas pessimistische Meinung über die Gedanken- oder Meinungskontrolle nicht teilt. Diese Annahmen, welche Spinoza selbstverständlich waren, wurden bereits von Augustinus28 und seinen späteren Anhängern29 angezweifelt. Auch ist angemerkt worden, daß Spinoza noch nichts von modernen Methoden der Gehirnwäsche wissen konnte.30 In der machiavellistischen Lesart des Theologisch-Politischen Traktats würde nichts gegen die Unterdrückung der Gedanken- und Meinungsfreiheit sprechen, wenn der Souverän nur eine effektive Unterdrückung der Meinungsfreiheit oder zumindest eine Kontrolle der Aufstände, die entstehen könnten, entwickelte. Obwohl Tyranneien und totalitäre Regime zusammengebrochen sind, haben einige zumindest so lange wie manche liberale Gesellschaften existiert. Eine Interpretation von Spinozas Konzept der Toleranz, die diese nur als Instrument sieht, dem Souverän die Macht zu erhalten, würde sich nicht kategorial von der augustinischen Empfehlung unterscheiden, Sünder, Juden und Prostituierte zu tolerieren, um hierdurch die katholische Kirche vor Unruhen zu bewahren. 25 Spinoza, Traktat (Fn. 16), Kap. 20, S. 304. 26 Laursen, Spinoza on Toleration (Fn. 14), S. 192: »Toleration emerges as a funktion of Realpolitik.« 27 Über die Instabilität eines instrumentellen Ansatzes der Toleranz Williams, Toleration (Fn.9), S. 21; Rosenthal, Tolerance (Fn. 13), S. 548: »not ... a very robust virtue«. 28 Augustinus, Brief an Vincentius (Fn. 4), S. 424: »Denn wir freuen uns jetzt schon über die Besserung vieler«; S. 426: »Wenn aber mit der heilsamen Furcht auch heilsame Unterweisung sich verbindet, so daß nicht nur das Licht der Wahrheit die Finsternis des Irrtums vertreibt, sondern auch der Einfluß der Furcht die Fesseln der bösen Gewohnheit sprengt, dann freuen wir uns ...über die Rettung vieler«. 29 Zur Position späterer Anhänger von Augustinus siehe M. Goldie, The Theory of Religious Intolerance in Restauration England, in: O. Grell u.a. (Hrsg.), From Persecution to Toleration, Clarendon 1991, S. 331 ff. 30 Hofmann, Das Politische (Fn. 19), S. 432; West, Positive Freedom (Fn. 6), S. 218; siehe auch Williams, Toleration (Fn. 9), S. 21 f.
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3. Die epistemologische Grundlegung von Spinozas ethischem Konzept der Toleranz Diese politische Lesart von Spinozas Überlegungen zur Toleranz kann bereits mit begrifflichen Überlegungen in Frage gestellt werden. Spinoza verwendet »Toleranz« nicht als ein politisches Konzept. In seinen politischen Schriften beschäftigt sich Spinoza nicht mit dem Konzept der »Toleranz«31, sondern mit dem Konzept der »Freiheit«. Der Grund hierfür liegt in der unterschiedlichen Struktur der beiden Begriffe. Beide Konzepte sind hierarchisch. Aber während Freiheit in dem Sinne eine Hierarchie voraussetzt, daß jemand – im politischen Kontext der Staat – die Aktivität eines anderen begrenzen32 und die Ausübung seiner Macht unterlassen kann, setzt das Konzept der Toleranz keine Hierarchie faktischer Macht voraus. Man kann sogar einen Unterdrücker tolerieren, demgegenüber man selbst nicht die Macht hat, einen für den Unterdrücker relevanten Freiheitsraum zu gewähren. Die Hierarchie, welche Toleranz erfordert, ist eine normative. Toleranz erfordert ein Wissen, das höherwertig eingeschätzt wird, als der tolerierte Inhalt. Toleranz basiert auf privilegiertem Wissen. Für Spinoza hat der Staat allerdings kein privilegiertes Wissen, er hat nur privilegierte Macht. In seinem Staatskonzept kann der Staat Freiheit garantieren, es existiert jedoch kein privilegiertes Wissen des Staates im Sinne von adäquaten Ideen, welche das Konzept der Toleranz nahe legten. Bereits der konzeptuelle Unterschied zwischen Freiheit und Toleranz deutet von der Politik zur Ethik, wenn wir den Gedanken der Toleranz in Spinozas Denken suchen. In diese Richtung wurde die instrumentelle politische Lesart bereits herausgefordert. Michael A. Rosenthal hat versucht darzulegen, daß Toleranz einen ethischen Wert für Spinoza darstellt. Auf der einen Seite nimmt diese Lesart die ethischen Implikationen der befriedenden Effekte der Toleranz in Anspruch, wie sie aus der instrumentellen Rechtfertigung im Theologisch-Politischen Traktat vertraut sind. In der sozialen Dimension ermöglicht die Stabilität eines toleranten Staates die philosophische – und damit für Spinoza auch die ethische – Entwicklung des Individuums.33 Auf der anderen Seite zieht Rosenthals ethische Lesart Spinozas Theorie der Affekte heran. Unsere Einsicht und Akzeptanz der Unvermeidbarkeit von 31 Mein besonderer Dank gilt Manfred Walther, der meine Aufmerksamkeit in diese Richtung gelenkt hat. 32 Zur dreidimensionalen Struktur des Konzepts der Freiheit siehe G. C. MacCullum, Negative and Positive Freedom, (Erstveröffentlichung 1967) in: D. Miller (Hrsg.), Liberty, Oxford 1991, S. 100; bereits F. E. Oppenheimer, Dimensions of Freedom, New York 1961, S. 109 ff.; siehe auch T. D. Weldon, Kritik der politischen Sprache, 1962, S. 176 ff. 33 Rosenthal, Tolerance as a Virtue (Fn. 13), S. 549.
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Begierden als ein Charakteristikum der gemeinsamen menschlichen Natur setzt uns »in eine bessere Position, diese Begierden bei anderen zu tolerieren und den relativen Mangel an Leidenschaften nicht als Zeichen unserer höheren Natur und daher als Rechtfertigung für Intoleranz«34 zu sehen. Beide Gedankenstränge geben der Toleranz eine ethische Dimension.35 Beide sind aber nicht sicher vor Augustinus’ Kritik. Der erste Gedanke versagt, weil er auf instrumenteller politischer Berechnung beruht; der zweite, weil Augustinus die These, daß wir alle Sünder sind, unterschriebe, aber darauf beharrte, daß dieses kein Grund sei, Sünder nicht durch Waffengewalt an der Begehung von Sünden zu hindern, die ihre Verdammnis begründen könnten. Obwohl Rosenthals Interpretation bereits zeigt, daß Toleranz eine ethische Dimension in Spinozas Theorie hat, bleibt die Frage, ob Spinoza über eine Rechtfertigung verfügt, die Augustinus’ Herausforderung gerecht wird, noch offen. Was Spinoza anfällig für eine augustinische Position macht, ist sein Glaube an absolutes Wissen, sein Glaube an Vernunft und adäquate Ideen – adäquat nicht nur für die Person, die den Glauben teilt, sondern per Definition für jeden. Wenn man weiß, was für jeden wahr und richtig ist, ist nicht leicht zu begründen, warum Verirrungen und Abweichungen toleriert werden sollten – selbst wenn man wie Augustinus aus Mitgefühl argumentiert. So ist es nicht überraschend, daß eine Lesart, die sich nur auf Spinozas politische Schriften beschränkt, ohne sein Konzept des absoluten Wissens einzubeziehen, ihn nicht vor dem augustinischen Einwand bewahrt. Jedes Argument für eine Lesart Spinozas als frühen Verteidiger der Toleranz als einem ethischen, im Gegensatz zu einem zweckrationalen Konzept, muß seine Vorstellungen vom absoluten Wissen mit einbeziehen. Das ethische Konzept der Toleranz, das über die instrumentelle Rechtfertigung von politischer Freiheit hinausgeht, die im Vordergrund seiner politischen Schriften steht, beruht auf einer besonderen Bedingung des absoluten Wissens in Spinozas metaphysischem System. Zunächst gibt es aber noch ein Charakteristikum, welches Spinozas Wissenskonzept sogar noch verdächtiger hinsichtlich ethischer Toleranz macht: für Spinoza ist Wissen intrinsisch ethisch. Adäquate Ideen werden durch ihre Verbindung mit der grundlegenden ethischen Kategorie aufgewertet, die Spinoza bereithält: der conatus, das Streben jedes Seins, in seiner Existenz zu ver34 Rosenthal, Tolerance as a Virtue (Fn. 13), S. 551. 35 Für Rosenthal, Tolerance as a Virtue (Fn. 13), S. 552 ff., korrespondiert mit diesen beiden ethischen Aspekten der politischen Toleranz eine innere Tugend der Toleranz gegenüber den eigenen Leidenschaften, welche innere Harmonie ermöglicht. Diese psychologische Darstellung der Toleranz ist, wie Rosenthal, ebd., S. 554 anmerkt, Platos Analogie von Seele und Polis geschuldet und insoweit von einer politischen Lesart abgeleitet.
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harren und seine Macht auszubauen. Für Spinoza ist dieses Streben eine ethische Kategorie, da er die Vollendung dieses Strebens mit Tugend identifiziert. Tugendhaft ist in Spinozas Verständnis alles, was dem Streben dient36 – tugendhaft, was unser eigenes Leben betrifft, aber auch auf das Leben der anderen bezogen, weil »es kein Einzelding in der Natur gibt, das dem Menschen nützlicher wäre als ein Mensch der nach der Leitung der Vernunft lebt«37. »Wenn jeder Mensch im höchsten Maße seinen eigenen Vorteil sucht, dann sind sich Menschen im höchsten Maße wechselseitig nützlich. Denn je mehr ein jeder seinen eigenen Vorteil sucht und sich selbst zu erhalten strebt, umso mehr ist er mit Tugend ausgestattet.«38
Wissen, adäquate Ideen, werden aus zwei Gründen ethisch: Erstens erlauben sie uns, unser Dasein effizienter zu gestalten. Adäquate Ideen erlauben uns eine bessere Orientierung in der Welt und einen besseren Umgang mit unseren Affekten. Sie vergrößern unsere praktische Kraft, unsere Existenz zu behaupten. Zweitens teilen wir in einem stärker methaphysischen Sinn adäquate Ideen mit Gott; unsere Ideen werden insoweit Teil der ewigen Ideen. Daher bieten die adäquaten Ideen eine Möglichkeit der Beharrlichkeit im Sein über unsere Endlichkeit hinaus.39 Wäre dieses das einzige Charakteristikum der Verbindung von Spinozas Metaphysik mit seiner Ethik, würde er dadurch zu einem noch unwahrscheinlicheren Verteidiger ethischer Toleranz. Warum sollte man Leuten nicht Ideen aufzwingen, wenn diese nicht nur ihre eigene Tugend, sondern auch noch die aller anderen fördern? Die Beschreibung hat bisher aber ein Charakteristikum ausgelassen, welches sich als entscheidend für ein ethisches Konzept der Toleranz in Spinozas Theorie erweist. Wie gelangen wir zu adäquaten beziehungsweise inadäquaten Ideen? Den adäquaten Ideen liegt Spinozas attributiver Parallelismus von Ideen und Körpern zugrunde. Ideen sind adäquat, weil sie nur anderes Attribut eines auch physisch ausgedehnten Modus sind. Ideen und Körper korrespondieren notwendigerweise.40 In und für Gott gibt es nur adäquate Ideen. Aber für den Menschen sind die Dinge komplizierter: Externe Einwirkungen auf unsere Körper korrespondieren mit Ideen dieser Einwirkungen, welche Menschen – 36 Spinoza, Ethik (Fn. 11), IV. Teil, D 8, S. 383 f.: »Unter Tugend und Macht verstehe ich dasselbe; … Tugend, bezogen auf den Menschen, ist genau des Menschen Essenz oder Natur, insofern es in seiner Gewalt steht, etwas zuwege zu bringen, das durch die Gesetze seiner Natur allein eingesehen werden kann.« 37 Spinoza, Ethik (Fn. 11), IV.Teil , LS 35, FS 1, S. 433. 38 Spinoza, Ethik (Fn. 11), IV.Teil , LS 35, FS 2, S. 433. 39 Zu dieser Interpretation der ethischen Bedeutung von Wissen siehe D. Garrett, Spinoza’s Ethical Theory, in: D. Garrett (Hrsg.), The Cambridge Companion to Spinoza, Cambridge 1996, S. 267, (291 f.). 40 Spinoza, Ethik (Fn. 11), II.Teil, LS 12-13, S. 123 ff.
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wegen der Transparenz ihres kognitiven Systems – für Ideen von externen Dingen und nicht für Einwirkungen halten. Um Spinozas Beispiel zu verwenden: Der Einwirkung der Sonne auf unseren Körper korrespondiert eine Idee über die Entfernung der Sonne, wie sie durch die Einwirkung der Sonne auf unser kognitives System erscheint. Aber Menschen halten diese Idee nicht für eine Idee der Einwirkung, sondern für eine Idee von der Entfernung der Sonne.41 Deshalb erscheint die Sonne bei Sonnenuntergang näher als im Zenit. Für Menschen scheinen also Ideen, die mit den Affekten ihrer Körper durch Einwirkungen von äußeren Dingen korrespondieren, Ideen über diese äußeren Dinge zu sein. Es sind daher notwendigerweise deformierte Ideen dieser Objekte. Als Ideen von den externen Objekten sind sie inadäquat. Inadäquate Ideen sind das Ergebnis von externen Einwirkungen auf unseren Körper, die wir nur passiv erleiden, ohne die unendliche Kette von Ursachen zu verstehen, deren Effekt sie sind. Das ist der Grund, warum Spinoza inadäquate Ideen mit Passivität und Leiden verbindet. Nachdem gezeigt wurde, daß jede Idee adäquat für Gott ist und daß jede Idee, die mit den äußerlichen menschlichen Affekten korrespondiert, inadäquat ist, bleibt die Frage, wie Menschen denn nun Zugang zu adäquaten Ideen haben können? Adäquate Ideen der Menschen korrespondieren mit Dingen, die unser Körper mit anderen Körpern gemeinsam hat und durch Kombinationen sowie aus Rückschlüssen von solchen adäquaten Ideen.42 Solche »gemeinsamen Vorstellungen« (communes notiones) sind adäquat, weil sie vollständig vom Verstand als eine Idee des Körpers aufgefaßt werden können. Sie sind Ideen, bei denen der betroffene Körper identisch mit dem affektierten Körper ist. Adäquate Ideen beinhalten ihre eigene Ursache.43 Adäquate Ideen korrespondieren nicht mit externen Affekten des Körpers, sie sind nicht passiv und nicht das Ergebnis einer externen Einwirkung. Sie korrespondieren mit dem eigenen Körper und sind ein unmanipulierter Ausdruck seiner eigenen Aktivität. Sie sind ein aktiver und reiner Ausdruck menschlicher Begierde, die nicht von Leiden oder Freude begleitet ist. Da adäquate Ideen die gleichen für Gott und die Menschen sind, geben sie dem menschlichen Verstand die Möglichkeit, an der ewigen Idee Gottes teilzuhaben und somit Teil seiner Ewigkeit und Freiheit zu sein. Nun wird die tiefe epistemologische Grundlegung von Spinozas ethischer Toleranz offenbar. Für Spinoza existiert absolutes Wissen sogar in einem tiefen metaphysischen Sinn. Die Menschen können an ihm durch
41 Spinoza, Ethik (Fn. 11), II.Teil, LS 35, Anm. S. 172. 42 Spinoza, Ethik (Fn. 11), II. Teil, LS 38-40, S. 173 ff. 43 Amann, Ganzes und Teil (Fn. 11), S. 213.
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adäquate Ideen teilhaben. Aber auch bei der Diskussion von Spinozas Konzept positiver Freiheit ist bereits angemerkt worden,44 daß adäquate Ideen nur das Ergebnis eines nicht manipulierten Verstandes und Körpers sein können, der frei von äußeren Einflüssen ist. Handeln auf der Basis von inadäquaten Ideen ist niemals tugendhaft, selbst wenn die gleiche Handlung auf der Grundlage einer adäquaten Idee hätte stattfinden können. »Insofern ein Mensch zu irgendeinem Tun von dem her bestimmt wird, daß er inadäquate Ideen hat, läßt sich nicht unbedingt sagen, er handle aus Tugend; sondern nur, insofern er [dazu] von dem her bestimmt wird, daß er einsieht.«45 Adäquate Ideen können uns aber nicht aufgezwungen werden. Bei ihnen handelt es sich vielmehr um eigene Leistungen, die intrinsischen Charakter haben. Der Versuch, sie von außen aufzuzwingen, hebt sich selbst auf. Es gibt daher keine Alternative zur Toleranz, wenn adäquate Ideen und damit auch Tugend gefördert werden sollen. Auch wenn es charakteristisch für den Menschen ist, daß »ein jeder von Natur aus und danach verlangt, alle anderen sollten nach seinem Sinn leben«46, insistiert Spinoza: »Wer aus bloßem Affekt danach strebt, daß andere lieben sollten, was er selbst liebt, und daß andere nach seinem Sinn leben sollten, handelt aus ungestümer Leidenschaft und macht sich darin verhaßt, ... Wer dagegen aus Vernunft andere zu leiten strebt, handelt nicht aus ungestümer Leidenschaft, sondern menschenfreundlich und gütig und ist in seinem Inneren mit sich vollkommen einig.«47
Auch wenn Spinoza die Grenze zwischen der menschenfreundlichen und gütigen Leitung und der Intoleranz nicht näher untersucht hat, ist doch hinreichend deutlich, daß die menschenfreundliche und gütige Leitung nur auf eine unterstützende Haltung hinsichtlich jedermanns eigenem Weg zur Tugend zielt, nicht auf den Einsatz von Gewalt. Für Spinoza ist Toleranz keine Frage der Machttechnologie, sondern der Erkenntnistheorie. Spinoza toleriert inadäquate Ideen nicht deshalb, weil ihm moderne Techniken der Gehirnwäsche noch unbekannt sind. Auch wenn solche Techniken zur Verfügung stünden, müßten inadäquate Ideen aufgrund der epistemischen Struktur adäquater Ideen geduldet werden. Aufgrund ihrer intrinsischen Natur können adäquate Ideen nicht das Objekt externer Techniken sein, mit denen ein Subjekt manipuliert werden soll. Damit unterscheidet sich sein Argument für die Toleranz sowohl von 44 West, Positive Freedom (Fn. 6), S. 218; Walther, Spinozas Dialektik der Freiheit (Fn. 6), S. 98. 45 Spinoza, Ethik (Fn. 11), IV.Teil, LS 23, S. 417. 46 Spinoza, Ethik (Fn. 11), III.Teil, LS 31, S. 277 f. 47 Spinoza, Ethik (Fn. 11), IV.Teil, LS 37, S. 439 ff.
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demjenigen für die politische Freiheit in seinen eigenen Schriften als auch von einem wesentlichen Argument Lockes. Für Locke rechtfertigte sich religiöse Toleranz dadurch, daß Menschen nicht zu einem Glauben gezwungen werden konnten. Von dieser Position unterscheidet sich Spinozas ethischer Ansatz zumindest auf zweierlei Weise. Zum einen schließt Spinozas Ansatz nicht aus, daß Menschen dazu gezwungen werden können, etwas zu glauben. Doch sein Ansatz hält daran fest, daß erzwungene Ideen einen Makel tragen, daß sie nicht dieselbe Qualität haben können, wie Ideen, die jemand aus sich selbst heraus entwickelt. Unabhängig von ihrer metaphysischen Grundlage treffen sich diese Überlegungen mit Alltagsplausibilitäten. Auch psychologische Alltagstheorien schließen nicht aus, daß Menschen dazu gezwungen werden können, etwas zu glauben. Die Alltagstheorien legen aber auch nahe, daß ein solcher Glaube nicht dieselbe Qualität hätte, wie derjenige, den jemand für sich selbst erlangt hat. So erscheint es etwa plausibel, daß ein erzwungener Glaube weniger verläßlich und instabiler ist – etwa wenn der Zwang nachläßt oder aus einer anderen Richtung Druck ausgeübt wird. Zum anderen verbinden Spinozas erkenntnistheoretische Überlegungen in positiver Weise Wissen und Toleranz, indem adäquate Ideen aufgrund ihrer epistemischen Struktur frei von externen Einflüssen sein müssen. Damit wird epistemische Autonomie zu einem integralen Bestandteil des Wissens. Intoleranz ist nicht nur unfähig, Wissen zu erzeugen, sondern sie ist auch ein Hindernis, um Wissen zu erwerben. Dies scheint nur eine unmerkliche Verschiebung in der Perspektive zu bedeuten, aber diese positive Konzeption der Toleranz bietet ihr die ethische Rechtfertigung, die häufig vermißt wird. Es ist nicht nur so, daß Intoleranz nicht funktioniert, sondern Toleranz erforderlich ist, um absolutes Wissen erwerben zu können. Spinozas ethische Begründung der Toleranz ist in zweierlei Weise mit seinem Argument für Gedanken- und Redefreiheit, der libertas philosophandi verbunden. Zum einen stärkt die ethische Begründung der Toleranz sein Argument, daß zumindest adäquate Ideen nicht erzwungen werden können, worin ein Eckstein seines politischen Arguments liegt. Zum anderen erklärt das ethische Argument, warum Gedanken- und Redefreiheit die zur Entwicklung adäquater Ideen notwendige intellektuelle Freiheit garantieren, eingedenk, daß in der Vernunft die sicherste Grundlage sozialer Kohärenz liegt.48
48 Vgl. auch das Verhältnis von Spinozas positiver ethischer Freiheit mit seiner Idee der politischen Freiheit, dazu Walther, Spinozas Dialektik der Freiheit (Fn. 6), S. 99 ff.
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III. Eine epistemische Auflösung des Paradoxes der Toleranz Das Paradox der Toleranz wirft eine begriffliche, metaethische Frage auf: Wie kann Toleranz als ein sich nicht selbst widerlegendes Konzept gedacht werden? Auf der einen Seite hängt Toleranz von der Möglichkeit absoluten oder zumindest doch privilegierten Wissens ab; auf der anderen Seite fehlte ein Argument, das erklärte, warum es unzulässig sein sollte, dieses absolute oder privilegierte Wissen jemandem aufzuzwingen – zumindest dann, wenn der Schaden, der durch die Intoleranz verursacht wird, weniger schwer wiegt als der Schaden, der durch den Irrtum hervorgerufen wird. Werden die ewigen Konsequenzen von Fehlern in religiösen Glaubenssystemen bedacht, liegt darin jedoch keine besonders einschneidende Begrenzung für den Einsatz von Zwang und Gewalt. Spinoza ist mit dem Paradox konfrontiert, weil er absolutes Wissen anerkennt und auch bei ihm der Kontakt zur Ewigkeit auf dem Spiel steht. Aber aufgrund des epistemischen Zuschnitts der adäquaten Ideen vermeidet Spinoza das Paradox. Adäquate Ideen können allein aus dem conatus ihres Trägers hervorgehen – unverfälscht durch externe Einflüsse. Damit bietet Spinoza eine Lösung für das Paradox der Toleranz an, die von seinem metaphysischen System abstrahiert werden kann. Toleranz kann als nicht selbstwidersprüchliches Konzept gedacht werden, wenn das absolute oder privilegierte Wissen, das es voraussetzt, epistemisch in der Weise qualifiziert ist, daß es nur durch den Träger selbst erlangt werden kann.49 Man könnte ein solches Konzept der Toleranz epistemisch nennen.50 Indem Toleranz von der objektiven Ebene der Ontologie, Metaphysik oder Ethik auf die subjektive Ebene der Erkenntnistheorie verschoben wird, könnte sich das Konzept als eines erweisen, das Vorzüge gegenüber anderen Strategien im Umgang mit konkurrierenden Glaubenssystemen in pluralistischen Gesellschaften hat. Im Gegensatz zu einem relativistischen Standpunkt hat es den Vorteil, daß es auch von denjenigen ernst genommen
49 Der epistemische Wert der Toleranz kann als Ausdruck der Idee gesehen werden, daß Toleranz als eine ethische Haltung zweiter Ordnung angesehen werden kann; Fletcher, Instability (Fn. 9), S. 158; O. Höffe, Toleranz: Zur politischen Legitimation der Moderne, in: R. Forst (Hrsg.), Toleranz, 2000, S. 61. Siehe auch G. Graham, Tolerance, Pluralism, and Toleration, in: D. Heyd (Hrsg.), Toleration (Fn. 9), S. 44, 56, der Lockes Position mit einem Voluntarismus verbindet, was einen engeren Ansatz darstellt als ein epistemischer, da der epistemische Ansatz nicht notwendig an einen Voluntarismus gebunden ist. 50 Dieses epistemische Konzept unterscheidet sich von anderen epistemischen Konzepten, die eine Rechtfertigung der Toleranz in unseren begrenzten epistemischen Kapazitäten sehen, absolutes Wissen zu erwerben; R. Forst, Toleranz, Gerechtigkeit, Vernunft, in: Forst (Hrsg.), Toleranz (Fn. 49), S. 119, (137 ff.).
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werden kann, die die relativistische Überzeugung nicht teilen. Relativismus ist für alle diejenigen keine brauchbare Strategie, deren Überzeugungen den Pluralismus überhaupt zu einem Problem machen. Für jemanden, der einem exklusiven Glauben anhängt, ist es nicht akzeptabel, gesagt zu bekommen, daß er sich an anderen oder sogar kollidierenden Glaubensüberzeugungen nicht stören solle, weil alles eine Frage der Perspektive sei. Relativismus nimmt religiösen Glauben nicht ernst. Soweit sich Gläubige jedoch darauf einlassen könnten, daß wirklicher religiöser Glaube nur durch eine persönliche religiöse Anstrengung des Einzelnen erlangt und nicht äußerlich erzwungen werden kann, müßten sie ihre exklusiven Überzeugungen nicht relativieren, um Toleranz üben zu können. Ein epistemisches Konzept der Toleranz verlangt weniger von religiösen Glaubenssystemen als der Relativismus. Ich kann nicht klar abschätzen, mit welchen religiösen Überzeugungen ein solches epistemisches Konzept der Toleranz verträglich wäre.51 Doch zumindest einige Religionen erkennen Toleranz an und zumindest für diese könnte sich eine an Spinoza angelehnte Konzeption als attraktiv erweisen. Jedenfalls könnte aber ein solches Konzept der Toleranz von einer Kritik der Religionen aufgegriffen werden, worin auch eine Aufgabe der Philosophie gesehen werden kann.52 Neben dem Relativismus empfiehlt sich ein epistemisches Konzept der Toleranz auch als Strategie für den Umgang des Staates mit dem weltanschaulichen Pluralismus und zur Wahrung seiner weltanschaulichen Neutralität. So könnte ein epistemisches Konzept der Toleranz auch eine sinnvolle Interpretation des entsprechenden Erziehungsziels bieten. Als Erziehungsziel kann Toleranz nicht auf Relativismus gestützt werden, weil ein relativistischer Standpunkt weltanschauliche Neutralität des Staates infrage stellt. Relativismus ist selbst eine Weltanschauung, die mit anderen Glaubenssystemen in Konflikt stehen kann. Hingegen würde ein epistemisches Konzept der Toleranz keinen bestimmten Glauben voraussetzen. Es beinhaltet nicht nur eine sinnvolle Konzeption der Toleranz, sondern ist auch mit der weltanschaulichen Neutralität des Staates vereinbar. Anders als die Idee des überlappenden Konsenses kann das Konzept der epistemischen Toleranz auch dort greifen, wo die optimistischen Präsuppo51 Zum Konzept der Toleranz im jüdischen Kontext Fletcher, Instability (Fn. 9), S. 161; zu einer Diskussion im christlichen Kontext P. Schmidt-Leukel, Ist das Christentum notwendig tolerant?, in: Forst (Hrsg.), Toleranz (Fn. 49), S. 177; zu einer Diskussion aller drei Offenbarungsreligionen A. Margalit, The Ring: On Religious Pluralism, in: Heyd (Hrsg.), Toleration (Fn. 9), S. 147. 52 Zur Idee einer Religionskritik als Aufgabe der Philosophie R. Mehring, »Glauben und Wissen« als Limitation einer Glaubensgeschichte der Moderne, in: A. Arndt u.a., Hegel-Jahrbuch 2003, S. 104 ff.
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sitionen des Konsenskonzepts nicht greifen und sich ein Dissens als hartnäckig erweist. Warum sollten wir sonst – jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt – verfassungswidrige Gedanken, Meinungen, Meinungsäußerungen und Versammlungen dulden? Es könnte aus den augustinischen instrumentellen Gründen sein. Es könnte sein, daß wir nur den Ärger vermeiden wollen, den die Unterdrückung der Verfassungsfeinde verursachen würde. Aber ein epistemisches Konzept der Toleranz würde uns eine ethische Erklärung für unser Verhalten geben. Der Grund unserer Toleranz läge dann darin, daß wir glauben, daß unsere verfassungsrechtlichen Wahrheiten niemandem aufgezwungen werden können, daß unsere verfassungsrechtlichen Werte intrinsisch mit der Idee eines epistemisch autonomen53 Subjekts verbunden sind. In diese Richtung weisen etwa Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit. Sogar bei Jugendlichen setzt das Gericht auf die Autonomie des Individuums und fordert eine Toleranz gegenüber verfassungswidrigen Meinungen: »Der demokratische Staat vertraut grundsätzlich darauf, daß sich in der offenen Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Meinungen ein vielschichtiges Bild ergibt, dem gegenüber sich einseitige, auf Verfälschung von Tatsachen beruhende Auffassungen im allgemeinen nicht durchsetzen können. Die freie Diskussion ist das eigentliche Fundament der freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft. Auch Jugendliche können nur dann zu mündigen Staatsbürgern werden, wenn ihre Kritikfähigkeit in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen gestärkt wird. Die Vermittlung des historischen Geschehens und die kritische Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen können die Jugend sehr viel wirksamer vor Anfälligkeit ... schützen als eine Indizierung, die solchen Meinungen sogar eine unberechtigte Anziehungskraft verleihen könnte.«54
Auch dem liegt zugrunde, daß der Einzelne den Weg zur Tugend selbst finden muß und dabei – wie Spinoza sagt – vielleicht »geleitet«55, aber nicht gezwungen werden kann.
53 S. a. Mendus, Limits of Liberalism (Fn. 8), S. 89 ff. 54 BVerfGE 90, 1 (20 f.). 55 Spinoza, Ethik (Fn. 11), IV. Teil, LS 37, S. 437.
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John Lockes Philosophie der Toleranz I. John Lockes Philosophie der Toleranz wird schon seit langem und, wie zu zeigen sein wird, zu Recht zu den »klassischen Positionen« gezählt, die zum Begriff der Toleranz – freilich bei ihm beschränkt auf das Problem der religiösen Toleranz – entwickelt worden sind.1 Nun hat Locke seine Konzeption zur Toleranz als Ordnungsprinzip nicht nur in einem Text, sondern in mehreren, keineswegs inhaltsgleichen Schriften seit Anfang der 60er Jahre des 17. Jahrhunderts vorgetragen: Auf die frühen politischen Schriften,2 die erste Überlegungen zum Verhältnis von Staat und Kirche (Tracts on Government) sowie zur inneren Kirchenverfassung (sog. »Unfehlbarkeitsschrift«) enthielten und einen eher die staatlichen Befugnisse betonenden Standpunkt einnahmen,3 folgte – nach den 1 »Klassisch« in jenem Sinn, den wir bedeutenden Texten und deren Gedankengängen beimessen und der der Grund dafür ist, warum auch die zeitlich nachfolgenden Bemühungen um das Problem der Toleranz als mögliches Ordnungsprinzip bis hin zum jeweils zeitgenössischen Denken diese nicht übergehen dürfen, sondern sie vielmehr auf- und ernstzunehmen haben. Und in der Tat: In diesem Sinne einer theoretisch und, wie sich zeigen wird, auch praktisch wirkungsmächtigen Alternative, an deren Rationalitätsgehalt (und praktischer Tragfähigkeit) sich auch noch unser aktuelles Nachdenken über Toleranz notwendig messen lassen muß und zu bewähren hat, leistet Lockes Philosophie der Toleranz, wie die folgende Untersuchung von deren Begründung und Ergebnissen erinnern und verdeutlichen soll, tatsächlich einen wichtigen Beitrag für eine Antwort auf die Leitfrage der Tagung nach der Tauglichkeit der Toleranzkategorie als Ordnungsprinzip. – Vgl. für ein solches Verständnis der Locke’schen Konzeption statt anderer nur R. Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 276 und S. 304 f. 2 Vgl. zu diesen Schriften R. Specht, John Locke, 1989, S. 11 mit Bezug auf die »Tracts on Government«, in denen Locke »die Frage, ob die Regierung zu Entscheidungen über sittlich unerhebliche Einzelheiten des Kults befugt ist, unter Angabe prinzipieller Gründe bejaht« habe, und die sog. »Unfehlbarkeitsschrift«, in der Locke die Frage behandelt habe, ob die Kirche einen unfehlbaren Schriftausleger braucht. 3 Nach Einschätzung von R. Brandt hat Locke in diesen Schriften »eine staatsautoritäre Position« vertreten, »die der von Thomas Hobbes (1588-1679) ähnelte« (John Locke, in: O. Höffe (Hrsg.), Klassiker der Philosophie, Bd. I, 3. Aufl. 1994, S. 360); vgl. in dieselbe Rich-
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Essays on the Law of Nature, in denen er zum ersten Mal seine später weiter ausgebauten und konkretisierten liberalen Grundgedanken umriß – 1667 unter dem Titel Essay concerning Toleration die sog. erste Toleranzschrift, bevor Locke 1689, dem Jahr seiner Rückkehr nach England, den 1685/86 während der Jahre seines niederländischen Exils in Amsterdam verfaßten Brief über Toleranz, zunächst noch anonym, erscheinen ließ,4 dessen Positionen er schließlich durch drei weitere Toleranzbriefe erläuterte, die zwischen 1690 und 1706, zum Teil also posthum, veröffentlicht wurden. – Betrachtet man all diese Schriften im Zusammenhang, lassen sie sich freilich als Ausdruck einer gedanklichen Entwicklung auffassen, die im Brief über Toleranz von 1689 (im Folgenden: Toleranzbrief) ihren Abschluß gefunden hat, so daß die aktuellen Diskussionen sich zu Recht auf diesen Toleranzbrief als die reife Gestalt der Locke’schen Philosophie der Toleranz beziehen.5 Auch die folgende Untersuchung wird daher diesen Text zum Ausgang nehmen, dessen Gedankengang zunächst nachzeichnen (nachstehend unter II.), um ihn im Anschluß daran auf die Idee der Toleranz in allgemeiner Hinsicht zu beziehen (nachstehend unter III.). Nun unternimmt es dieser Text nicht zuletzt auch, die religiöse Toleranz, verstanden als ein problematisches Verhältnis von Staat und Kirche, im Geist der Freiheit zu bestimmen. In eine solche Bestimmung muß aber notwendig der Begriff des Staates eingehen, so wahr der öffentliche Status kirchlich verfaßter Religionen mit dessen Grund, Zweck und Befugnissen in Einklang stehen muß. In einem zweiten Schritt (nachstehend unter IV.) werden deswegen auch die Grundzüge von Lockes politischer Philosophie6 mit in die Untersuchung einbezogen werden, deren maßgebliche Fassung7 der Zwei Abhandlungen über die Regierung wahrscheinlich schon vor dem Exil unter Lebensgefahr entstand8 und nur ein Jahr nach dem Toleranzbrief, zunächst ebenfalls anonym,9 erschien. Im Vordergrund wird dabei insbesondere die zweite Abhandlung »Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung« stehen.
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tung auch Specht, Locke (Fn. 2), S. 11, sowie W. Euchner in seiner »Einleitung« zu der von ihm besorgten stw-Ausgabe von J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1977, S. 15. Und zwar zunächst in lateinischer Sprache unter dem Titel »Epistola de Tolerantia«; die englische Übersetzung der Philipp Lamborch gewidmeten Schrift (»A Letter concerning Toleration«) erschien ein Jahr später, 1690; die Belege zu den Bezugnahmen auf diese Schrift im Folgenden beziehen sich auf die von J. Ebbinghaus edierten Ausgabe J. Locke, Ein Brief über Toleranz, 1996. Davon geht auch die Darstellung bei Forst, Toleranz (Fn. 1), S. 276 ff. aus (vgl. etwa S. 278). Vgl. vor allem die »Zwei Abhandlungen über die Regierung« von 1690. Vgl. für diese allgemeine Einschätzung nur Specht, Locke (Fn. 2), S. 21 und öfter. Vgl. Specht, Locke (Fn. 2), S. 21 und öfter. Zur Urheberschaft bezüglich der »Two Treatises of Government« bekannte Locke sich erst in seinem Testament.
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Abschließend sollen, in einem dritten Schritt (nachstehend unter V.), die wesentlichen Resultate von Lockes Bestimmung der religiösen Toleranz auf ihre Tragfähigkeit für eine Antwort auf die den Mittelpunkt der Tagung bildende Leitfrage nach der Tauglichkeit der Toleranzidee als (fundamentales) Ordnungsprinzip untersucht werden.
II. Der Toleranzbrief beginnt mit einem einleitenden Widmungsschreiben, an das sich drei ineinander übergehende Teile anschließen, welche »Die Aufgaben von Staat und Kirche« (A.), »Die Toleranzpflicht« (B.) und schließlich »Das Recht der Kirche« (C.) behandeln. Der Text endet mit einem »Schluß« über Sekten und Staatssicherheit.10 Ausgehend von der Existenz verschiedener, auch unterschiedlicher christlicher Kirchen und unter der Voraussetzung, daß der politische Souverän nicht länger als von Gott eingesetzt angesehen wird, stellt Locke in der genannten Einleitung nach Art eines Programmsatzes die These voraus, daß Toleranz, verstanden als Duldung, »das hauptsächlichste Merkmal der wahren Kirche« sei.11 »Die Duldung derer«, schreibt Locke, »die von anderen in Religionssachen abweichen, ist mit dem Evangelium Jesu Christi und der unverfälschten menschlichen Vernunft so sehr in Übereinstimmung, daß es ungeheuerlich scheint, wenn Menschen so blind sind, ihre Notwendigkeit und Vorzüglichkeit bei so hellem Lichte nicht zu gewahren.«12 Diese Aussage geht ihrem Wortlaut nach zwar zunächst von der christlichen Religion aus, sie ist der Sache nach aber auf jede wahre Kirche und ihre gläubigen Mitglieder gemünzt und stellt insofern eine Allgemeinbestimmung dar.13 Den damit eingeführten Grundsatz der religiösen Toleranz begründet Locke vor allem mit dem Argument, daß es die unbedingte Pflicht des Menschen sei, für sein ewiges Seelenheil zu sorgen, und daß der Weg dazu selbst gewählt und verantwortet werden muß, um nach dem Tod vor Gott treten zu können:14 10 Von dem »Anhang« zu »Häresie und Schisma« kann für die Zwecke der vorliegenden Untersuchungen abgesehen werden. 11 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 3. 12 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 11. 13 Die gelegentlichen »kritischen Bemerkungen« Lockes zum Islam, besonders hinsichtlich dessen (vermeintlicher) Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat (vgl. Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 95, auch S. 107), ändern daran nichts. 14 Weitere (davon abgeleitete) Argumente bei Forst, Toleranz (Fn. 1), S. 290 ff.
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»Jedermann hat eine ewiger Seligkeit oder Unseligkeit fähige unsterbliche Seele, deren Glück vom Glauben und Vollbringen dessen in diesem Leben abhängt, was zur Erlangung der Wohlgeneigtheit Gottes notwendig und von Gott zu diesem Zwecke vorgeschrieben ist. Daraus folgt erstens, daß die Beobachtung dieser Dinge die höchste Verpflichtung ist, die auf der Menschheit liegt, und daß unsere höchste Sorge, Anstrengung und Sorgfalt in ihrer Erforschung und Vollbringung sich betätigen sollte. Denn es gibt nichts in der Welt, das im Vergleich mit der Ewigkeit irgendwie in Betracht käme. Zweitens folgt angesichts des Umstandes, daß ein Mensch durch irrige Meinungen und die ungehörige Art seines Gottesdienstes die Rechte Anderer nicht verletzt, noch seine Verdammnis den Angelegenheiten Anderer Abbruch tut – daß die Sorge für sein Heil nur jeden selbst angeht… Aller Zwang und gewaltsamer Druck muß vermieden werden. Nichts darf auf Befehl geschehen. Niemand ist auf diese Weise verpflichtet, den Ermahnungen oder den Zumutungen Anderer über seine Überzeugung hinaus Gehorsam zu erzeigen. Jeder hat hier die höchste und uneingeschränkte Autorität, für sich selbst zu urteilen. Und zwar aus dem Grunde, weil davon kein Anderer betroffen wird noch irgendeinen Schaden von dem dabei beobachteten Verhalten erleiden kann.«15
Wenn dies nun richtig ist, wird es nicht nur aufgrund der historischen Tatsache einer Trennung von Staat und Kirche, sondern zudem begrifflich notwendig, »zwischen dem Geschäfte der staatlichen Gewalt und dem der Religion genau zu unterscheiden und die rechten Grenzen festzusetzen, die zwischen beiden liegen«16, da nämlich das Recht in seiner Geltung gerade nicht in unvermittelter Weise von den jeweiligen Überzeugungen jedes einzelnen Rechtssubjekts abhängig und außerdem seinem Begriff nach mit der Befugnis verbunden ist, rechtsförmiges Verhalten notfalls auch zu erzwingen.17 15 Vgl. Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 83. – J. Ebbinghaus spricht in seiner »Einleitung« dieser von ihm besorgten Ausgabe der Schrift diesbezüglich von einem Ersten Überzeugungssatz Lockes (S. XXVII). 16 Vgl. Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 11. 17 Dazu grundlegend für die Rechtsphilosophie der Neuzeit Kant, MdS, AA VI, Staatsrecht § 46 einerseits, sowie speziell zur Zwangsbefugnis § D der »Einleitung in die Rechtslehre« andererseits; näher zur kantischen Rechtsbegründung W. Bartuschat, Zur Deduktion des Rechts aus der Vernunft bei Kant und Fichte, in: M. Kahlo/E. A. Wolff/R. Zaczyk (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, 1991, S. 173 ff.; ebenda eingehend zur Begründung der Zwangsbefugnis M. Köhler, Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte, S. 93 ff. – Im Strafrecht, und dort vor allem angesichts der sog. Überzeugungs- und Gewissenstäter, stellt das Problem der Legitimation von Rechts- als Strafzwang sich nicht nur mit besonderer Schärfe, sondern seine Bewältigung bedarf notwendig einer genaueren Bestimmung auch des Verhältnisses von Einzelnem und (Straf-)Gesetz, um deren weitere Aufklärung ich mich an anderer Stelle bemüht habe (vgl. Verf., Die Problematik des Handelns aus strafgesetzeswidriger Richtigkeitsüberzeugung, in: D. Klesczewski/S. Müller/F. Neuhaus (Hrsg.), Kants Lehre vom richtigen Recht, 2005, S. 101 ff.; vgl. zu den damit angesprochenen »Aspekten des Rechtsbegriffs« auch die zusammenfassende Darstellung von K. Seelmann, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 2004, § 2 m. w. N.).
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Diese Grenzziehung wird im 1. Hauptteil des Toleranzbriefs unternommen, und zwar jeweils im Ausgang von begrifflichen Bestimmungen des Staates und der Kirche. »Das gemeine Wesen«, schreibt Locke, »scheint mir eine Gesellschaft von Menschen zu sein, deren Verfassung lediglich die Befriedung, Wahrung und Beförderung ihrer bürgerlichen Interessen bezweckt«, nämlich des Lebens, der Freiheit, der Gesundheit, der Schmerzlosigkeit des Körpers und des Besitzes äußerer Dinge wie Geld, Ländereien, Häuser, Einrichtungsgegenstände und dergleichen.18 Allein auf deren äußere Garantie erstrecke sich »die ganze Rechtsgewalt der Obrigkeit«, nicht aber »auf das Heil der Seelen«19, wie durch die zusätzliche Überlegung untermauert wird,20 daß anderenfalls der Einzelne in die Notwendigkeit versetzt würde, das Licht der eigenen Vernunft aufzugeben und die Vorschriften des eigenen Gewissens gegen die religiöse Orientierung der Herrschenden auszutauschen, obwohl der »einzige und nur schmale Weg, der zum Himmel führt, ... der Obrigkeit nicht besser bekannt (ist) als privaten Personen«, so daß ich denjenigen nicht mit Sicherheit zum Führer nehmen könne, »der wahrscheinlich den Weg ebenso wenig kennt wie ich selbst, und der sicherlich weniger besorgt für mein Heil ist als ich selbst es bin«21. Dem Staat ist also zwar die Wahrung und Beförderung der Güter Leben, Freiheit und äußere Habe, nicht aber auch die Sorge für das eigene Seelenheil zu übertragen. Dies zu ermöglichen und zu befördern sei vielmehr ausschließlich der Kirche vorbehalten, die er als »eine auf Freiwilligkeit beruhende Gesellschaft von Menschen« definiert, die sich »nach eigener Vereinbarung zusammentun, um Gott in der Weise zu verehren, die sie als annehmbar für ihn und als wirksam für ihr Seelenheil betrachten«22. Ihr Zweck sei also »die öffentliche Verehrung Gottes und vermittels ihrer der Erwerb des ewigen Lebens«23. In der Verfolgung dieses Zwecks hat sie, wie schon gesagt wurde, nun Toleranz walten zu lassen gegen andere Kirchen und deren Mitglieder24 sowie auch gegenüber ihren eigenen Mitgliedern. Letzteres aber, wie Locke sogleich erkennt, nicht etwa schrankenlos, weil auch eine Kirche als Glaubensgemeinschaft notwendig Regeln für die gemeinschaftliche reli18 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 13. 19 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 13. 20 Forst, Toleranz (Fn. 1), S. 291, hält diese Überlegung, meines Erachtens zu Unrecht, lediglich für ein Klugheitsargument; sowohl die von Locke sehr betonte »Ewigkeitsdimension« als auch der Gedanke der Unvertretbarkeit und die auf dessen Grundlage vom Staat strikt zu garantierende Privatsphäre weisen in eine andere, stärker begründete Richtung. 21 Vgl. Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 49 i. V. m. S. 19. 22 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 19. 23 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 25; vgl. auch S. 57 (« religiöse Gesellschaften«). 24 Vgl. dazu außerdem auch Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 31.
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giöse Praxis braucht, »eine Anzahl von Gesetzen«, wie Locke formuliert, die zunächst insbesondere Ort und Zeit der Zusammenkünfte, die Bestimmung von besonderen Amtsträgern sowie die Zulassung und Ausschließung von Mitgliedern festlegen müssen – eine innerkirchliche Gesetzgebung, die nach Locke niemandem zustehen kann als der Glaubensgemeinschaft selbst.25 Die damit aufgeworfene Frage nach Umfang und Grenzen der innerund interkirchlichen Toleranz behandelt Locke im zweiten, »Die Toleranzpflicht« überschriebenen Hauptteil des Toleranzbriefes, und er beantwortet sie in 3 Schritten: – Erstens sei »keine Kirche durch die Pflicht der Duldung verbunden ... , eine solche Person in ihrem Schoße zu behalten, die trotz Ermahnung hartnäckig fortfährt, gegen die Gesetze der Glaubensgemeinschaft zu verstoßen.« Was positiv gewendet heißt: Solange sich das einzelne Kirchenmitglied an die Gesetze seiner Kirche hält, mag es im übrigen sich verhalten wie es ihm beliebt, genießt es also volle Willkürfreiheit.26 – Zweitens hätten weder Einzelne noch Kirchen gegeneinander Rechte aus religiösen Gründen. Niemand habe »in irgendeiner Weise ein Recht, eine andere Person (oder Kirche; Hinzufügung von mir, M. K.) im Genuß ihrer bürgerlichen Rechte zu benachteiligen, weil diese zu einer anderen Kirche oder Religion gehört«.27 – Und drittens müßten kirchliche Amtsträger (»Geistliche«) nicht allein selbst Toleranz üben, sondern die ihnen Anbefohlenen auch zur Toleranz ermahnen;28 sie seien verpflichtet, den Mitgliedern ihrer Kirche »die Pflichten der Friedfertigkeit und des guten Willens gegen alle Menschen, die im Irrtum befindlichen so gut als die rechtgläubigen, einzuschärfen; gegen die, die im Glauben und Gottesdienst abweichen, so gut als gegen die, die darin mit ihnen übereinkommen«.29
25 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 21. 26 Diese erste Festlegung Lockes wird man sowohl auf innerkirchliches Verhalten als auch auf die soziale bürgerliche Praxis zu beziehen haben: Ein Ausschluß eines Kirchenmitglieds ließe sich also beispielsweise weder auf ein bestimmtes Äußeres, von anderen Gottesdienstbesuchern als störend oder anstößig empfundenes Erscheinungsbild noch darauf stützen, daß sich der Einzelne im bürgerlichen Leben Verfehlungen hat zuschulden kommen lassen. Vgl. dazu auch Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 37, wonach »die Kirche selbst eine vom bürgerlichen Gemeinwesen vollständig getrennte und unterschiedene Sache ist.« 27 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 29, hinsichtlich des interkirchlichen Verhältnisses S. 31. 28 Vgl. dazu Ebbinghaus, Einleitung (Fn. 4), unter »II. Gedankengang des Toleranzbriefes«, S. XXIII, der freilich sogar meint, sie müßten diesen Toleranz zur Pflicht machen. 29 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 39.
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Was nun noch bleibt, ist die genauere Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche, die Locke im 3. Hauptteil unternimmt, in dem »Das Recht der Kirche« untersucht wird. Ausgangspunkt ist dabei die Wiederaufnahme des für die gesamte Argumentation des Toleranzbriefs maßgeblichen Gedankens, wonach die Verfolgung des eigenen ewigen Seelenheils nicht nur die höchste, unbedingte Pflicht jedes Menschen ist, sondern allein von diesem selbst, gemäß dem eigenen Gewissen und folglich frei von jedem äußeren Zwang, erfüllbar ist, weil hier der rechte Weg dazu nicht generell, mit allgemeinem Wahrheitsanspruch zu erkennen ist.30 Da dieser Weg nun aber jedenfalls – wie alle Menschen wüßten und erkennen – nicht isoliert-allein, sondern notwendig öffentlich, nämlich in religiösen Gesellschaften beschritten werden müsse, sei es die Pflicht des Staates, diese Gesellschaften zu dulden.31 Aus dieser grundlegenden Toleranzpflicht wird dann zunächst das Recht der Kirchen abgeleitet, die äußere Form und die Riten des Gottesdienstes festzulegen, dem eine Pflicht des Staates korrespondiert, sich diesbezüglich jeglicher gesetzlicher Regelung und damit der Erzwingung kultischer Handlungen überhaupt zu enthalten.32 Darüber hinaus folge aus der genannten Pflicht das Recht der Freiheit des Glaubens, verstanden als Befugnis und Kompetenz der Kirchen, die religiös-inhaltlichen Angelegenheiten, von Locke als spekulative Glaubensartikel bezeichnet, und die praktischen Glaubensartikel, d.h. die Vorschriften eines guten Lebenswandels, eigenständig zu regeln.33 Allerdings könne gerade hinsichtlich dieser Vorschriften eine Gefahr für einen Kompetenzkonflikt bestehen, denn »ein guter Lebenswandel, in dem der nicht geringste Teil der Religion und wahren Frömmigkeit besteht«, gehe grundsätzlich auch die Obrigkeit an, liege in ihm doch offenbar »das Heil sowohl der Menschenseele wie auch des gemeinen Wesens«, so daß moralische Handlungen in die Rechtssprechung der Obrigkeit und des 30 Vgl. Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 47 i.V.m. S. 55, sowie oben bei und in Fn. 15. 31 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 55/57. – Zu schützen sind also nicht nur religiöse Einstellungen (Haltungen), sondern auch die in diesen begründeten Handlungen; vgl. zu den daraus resultierenden aktuellen Rechtsproblemen die Beiträge von Helmut Goerlich (vor allem im Hinblick auf das Kirchenverfassungsrecht) und Christoph Enders (mit Bezug auf die Grundrechte) in diesem Band, S. 207 ff. und S. 243 ff. 32 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 57 mit dem Zusatz, der Staat dürfe lediglich kultisch gleichgültige Dinge gesetzlich regeln (S. 57 unten), soweit das öffentliche Wohl als »Regel und Maß für alle Gesetzgebung« dies erfordere (S. 59). Und als gleichgültig beurteilt Locke nur von ihm sog. Nebenumstände, die nicht Teil der von Gott selbst festgesetzten und ihm wohlgefälligen Verehrung sind (S. 61). 33 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 79/81 einerseits (zu den »spekulativen« Glaubensartikeln), S. 81/97 andererseits (zu den »praktischen« Glaubensartikeln).
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Gewissens fielen und deswegen die große Gefahr bestehe, »daß die eine dieser Rechtssprechungen in die andere einbricht«34. Diese Gefahr bestehe aber bei näherem Hinsehen dann nicht, wenn man sich nur darauf besinne, daß das staatliche Recht – im Unterschied zu der privaten Aufgabe des Erwerbs himmlischer Seeligkeit – ausschließlich auf den Schutz der Güter des irdischen Lebens eingeschränkt sei.35 Daraus folge vor allem: – Erstens, daß der Staat von einer Kirche gelehrte praktische Meinungen dann nicht dulden dürfe, wenn diese »im Widerspruch mit der menschlichen Gesellschaft oder mit den für die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft notwendigen Regeln« stünden.36 – Zweitens, daß der Staat religiöse Gesellschaften dann nicht tolerieren dürfe, wenn diese für sich selbst das Vorrecht beanspruchten, in bestimmten Fällen von den notwendigen Gesetzen des Gemeinwesens entbunden zu sein, etwa indem sie das Eigentumsrecht den von Gott begnadeten vorenthalten wollen.37 – Und drittens, daß diejenige Kirche im Staate nicht geduldet werden dürfe, deren Mitglieder durch ihren Glauben gleichzeitig einem auswärtigen Souverän verpflichtet sind.38 Grenzen der Toleranz des Staates soll es nach Locke nun aber nicht allein den angeführten Religionsgemeinschaften gegenüber, sondern vor allem auch im Verhältnis zu den Atheisten geben; diese seien »ganz und gar nicht zu dulden«, weil die Leugnung der Existenz Gottes gleichbedeutend sei mit der Leugnung aller menschlichen Verpflichtung.39
III. Aufgrund der damit abgeschlossenen Rekonstruktion von Lockes Philosophie der Toleranz läßt sich – bezogen auf die leitende Frage nach der Eignung der Toleranzidee als Ordnungsprinzip – an dieser Stelle folgendes Zwischenergebnis festhalten: 34 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 81/83. 35 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 85 (mit Rechtfertigung des Staates und der Kirchen), und dazu Ebbinghaus, Einleitung (Fn. 4), S. XXV f. 36 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 91. 37 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 91/93 (Gedanke der Rechtsgleichheit sowie Leistung der Reziprozität zwischen den Bürgern und Religionsgemeinschaften). 38 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 93/95 (Gefahr des Landesverrats; vgl. dazu Forst, Toleranz (Fn. 1), S. 293 unten). 39 Locke, Toleranzbrief (Fn. 4), S. 95/97.
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1. John Locke verwendet den Begriff der Toleranz ausschließlich im Bezug auf religiös motivierte Praxis. 2. Dabei bezieht er ihn zum einen auf innerkirchliche und interkirchliche Verhältnisse sowie zum anderen auf das Verhältnis Kirche – Staat, indem der Staat sowohl die Existenz der Religionsgemeinschaften als auch deren spezielle Regelungskompetenz in allen rein innerkirchlichen Angelegenheiten zu respektieren hat. 3. Für diese Teilbereiche zwischenmenschlicher Praxis plädiert Locke zwar für Toleranz, jedoch wird diese dabei nicht als Grund der angesprochenen Praxis – also als deren Ordnungsprinzip40 – gedacht und eingeführt, sondern vielmehr als Konsequenz aus dem Gedanken der Höchstpersönlichkeit (»Individualität«) der Glaubensüberzeugungen und der damit verbundenen Selbstverantwortung für die Wahl des Weges zum eigenen ewigen Seelenheil. Es bleibt jedoch noch, kurz zu untersuchen, ob sich aus der Vorstellung vom Staat, die Locke in seiner politischen Philosophie in ihrer Fassung der Zwei Abhandlungen über die Regierung entwickelt, etwas anderes ergibt oder ergeben könnte.
IV. Diese Vorstellung nimmt ihren Ausgang bekanntlich von einer minuziösen Auseinandersetzung mit der Lehre von Robert Filmer (und den Vertretern dieser Lehre),41 der zufolge die Menschen nicht frei geboren werden und deshalb nicht die Freiheit haben können, die Form des Staates,42 in dem sie leben, sowie ihre Regierungen selbst zu wählen; Fürsten besäßen ihre Gewalt vielmehr durch göttliches Recht und damit absolut, denn Sklaven könnten nie ein Vertrags- oder Einwilligungsrecht haben. Schon Adam sei ein absoluter Monarch gewesen, und seitdem gelte das für alle Fürsten.43 40 Gegen die Vorstellung, Toleranz sei nicht bloß »ein krönendes Indiz der Bewährung von selbstgewisser humanitärer Gesinnung,« sondern ein »immanenter Baustoff von Staaten«, vergleichbar »dem wechselseitigen Respekt gleichberechtigter Partner«, deutlich R. Bubner , Zur Dialektik der Toleranz, in: R. Forst (Hrsg.), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, 2000, S. 45 ff., bes. S. 52 ff. 41 Dementsprechend steht die erste Abhandlung auch unter der Überschrift »Aufdeckung der falschen Prinzipien und Widerlegung der Begründung der Lehre Sir Robert Filmers und seiner Nachfolger«, Locke, Abhandlungen (Fn. 3). 42 Die Textübersetzung von H. J. Hoffmann spricht hier zwar von Regierungsformen, meint damit aber keineswegs nur die staatliche Exekutive, sondern die Staatsverfassung überhaupt. 43 Vgl. Locke, Abhandlungen (Fn. 3), I. Abhandlung, 1. Kap., § 5 a. E., S. 68.
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Diese ersichtlich paternalistische Lehre44 weist Locke hauptsächlich unter Hinweis darauf ab, daß deren Grundfehler darin bestehe, die Staatsgewalt mit der Gewalt – oder auch: Sorge – der Eltern zu verwechseln.45 – Ein überzeugender Einwand, dessen gedanklicher Gehalt etwa 100 Jahre später in der kantischen Despotismus-Kritik und deren Gegenüberstellung von väterlichem und vaterländisch-republikanischem Staat wieder aufgenommen wurde.46 Dieser paternalistischen Fehlvorstellung stellt Locke nun in der zweiten Abhandlung »Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung« sein eigenes Vertragsmodell entgegen, das davon ausgeht, daß alle Menschen gleich und folglich gleichberechtigt sind, insofern sie als Geschöpfe Gottes zu ihrer eigenen Erhaltung verpflichtet sind.47 Von dieser Grundpflicht der Selbsterhaltung aus – die sich im übrigen zwanglos in Korrespondenz zu der im »Toleranzbrief« vorgetragenen Pflicht verstehen läßt, sich selbst nach Kräften um das eigene ewige Seelenheil zu bemühen48 – wird die Notwendigkeit entwickelt, aus dem Naturzustand49 herauszutreten und dadurch für die allgemeine Einhaltung derjenigen »natürlichen« Gesetze zu sorgen, die Gott seinen Geschöpfen als Vernunftgebote gegeben hat und zu deren Erkenntnis jeder kraft seiner eigenen Einsicht fähig sei, daß die »politische oder bürgerliche Gesellschaft« gegründet und verwirklicht wird.50 Und da die durch die Naturgesetze geschützten Güter – Locke spricht von »property« – life, liberty und estate, also: Leben, Freiheit und äußere Habe seien, läßt sich deren Schutz und Erhaltung jetzt konsequent als der Endzweck des Staates bestimmen,51 dessen Verwirklichung diesem durch das Recht der öffentlichen (»bürgerlichen«) Gesetzgebung, der Exekutivgewalt und der Jurisdiktion aufgegeben ist.52 Nicht nur die darin eingeschlos44 Vgl. zur neueren Auseinandersetzung mit dem Paternalismus in philosophischen Theorien und anderen, vornehmlich praktischen Zusammenhängen die Beiträge, in: M. Anderheiden u. a. (Hg.), Paternalismus und Recht, 2006, dort auch mein eigener Beitrag zum »Paternalismus im deutschen Strafrecht der Sterbehilfe« (S. 259 ff.). 45 Locke, Abhandlungen (Fn. 3), II. Abhandlung, 6. Kap. und dazu Specht, Locke (Fn. 2), S. 176. – Dieser Einwand findet sich auch in der staatstheoretischen Kritik J.-J. Rousseaus in: Gesellschaftsvertrag, 1. Buch, 2. Kap. 46 Vgl. Kant, Gemeinspruch-Schrift, AA VIII, S. 273 ff., bes. S. 290/291. Die dort vorgetragene Kritik richtet sich bekanntlich ausdrücklich gegen die Staatsphilosophie von Hobbes. 47 Vgl. Brandt, Locke (Fn. 3), S. 367. 48 Siehe dazu oben, bei Fn. 14 und 30, auch bei und in Fn. 20, 21. 49 Vgl. zu diesem Locke, Abhandlungen (Fn. 3), II. Abhandlung, 2. Kap. 50 Locke, Abhandlungen (Fn. 3), II. Abhandlung, 7. Kap. 51 Locke, Abhandlungen (Fn. 3), II. Abhandlung, 7. Kap., § 85 a. E., S. 252 und dazu Specht, Locke (Fn. 2), S. 180 ff., bes. S. 181. 52 Locke, Abhandlungen (Fn. 3), II. Abhandlung, 7. Kap., §§ 87, 88, S. 253/254; vgl. speziell zu den Gewalten und deren Rangordnung: 13. Kap., S. 293 ff.
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sene Strafgewalt – der öffentliche Strafanspruch – ist dabei ausdrücklich so gedacht, daß »niemand in einer bürgerlichen Gesellschaft … von ihren Gesetzen ausgenommen werden (kann)«.53 Daraus folgt aber: Solange ein Staat sich darauf konzentriert, die genannten Güter gesetzlich zu schützen und sich die Einzelnen als Rechtspersonen in ihren Handlungen an die Gesetze halten, gibt es nach Locke kein Toleranzproblem. Mißachtet eine Handlung aber ein bürgerliches Rechtsgesetz, ist Toleranz kein praktisches Prinzip des inneren Staatsrechts, auf dessen Grundlage der durch die Rechtsverletzung etablierte Konflikt, die Manifestation einer Mißachtung fremder Freiheit, bewältigt werden könnte. Denn die Verletzung oder (konkrete) Gefährdung einer rechtsgesetzlich garantierten (staatlichen) Institution oder mitpersonalen Freiheitssphäre ist im Prinzip nicht tolerierbar.
V. Zusammenfassend läßt sich somit festhalten: – John Lockes Philosophie der Toleranz ist einzig dem Problem der religiösen Toleranz gewidmet. – Dieses Problem entsteht dadurch, daß Locke – insofern neuzeitlichmodern – den Glauben nicht länger nur als eine Angelegenheit »innerer Überzeugung«, ein bloßes Forum internum, ansieht (wie er noch Anfang der 60er Jahre des 17. Jahrhunderts meinte), sondern erkennt, daß religiöse Orientierung mit der äußeren Sphäre zusammenhängt, insofern sie sich in gemeinschaftlichen äußeren, eben gottesdienstlichen Handlungen verwirklicht, mit denen der Glaube, an dem für Locke das ewige Seelenheil hängt, notwendig verknüpft ist.54 – Lockes Konzeption von Toleranz ist dabei eingeschränkt auf innerkirchliche und interkirchliche Praxis sowie auf das Verhältnis Kirche – Staat. – Was letzteres angeht, enthalten seine Überlegungen zumindest erste – freilich in ihrer Grundlage noch unübersehbar transzendente – Ansätze für die Begründung einer privaten, staatlicher Regelung schlechthin entzogenen Lebenssphäre.55 53 Locke, Abhandlungen (Fn. 3), II. Abhandlung, 7. Kap., § 94, S. 259. 54 So auch Brandt, Locke (Fn. 3), S. 370 f. 55 Vgl. dazu schon Brandt, Locke (Fn. 3), S. 371. – Daß Locke deren Begründung – auch diesseits des problematischen transzendenten Legitimationsversuchs – nicht recht gelungen ist und auch gar nicht gelingen konnte (so auch das Fazit von Brandt, Locke (Fn. 3), S. 371 und Ebbinghaus, Einleitung (Fn. 4), S. XLIX f.), kann dabei hier außer Betracht bleiben.
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– Diese Ansätze benennen zwar wiederholt die Toleranzkategorie, dies jedoch nicht im Sinne eines Ordnungsprinzips staatlicher Praxis, sondern als Konsequenz aus anderen Grundlagen, in deren Mittelpunkt die (Glaubens-)Freiheit des Einzelnen zur religiösen Selbstorientierung steht.56 Toleranz ist also – jedenfalls bei Locke – kein fundamentales Ordnungsprinzip des inneren Staatsrechts. Dieser Befund ist – um zum Abschluß auch noch die Brücke zu den zeitgenössischen Diskussionen der Toleranzidee zu schlagen – unabhängig von der Einordnung der Locke’schen Philosophie der Toleranz in das unlängst vorgeschlagene »System von Toleranzkonzeptionen«, wonach vier unterschiedliche Auffassungen von Toleranz zu unterscheiden sein sollen: eine Erlaubnis-, eine Koexistenz-, eine Respekts- und eine Wertschätzungskonzeption.57 Denn auch die beiden letztgenannten Konzeptionen vermögen die bestimmende Dimension und Realität des gegenseitigen Respekts oder der Wertschätzung des (fremden) Anderen nicht etwa ursprünglich, allein aus dem Gehalt der Toleranzidee zu erschließen. Vielmehr verweisen sie, bei näherem Bedenken zwingend, auf ein gedanklich vorrangiges, in der Idee der Toleranz also vorauszusetzendes Praxisprinzip.58 Als ein solcher, Rechts- und Staatsordnung tragender praktischer Grundsatz ist hier im Hinblick auf den Fortgang der neuzeitlichen Denkwege der Aufklärung das Praxisprinzip der Selbstbestimmung und der damit verbundenen wechselseitigen Anerkennung zwar endlicher, dabei jedoch praktisch vernünftiger
56 Daß diese Form der Selbstorientierung – auch nach der kantischen Kritik der Gottesbeweise (vgl. dazu klärend J. Ringleben, Immanuel Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis, 2005) – allerdings einer über das Locke’sche Denken hinausweisenden Theorie der innerweltlichen Vernunft menschlicher Praxis bedarf, deren Denken sich auch bei der gebotenen Selbstbeschränkung niemals ohne Bezug zum Absoluten ausbildet und sich deshalb zu diesem ins Verhältnis setzen muß, macht unter anderem die jüngste Renaissance (religions-) philosophischer Bemühungen deutlich; vgl. zu diesen Bemühungen zunächst die von A. U. Sommer in der Philosophischen Rundschau 54 (2007), S. 31 ff. rezensierten »Neuerscheinungen zu Kants Religionsphilosophie«; ferner aus katholischer Sicht die von Papst Benedikt XVI. (J. Ratzinger) gehaltene Regensburger Universitätsrede über »Glaube, Vernunft und Universität«, abgedruckt in: FAZ vom 13.9.2006, S. 8, sowie aus protestantischer Sicht die Untersuchungen von U. Barth, Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne, 2005, und ders., Gott als Projekt der Vernunft, 2005; siehe zum Ganzen auch die weiteren, von M. Moxter unter dem Titel »Vernunft innerhalb der Grenzen der Religion« in der Philosophischen Rundschau 54 (2007), S. 3 ff. besprochenen Beiträge, sowie – aus Perspektive der Diskurstheorie – J. Habermas, Glauben und Wissen, 2001; ders. Zwischen Naturalismus und Religion, 2005, bes. 119 ff., 216 ff. und 258 ff. 57 Vgl. zu diesem Kanon die Überlegungen von Forst, Toleranz (Fn. 1), S. 42 ff. 58 Vgl. dazu auch schon die weiterführende Kritik von B. Zabel im Rahmen von dessen Besprechung des Buches von Forst, Zeitschrift für Rechtsphilosophie (ZRph) 2005, S. 50 ff.
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Handlungssubjekte in seiner Entfaltung zum gegenseitigen Rechtsverhältnis sowie zum Rechtsstaat in Erinnerung zu rufen.59 Ob Toleranz mit dieser Maßgabe sich gleichwohl als ein gewissermaßen zweitstufiges Rechtsgebot bestimmen läßt, bedarf freilich nicht nur vom Boden der Locke’schen Philosophie der Toleranz weiterer Aufklärung.60
59 Für die Philosophie jedenfalls hinsichtlich Hegels nach wie vor grundlegend zu diesem Grundsatz die Habilitationsschrift von L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, 1979; vgl. dazu auch Ludwig Siep, in diesem Band, S. 177 ff.; siehe zur fachübergreifenden Entfaltung und damit zugleich verbundenen Vertiefung dieses Praxisprinzips ferner aus neuerer Zeit die Beiträge in: W. Schild (Hrsg.), Anerkennung. Interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffs, 2000. – Für den Begriff des Rechts und dessen Institution des Strafrechts haben vor allem die – freilich eher an kantischen Gedankengängen und Fichtes »Grundlage des Naturrechts« von 1796 orientierten – Untersuchungen von E. A. Wolff die Bedeutung des gegenseitigen Anerkennungsverhältnisses herausgearbeitet, und zwar zum einen im Hinblick auf die Legitimation von Kriminalstrafe (vgl. Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität, ZStW 97 (1985), 786, speziell S. 811 ff.), zum anderen mit Bezug auf die besondere Qualität des strafbaren Verbrechens (vgl. Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik. Bedingungen der Strafrechtsreform, 1987, S. 137, bes. S. 178 ff., 185 ff.). 60 Vgl. dazu zum einen den Toleranz als ein Gebot der Mäßigung der Strafpraxis entwickelnden Gedankengang von Rainer Zaczyk, in diesem Band S. 235 ff., bes. 241 f., zum anderen den Beitrag von Christoph Enders, in diesem Band S. 243 ff., dessen »Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben anhand höchstrichterlicher Entscheidungen« dem Toleranzgebot im Ausgang von Kants »Weltbürgerrecht« eine – wenngleich beschränkte – rechtsdogmatische Funktion eröffnen.
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Lessings Plädoyer für Toleranz. Die Struktur seiner Begründungen Lessing, der ehemalige Leipziger Theologiestudent, läßt Nathan, das dramatische Gedicht in fünf Aufzügen, in Jerusalem spielen, einem Jerusalem, in dem Christen und Juden und Muslime unter der weisen Herrschaft Saladins friedlich zusammenleben. Wenn dieses Gedicht – wie viele meinen – ein oder besser gesagt das »Ideendrama im Dienste der Toleranzforderung« ist und »der Toleranzgedanke« sein »Grundmotiv«1, dann ist die Toleranz, um die es in diesem Stück geht, keine juristische Kategorie und meint vor allem nicht die Neutralität des Staates gegenüber den verschiedenen Religionen, denn die ist in diesem Jerusalem vorbildlich erfüllt: die Herrschaft des weisen Saladin garantiert hier jeder Religion ihre rechtlichen Freiräume gegenüber möglichen Übergriffen der anderen. Auch wenn Lessing anläßlich der Veröffentlichung des ersten der Fragmente eines Ungenannten die Duldung der Deisten diskutiert, spricht er dabei keine juristische Kategorie an, sondern behauptet, das Positive vielleicht absichtsvoll unterstellend, »daß neurer Zeit, wenigstens in dem protestantischen Deutschlande, alle bürgerliche Verfolgung gegen Schriften und Schriftsteller unterblieben ist«2. Und wenn der Braunschweiger Herzog Lessings Zuversicht enttäuscht und seine Schriften schon vier Jahre später der Zensur unterwirft, gilt dennoch, daß es Lessing bei der Forderung nach Toleranz auch nicht um die damit angesprochene Freiheit der Feder geht; die unterstellt er als gegeben oder nimmt sie sich sogar gegen das herzogliche Gebot3. Sondern worum es Lessing geht, ist eine bestimmte moralisch begründete Haltung des Einzelnen gegenüber anderen Menschen und Meinungen: daß sie geduldet werden sollen, besagt, daß man es auch und gerade in Fragen der Religion erträgt oder 1 H. Schultze, Lessings Toleranzbegriff. Eine theologische Studie, 1969, S. 14. 2 G. E. Lessing, Duldung XII, S. 270. Lessings Schriften werden mit Angabe des Kurztitels zitiert nach G. E. Lessing, Sämtliche Schriften, hrsg. v. K. Lachmann, 3. Aufl., bearbeitet von F. Muncker, 23 Bände, 1886 ff. 3 Vgl. K.-J. Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, 1998, S. 188 f.
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– besser – akzeptiert oder – noch besser und mit Goethe gesprochen4 – anerkennt, daß andere Meinungen vertreten und für wahr halten, die von dem abweichen oder dem widersprechen, was man selbst für wahr und richtig hält. Diese Haltung besteht nicht nur und nicht einmal in erster Linie in einer bestimmten Haltung bloß gegenüber dem Anderen und Fremden, sondern ist selbst in einer inneren Haltung begründet, die man gegenüber sich selbst und gegenüber den Überzeugungen einnimmt, die man selbst hat, was dann allerdings zweitens auch Konsequenzen für die Haltung gegenüber dem anderen hat. Für eine so verstandene Haltung der Toleranz finden sich in den Schriften Lessings unterschiedliche und einander überlagernde Begründungen, die sich zum Teil ergänzen, zum Teil neue Gesichtspunkte geltend machen, einander gelegentlich aber auch korrigieren; ich werde einerseits fünf unterschiedliche Begründungsebenen voneinander unterscheiden und andererseits zu zeigen versuchen, daß Lessing auf jeder dieser Ebenen einer für ihn typischen Argumentationsstruktur oder –strategie folgt.
I. Im Nathan stellt Saladin nicht ohne Nebenabsichten die Gretchenfrage nach der wahren Religion: von den drei in Frage stehenden »Religionen kann doch eine nur die wahre seyn«5. Und Nathan antwortet erstens mit einem Verweis auf die Unentscheidbarkeit dieser Frage: die Religionen mögen sich in vieler Hinsicht unterscheiden, in einer Hinsicht sind sie alle gleich: Sie unterscheiden sich – wie Nathan sagt – »von Seiten ihrer Gründe nicht. – Denn gründen sich nicht alle auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! – Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu und Glauben angenommen werden?«6 Die grundsätzliche Bedeutung dieses Verweises auf die Geschichte entfaltet Lessing in dem Aufsatz Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft von 1777. Darin antwortet er einem Opponenten, der seine Verteidigung des Christentums auf die Wunder stützen will, die Christus verrichtet habe, mit der systematischen Unterscheidung zwischen »zufälligen Geschichtswahrheiten« und »notwendigen Vernunftwahrheiten« und schreibt gesperrt: » z u f ä l l i g e G e s c h i c h t s w a h r h e i t e n k ö n n e n d e r B e w e i s v o n n o t h w e n d i g e n Ve r n u n f t w a h r h e i t e n n i e w e r d e n « . 4 Vgl. J. W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 12, 1981/1998, S. 385: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.« 5 Lessing, Nathan 3. Aufzug, 5. Auftritt, III (Fn. 2), S. 88. 6 Lessing, Nathan 3. Aufzug, 7. Auftritt, III (Fn. 2), S. 92 f.
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Berichte über Wunder sind nichts als historische Sätze und können »mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren« nicht »verbinden«7. Mit diesen Sätzen beruft sich Lessing auf die Unterscheidung zwischen zufälligen Tatsachen- und notwendigen Vernunftwahrheiten, wie sie sich bei Leibniz8, aber in anderer Terminologie auch bei Hume9 findet, und verweist auf die unterschiedliche Dignität dieser beiden Klassen von Wahrheiten: notwendige Vernunftwahrheiten wie beispielsweise mathematische Sätze sind beweis- oder demonstrierbar, zufällige Tatsachenwahrheiten sind nur konstatierbar oder wie die historischen auf Treu und Glauben anzunehmen. Und »wenn keine historische Wahrheit demonstriret werden kann: so kann auch nichts d u r c h historische Wahrheiten demonstriret werden«10; zwischen beiden Sphären klafft »der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann«11. Und dies gilt nicht nur für die christliche Überlieferung, sondern für alle Offenbarungsreligionen: Sofern sich die jüdische, die christliche und die islamische Überlieferung auf historische Tatsachenwahrheiten stützen, reicht diese Stütze nicht aus, um Wahrheiten zu demonstrieren, die mehr thematisieren wollen als bloße historische Tatsachen. Die Frage nach der wahren Religion wird also beantwortet mit der Gegenfrage danach, welche Wahrheit man eigentlich meint: wenn man die historische Wahrheit meint, dann sind alle drei Religionen gleich gut oder gleich schlecht, nämlich durch bloß überlieferte historische Berichte mit all ihren Unsicherheiten bezeugt; wenn man eine darüber hinausgehende Vernunftwahrheit wie die von der Existenz oder von bestimmten Eigenschaften Gottes meint, dann unterliegen alle drei Religionen, jedenfalls sofern sie diese Wahrheit auf historische Berichte stützen wollen, dem gleichen non sequitur, weil aus historischen Tatsachenaussagen Vernunftwahrheiten nicht abgeleitet werden können. Wir begegnen hier zum ersten Mal einer argumentativen Taktik, die uns bei Lessing noch mehrmals begegnen wird: Externe Differenzen, wie sie zwischen den drei Religionen existieren, werden durch interne Differenzierungen entdramatisiert: Die interne Differenzierung zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten trifft alle drei Religionen gleichermaßen, und insofern ist der Wahrheitsanspruch der drei trotz aller externen Differenzen in dieser Hinsicht als gleich – in diesem Fall als gleich schwach – begründet anzusehen. Und diese Gleichheit in der Schwäche der Begründung ist nun gerade der Grund für die Forderung nach 7 Lessing, Beweis des Geistes, XIII (Fn. 2), S. 5. 8 Vgl. G. W. Leibniz, Monadologie, 1714, § 33. 9 Vgl. D. Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand), 1748, 4.1. 10 Lessing, Beweis des Geistes, XIII (Fn. 2), S. 5. 11 Lessing, Beweis des Geistes, XIII (Fn. 2), S. 7.
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Toleranz: keine der Religionen hat – in dieser Hinsicht – der anderen etwas voraus; der von jeder der drei erhobene Absolutheitsanspruch ist ebenso unbegründet wie die aus eben diesem Absolutheitsanspruch erwachsende Intoleranz gegenüber dem jeweils Andersgläubigen. Und was die Unterscheidung zwischen der Haltung gegenüber dem Anderen und der inneren Haltung zu sich selbst angeht, so ist die Einsicht in die aufgezeigte Schwäche der eigenen Position, wie sie Nathan der Weise hat, hier ganz offenbar die Bedingung der Möglichkeit dafür, die ja immer sehr viel leichter einzusehende Schwäche der anderen Position nicht als Legitimation für ihre Ablehnung oder als Begründung für die eigene Stärke anzusehen, sondern zu begreifen, daß man selbst und der andere sich in einer vergleichbaren Lage befinden.
II. Aber die drei Religionen gleichen sich nicht nur im Blick auf die Schwäche der bisher diskutierten Begründung, sondern auch darin, daß sie in Lessings Augen gleich wahr und gleich falsch sind: »Alle positiven und geoffenbarten Religionen sind« – so schreibt er in der Abhandlung Ueber die Entstehung der geoffenbarten Religion – »folglich gleich wahr und gleich falsch«. Diese erstaunliche Behauptung begründet Lessing 1755/60 erstens damit, daß er in allen positiven Religionen einen ihnen gemeinsamen Kern ausmachen zu können glaubt: »Einen Gott erkennen, sich die würdigsten Begriffe von ihm zu machen suchen, auf diese würdigsten Begriffe bei allen unsern Handlungen und Gedanken Rücksicht nehmen, ist der vollständigste Inbegriff aller natürlichen Religion«. »Zu dieser natürlichen Religion ist ein jeder Mensch, nach dem Maße seiner Kräfte, aufgelegt und verbunden«. »Sobald man« aber »auch die Religion gemeinschaftlich zu machen für gut erkannte, mußte man sich über gewisse Dinge und Begriffe vereinigen und diesen konventionellen Dingen und Begriffen eben die Wichtigkeit und Notwendigkeit beilegen, welche die natürlich erkannten Religionswahrheiten für sich selber hatten«. Insofern ähnelt das Verhältnis, das die natürliche Religion zur positiven hat, dem Verhältnis, in dem das natürliche Recht in Lessings Augen zum positiven Recht steht: »wie man aus dem Rechte der Natur« um der gleichartigen Ausübung unter vielen Menschen willen ein für alle geltendes »positives Recht gebauet hatte«, so »mußte« man »aus der Religion der Natur« um der Gleichartigkeit unter vielen Menschen willen »eine positive Religion bauen«. »Diese positive Religion erhielt ihre Sanktion durch das Ansehen ihres Stifters, welcher vorgab, daß das Conventionelle derselben eben so gewiß von Gott komme, nur mittelbar durch ihn, als das Wesentliche der-
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selben unmittelbar durch eines jeden Vernunft«. Man erkennt unschwer die Struktur der Argumentation wieder: die externen Differenzen zwischen den Religionen werden durch interne Differenzierungen – hier durch die Unterscheidung zwischen dem Vernünftigen und dem Konventionellen in jeder von ihnen – entdramatisiert oder eingeebnet: in jeder positiven Religion ist – so lautet die Auskunft jetzt – Vernünftiges und Konventionelles gemischt. Aber nicht schon deshalb ist jede von ihnen gleich wahr und gleich falsch. Sondern »gleich wahr« ist eine jede von ihnen, »in sofern es überall gleich nothwendig gewesen ist, sich über verschiedene Dinge zu vergleichen, um Uebereinstimmung und Einigkeit in der öffentlichen Religion hervorzubringen«; die »innere Wahrheit« einer jeden positiven Religion liegt in der »Unentbehrlichkeit«, »vermöge welcher die natürliche Religion in jedem Staate nach dessen natürlicher und zufälliger Beschaffenheit modificirt wird«. Die innere Wahrheit einer positiven Religion besteht also nicht darin, daß ihre Aussagen den Tatsachen entsprechen, sondern darin, daß in ihr die natürliche Religion so gebrochen und modifiziert ist, wie es die natürlichen und historischen Umstände jeweils erfordern. Mit dieser Art Wahrheit ist freilich zugleich die Falschheit einer jeden positiven Religion notwendigerweise verbunden: denn »gleich falsch« ist eine jede positive Religion, weil das Konventionelle, »worüber man sich verglichen«, nicht etwa »neben dem Wesentlichen besteht, sondern das Wesentliche schwächt und verdrängt«12. Die Frage nach der einzig wahren Religion wird also wiederum zurückgewiesen: es gibt nicht eine positive Religion, in der alles ganz wahr und nichts falsch wäre; eine solche Annahme, die hinter der Frage steht, ist selbst schon Ausdruck einer unkritischen Haltung der eigenen Religion gegenüber, die die Intoleranz gegenüber den jeweils Anderen insgeheim schon in sich birgt. Sondern jede positive Religion ist – und zwar notwendigerweise – immer zugleich wahr und falsch: wahr, insofern sie als öffentliche und gemeinschaftliche Religion Konventionelles enthalten muß, und falsch, insofern dieses Konventionelle notwendigerweise das Wesentliche verschattet. Und wieder gilt, daß diese Einsicht nur dann zur Toleranz gegenüber dem Fremden und Abweichenden führt, wenn man das Zugleich-wahr-und-falschSein nicht bloß bei der Religion der Anderen, sondern bei seiner eigenen diagnostiziert: Erst durch das Eingeständnis konventioneller Momente in der eigenen Religion, erst durch eine so differenzierende Sicht auf die eigenen Überzeugungen, gewinnt man die innere Freiheit, die beim Anderen gesehene Falschheit nicht schon als Beleg für das Abwegige seiner Position im Ganzen zu nehmen, sondern neben diesem Falschen auch das in dieser Position sich manifestierende Wahre zu erblicken. 12 Lessing, Ueber die Entstehung der geoffenbarten Religion, XIV (Fn. 2), S. 312 f.
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Solche internen Differenzierungen wie die zwischen dem Vernünftigen und dem Konventionellen finden sich bei Lessing in großer Zahl: Er unterscheidet den Buchstaben vom Geist und die Bibel von der Religion, die Schale vom Kern und die christliche Religion von der Religion, die Christus selbst gelebt habe13, und schreibt zum Entsetzen des am lutherischen Schriftprinzip festhaltenden Goeze: »der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht eben auch Einwürfe gegen den Geist und gegen die Religion«. Und er unterscheidet zwischen den systematischen Lehrgebäuden der gelehrten Theologen mit ihren »Hypothesen und Erklärungen und Beweisen« und dem lebendigen Glauben des Christen14 und benutzt diese Unterscheidung zur Konstruktion seiner berühmten Palast-Parabel, durch die sich Kafka nach Meinung bedeutender Interpreten dann später gleich zu mehreren seiner Erzählungen anregen ließ15. Diese Parabel berichtet vom »weisen thätigen König eines großen großen Reiches«, der »einen Pallast von ganz unermeßlichem Umfange« und »von ganz besonderer Architektur« besaß; »von aussen ein wenig unverständlich; von innen überall Licht und Zusammenhang. Was Kenner von Architektur seyn wollte, ward besonders durch die Aussenseiten beleidiget«, die nur wenige Fenster, »dafür aber desto mehr Thüren und Thore von mancherley Form und Größe hatten. Man begriff nicht, wie durch so wenige Fenster in so viele Gemächer genugsames Licht kommen könne. Denn daß die vornehmsten derselben ihr Licht von oben empfiengen, wollte den Wenigsten zu Sinne. Man begriff« auch »nicht, wozu so viele und so vielerley Eingänge nöthig wären, da ein großes Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher gewesen wäre, und eben die Dienste thun würde. Denn daß durch die mehrern kleinen Eingänge ein jeder, der in den Pallast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbarsten Wege, gerade dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinne. Und so entstand unter den vermeynten Kennern mancherley Streit«. Dieser Streit wurde dadurch verschärft, daß man »verschiedne alte Grundrisse zu haben« glaubte, »die sich von den ersten Baumeistern des Pallastes herschreiben sollten: und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichen bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als verloren war. Ein jeder erklärte sich daher diese Worte und Zeichen nach eignem Gefallen«, was den Streit zwischen denen, die ihren Grundriß für den jeweils richtigen hielten, noch verschärfte. Als daher eines Mitternachts der Wächter »Feuer! Feuer in dem Pallaste!« rief, »lief ein jeder mit seinem Grundrisse auf die Straße, wo, 13 Lessing, Die Religion Christi, XVI (Fn. 2), S. 518 f. 14 Lessing, Gegensätze, XII (Fn. 2), S. 428. 15 Vgl. T. W. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, in ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, 1963, S. 248-281, 274 ff.
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anstatt dem Pallast zu Hülfe zu eilen, einer dem andern es vorher in seinem Grundrisse zeigen wollte, wo der Pallast vermutlich brenne«. »Ueber diese geschäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Pallast, wenn er gebrannt hätte. – Aber die erschrocknen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten«. Ganz gleich, ob man den Streit über die verschiedenen Grundrisse, wie Goeze es tat, direkt auf den Fragmentenstreit bezieht, oder ob man in ihm, wie Lessing das tun wollte, ein Bild für die »ganze Geschichte der christlichen Religion« mit ihren Streitigkeiten sieht16, oder ob man ihn, an der Ringparabel Nathans orientiert, gar auf die Auseinandersetzungen zwischen den drei Religionen selbst bezieht, in jedem Falle wird in dieser Parabel die Wirklichkeit des lebendigen Glaubens oder gar der göttlichen Schöpfung selbst gegen die papierenen Grundrisse der jeweiligen Schriftgelehrten ausgespielt und der Streit zwischen ihnen als müßig und als gefährlich gebrandmarkt. Er ist müßig, weil der Streit um den einzig wahren Grundriß verkennt und verdeckt, daß jeder der verschiedenen Zugänge den jeweils Berufenen – wie Lessings Parabel betont – »auf dem kürzesten und direktesten Wege« zum Ziel geleitet; die besondere Eigenart dieses sagenhaften Palastes besteht gerade darin, daß es nicht nur einen privilegierten Zugang, sondern viele jeweils spezifische gibt, von denen jeder – jedenfalls in Kafkas Adaptation – sogar nur für einen Berufenen allein bestimmt ist17. Und der Streit um die richtige Art des Zugangs ist gefährlich, weil er verhindert, daß man sich auf angemessene Weise nicht um die Grundrisse und ihre Differenzen, sondern um den Palast selbst kümmert, auch wenn der jedenfalls bei Lessing nur scheinbar zu brennen vermag. Damit ist ein neue Stufe der Argumentation erreicht: daß es eine Vielzahl von Zugängen zum Palast, daß es eine Vielzahl von Konfessionen und sogar Religionen gibt, gilt nicht mehr bloß als ein unvermeidliches Übel, das mit der unausweichlichen Verflochtenheit des Menschen ins Kontingente und Historische gerechtfertigt würde, sondern es erscheint als eine positiv zu würdigende, wenn auch schwer begreifliche Eigenschaft, die der weise König seinem Palast zu geben vermochte. Diese positive Würdigung der Vielzahl der Religionen prägt auch die Ringparabel des Nathan: der Vater wollte – so vermutet der Richter – »die Tyranney des Einen Rings nicht länger in seinem Hause dulden« und ließ die Ringe »in der Absicht machen«, »damit sie nicht zu unterscheiden wären«. Daß die Ringe ununterscheidbar und die Religionen insofern gleich berechtigt sind, erscheint 16 Lessing, Eine Parabel, XIII (Fn. 2), S. 93 ff. 17 Vgl. F. Kafka, Vor dem Gesetz, in ders., Die Erzählungen, 1961, S. 135 f., 136: Der Türhüter: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«
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im Nathan als Ausdruck einer sich gleichmäßig auf alle Söhne oder Menschen erstreckenden Liebe des Vaters: »Und gewiß; daß er euch alle drey geliebt und gleich geliebt: indem er zwey nicht drücken mögen, um einen zu begünstigen«18. Die Bedeutung dieser Lessingschen Fassung der Ringparabel wird besonders deutlich, wenn man sich die Geschichte dieser Parabel vor Augen führt. Denn Lessing hat diese Parabel ja nicht erfunden, sondern aufgefunden, nach seinem Bekunden im Decamerone des Boccaccio19. Aber auch Boccaccio hatte die Ringparabel nur ge- und nicht erfunden; sie ist noch älter und taucht – folgt man den Angaben bei Karl-Josef Kuschel20 – ursprünglich wohl in zwei Fassungen im Frankreich des 13. Jahrhunderts auf. In der ersten Fassung des Dominikaners Étienne de Bourbon lassen zwei illegitime Töchter die ähnlichen Ringe selbst anfertigen, um die legitime Tochter um ihr Erbe zu betrügen, aber die Heilkraft des echten Ringes verrät dem Richter die Wahrheit; die Ring-Parabel dient hier dazu, die Legitimität des Christentums und die Illegitimität der jüdischen und der islamischen Religion zu illustrieren. Und in der zweiten Fassung läßt zwar der Vater selbst die Duplikate anfertigen, aber in der Absicht, seine beiden älteren schurkischen Söhne zu täuschen und das wahre Erbe seinem jüngsten guten Sohn zu sichern. Aber die älteren Söhne jagen den jüngeren aus dem Land und erst eine Streitmacht von außen setzt den jüngeren wieder in seine Rechte ein: In den Worten von Kuschel: »Die zwei verdorbenen Söhne stehen für Islam und Judentum; der jüngste mit dem echten Ring für das Christentum; ihr Land steht für das Heilige Land, aus dem Muslime und Juden die Christen vertrieben haben«, und die Parabel fungiert in dieser Fassung – schlimmer noch als in der ersten – nicht nur zur Legitimation des Christentums als der einzig wahren Religion, sondern als Aufruf zum Kreuzzug: das christliche Frankreich soll – so lautet die Botschaft – als auswärtige Macht die Herrschaft des Christentums im Heiligen Land wiederherstellen. Vor diesem Hintergrund wird die Entschiedenheit der Wendung deutlich, die der Parabel im weiteren Verlauf ihrer Ausgestaltung gegeben wird: erst in der islamischen Tradition und dann in der italienischen Rezeption, im Buch der hundert alten Novellen (1280 – 1300) und bei Boccaccio, und schließlich eben bei Lessing ist es weder den erbenden Söhnen noch dem Richter und also überhaupt keinem Menschen mehr möglich, die Ringe voneinander zu unterscheiden: in all diesen Fassungen der Parabel erscheinen uns die Religionen insofern als gleich berechtigt; an die Stelle der Rechtfertigung der je eigenen Religion als der 18 Lessing, Nathan 3. Aufzug, 7. Auftritt, III (Fn. 2), S. 92 ff. 19 Vgl. G. E. Lessing, Brief an K. Lessing vom 11.8.1778, in H. Kiesel (Hrsg.), Briefe von und an Lessing (1776-1781), 1994, S. 186. 20 Vgl. Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit (Fn. 3), S. 273 ff.
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einzig wahren, der die frühen Fassungen der Parabel dienten, ist im weiteren Verlauf ihrer insofern glücklich zu nennenden Rezeptionsgeschichte die These von dem gleichen Recht der drei in Frage stehenden Religionen getreten. Dennoch gibt es auch hier noch Unterschiede: Im Novellenbuch vermochten zwar nicht die Menschen, aber doch noch der Vater, also Gott, den richtigen Ring von den falschen zu unterscheiden; bei Boccaccio kann der Vater den Unterschied »kaum« noch wahrnehmen21, aber erst bei Lessing heißt der Vater den Künstler, »weder Kosten noch Mühe« zu »sparen«, um die Ringe »jenem gleich, vollkommen gleich zu machen. Das gelingt dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, kann selbst der Vater seinen Musterring nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft er seine Söhne«22. Das heißt: erst bei Lessing sind die Religionen nicht bloß für die Menschen, sondern auch vor Gott gleich. Die Toleranz den Anderen gegenüber ist nicht mehr bloß negativ in der menschlichen Unwissenheit über die wahre und die falsche Religion begründet, sondern darin, daß die Religionen vor Gott gleich sind, weil seine Liebe alle seine Söhne gleichermaßen umfaßt.
III. Dieses Motiv bestimmt auch die dritte Stufe der Argumentation: In Der Erziehung des Menschengeschlechts wird »die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts« vorgestellt: »Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte; sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter«. Ebenso »giebt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher«23. Dies wird zunächst an der Geschichte des israelitischen Volkes gezeigt: das Alte Testament erscheint als »Elementarbuch für Kinder«24, in dem sich Gott den Israelis zunächst als ein mächtiger Gott zeigt, der die Erziehung des auserwählten Volkes »durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen« vorantreibt25. In der babylonischen Gefangenschaft kommt dieses Volk dann in Berührung mit den weisen Persern, wodurch »seine Begriffe« von Gott »erweitert, veredelt, berichtiget werden sollten«26, 21 22 23 24 25 26
Vgl. Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit (Fn. 3), S. 298 ff. Lessing, Nathan 3. Aufzug, 7. Auftritt, III (Fn. 2), S. 91 f. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 3 f. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 26. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 16. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 34.
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so daß es in ihm nicht mehr bloß »den größten aller Nationalgötter« sah27, sondern die monotheistische Lehre von dem einem Gott herausbildete. Auch sind die Juden dort zum ersten Mal »mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bekannter geworden«28, aber erst Christus ist dann – und zwar vor allem durch seine Auferstehung – »der erste z u v e r l ä s s i g e , p r a k t i s c h e Lehrer der Unsterblichkeit der Seele«29 und das Neue Testament »das zweyte beßre Elementarbuch für das Menschengeschlecht«30. Damit wird die strenge Unterscheidung zwischen Vernunftwahrheit und Tatsachenwahrheit oder zwischen natürlicher Religion und Offenbarungsreligion, die die Argumentation der beiden ersten Stufen trug, im Gedanken der Erziehung aufgehoben. Die Offenbarungen erscheinen jetzt als notwendige Stadien der Entwicklung der menschlichen Vernunft: Gott kann »auch bloße Vernunftswahrheiten« »als unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten eine Zeit lang« lehren, »um sie geschwinder zu verbreiten, und sie fester zu gründen«31; er verhält sich damit wie der Rechenmeister, der dem Schüler das »Facit« einer Rechnung vorsagt, nicht damit der sich damit begnügt, sondern damit er dadurch schneller rechnen lernt32. Und dies gilt wieder nicht nur für die jüdisch-christliche, sondern für alle Offenbarungsreligionen: »Warum«, so fragt Lessing im Vorbericht des Herausgebers, »wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen?«33 Wenn man die positiven Religionen nicht mehr wie bisher aus ihrem Gegensatz zur natürlichen Religion, sondern sie als historische Stadien der Entwicklung des menschlichen Verstandes begreift, gelangt man zu einer neuen Stellung ihnen gegenüber: sie erscheinen nicht mehr bloß als die jeweils eine Seite der Gegensatzpaare Offenbarung und Vernunft, Schale und Kern, Buchstabe und Geist, sondern als historische Erscheinungsweisen des menschlichen Verstandes, in denen das historisch Bedingte durch seine Funktion für die Erziehung oder die Entwicklung des menschlichen Verstandes gerechtfertigt wird. Und das führt zu einer tiefer gegründeten Nachsicht oder Toleranz gegenüber dem 27 28 29 30 31 32 33
Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 39. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 42. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 58. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 64. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 70. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 76. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), Vorbericht des Herausgebers.
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historisch Bedingten dieser Durchgangsstadien. Das wird daran deutlich, wie unterschiedlich Lessing einerseits und Reimarus und Goeze andererseits im Fragmentenstreit mit dem Neuen Testament umgehen. Während Reimarus die Widersprüche zwischen den Evangelisten auflistet, um die Wahrheit der christlichen Religion anzuzweifeln, und Goeze diese Widersprüche leugnen muß, um sie zu verteidigen, kann Lessing die Widersprüche als das bei historischen Berichten Übliche anerkennen und in den Wunderberichten historisch bedingte Argumentationsstrategien erkennen, für die es nicht wichtig ist, ob wir sie heute noch überzeugend finden, sondern ob sie es damals waren; insofern kann Lessing – und das ist die positive Seite – selbst unglaubwürdig erscheinende Argumente als Schritte auf dem Wege zur Vernunft begreifen und würdigen. Allerdings hat dieser nachsichtige Blick auf die Kuriositäten des historischen Prozesses seinen Preis. Und der Preis besteht darin, daß man in die Gefahr gerät, den Erfolg als Ausweis der Wahrheit und die Geschichte als das Weltgericht zu nehmen. Und dieser Gefahr ist Lessing nicht immer entgangen. »Der grosse Proceß«, so schreibt er – in welcher Rolle auch immer – in den Gegensätzen, »der grosse Proceß, welcher von der glaubwürdigen Aussage dieser Zeugen abhing, ist gewonnen. Das Christenthum hat gesiegt. Es ist da. Und wir sollten geschehen lassen, daß man uns diesen gewonnenen Proceß nach den unvollständigen, unconcertirten Nachrichten von jenen, wie aus dem Erfolg zu schliessen, glaubwürdigen und einstimmigen Zeugnissen, nochmals nach zwey tausend Jahren revidiren wolle? Nimmermehr!«34 Gefährliche Worte. Denn man könnte heute noch eher als schon im 18. Jahrhundert auf die Idee kommen, daß dieser Schluß vom Erfolg auf die Wahrheit auch oder gerade für den Islam sprechen könnte35.
IV. Wichtiger als die so versuchte historische Apologie des Christentums aber sind die weiteren Folgerungen, die Lessing aus der Rekonstruktion der Geschichte als Entwicklungsprozeß des menschlichen Verstandes zieht. Denn der Prozeß dieser Entwicklung ist für ihn mit der Ausbildung des Christentums ja nicht etwa bereits abgeschlossen, sondern in die Zukunft hinein offen. Noch ist keiner im vollen Besitz der Wahrheit, sondern die Menschheit befindet sich mitten im Prozeß dieser Wahrheitssuche, und diese Suche nach der Wahrheit ist die eigentliche Aufgabe, vor der die Menschheit 34 Lessing, Gegensätze V, XII (Fn. 2), S. 448; vgl. auch Duplik II, XIII (Fn. 2), S. 30: Der Tempel der Diana steht auf Kohlen. 35 Vgl. Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit (Fn. 3), S. 172 ff.
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steht. Man erinnert sich an das bekannte Wort Lessings: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte: Vater, gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!«36 Wer – wie Goeze – meint, immer schon im Besitz der Wahrheit zu sein und aus dieser falschen Wahrheitsgewißheit verbindlich über die Positionen anderer urteilen zu können,37 verfällt in Lessings Augen nicht nur der Hybris der Selbstüberschätzung, sondern entzieht sich – schlimmer – der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit, in der die eigentliche Aufgabe der Aufklärung besteht. Denn Aufklärung wird von Lessing nicht als die Belehrung der Unaufgeklärten durch die Aufgeklärten, sondern – ganz im Sinne des später geschriebenen Aufklärungsaufsatzes von Kant38 – als die wechselseitige Aufklärung eines Publikums im Streit der Meinungen begriffen und – wie die Herausgeber eines Sammelbandes mit dem schönen Titel Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings zu Recht schreiben, »exemplarisch gelebt«, indem er durch den auch inszenierten Streit »eine kommunikative Gemeinsamkeit zu stiften« suchte, »in der Gewißheit, daß die Freiheit der Gedanken dazu beitragen kann, sich der ›Wahrheit‹ anzunähern«39. In diesem Sinne eröffnet Lessing in seinen berühmten »Rettungen« absichtsvoll den scheinbar längst abgeschlossenen Streit über verschiedene Häretiker jeweils neu und fordert die Revision scheinbar längst feststehender Urteile beispielsweise über den fälschlicherweise des Atheismus beschuldigten italienischen Philosophen Hieronymus Cardanus oder über den Pfarrer Johannes Cochläus, der es gewagt hatte, Luther zu widersprechen, oder über Adam Neuser, einen Unitarier, der schließlich zum Islam übertrat. Und er zettelt die Auseinandersetzung um diese längst gestorbenen »Ketzer« an, nicht, weil er ihre Meinungen teilte oder für richtig hielte, sondern weil »das Ding, was man Ketzer nennt«, »eine sehr gute Seite« hat: »Es ist ein Mensch, der mit seinen eigenen Augen w e n i g s t e n s « hat »sehen w o l l e n . Die Frage«, die dann noch zu prüfen bleibt, »ist nur, ob es gute Augen gewesen, mit welchen er selbst« hat »sehen
36 Lessing, Duplik I, XIII (Fn. 2), S. 24. 37 Vgl. Lessing, Anti-Goeze II, XIII (Fn. 2), S. 152: Lessing an Goeze: »Also sind Sie allwissend? Also sind Sie untrieglich? – Also kann schlechterdings in meiner Wiederlegung nichts stehen, was mich in einem unschuldigern Lichte zeigte?« 38 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784, A 484 ff. 39 W. Mauser/G. Saße (Hrsg.), Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Referate der Internationalen Lessing-Tagung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati, Ohio/USA, vom 22. bis 24. Mai 1991 in Freiburg im Breisgau, 1993, S. XII.
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wollen«40. Auf ähnliche Weise inszeniert Lessing mit der Veröffentlichung der Fragmente eines Ungenannten – nach eigenem Bekunden gegen den ausdrücklichen Willen des Verfassers, der seine Schrift um des lieben Friedens willen »im Verborgenen, zum Gebrauch verschwiegener Freunde, liegen« lassen wollte – absichtsvoll die öffentliche Auseinandersetzung um die – von ihm wieder zumeist nicht geteilten – Argumente des Reimarus, nicht ohne diesen Argumenten in den Gegensätzen sogleich Gegenargumente entgegenzusetzen, weil er der Meinung ist, daß so, im Austausch der Argumente, die Wahrheit in jedem Falle gewinnt41. Denn wenn es – so schreibt er 1769 – auch sein mag, »daß noch durch keinen Streit die Wahrheit ausgemacht worden: so hat dennoch die Wahrheit bey jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genähret, hat Vorurtheil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an die Stelle der Wahrheit festzusetzen«42. Wie verträgt sich diese absichtsvolle Inszenierung des Streits und die besonders im Falle Goezes ja häufig schneidende und verletzende Polemik Lessings43 mit der Forderung nach Toleranz? Heute kann man den Eindruck gewinnen, daß unter Toleranz häufig eine Haltung des Respekts gegenüber anderen Meinungen verstanden wird, die darauf abzielt, den Streit überhaupt dadurch zu verhindern, daß man die Meinungen und Argumente des jeweils Anderen als die Meinungen und Argumente eben eines Anderen kritiklos neben den eigenen Überzeugungen stehen zu lassen verpflichtet wäre. Und man kann den Eindruck haben, daß die Auseinandersetzung mit und die Kritik an fremden Positionen eben wegen der Gefahr des drohenden Streites selbst schon als Ausdruck der Intoleranz begriffen wird. Dieses Verständnis der Toleranz als eines kritik- und argumentlosen Stehenlassens der anderen Meinung bedeutet jedoch, daß in ihm die gemeinsame Suche und das gemeinsame Ringen um die Wahrheit, die für Lessing den Sinn und das Ziel des Streites ausmachen, gerade sein gelassen wird. Tolerant sein heißt auf dieser Ebene des gemeinsamen Streitens für Lessing gerade nicht, die Argumente des Anderen unkritisiert und unkommentiert einfach im Raum stehen zu lassen, sondern es bedeutet, die Argumente und den Widerspruch zwischen den verschiedenen Positionen ernst zu nehmen und sogar zuzuspitzen, um sich in der auch kämpferischen Auseinandersetzung der Wahrheit gemeinsam zu nähern. Die Rechtfertigung für die Toleranz auf dieser 40 41 42 43
Lessing, Berengarius I, XI (Fn. 2), S. 62. Vgl. Lessing, Anti-Goeze VII, XIII (Fn. 2), S. 184 f. Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet, XI (Fn. 2), S. 3. Vgl. W. Gaede, Die publizistische Technik in der Polemik Gotthold Ephraim Lessings (Diss.), 1955.
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Ebene wäre also, daß sie die Sphäre des Dialogs und der argumentativen Auseinandersetzung konstituiert, innerhalb derer das gemeinsame Bemühen um Wahrheit dann erst erfolgen kann. Und intolerant wäre dann in dieser Hinsicht gerade der, der die Argumente des Anderen nicht wahr- oder ernst oder aufnimmt oder die kritische Auseinandersetzung mit ihnen – sei es in blinder Selbstsicherheit oder in ebenso blinder Gleichgültigkeit – verweigert und sich insofern dem gemeinsamen Bemühen um die Wahrheit entzieht. Beide – sowohl die blinde Selbstsicherheit als auch die blinde Gleichgültigkeit – lassen sich aber wieder auf doppelte Weise lesen: sie erscheinen in einer Sicht als Haltungen der Abwehr des Anderen und Fremden, erweisen sich aber auf der anderen Seite als die innere Haltung des Sich-selbst-genug-Seins oder des Sich-nicht-berühren-lassen-Wollens, in der man sich weigert, sich selbst und die Anderen auf einer Ebene, hier die der argumentativen Auseinandersetzung, zu sehen und sich begegnen zu lassen.
V. Dies ist in meinen Augen nicht die letzte, aber doch die vorletzte Rechtfertigung der Toleranz, die sich bei Lessing findet. Die letzte Rechtfertigung findet man, wenn man sein Augenmerk auf das richtet, was allen bisher angesprochenen Schriften am Ende gemeinsam ist, indem man also den Punkt bestimmt, an dem die verschiedenen losen Enden der unterschiedlichen Ebenen der Argumentation zusammengebunden sind. Denn das höchste Ziel noch der Suche nach der Wahrheit ist für Lessing nicht – wie man meinen könnte – das endliche Erreichen der Wahrheit, sondern liegt – wie oben schon gesagt – in der Praxis der Suche selbst. Das wird an der Begründung deutlich, die Lessing dafür gibt, daß er nicht die rechte, sondern die linke Hand Gottes wählen würde: »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist oder zu seyn vermeynet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worinn allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet«44. Hier liegen die verschiedenen Momente der Antwort Lessings eng übereinander und verdienen es, einzeln benannt zu werden. Denn in dieser Begründung liegt erstens, daß der Wert des Menschen nicht im Besitz der Wahrheit liegt. Darin liegt zweitens, daß mit der Rede vom »Wert des Menschen« eine moralische Kategorie angesprochen ist, die sich auf seine Mühe oder sein Tun bezieht. Drittens 44 Lessing, Duplik I, XIII (Fn. 2), S. 23 f.
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liegt darin, daß dieses Tun deshalb wichtiger ist als der Besitz der Wahrheit, weil diese Praxis – ähnlich wie die aristotelische Praxis und im Gegensatz zur Poiesis – nicht um ihrer Ergebnisse willen, die sie hervorbringt, sondern um ihrer selbst und der Bedeutung willen vollzogen wird, die sie unmittelbar für den Handelnden selber, neuzeitlich und mit Rousseau gesprochen, für seine Perfektibilität oder – wie Lessing sagt – für seine »immer wachsende Vollkommenheit« hat. Eben dies ist auch die letzte Auskunft der Erziehung des Menschengeschlechts. Denn nachdem Lessing dort die unterschiedlichen positiven Religionen als Mittel der Erziehung des Menschengeschlechts charakterisiert hatte, bestimmt er abschließend als »Ziel« dieser Erziehung »die Reinigkeit des Herzens«, »die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht«45; die »höchsten Stufen der Aufklärung«46 bestehen nicht etwa im Besitz der Wahrheit, sondern diese »Zeit der Vollendung« ist dann erreicht, wenn der Mensch »das Gute thun wird, weil es das Gute« ist47. Daß es verschiedene Wege zu diesem Guten gibt – das hatte ja auch schon die Palastparabel gesagt. Und sie hatte auch gesagt, daß das Ziel nicht in einer wahren Theorie oder in dem Besitz des echten Grundrisses des Palastes, sondern in der Praxis, in diesem Falle der des Dem-Palast-zu-Hilfe-Eilens, bestünde. Wieder wird dieselbe Taktik der Argumentation angewandt. Die externen Differenzen zwischen den Religionen werden mit Hilfe der internen Differenzierung, jetzt der zwischen Theorie und Praxis, entdramatisiert; die Differenzen erscheinen bloß noch als Differenzen auf der vergleichsweise unwesentlichen oder dienenden oder doch bloß spekulativen Ebene der Theorie, der die eigentlich wesentliche Ebene der Praxis gegenübergestellt wird, auf der diese Differenzen nicht auftauchen oder unwesentlich sind. Das gilt auch und gerade für den Nathan. Denn im Nathan wird die theoretische Frage nach dem wahren oder echten Ring systematisch umgedeutet in die Aufforderung zum praktischen Wettstreit im Tun des Guten: »Es strebe von euch« – so sagt der Richter – »jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen!« Und »komme dieser Kraft mit Sanftmuth, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun, mit innigster Ergebenheit in Gott, zu Hülf«48, so daß es am Ende gar nicht mehr um die Frage des echten Rings und seiner Kraft, sondern um die Haltung der Sanftmut, der Verträglichkeit, des Wohltuns und der »Ergebenheit in Gott« geht, einer praktischen Haltung also, die – wie Recha sagt – »von unserm Wähnen über Gott so ganz und gar nicht abhängt«49. In die45 46 47 48 49
Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 80. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 81. Lessing, Erziehung, XIII (Fn. 2), § 85. Lessing, Nathan 3. Aufzug, 7. Auftritt, III (Fn. 2), S. 95. Lessing, Nathan 3. Aufzug, 1. Auftritt, III (Fn. 2), S. 76.
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sem Sinne könnte man vermuten, daß das Stück »Nathan der Weise« einen falschen Titel trägt: Nathan ist am Ende nicht so sehr der Weise, auch nicht so sehr der Kluge und auch nicht der Reiche, obwohl ihm alle diese Beinamen im Laufe des Stücks gegeben werden, sondern er ist in seiner Haltung gegenüber Recha, aber auch gegenüber dem jedenfalls zeitweise ja geradezu antisemitisch auftretenden Tempelherrn und ebenso gegenüber Saladin, vor allem der Gute. Und eben deshalb endet zwar nicht das Stück selbst, aber sein Entwurf zu Recht mit dem Ausruf Saladins: »Du sollst nicht mehr Nathan der Weise, Du sollst nicht mehr Nathan der Kluge – Du sollst Nathan der Gute heissen«50. Die Begründung, die auf dieser letzten Ebene der Argumentation für die Toleranz gegeben wird, umfaßt mehrere Aspekte. Sie besagt erstens, daß die Differenzen zwischen unterschiedlichen Lehren deshalb mit einer gewissen Gleichmut zu betrachten sind, weil es letzten Endes nicht um die Frage nach der wahren Theorie, sondern um die Frage nach der guten Praxis geht. »Der Mensch« – so schreibt Lessing schon 1750 in den Gedanken über die Herrnhuter – »ward zum Thun und nicht zum Vernünfteln erschaffen. Aber seine Bosheit unternimmt allezeit das, was er nicht soll, und seine Verwegenheit allezeit das, was er nicht kann«51, eben deswegen hängt er mehr dem Vernünfteln als dem Tun an, was ihn aufgrund seiner schon oben diskutierten begrenzten Erkenntnisfähigkeit und Kontingenzverhaftetheit in endlose Streitereien verwickelt. Bezieht man die Unterschiede aber nicht mehr bloß innerhalb der Sphäre der Theorie auf die Wahrheit, sondern auf die gute Praxis, dann erscheinen die unterschiedlichen Religionen wie in der Palastparabel als gleich mögliche Wege oder wie in der Erziehung des Menschengeschlechts als gleich berechtigte Prozesse der Erziehung, deren Unterschiede gleichgültig werden, weil sie in der guten Praxis ein ihnen allen gemeinsames Ziel haben. »Nicht die Uebereinstimmung in den Meinungen, sondern die Uebereinstimmung in tugendhaften Handlungen ist es, welche die Welt ruhig und glücklich macht«52. Und sofern »tugendhafte Handlungen« vor allem im richtigen Umgang mit dem Anderen und Fremden vollzogen werden, ist die Toleranz hier im Blick auf die Praxis nicht mehr bloß wie noch auf der vorherigen Ebene der gemeinsamen Wahrheitssuche ein Mittel, um das gemeinsame Ziel der Wahrheit zu erreichen, sondern in ihr realisiert sich diese gute Praxis selbst unmittelbar. Die Toleranz erscheint hier auf dieser letzten Stufe der Argumentation als Ausdruck der Liebe nicht mehr Gottes zu den Menschen, sondern der Liebe zwischen den Menschen, wie sie Lessing im Testament Johannis als Quintessenz der christlichen Reli50 Lessing, Entwurf des Nathan, III (Fn. 2), S. 490. 51 Lessing, Gedanken über die Herrnhuter, XIV (Fn. 2), S. 155. 52 Rezension aus: Berlinische Privilegirte Zeitung. Im Jahre 1751, IV (Fn. 2), S. 303 f.
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gion gefeiert hat. Denn was der alt gewordene Johannes seiner Gemeinde in dieser Erzählung zu sagen hat, »war immer einfältig und kurz; und wurde immer von Tag zu Tag einfältiger und kürzer, bis er sie endlich gar auf die«, von da an immer wiederholten, »Worte einzog«: »K i n d e r c h e n , l i e b t E u c h !« Und als die entnervte Gemeinde ihn nach ungezählten Wiederholungen dieser letzten Worte fragte: »Aber Meister, warum sagst du denn immer das nehmliche?«, antwortet Johannes: »Weil das allein, das allein, wenn es geschieht, genug, hinlänglich genug ist«53. Denn in der Liebe realisiert sich jenes Annehmen des Anderen als Anderen, das Lessing in dem Dialog Ernst und Falk als das eigentliche Anliegen der Freimaurer beschreibt: im politischen und bürgerlichen Leben stellt jede Vereinigung von Menschen, zu Christen oder zu Deutschen, immer zugleich eine Trennung von anderen Menschen dar, von Juden oder Franzosen usw.: »Die Menschen sind nur durch Trennung zu vereinigen! nur durch unaufhörliche Trennung in Vereinigung zu erhalten«. Aber man könnte sich wünschen, daß sich »die Weisesten und Besten eines jeden Staats«, »die über die Vorurtheile der Völkerschaft hinweg wären« und auch den »Vorurtheilen ihrer angebohrnen Religion nicht unterlägen«, sich vereinigten, nicht in der vergeblichen Hoffnung, die in Lessings Augen ja unvermeidlichen Trennungen ganz aufzuheben, aber doch in der Absicht, »sie nicht grösser einreissen zu lassen, als die Nothwendigkeit erfodert. In der Absicht, ihre Folgen so unschädlich zu machen, als möglich«; in der Absicht, »jene Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden, so eng als möglich wieder zusammen zu ziehen«. Das zu tun ist in den Augen Falks die Absicht der »Freymäurer«54, die also auf dieser Stufe der Argumentation noch einmal dem Lessing’schen Rezept folgen, die externen Differenzen oder »Trennungen« durch die interne Differenzierung zwischen den vermeidbaren und den unvermeidlichen Konsequenzen jeder Vereinigung zu entdramatisieren und einzuebnen.
53 Lessing, Testament Johannis, XIII (Fn. 2), S. 13 f. 54 Lessing, Ernst und Falk. Zweytes Gespräch, XIII (Fn. 2), S. 358 ff.
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Toleranz und Anerkennung bei Kant und im Deutschen Idealismus Für Richard Rorty Obwohl der Begriff der Toleranz in der Philosophie Kants, Fichtes, Schellings oder Hegels keine zentrale Rolle spielt, gelegentlich auch kritisch kommentiert wird, ist die Sache, um die es geht, auch bei diesen Autoren von großer Bedeutung.1 Wichtig ist, daß sie die höhere Form von Toleranz in der Anerkennung gesehen haben, gemäß Goethes Wort »Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein. Sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen«2. Seit Fichte sind der Begriff der Anerkennung und die Formen der Anerkennungsbeziehung auf verschiedenen Gebieten der Philosophie erörtert und weiterentwickelt worden.3 Vor allem im Anschluß an die Theorie der Anerkennung bei Hegel4 hat sich in der Gegenwart eine breite, auch systematisch bedeutsame Diskussion entwickelt, an der Autoren wie Jürgen Habermas, Axel Honneth, Charles Taylor oder jüngst Paul Ricoeur beteiligt sind.5 Das alles kann hier nicht ausführlich erörtert wer1 Vgl. zum Thema Toleranz in dieser Zeit insgesamt R. Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/M. 2003. Kritisch spricht etwa I. Kant vom »hochmütigen Namen der Toleranz« in: Was ist Aufklärung, Kants Werke, Akademie-Textausgabe (AA), Berlin 1968 ff., Bd. VIII, S. 40. 2 J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe Bd. 12 1981/1998, S. 385. 3 Zur Anerkennung bei Fichte vgl. u. a. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, Köln 1986 sowie die Beiträge in: H. Girndt (Hrsg.), Selbstbehauptung und Anerkennung. Spinoza – Kant – Fichte – Hegel, St. Augustin 1990 und M. Kahlo/E.A. Wolff/R. Zaczyk (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, Frankfurt/M. 1992. 4 Zur Anerkennung bei Hegel vgl. auch L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Freiburg/München 1979 und ders., Die Bewegung des Anerkennens in Hegels Phänomenologie des Geistes, in: D. Köhler/O. Pöggeler (Hrsg.), G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 2. Aufl., Berlin 2006, S. 107-127 sowie A. Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982. 5 J. Habermas, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ›Philosophie des Geistes’, in: ders., Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M. 1968, S. 9-47; A. Honneth, Der Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte,
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den. Ich beschränke mich stattdessen auf einige Beobachtungen zum Thema Toleranz und Anerkennung bei Kant und im Deutschen Idealismus. Am Anfang stehen allgemeine Überlegungen zu Begriff und Formen der Toleranz (I.). Schon sie legen nahe, daß Toleranz eine Stufe von Anerkennung darstellt. Dann soll das Verhältnis von Toleranz und Anerkennung bei Kant, Fichte und Hegel umrissen werden (II.). Im dritten Teil werden die Arten der Toleranz erläutert, die bei den drei Autoren hinsichtlich verschiedener sozialer Bereiche festzustellen sind, wie dem Geschlechterverhältnis, dem Verhältnis unter Rassen, Völkern und Religionen, aber auch hinsichtlich konkurrierender Ansprüche auf philosophische Wahrheit (III.). Das Resultat bleibt in den meisten Fällen hinter dem zurück, was man von einer »Durchführung« der Theorie der Anerkennung auf diesen Gebieten erwartet hätte. Das verlangt nach einer Erklärung für die aus heutiger Sicht sehr gemischte Bilanz der Autoren in Toleranzfragen (IV.). Aus den Gründen für diesen Befund ziehe ich im letzten Teil Konsequenzen für die gegenwärtige Diskussion (V.).
I. Begriff und Formen der Toleranz Wenn man sich zunächst am Sprach- und Begriffsgebrauch orientiert, ohne dabei genauer auf die Begriffsgeschichte einzugehen, kann man Toleranz verstehen als die Duldung oder Bejahung von Menschen, Individuen oder Gruppen, in einem Umkreis räumlicher oder sozialer Art, in dem der Duldende selbst einen primären Anspruch zu besitzen glaubt. Es kann natürlich verschiedene Arten und Umfänge dieses Umkreises geben, räumlich vom nahen bis zum weiten Territorium, sozial von der Kleingruppe über Großgruppen verschiedener Art (Betrieb, Beruf, Religionsgemeinschaft, Rechtsgemeinschaft, Gattung), wobei die Zumutung der Duldung von außen nach innen zunimmt. Und es kann verschiedene Arten der Duldung, vor allem aber der Bejahung geben, die auf einer Skala verschiedener Grade der Passivität (Hinnahme) und Aktivität (Aufnahme, Verleihung von Rechten, Einbezug in Aktivitäten) sowie von verstandesmäßiger und emotionaler Zustimmung liegen – von der menschenwürdigen Behandlung bis hin zur Feindesliebe. Ab welchem Grad der Bejahung und aktiven Zuwendung man noch von Toleranz sprechen sollte, ist eine diskussionswürdige Frage. Zum Radius des Tolerierten (1.) und zu den Aktivitäts- und Passivitätsgraden (2.) noch einige Bemerkungen. Frankfurt/M. 1992; P. Ricoeur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt/M. 2006; Ch. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, aus dem Amerikanischen v. R. Kaiser, Frankfurt/M. 1992; zusammenfassend dazu Chr. Halbig, Anerkennung, in: M. Düwell/Ch. Hübenthal/M. H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar 2006, S. 303-307.
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1. Am Anfang steht das Territorium. Selbst Tiere kann man auf diese Weise tolerieren: Spinnen im Haus oder sogar eine gewisse Anzahl von Ungeziefer, wie bei den duldsamen Landstreichern in John Steinbecks »Tortilla Flat«.6 Auch Menschen können sich so in einem Gebiet wechselseitig tolerieren, ohne sich als Menschen anzuerkennen – etwa Menschen verschiedener Rassen oder Ethnien, die sich gelegentlich höchstens als Halbmenschen bzw. »Barbaren« betrachtet haben. Daß selbst dies schon eine Leistung ist, die Normen entspricht, zeigen die Versuche der Auslöschung oder Vertreibung von angeblichen Rassen oder von Ethnien noch bis in die Gegenwart. Die nächst engere und dem heutigen Begriff von Toleranz schon näher kommende Bedeutung ist Toleranz als Hinnahme eines anderen als Mitglied derselben Gruppe, und sei es die weiteste der Menschheit überhaupt. Ein Tier darf man nach vielen Traditionen zu eigenen Zwecken benutzen und töten, wer einen Menschen als solchen toleriert und nicht wie ein Tier behandelt, akzeptiert eine wesentliche Gemeinsamkeit mit ihm – er betrachtet ihn als Mitglied der gleichen Gattung, dem eine entsprechende Behandlung zusteht. Dieses Zulassen kann sich dann auf immer engere Gruppen beziehen, bis zum Verein oder Freundeskreis, in dem man auch den einen oder anderen nur toleriert, obwohl man ihn sich nicht (mehr) aussuchen würde. Die wichtigsten »Großgruppen« sind wohl die Staaten und die Religionsgemeinschaften. Aber auch die Toleranz in Familien, Unternehmen, Berufsgruppen etc. kann von existentieller Bedeutung sein.
2. Auf der anderen der beiden genannten Skalen liegen die Passivitäts- und Aktivitätsgrade des Tolerierens bzw. der Toleranz. Da das lateinische Wort es primär mit Leiden und Erdulden zu tun hat, wird der Begriff insgesamt, wohl auch begriffsgeschichtlich, mehr mit Hinnahme als mit positiver Zuwendung verbunden, die wir als Anerkennung, Wertschätzung oder Freundschaft bezeichnen. Aber auch die Hinnahme setzt Unterlassungen, Verzichtleistungen und damit verbunden Grade der Wertschätzung voraus, die nicht gänzlich ohne geistige und emotionale Aktivität sind. Der Verzicht auf Gewaltsamkeit, Zwang, Unterwerfung verlangt sicher, vor allem in Zeiten weniger eingeschliffener und sanktionierter Regeln des 6 J. Steinbeck, Tortilla Flat, with an Introduction by Th. Fensch, New York etc., 1977, S. 6: »The bedbugs bothered him a little at first, but as they got used to the taste of him and he got accustomed to their bites, they got along peacefully.«
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»Leben-Lassens« als heute, durchaus Anstrengungen der Selbstbezähmung, des Verzichtes, der Zurückhaltung und Überwindung eigener vorwärts treibender Kräfte. Passives Erdulden erscheint als Resultat einer gegen sich selbst gerichteten Aktivität. Verzichtet werden muß auf Vorteile, Machtund Besitzzunahme und andere »tief sitzende« Interessen. Auch geistig kann einem einiges an Selbstüberwindung abverlangt werden, wenn man nach dem eigenen Überzeugungs- und Wertekanon »eigentlich« gute Gründe zum Zwang gegen den anderen hätte – zumindest in Form des Ausschlusses bzw. der Nichtzulassung. Als Aktivitätsgrade könnte man auch die Stufen der Zuerkennung von Mitgliedschaften, Ansprüchen und Rechten bezeichnen. Staatsbürgerrechte müssen, anders als das zwischenmenschliche Leben-Lassen, aktiv zugesprochen, verliehen, verbrieft und gesichert werden. Wenn man darüber hinaus noch das aktive und passive Wahlrecht oder die Zugehörigkeit zu Gemeinden, Clubs, »Zirkeln« etc. zugesteht, dann genügt es nicht, sich bloß bestimmter Widerstände zu enthalten. Zumindest einige Menschen müssen auch aktiv werden, die Anerkennung und die Aufnahme aussprechen und vollziehen, die anderen zum Mitmachen anhalten usw. Sowohl für diese Initiativen wie für die Bereitschaft, ihnen zu folgen, muß die Wertschätzung des Aufgenommenen steigen. Davon muß man sich überzeugen, man muß die gemeinsamen Eigenschaften und ihren Wert entdecken usw. So geht also das passive Tolerieren, wenn es jemals ganz passiv sein sollte, stufenweise in aktive Anerkennung, Wertschätzung, womöglich sogar Bewunderung über. Wenn wir heute erwarten, daß Rassen, Kulturen oder Religionen sich wechselseitig tolerieren, dann schwebt zumindest als Ideal vor, daß sie nicht nur auf Gewalt verzichten, sich nicht bekämpfen und den Wechsel ihrer Mitglieder ohne Sanktionen passieren lassen.7 Vielmehr erwarten wir auch, daß sie grundsätzliche Gemeinsamkeiten anerkennen und deren spezifische Ausformung in der anderen Kultur hochschätzen. Dabei muß es nicht eine maßstabslose Hinnahme für alles geben, einiges kann man weiter ablehnen oder darüber streiten. Jeder kann auf anderen Gebieten seine Stärken und Schwächen sehen. Diese Art von Anerkennung der Gleichwertigkeit einer Pluralität von kulturellen Formen ist – jedenfalls bisher – »der Gipfel« in der Entwicklung der positiv und aktiv gewordenen Toleranz.
7 Zu den philosophischen Problemen der Toleranz in der Gegenwart vgl. auch die Beiträge in: R. Forst (Hrsg.), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Frankfurt/M. 2000.
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II. Toleranz und Anerkennung im Deutschen Idealismus Auf dieser Skala hat der Deutsche Idealismus8 mit seinen Thesen über das Verhältnis zwischen Menschen bzw. Vernunftwesen im allgemeinen und Rechtsgenossen im besonderen sehr hohe Stellen besetzt.9 Er versteht generell Toleranz als eine Stufe von Anerkennung. Fichte und Hegel haben diesen Begriff ausdifferenziert und systematisch begründet. Anerkennung besagt grundsätzlich, daß Menschen zu einem entwickelten Selbstbewußtsein nur kommen können, wenn andere sie in ihrer Existenz und ihrer Selbstbestimmung bejahen und sich in der gleichen Hinsicht ihnen gegenüber zur Geltung bringen bzw. »abgrenzen«. Fichte hat in seiner Rechtsphilosophie zu zeigen versucht, daß Menschen ihrer selbst als Individuen nur bewußt werden können, wenn andere sie zu einer selbst gewählten Handlung auffordern und ihnen den dafür nötigen Handlungsspielraum freilassen. Dazu müssen diese ihre eigene Handlungssphäre zugunsten der Selbstbestimmung des ersteren beschränken. Die dauerhafte wechselseitige Selbstbeschränkung zugunsten des Selbstbewußtseins jedes anderen ist die Anerkennung als Rechtsverhältnis. Es ist nach Fichte das einzige angemessene, nämlich vernünftige Verhältnis unter Vernunftwesen. Dieses Verhältnis ist ein aktives Tolerieren bzw. Respektieren des anderen um der allen gemeinsamen Vernünftigkeit bzw. Freiheit (Möglichkeit selbstbestimmten Handelns) willen. Damit glaubt Fichte Kants These über das Recht als von der allgemeinen praktischen Vernunft geforderte Ordnung äußerer Handlungen »transzendental deduziert«, d.h. es analog zur kantischen Deduktionsmethode als notwendige Bedingung des – unbezweifelbaren – Selbstbewußtseins erwiesen zu haben. Hegel hat dieses Konzept der Anerkennung weiterentwickelt zu einem Lehrstück von verschiedenen Formen und Stufen, durch die das Selbstbewußtsein entstehen und zum vollen Freiheitsbewußtsein vollendet werden kann. Dabei entfaltet er nicht nur die Anerkennungsbeziehung in eine Fülle differenzierter Stufen. Er schließt in seine Analyse auch das Verlangen nach Anerkennung und die aktiven Versuche, sie zu erhalten, zu sichern oder sogar zu erzwingen mit ein. So erhält er eine Stufenfolge der »Bewegung des 8 Zum Begriff des Deutschen Idealismus vgl. W. Jaeschke, Zum Begriff des Idealismus, in: Chr. Halbig/M. Quante/ L. Siep (Hrsg.), Hegels Erbe, Frankfurt/M. 2004, S. 164-183 sowie L. Siep, Einleitung, in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1992, S. 7-16. 9 Obwohl Kant keinen Begriff der Anerkennung oder gar eine Konzeption der unterschiedlichen Stufen entwickelt hat, hat er ebenfalls das Recht und die moralischen Pflichten gegenüber »fremder Glückseligkeit« als über das bloße Dulden hinausgehende – vgl. o. Fn. 1 das Zitat aus der Aufklärungsschrift – Formen des Respekts, der positiven Zuwendung und Förderung des Anderen verstanden.
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Anerkennens«. Sie führt vom Begehren nach Begehrtwerden über die affektiv-kognitive Affirmation in der Liebe und den Versuch der Bestätigung des eigenen Selbstbildes unter Einsatz des Lebens – Hegels »Kampf um Anerkennung« – zunächst zur Herrschaft als erzwungener Anerkennung. Die Erfahrung der Nichterzwingbarkeit von freier Anerkennung resultiert dann in der rechtlichen Beziehung von Personen. Diese Formen der »Ich-Du«Anerkennung werden weiterentwickelt und ergänzt durch solche der wechselseitigen Anerkennung von »Ich« und »Wir« in einer Gemeinschaft universalistischer Rechte und besonderer Traditionen und Wertvorstellungen.10 In diesem Verhältnis werden für Hegel nicht nur vernünftige Individuen ihrer selbst bewußt, sondern auch die in Rechten, Sitten und Institutionen verkörperte (»objektive«) Vernunft, die dadurch »Geist« wird. Keine dieser Stufen wird von Fichte oder Hegel ausdrücklich »Toleranz« genannt. Aber was im Gedanken der Toleranz als Geltenlassen des Anderen enthalten ist, muß sich für beide entwickeln zu höheren Stufen der Anerkennung. Und nirgends ist davon die Rede, daß die Ansprüche auf Anerkennung nicht allen vernünftigen Wesen zuständen. Im Kontrast zu dieser sehr anspruchsvollen, gehaltvollen und »positiven« Konzeption der Anerkennung als Ziel der Toleranz stehen aber die Äußerungen über die Beziehung von Gruppen in besonderen rechtlichen, sozialen und »ideologischen« Feldern. Ich will im nächsten Abschnitt kurz auf die folgenden eingehen: Rechtliche und sittliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern (1.), rechtliche Beziehung zwischen Völkern und Rassen (2.), »ideologische« oder »Wahrheitsbeziehungen« zwischen Religionen (3.), rechtliche Beziehung zwischen Mitbürgern verschiedener Religionsgemeinschaften (4.) und schließlich das Verhältnis der Wahrheits- und Rechtsansprüche zwischen Philosophien (5.). Verglichen mit der anspruchsvollen Theorie positiver Anerkennungsformen zwischen Menschen als selbstbewußten Vernunftwesen im allgemeinen fällt die Bilanz der Anerkennungs- bzw. Toleranzbeziehungen auf diesen Feldern gemischt aus.
10 Vgl. A. Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, Frankfurt/M. 1975; R. B. Brandom, Selbstbewußtsein und Selbstkonstitution, in: Chr. Halbig/M. Quante/L. Siep (Hrsg.), Hegels Erbe (Fn. 8), S. 46-77 sowie zur Kritik an der »asymmetrischen« Anerkennung zwischen den Rechten des Einzelnen und des Staates bei Hegel meine eigenen o. Fn. 4 genannten Arbeiten.
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III. Arten und Gebiete der Toleranz bei Kant und im Deutschen Idealismus. Im Folgenden soll die Stellung der Autoren zur Toleranz zwischen Individuen und Gruppen in verschiedenen sozialen Beziehungen erörtert werden. Dabei geht es um die Frage, welche Grade der positiven Toleranz entwickelt werden, und ob sie dem generellen Verständnis der Anerkennung als der vernünftigen Beziehung zwischen Vernunftwesen bzw., in Hegels Begrifflichkeit, Geistwesen entsprechen.
1. Zunächst zur positiven Toleranz zwischen den Geschlechtern. Bekanntlich halten Kant und die Philosophen des Deutschen Idealismus an einer rechtlichen und sozialen Unterscheidung zwischen den Geschlechtern fest, die auf teils anthropologische, teils metaphysische Annahmen über die Bedeutung der Geschlechterdifferenz zurückgeht. Das führt bei Kant, Fichte und abgeschwächt auch noch bei Hegel zu einer sozialen, familien- und staatsrechtlichen Unterordnung der Frau unter den Mann. Bei Kant können Frauen bekanntlich nicht aktive Staatsbürger, sondern nur passive Schutzbürger sein.11 Bei Fichte liegt im Begriff der Ehe, »daß die Frau, die ihre Persönlichkeit hingibt, dem Manne zugleich das Eigentum aller ihrer Güter und ihrer ihr im Staat ausschließend zukommender Rechte übergebe«. Daraus folgert er: »Alle öffentlichen juridischen Handlungen aber besorgt der Mann.«12 Auch für Hegel ist die Frau ihrer sittlichen Bestimmung nach auf die Familie beschränkt. Die öffentliche Existenz in bürgerlicher Gesellschaft, Staat und Wissenschaft bleibt dem Mann vorbehalten.13 Zwar schließt Hegel nirgends explizit aus, daß eine Frau sich »männliche« Rechte in 11 Vgl. I. Kant, Über den Gemeinspruch »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, AA VIII (Fn. 1), S. 295. 12 J. G. Fichte, Erster Anhang des Naturrechts (1797), § 17, in: J. G. Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von R. Lauth und H. Gliwitzky, Bd. I, 4 (1797-1798), Stuttgart/Bad Canstatt 1970, S. 114; in der Zählung der »Sämtlichen Werke« (SW), hrsg. von I. H. Fichte, Berlin 1845, Bd. III, S. 326, 327. 13 Zur Rolle der Frau, die ihre »Sittlichkeit in der Familie« hat, vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 166, in: Werke in zwanzig Bänden – Theorie-Werkausgabe (TW), auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, E. Moldenhauer und K. M. Michel (Red.), Frankfurt/M. 1970, Bd. 7. Zu Hegels Philosophie des Geschlechterverhältnisses in der Rechtsphilosophie vgl. jetzt S. Brauer, Das SubstanzAkzidenz-Modell in Hegels Konzeption der Familie, in: Hegel-Studien, Bd. 39/40, Hamburg 2005, S. 41-59 und L. de Vos, Institution Familie. Die Ermöglichung einer nichtindividualistischen Freiheit, in: Hegel-Studien, Bd. 41, Hamburg 2006, S. 91-112.
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Gesellschaft, Wissenschaft und Staat aneignen könnte – nicht einmal die Berufs- und Standeswahl entzieht er ausdrücklich der Freiheit aller als Rechtspersonen. Trotzdem bleibt klar, daß eine solche Frau ihre eigentliche Bestimmung verfehlt und daher vermutlich zumindest der gesellschaftlichen Anerkennung verlustig geht bzw. gehen sollte.14
2. Was die rechtliche Beziehung zwischen den Rassen und den Völkern angeht, so gestehen die hier betrachteten Philosophen zwar deren Mitgliedern gleiche individuelle Menschenrechte zu. Gleichzeitig gehen sie aber von einer anthropologischen – oder bei Fichte auch sprachphilosophisch begründeten15 – Wesensverschiedenheit der Rassen und Völker aus, die ihre Rolle in der Völkergemeinschaft und teilweise auch ihre völkerrechtliche Position beeinflußt und sie beeinträchtigen kann. Für Kant sind auch die Unterschiede zwischen den »Charakteren« der europäischen Völker im Grunde Wesensunterschiede, die sich erst durch biologische und kulturelle Mischung abgeschliffen haben.16 Innerhalb der Menschenrassen gibt es dann bei Kant auch deutliche Unterschiede der geistigen und emotionalen Vermögen.17 Andererseits schiebt er den Kolonisierungsansprüchen der Europäer allerdings deutliche rechtliche Riegel vor: Niederlassungen und Landnahmen bedürfen der Verträge mit den Ureinwohnern.18 14 Am eindeutigsten in einer freilich nur im Zusatz zu § 166 überlieferten Stelle: »Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, so ist der Staat in Gefahr, denn sie handeln nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sondern nach zufälliger Neigung und Meinung.« Hegel, Grundlinien, TW 7 (Fn. 13), S. 319. 15 Etwa in den »Reden an die deutsche Nation« (vor allem der vierten Rede), Fichte, Gesamtausgabe (Fn. 12), Bd. I, 10 (1808-1812), S. 143-156, vor allem 155f.; SW (Fn.12) VII, S. 311327, vor allem 325 ff. 16 In der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« spricht Kant vom »angeborenen Charakter« der Franzosen und Engländer, der »unveränderlich« ist, »so lange sie nicht durch Kriegsgewalt vermischt werden«, AA VII (Fn. 1), S. 312, eine Vermischung, die Kant negativ beurteilt, S. 320. 17 In der, freilich von F. Rink bearbeiteten, »Physischen Geographie« Kants heißt es sogar: »In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperirten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer [Inder], haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften«, AA IX (Fn. 1), S. 316. Kritisch zu den Rasse-Vorstellungen Kants, Fichtes und Hegels: G. Hentges, Schattenseiten der Aufklärung: Die Darstellung von Juden und »Wilden« in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, Schwalbach/Ts. 1999. 18 Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, Teil I, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 62, in: AA VI (Fn. 1), S. 353.
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Davon ist bei Hegels Theorie des Überschwappens der überbevölkerten und krisenanfälligen bürgerlichen Gesellschaften Europas in die Kolonien keine Rede mehr.19 Unentrinnbar beschränkt auf eine weltgeschichtlich marginale Rolle bleiben für ihn auch die Bewohner ganzer Kontinente wie Afrika oder auch Asien, das zwar die Wiege der Kultur- und Geistesgeschichte war, weltgeschichtlich aber der Vergangenheit angehört.20 Fortschrittlichen europäischen Einflüssen stehen religiös-kulturelle und klimatisch-geographische Bedingungen entgegen – man denke an seine Bemerkungen zu Ägyptern und Indern in der Rechtsphilosophie.21 Da das Völkerrecht keinen Richter kennt, bleibt der Herrschaftsanspruch bestimmter Völker durch die Überlegenheit ihrer Kultur, vor allem ihrer rechtlich-politischen Verfassung gerechtfertigt. Insofern hätte Hegel wenig gegen erfolgreiche imperialistische Kriege einwenden können, wenngleich die Eroberten das Recht auf Menschenrechte und bürgerliche Gleichheit hätten behalten müssen.22
3. Damit verbunden ist natürlich auch ein bestimmtes Verhältnis der Religionen. Von Kant über Fichte bis Hegel gibt es eine Reihe von systematischen und geschichtsphilosophischen Beweisen der alleinigen Wahrheit und moralischen Vollkommenheit des Christentums – nicht in allen Konfessionen, aber in der protestantisch-aufgeklärten Form der westeuropäischen Neuzeit.23 Da Kant die Religion an ihre Bedeutung für eine autonome Moral 19 Vgl. Hegel, Grundlinien, TW 7 (Fn. 13), § 248. 20 In den Zusätzen zu den §§ 393 und 394 der Enzyklopädie von 1830, die L. Boumann in der Werkausgabe von 1845 veröffentlicht hat, findet sich eine sehr ausführliche und unter heutigen Aspekten »finstere« Lehre der Rassen, Hegel, Enzyklopädie 1830, TW 10 (Fn. 13), S. 63 ff. Darauf stützt G. Hentges, Aufklärung (Fn. 17), S. 249, ihre scharfe Kritik an Hegels »Rassenkonstruktion«. Daß bestimmte Rassen in der Geschichte der Menschheit keine progressive Rolle spielen oder spielen werden, heiße aber nicht schlicht, daß Hegel ihnen keine »Existenzberechtigung« zuschreibe, S. 254. Allerdings stellen sie eine geschichtsphilosophische Erklärung und damit eine gewisse Rechtfertigung historischer Ausrottungen (etwa der Indianer) dar. 21 Weil sie sich »die Schiffahrt untersagt« haben, sind die »Ägypter, die Inder, in sich verdumpft und in den fürchterlichsten und schmählichsten Aberglauben versunken«, Hegel, Grundlinien, TW 7 (Fn. 13), § 247. 22 Zum Krieg bei Hegel vgl. jetzt L. Siep u. A. Karakus, Krieg und Völkerrecht bei Kant und Hegel, in: B. Prien/O. R. Scholz/Ch. Suhm (Hrsg.), Das Spektrum der kritischen Philosophie Immanuel Kants, Berlin 2006, S. 143-158. 23 »Wahrheit« im Verhältnis zu den anderen Religionen, die Philosophie stellt aber die höhere Wahrheit dar. Bei Kant wird die Religion an der reinen Vernunftmoral gemessen und nur so Jesus als »heilig« erkannt. Fichte geriet wegen seiner Deutung des Gottesbegriffs in den Atheismusstreit. Bei Hegel wird die christliche Religion in die Philosophie »aufgehoben« – was dabei an wesentlichen Gehalten des Christentums erhalten bleibt, ist seit den Schülern Hegels umstritten.
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bindet, gibt es außer dem protestantischen Christentum keine Religion im eigentlichen Sinne.24 Das ist in Hegels Universalgeschichte der Religionen anders. Mit geschichtsphilosophischer und in seinem Sinne logisch-teleologischer Begründung zeigt er zwar ebenfalls, daß die Religionsgeschichte im Christentum als der allein wahren, oder vom absoluten Geist »geoffenbarten« Religion endet.25 Die Vorläufer des Christentums enthalten aber schon Teilaspekte der Wahrheit und es muß ihnen die Bedeutung einer notwendigen Vorbereitung der »offenbaren« religiösen Wahrheit eingeräumt werden. Das gilt aber nicht für nach-christliche Entwicklungen. Der Islam etwa wird von Hegel zwar als eine Weiterentwicklung der jüdischen »Religion der Erhabenheit« dargestellt, fällt aber hinter das differenziertere Gottesbild des Christentums zurück.26 In seiner Geschichtsphilosophie stellt der Islam immerhin innerhalb des Mittelalters ein gegenüber dem abendländischen Partikularismus notwendiges Gegenprinzip der »einfachen Einheit« dar. Vor allem die spanische Form (Al-Andalus) wird in ihrer kulturellen Höhe gepriesen. Aber auch Hegels geschichtsphilosophische Darstellung ist teilweise von anti-orientalischen Vorurteilen geprägt wie sie trotz der »Orientfaszination« seiner Zeit gang und gäbe waren und geblieben sind – bis hin zur Gleichsetzung des Islam mit Fanatismus und Terror.27 Wie Kant und Hegel ist auch Fichte davon überzeugt, daß zu den erreichten wahren Begriffen von Recht und Staat, Moral, Religion und Phi24 Kant erwähnt in seiner »historischen Vorstellung« der Entwicklung einer vernünftigen Religion (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 3. Stück, 2. Abteilung) nur das Judentum, das »eigentlich gar keine Religion« sei, AA VI (Fn. 1), S. 125, 126, und das Christentum, dessen Entwicklung in der römischen und byzantinischen Form er aber ebenfalls einer vernichtenden Kritik unterzieht, S. 130 ff. Erst in der »jetzigen« Zeit, d. h. seit der Reformation, ist die Intention des Gründers wieder belebt und der »Keim des wahren Religionsglaubens« gelegt worden, S. 131. Vgl. dazu auch R. Forst, Toleranz (Fn. 1), S. 428 ff. 25 Zu Hegels Religionsphilosophie vgl. W. Jaeschke, Vernunft in der Religion, Stuttgart/Bad Canstatt 1986. 26 Am positivsten sind die Zusätze zu § 394 der Enzyklopädie von 1830: »Der Mohammedanismus ist daher im eigentlichsten Sinne des Wortes die Religion der Erhabenheit. Mit dieser Religion steht der Charakter der Vorderasiaten, besonders der Araber, in völligem Einklang. Dies Volk ist in seinem Aufschwunge zu dem einen Gotte, gegen alles Endliche, gegen alles Elend gleichgültig; noch jetzt verdient seine Tapferkeit und seine Mildtätigkeit unsere Anerkennung.« Hegel, Enzyklopädie 1830, TW 10 (Fn. 13), S. 62. In der Religionsphilosophie spielt aber der Islam fast gar keine Rolle und in den Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie wird er zwar als universale Religion dem Partikularismus des jüdischen Gottesvolkes übergeordnet. Aber aus dem Begriff Gottes als Subjekt falle »alle konkrete Bestimmung fort und sie ist weder für sich geistig frei noch ist ihr Gegenstand selber konkret«, Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, TW 12 (Fn. 13), S. 429. 27 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, TW 12 (Fn. 13), S. 431.
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losophie nur der Protestantismus in der Deutung der jeweils eigenen Philosophie paßt.28 Immerhin bleibt diese Begründung der Wahrheit des Christentums für Kant ohne völkerrechtlichen Einfluß, während für Hegel der christliche Staat zumindest im Weltgericht der Geschichte ein Siegerrecht der vernünftigeren Kultur beanspruchen kann.29
4. Sozusagen »heruntergebrochen« auf die Grundrechte der einzelnen Gläubigen sieht die Sache etwas weniger euro- und christozentrisch aus. Bei Kant können die Menschen- und Bürgerrechte nicht an Religionszugehörigkeit gebunden werden. Auch das passive Wahlrecht wird man Katholiken, anders als bei Locke, in Kants Staatsrecht wohl nicht absprechen können. Wie aber der Bekenner eines Glaubens, der nach Kants Religionsphilosophie einer Art magischem Götzen- und Priesterdienst (»Afterdienst«) gleichkommt, Anspruch auf Staatsämter praktisch soll zur Geltung bringen können, erscheint mir fraglich. Zumindest beim frühen Fichte sind außer den Katholiken auch die Juden zweifelhafte Mitbürger.30 Hegel konstatiert in der Rechtsphilosophie zwar mit Verve, daß alle diese Religionsangehörigen »zuallererst Menschen« seien und daher Anspruch auf bürgerliche Rechte haben.31 Aber wie den Quäkern und Wiedertäufern scheint er auch den Juden zwar die bürgerlichen Rechte und die »passive« Mitgliedschaft im Staate zuzusprechen, aber nicht das Recht »aktive« Mitglieder des Staates zu sein, also Staatsämter auszufüllen. Denn da sie »sich nicht bloß als eine besondere Religionspartei, sondern als einem fremden Volke angehörig ansehen sollten«32, ist die Gewährung der passiven Staats28 Vor allem in der Spätphilosophie; vgl. Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 4., 7. und 11. Vorlesung, Gesamtausgabe (Fn. 12), Bd. I, 8 (1801-1806), vor allem S. 326, SW VII (Fn. 12), S. 167. Zur späten Kultur- und Geschichtsphilosophie vgl. jetzt die erschöpfende Darstellung bei F. Piccardi, La filosofia della storia di Fichte (Tesi di perfezionamento, Scuola Normale Superiore), Pisa 2006. 29 Hegel, Grundlinien, TW 7 (Fn. 13), §§ 358-360. 30 Nach der ausführlichen – allerdings auch etwas Fichte-apologetischen – Untersuchung von Hans-Joachim Becker ist die anti-jüdische Position Fichtes auf die Revolutionsschriften und auf die Anti-Nicolai-Schrift von 1800 beschränkt (Fichte, Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen, Gesamtausgabe (Fn. 12) Bd. I, 7, S. 327 ff.), vgl. H.-J. Becker, Fichtes Idee der Nation und das Judentum, Amsterdam/Atlanta 2000. Die Annäherung Fichtes an die jüdische Aufklärung in Berlin und die bedeutende jüdische Fichte-Rezeption ist sicher kaum zu bestreiten. Andererseits werden die christlichen Züge in der Spätphilosophie deutlicher. Anders als Becker beurteilt die Stellung des späten Fichte zum Judentum G. Hentges, Aufklärung (Fn. 17), S. 119 ff. 31 Hegel, Grundlinien, TW 7 (Fn. 13), § 270 Anm. 32 Hegel, Grundlinien, TW 7 (Fn. 13), § 270, S. 421.
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angehörigkeit bereits ein Akt großzügiger Toleranz des Staates.33 Auch die Behandlung der christlichen Sekten zeigt das begrenzte Verständnis von staatsbürgerlicher Toleranz bei Hegel: »Gegen solche Sekten ist es im eigentlichen Sinne der Fall, daß der Staat Toleranz ausübt; denn da sie die Pflichten gegen ihn nicht anerkennen, können sie auf das Recht, Mitglieder desselben zu sein, nicht Anspruch machen.«34 Das Ausmaß der Toleranz hängt zudem von äußeren Umständen ab: Die Wehrdienstverweigerung der Quäker kann der Staat so lange tolerieren, wie seine militärische Stärke das zuläßt – aber auch nur so lange. Die Toleranz gegenüber Juden und christlichen Sekten ist also von einer Anerkennung ihres positiven Beitrages zur staatlichen »Sittlichkeit« ebenfalls weit entfernt.
5. Die Wurzel für diese »Alleinvertretungsansprüche« einer Religion und der diesen Anspruch rechtfertigenden, die Form der Religion zugleich aber auch transzendierenden – bei Hegel »aufhebenden« – Philosophie liegt natürlich in den hohen Wahrheits-, Erkenntnis- und Begründungsansprüchen der jeweiligen Philosophen. Zwar hat Kant auf metaphysische Fundamente des Erkenntnisanspruches weitgehend verzichtet. Aber der kritische Weg steht nicht nur in der theoretischen Philosophie »allein noch offen«. Auch in der praktischen Philosophie sind Postulate und Ideen zwar nicht empirisch verifizierbar oder logisch stringent beweisbar. Aber Kant macht immer wieder klar, daß er eine konsistente rationale Alternative zu seiner Moral-, Rechts-, Staats- und Religionsphilosophie ausschließt. Eine Pluralität philosophischer Positionen, die einander nicht als widersprüchlich betrachten, kann er ebenso wenig anerkennen wie der Philosoph der absoluten Gewissheit, Fichte, oder der des logisch in einer Kette von Schlüssen sich vollendenden Systems, Hegel. Daß ein solcher Wahrheitsanspruch auch gesellschaftliche, sogar rechtliche und staatliche Ansprüche begründet, haben Fichte – etwa mit der These der Spätphilosophie, nur die Synthese von Transzendentalphilosophie und christlichem Glauben sei mit einem Vernunftrechtsstaat vereinbar35 – und Hegel mehr oder minder offen gefolgert. Der letztere etwa in seiner Behauptung, nur die spekulative Philosophie sei mit der Rechtsvernunft der konsti33 Praktisch hat sich Hegel allerdings im Zusammenhang mit der Berufung seines Schülers Eduard Gans an die Berliner Universität anders verhalten, vgl. T. Pinkard, Hegel. A Biography, Cambridge 2000, S. 530-541. 34 Hegel, Grundlinien, TW 7 (Fn. 13), § 270, S. 421. 35 Etwa in »Den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters«, 1804, Fichte, SW VII (Fn. 12), und »Der Staatslehre« von 1813, SW IV (Fn. 12), vor allem S. 521 ff.
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tutionellen Erbmonarchie vereinbar (und nicht »crimen laesae majestatis«)36 und in seinem generellen Zweifel an der berechtigten »Toleranz« gegenüber anderen, eben falschen und staatsgefährdenden Philosophien.37 Trotz ihrer Einsicht in die Rechte aller Menschen auf Anerkennung und das überaus positive, d.h. aktive Zuwendung verlangende Verständnis von Anerkennungsformen, in denen sich die Toleranz erfüllt, gibt es also erhebliche Rechtsbeschränkungen und Hindernisse umfassender und gleicher Anerkennung aller Menschen oder auch nur aller Bürger bei Kant und im Deutschen Idealismus. Zwischen dem, was die Theorie der Anerkennung eigentlich verlangt, und dem, was Frauen, Angehörigen bestimmter Völker und Religionen, aber auch den Vertretern anderer philosophischer Positionen zugestanden wird, besteht offenbar ein Mißverhältnis.
IV. Gründe für die Defizite Wie kommt es zu dieser Diskrepanz zwischen einer so beschränkten Toleranz in den behandelten Feldern und der sehr positiven, gehaltvollen und aktiven Deutung von Anerkennung als, wie etwa Fichte sagt, einzig möglicher vernünftiger Beziehung zwischen Vernunftwesen? Es genügt nicht, dafür allein auf die Befangenheit dieser Denker in Zeitströmungen hinzuweisen. Zwar ist nach Hegel jede Philosophie »ihre Zeit in Gedanken gefaßt«, aber alle hier behandelten Philosophen haben neue Entwicklungen ausgelöst und waren in vielem ihrer Zeit voraus – auch in der Anerkennungslehre. Es ist nicht anzunehmen, daß sich die Philosophen der absoluten Reflexion der Diskrepanz dieser Lehre und ihrer konkreten Anwendung überhaupt nicht bewußt gewesen sind. Offenbar haben sie die grundlegende Gleichheit aller Menschen für vereinbar gehalten mit einer Hierarchie von Geschlechtern, Völkern und Religionen – zumindest im Prozeß des historischen Fortschritts. Diese Hierarchie gerät aber, wie zu sehen war, immer wieder in eine Spannung auch mit der Gleichheit der Menschenrechte. 36 Vgl. Hegel, Grundlinien TW 7 (Fn. 13), § 281 (zur Erbmonarchie): »Deswegen darf auch nur die Philosophie diese Majestät denkend betrachten, denn jede andere Weise der Untersuchung als die spekulative der unendlichen, in sich selbst begründeten Idee hebt an und für sich die Natur der Majestät auf« – die spekulative Philosophie ist natürlich die Hegels und seiner Schule. 37 Vor allem in der Vorrede der »Rechtsphilosophie«, Hegel, Grundlinien TW 7 (Fn. 13), S. 23: wenn dort davon die Rede ist, die »Toleranz« gegen die Philosophie sei in Zweifel zu ziehen, dann ist damit natürlich die der Gegner Fries, Schleiermacher etc. gemeint. Vgl. dazu L. Siep, Vernunftrecht und Rechtsgeschichte. Kontext und Konzept der Grundlinien mit Blick auf die Vorrede, in: ders. (Hrsg.), G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 2. Aufl., Berlin 2005, S. 5-29, vor allem S. 23 ff.
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Man kann diese Spannungen als Inkonsequenzen kritisieren. Wichtiger für die philosophische Beurteilung sind aber zwei andere Grundzüge dieser Systeme: Subjektivität und wissenschaftliches System. Der Begriff der Subjektivität und des Selbstbewußtseins soll sicher das Charakteristische aller Menschen bezeichnen und ihn außerdem mit höheren »Subjektivitäten«, einschließlich der göttlichen, verbinden. Über die Erkennbarkeit der göttlichen Subjektivität differieren die Autoren allerdings grundsätzlich. Wichtiger ist hier, daß in die Vorstellung des Selbstbewußtseins eine »evaluative Teleologie« eingeht, die eine Hierarchie – zumindest eine Entwicklungshierarchie – auch der »faktischen« Menschen zur Folge hat.38 Die zweckmäßige Anlage und die innere »Bestimmung« sollen zu einer völligen Selbstdurchsichtigkeit und Autonomie führen – bei Kant und Fichte freilich unabschließbare Prozesse. Der Teleologie des Subjekts entspricht zudem eine zweckmäßige Entwicklung der Natur und der Geschichte, wie ja auch Kant sie trotz ihrer theoretischen Unbeweisbarkeit für die praktische Philosophie und für die Einheit der Wissenschaften voraussetzt. Von dieser natürlichen und geistigen Höherentwicklung aus gesehen gelangen schon die Geschlechter, vor allem aber die Völker und Rassen, nicht gleichmäßig zur höchsten Stufe der Subjektivität. Man muß sie daher irgendwo »einstufen«. Einzelne mögen sich über ihre Stufe erheben, aber das Gros ist daran offenbar doch konstitutionell gehindert. Die zweite Grundvoraussetzung ist die der Philosophie als wissenschaftliches System, das einen geschlossenen Beweisgang darstellt und alternativlos ist. Dieses Systemdenken entwickelt sich im Wesentlichen nach Kant, aber auch Kant ist sich der Alternativlosigkeit der kritischen Philosophie gewiß. Es ist eine Weiterentwicklung des neuzeitlichen more geometricoIdeals, allerdings in einer der Komplexität und Mannigfaltigkeit der Formen des menschlichen Wissens und Handelns in viel höherem Maße Rechnung tragenden Weise. Wenn dieses Systemideal mit einer von Kant über Fichte bis Hegel zunehmend epistemisch-anspruchsvolleren Form der Geschichtsphilosophie verbunden wird, dann wird auch die historische Einordnung der Völker, Religionen und Philosophien anscheinend »zwingend«. Daß sich die Neutralität legaler Beziehungen einerseits und der Begriff der Wahrheit und Vernunft in ihrer Einheit, Unteilbarkeit und Unveränderlichkeit andererseits nicht ausschließen, ist ein auch heute noch vertretener Anspruch. Die Gewaltlosigkeit und die Herrschaft vernünftiger Gesetze über gleiche und autonome Wesen ist ein Wert, der Rechtsansprüche auch für Menschen garantiert, die sich im Irrtum über Welterklärung, Religion und Moral befinden. Das gehört zu den Grundüberzeugungen, die sich von der 38 Vgl. dazu L. Siep, Subjektivität und konkrete Ethik, in: D. H. Heidemann (Hrsg.), Probleme der Subjektivität in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2002, S. 165-183.
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Aufklärung bis heute zunehmend durchgesetzt haben. Allerdings ist auch die Frage, ob sich solche Toleranz am Ende nicht selbst zerstört, schon dem Deutschen Idealismus nicht fremd. Vor allem die Unterordnung von Staat und Recht unter religiöse Gewißheit führt nach Hegel zu einem den Staat zerstörenden Fanatismus.39 Folglich muß die Trennung von Staat und Religion und die Unterordnung der Religionsgemeinschaften unter den staatlichen Rechtszwang garantiert werden – notfalls mit diesem Zwang selbst. Hegel, der Theoretiker der realen Bedingungen für die Verwirklichung vernünftigen Rechts, hat aber auch befürchtet, daß der Staat, der dem religiösen Gewissen des einzelnen nicht entspricht, auf Dauer seine Stabilität verliert. Daher hat er am Ende seiner Entwicklung, in der Enzyklopädie von 1830 (§ 552), das christliche, allerdings »protestantische Gewissen«, das seine Überzeugung und Handlung unabhängig von Bevormundung durch religiöse Autoritäten bilden kann, zur Bedingung einer verläßlichen und (ohne »Schizophrenie«) einzufordernden Staatsloyalität gemacht. Damit, und natürlich auch durch die sozialen und rechtlichen Konsequenzen, die sich aus dem Letztbegründungsanspruch dieser Philosophien für die Grade der Toleranz und Anerkennung gegenüber anderen Geschlechtern, Rassen, Religionen und Philosophien ergeben, wird aber die »saubere« Trennung zwischen theoretischen Wahrheiten und rechtlichen Beziehungen wieder in Frage gestellt. Ist ein solcher hoher philosophischer Begründungsanspruch mit rechtlicher Toleranz, ja mit demokratischem Pluralismus, wie er heute verstanden wird, vereinbar? Oder muß der Demokratie der Primat vor der philosophischen Wahrheit eingeräumt werden, wie etwa Richard Rorty das fordert?40 Zu dieser gewichtigen Frage kann hier nur eine kurze skizzenhafte Antwort gegeben werden. Um den Vertreter eines anderen Glaubens und einer anderen philosophischen Weltanschauung als gleichberechtigt im positiven Sinne zu betrachten, ihn also anzuerkennen in allen Schattierungen dieses Begriffs, die Fichte und Hegel unterschieden haben, muß ich denken können, daß er ebensoviel oder mehr Wahrheit besitzt als ich. Dazu gehört das Bewußtsein, daß die Alternativen zu meiner philosophischen, moralischen, religiösen Position nicht schlechthin widersprüchlich sind. Dieser Anspruch paßt aber nicht zu Systemphilosophien des absoluten Wissens – ich fürchte, nicht einmal zu Transzendentalphilosophien eines strikten Apriorismus oder einer alternativlosen »Metaphysik der Sitten«. All diese Philosophen wollen nämlich beweisen, daß die Ablehnung ihrer Prinzipien und Folgerungen in Widersprüche führt. Das bedeutet ja Letzt39 Hegel, Grundlinien TW 7 (Fn. 13), § 270. 40 In vielen seiner Schriften, vgl. etwa R. Rorty, Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: R. Rorty, Solidarität oder Objektivität, aus d. Engl. v. J. Schulte, Stuttgart 1988, S. 82-125.
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begründung: Alternative Annahmen sind widersprüchlich. Jemanden einschließlich seiner handlungsleitenden Überzeugungen zu bejahen, wenn man diese Überzeugungen für widersprüchlich hält, ist nur sehr eingeschränkt möglich – eben nur im Sinne einer passiven Duldung und sozusagen kopfschüttelnden Hinnahme.41 Das reicht für eine demokratische Bildung gemeinsamer Überzeugungen über das für alle »Nützliche« und »Gerechte« nicht aus.42
V. Konsequenzen: Philosophie, Toleranz und Pluralismus Die Alternative dazu ist aber kein permanenter Skeptizismus und Relativismus. Vielmehr soll jeder an seinen Überzeugungen so lange festhalten, wie er in einem offenen Umgang mit Erfahrungen und Gründen nicht frei denkend und entscheidend zu einer Änderung kommt. Dasselbe sollte aber auch für die Grundlagen des gemeinsamen Rechts und der Sitten, Gebräuche, Denk- und Verhaltensweisen gelten: Eine tolerante, einander anerkennende Gemeinsamkeit ist gerade nicht durch eine Letztbegründung von Moral, Recht und Staat zu gewinnen. Vielmehr dadurch, daß wir uns über gemeinsame Erfahrungen einigen, die man in verschiedenen Perspektiven deuten kann, ohne diese Deutungen wechselseitig als widersprüchlich oder verwerflich zu bewerten.43 Die Menschenrechte, die Gewaltenteilung, die soziale Fairneß sind Regeln und Ansprüche, deren Verweigerung oder Verletzung zu menschlichem Leid, Erniedrigung und Entwürdigung in fürchterlichem Ausmaß geführt hat. Darüber kann man sich einigen, wie etwa die Debatte über die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zeigt. Diese gemeinsame Auffassung soll 41 Daher sind auch die Ansprüche problematisch, für die Menschenwürde des Grundgesetzes seien nur christliche oder theistische Begründungen widerspruchsfrei möglich. Vgl. etwa R. Spaemann: »Seine theoretische Begründung findet der Gedanke der Menschenwürde und ihrer Unantastbarkeit allerdings nur in einer metaphysischen Ontologie, d.h. in einer Philosophie des Absoluten. Darum entzieht der Atheismus dem Gedanken der Menschenwürde definitiv seine Begründung und so die Möglichkeit theoretischer Selbstbehauptung in einer Zivilisation«, aus: Über den Begriff der Menschenwürde, in: E.-W. Böckenförde/R. Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde, Stuttgart 1987, S. 313; unterstützend in der Diskussion dazu auch Isensee, Kriele und Böckenförde, S. 314 f. 42 Aristoteles, Politik, Erstes Buch, 1253a 10-15. 43 Vgl. dazu L. Siep, Konkrete Ethik, Frankfurt/M. 2004, bes. Kap. 3.4. Daß solche Rechtsprinzipien und Werte historisch entdeckt und oft erst im Nachhinein theoretisch gut begründet wurden, heißt nicht, daß sie nur konventionell ihren Trägern verliehen würden. Daß Rechte, die Menschen wirklich zustehen, nur absolut bzw. in einem Absoluten begründet sein können, ist kein Resultat alternativloser Überlegungen oder eindeutiger Erfahrungen (ebenso wenig, daß nur zwingende Begründungen Rechtszwang legitimierten).
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jeder mit möglichst starken, für ihn selbst und in seiner Sicht für alle Vernünftigen überzeugenden Argumenten zu stützen suchen. Von dieser Theorie, bis hin zu tiefen theologischen Spekulationen, braucht er die anderen nicht zu überzeugen. Er kann sogar für möglich halten, daß er sich irrt und die anderen recht haben. Es kommt nur, wie John Rawls sagt, auf den überlappenden Konsens an, der in den Rechts- und auch einigen Moralüberzeugungen besteht, nach denen sich alle verhalten, die aber verschieden begründet und gerechtfertigt werden können.44 Allerdings mit der erwähnten auch theoretischen Akzeptanz einer Pluralität widerspruchsfreier bzw. »wahrheitsfähiger« Positionen – über deren Plausibilität und gute Gründe natürlich weiter zu streiten ist. Einer solchen Konzeption der theoretisch untermauerten historischen und lebensweltlichen Erfahrungen kommt Hegel gelegentlich nahe – etwa mit der Konzeption einer Geschichte der Erfahrung des Bewußtseins in der Phänomenologie des Geistes. Es ist aber die starke logisch-teleologische Grundlage der Phänomenologie und Geschichtsphilosophie, die ihn daran hindert, dieses Potential auszuschöpfen. Vielleicht kommen andere Philosophen – in Charles Taylors Verständnis etwa Herder45 – einer Anerkennungstheorie des lebendigen demokratischen und kulturell mannigfaltigen Lebens deutlich näher. Den Erfahrungen der letzten 200 Jahre hält ohnehin nur eine Theorie stand, die wir heute entwickeln – unter Rückgriff auf Toleranzideen der Aufklärung und die Anerkennungslehre des Deutschen Idealismus.
44 Vgl. J. Rawls, Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses (engl.: overlapping consensus), übers. v. M. Anderheiden u. W. Hinsch, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, hrsg. v. W. Hinsch, Frankfurt/M. 1992, S. 293-332. 45 Vgl. Ch. Taylor, Demokratie und Ausgrenzung, aus d. Engl. v. K. Nellen, in: ders., Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie, Frankfurt/M. 2001, S. 43.
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Nietzsches Kritik der Toleranz I. Toleranz in der Konkurrenz der Kulturen Nietzsche hat sich mit harten Sprüchen vor allem seines Zarathustra den Ruf des Intoleranten schlechthin erworben. Nun ist Nietzsche nicht sein Zarathustra, und er wollte nicht mit ihm verwechselt werden. Doch auch in seinen Notizen hat Nietzsche die Toleranz als »moderne Idee« gegeißelt, die die Realitäten des modernen Lebens verfehle und darum »falsch« sei – eine ebenso falsche »moderne Idee« wie »Freiheit«, »gleiche Rechte«, »Menschlichkeit«, »Mitleiden«, »das Genie«, »das Volk«, »die Rasse«, »die Nation«, »Demokratie«, »das milieu«, »Utilitarismus«, »Civilisation«, »WeiberEmancipation«, »Volks-Bildung«, »Fortschritt« und »Sociologie«.1 Aber solche Notizen – und hier handelt es sich um eine sehr späte von 1888 – hat er für sich, nicht für Leser(innen) gemacht; er veröffentlichte sie so nicht. Es sind Notizen eines Philosophen, der fragte, was die Ideen seiner Zeit für Europa bedeuteten, und dabei auf Selbstverstellungen stieß, die ihm die Zukunft Europas zu gefährden schienen. Sein Ideal war der »gute Europäer«, den er sich als »freien Geist« dachte, der den »alteuropäischen« Ideen verbunden war, zugleich aber zu ihnen in Distanz treten und sich frei zu ihnen verhalten konnte, um unter neuen Bedingungen neue Alternativen zu ihnen zu sehen. Die Zukunft Europas war für Nietzsche nicht »das Volk«, nicht »die Nation«, schon gar nicht »die Rasse«,2 sondern die Welt1 F. Nietzsche, Nachlaß 1888, 16[82], in: F. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, 13.514. – Nietzsches Beurteilung der Toleranz ist, soweit ich sehe, bisher kaum Thema der Nietzsche-Forschung gewesen. Einige eher beiläufige Bemerkungen finden sich bei W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, 4. Aufl. 1974, 1982, S. 292, 328 u. 370; H. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 2. Aufl. 1999 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 17), S. 210 ff. (»pluralistisch-tolerante Autonomiemoral«) und M. Steinmann, Die Ethik Friedrich Nietzsches, 2000 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 43), S. 9 u. 179. 2 Vgl. G. Schank, »Rasse« und »Züchtung« bei Nietzsche, 2000 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 44).
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gesellschaft. Darüber hatte er sich schon in seinem ersten Aphorismen-Buch Menschliches, Allzumenschliches öffentlich ausgesprochen. Er nannte seine Zeit dort ein »Zeitalter der Vergleichung« und charakterisierte es so: »Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. — Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können [...]. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, — aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen,— eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt.«3
Jede Kultur ist heute dem Vergleich ausgesetzt und damit für sie selbst nicht mehr selbstverständlich. Sie versteht sich mehr und mehr von anderen Kulturen her, die so auch mehr und mehr in sie einfließen. So toleriert sie mehr und mehr andere Kulturen – nach ihren eigenen Maßstäben, denn jeder Vergleich von Kulturen geht unvermeidlich von der eigenen Kultur des Vergleichenden aus. Aber sie konkurriert nun auch mit anderen Kulturen in der »neuen Cultur« einer Weltgesellschaft, in der es darum geht, »die Erde als Ganzes ökonomisch [zu] verwalten«: »die alte Cultur hat ihre Grösse und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann [...]. Aber die Menschen können mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch 3 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (MA) I 23. Nach N. Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, 1995, S. 31 ff., entstand die Kultursemantik im Europa des 18. Jh. eben zum Zweck der Vergleichung, d. h. der Reflexion der Kulturen aneinander – als die Semantik der Universalien ihre Plausibilität zu verlieren begann: »Die Artikulation und Formulierung von Kultur ersetzt die weltinvarianten Wesensformen auf der Basis vergleichender Beobachtungen – durch Reflexion. Damit können auch die Raum- und Zeitdifferenzen überbrückt werden. Die Thematisierung von Kultur ist ein Indikator dafür, daß, von Europa ausgehend, eine Weltgesellschaft im Entstehen begriffen ist.« (S. 49).
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verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen.«4
Die Konkurrenz transformiert die Kulturen – und die Toleranz: Die »Privatmoral« einer »abgeschlossenen originalen Volks-Cultur« muß sich nun auf eine »Weltmoral« einlassen, zu der die alteuropäische Toleranz nicht zwingend gehört. Europäer, die »sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen«, können sich nicht mehr auf »die ältere Moral« verlassen, die davon ausging, daß alle Menschen im Rahmen einer gemeinsamen Vernunft handeln. Das war, so Nietzsche im Blick auf die entstehende Weltgesellschaft, »eine schöne naive Sache; als ob ein Jeder ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse. Vielleicht lässt es ein zukünftiger Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts.«5
II. Kritik der bequemen Toleranz Sofern die »Kenntniss der Bedingungen der Cultur« nur von der jeweils eigenen Kultur aus zu erwerben ist, muß sie von einer Kritik im Sinn Kants ausgehen, dessen Kritik der reinen Vernunft eine Selbstbegrenzung der Vernunft war.6 Kritik der Toleranz im Sinne Kants und Nietzsches hieße danach Selbstbegrenzung der europäischen Toleranz an Stelle der »naiven« Erwartung ihrer globalen Durchsetzbarkeit in der entstehenden Weltgesellschaft aufgrund einer als gemeinsam vorausgesetzten Vernunft. Die Kritik der Idee der Toleranz in diesem Sinn hat schon am Ende des 18. Jahrhunderts und gerade bei ihren bedeutendsten Autoritäten eingesetzt. 4 Nietzsche, MA (Fn. 3) I 24. 5 Nietzsche, MA (Fn. 3) I 25. 6 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXII. Vgl. J. Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, 2003, S. 228: Kritik im Sinn Kants »kritisiert die Verabsolutierung jeder begrifflich-logischen Bestimmung vom eigenen Standpunkt der Urteilsbildung aus. Damit bringt sie den Gesichtspunkt fremder Vernunft zur Geltung, deren anderer Standpunkt vom eigenen aus wohl zu bemerken, aber nicht einzusehen ist.«
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Moses Mendelssohn, Galionsfigur der religiösen Toleranz, der Jude, der es als Aufklärer zu höchster Anerkennung in Deutschland gebracht und dem sein Freund Lessing in seinem Nathan der Weise ein großes Denkmal gesetzt hatte,7 schrieb 1784: »Von der Toleranz, welche in allen Zeitungsblättern so sehr herrscht, habe ich bei weitem die günstigste Meinung nicht [...]. So lang noch das Vereinigungssystem im Hinterhalte lauert« – gemeint ist die Absicht, mit Geduld und Entgegenkommen die Juden schlußendlich zum Christentum zu bekehren –, »scheint mir diese Toleranzgleißnerei noch gefährlicher als offene Verfolgung.«8 Kant würdigte die Gewährung der Religionsfreiheit durch Friedrich II. von Preußen ausdrücklich und öffentlich dafür, daß er »selbst den hochmüthigen Namen der Toleranz von sich ablehnt[e]«. Er hielt dabei fest, daß Friedrich zugleich ein »wohldisciplinirtes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat[te]«, also Freiheit (zum »Räsonnieren«) gewährte, aber zugleich Gehorsam verlangte, ein, so Kant, »befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist.«9 Und nach Goethe sollte Toleranz »eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.«10 Sie alle und auch Nietzsche waren keine Gegner der Toleranz und selbst als höchst tolerante Menschen bekannt. Sie drängten im Gegenteil darauf, daß Toleranz nicht ausreiche und ihrerseits der Aufklärung bedürfe. Nietzsche begann damit schon in seiner Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung zum Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Er schrieb dort, die meisten brächten es »nur zur Toleranz, zum Geltenlassen des einmal nicht Wegzuläugnenden, zum Zurechtlegen und maassvoll-wohlwollenden Beschönigen, in der klugen Annahme, dass der Unerfahrene es als Tugend der Gerechtigkeit auslege, wenn das Vergangene überhaupt ohne harte Accente und ohne den Ausdruck des Hasses erzählt wird.«11
7 Vgl. zu Mendelsohn auch Jörg Berkemann, in diesem Band S. 71 (71 f.), und zu Lessing Jürgen Engfer, in diesem Band S. 159 ff. 8 Mendelssohn an Herz Homberg am 1. 3. 1784, in: M. Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hrsg. von A. Altmann, 1971 ff., Bd. XIII, S. 179, zit. von F. Niewöhner, »Es hat nicht jeder das Zeug zu einem Spinoza«. Mendelssohn als Philosoph des Judentums, in: M. Albrecht/E. J. Engel/N. Hinske (Hrsg.), Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, 1994 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 19), S. 291 (310 f.). 9 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Akademie-Ausgabe (AA), VIII, S. 40 f. 10 J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 12, 1981/1998, S. 385. Vgl. die Nachlaß-Notiz Nietzsches von 1885/86 (1[182], KSA 12.51): »gegen das Unverständliche bleibt man kalt, und Kälte beleidigt.« 11 Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen (UB) II 6, KSA (Fn. 1) 1.288 f.
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Und in der Morgenröthe heißt es dann: »In den Angelegenheiten der Sitte auch einmal wider seine bessere Einsicht handeln; hier in der Praxis nachgeben und sich die geistige Freiheit vorbehalten; es so machen wie Alle und damit Allen eine Artigkeit und Wohlthat erweisen, zur Entschädigung gleichsam für das Abweichende unserer Meinungen: — das gilt bei vielen leidlich freigesinnten Menschen nicht nur als unbedenklich, sondern als ›honett‹, ›human‹, ›tolerant‹, ›nicht pedantisch‹, und wie die schönen Worte lauten mögen, mit denen das intellectuelle Gewissen in Schlaf gesungen wird: und so bringt Dieser sein Kind zur christlichen Taufe herzu und ist dabei Atheist, und jener thut Kriegsdienste wie alle Welt, so sehr er auch den Völkerhass verdammt, und ein Dritter läuft mit einem Weibchen in die Kirche, weil es eine fromme Verwandtschaft hat, und macht Gelübde vor einem Priester, ohne sich zu schämen.«12
Mit der selbstverständlich gewordenen Toleranz ist auch »das intellectuelle Gewissen in Schlaf gesungen« worden. Was Nietzsche und zuvor schon Mendelssohn, Kant und Goethe angreifen, ist das Es-sich-bequem-Machen mit der Toleranz, das sich rasch einstellte und einstellen mußte, als sie zur modernen Leitidee ausgerufen, moralisch anerkannt und politisch durchgesetzt wurde.13 Es habe auch die Wissenschaft erfaßt, in der es »gar kein Recht zu dieser Toleranz-Übung« gebe. Diese »huldreiche Gebärde« könne »eine gröbere Verunglimpfung der Wissenschaft [sein] als ein offener Hohn, wel12 Nietzsche, Morgenröthe (M) 149, KSA (Fn. 1) 3.141. 13 Nietzsche hält daran bis in seine späten Notizen hinein fest. In einer Aufstellung, die er doppelt mit »Die Guten« und »Zur Kritik der Heerden-Tugenden« überschreibt, heißt es: »Die inertia thätig 1) im Vertrauen, weil Mißtrauen Spannung, Beobachtung, Nachdenken nöthig macht 2) in der Verehrung, wo der Abstand der Macht groß ist und Unterwerfung nothwendig: um nicht zu fürchten, wird versucht zu lieben, hochzuschätzen und die Machtverschiedenheit als Werthverschiedenheit auszudeuten: so daß das Verhältniß nicht mehr revoltirt. 3) im Wahrheitssinn. Was ist wahr? Wo eine Erklärung gegeben ist, die uns das minimum von geistiger Kraftanstrengung macht. Überdies ist Lügen sehr anstrengend. 4) in der Sympathie. Sich gleichsetzen, versuchen gleich zu empfinden, ein vorhandenes Gefühl anzunehmen ist eine Erleichterung: es ist etwas Passives gegen das activum gehalten, welches die eigensten Rechte des Werthurtheils sich wahrt und beständig bethätigt. Letzteres giebt keine Ruhe. 5) in der Unparteilichkeit und Kühle des Urtheils: man scheut die Anstrengung des Affekts und stellt sich lieber abseits, ›objektiv’ 6) in der Rechtschaffenheit: man gehorcht lieber einem vorhandenen Gesetz als daß man sich ein Gesetz schafft, als daß man sich und Anderen befiehlt. Die Furcht vor dem Befehlen — Lieber sich unterwerfen als reagiren. 7) in der Toleranz: die Furcht vor dem Ausüben des Rechts, des Richtens« (Nietzsche, Nachlaß 1886/87, 7[6], KSA [Fn. 1] 12.274 f.). Vgl. auch die Notiz im Nachlaß Herbst 1887, 9[165], KSA (Fn. 1) 12.432, in der Nietzsche die Toleranz nicht mehr an den Schluß, sondern an den Anfang stellt: »Die Zuchtlosigkeit des modernen Geistes unter allerhand moralischem Aufputz: Die Prunkworte sind: die Toleranz (für ›Unfähigkeit zu Ja und Nein‹).«
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chen sich irgend ein übermüthiger Priester oder Künstler gegen sie erlaubt«. Denn als tolerante laufe die Wissenschaft Gefahr, unliebsame ›Wahrheiten‹ zurückzuhalten und auszubilden, trübe »jenes strenge Gewissen für Das, was wahr und wirklich ist,« hindere daran, daß es »quält und martert«.14 In seinen Notizen gestand sich Nietzsche noch weitere unangenehme ›Wahrheiten‹ über die Toleranz ein. Sie könne, notiert er, gerade bei denen, die hohe Ideale haben, zur habituellen Unehrlichkeit führen – und zugleich ein Zeichen der Schwäche solcher Ideale sein: »Was ist Toleranz! Und Anerkennung fremder Ideale! Wer ganz tief und stark sein eigenes Ideal fördert, kann gar nicht an andere glauben, ohne sie abschätzig zu beurtheilen — Ideale geringerer Wesen als er ist. Die absolute Höhe unseres Maaßstabes ist eben der Glaube an das Ideal. — Somit ist Toleranz historischer Sinn sogenannte Gerechtigkeit ein Beweis des Mißtrauens gegen ein eigenes Ideal, oder das Fehlen desselben.«15
Und so zeigten sich dort auch regelmäßig Grenzen der Toleranz, wo die eigene Freiheit zur Toleranz berührt sei: »Diese Toleranzprediger! Ein Paar Dogmen (›fundamentale Wahrheiten‹) nehmen sie doch immer aus! Sie unterscheiden sich nur in der Meinung darüber von den Verfolgern, was für das Heil nothwendig sei.«16
Zu diesen Dogmen gehört nach Nietzsche auch die Berufung auf ›die‹ Vernunft, die doch immer die eigene ist und der fremde Vernunft jederzeit widersprechen kann. Und eben darin folgt er Kant, der, was erst durch Josef Simons revolutionäre Kant-Interpretation deutlich geworden ist,17 selbstverständlich vom Gegensatz von eigener und fremder Vernunft ausging – Kants berühmte Maxime der Aufklärung, jeder solle wagen, »sich seines eigenen Verstandes« – im weiteren sagt Kant: »seiner eigenen Vernunft« »in seiner eigenen Person«18 – zu bedienen, hat nur Sinn unter Voraussetzung dieses Gegensatzes. Nietzsche notiert: »Sich an die Vernunft halten wäre schön, wenn es eine Vernunft gäbe! Aber der Tolerante muß sich von seiner Vernunft, ihrer Schwäche abhängig machen! Dazu: es ist zuletzt nicht einmal diese, welche den Beweisen und Widerlegungen ihr Ohr geschenkt und entscheidet. Es sind Neigungen und Abneigungen des Geschmacks. Die Verfolger sind gewiß nicht weniger logisch gewesen als die Freidenker.«19 14 15 16 17 18 19
Nietzsche, M (Fn. 12) 270. Nietzsche, Nachlaß 1881, 11[99], KSA (Fn. 1) 9.476 f. Nietzsche, Nachlaß 1881, 11[109], KSA (Fn. 1), 9.480. Vgl. Fn. 6. Kant, Was ist Aufklärung? (Fn. 9), S. 35, vgl. S. 38. Nietzsche, Nachlaß 1881, 11[109], KSA (Fn. 1) 9.480 (Fortsetzung der Fn. 16 zitierten Notiz).
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III. »Tiefe« Toleranz: Die Paradoxien der Toleranz Aber Nietzsche beläßt es nicht bei dieser Kritik. Statt dessen denkt er die Toleranz weiter, als »tiefe« Toleranz. Tiefe Toleranz im Sinne Nietzsches ist eine zur Haltung gewordene Toleranz, die sich auch gegen den »feinen Nothstand« aufrechterhält, sich von Intoleranz in Frage stellen zu lassen. Nietzsche macht das an einem religiös erzogenen Gelehrten deutlich, der sich von religiösen Einwänden nicht mehr beirren läßt: »Die praktische Gleichgültigkeit gegen religiöse Dinge, in welche hinein er geboren und erzogen ist, pflegt sich bei ihm zur Behutsamkeit und Reinlichkeit zu sublimiren, welche die Berührung mit religiösen Menschen und Dingen scheut; und es kann gerade die Tiefe seiner Toleranz und Menschlichkeit sein, die ihn vor dem feinen Nothstande ausweichen heisst, welchen das Toleriren selbst mit sich bringt.«209
Zwar ist auch er, so Nietzsche weiter, »im guten Gewissen seiner Toleranz« noch naiv, denn auch er folgt dabei noch brav den gängigen »›modernen Ideen‹«: »Jede Zeit hat ihre eigene göttliche Art von Naivetät, um deren Erfindung sie andre Zeitalter beneiden dürfen: — und wie viel Naivetät, verehrungswürdige, kindliche und unbegrenzt tölpelhafte Naivetät liegt in diesem ÜberlegenheitsGlauben des Gelehrten, im guten Gewissen seiner Toleranz, in der ahnungslosen schlichten Sicherheit, mit der sein Instinkt den religiösen Menschen als einen minderwerthigen und niedrigeren Typus behandelt, über den er selbst hinaus, hinweg, hinauf gewachsen ist, — er, der kleine anmaassliche Zwerg und Pöbelmann, der fleissig-flinke Kopf- und Handarbeiter der ›Ideen‹, der ›modernen Ideen‹!«210
Doch die Folge seiner »tiefen Toleranz« ist eine Vervielfältigung seines Ich: Wer sich in seiner Wissenschaft gegen religiöse Anfechtungen sicher weiß, kann nebenbei dennoch eine Religion praktizieren. Nietzsche gilt als Herold des vielfältigen Ich und hat es doch – wiederum im veröffentlichten Werk – im Namen des »intellektuellen Gewissens« unmißverständlich angegriffen: »Zum ›intellektuellen Gewissen‹. [...] Die Toleranz gegen sich selbst gestattet mehrere Überzeugungen: diese selbst leben verträglich beisammen, — sie hüten sich, wie alle Welt heute, sich zu compromittiren. Womit compromittirt man sich 20 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 58. 21 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 58. – Vgl. zur Toleranz anderer Kulturen Nietzsche, Nachlaß 1883, 7[62], KSA (Fn. 1) 10.263: »Bei rohen und naiven Menschen herrscht die Überzeugung auch in Betreff ihrer Sitten, ja ihrer Geschmäcker: es ist der bestmögliche. Bei Culturvölkern herrscht eine Toleranz hierin: aber um so strenger hält man fest an seinem höchsten Maßstab für Gut und Böse: darin will man nicht nur den feinsten Geschmack haben, sondern den allein berechtigten.«
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heute? Wenn man Consequenz hat. Wenn man in gerader Linie geht. Wenn man weniger als fünfdeutig ist. Wenn man echt ist …«22
Nietzsche antwortet auf die »Toleranz gegen sich selbst« mit der Konsequenz gegen sich selbst, die sich auf – aus ihrer Sicht – nicht Haltbares nicht einläßt. Konsequenz zieht der Toleranz Grenzen. Dies wird nun freilich gerade von »modernen Menschen« begrüßt, die eine allzu ausgreifende Toleranz als Desorientierung erfahren. Bei dieser Desorientierung setzt Nietzsche zu Beginn seines Antichrist an: »›Ich weiss nicht aus, noch ein; ich bin Alles, was nicht aus noch ein weiss‹ — seufzt der moderne Mensch … An dieser Modernität waren wir krank, — am faulen Frieden, am feigen Compromiss, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz und largeur des Herzens, die Alles ›verzeiht‹, weil sie Alles ›begreift‹, ist Scirocco für uns.«23
Nietzsche sagt »wir«, er nimmt sich nicht aus, die Erfahrung ist auch seine eigene. Er versucht nun aber, über sie hinauszukommen. Die Begrenzung der Toleranz wird zu Intoleranz und damit paradox. Wer von sich aus Grenzen der Toleranz zieht, handelt sich den berechtigten Vorwurf der Intoleranz ein. Aber auch wer keine Grenzen der Toleranz zieht, gerät in eine Paradoxie, die Paradoxie, Untolerierbares tolerieren zu müssen. Und beide Paradoxien müssen ethisch in Kauf genommen werden. Eine moralische und mehr noch eine religiöse Überzeugung muß intolerant sein, wenn sie konsequent sein will: sie muß ausschließen, wodurch sie in Frage gestellt wird. Wer zur Zeit der Reformation aus tiefer Überzeugung Protestant wurde, konnte den römischen Papst nicht mehr tolerieren, und wer aus tiefer Überzeugung katholisch blieb, mußte den Protestantismus aufs äußerste bekämpfen. Er mußte es nicht nur für gerechtfertigt, sondern für gefordert halten, den andern auf jede Weise aus seinem Glaubensirrtum, für den er ihn halten mußte, zu befreien, und davon abzulassen, mußte ihn schwere Überwindung kosten. Er mußte dann – nach seiner Überzeugung – Untolerierbares tolerieren. Religiös Untolerierbares zu tolerieren wurde notwendig angesichts der verheerenden europäischen Religionskriege der frühen Neuzeit; sie zwangen schließen, die Paradoxie zu akzeptieren.24 Im Römischen Reich, das nach heutigen Begriffen großzügige religiöse Toleranz pflegte, bedeutete ›tolerantia‹ noch nicht moralische oder religiöse Toleranz, sondern Ertragen-Können von Leiden.25 In der christli22 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Streifzüge 18, KSA (Fn. 1) 6.122 f. 23 Nietzsche, Der Antichrist 1. 24 Vgl. A. Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 2007. 25 Vgl. G. Schlüter/R. Grötker, Art. Toleranz, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, 1998, Sp. 1251 (1252).
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chen Patristik stand, wie das Historische Wörterbuch der Philosophie ausweist, ›tolerantia‹ noch ›patientia‹, der bloßen Geduld, nahe, auf der islamisch beherrschten Iberischen Halbinsel konnten Islam, Judentum und Christentum lange friedlich koexistieren, in der Scholastik meinte man mit ›tolerantia‹ noch die Duldung sündigen Verhaltens zur Vermeidung größeren Übels, und auch Luther befürwortete noch die ›tolerantia Dei‹ für die Sünden der Menschen. Erst mit dem erbitterten Kampf der christlichen Konfessionen wurde die Toleranz zum existenziellen Problem, stand Überzeugung gegen Überleben. Das Überleben verlangte, aus Überzeugung andere Überzeugungen gelten zu lassen, und die Form, die diese Paradoxie schließlich fand, war der moderne Rechtsstaat. Er ist getragen von der Überzeugung, daß jeder seinen religiösen und moralischen Überzeugungen folgen können soll und darum andere Überzeugungen anderer tolerieren muß, auch wenn er sie für »verkehrt« hält. Aber auch dieser Überzeugung vom Tolerieren-Müssen anderer Überzeugungen wird eine Grenze gezogen – vom Rechtsstaat gegen seine Gegner. Die begrenzte Toleranz des Rechtsstaats ist inzwischen so selbstverständlich geworden, daß ihre Paradoxien nicht mehr auffallen. So konnte »Toleranz« schließlich einen technischen Sinn bekommen, den Sinn des Spielraums eingepaßter Werkstücke in der Fertigungstechnik, der hingenommenen Abweichung vom vorgeschriebenen Edelmetallgehalt im Münzwesen, der Empfindlichkeit gegenüber Arzneimitteln und Giften in der Pharmakologie und des Ertragen-Könnens von Frustrationen in der Psychologie (»Frustrationstoleranzniveau«).
IV. »Grosse Toleranz«: Die »grossmüthige Selbstbezwingung« Für Paradoxien gibt es keine allgemeingültigen logischen Lösungen, nur individuelle und situative: wo sie entstehen, kann und muß man nach eigenen Maßstäben entscheiden. Zu dieser Entscheidung gehört dann Mut und Kraft, und Nietzsche unterscheidet darum eine Toleranz aus Stärke von der Toleranz aus Schwäche. Auch Toleranz aus Stärke kann leicht sein – eine überlegene Macht, so Nietzsche, kann sie sich aus »Luxus« leisten.26 Er nennt dafür eben das Beispiel des Römischen Reichs mit »seiner vornehmen und frivolen Toleranz« in allen Glaubensfragen27 und auch der Katholischen Kirche, die in Rom groß wurde. Denn sie habe wie keine andere Institution auf abgestufte Toleranz gehalten und die »Geistigkeit« von Menschen danach unterschieden, wie viel sie an Toleranz verkraften und wie sehr sie auf Gewalt verzichten können: 26 Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft 358. 27 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 46.
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»eine Kirche ist vor Allem ein Herrschafts-Gebilde, das den geistigeren Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der Geistigkeit soweit glaubt, um sich alle gröberen Gewaltmittel zu verbieten, — damit allein ist die Kirche unter allen Umständen eine vornehmere Institution als der Staat.«28
Nietzsches drittes Beispiel aber ist eine Person: Goethe. Er zeigte aus Stärke eine solche Toleranz, daß Nietzsche seinem Ideal den höchsten Namen zuerkannte, den er zu vergeben hatte, den Namen des Dionysos: »Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse sie nun Laster oder Tugend … Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht — er verneint nicht mehr … Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft. —«29
Menschen nach Rangunterschieden und sei es in ihrer Kraft zur Toleranz zu unterscheiden,30 widerstrebt demokratischen Gewohnheiten. Aber die Demokratie wird dadurch nicht nur nicht in Frage gestellt, vielleicht lebt sie sogar davon.31 Sie muß anders als eine Theokratie und theokratisch legitimierte Monarchie, die institutionelle Autoritäten voraussetzen, aus ihren Bürgern immer neu Einzelne zu Führungsaufgaben gewinnen, die mehr als andere Maßstäbe setzen und festhalten und nach ihnen kollektiv bindende Entscheidungen treffen können. Eine Herrschaftsform, die auf die Kraft aller Einzelnen zur Herrschaft setzt, verlangt, was Nietzsche schon früh in seinen Notizen und zuletzt auch im zur Veröffentlichung bestimmten Werk 28 Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft 358. 29 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Streifzüge 49. 30 Vgl. Nietzsche, Nachlaß 1886/87, 7[6], KSA (Fn. 1) 12.280: »Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet: nicht auf eine individualistische Moral. Der Sinn der Heerde soll in der Heerde herrschen, — aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer der Heerde bedürfen einer grundverschiedenen Werthung ihrer eignen Handlungen, insgleichen die Unabhängigen, oder die ›Raubthiere‹ usw.« 31 Vgl. die Forschungsberichte von M. Bretz und D. V. Hofmann, Nietzsche now. Zum Stand der amerikanischen Nietzsche-Forschung, Nietzsche-Studien 29 (2000), S. 332 ff., bes. S. 333 ff., und H. Siemens, Nietzsche’s Political Philosophy. A Review of Recent Literature, Nietzsche-Studien 30 (2001), S. 509 ff. Zum politischen Nietzsche in der aktuellen französischen Nietzsche-Forschung vgl. M. Bretz/D. V. Hofmann, Französische Neuerscheinungen zur Nietzsche-Forschung, Nietzsche-Studien 32 (2003), S. 453 (457 ff.).
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»grosse Toleranz« nannte. Groß ist für Nietzsche nicht einfach das, was andere überragt, sondern das, was fähig ist, das ihm Entgegengesetzte für sich fruchtbar zu machen. So macht sich die »grosse Vernunft des Leibes« auch noch den Geist, »das Leben, das selber in’s Leben schneidet«, als »kleine Vernunft« zu ihrem »Werk- und Spielzeug«,32 und eine »grosse Gesundheit« kann sich schweren Krankheiten »preisgeben« und dadurch noch robuster werden.33 Die »grosse Toleranz« wäre danach die, die ihre Paradoxien tolerieren und an ihnen wachsen kann. In der frühen Notiz hatte Nietzsche in ihr ein Kennzeichen der »Liebe zum Leben, zum eigenen Leben« gesehen – »Was auch jeder Einzelne dafür erdenkt, das wird der Andere gelten lassen, und eine neue große Toleranz dafür sich aneignen müssen: so sehr es oft wider seinen Geschmack geht, wenn der Einzelne wirklich die Freude am eigenen Leben mehrt!«
– und sie neben der »Feindschaft gegen alles und Alle, die den Werth des Lebens zu verdächtigen suchen« als eine »Haupttendenz« seines eigenen Philosophierens vermerkt. Danach soll die Liebe zum Leben nur »Finsterlinge und Unzufriedene und Murrköpfe« nicht tolerieren. Doch Nietzsche fügt schon hier hinzu: »unsere Feindschaft muß selber ein Mittel zu unserer Freude werden!« So wird, nach dieser Notiz, aus der Liebe zum Leben ein »Todkampf«.34 Zuletzt aber, im Antichrist, seiner harten Polemik nicht gegen Christus, sondern gegen das zum Dogma gewordene, zum Dogma verhärtete, intolerante Christentum, bringt er die »grosse Toleranz« auf den Begriff der »grossmüthigen Selbstbezwingung« gegenüber allem Geschehenen und Vergangenen: »Gegen das Vergangne bin ich, gleich allen Erkennenden, von einer grossen Toleranz, das heisst grossmüthigen Selbstbezwingung«.35
Großmütige Selbstbezwingung ist die Toleranz, anderen um ihretwillen und ohne Erwartung von Gegenseitigkeit so viele Spielräume zu lassen, wie man
32 Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, KSA 4.39, und ebd., II, Von den berühmten Weisen, KSA 4.134. 33 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft 382. 34 Nietzsche, Nachlaß 1881, 11[183], KSA (Fn. 1) 9.512. – Zugleich mahnt sich Nietzsche zur Toleranz auch hier. Vgl. Nachlaß 1880/81, 10[E94], KSA (Fn. 1) 9.436: »Wir wollen diese Denkweise welche in dem kleinen oder großen Irrsinn den Richter und Verurtheiler des Daseins erkennt, nicht mehr in der Philosophie dulden und uns dagegen sträuben daß sie unter dem Schleier der Kunst geborgen weiter lebe. — Sind wir hier ohne Toleranz? Von neuem fanatisch? — Man sehe erst zu, was wir thun wollen: nichts mehr und nichts weiteres als uns nicht mehr um die verkehrte Welt kümmern.« 35 Nietzsche, Der Antichrist 38.
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eben noch ertragen kann.36 Man sucht dann Intoleranz nicht bei andern, sondern bei sich selbst, als Mangel an Kraft zur Toleranz. Macht man, wie es jetzt geschieht, die Toleranz zur »normativen Grundorientierung« und zum »normativen Kern einer offenen Gesellschaft«,37 so kann das »intellektuelle Gewissen« dies doch nur von jedem selbst, nicht von andern fordern, die vielleicht nicht dieselben Spielräume und dieselbe Kraft dazu haben. Die Kraft zur Toleranz steht dem einen mehr, dem andern weniger und jedem wiederum in der einen Situation mehr, in der andern weniger zu Gebote. Sie läßt sich nicht verallgemeinern, und jeder ist mit ihr allein. Nietzsche hat darum zuletzt noch, nur für sich selbst, notiert und für sich selbst noch einmal bekräftigt: »Nur der Einsiedler kennt die große Toleranz.«38 Und weil die Toleranz unter nicht immer toleranten Menschen so paradox ist, hat er, für sich, hinzugefügt: »Die Liebe zu den Thieren — zu allen Zeiten hat man die Einsiedler daran erkannt …«39 Wer sich großmütig der großen Toleranz auch gegen Menschen aussetzt, die immer nur begrenzt tolerant sein können, muß sich von Zeit zu Zeit von den Menschen erholen.
36 Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 27: »man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber ›die guten Freunde‹ anbetrifft, welche immer zu bequem sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben: so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzugestehn«. 37 J. Nida-Rümelin, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Toleranz ist mehr als Gleichgültigkeit gegenüber abweichenden Verhaltensweisen: Eine Rede aus gegebenem Anlaß, in: FAZ vom 9.11.2001, S. 48. Nida-Rümelin unterscheidet in seinen konsequent normativ angelegten Ausführungen Toleranz aus Indifferenz, aus Empathie und aus Respekt: »Die Haltung der Toleranz aus Respekt ist die Basis einer human verfaßten Gesellschaft.« R. Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, 2003, unterscheidet in normativer Hinsicht eine (schwache) »Erlaubnis-Konzeption« (Minderheiten wird ein Existenzrecht eingeräumt, solange sie Minderheiten bleiben), eine »Koexistenz-Konzeption« (gleich Starke dulden sich gegenseitig), eine »Respekt-Konzeption« (man achtet einander und anerkennt die Verschiedenheit ihrer Überzeugungen) und eine (starke) »Wertschätzungs-Konzeption« der Toleranz (man schätzt einander und die anderen Überzeugungen auch für sich selbst, doch ohne sie zu übernehmen) (S. 42 ff.). Sie gewinnen erst in der Geschichte konkretes Profil, können in ihr auch selbst Konflikte erzeugen und zur Rechtfertigung von Sanktionen gebraucht werden. Rechtfertigungen sollen jedoch »den Kriterien von Allgemeinheit und Wechselseitigkeit standhalten« und dadurch »Relativismus« ausschließen (S. 590). Nietzsche hat nach Forst »den Begriff der Toleranz falsch verwendet: [...] Ein Verleugnen der eigenen Ideale wäre keine Toleranz.« Sein »Missverständnis« sei jedoch »insofern produktiv, als er darauf verweist, wie schwierig es ist, die Balance zwischen Ablehnung, Akzeptanz und Zurückweisung zu halten« (S. 512). 38 Nietzsche, Nachlaß 1888, 19[1] und 19[7], KSA (Fn. 1) 13.542 u. 545 (Entwürfe zu Vorworten für geplante Bücher). 39 Nietzsche, Nachlaß 1888, 19[1] und 19[7], KSA (Fn. 1) 13.542 u. 545 (Entwürfe zu Vorworten für geplante Bücher).
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Glaubens- und Religionsfreiheit in »Zeiten des Multikulturalismus« in völker-, europa- und verfassungsrechtlicher Sicht – oder vom Staatskirchenrecht zu einem allgemeinen Religionsrecht? I. Generalthema der Tagung und Aufgabenstellung des Vortrags Es geht um das Tagungsthema »Toleranz als Ordnungsprinzip« und hier um Glaubens- und Religionsfreiheit.
1. Religiöse Rechte oder fürstliche Toleranz Glaubens- und Religionsfreiheit garantieren Rechte. Nicht um die Berufung der Autorität einer höheren Ordnung als moralischer Leistung, vielleicht auch menschlicher Toleranz, geht es daher, wenn man menschenrechtliche Rechtsgarantien an den Anfang einer Betrachtung stellt.1 Es geht dann vielmehr um die Rechtsordnung, die die Gleichstellung aller mit Hilfe gleicher Rechte gewährleistet und daher der Toleranz, wie sie der Fürstenstaat bot, aber nicht wirklich gewährleisten konnte, nicht mehr bedarf. Denn im Fürstenstaat, auch in dem des alten Reiches deutscher Nation, galt letztlich der Machtspruch des Fürsten, nicht der Rechtsspruch des Richters aufgrund einer unveräußerlichen, ja nicht einmal wirklich gesicherten Kraft wohlerworbenen Rechts.2 Stehen hingegen unveräußerliche Menschenrechte – und darunter 1 Dazu literarisch C. F. Meyer, Die Füße im Feuer, in: R. Köhler (Hrsg.), Deutsche Balladen, 1993, S. 156 f. und J. P. Hebel, Der Husar in Neiße (1809), in: ders., Der rheinländische Hausfreund, Faksimiledruck der Jahrgänge 1808-1815 u. 1819, hrsg. v. L. Rohner, 1981, S. 63 f.; zu beiden J. V. Sandberger, Autorität, Personalität und Mythos. Annäherungen mit Beispielen aus Theologie und Literatur, in: A. Lange u. a. (Hrsg.), Mythos im Alten Testament und seiner Umwelt, Festschrift für H.-P. Müller zum 65. Geburtstag, 1999, S. 263 (271 ff.): nicht Toleranz, sondern Gewißheit einer anderen Normativität und ihrer höheren Ordnung läßt die Schandtat ungesühnt. 2 Vgl. exemplarisch W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 5. Aufl. 2005, § 5 III, Rn. 129, S. 62 ff.; und nun J. Habermas/J. Derrida, Philosophie in Zeiten des Terrors, 2006,
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kulturell-religiöse Rechte – zur Verfügung, so stellt sich zwar die Frage ihrer Durchsetzung, ihre Antwort ist aber in Kategorien des Rechts, nicht mehr in denen der Toleranz gefaßt. Auch wirkt »Toleranz« kaum in die Auslegung des Rechts hinein, wird insoweit eher von anderen, allgemeinen Maximen, wie etwa der von der »Neutralität« des Staates, überlagert.3 Hinzu kommt gewiß ein umgangssprachliches Verständnis von »Toleranz«, das ihr einen Platz beläßt; für den Juristen ist dies aber eher Signalwort für eine politisch und sozial sensible, langfristige Effekte einbeziehende Auslegung von Recht.
2. Multikulturalität, Glaubens- und Religionsfreiheit Dann: Die Aufgabenstellung spricht von »Zeiten des Multikulturalismus«. Zu diesen Zeiten möchte ich indes weitere Ausführungen nicht machen.4 Schon S. 66 ff. u. S. 165 ff. Entsprechend reicht heute bloße Toleranz im Sinne eines »Multikulturalismus« nicht aus, vielmehr ist volle rechtliche Anerkennung entscheidend, vgl. aus dem Feuilleton allerdings I. Buruma, Gezelligheid genügt nicht. Wie der Multikulturalismus zu retten ist, FAZ Nr. 259 vom 7.11.2006, S. 35. 3 Vgl. St. Huster, in: W. Heun u. a. (Hrsg.), Ev. Staatslexikon, Neuausgabe 2006, Sp. 2465 f.; aber in jüngster Zeit mit umfangreichem Rückgriff auf den Begriff der Toleranz BVerfG (Kammer), Beschl. v. 15.03.2007 – 1 BvR 2986/06 – Einführung des Ethikunterrichts in Berlin, im Internet unter http://www.bverfg.de; den Toleranzbegriff verwendet in einem umgangssprachlicheren Sinne U. Volkmann, Grund und Grenzen der Toleranz, Der Staat 39 (2000), S. 325 ff. und befaßt sich dort mit Fragen der Begrenzung religiöser Freiheiten; älter G. Püttner, Toleranz als Verfassungsprinzip, 1977; zum Versuch im Rechtlichen A. Krämer, Toleranz als Rechtsprinzip – Gedanken zu einem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz, ZevKR 29 (1984), S. 113 ff.; neuerlich H.-J. Papier, Toleranz als Rechtsprinzip, in: R. Jacobs u. a. (Hrsg.), Festschrift für Peter Raue zum 65. Geburtstag, 2006, S. 255 ff.; jetzt K.-H. Ladeur/I. Augsberg, Toleranz, Religion, Recht. Die Herausforderung des »neutralen« Staates durch neue Formen von Religiosität in der postmodernen Gesellschaft, 2007; M. J. Roca, Der Toleranzbegriff im internationalen Recht, in: R. Grote u. a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit, Festschrift f. Ch. Starck z. 70. Geburtstag, 2007, S. 905 ff.; als jüngste phil.-pol. Studie R. Forst, Toleranz im Konflikt, 2003; phil.-theol. Ch. Starck (Hrsg.), Wo hört Toleranz auf?, 2006; hist. eindringlich Ch. Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 36 ff. u. früher; zur Koran-Interpretation A. Schimmel, Toleranz u. Intoleranz im Islam, in: T. Seidensticker u. a. (Hrsg.), Demokratie u. Menschenrechte in den arabischen Ländern, 2002, S. 24 ff. (26 f.). Zu Toleranz u. Christentum neben einer Tagung der Leipziger Theologischen Fakultät Ende Juni 2006 früher I. Broer u. a. (Hrsg.), Christentum u. Toleranz, 1996. 4 Dazu, nahe zum hiesigen Thema, H. Maurer, Religionsfreiheit in der multikulturellen Gesellschaft, in: C.-E. Eberle u. a. (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, Festschrift für W. Brohm zum 70. Geburtstag, 2002, S. 455 ff.; auch F. Hufen, Das Zusammenleben von Kulturen und Religionen unter der Verfassung. Oder: Wie viel Fundamentalismus verträgt die verfaßte Demokratie?, in: H.-W. Arndt u. a. (Hrsg.), Völkerrecht und deutsches Recht, Festschrift für W. Rudolf zum 70. Geburtstag, 2001, S. 247 ff.; früher H. Schulze-Fielitz, Verfassungsrecht u. neue Minderheiten – Verfassungstheoretische Überlegungen zur »multikulturellen Gesellschaft«, in: T. Fleiner-Gerster (Hrsg.), 60 Jahre Peter Häberle – Die multikulturelle u. multi-ethnische Gesellschaft – Eine neue Herausfor-
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die Geschichtswissenschaft hat die Rede vom christlichen Mittelalter aufgegeben und sie durch diejenige vom monotheistischen Zeitalter ersetzt.5 Ähnlich ist es eine der Selbsttäuschungen des Nationalstaates, zu glauben, man fuße auf einer homogenen Grundlage in ethnisch-kultureller oder bloß kultureller oder aber auch anderer Hinsicht. Diese Staaten, die ohnehin eine vorübergehende Erscheinung waren, haben eine solche Grundlage in aller Regel nicht besessen. Und soweit sie diese Grundlage besitzen oder besaßen, so beruht dies auf Politiken, die sie kurzfristig vielleicht einmal dem Anschein nach, aber nicht wirklich, hergestellt haben. Dies gilt gewiß in Europa und für Deutschland, das auch nach 1871 lange zum Beispiel eine belgische, dänische, elsässisch-französisch-alemannische, jüdisch-assimilierte und jüdisch-nichtassimilierte, kaschubische, lothringisch-französische, masurische, polnische, Sinti- und Roma- sowie eine sorbische Minderheit besaß, abgesehen von regionalen Unterschieden insgesamt.6 Heute sind es vor allem muslimische Gruppen, deren Geburtenrate in überschaubarer Zeit die anderer Gruppen übersteigen wird, hergebetene und andere Minderheiten, Remigranten, Flüchtlinge jeder Art, umgesiedelte und immigrierte Personen sowie Bürger der Europäischen Union aus deren anderen Mitgliedstaaten. Ebenso wie die tatsächliche Annahme, ist das normative Postulat ethnisch-kultureller oder bloß kultureller Homogenität nicht durchzuhalten,7 widerspricht es doch derung an die europäische Verfassung, 1995, S. 134 ff.; auch B. Schlink, Zwischen Säkularisation und Multikulturalität, in: R. Stober (Hrsg.), Recht u. Recht, Festschrift für G. Roellecke zum 70. Geburtstag, 1997, S. 301 ff.; D. Grimm, Multikulturalität und Grundrechte, in: R. Wahl u. a. (Hrsg.), Das Recht des Menschen in der Welt, Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstags v. E.-W. Böckenförde, 2002, S. 135 ff.; J. Hellermann, Multikulturalität und Grundrechte – am Beispiel der Religionsfreiheit, in: Ch. Grabenwarter u. a. (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte u. Vielfalt der Gesellschaft, 1994, S. 129 ff.; auch W. Mäder, »Multikulturelle Gesellschaft« – Konstrukt ohne Integrationspotential, ZfSH/SGB 1999, S. 3 ff.; M. Elósegui, Ein Votum für den Interkulturalismus gegen den Multikulturalismus, ARSP 87 (2001), S. 168 ff.; schließlich Th. Marauhn, Die Bewältigung interreligiöser Konflikte in multireligiösen Gesellschaften usw., in: H. Lehmann (Hrsg.), Koexistenz und Konflikt von Religionen im vereinten Europa, 2004, S. 12 ff. 5 Vgl. M. Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen – Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., 2006, S. 35 ff. u. passim; kritisch aus gegebenem Anlaß auch W. Fach, Fremdkörperkultur, in: A. Giannakopoulos/K. Maras (Hrsg.), Die TürkeiDebatte in Europa, 2005, S. 11 ff. 6 Auf Minderheitenschutz im Recht gehe ich nicht ein, vgl. aber etwa P. Hilpold, Neue Minderheiten im Völkerrecht und im Europarecht, AVR 42 (2004), S. 80 ff.; u. R. Hofmann, Menschenrechte und Schutz nationaler Minderheiten, ZaöRV 65 (2005), S. 587 ff.; u. ders., Religion u. Minderheitenschutz, in: A. Zimmermann u. a. (Hrsg.), Religion und internationales Recht, 2006, S. 157 ff.; früher staatsrechtlich J. Hellermann, Der Grundrechtsschutz der Religionsfreiheit ethnisch-kultureller Minderheiten, in: W. Heitmeyer u. a. (Hrsg.), Die bedrängte Toleranz, 1996, S. 382 ff. 7 Anders E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24, Rn. 46 ff.; dagegen H. Goer-
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sogar der integrativen Tradition eben dieses Nationalstaates unter den Symbolen republikanischer Bekenntnisse und Tugenden, wie es im französischen Falle besonders deutlich ist. Dort entscheidet das Bekenntnis zur Republik und allerdings zu ihrer Sprache, aber eben nicht eine Religion, eine Ethnie oder eine Kultur, über den Zugang als Bürger. Lassen Sie mich also über Glaubens- und Religionsfreiheit selbst sprechen und zu den Entwicklungen, die sich aus ihnen heute für die Religionsverbände ergeben – weshalb ich mir auch erlaubt habe, einen Zusatz zum Thema, das die Tagung mir zuwies, dahin zu machen. Dabei ist allerdings mit der Formulierung dieses Themas deutlich, daß Bezüge zur Fundierung von Glaubens- und Religionsfreiheit in der Würde des Menschen8 oder zum Primärgrundrecht der Gewissensfreiheit9 nicht thematisiert werden sollen. Auch lasse ich offen, wie weit diese Rechte »einen eigenen Rechtsraum« gewährleisten, was das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich feststellt,10 manchmal aber in Frage steht,11 besonders wenn man diese Formulierung in Verbindung gebracht findet mit der ausufernden Auslegung des Schutzumfanges dieser Grundrechte. Ein eher etatistisches Konzept von Grundrechten scheint mir in Gefahr, die Gewähr eines eigenen Rechtsraumes durch die Glaubens- und Religionsfreiheit nicht nur anzuzweifeln, sondern auch mit jener ausufernden Interpretation des Schutzbereiches zu identifizieren. Dies ist indes keinesfalls zwingend. Was die Fundierung angeht, so mag im übrigen ein interkultureller und -religiöser Konsens eher auf der Basis eines offenen Würdekonzepts möglich sein, als auf der Basis der Ausformung eines autonomen Gewissens, wie sich gleich zeigen wird.
II. Zur völkerrechtlichen Perspektive Zunächst also zu diesen Rechten aus völkerrechtlicher Perspektive: Nach einer Periode der konfessionellen Befriedung Europas auf der Grundlage des Westfälischen Friedens und seines mittels der Staaten stabilisierten, den christlichen Konfessionen gewährten, eingeschränkten Toleranzkonzepts,12
8 9 10 11 12
lich, »Gemeinschaft« aus der Sicht der Staatsrechtslehre, in: Theodor-Litt-Jahrbuch 3 (2003), S. 67 ff. (86 ff.). Dazu Arnulf von Scheliha mit Bezug auf das 2. Vatikan. Konzil, in diesem Band, S. 109 (114). Siehe K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, (Nachdruck 1999), Rn. 383. Vgl. BVerfGE 44, 37 (49) – Kirchenaustritt. Siehe dazu M. Borowski, Die Glaubens- u. Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 574 f. u. passim und Christoph Enders, in diesem Band S. 243 (247 ff.). Dazu B. Fassbender, Die verfassungs- und völkerrechtsgeschichtliche Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648, in: I. Erberich u. a. (Hrsg.), Frieden und Recht, 1998, S. 9 ff.; stärker staatskirchenrechtlich B. M. Kremer, Der Westfälische Frieden in der Deutung der Aufklärung, 1989, S. 37 ff.; vgl. auch Paul Warmbrunn, in diesem Band S. 13 (30 ff.).
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erzwangen die Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte auf der Grundlage der AtlantikCharta vom 14. August 194113, wie sie am 10. Dezember 1948 erfolgte.14 Sie sollte gegründet sein auf einem interkulturellen, universalen Konsens, wie er vor kurzem von katholischer Seite umfassend nachgezeichnet15 und häufiger rekonstruiert oder neukonstituiert wurde.16 Die Grundlagen dieses Konsenses sind aber so gesichert nicht, wie bis heute Studien über Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen zeigen.17 Mehr und mehr entwickelt sich indes ein Konsens im Sinne einer Bindung an solche Rechte. Und die Allgemeine Erklärung gilt allenfalls als soft law. Auch ist sie an die Staaten gerichtet und bleiben die Staaten die Garanten des Rechts, darunter nun auch der Menschenrechte. Vor nicht allzu langer Zeit sind im übrigen von Hermann Weber die Stadien der Entwicklung des Schutzes der Menschenrechte im hier einschlägigen Bereich nachgezeichnet worden.18 Auch deshalb sehe ich mich frei, nur im hier erforderlichen Rahmen die Stationen der Entwicklung anzusprechen. Glaubens- und Religionsfreiheit sind in der Allgemeinen Erklärung von 1948 in Art. 18 ausgerufen. Er lautet – in nichtamtlicher, unverbindlicher deutscher Übersetzung – in wesentlichen Teilen:
13 Vgl. zu dieser Erklärung vom 14.8.1941 den Text bei R. Geiger (Hrsg.), Internationale Verträge u. Organisationen, 1971, S. 286 f., insbes. zum Leben in Freiheit und Frieden, frei von Furcht und Mangel. 14 Resolution 217 A der Generalversammlung der UN von diesem Tage, abgedruckt in R. Schwartmann (Hrsg.), Völker- und Europarecht mit WTO-Recht, 2. Aufl. 2005. 15 Siehe M. A. Glendon, A World Made New – Eleanor Roosevelt and the Universal Declaration of Human Rights, New York, 2001. 16 Etwa A. Sharma, Are Human Rights Western? A Contribution to the Dialogue of Civilizations, 2006; ders., Hinduism and Human Rights, 2004; sowie zuvor M. P. Singh, Human Rights in the Indian Tradition etc., ZaöRV 63 (2003), S. 551 ff. sowie Y. Onuma, Towards an Intercivilizational Approach to Human Rights etc., 7 Asian Yearbook of International Law 1999, S. 21 ff.; früher auch H. Bielefeldt, Menschenrechte und Menschenrechtsverständnis im Islam, EuGRZ 1990, S. 489 ff.; jüngst ders., Facetten der islamischen Menschenrechtsdiskussion, in: Zimmermann u. a. (Hrsg.), Religion (Fn. 6), S. 83 ff.; i. ü. S. Al-Azm, Islam u. säkularer Humanismus, 2005 u. dazu m. w. N. H. Goerlich, in: comparativ, im Erscheinen; U. Steinbach, Menschenbild u. Menschenrechte in Europa und der islamischen Welt, in: Seidensticker u. a. (Hrsg.), Demokratie (Fn. 3), S. 32 ff.; umfassend E. Brems, Human Rights: Universality and Diversity, 2001; früher für China, Japan u. Korea G. Schubert (Hrsg.), Menschenrechte in Ostasien, 1999. 17 Vgl. W. Cremer, Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Staatenimmunität vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit, AVR 41 (2003), S. 137 ff. 18 Siehe H. Weber, Die Religionsfreiheit im nationalen und internationalen Verständnis, ZevKR 45 (2000), S. 109 ff.; ders., Die individuelle und kollektive Religionsfreiheit im europäischen Recht einschließlich ihres Rechtsschutzes, ZevKR 47 (2002), S. 265 ff., beide mit Auszügen aus Erklärungen u. a. Rechtstexten.
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»Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.«
Die Betonung der Freiheit des Glaubenswechsels ist im übrigen nicht unproblematisch. Die großen Schriftreligionen, von der katholischen Kirche über die jüdisch-rechtgläubige bis zur muslimischen Tradition, erlauben das in der Regel rechtlich nicht. Darüber hinaus können sie diese Freiheit doch nur hinnehmen, wenn sie den Rechtsraum des Glaubens ebenfalls von dem des weltlichen Rechts unterscheiden, ebenso wie die weltlichen Gewährleistungen dieser Freiheit dies tun. Zwar sagt auch der Koran, daß in Fragen des Glaubens Zwang fernzuhalten ist,19 aber die Apostasie, also die Abkehr vom jeweiligen Glauben durch Glaubenswechsel, ist dennoch seit langem in hohem Maße Sanktionen ausgesetzt.20 Aus Sicht des Bekenntnisses mögen daher solche Rechteerklärungen nur akzeptabel sein, wenn ihre Schranken zugleich den Bezug nicht nur auf das Gesetz, sondern auch auf die Moral, die Sitten und die öffentliche Ordnung für Eingriffe genügen lassen, also nicht nur das Gesetz und die Rechte anderer. Dann mag eine extensive Beschränkung der Freiheit des Glaubenswechsels möglich sein, zumal wenn nur das Ziel, die Rechteerklärung zu beseitigen, den Staaten verwehrt ist und allein in diesem Verbot die Grenze der Beschränkbarkeit der Rechte zu liegen scheint, wie Art. 29 Abs. 3 und 30 der Allgemeinen Erklärung von 1948 ergeben. Hinzu kommt, daß die Erklärung keinen Richter kennt, der sie verbindlich auslegen könnte, mithin insoweit ihr Rechtsstatus allen Deutungen Raum läßt. Allerdings sind die Staaten inzwischen – seit 1970 – verpflichtet, die Achtung und Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern, wie die Friendly Relations Declaration vorsieht.21 Nach 1948 hingegen wurde erst allmählich auf weltweiter Ebene ein weiterer – nun völkervertragsrechtlicher – Versuch unternommen, diesen Rechten – darunter der Glaubens- und Religionsfreiheit – Geltung und 19 Vgl. Koran, 2. Sure, 256. 20 In der westlichen Welt hat die Trennung von kirchlichem u. weltlichem Recht bewirkt, daß die Sanktionen nicht mehr einschneidend greifen, wenn moderne Lebensformen jenseits enger und homogener örtlicher Gemeinschaften möglich sind. 21 Gemeint ist – in deutscher Übersetzung – die »Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen v. 24.10.1979« (Resolution der UN-Generalversammlung Nr. 2625 ), u. d. 3. u. d. 4. Grundsatz zur Zusammenarbeit v. Staaten bzw. Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker. »Toleranz der Völker«, die sie entschlossen sind zu üben, findet sich dort in der Präambel, 2. Abs.; zur Rechtsqualität V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 26, Rn. 5 f., S. 365 f.
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Durchsetzung zu verschaffen. Zuvor kam es alsbald zu regionalen Lösungen in Europa, auf die zurückzukommen ist. Der erstgenannte, große Schritt liegt in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 196622, der im Rahmen seines ersten Fakultativprotokolls auch ein Berichtswesen des Ausschusses für Menschenrechte für die Staaten kennt, die sich diesem Verfahren unterworfen haben. Diese Konvention enthält nicht nur religiöse Freiheiten, sondern zudem einen Schutz für religiöse Minderheiten sowie eine Verpflichtung, die Aufstachelung u. a. zu religiösem Haß zu verbieten. Auch umschreibt sie die einschlägigen Freiheiten in ausdifferenzierter Weise, betont aber zusätzlich das Verbot des Zwangs in Fragen des Religionswechsels, erlaubt jedoch wiederum sehr weitgehende Einschränkungen nach Maßgaben auch der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit. Das Berichtswesen des genannten Ausschusses beruht zwar auf einem juridischen Verfahren, führt aber nicht zu Sanktionen. Unter Aspekten der Glaubens- und Religionsfreiheit ist noch anzufügen, daß auch die Assoziationsfreiheit – allerdings unter vergleichbar weit gefaßtem Schrankenvorbehalt – garantiert ist. Dies ist von Interesse, sobald es auch darum geht, ob mit der zunächst individuellen Glaubens- und Religionsfreiheit auch schon eine kollektive Glaubens- oder Religionsfreiheit gewährt ist, oder noch darüber hinaus, ob insoweit Selbstbestimmung i. S. eigener Organisationsgewalt in eigenen Angelegenheiten in allgemeiner Form für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Frage steht. Unklar ist, ob die Glaubens- und Religionsfreiheit völkerrechtlich universal gilt, ähnlich wie das jüngst in der europäischen Rechtsprechung für den gerichtlichen Rechtsschutz angenommen worden ist.23 Selbst wenn man annimmt, daß Glaubens- und Religionsfreiheit zunächst als Individualrechte zu dem erreichten und unverzichtbaren Mindeststandard des Menschenrechtsschutzes gehören, so stellen sich doch Fragen einer Zuordnung verschiedener Jurisdiktionen. Denn nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch im regionalen Völkerrecht finden sich Gewährleistungen dieser Rechte. Sie können in verschiedenen Traditionen und Kontexten recht unterschied22 BGBl. II 1973, S. 1534, in Kraft getreten am 23.3.1976, in der BRD mit Ausnahme von Art. 41 für diese am 28.3.1979 in Kraft getreten. 23 Vgl. dazu EuG, Rs. T-306/01 u. T-315/01, Yusuf u. a. gegen Rat und Kommission, U. v. 21.9.2005, EuGRZ 2005, S. 592 ff.; dazu M. Kotzur, Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft etc., EuGRZ 2006, S. 19 ff.; S. Steinbarth, Individualrechtsschutz gegen Maßnahmen der EG zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, Zeitschrift für europäische Studien (ZEuS) 9 (2006), S. 269 ff.; K. Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, JZ 2006, S. 349 ff.; u. Ch. Tietje/S. Hamelmann, Gezielte Finanzsanktionen der Vereinten Nationen im Spannungsverhältnis zum Gemeinschaftsrecht u. zu Menschenrechten – EuG, BeckRS 2005, S. 70726, JuS 2006, S. 299 ff.
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lich ausgelegt werden. Daraus ergeben sich Probleme der Zuordnung, die das Völkerrecht als Regimekollisionen versteht und behandelt. Die damit verbundenen Wertungskonflikte werden teils materiell mit Hilfe von Maximen »praktischer Konkordanz« gelöst,24 teils prozedural angegangen als Fragen der Bindung an das Rechtsregime einer Jurisdiktion, die diesen Rechtskreis autoritativ und authentisch interpretiert.
III. Regionales Völkerrecht in Europa Aus schon europäischer Sicht ist hingegen das für uns relevante regionale Völkerrecht zu würdigen, insbesondere die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK), die seit 2002 neu gefaßt ist.25 Hier bietet Art. 9 EMRK den entsprechenden Schutz, wiederum in ähnlicher Weise, auch hier beschränkbar aus Gründen u. a. der öffentlichen Ordnung, der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Er lautet in – nichtamtlicher – deutscher Fassung: »(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.«
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, den der Europarat in Straßburg eingerichtet hat, ist heute auf eine einschlägige Individualbeschwerde hin befugt, Verstöße gegen diese Freiheiten rechtsförmlich festzustellen; er kann Schadenersatz gewähren und Bußen verhängen. Er kann allerdings weder Rechtsakte der Konventionsstaaten aufheben, noch kann er diese zum Erlaß von Hoheitsakten verpflichten. Allerdings ist sein Gewicht 24 Siehe dazu A. Fischer-Lescano/G. Teubner, Regimekollisionen, 2006, S. 108 unter Bezug auf Hesse, Verfassungsrecht (Fn. 9), Rn. 72, S. 28; zum Gewicht der Menschenrechte heute B. Fassbender, Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls, EuGRZ 2003, S. 1 ff. 25 Vgl. Fassung v. 17.5.2002 (BGBl. II S. 1054), in Kraft seit dem 3.9.1953; dazu z. B. N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- u. Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK, 1990, und K. Sahlfeld, Aspekte der Religionsfreiheit, 2004.
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um so mehr gewachsen, je höher in der Europäischen Gemeinschaft und nun in der Europäischen Union die besagten Grundfreiheiten und Menschenrechte – heute im Sinne von Art. 6 Abs. 2 EUV26 – geachtet werden, worauf zurückzukommen ist. Auch in der EMRK findet sich eine eigenständige Gewährleistung der Assoziationsfreiheit. Dennoch hat der Gerichtshof nicht nur die kollektive Religionsfreiheit anerkannt,27 sondern inzwischen auch die Selbstbestimmung religiöser Vereinigungen unter dem Regime der Religionsfreiheit in einem bulgarischen und einem moldawischen Ausgangsfall28 sichergestellt. Damit erreicht diese Rechtsprechung eine Schwelle, die so genannte staatskirchenrechtliche Strukturen von solchen der bloß individuellen Freiheit und kollektiven Formen der Ausübung trennt. »Staatskirchenrecht« meint dabei jenes Rechtsregime, das das Verhältnis von Staat und »Religionsgesellschaften« regelt und dabei historisch die etablierten größeren Formationen privilegiert und diese Privilegierung aus Rechts- und Verfassungstradition sowie Völker- und Vertragsrecht rechtfertigt. Die Schwelle findet man ergänzt, betrachtet man spezifisch europarechtliche Einwirkungen in den Bereich der einschlägigen Freiheiten näher. Diese Einwirkungen machen nicht mehr Halt vor dem Rechtsraum der Staaten wie das regionale Völkerrecht der EMRK, sie werden vielmehr vorangebracht durch den Anwendungsvorrang des europäischen Unions- und in jedem Falle des europäischen Gemeinschaftsrechts. Es besteht zwar noch Konsens, daß es kein europäisches Staatskirchenrecht in dem Sinne geben kann, daß die unterschiedlichen Gestaltungen der Mitgliedstaaten vereinheitlicht oder auch nur harmonisiert werden könnten. Aber es finden sich verschiedene Rechtsbereiche, in denen dieses in Anwendungsvorrang erlassene Recht nationales Recht zurückdrängt, das zugunsten der Kirchen besteht und ihnen Raum läßt, eigene Gestaltungen zu wählen. Dies gilt sicher in Fragen des Arbeits-, des Subventionsrechts und des Schutzes gegen Diskriminierung. Frühere Befürchtungen, das System der Kirchensteuer und damit verbundener, datenschutzrechtlicher Privilegierungen der historischen
26 Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992 (BGBl. I S. 1251), zuletzt geändert durch Art. 12 EU-Beitrittsakte 2003 v. 16.4.2003 (ABl. Nr. 236 S. 33), BGBl. II S. 1408. 27 Zur Entwicklung H. de Wall, in: A. v. Campenhausen/ders., Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 78 (79) und S. 364 (365); für die Freiheit des Glaubenswechsels und der Glaubenswerbung W. Fiedler, Staat und Religion, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 59 (2000), S. 199 (211 f.). 28 EGMR, Rs. 30985/96, Hasan und Chaush v. Bulgarien, U. v. 26.10.2000, Rn. 62; Rs. 45701/99, Metropolitan Church of Bessarabia v. Moldovia, U. v. 13.12.2001, Rn. 105.
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Großkirchen seien in Deutschland gefährdet, haben sich hingegen nicht bestätigt. Im regionalen Völkerrecht der EMRK ist der verbleibende Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten von Interesse. Das Rechtsregime der Rechte des Art. 9 EMRK – so wie es in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg zum Ausdruck kommt – sieht dieses Gericht indes zugleich als gelockert an durch einen »Beurteilungsspielraum« (margin of appreciation), der dem jeweiligen Konventionsstaat gerade im Bereich dieser Rechte Gestaltungsmöglichkeiten beläßt. Dabei erweist sich, daß die jeweilige rechtliche Zuordnung von Freiheit und Schranke im nationalen Kontext des Konventionsstaates den rechtlichen Zuschnitt der Toleranz bestimmt – unbeschadet des Schutzes vor Diskriminierung gemäß Art. 14 EMRK.29 Das hat insbesondere Bedeutung für Fragen der Reichweite möglicher Beschränkungen auf der Basis der öffentlichen Ordnung und der sittlichen Traditionen der jeweiligen Gesellschaft und ihres nationalen Rechts. Daher können auch künstlerische Darstellungen, Karikaturen und andere Formen menschlicher Äußerungen, die durch Art. 10 Abs. 1 EMRK geschützt sind, Beschränkungen unterschiedlicher Art in verschiedenen Staaten ausgesetzt sein.30 Entsprechend ist eine Regelung solcher Beschränkungen auch nach Maßgabe einer etwa eingetretenen Störung des öffentlichen Friedens möglich, was Konnotationen der öffentlichen Sicherheit mit ins Spiel bringt und in der Praxis auch die soziale Entwicklung einbezieht. Denn die Reaktionen auf religionskritische oder gar blasphemische Dar29 Zusammenfassend jetzt EGMR (Große Kammer), Urt. v. 10.11.2005, Rs. 44774/98 – Sahin v. Türkei –, NVwZ 2006, S. 1389 ff. (1392 f.) und dazu A. Weber, DVBl. 2006, S. 173 f.; dies wird bestätigt durch EGMR (IV. Sektion), Urt. v. 21.02.2006, Rs. 50959/99 – Odabasi u. Koçak v. Türkei –, NVwZ 2007, S. 313 f. und EGMR (II. Sektion), Urt. v. 02.05.2006, Rs. 50692/99 – Aydin Tatlav v. Türkei –, NVwZ 2007, S. 314 ff.; i. ü. aus der Lit. E. Brems, The Margin of Appreciation Doctrine in the Case-Law of the European Court of Human Rights, ZaöRV 56 (1996), S. 240 ff.; vgl. früher EGMR, Urt. v. 15.2.2001, Rs. 42393/98, Dahlab v. Switzerland, NJW 2001, S. 2871 ff. (2872 f.); dazu H. Goerlich, Religionspolitische Distanz und religiöse Vielfalt unter dem Regime des Art. 9 EMRK, NJW 2001, S. 2862 f. zum Kopftuch der Lehrerin; U. Prepeluh, Die Entwicklung der Margin of Appreciation-Doktrin im Hinblick auf die Pressefreiheit, ZaöRV 61 (2001), S. 771 ff.; krit. H. Ch. Yourow, The Margin of Appreciation Doctrine in the Dynamics of the Strasbourg Jurisprudence and the Construction of Europe, Zeitschrift für europäische Studien (ZEuS) 1 (1998), S. 233 ff. 30 Siehe dazu die Sache EGMR, Rs. 11/1993/406/485, Otto Preminger-Institut v. Austria, Urt. v. 20.9.1994, ÖJZ 50 (1995), S. 154 ff.; dazu Ch. Grabenwarter, Filmkunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Meinungsäußerung und Religionsfreiheit, ZaöRV 55 (1995), S. 128 ff.; die Rechtsprechung bestätigt in EGMR, Urt. v. 25.11.1996, Rs. 19/1995/525/611, Wingrave v. U. K., ÖJZ 1997, S. 714 ff.
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stellungen können in derselben Gesellschaft im Laufe ihrer Veränderung durchaus unterschiedlich ausfallen. Nichts anderes gilt im übrigen in der »Kopftuchdebatte«: Auch hier besteht ein Gestaltungsspielraum für die Konventionsstaaten, unter den verschiedenen Möglichkeiten zu wählen und eine Option durchzuführen. Strikt verbindlich wirkt Art. 9 Abs. 1 EMRK hingegen offensichtlich, wenn es um die individuelle Glaubens- und Bekenntnisfreiheit im unmittelbaren Wortsinne eines Bekenntnisses, nicht nur einer Symbolik, geht.31 Was den auch zwischenstaatlichen Status der Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften betrifft, ist ergänzend schon hier auf eine auch völkerrechtlich relevante Protokoll-Erklärung zu einem der Änderungsverträge zum Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hinzuweisen. Hinzugetreten ist nämlich immerhin mit dem Vertrag von Amsterdam – wenn zunächst auch rechtlich nicht verbindlich – eine Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften, die diese vor Beeinträchtigungen schützen soll und den genannten Status nach nationalem Recht achtet.32 Diese Erklärung hat in der Praxis durch ständige Übung rechtlich bindende Wirkung erlangt und findet nun eine weitere Konkretisierung im europäischen Verfassungsvertrag vom 29. Oktober 2004,33 der gemäß Art. I-52 Abs. 3 die Union zu einem kontinuierlichen, gegenüber dem mit anderen Verbänden und der Zivilgesellschaft – wie Art. I-47 Abs. 2 dieses Vertrages zeigt – selbständigen, offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften verpflichtet. Auch wenn dieser Vertrag so nicht in Kraft treten sollte, so hat er doch für die genannte Praxis Wirkung.34 Die beiden Erklärungen mögen zunächst nur im Interesse der Stabilisierung eines Bestandsschutz gewährenden Verbandseinflusses gefaßt gewesen sein. Sie haben aber eine qualitativ modifizierende Wirkung schließlich auch für das Recht. Diese Erklärung und die Fassung, die sie im europäischen Verfassungsvertrag gefunden hat, signalisiert unter Aspekten der Nichtdiskriminierung allerdings etwas anderes: nämlich eine unzweifel31 Vgl. EGMR, Urt. v. 18.2.1999, Rs. 24645/94, Buscarini v. San Marino, EuGRZ 1999, S. 213 ff. zur Verpflichtung gewählter Parlamentarier, vor Mandatsantritt einen Eid auf das Evangelium abzulegen; dazu H. Goerlich, Der Gottesbezug in Verfassungen, in: I. U. Dalferth (Hrsg.), Verfassung ohne Gottesbezug, 2004, S. 9 (26). 32 Siehe Vertrag v. Amsterdam i. d. F. v. 2.10.1997 (BGBl. II 1998, S. 387, 454). 33 BR-Drs. 983/04 v. 17.12.2004, S. 9 ff., noch nicht in Kraft. 34 In der Tat nennt dieser Vertrag ähnlich der Friendly Relations Declaration (Fn. 21) in Art. I-2 S. 2 unter den sogenannten Werten der Union »Toleranz«, allerdings tritt dies gegenüber rechtsförmigen Bindungen zurück – und zu Werten überhaupt H. Goerlich, Menschenrechte und Verfassungen zwischen Aufklärung und Fundamentalismus, JöR 55 (2007), S. 73 ff., passim.
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hafte Tendenz des europäischen Rechts, Diskriminierungen des nationalen Rechts im eigenen Bereich nicht aufzugreifen. Denn hier werden Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften rechtlich vollkommen gleich behandelt. Von Interesse ist nun, ob das nationale Recht selbst auf diesen Weg geraten ist – sei es zu Recht oder zu Unrecht – sowie, ob dies einen Wandel des Rechts zum Ausdruck bringt, der mit dem Wandel der Gesellschaft irreversibel einhergeht.
IV. Geltendes Unions- und Gemeinschaftsrecht in Europa Das geltende Unionsrecht kennt den Unionsbürger gemäß Art. 17 des EGVertrages seit den Verträgen von Maastricht. Die Unionsbürgerschaft führt dazu, die Union als Bund zu verstehen, der nicht ohne weiteres gelöst werden kann. Der Status des Unionsbürgers hebt ihn hervor, auch gegenüber Gebietsansässigen mit gesichertem Aufenthaltsstatus, die Menschenrechte beanspruchen.35 Was die Multikulturalität angeht, so sind die in Illegalität lebenden Gebietsansässigen in der Gemeinschaft ein wachsender, nicht mehr auszublendender Faktor, der teils auch mit legalen, erheblichen Minderheiten verflochten ist. Dominant sind hier beispielsweise in Deutschland die türkische Minderheit, in Frankreich Algerier und Chinesen, in Großbritannien Inder und in Spanien Marokkaner. Ihr Status hat auch zu eingehenden politikwissenschaftlichen Analysen geführt.36 Die Europäische Union wird also auch ihr Konzept des europäischen Unionsbürgers angesichts dieser Realitäten reflektieren müssen. Das soll hier aber in ähnlicher Weise dahinstehen, wie eingangs der gefährliche Traum des homogenen Nationalstaats, der zurückzuweisen ist. Die Stellung der Europäischen Union gegenüber kulturellen Phänomenen ist nicht nur aus der Perspektive der Kirchen,37 sondern auch aus der der jeweiligen nationalen Kultur überhaupt untersucht worden.38 Neben der
35 Ch. Schönberger, Unionsbürger – Europas föderales Bürgerrecht in vergleichender Sicht, 2005, S. 272 ff.; auch ders., Die Europäische Union als Bund, AöR 129 (2004), S. 81 ff.; vgl. auch zu den Unionsbürgerrechten St. Kadelbach, in: D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, § 21, Rn. 10 ff. 36 Vgl. die Perspektive »Rekolonialisierung der Einwanderung«, É. Balibar, Sind wir Bürger Europas?, (2001), 2006, S. 83 ff.; auch die historische Analyse etwa bei D. Willoweit, Vielvölkerstaat Europa, FAZ Nr. 156 v. 8.7.2006, S. 7. 37 Dazu zuletzt eingehend St. Mückl, Europäisches Staatskirchenrecht, 2005, S. 409 ff. 38 Vgl. dazu M. Nettesheim, Das Kulturverfassungsrecht der Europäischen Union, JZ 2002, S. 157 ff.; Th. v. Danwitz, Die Kultur in der Verfassungsordnung der Europäischen Union, NJW 2005, S. 529 ff.; M. Kotzur, Kultur etc., in: R. Schulze/M. Zuleeg (Hrsg.), Europarecht,
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zunehmenden Akzeptanz von Kirchen und Weltanschauungsverbänden als Gesprächspartnern in Brüssel entwickelte sich schon lange eine ungeschriebene Tradition der Geltung von Glaubens- und Religionsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht. Hinzu kommt, daß heute die europäischen Verträge die nationale Identität weithin respektieren, wie etwa Art. 6 Abs. 3 EUV zeigt. Dies hat gewiß auch Bezüge zur kulturellen und religiösen Tradition eines Mitgliedstaates und muß dazu führen, daß die Spielräume, die etwa Art. 9 EMRK läßt, im Unionsrecht nicht anders gewährleistet sein können. Denn Art. 6 Abs. 2 EUV gewährleistet die Achtung dieser Konvention und Art. 53 der feierlich erklärten Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 200039 sichert das Schutzniveau dieser Konvention. Im übrigen gilt im Primärrecht der Europäischen Union das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Satz 1 EGV. Es fehlte eine eigene kulturelle ebenso wie eine religionsrechtliche Kompetenz. Art. 151 des EGV bietet nur eine sehr eingeschränkte Befugnis zur Leistung eines Beitrages zur Förderung der nationalen Kulturen. Des weiteren gilt das Subsidiaritätsprinzip gemäß Art. 2 Satz 2 EUV in Verbindung mit Art. 5 Satz 2 EGV. Allerdings nehmen Diskriminierungsverbote auf der Grundlage von Art. 13 EGV auch den kirchlichen Raum und weltanschauliche Gemeinschaften nicht aus. Zudem sind gewisse Maßstäbe durch die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit, das europäische Wettbewerbsrecht und dahinter stehende Diskriminierungsverbote gesetzt, die auch die Praxis kirchlicher Aktivitäten erreichen.40 Letztlich sind diese Maßstäbe alle abbildbar in der Umschreibung des Verhältnisses zwischen den Marktfreiheiten der Gemeinschaft, des Binnenmarktes und nun der Union einerseits und den gemeinschafts- und unionsrechtlich gewährleisteten, noch ungeschriebenen Grundrechten, die in der Regel Menschenrechte sind, andererseits. Was die Glaubens- und die Religionsfreiheit angeht, so sind diese Rechte zwar bisher nicht ausdrücklich Gegenstand der Rechtsprechung Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2006, § 38, S. 1651 ff.; u. m. w. N. A. Hesse, Kultur im europäischen Gemeinschaftsrecht und in der europäischen Verfassung, in: K. Stern (Hrsg.), Die Bedeutung des Europäischen Rechts für den nationalen Rundfunk, 2007. 39 ABl. Nr. C 364/I v. 18.12.2000. 40 Dazu die Übersicht von H. de Wall in: v. Campenhausen/ders., Staatskirchenrecht (Fn. 27), S. 357 ff., mit Nachweis der Lehrbuch- und Dissertationsliteratur; i. ü. hat die Amsterdamer Erklärung zu den Kirchen in den Mitgliedstaaten rechtliche Bedeutung für die Auslegung von europarechtlichen Diskriminierungsverboten, vgl. Ch. Link, Antidiskriminierung und kirchliches Arbeitsrecht, ZevKR 50 (2005), S. 403 ff.; G. Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, 2006, S. 215 (bes. 228 ff., 232 f.), auch zu Art. 141 EGV bzgl. des gleichen Entgelts; am Beispiel der kath. Priesterin Ch. Waldhoff, Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, JZ 2003, S. 978 ff.
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geworden,41 sie entsprechen aber sachlich den Rechten des Art. 9 der EMRK; und diese Rechtsebene des EU-Rechts kollidiert u. U. mit dem Regime der Marktfreiheiten, die hier zugleich Grenzen für die Ausübung dieser Rechte enthalten. Das ist deutlich etwa für das Verhältnis zwischen der Vertragsfreiheit und der Arbeitnehmerfreizügigkeit42 sowie für das Verhältnis zwischen Versammlungsfreiheit und freiem Warenverkehr;43 nichts anderes kann aber für die Glaubens- und die Religionsfreiheit gelten. Daher haben sich die Modalitäten der Ausübung dieser Rechte diesen Gegebenheiten anzupassen, was in aller Regel deren Kern nicht berühren wird.44 Insofern ist der Stand der Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften nicht wesentlich beeinträchtigt. Im Gegenteil, ihr kommunikativer und partizipatorischer Status in der Europäischen Union ist ein Gewinn, insbesondere wenn der Verfassungsvertrag in Kraft tritt oder seine einschlägige Klausel auf andere Weise die Praxis prägt. Auch ist nicht zu befürchten, daß laizistische Konzepte aus dem »Staatskirchenrecht« einiger weniger Mitgliedstaaten auf die Union übergreifen werden.
V. Die verfassungsrechtliche Perspektive Auch verfassungsrechtlich betrachtet kann hier nur ein Ausschnitt einer allerdings signifikanten Entwicklung und eines Wandels, der heute interessiert, geboten sein. Nach frühen Warnungen, die zunächst verhallten, heute aber in aller Munde sind, wonach der Status freier Kirchen im demokratischen Gemeinwesen ein anderer sein müsse45 als der bisherige volkskirchliche Rahmen es noch voraussetzte, sind nun gerade in der Praxis der Rechtsprechung die Zeichen eines noch weitergehenden Wandels unverkennbar.
41 Es liegen aber Entscheidungen mit Religions- oder Weltanschauungsbezug vor, vgl. F. Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Grundrechte und -freiheiten (Fn. 35), Rn. 47 (50), mit Anm. 65 ff. 42 Siehe EuGH, Slg. 1995, I-4921 – C-415/93 – Fall Bosman. 43 Vgl. EuGH, Slg. 2003, I-5659 – C-112/00 – Fall Schmidberger; dazu jüngst V. Skouris, Das Verhältnis von Grundfreiheiten u. Grundrechten im europäischen Gemeinschaftsrecht, DÖV 2006, S. 89 (94 f.). 44 Ch. Link, Staat und Kirche im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses, ZevKR 42 (1997), S. 130 ff.; vgl. i. ü. auch St. Mückl, Religions- u. Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002. 45 Siehe K. Hesse, Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen (1964/65), in: ders., Ausgewählte Schriften, hrsg. v. P. Häberle u. A. Hollerbach, 1984, S. 452 ff.
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1. Der nationale Textbefund An erster Stelle ist festzuhalten, daß die Texte des deutschen Grundgesetzes (GG) zur Glaubens- und Religionsfreiheit im weiten Sinne sehr umfassend gehalten sind. Sie reichen von Art. 4 Abs. 1 und 2 bis zu Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 und Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG; auch enthält dieses Grundgesetz aufgrund von Art. 140 GG als »vollgültiges Verfassungsrecht« die Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung (WRV), deren Schrankenformulierung zur Religionsfreiheit gemäß Art. 135 WRV – ein Gesetzesvorbehalt unter Bezug auf die allgemeinen Staatsgesetze – nicht übernommen wurde. Insoweit sollte es offenbar mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, die keinerlei Gesetzesvorbehalt enthalten, sein Bewenden haben. Die anschließende Formulierung in Gestalt des Art. 136 Abs. 1 WRV wurde indes in das Grundgesetz inkorporiert. Diese Bestimmung spricht an sich Diskriminierungen an. Als Gesetzesvorbehalt der Religionsfreiheit verstanden, soll sie allerdings nach einer älteren Aussage des Bundesverfassungsgerichts von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nach Bedeutung und innerem Gewicht »überlagert« sein.46 Die »Überlagerung« als geltungsmodifizierende Chiffre des Verfassungsrechts war bis dahin unbekannt und kann wohl Art. 136 Abs. 1 WRV nicht gerecht werden. Dessen auch sprachlich ältere Formulierung ist diejenige der Paulskirche, auf die gestern Jörg Berkemann Bezug genommen hat.47 Danach werden nämlich auch gemäß Art. 136 Abs. 1 WRV »die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt«. Zweifelhaft bleibt allerdings, ob das Diskriminierungsverbot dieser Vorschrift im Grundgesetz wirklich zum Gesetzesvorbehalt mutieren sollte. Daneben stehen für kollektive und insbesondere administrative Formen der Ausübung »die Schranken des für alle geltenden Gesetzes« gemäß Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV, eine Formulierung, die an die allgemeinen Gesetze des Art. 5 Abs. 2 GG als Schranke primär kommunikativer Freiheiten erinnert. Die Formulierungen gehen alle von der Allgemeinheit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte gemäß Art. 1 Abs. 2 GG aus. Raum für bloße Toleranz besteht nicht.48
46 Vgl. BVerfGE 33, 23 (30 f.). 47 Jörg Berkemann, in diesem Band S. 71 (95 ff.). 48 Auch das Kriegsdienstverweigerungsrecht aus Gewissensgründen des Art. 4 Abs. 3 GG dürfte nicht als bloße Verrechtlichung einer Duldung angesehen werden; anders wohl Christoph Enders, in diesem Band S. 243 (255 ff., insb. 258 mit Fn. 51).
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2. Entwicklungsstufen der Rechtsprechung Nach einer ersten Phase der Rechtsprechung, die den Schutzbereich der Art. 4 Abs. 1 und 2 GG aus verschiedenen Gründen sehr stark erweitert hat, stößt man heute auf eine jüngere Sicht, die die Beschränkbarkeit dieser Freiheiten betont und insbesondere Art. 136 Abs. 1 WRV als Gesetzesvorbehalt der Religionsfreiheit – genauer: der Ausübung dieser Freiheit – gleichberechtigt neben Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sieht.49 Andere wollen unverändert dem nicht folgen und halten an der bisher entwickelten Dogmatik fest,50 wonach Art. 136 Abs. 1 WRV nur ein Diskriminierungsverbot, aber keinen Gesetzesvorbehalt enthält, zumal Art. 140 GG – wie schon angedeutet – Art. 135 WRV nicht in das Grundgesetz übernimmt, der ja einen Gesetzesvorbehalt für die Religionsfreiheit statuierte. Nach dieser – älteren – Auffassung, deren Ergebnisse im übrigen kaum anders ausfallen dürften, kann nur kollidierendes Verfassungsrecht die Glaubens- und Religionsfreiheit beschränken. Die Gerichte sind der neueren Auffassung bisher nur in wenigen Fällen gefolgt.51 Dennoch rücken manche Entscheidungen implizit von der älteren Linie ab. Das setzt indes vielleicht schon stärker bei der Frage ein, ob der Schutzbereich von Glaubens- und Religionsfreiheit heute noch so wie bisher gesehen werden kann.52 Hier hatte ja in der ersten Phase nicht nur die prozessuale Frage, ob den Kirchen die Verfassungsbeschwerde in Selbstverwaltungsangelegenheiten zur Verfügung steht,53 eine Rolle gespielt, sondern auch die positive Religionsfreiheit als Summe des Anspruchs der Kirchen auf Präsenz im öffentlichen Raum Gewicht. Inzwischen ist die Rechtsprechung zudem mit zahlreichen Fragen konfrontiert, die mit der Fragmentierung der Gesellschaft in religiöser Hinsicht zu tun haben. Es geht nicht mehr nur um Fragen derart, ob beispielsweise das muslimische Morgengebet dem Angelusläuten gleichzustellen ist oder einer Nutzungsuntersagung zum Opfer fallen muß54 oder ob eine Privilegierung der Muslime als Käufer eines Grundstücks, auf dem sie eine Moschee errichten wollen, 49 Siehe St. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 224 (m. w. N. S. 225, Fn. 6); auch so Ch. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, 5. Aufl. 2005, Art. 4, Rn. 87 ff.; zum Überblick St. Korioth, Die Religionsfreiheit unter dem Grundgesetz, in: G. Manssen u. a. (Hrsg.), Religionsfreiheit in Mittel- u. Osteuropa zwischen Tradition u. Europäisierung, 2006, S. 23 ff. 50 Etwa M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 4, Rn. 112 ff. 51 Vgl. etwa zum Schächten BVerwGE 112, 227 (231). 52 Das zeigt etwa die Kruzifix-Entscheidung BVerfGE 93, 1 (13 ff.). 53 Dazu K. Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, 2. Aufl., 1. Bd., 1994, § 17, S. 521 (522 ff. mit Fn. 8). 54 Vgl. BVerwG DVBl. 1992, S. 1101 ff. und NJW 1992, S. 2170 ff.
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gegenüber einem Vorkaufsrecht auf den Körperschaftsstatus, der noch fehlt, oder aber unmittelbar auf das Gemeinwohl, das heute auch den Bau einer alsdann religiös genutzten Moschee umfaßt, zu stützen ist.55
3. Terminologie, Privilegierung und Parität Es geht heute vielmehr darum, ob die Privilegierungen zugunsten der korporativ verfaßten Kirchen im Sinne einer »gestuften Parität«56 überhaupt noch zu halten sind. Das heißt, ob nicht in vielen Fragen nahezu gegen den Text der Verfassung ein egalitäres Religionsverfassungsrecht angesagt ist, das das bisherige Staatskirchenrecht in einem allmählichen, durchdachten geistigen und dann auch rechtspraktischen Prozeß der Rechtsfortbildung ablöst. Dabei gibt es noch gewisse terminologische Probleme: Zwar findet sich seit wenigen Tagen in dem etablierten Lehrbuch des Staatskirchenrechts der Untertitel »Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa«, was dort auch begründet wird.57 Die Rede von einem »Religionsverfassungsrecht« erfaßt vielleicht keineswegs alle – vor allem alle durch Regeln unterhalb des Ranges des Europarechts i. e. S. oder unterhalb einer Verfassung gestalteten – Materien, die hier einzubeziehen sind. Es ist daran zu erinnern, daß schon das »Staatskirchenrecht« sich nicht etwa »Staatskirchenverfassungsrecht« genannt hatte. Dieser holprige Begriff wäre zu eng gewesen. Daher sprechen manche jetzt im Sinne einer terminologischen, aber auch wohl sachlichen Verschiebung im Titel dieser Materien von »Religionsrecht«.58 Das würde nicht zu eng angelegt sein; es würde auch vermeiden, ein weiteres vermeintliches, »subkonstitutionelles« oder »Subverfassungsrecht«, das sich verselbständigen könnte, zu etablieren; derartige Tendenzen gab es schließlich im »Wirtschafts-« oder »Arbeitsverfassungsrecht« gewiß,59 indes vielleicht weniger im »Kulturver-
55 Siehe BVerwG DÖV 1993, S. 917 ff. und NVwZ 1994, S. 282 ff. 56 Für diese Parität siehe M. Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Staatskirchenrecht (Fn. 53), § 20, S. 589 (602). 57 Siehe v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht (Fn. 27), in nun 4. Aufl. 2006 mit dem bisherigen Haupttitel, Titelblatt und Begründung im Vorwort S. V sowie im Text S. 39 f., in Teil- sowie in Untertiteln S. 269, 338 u. am Ende S. 368 ff. – wobei in dieser Auflage erstmals H. de Wall mitwirkt. 58 Zuerst vorsichtig P. Häberle, »Staatskirchenrecht« als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff.; jetzt programmatisch schon als Lehrbuch C. D. Classen, Religionsrecht, 2006; siehe dazu meine Rezension in DÖV 2007, S. 215 f. 59 H. Krüger, Subkonstitutionelle Verfassungen, bzw. K.-H. Friauf, Unternehmenseigentum und Wirtschaftsverfassung, DÖV 1976, S. 613 ff. bzw. 624 ff., beide wohl aus Anlaß der Staatsrechtslehrertagung 1976.
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fassungsrecht«.60 Solche Verselbständigungen sind deshalb hier in Frage zu stellen, weil sie gerade wieder eine neue Privilegierung ermöglichen könnten, indem man sich gegen die allgemeinen Rechtssätze der Verfassung, im übrigen mit ihrer Hilfe, würde abschotten können. Diese Abschottung könnte auch Gleichheitssätze und Diskriminierungsverbote treffen. Daneben haben solche Privilegien eine verfassungsgeschichtlich problematische Seite, sind sie doch auch benutzt worden, um ständisch-gruppenorientierte, hierzulande vordemokratische Sozialmodelle zu retten oder zu etablieren.61 Dies ist zudem auch ein Hintergrund, der in die Zeit vor 1945 zurückreicht, in der nationalsozialistische Perversionen dieser vordemokratischen Sozialmodelle die Wirtschaft in den Krieg und insbesondere auch in den als Vernichtungskrieg angelegten Krieg in Osteuropa einpaßten, wobei die Wirtschaft dabei sicherlich oft glaubte, auch dort ihre Interessen dauerhaft realisieren zu können. Die genannten vordemokratischen Formen sind damit ebenso desavouiert worden, wie dieses Engagement überhaupt. Manches spricht mithin für die schlichte Bezeichnung »Religionsrecht«, die ohne weiteres auch die Materien umfassen kann, die bisher dem Staatskirchenrecht zugeordnet waren. Heute ist auch aus anderen Gründen ein breiterer Begriff des »Religionsrechts« plausibel. Er hat nicht zuletzt eine Basis in einer weiten Deutung der Glaubens- und Religionsfreiheit, gerade im Sinne dieser verknüpfenden Formel, die kein Pleonasmus oder »∑´n ∂∆á ∂uoin« ist. Hat doch die Rechtsprechung, gerade in Reaktion auf das vorausgegangene Unrechtsregime und seine Mißachtung aller Religion, ein breit angelegtes Verständnis von Religion und Glauben verwirklicht. Die damit verbundene weite Auslegung hat das Bundesverfassungsgericht recht früh aufgegriffen, etwa in der berühmten Entscheidung zur »Aktion Rumpelkammer«, die die Sammlungsaktivitäten karitativer Verbände voll unter den Schutz der Art. 4 Abs. 2 und 1 GG stellt, diese beiden Artikel verknüpft und damit zugleich die kirchlichen Aktivitäten insgesamt in einem einheitlich verstandenen Grundrecht ansiedelt.62 Diese Rechtsprechung, die auch zugunsten religiöser Minderheiten 60 Anders, aber nicht fern die Bündelung von Materien bei Th. Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969; deutlich auch Nettesheim, Kulturverfassungsrecht (Fn. 38); siehe auch den Titel P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaat und Kulturverfassungsrecht, 1982, wobei hier das ältere Kulturstaatskonzept von E. R. Huber eine Rolle spielt; zum Rundfunkrecht ist von R. Ricker/P. Schiwy, Rundfunkverfassungsrecht, 1997, erschienen, ein Titel, der wiederum zu viel unter das Verfassungsrecht verbringt und u. U. gerade der Kategorie der »dienenden Freiheit« der freien Berichterstattung durch Rundfunk in ihrer genuinen Offenheit zuwiderläuft. 61 Das ist einer der Hintergründe der schlichten und schlagenden Argumente in BVerfGE 50, 290 (336 ff.) – Mitbestimmung. 62 Vgl. BVerfGE 24, 236 (244 ff., 245).
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wirkte,63 hat das Gericht später auch prozessual unterfangen. Es hat nämlich Art. 140 i. V. m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV und die weiteren Bestimmungen der so genannten »Weimarer Kirchenartikel«, die das Grundgesetz enthält, unter dem Regime der Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mit der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG bewehrt, was das Grundgesetz selbst nicht vorsah und bis heute nicht vorsieht.64 Diese weite Auslegung ist nicht ohne Folgen geblieben: Sie mußte auch dazu führen, daß die betreffenden Freiheiten sich im Sinne egalitärer Freiheitsgewähr als sozusagen »gleiche Freiheiten« fortbilden, womit die ältere traditionelle, von der konservativen Kritik revolutionärer Konzepte gepflegte Vorstellung des Gegensatzes von »Freiheit« und »Gleichheit«65 zugunsten eben »gleicher Freiheit« sich verabschiedet, was auch dazu führt, daß staatskirchenrechtliche Erbhöfe zugunsten geborener oder gekorener »Religionsgesellschaften« kaum mehr zu halten sind, jedenfalls aber mehr und mehr verabschiedet werden. Diese zwar weiterhin öffentliche, also nicht im französischen Sinne laizistisch privatisierende, aber egalitäre Freiheit durchzieht mehr und mehr ganz unterschiedliche Felder der aktuellen religionsrechtlichen Rechtsprechung. Diese Rechtsprechung leistet vieles über den jeweiligen Fall hinaus. Denn ihr verdanken wir sozusagen einen verfassungspolitischen Modernisierungsschub, der angesichts der steten Diskriminierung auch sehr großer Traditionen unerläßlich ist.66 Hinzuweisen bleibt daher nunmehr auf ein anderes Phänomen, das diese Konsequenzen schon zeigt: Für eine tatsächliche Entwicklung in Richtung einer Verabschiedung eines privilegierenden Staatskirchenrechts sprechen mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungs- und des Bundesverwaltungsgerichts, wie nun zu erinnern ist.67 63 Dazu etwa BVerfGE 38, 98 (106 ff.); auch BVerfGE 83, 341 (353 ff.); erst in letzter Zeit findet man eine Modifikation, etwa zu einem Fall der strafrechtlichen Sanktion der Verweigerung der Erfüllung der Schulpflicht aus Glaubensgründen, vgl. BVerfG (Kammer) BayVBl 2006, 633 ff. = ZevKR 52 (2007), S. 100 ff., u. a. mit dem ausgreifenden Satz »die Glaubensfreiheit ist als Teil des grundrechtlichen Wertsystems dem Gebot der Toleranz zugeordnet und insbesondere auf die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Würde des Menschen bezogen, ...«, Formulierungen, die eine Inpflichtnahme zulassen u. die Ch. Möllers in der Presse als Abweichung von bisheriger Rechtsprechung gedeutet hat; nüchterner schon zu Schulpflicht u. Heimunterricht aus religiösen Gründen BVerfG NVwZ 2003, S. 1113 f.; für einen weiteren Kammerbeschluß, der »Toleranz« argumentativ beansprucht vgl. Beschl. d. BVerfG v. 15.03.2007 (Fn. 3). 64 Siehe BVerfGE 42, 312 (321 ff., 322 f.). 65 Vgl. etwa G. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967 (Nachdruck 1974), S. 88 f. 66 Das gilt besonders für den Islam, dazu die französische Analyse v. O. Roy, Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, (2004) 2006. 67 Die Veränderungen werden auch in der Literatur wahrgenommen, vgl. etwa D. Ehlers, Der Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht, in: B. Pieroth (Hrsg.), Verfassungsrecht und
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4. Prägende Beispiele der jüngeren Rechtsprechung Zunächst zeigt sich dies in der Frage der Verleihung des Körperschaftsstatus an Religionsgesellschaften gemäß Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV i. V. m. Art. 140 GG. Hier hatte das Bundesverwaltungsgericht lege artis neben den geschriebenen Voraussetzungen – ihre Verfassung, die Zahl ihrer Mitglieder sowie die Gewähr der Dauer – auch die ungeschriebene Voraussetzung einer Loyalität zum, heute demokratischen, Gemeinwesen geprüft und im Falle der Zeugen Jehovas verneint, da sie die Teilnahme an demokratischen Wahlen in Frage stellen.68 Darauf erhoben sie Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht zonte die ungeschriebenen Anforderungen deutlich herab, nämlich auf eine bloße »Rechtstreue«; dem ist das Bundesverwaltungsgericht dann gefolgt.69 Inzwischen ist der Rechtsstreit beendet und der Körperschaftsstatus verliehen. Offen ist noch, ob künftig auch an die innere Verfassung von Religionsgemeinschaften geringere Anforderungen gestellt werden, wenn sie den Körperschaftsstatus zu erlangen suchen. Für den Islam wird dies teils mit Engagement verneint, ist aber angesichts der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum islamischen Religionsunterricht, die alsbald zu berichten ist, nicht mehr auszuschließen. Dann läßt sich diese These zeigen an der zweiten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Kopftuchstreit der Lehrerinnen. Voraus ging im Ausgangsfall aus Baden-Württemberg eine erste Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die zu einem negativen Ergebnis kam.70 Die darauf erhobene Verfassungsbeschwerde führte zur Aufhebung dieser Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache mit der Maßgabe, daß ein Landesgesetz zur Regelung des Falles erforderlich sei.71 Das Landesgesetz wurde vor der erneuten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts erlassen. Es privilegierte jedenfalls christliche Kleidung in Ausübung einer staatlichen Amtsfunktion. Dieses Gesetz hatte das Bundesverwaltungsgericht in
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soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, 2002, S. 85 ff.; Walter, Religionsverfassungsrecht (Fn. 3), S. 607 ff.; mit europ. Perspektive A. Hollerbach, National Identity, the Constitutional Tradition and the Structures of Law on Religions in Germany, in: Universität Mailand, Juristenfakultät (Hrsg.), Religions in European Union Law, 1998, S. 89 ff.; auch St. Magen, Staatskirchenrecht als symbolisches Recht?, in: Lehmann (Hrsg.), Koexistenz (Fn. 4), S. 30 ff.; vgl. auch für den Hintergrund der Veränderung im Wandel zwischen Säkularisation u. Multikulturalität Schlink, Säkularisation (Fn. 4), S. 312 ff.; breiter aus kath. Sicht D. Herz/Ch. Jetzlsperger, Das Verhältnis v. Staat u. Kirche u. seine Bedeutung für die Systematik der Grundrechte, in: G. Höver (Hrsg.), Religion u. Menschenrechte, 2001, S. 73 ff. BVerwGE 105, 117 ff. BVerfGE 102, 370 ff. und nun BVerwG NVwZ 2001, S. 924 ff. Vgl. BVerwGE 116, 359 ff. Vgl. BVerfGE 108, 282 ff.
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seiner erneuten Entscheidung zugrunde zu legen. Das geschah, aber das Gericht sah sich dazu nur in der Lage nach einer verfassungskonformen Auslegung dieses Gesetzes dahin, daß Privilegierungen anderer Religionen als die der Klägerin nicht stattfinden.72 Wäre das Gericht insoweit nicht zu diesem Ergebnis gekommen, hätte es die Sache dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen müssen. Am Rande sei noch angemerkt, daß die so genannte Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgericht73 diese Entwicklung eingeleitet hat. Sie mag nicht zur Beseitigung von vielen Kruzifixen in Bayern geführt haben. Aber sie hat die dogmatische Perspektive verändert. Sie führt weg von der Tradition der christlichen Gemeinschaftsschule des deutschen Südwestens, die das Gericht hatte passieren lassen74, ebenso wie das Schulgebet,75 was heute in »multireligiösen« Schulen und Klassenverbänden undenkbar wäre, aber bei richtiger Betrachtung schon damals rechtlich nicht zu ver72 Siehe BVerwGE 121, 140 (150 ff.); konsequent nun in einem neuen Fall VG Stuttgart NVwZ 2006, 1444 ff. (vgl. auch Stuttgarter Zeitung Nr. 155 vom 8.7.2006, S. 25 mit Bild), ein Fall, der allerdings auch davon geprägt ist, daß die betroffene Lehrerin nicht ein voll verhüllendes, sondern ein den Halsbereich weitgehend sichtbar lassendes Kopftuch – die Presse spricht von einem Piratentuch, das den Hals und die Ohren frei läßt – trägt, wie es auf dem Lande bei der Arbeit üblich ist und in der Türkei eher als – zulässiger – Turban, denn als Kopftuch verstanden wird. Auch gefährdet die Kopfbedeckung offenbar nicht den Schulfrieden in der bis an die 50 % von Migrantenkindern besuchten Grundschule. Das VG Stuttgart vermeidet die Berufung des Grundsatzes »Keine Gleichheit im Unrecht« mit der Anwendung des Willkürverbots zugunsten der Klägerin angesichts der Beliebigkeit des Zugriffs auf ihre Religion, während die Kleidung Anderer trotz der verfassungskonformen Auslegung des betreffenden Landesgesetzes durch das BVerwG in Baden-Württemberg unverändert hingenommen, ja als rechtlich zulässig angesehen wird. Von Interesse auch im Sinne einer Kooperation zwischen religiösen Organisationen oder Teilgruppen ist, daß die Vorsitzende der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) das Urteil begrüßte, vgl. FAZ Nr. 156 vom 8.7.2006, S. 2. Am 15. Januar 2007 erging nun eine Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes – Az. Vf.11 – VII – 05 – zur bay. Regelung. Nach den Gründen dieser die Norm prüfenden Entscheidung steht den Verwaltungsgerichten zu, die Anwendung der Norm im Einzelfall zu prüfen, wobei das Ergebnis unterschiedlich ausfallen kann. Hingegen erscheint der Versuch, die bad.-württ. Regelung vollständig im Sinne einer Orientierung auf den Einzelfall umzudeuten, die Normziele der dortigen Regelung völlig zu verfehlen, so aber J. Bader, Gleichbehandlung von Kopftuch und Nonnenhabit?, NVwZ 2006, S. 1333 ff. Dagegen hatte das BVerwG die bad.-württ. Normen nur ergänzt, BVerwGE 121, 140 (150); für den Hintergrund des Einflusses des europ. Rechts im Sinne eines sehr viel strikteren Gleichheitssatzes vgl. W. Kahl, Neuere Entwicklungslinien der Grundrechtsdogmatik, AöR 131 (2006), S. 579 ff. (bes. 589 ff. u. passim) sowie meinen Beitrag, Soziale Integration als Aufgabe des Rechts – am Beispiel der Rechtsprechung auf dem Weg zu einem Religionsrecht in gleicher öffentlicher Freiheit, in der Freundesgabe f. Friedrich Müller, im Erscheinen. 73 BVerfGE 93, 1 ff. 74 BVerfGE 41, 29 ff. 75 BVerfGE 52, 223 ff.
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treten war, weil es die Funktion des Minderheitenschutzes durch Grundrechte, also insbesondere auch die Glaubens- und Religionsfreiheit des Einzelnen, nicht berücksichtigte und für den betroffenen Schüler, der nicht teilnehmen wollte, keine vertretbare Verhaltensoption bereithielt.76 Daß die heutige Wahrnehmung des Rechts allerdings den Landesverfassungen in ihren weltanschaulich-religiösen Bindungen und ihren Erziehungszielen nicht mehr genügen kann, das ist eine fatale Folge des Satzes in Art. 31 GG, wonach Bundesrecht Landesrecht bricht. Die unitarisierende Wirkung der Grundrechte und der ihnen dienenden Rechtsprechung ist unvermeidlich. Da aber der vielschichtige soziale Wandel zweifellos an den Ländern nicht vorbeigegangen ist, sondern eben in ihnen stattfindet, ist diese Wirkung der Judikatur auch nicht zu beklagen.77 Allerdings hat diese Entwicklung nicht nur das Landesrecht in Form seiner Gesetze, sondern auch die Erziehungsziele und religiösen Anbindungen in den Landesverfassungen weithin aus dem Feld geschlagen.78 Die Entwicklung ist ebenfalls nicht mehr anzuhalten. Sie erübrigt auch eine nähere Darstellung solcher Ziele, obwohl sie geltendes Recht sind. Insofern führt die Entwicklung zu einer normativen Minderung der Bedeutung wesentlicher Teile des Verfassungsrechts. Und sie läßt es nicht mehr als tunlich erscheinen, diesen Regelungen des Landesrechts einen eigenen Abschnitt zu widmen. Eine dritte, hier näher zu nennende Entscheidung ist schließlich diejenige des Bundesverwaltungsgerichts, die es muslimischen Dachverbänden in Nordrhein-Westfalen ermöglicht, ihren Anspruch gemäß Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG auf Gestaltung eigenen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in öffentlichen Schulen durchzusetzen.79 Das Verfahren ist nicht abgeschlossen, die Sache ist zurückverwiesen worden. Die Entscheidung erfuhr ein positives Echo, wird manchmal aber auch zurückhaltend aufgenom-
76 Auffällig ist, daß ein Gutachten eines Richters, der an der Entscheidung aus dem Jahre 1974 nicht mitwirkte, nach der Entscheidung im Jahre 1979/1980 veröffentlicht wurde, vgl. K. Hesse, Zur Frage der Vereinbarkeit eines Schulgebets an öffentlichen Volksschulen mit Art. 4 I und II GG, ZevKR 25 (1980), S. 239 ff. – wobei ein Perspektivenwechsel eben dieses Richters als Wissenschaftler nahe liegt, vgl. H. Goerlich, Nachruf auf Konrad Hesse, SächsVBl. 2005, S. 223 (224). 77 Daher meine rigide Position in H. Goerlich, Krieg dem Kreuz in der Schule?, NVwZ 1995, S. 1184 ff., der mehrere, im Ruhestand befindliche Richter des Gerichts in diskreter Weise mehr als ihr persönliches Verständnis entgegengebracht haben. 78 Zu Erziehungszielen und solchen Anbindungen etwa P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 758 ff.; M. Bothe, Erziehungsauftrag u. Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 54 (1995), S. 7 (22 ff., 29 ff.). 79 Siehe BVerwGE 123, 49; voraus ging die Entscheidung desselben Senats zum Anspruch der Islamischen Föderation in Berlin, BVerwGE 110, 326; dazu R. Poscher, NJ 2000, S. 439 f.
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men.80 Diese Rechtsprechung läßt zu, daß die Dachverbände, die den Religionsunterricht verantworten, ihrerseits wiederum weitere Verbände derselben großen Religion zu Mitgliedern haben, wenn die mitgliedschaftlichen Elemente der Verbandsstruktur auf andere Weise gesichert und gestärkt werden.81 Undeutlich ist noch, wo die Ausbildung der Religionslehrer stattfindet. Hier wäre m. E. eine Ansiedlung an der staatlichen Universität ebenso wünschenswert wie im Falle anderer Religionen. Die mäßigende Wirkung eines wissenschaftlichen Umfeldes war auch früher ein Instrument der Kooperation von Glauben und Wissen, von Staat und Religion und konkreter wissenschaftlicher Disziplinen mit Glaubenstradition der jeweiligen Religion. Nicht von ungefähr hat das 19. Jahrhundert das Triennium, den Grundsatz der dreijährigen akademischen Ausbildung der Geistlichen an einer wissenschaftlichen Hochschule gebracht, das nicht an erster Stelle auf die Einübung eines Bekenntnisses ausgerichtet ist.82 Wenn es um Toleranz geht, so ist veranlaßt, darauf hinzuweisen. Denn die gebotene Mäßigung einer religiösen Unterweisung in einer staatlichen Schule vermittelt die wissenschaftliche Perspektive der Theologie allemal. Von daher ist im übrigen auch die Frage nicht ohne Interesse, ob der Staat in Gestalt der Kultusbürokratie befugt sein kann, die Lehrpläne und -programme eines obligatorischen Ethikunterrichts als ordentliches Lehrfach in staatlichen Schulen aufzustellen, und ob hier nicht gesellschaftliche Einflüsse – ähnlich etwa denjenigen in Rundfunkanstalten, wie sie dort gesellschaft-
80 Vgl. positiv E. V. Towfigh, Religionsunterricht an staatlichen Schulen, NWVBl. 2006, S. 131 ff.; zuvor M. Stock, Islamunterricht an öffentlichen Schulen in Nordrhein-Westfalen, NWVBl. 2005, S. 285 ff.; sehr zurückhaltend M. Kloepfer, Der Islam in Deutschland als Verfassungsfrage, DÖV 2006, S. 45 (51). 81 Siehe BVerwGE 123, 49. 82 Vgl. zum Triennium E.-L. Solte, Die Ämterhoheit der Kirchen, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Staatskirchenrecht (Fn. 53), § 18, S. 561 (565); die Kehrseite enthalten oft Verträge zwischen den Ländern und früheren Landeskirchen, wonach diesen Kirchen die vertraglich gewährte Befugnis zusteht, einen von der Fakultät vorgeschlagenen Kandidaten für die Berufung auf einen Lehrstuhl zurückzuweisen, teils mit der Folge, daß das Land nicht nur die Gründe dafür erwägen muß, sondern diesen nicht berufen darf, so etwa Art. 4 Abs. 2 des Güstrower Vertrages zwischen Mecklenburg-Vorpommern u. den ev. Landeskirchen v. 20.1.1994 (GVBl. S. 560). Dies kann zur Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit führen, wie das Protokoll zu Artikel 3 Abs. 4 letzter Satz des Ev. Kirchenvertrages Berlin vom 20.2.2006 ausdrücklich sagt. Ähnlich liegt es, wenn ein Universitätsprediger ohne Beteiligung der Universität bestellt wird oder – wie in Sachsen – Studiengänge sowie insbes. Promotions- und Habilitationsordnungen insgesamt, nicht nur unter spezifischen Aspekten, der Genehmigung durch die Landeskirchen bedürfen; krit. im Vorfeld H. Goerlich – unveröffentlichte – Stellungnahme zu Art. 3 u. Art. 5 des Referentenentwurfs eines Vertrages zwischen dem Freistaat Sachsen u. den Ev. Landeskirchen im Freistaat Sachsen – Stand 8.10.1993; zust. Ch. Degenhart, in: Ch. Degenhart/C. Meißner (Hrsg.), Handbuch der Sächsischen Verfassung, § 9, Rn. 25.
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liche Gruppen, die Wissenschaft, die Verbände und dann wohl auch hier m. E. die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Rundfunkrat bei Schaffung von Programmgrundsätzen und Ähnlichem ausüben – zwingend zu fordern oder sogar von Verfassungs wegen geboten sind.83 Schließlich, um darauf noch einmal hinzuweisen, könnte diese Entscheidung den Weg zum Körperschaftsstatus für islamische Dachverbände erleichtern, wenn die Rechtsprechung den Weg der Rechtsfortbildung weitergeht, der sich abzeichnet.84 Es gibt gewiß noch andere Entscheidungen, die dieselbe Tendenz aufweisen. All diese Entscheidungen zeigen, daß eine hervorgehobene rechtliche Stellung für christliche oder jüdische – als traditionell präsente konventionelle – Religionsgruppen unter dem Grundgesetz nicht mehr möglich sein soll. Die früher als dogmatische Figur anerkannte, sogenannte gestufte Parität ist der Gleichbehandlung gewichen. Es endet damit die Tradition des Westfälischen Friedens, die Toleranz für alle anderen als die drei anerkannten protestantischen Bekenntnisse denkbar machte. Damit sind auch die Fortschritte dieses Friedens, die auch darin liegen, erstmals die Bekenntnisfreiheit und die Religionsausübung dieser drei Bekenntnisse rechtlich anerkannt zu haben, in der nun eben auch egalitär angelegten und wirkenden allgemeinen Glaubens- und Religionsfreiheit aufgegangen. An die Stelle dieser Regelungen tritt daher nun die allgemeine Gleichheit und eben auch Gleichbehandlung. Daraus folgt, daß das alte Modell und die alten Ordnungsfunktionen des Staatskirchenrechts aufzugeben sind. Sie lagen darin, den traditionellen Großkirchen eine Leitfunktion bei der Entscheidung darüber zuzuschreiben, was religionsrechtlich statthaft und was als ihm angepaßtes Verhalten zu privilegieren ist. An die Stelle tritt nun ein Religionsverfassungsrecht oder – weiter und weniger riskant – ein Religionsrecht, das allgemeine Kriterien für religionsrechtlich statthaftes Verhalten entwickeln muß. Es kann nicht auf das Modell zurückgreifen, maßgebliche Leitfunktionen zu entwickeln. Deshalb steuern tendenziell Gesetzesvorbehalte, nicht mehr besondere Rechtsregeln des Verfassungsrechts, wie weit Glaubens- und Religionsfreiheit reichen dürfen. Dem entspricht, daß heute das Letztentscheidungsrecht des Staates in Religionsfragen betont hervortritt.85 Nicht mehr allein das Selbstverständnis der Religionsgruppe,86 sondern letztlich das Gemeinwesen selbst soll bestimmen, was seine Rechtsbegriffe bedeuten. 83 Vgl. dazu deutlich H. Goerlich, Das Demokratieverständnis heute – aus staatsrechtlicher Sicht, in: Theodor-Litt-Jahrbuch 5 (2007), S. 63 (81 f.); im Ansatz auch C. Rathke, Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt, 2005, S. 336 ff. 84 Dafür schon z. B. Kloepfer, Islam (Fn. 80), S. 52 f. 85 Vgl. dazu schon den Titel Muckel, Religiöse Freiheit (Fn. 49). 86 Dazu M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskritierium, 1993.
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VI. Staatskirchenrecht oder ein kooperatives Religionsrecht? Weder die Fortführung der Disziplin des Staatskirchenrechts in ihren bisherigen Bahnen noch die neue Etikette eines »Religionsverfassungsrechts« wird der Entwicklung voll gerecht, die sich vollzieht und nicht aufzuhalten ist. Es kommt mithin darauf an, eine Konzeption zu entwickeln, die der seit längerem schon bekannten Sachlage und den zentralen Rechten der Glaubens- und Religionsfreiheit angemessen ist. Hier mag – wie gesagt – »Religionsrecht« das richtige Wort sein. Es wäre mit weiterem, dauerhaftem Leben zu erfüllen. Teil dieses Lebens müßte das Zusammenleben verschiedener Religionen sein. Das wäre mehr als ein Dialog, es erforderte Kooperation.
1. Die Ausgangslage Dazu ist als Ausgangslage noch einmal festzuhalten: Ein Staatskirchenrecht toleriert schon dem Namen nach immer andere Religionen und nicht-privilegierte Bekenntnisse nur, es geht nicht von der Gleichbehandlung aller Religionen aus. Daher ist es erforderlich, schon durch eine neue Bezeichnung des Fachs die veränderte Sachlage darzustellen, wie es neuere Arbeiten, die gerade auf internationaler Erfahrung und jüngerer Rechtsprechung fußen, auch tun.87 Zwar wird dem entgegengehalten, daß sich das Staatskirchenrecht in der Sache nicht verändert habe und von daher ein neuer Name nicht angezeigt sei. Dies ist sicher teilweise noch richtig.88 Aber oft bekräftigt erst ein symbolischer Schritt den Vollzug einer Rechtsentwicklung in einem solchen Maße, daß sie in das allgemeine Bewußtsein tritt. Und es liegt nun schon dreißig Jahre zurück, daß Peter Häberle die Entwicklung angesagt hat.89 Erst jetzt zeigt dies kanonisiert Wirkung im sozusagen amtlichen Lehrbuch von Axel Freiherr von Campenhausen und nunmehr Heinrich de Wall.90 Wenn sie mittlerweile auf ein »Religionsverfassungsrecht« abstellen, so bedarf dies schon deshalb der näheren Untersuchung, weil zugleich Claus 87 Siehe Walter, Religionsverfassungsrecht (Fn. 3), bes. S. 204 ff. 88 Vgl. den Tagungsbericht von Ch. Traulsen, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, ZevKR 51 (2006), S. 225 ff. (zurückhaltend 228); offener für eine grundrechtsorientierte Terminologie H. Maurer, Religionsverfassungsrecht im Spiegel eines Grundrechtskommentars, ZevKR 51 (2006), S. 211 ff.; zur älteren Debatte M. Söbbeke-Krajewski, Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der EU, 2006, S. 68 ff., 295 ff.; zuvor A. Kupke, Die Entwicklungen des deutschen »Religionsverfassungsrechts« nach der Wiedervereinigung, insbesondere in den Neuen Bundesländern, 2004, S. 33 ff.; sowie M. Triebel, Das europäische Religionsrecht am Beispiel der arbeitsrechtlichen Anti-Diskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG, 2004, S. 194 (198 ff., 208 ff.). 89 Vgl. Häberle, »Staatskirchenrecht« (Fn. 58). 90 Siehe v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht (Anm. 27).
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Dieter Classen ein bloßes »Religionsrecht« zum selben Gegenstand ankündigt.91 Toleranztagungen pflegen den Unterschied zwischen einer gesicherten allgemeinen gleichen Rechtsstellung und einer lockereren rechtlichen Gleichstellung zu betonen, wobei dies dem schon anfangs genannten Unterschied folgt zwischen verbrieftem Recht und bloß gewährter Toleranz, was aus gegebenem Anlaß hervorzuheben ist. Die Differenz zwischen bloßem Religionsrecht und Religionsverfassungsrecht könnte nun sehr rasch dazu führen, daß verfassungsrechtlich abgesicherte Rechte von bloß fach- und einfachrechtlich gewährten Positionen unterschieden werden. Daher erscheint es notwendig, zur Sache zu kommen, um die es geht.
2. Auf dem Weg zu einem kooperativen Religionsrecht Hier geht es um ein künftiges kooperatives Religionsrecht. Würde es auf der Basis von Glaubens- und Religionsfreiheit ohne Unterschied entfaltet, dann würde es religiösen und weltanschaulichen Verbänden ermöglichen, zur Kooperation zu finden. Für die Verbandskultur und das Verhältnis religiöser Verbände im Gemeinwesen hätte das erhebliche Folgen. Eine derartige Entwicklung muß keineswegs mit einer laizistischen Tendenz einhergehen. Gewährt man nämlich gleichermaßen öffentliche Präsenz, dann verweist ein solches kooperatives Religionsrecht Kirchen und weltanschauliche Verbände nicht aus der Öffentlichkeit. Es kommt allerdings entscheidend darauf an, daß Diskriminierungen unterbleiben und alles getan wird, was eine Gleichstellung ermöglicht.92 Dafür können auch Förderungsmittel des Staates eingesetzt werden, wie gerade innerverbandliche Konflikte zwischen verschiedenen Ausrichtungen derselben Glaubenstradition um Staatsleistungen aus einem Staatsvertrag oder die Anwendung von Regeln des staatlichen Vereinsrechts in innerverbandlichen Konflikten als Notbehelf gezeigt haben.93 Am Ende einer solchen Rechtsfortbildung würde eine Tradition gleicher Rechte an der Stelle bloßer Toleranz stehen. Gewiß würde diese den nichtchristlichen Einfluß stärken. Da aber die soziale Entwicklung dies ohnehin ausgemacht erscheinen läßt, ist es richtiger, dies angesichts der im Kern 91 Dazu schon C. D. Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003 und dazu die Rezension v. M. Germann, Der Staat 43 (2004), S. 491 ff. 92 Für eine vertiefte Debatte der Parität H. M. Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 180 (371 ff.) und für die europäische Ebene (482 f. u. früher); auch mit N. Ch. Walter, Religion und Recht der Europäischen Union, in: Zimmermann u. a. (Hrsg.), Religion (Fn. 6), S. 207 ff. 93 Vgl. zum Streit der jüdischen Gemeinden um die Verteilung von Staatsleistungen BGH JZ 2000, 1111 und BVerwG JZ 2002, 1102, beide mit Anm. v. H. Maurer.
Glaubens- und Religionsfreiheit
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immer noch bestehenden Verwandtschaft der religiösen Sicht der großen monotheistischen Religionen zum Programm zu machen. Das gilt, zumal die Vorstellungen darüber, was im öffentlichen Raum möglich ist, einander nicht fern sind. Dies würde ähnlich der Bestimmung im Verfassungsvertrag für Europa vom Herbst 2004 auch zu einem Gleichklang im Verbandseinfluß führen. Zudem würde nicht bloß ein Dialog der religiösen Traditionen und der Europäischen Union möglich, sondern echte Kooperation, auf Verbandsebene ebenso wie im Verhältnis zum Mitgliedstaat. Wo in Teilbereichen Kooperation unmöglich ist, etwa aufgrund der archaischen Deutung des Rechts der Scharia,94 wäre dies aber nicht Anlaß, die Kooperation schlechthin abzubrechen. Es wäre dann vielmehr nach Tätigkeitsfeldern und Interessen ein differenziertes Verhaltensmuster einzusetzen, um das Gemeinsame nicht zu gefährden und auch den Dialog nicht untergehen zu lassen. Gerade im sozialen Bereich, in der Bewältigung der Armut sowie der Folgen fehlender Ausbildung und Arbeit ist das möglich und dringend geboten. In solchen Kooperationen schlummern viele Vorzüge: Sie erlauben und erfordern neue Gestaltungen, sie stehen Initiativen gerade auch kleiner Gruppen offen und sie können gerade in ihrer Vielfalt Erkenntnisgewinne und Erfolge erbringen, die auch größere Organisationsstrukturen und wirksame »Netzwerke« nach sich ziehen. Im übrigen, je schwieriger die Finanzierung der großen Kirchen und Religionsgemeinschaften wird,95 desto mehr wird es auf kleine Einheiten ankommen. Auch können sie Initiativen hervorrufen, allseits die örtliche Gemeinschaft aktivieren und so verschiedene Formen der Integration fördern, wie sie sich örtlich ergeben und den jeweiligen Verhältnissen angemessen sind. Damit können sie Ghettoisierungen, die schon eingetreten sind, anhalten, sie in anderen Wohnvierteln verhindern und vielleicht auch allmählich abbauen. Im Verhältnis zu Lebenssituationen in anderen Staaten können solche Initiativen zudem die Glaubwürdigkeit der heutigen europäischen Friedensordnung – wie sie auch die Europäische Union hervorbringt – stärken und in Europa das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Gefälle mildern. Eine solche Entwicklung zu kooperativen Formen hin scheint die jüngere deutsche Rechtsprechung zu stützen. Sie vermag eine Rechtsfortbildung zu fördern, ohne daß es zu Brüchen und Auseinandersetzungen kommt, die keine verständliche sachliche Basis haben. Sie meidet den »Kul94 Dazu W. Heun, vgl. den Tagungsbericht der Jenenser Tagung von Traulsen, Staatskirchenrecht (Fn. 88), S. 227 f.; und jetzt K.-H. Ladeur/I. Augsberg, Der Mythos vom neutralen Staat, JZ 2007, S. 12 (16 ff.). 95 Vgl. FAZ Nr. 154 vom 6.7.2006, S. 1 ff.
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turkampf« im Interesse einer kulturellen oder religiösen »Partei«. Nachdem sie infolge des großen Gewichts von Glaubens- und Religionsfreiheit diesen Weg eingeschlagen hat, mag es manchmal scheinen, daß sie gegen den Text des tradierten Staatskirchenrechts und der Landesverfassungen interpretiert. Dies ist aber nicht neu. Die maßgeblichen Bestimmungen sind in diesen Grundrechten und der mit ihnen verbundenen Garantie der Selbstverwaltung und eigenen Ordnung religiöser Verbände verankert. Sie prägen in gleicher Freiheit das Religionsrecht.
Rainer Zaczyk
Das Toleranzgebot als strafrechtsbegrenzendes Prinzip?* I. Das Fragezeichen im (von den Veranstaltern vorgegebenen) Titel dieses Beitrags wird für mehr stehen als nur für die Eröffnung eines Themas. In Frage gestellt werden soll zugleich der Begriff »Toleranzgebot« als Rechtsbegriff selbst. Denn jedenfalls gibt es im deutschen Strafrecht ein »Toleranzgebot« als ausgearbeiteten Begriff nicht. Deshalb kann es im Folgenden auch weder um ein unvermitteltes Räsonieren über Strafrecht und Toleranz gehen, noch werden konkrete Fragestellungen erörtert (etwa Toleranz und Meinungsfreiheit im Ehrenschutz; Toleranz und die Beschimpfung von Religionsgemeinschaften u. ä.). Denn diese konkreten Fragestellungen sind solche des Strafrechts als Recht selbst; sie betreffen Grenzziehungen im Recht, manchmal in Gestalt von Details dogmatischer Fragen, sind also gar nicht Fragen eines hinlänglich strikten Begriffs von Toleranz in seinem Verhältnis zum Recht. Die Untersuchung des Problems, ob es wirklich ein selbständig zu denkendes Toleranzgebot im Strafrecht oder für das Strafrecht geben sollte, setzt also zunächst eine Begriffsklärung voraus; es muß herausgearbeitet werden, was »Toleranz« bedeutet und was sie im Verhältnis zum Recht ist oder sein kann. – Indem von einem »Toleranzgebot« die Rede ist, wird allerdings ganz zutreffend schon auf das Feld gedeutet, auf dem die Überlegungen sich bewegen müssen, denn im Begriff des Gebots wird ein Sollen ausgedrückt. Damit ist aber von vornherein klar, daß man sich gedanklich auf dem Feld der praktischen Philosophie bewegt und die vorgetragenen Bestimmungen deren Bedingungen genügen müssen. Auch hierzu ist eine Vorbemerkung nötig, um den Standpunkt zu kennzeichnen, von dem aus in der Neuzeit Praxis zu denken ist. Versteht man die Geschichte abendländischen Denkens als einen Prozeß der fortschreitenden * Der folgende Text gibt im wesentlichen nur die mehr thesenhaften Ausführungen wieder, die auf der Tagung vorgetragen wurden. Er versteht sich nicht als vollständig systematisch entfalteter, wissenschaftlich-literarisch abgesicherter Gedankengang. Daher sind auch die Fußnoten auf wenige Angaben beschränkt.
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Aufklärung des Denkens über sich selbst und zugleich durch sich selbst, dann mußte dieser Prozeß Festigkeit und Halt gewinnen am Selbstbewußtsein der Person als dem Ort, der die Selbstaufklärung leistet und an dem sie unmittelbar zu erfahren ist. Für die praktische Philosophie bedeutet das, daß das je einzelne Subjekt eine konstitutive Bedeutung besitzen muß bei der Begründung praktischer Richtigkeit. Was der einzelne soll, kann seinen letzten Grund nicht in Befehlen anderer haben, sondern muß von ihm jedenfalls als mitbegründet gedacht werden können. Das menschliche Subjekt ist autonom, selbstgesetzgebend. Wenn es also ein Toleranzgebot gibt, so muß es sich mit je subjektiver Einsicht verbinden lassen, sich also an der Selbstbegründung des Subjekts bewähren. – Zur Erforschung einer eigenständigen Bedeutung eines solchen Toleranzgebots sollen in einem ersten Schritt Toleranz und Recht in ein für die Neuzeit gültiges Verhältnis gesetzt werden; auch dabei wird ein langer Prozeß der europäischen Geistesgeschichte erkennbar werden.
II. 1. Toleranz in seiner Wortbedeutung als »Erdulden« und »Ertragen« war ursprünglich auf kriegerisch erlittene Schmerzen bezogen.1 Im Lauf der Jahrhunderte verschob sich der Begriffsgehalt vom gleichsam weltlich-körperlichen Kampfplatz zum geistigen: Der Begriff regulierte die Frage, wie die »religio«, die Rückbindung des Menschen an das Absolute, in ihren verschiedenen Gestalten einzelner Religionen sich verbinden ließ mit den Lebensformen und damit auch Begegnungsweisen von Menschen in einem Lebensraum. Die Lösung dieses Problems wurde vorangetrieben durch die immer mehr in den Vordergrund tretende Bedeutung der selbstbestimmten einzelnen Person bei gleichzeitigem Zurückweichen eines unmittelbaren Einflusses des Absoluten auf das soziale Leben der Menschen. Man konnte schließlich von der »religio« des einen und der »religio« des anderen sprechen und es mußte in der Konsequenz der Gedanke entwickelt werden, daß dies wechselseitig zu tolerieren war. Das ist aber nur die gedankliche Entwicklung, die sich zusammenfassend geradezu leicht nachzeichnen läßt. Die 1 Siehe zur Begriffsgeschichte vor allem den Artikel »Toleranz« von G. Besier/K. Schreiner in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 445 f; G. Schlüter/R. Grötker, Toleranz, in: J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, 1998, Sp. 1251 ff. Ferner R. Forst, Toleranz im Konflikt, 2003, S. 53 ff. (zu diesem Buch Th. S. Hoffmann, Philosophische Rundschau 2006, S. 169 ff.).
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geschichtliche Entwicklung oder die Entwicklung in der Lebenswirklichkeit verlief erheblich schmerzhafter, wie bekannt ist. Denn Religion stiftete nun nicht mehr Einheit, sondern wurde als Differenz erfahrbar und diese Differenz wurde kriegerisch ausgetragen. Hier zeigte dann auch der Begriff Toleranz sogleich seine Schwierigkeiten und Grenzen: Ist Toleranz nicht eigentlich ein Zeichen der Schwäche der eigenen Glaubensüberzeugung? Setzt sie Wechselseitigkeit voraus oder ist auch der Intolerante zu tolerieren? Liegt in praktischer Toleranz nicht sogar Überheblichkeit über den anderen?2 Und welche Bedeutung schließlich – das wechselt nun schon in die Perspektive der Gegenwart – kann der auf Religion bezogene Begriff der Toleranz für ein Leben der Menschen als Ganzes haben, das sich vor allem im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend als nicht an das Absolute zurückgebunden verstand?
2. An dieser Stelle ist ein Übergang in die Betrachtung der geistesgeschichtlichen Entwicklung des Rechtsbegriffs ebenso hilfreich wie notwendig. In der Antike war das Recht Teilelement einer die einzelne Person umspannenden allgemeinen Ordnung. In diesen so verstandenen und gelebten Zusammenhang brach – wie Hegel das unübertroffen formuliert hat – das tiefere Prinzip der freien unendlichen Persönlichkeit ein.3 Man sollte im heutigen Abendland oder »Westen« nicht vergessen, daß dieser geschichtsmächtige Durchbruch wesentlich dem Christentum zu verdanken ist,4 also einer Religion. Das Recht wurde nun lange Zeit so gedacht, daß in ihm eine Verbindung enthalten war zwischen menschlichem und göttlichem Willen oder anders gesagt zwischen der einzelnen Person und dem Absoluten. In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat sich der neuzeitliche Begriff der Person vom Absoluten emanzipiert, jedenfalls im vordergründigen Selbstverständnis der Menschen. Die Selbstbegründung der Person, ihre Autonomie, wurde letzter Grund des Rechts, und die übergreifende Gemeinschaft »Staat« mußte dann wesentlich vertragstheoretisch begründet werden. In der so auf die Autonomie der Person, ihre Freiheit bezogenen Begründung des Rechts war nun unmittelbar enthalten, was im Begriff der Toleranz 2 So nennt Kant die Toleranz einen »hochmütigen Namen«; siehe I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Werke in 10 Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. 9, S. 60 (A 491). 3 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts; in: E. Moldenhauer/K. M. Michel (Hrsg.), Werke in 20 Bänden, Bd. 7, S. 24. 4 Siehe dazu auch den Beitrag von Arnulf von Scheliha, in diesem Band S. 109 ff.
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nur sekundär thematisch wurde und mit ihm auch gar nicht gültig gelöst werden konnte: Das Geltenlassen des anderen war nicht mehr eine vom Subjekt zusätzlich zu erbringende Leistung, etwa als Tugend, sondern war Konstitutionsbedingung des Rechts selbst, war von der Existenz des anderen allein schon gefordert. Diese Entwicklung mußte den Begriff der Toleranz sowohl bestärken wie zugleich für das Recht auflösen. Toleranz der religiösen Überzeugung eines anderen wurde zwingend. Für das Rechtsverhältnis aber hatte sich das Goethe-Wort erfüllt: Aus Duldung war Anerkennung geworden.5 Wenn Goethe hier meint, daß aus Duldung Anerkennung werden müsse, sagt er ja nicht, daß aus Toleranz Toleranz werden müsse. Anerkennung ist ein Begriff aus Fichtes Rechtsphilosophie.6 Mit diesem Begriff hat Fichte beschrieben, wie sich aus gegenseitigem äußeren freiheitlichen Behandeln und Behandeltwerden Selbstbewußtsein erschließt und konstituiert. Da es dabei um wirkliches äußeres Freisein geht, umfaßt der Begriff Anerkennung erheblich mehr als jene billige Form von Toleranz, die darin bestehen soll, die Überzeugungen des anderen gelten zu lassen; unter der Voraussetzung wechselseitiger Gedankenfreiheit liegt in solcher »Toleranz« keine praktische Leistung. Anerkennen heißt, ihm in seinem tätigen Leben Raum zu geben, weil er sich sonst als Subjekt gar nicht erfahren und gewinnen kann. Freiheit, Recht und Interpersonalität stehen damit in einem Verweisungszusammenhang und das jeweils eine ist ohne die jeweils anderen gar nicht zu denken.
3. Erst nach einer solchen Vergewisserung des Rechtsbegriffs kann nun in hier im einzelnen nicht darzulegenden Schritten gezeigt werden, welcher Grad von Verletzung gegeben sein muß, um daran anknüpfend das Recht zur Strafe auszulösen.7 Für den hier vorzutragenden Zusammenhang genügt der Hinweis, daß die Bestimmung der Grenze von Recht und Unrecht aus dem Rechtsbegriff allein heraus erfolgen muß, dann aber auch festliegt. Die etwa mit Zwang durchgesetzte Forderung an andere, Unrecht zu tolerieren, wäre 5 J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 12, 1981/1998, S. 385: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.« 6 Siehe dazu J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, §§ 1-4; dazu auch M. Kahlo/E. A. Wolff/R. Zaczyk (Hrsg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, 1992; zum Begriff ferner L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, 1979. 7 Siehe dazu grundlegend E. A. Wolff, Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen, in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 1987, S. 137 ff., bes. S. 162 ff.
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selbst Unrecht; ob der einzelne eine solche Forderung an sich selbst stellt und dann auch ihre Folgen aushält, gehört dem Gebiet der Moral an.8 Wenn der Begriff der Toleranz nach seiner bisherigen Bestimmung aber keine für das Recht konstitutive Bedeutung hat – hat er dann vielleicht eine ergänzende, eine stützende Bedeutung? Läßt sich also ein »Toleranzgebot«, wie es im Thema als Begriff vorgegeben wurde, in den Denkzusammenhang rechtlich-praktischer Vernunft einordnen und könnte das dann auch Folgen für ein erweitertes Verständnis des Rechts und auch des Strafrechts haben?
III. 1. In Verfolgung dieser Fragestellung ist der Zentralbegriff des Rechts, die Freiheit der Person, näher zu betrachten. Kant war es, der diesen Zentralbegriff wesentlich ausgearbeitet hat, und an sein Denken soll hier angeschlossen werden. Die Freiheit des Menschen ist erfahrbar über sein Vermögen der Selbstbestimmung. Sie erfolgt in einem gedanklichen Prozeß, in dem das Subjekt seinen Willen bestimmt durch Imperative und so den Gedanken in die Tat umsetzt. Bei der Ableitung der Willensbestimmung durch Imperative überhaupt (also nicht nur beim kategorischen Imperativ) hat Kant stets die Leistungskraft der praktischen Vernunft hervorgehoben, die es ihr ermöglicht, ein Sollen nicht nur einsichtig zu machen, sondern zugleich den Willen aus eigener Einsicht zu nötigen, das Eingesehene in die Tat umzusetzen. Zugleich hat Kant dabei aber stets die Schwächen des Menschen in seiner Selbstbestimmung im Blick behalten.9 Nur aus diesem Grund spricht er von Imperativen bei einem Willen wie dem menschlichen, der nicht schon allein deshalb richtig handelt, weil er dies einsieht. Ganz entsprechend bestimmt Kant die Maxime, also das subjektive Prinzip des Handelnden, als den Grundsatz, nach dem das Subjekt wirklich handelt, und er sagt, der Gehalt eines solchen Grundsatzes sei oft nur der Unwissenheit oder den Neigungen des Subjekts zuzuschreiben, nicht aber der Vernunft.10 Auch in der Rechts8 Erreicht solche »Toleranz« allerdings den Grad von Selbsterniedrigung, könnte sie dennoch zu einem Problem des Rechts werden (als Verletzung des Rechts der Menschheit in einer jeden Person); siehe dazu Kant, Metaphysik der Sitten, Werke Bd. 7 (Fn. 2), AB 48 (Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt). 9 Vgl. dazu und zum folgenden Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke Bd. 6 (Fn. 2), BA 36 ff. 10 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke Bd. 6 (Fn. 2), BA 51, Fn.*.
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lehre der Metaphysik der Sitten wird bei der Begründung des Übergangs vom Privatrecht zum bürgerlichen Zustand darauf hingewiesen, daß nun einmal die Neigung der Menschen bestehe, über andere den Meister zu spielen, sich also ihnen gegenüber zu überheben.11 Und sehr bekannt ist schließlich Kants Satz aus der »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, daß aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, nichts ganz Gerades gezimmert werden kann.12 Das alles sind nicht etwa relativierende Hinweise, die es uns erlauben würden, eigenes Versagen (sei es in der Moral, sei es im Rechtsverhältnis zu anderen13) unter Hinweis auf die naturgegebene Schwäche des Menschen zum Verschwinden zu bringen. Die Tatsache aber, daß Kant im Begründungszusammenhang von Autonomie diese Schwäche des Menschen bis in die Bestimmung der Vernunftprinzipien hineinwirken läßt, gibt Anlaß, daraus auch eine interpersonal bedeutsame Konsequenz abzuleiten: Zwar ist die Begegnung zwischen endlichen vernünftigen Wesen, wie Menschen es sind, fundamental geprägt von dem Wissen um wechselseitige Selbstbestimmung aus Vernunft. Mit diesem Wissen um die wechselseitige Stärke der geistigen Potenz verbunden muß aber eine nahezu gleich bedeutsame Einsicht sein: die Einsicht in die mit menschlichem Dasein unlösbar zusammenhängende Schwäche des Menschen. Nicht etwa geht es um die Schwäche des anderen; das führte nur zur Überheblichkeit. Es geht um reflexive Einsicht in eigene Schwäche. Das ist ein geradezu konstitutivbegleitendes Element eines jeden Denkens über die Gesetzgebung praktischer Vernunft, sei es in der Moral im engeren Sinne, sei es im Recht: In beiden Handlungsqualitäten liegt eine Leistung, die der menschlichen Schwäche buchstäblich abgerungen ist – und zwar nicht etwa betrachtet als Vorstufe vollendeter Freiheit, deren Vollstufe die Menschheit dereinst befreit von allen Bedingungen erreichte, sondern mit dem Menschsein untrennbar verbunden. Betrachte ich mich also in meinem praktischen Vermögen, so kann ich mich – wie es Kant im Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft so beeindruckend formuliert – in meinem Wert als einer Intelligenz unendlich erhaben wissen,14 aber ich muß zugleich gegenwärtig halten, daß diese Erha11 Kant, Metaphysik der Sitten, Werke Bd. 7 (Fn. 2), § 42 (AB 157). 12 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Werke Bd. 9 (Fn. 2), 6. Satz, A 397. 13 Auch im Recht geht es nicht etwa um eine gleichsam ohne Leistung der einzelnen zustande kommende äußere Legalität; auch das Recht beruht auf der Leistung der rechtlich-praktischen Vernunft und damit – wie immer auch vermittelt – auf der praktischen Leistung der einzelnen Person. Siehe dazu auch Verf., Einheit des Grundes, Grund der Differenz von Moralität und Legalität, Jahrbuch für Recht und Ethik 2006, S. 312 ff. 14 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke Bd. 6 (Fn. 2), Beschluss (A 288 f.).
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benheit in meinem irdischen Leben untrennbar verbunden bleibt mit meinem endlichen Mensch-Sein und der dadurch bedingten immer anwesenden Schwäche. Unter dieser Bedingtheit werden die Maßstäbe des Richtigen von der Vernunft erschlossen und von mir verwirklicht. Sehe ich das für mich ein, sehe ich es zugleich für die anderen ein. Erst in dieser Dimension des Verhältnisses zum anderen erreicht diese Einsicht die Sphäre der rechtlichpraktischen Vernunft. Denn es wird dann in einem Zug begreiflich sowohl die Leistung, die in der Herstellung rechtlicher Verhältnisse sich zeigt, als auch das Gewicht, das der Verfehlung dieser Leistung zugemessen werden kann; eine solche Verfehlung bleibt Verfehlung, läßt aber den anderen nicht aus dem Zusammenhang der Menschen im Recht hinausfallen, sondern sollte zugleich wie eine Erinnerung sein an die allen gemeinsame Schwäche. – Man kann also durchaus im Sinne des Themas dieser Abhandlung von einem Toleranzgebot der Vernunft sprechen, aber eben nur unterhalb oder begleitend zu ihrer eigentlichen freiheitsbegründenden Kraft.
2. Jetzt erst und also fast am Schluß kann auf das Strafrecht eingegangen werden. Auch für dieses Teilgebiet des Rechts gilt, daß es ausschließlich dann Gültigkeit und Bestand haben kann, wenn es freiheitsgesetzlich (und nicht: gewaltgesetzlich-naturhaft) begründet ist. Das ist im Strafrecht allerdings noch um eine Stufe schwieriger als in anderen Rechtsgebieten, denn Strafrecht setzt eine bereits rechtlich gegliederte und verfaßte Gemeinschaft voraus. Recht muß als Recht etabliert sein, wenn die Verletzung des Rechts ihrerseits eine rechtlich begründete Sanktion soll nach sich ziehen können.15 Bei dieser Begründungsleistung vom Begriff des Rechts selbst bis hin zu der des Unrechts und der Strafe als Restitution des Rechtsverhältnisses ist ausschließlich rechtlich-praktische Vernunft selbst am Werk; würde man hier den Begriff der Toleranz an irgendeiner Stelle als prinzipienformenden Begriff einsetzen, würde dies nur die Lösung der Aufgabe verdunkeln. Kant hat die Billigkeit eine stumme Gottheit genannt,16 man könnte die Toleranz eine tanzende Göttin nennen, bei der man nie weiß, ob sie sich einem gerade zu- oder von einem abwendet. Mit ihr ist man in die Zufälligkeit von Gefühlen geworfen; zumal im Strafrecht ist dann der Weg nur kurz von einer emotionalen Zuwendung zum Täter als »Opfer der Gesellschaft« zur gegenwärtig oft zu lesenden Parole von »zero tolerance«. 15 Vgl. dazu grundlegend E. A. Wolff, Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität, ZStW 1985, S. 786 ff.; M. Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986. 16 Kant, Metaphysik der Sitten, Werke Bd. 7 (Fn. 2), AB 40.
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Ist aber die Festigkeit der Rechtsbegründung geleistet und gewährleistet, kann der positiv bestimmte Gehalt des Toleranzgebots Wirkung entfalten. Man versteht eine Straftat nur angemessen, wenn man in ihr auch die Schwäche des Menschen sieht, die nichts anderes als die eigene Schwäche ist. Gründet sich dieser Gedanke auf einen festen Begriff vom Recht, fordert man mit ihm auch weder vom einzelnen Opfer einer Tat noch von der Gemeinschaft als ganzer zu viel. Daß Straftaten gravierende Verletzungen des Rechtsverhältnisses sind, bleibt ständig anwesend. Toleriert wird nicht die Verletzung, aber es muß von den anderen ertragen (oder: toleriert) werden, daß in jeder Verfehlung auch etwas sie mit dem Täter Verbindendes liegt. In einem solchen Umgang mit Unrecht gewinnt das Recht selbst und zeigt sich als humanes Recht in einem umfassenden Sinne. Fehlt es an dieser Dimension, so wird eine Gesellschaft dazu tendieren, das »Böse« aus sich auszuschließen und wegzusperren; sie zeigt darin in einem tieferen Sinn Inhumanität. Das trifft für manche Züge des gegenwärtigen Umgangs mit Straftätern zu.
3. Toleranz im dargelegten Verständnis ist also ein Gebot, das tatsächlich in einem Zug mit der Begründung der Autonomie der Person mitbegründet werden kann. Toleranz ist kein das Recht als solches begrenzendes Gebot, aber doch weit mehr als eine bloße Klugheitsregel. Sie verhindert Anmaßung und Überheblichkeit, da sie auf die Stelle bezogen ist, an der rechtlich-praktische Vernunft und die Lebenswirklichkeit der Menschen in Verbindung stehen. Toleranz stärkt das Recht, ohne doch Teil von ihm selbst zu sein.
Christoph Enders
Toleranz als Rechtsprinzip? – Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben anhand höchstrichterlicher Entscheidungen I. Einleitung: Die Begründung des Rechtsstaats aus dem Toleranzgebot (bei John Locke) Ist mit dem Begriff Toleranz ein Rechtsprinzip bezeichnet? Geht es, wenn man von Toleranz spricht, um Respekt im zwischenmenschlichen Umgang, vielleicht auch um Zurückhaltung des Staates gegenüber seinen Bürgern oder umschreibt der Begriff doch ein Prinzip gerade auch rechtlicher Ordnung nach festen, allgemeingültigen Regeln? Auf dieses Prinzip sollte und könnte man sich dann, angesichts der im nächsten Umfeld wie auf globaler Ebene zunehmenden Konfrontation mit anderen, vor allem kulturell-religiös fundierten Werthaltungen und Lebenswelten, besinnen, um überall dort, wo Konflikte sich anbahnen oder zum Ausbruch kommen, zu einem tragfähigen Ausgleich zu gelangen. Nun ist uns der Begriff der Toleranz1 nicht im engeren Sinne als Rechtsbegriff geläufig: Unsere Verfassungsordnung jedenfalls verwendet ihn nicht.2 Fragt man aber ganz allgemein, was den modernen 1 Zum Begriff als solchem aus unterschiedlichen Perspektiven Paul Warmbrunn, in diesem Band S. 13 (13 f.); Ralf Poscher, in diesem Band, S. 129 (136) und Ludwig Siep, in diesem Band S. 177 (178 ff.). 2 Allerdings spricht Teil I, Art. 2 des europäischen Verfassungsvertrags (»Die Werte der Union«) davon, daß »diese Werte (Achtung der Menschenwürde, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte) allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam (sind), die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet«. Vgl. insb. für das Schulverhältnis auch Art. 148 Abs. 2 WRV (»Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden.«) und dazu G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 148, Anm. 3, S. 687 f. (eine Herabwürdigung der Anschauungen Andersdenkender ist dem Lehrer versagt). Die Formulierung des Bildungs- und Erziehungsauftrags in den Landesschulgesetzen lehnt sich (auf der Basis der Landesverfassungen) hieran an, vgl. etwa § 1 Abs. 2 SchG BW v. 1.8. 1983 (»Achtung der Würde und der Überzeugung anderer«), Art. 1 Abs. 1 Satz 3 BayEUG i. d. F. d. Bekanntmachung v. 31.5. 2000 (»Achtung vor religiöser Überzeugung, vor der Würde des
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Christoph Enders
Staat mit seinem friedenstiftenden Monopol legitimer Gewalt, dem mit Wirkung für und gegen alle etablierten bürgerlichen Zustand zu einem freiheitlichen Rechtsstaat macht, so stellt man fest, daß John Locke zahlreiche der heute noch gültigen, als genuin rechtsstaatlich empfundenen Grundsätze gerade aus dem Toleranzgebot entwickelt hat – in seinem Brief über Toleranz (aus dem Jahre 1689), in dem er von der »wechselseitige(n) Duldung der Christen verschiedenen religiösen Bekenntnisses« handelt.3 Der Zweck dieses Staates, der von Locke funktional, nämlich im Sinne der Befriedigung, Wahrung und Beförderung bürgerlicher Interessen, bestimmt wird,4 erlaubt nicht den Zugriff auf die innere Überzeugung, die sich, eben weil sie innerlich ist, nicht erzwingen läßt. In Angelegenheiten der inneren Überzeugung und wahrhaft sittlicher Pflichten kann es keine (wirksamen) staatlichen Vorschriften geben.5 Umgekehrt stellt aber die aufrichtige Glaubensüberzeugung nicht etwa der rücksichtslosen Entfaltung auf Kosten anderer einen Freibrief aus. Was aus Gründen der wechselseitigen Rücksichtnahme »schon im gewöhnlichen Gang des Lebens nicht erlaubt« ist, wird nicht dadurch zulässig, daß es aus Glaubensgründen geschieht.6 Mit anderen Worten: Die äußere Entfaltung der inneren Überzeugung darf zwar nicht mit Blick allein
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Menschen«); die jüngeren Gesetze verwenden auch den Begriff der Toleranz – freilich als historisch-sozial vorgefundenen, vgl. etwa § 2 HmbSG v. 16.4.1997 (»Grundsätze[n] der Achtung und Toleranz …«), § 2 Abs. 1 Satz 3 NSchG i. d. F. v. 3.3.1998 (»religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten«, »Grundsätze[n] der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz …«), § 2 Abs. 4 Nr. 4, Abs. 5 Satz 1 und 3 SchulG NRW v. 15.2.2005 (»Verständnis und Toleranz gegenüber den Entscheidungen anderer«; die Schule »wahrt Offenheit und Toleranz gegenüber den unterschiedlichen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen und Wertvorstellungen«, sie »vermeidet alles, was die Empfindungen anders Denkender verletzen könnte«), § 2 Abs. 1 Satz 3, 4 ThürSchulG v. 30.4.2003 (»Achtung vor den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer«, »Grundsätze[n] der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz«). Hier hat das Toleranzgebot also für einen bestimmten, abgegrenzten Bereich eine spezielle normative Anerkennung erfahren, an der es im übrigen aber fehlt. J. Locke, Ein Brief über Toleranz, hrsg. v. J. Ebbinghaus, 1996, S. 3 (Epistola de Tolerantia, 1689, ins Engl. übertragen 1689, A Letter Concerning Toleration). Sie sind auf den von Locke gebrauchten, weiten Begriff des Eigentums bezogen, Brief über Toleranz (Fn. 3), S. 13, vgl. J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg.v. W. Euchner, 1977, S. 278 (Two Treatises of Government, 1680-1690). Festgeschrieben ist dieser Zweck des Staates mit dem Gesellschaftsvertrag. Zum Ganzen auch Michael Kahlo, in diesem Band S. 145 ff. Locke, Brief über Toleranz (Fn. 3), S. 15, 57, 53; die konstruktive Bedeutung dieser Unterscheidung für den bürgerlichen Rechtsstaat hat später G. W. F. Hegel herausgearbeitet, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke in 20 Bänden, E. Moldenhauer/K. M. Michel (Hrsg.), Bd. 7, 1970, § 94, Zusatz: »Die Staatsgesetze können sich also auf die Gesinnung nicht erstrecken wollen, denn im Moralischen bin ich für mich selbst, und die Gewalt hat hier keinen Sinn.« Zu Spinoza vgl. Ralf Poscher, in diesem Band S. 129 (141 und 143 ff.). Locke, Brief über Toleranz (Fn. 3), S. 67, 69, 105.
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auf diese Überzeugung unterdrückt werden, aber deren Entfaltung muß sich, wie wir heute sagen, im Rahmen der »allgemeinen Gesetze« halten (vgl. Art. 5 Abs. 2 GG; ähnlich Art. 136 Abs. 1 WRV, Art. 140 GG)7. Wer diese Grenzen der Toleranz überschreitet und seine Überzeugung zur allgemeinverbindlichen Regel machen, also den anderen aufzwingen will, kann selbst keinen Anspruch auf Toleranz erheben.8 Solange aber diese Grenzen beachtet sind, mögen sich religiöse und andere Werthaltungen ungehindert entfalten. Ein vom Gedanken der Toleranz beseeltes Gemeinwesen kennt keine absolute Wahrheit der allein richtigen Überzeugung, die von der Obrigkeit verbindlich verordnet werden könnte. Die Wahrheit bewährt sich auf diesem Feld aus eigener Kraft oder sie hat keine Existenzberechtigung.9 Diese Einsichten hat sich der moderne Staat, wo immer er sich als Rechtsstaat versteht, auf die Fahnen geschrieben und sie zu einem grundlegenden System der (geistigen) Freiheit des inneren Standpunkts und der Überzeugungen, der Freiheit des Glaubens und des Gewissens und der Religion, der Meinungs- und Pressefreiheit, der Freiheit der Wissenschaft und der Kunst ausgebildet. Mit einiger Berechtigung läßt sich also im Blick auf diesen geistesgeschichtlichen Hintergrund sagen: Die rechtsstaatliche Freiheitsordnung ist eine Ordnung institutionalisierter Toleranz.10 Ist damit die Toleranz auch als Rechtsprinzip identifiziert? Diese Annahme würde einen Einwand vernachlässigen, den Immanuel Kant in seiner Aufklärungsschrift geltend gemacht hat: Allein aus Toleranz in Religionsdingen den Menschen nichts vorschreiben zu wollen, sei nachgerade Hochmut, wo es vielmehr um eine Pflicht aufgeklärter Regierungsart gehe, geistiger Freiheit Raum zu geben.11 In der Tat ist zum einen mit dem 7 Vgl. ferner Art. 135 Satz 3 WRV: »Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon (scil.: der Gewährleistung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der ungestörten Religionsausübung) unberührt.« Diese Bestimmung ist nicht durch Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporiert, für das Verständnis des inkorporierten Art. 136 WRV aber von Bedeutung, vgl. Anschütz, Verfassung des Deutschen Reiches (Fn. 2), Art. 136, Anm. 1, S. 623; anders insofern wohl Helmut Goerlich, in diesem Band S. 207 (221). 8 Locke, Brief über Toleranz (Fn. 3), S. 93. 9 »Es ist nicht die Aufgabe der Gesetze, für die Wahrheit von Meinungen, sondern für das Wohl und die Sicherheit des Gemeinwesens und der Güter und der Person jedes einzelnen Sorge zu tragen. Und so gehört es sich. Denn der Wahrheit würde es am besten bekommen, wenn man sie einmal auf sich selbst angewiesen sein ließe.« Locke, Brief über Toleranz (Fn. 3), S. 81. Vgl. BVerfGE 5, 85 (135, 197). 10 In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: ein »System geistiger Freiheit und Toleranz«, BVerfGE 5, 85 (206). Zu diesem Resümee kommt für Lockes Philosophie auch Michael Kahlo, in diesem Band S. 145 (154 f.). Werner Stegmaier spricht insofern von der »Paradoxie der Toleranz« aus Überzeugung andere Überzeugungen – freilich in Grenzen – gelten lassen zu müssen, in diesem Band S. 195 (202 f.). 11 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Werke, hrsg. v. W. Weischedel, 1956 ff., Bd. 6, S. 51, 59 f.
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bloßen Appell an die Toleranz der Herrschenden wenig gewonnen. Zum anderen lassen sich Freiheit, auch geistige Freiheit und Toleranz – denkt man an die Diskussion um die Mohammed-Karikaturen – nicht immer widerspruchsfrei vereinigen. Dem Recht kommt darum auf dem Problemfeld der Toleranz durchaus eine eigenständige Funktion zu: Indem es nach allgemeinen Grundsätzen der individuellen Entfaltung Grenzen zieht, zwingt es geradezu zu Toleranz. Denn es zeigt an, welches Verhalten von anderen jedenfalls nicht erwartet werden darf. Und auch in der Beziehung unmittelbar auf den Staat ist die Stellung des Einzelnen im Sinne eines Rechtsverhältnisses eindeutig bestimmt – und zwar zugunsten eines prinzipiellen Vorrangs der individuellen Freiheit. Ein ausgearbeitetes rechtsstaatliches System, so könnte man in Anlehnung an Kant sagen, macht also eine Ableitung von Verhaltensregeln aus dem Toleranzgebot, die mit dem anerkannten Rechtsanspruch auf Freiheit nur vage vermittelt ist, schlechthin überflüssig.12 Daß der Rechtsstaat dennoch nicht die letzte und endgültige Antwort auf die Frage nach der Toleranz darstellt, zeigt freilich die aktuelle gesellschaftliche und politische Diskussion und erweist ein Blick auf die Rechtsprechung (vor allem des Bundesverfassungsgerichts), die in spezifischen Problemkonstellationen immer wieder auf das Toleranzgebot rekurriert.13 Zwischen den beiden Polen der ursprünglichen Bedeutung des Toleranzgebots für die Genese freiheitlich-rechtsstaatlicher Prinzipien und seiner Erledigung durch den modernen Staat, in dem diese Prinzipien unmittelbar rechtlich an ihr Ziel gekommen scheinen, existiert also möglicherweise doch eine Sphäre eigenständiger rechtlicher Funktion des Toleranzgebots. Nachfolgend soll in einem ersten Schritt dargelegt werden, wo die Toleranzfrage im Recht ihren Ort haben kann (II.). Dabei lassen sich bestimmte Problemkonstellationen typisierend unterscheiden, die im Folgenden auf eine rechtlich-argumentative Funktion des Toleranzgebots befragt werden sollen (III.). Wenn hier eine wirklich eigenständige rechtliche Funktion des Toleranzgebots letztlich zweifelhaft bleibt, läßt sich doch aus Kants Konstruktion eines »Weltbürgerrechts«, das sonst in seiner Rechtsphilosophie seltsam substanzlos erscheint, der Hinweis auf eine mögliche Funktion des Toleranzgebots auch in einer ausgearbeiteten Rechtsordnung ableiten (IV.). Von hier aus erhält dieses eine zwar nach wie vor begrenzte, aber doch rechtsdogmatisch fruchtbare Bedeutung (V.).
12 Überlegungen in diese Richtung auch bei Helmut Goerlich, in diesem Band, S. 207 (207 f.) und bei Rainer Zaczyk, in diesem Band S. 235 (241). 13 Etwa BVerfGE 108, 282 (301, 302, jew. m. w. N.) – Kopftuch; BVerfG-K BayVBl. 2006, S. 633 – Befreiung vom Schulunterricht.
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II. Der Ort des Toleranzfrage im Recht Um Toleranz geht es im Recht überall dort, wo äußere Freiheitsentfaltung (Handeln oder Unterlassen) als unmittelbarer Ausdruck einer innerlich (im Glauben, im Gewissen, in einer Weltanschauung) begründeten Haltung erscheint. Denn auf diese Haltung kann der Rechtsstaat nach seinen feststehenden Prinzipien nicht zugreifen, er kann sie nicht überprüfen oder hinterfragen, sie entzieht sich einer Beurteilung nach den Kategorien von wahr oder unwahr, richtig oder falsch, wertvoll oder wertlos,14 steht vielmehr im Sinne freier geistiger Selbstdefinition des Menschen für sich. Er darf sie aber auch nicht einfach ignorieren, soweit er in ihr – namentlich als demokratischer Rechtsstaat – sein Wesenselement findet, aus dem er eine besondere Legitimation zieht und sich inhaltlich erneuert. Darum genießen die grundrechtlichen Gewährleistungen der Geistesfreiheit im Grundgesetz einen hervorragenden Rang, wie das Bundesverfassungsgericht frühzeitig betont hat.15 Gleichzeitig kann die äußere Ordnung des Gemeinschaftslebens nicht sinnvoll auf die mit der Geistigkeit des Menschen akzeptierte totale Pluralität der Standpunkte gestützt werden, sondern bedarf verbindlicher Verhaltensregeln, auf die sich jeder Einzelne, auf die sich aber auch die Allgemeinheit verlassen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat sich darum immer schon mit den Grenzen dieser freiheitsfreundlichen Grundhaltung auseinandergesetzt, auf die der Einzelne bei der Entfaltung seiner Überzeugung stoßen muß. Besonders prekär erscheint das Bekenntnis zu geistiger Freiheit dort, wo die innere Haltung sich mit ihrer Innerlichkeit nicht begnügen, sondern wirksam werden will, wo sie aus Überzeugung unvermittelt zur Tat schreitet – ohne daß das Grundgesetz mit Schrankenklauseln (vgl. Art. 5 Abs. 2 GG, aber auch Art. 9 Abs. 2, Art. 21 Abs. 2 GG)16 zu erkennen gegeben hätte, wie mit diesen Fällen außenwirksamer Innerlichkeit normativ umzugehen wäre. Als schiere Privatangelegenheit des Einzelnen lassen sie sich jedenfalls nicht mehr deklarieren. Das gilt insbesondere dann, wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht etwa durch die Glaubensfreiheit, dem Einzelnen einen »Rechtsraum« garantiert sieht, »in dem er sich die Lebensform zu geben ver14 Exemplarisch für die Gewissensfreiheit BVerfGE 12, 45 (56); für die Glaubensfreiheit BVerfGE 33, 23 (29, 30), 102, 370 (386), 108, 282 (300); für die Meinungsfreiheit BVerfGE 90, 241 (247); für die Wissenschaftsfreiheit BVerfGE 5, 85 (145); 90, 1 (12); für die Kunstfreiheit BVerfGE 75, 369 (377); 81, 278 (291); 83, 130 (139). 15 BVerfGE 5, 85 (205); 7, 198 (208, 210); auch 12, 45 (54). Vgl. auch unten bei Fn. 27 und Fn. 37. 16 In solchen Zusammenhängen erweist sich die Rede von der Toleranz angesichts der verfassungsrechtlich fundierten Möglichkeit der Beschränkung schnell als façon de parler, BVerfGE 5, 85 (138 f.).
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mag, die seiner Überzeugung entspricht«17. Denn damit ist nicht ein Recht auf bloße Propaganda in Glaubensfragen gemeint, das die Überzeugungs-Tat von vornherein auf das rein geistige Einwirken beschränken würde. Darüber hinaus soll ein »Recht des Einzelnen« geschützt sein, »sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln«18. Dadurch wird ihm ein verfassungsmäßiger Anspruch auf die tätige Gestaltung der Umwelt nach den Grundsätzen seines individuellen Glaubens eingeräumt.19 Führt man sich vor Augen, daß dieses Recht sich keineswegs auf eine Umsetzung der als absolut verbindlich empfundenen Überzeugungen beschränkt und auch nicht allein den christlichen Religionen zustehen kann, vielmehr auf andere religiöse Richtungen, schließlich auch auf Weltanschauungen und überhaupt die äußere Geltendmachung des inneren Standpunkts ausgedehnt werden muß, liegt die Konfliktträchtigkeit einer solchen Konzeption geistiger Freiheit auf der Hand, die die Frage nach den Freiheitsgrenzen besonders dringlich macht. Das Bundesverfassungsgericht hat sie fürs erste dahingehend beantwortet, daß das Grundgesetz nur diejenige Betätigung des Glaubens habe schützen wollen, »die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat«20. Die konkrete Abgrenzung bleibt schwierig, freilich in unterschiedlichem Maße: Bestimmt der Staat im öffentlichen Interesse die Grenzen individuel17 BVerfGE 12, 1 (3) – Glaubensabwerbung. 18 Vor allem BVerfGE 32, 98 (106) – »Gesundbeter«-Fall; in der Sache bereits BVerfGE 24, 236 (245) – »Aktion Rumpelkammer« (karitative Aktion der katholischen Landjugendbewegung als Schutzgegenstand der Glaubens- und Religionsfreiheit). Ferner etwa BVerfGE 33, 23 (28) – Eidesverweigerung aus Glaubensgründen und noch BVerfGE 108, 282 (297) – Kopftuch der Lehrerin im Schulunterricht, BVerfG-K BayVBl. 2006, S. 633 – Befreiung vom Schulunterricht. Dazu (kritisch) J. Hellermann, Die sog. negative der Seite der Freiheitsrechte, 1993, S. 79 f., 138 ff.; S. Muckel, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Grundwerk 2000 (Stand: 16. Erg.-Lief., Juni 2006), Art. 4 Rn. 3 ff.; F. Schoch, Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft, in: J. Bohnert u.a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirsche, Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 149, 153 ff. (»Grundrecht der allgemeinen religiösen Handlungsfreiheit«). 19 In gewissem Widerspruch zu dieser in ständiger Rspr. vertretenen Auffassung von der religiös-weltanschaulichen Handlungsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht ein Recht auf Steuerverweigerung aus Gewissensgründen bereits auf der Tatbestandsebene des Art. 4 Abs. 1 GG verneint: »Die Pflicht zur Steuerzahlung läßt mithin den Schutzbereich der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) unberührt«, BVerfG-K, DVBl. 1992, S. 1589, 1590. Auch daß das Recht des muslimischen Metzgers, seinen Beruf nach den Grundsätzen seines Glaubens auszuüben, nicht dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG, sondern der (beruflichen) Entfaltungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG, zugeordnet wurde, so BVerfGE 104, 337, ist inkonsequent. 20 BVerfGE 12, 1 (4).
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ler Freiheit (besonders deutlich durch Strafrechtsnormen, die dem Schutz der öffentlichen Sicherheit oder des öffentlichen Friedens dienen, vgl. §§ 125, 130, 166 StGB), so wirft dies keine Toleranzprobleme auf, auch wenn solche Normen am Ende eine Atmosphäre der zivilen Toleranz befördern und gewährleisten helfen. Denn sie unterscheiden ja die geächteten von den anerkannten und mit dem Gemeininteresse verträglichen Verhaltensweisen, die darum im Grundsatz von jedermann zu dulden sind. Aber der Staat kann sich als demokratischer Rechtsstaat zugunsten seiner Verhaltensbefehle, auch wenn sie in der beschriebenen Weise der Toleranz unter den Bürgern dienen, doch nicht unmittelbar auf eine allgemeine Gehorsamspflicht aus dem Geist der Toleranz berufen. Vielmehr ist er nach seinem ganzen Sinn und Zweck darauf angelegt, die Freiheit aller gleichmäßig (nach allgemeinen Grundsätzen) im Sinne des gesetzlich definierten Gemeinwohls zu begrenzen. Was umgekehrt die Normadressaten zu erwarten haben, ist gleichfalls nicht Toleranz, sondern eine rechtliche Behandlung, damit die Rechtfertigung der staatlichen Maßnahmen vor den von Verfassungs wegen vorrangigen Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit, die immer nur eine begrenzte Relativierung des individuellen Entfaltungsinteresses zulassen. Anders scheint es sich zu verhalten, wenn in den Beziehungen gesellschaftlicher Gleichordnung religiös-weltanschaulich geprägte Wert- und Lebenshaltungen aufeinandertreffen und es um die wechselseitig geschuldete Achtung geht. Hier insbesondere, etwa wenn Schüler (und ihre Eltern) zwar unter den besonderen Umständen der öffentlichen Schule, aber eben doch als Private und Bürger, andersdenkenden Personen mit dem jeweils gleichen Anspruch auf religiös-weltanschauliche Selbstverwirklichung begegnen,21 nimmt das Bundesverfassungsgericht zum Gedanken der Toleranz Zuflucht und zeigt damit an: Soweit die Determinanten im Verhältnis zwischen Privaten nicht hinreichend verrechtlicht sind, vielleicht sich gar nicht verrechtlichen lassen, ist der vom Recht gebotene, situationsbezogene Ausgleich möglicherweise »unter Berücksichtigung des Toleranzgebots« zu suchen.22 Dies wäre dann der Ort, an dem es auch im Recht des Rechtsstaats immer 21 Was auch die Frage impliziert, ob der Einzelne erwarten kann, von der Konfrontation mit fremden Glaubenshaltungen verschont zu bleiben, vgl. insb. BVerfGE 52, 223 (245 ff.); dazu Hellermann, Freiheitsrechte (Fn. 18), S. 73 ff., 102 ff., auch kritisch S. 214 ff. 22 BVerfGE 41, 29 (50 f.); 41, 65 (78); 52, 223 (247, 251 f.); 108, 282 (301); weitere Nachweise bei Hellermann, Freiheitsrechte (Fn. 18), S. 105 in Fn. 58. Zutreffend weist Hellermann, S. 92, im übrigen darauf hin, daß »der soziale Konflikt zwischen Privaten … sich … auch nur vermittelt, in öffentlich-rechtlichen Rechtsbeziehungen beider bzw. des einen von beiden zu einem Hoheitsträger widerspiegeln (kann)«. Denn Individualinteressen werden auch öffentlich-rechtlich (im Strafrecht, Polizeirecht) geschützt und innerhalb »besonderer Gewaltverhältnisse«. Zu Parallelen im Soldatenverhältnis vgl. BVerfGE 44, 197 und Hellermann, S. 113 f.
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wieder neu über Toleranz, ihren Grund und ihre Grenzen, nachzudenken gilt – eine Toleranz, die wenn auch vom Staat gefördert und gehütet, in der Gesellschaft und ihren Rechtsverhältnissen der Gleichordnung und wechselseitigen Achtung sich bewähren muß (III.1.). Aber auch der Rückzug aus dem Gemeinwesen kann Konflikte im Außenverhältnis heraufbeschwören, wo die Gemeinschaft auf den Einzelnen angewiesen ist und nicht auf ihn oder doch zumindest: nicht auf beliebig viele Einzelne nach Maßgabe ihres subjektiven Dafürhaltens verzichten kann. Berechtigt die innere Haltung, wenigstens wenn sie als verbindlich empfunden wird, einzelne Bürger zu einem solchen Rückzug, zu einer Ausnahme vom allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichtenstatus? Wieder scheint der Grundsatz freiheitlicher geistiger Selbstbestimmung in diese Richtung zu weisen, denn die Verfassung erkennt jedenfalls gegenüber der Pflicht zum Kriegsdienst mit der Waffe aus Respekt vor der Geistesfreiheit, näher: dem Gewissen des Einzelnen, ein Entpflichtungsrecht ausdrücklich an (Art. 4 Abs. 3 GG).23 Aber die Verallgemeinerung bereitet Schwierigkeiten: Soll jeder jederzeit, selbst wenn es an rechtlich ausgewiesenen Alternativen (etwa des Ersatzdienstes nach Art. 12a Abs. 2 GG) fehlt, aus dem Staatsverbund sich von Gewissens wegen verabschieden dürfen, um nur noch die privatisierten Vorzüge zu genießen, nicht auch die sozialisierten Lasten tragen zu müssen? Hat der Staat – als Vertreter aller zur Gemeinschaft verbundener Einzelner – nicht auch einen gewissen Anspruch auf Teilnahme an seinen Veranstaltungen (z.B. auch auf den Besuch der öffentlichen Schule), um den Fortbestand des Ganzen zu sichern? Auch das vielleicht wohlbegründete Interesse des Einzelnen, sich diesem Anspruch zu entziehen, mag man im Lichte des Toleranzgebots zu verstehen und rechtlich zu fassen suchen. Diesmal freilich geht es um die Toleranz des Staates gegenüber dem partikularen Entpflichtungs- und d.h. Entstaatlichungsinteresse des Einzelnen (III. 2.). Damit sind die Fragerichtungen noch nicht abschließend beschrieben: Wo sich Gesellschaft und Staat begegnen, in der öffentlichen Schule, überlagern sich mit den beiden Bereichen auch die Konstruktionsprinzipien und die Richtungen, in denen jeweils nach der Bedeutung des Toleranzgebots zu fragen ist. Hier wird anhand des Kopftuchs der muslimischen Lehrerin ein Toleranzdilemma sichtbar: Gibt es eine dem Staat als Dienstherrn gegenüber bestehende Verhaltenspflicht der Lehrerin, die im täglichen Leben des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Kopftuch ganz selbstverständlich bekundete Besonderheit ihres Standpunkts nun in der Schule aus Gründen der Toleranz im Schulverhältnis zu verbergen? Oder müßte nicht der Staat, mit Rücksicht auf die Toleranz, die dem Bekenntnis der Lehrerin ohnehin gesellschaftlich 23 Vgl. BVerfGE 12, 45 (54); 13, 135; 23, 127; 23, 191.
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von jedermann, also auch von den Schülerinnen und Schülern geschuldet ist, seinerseits Toleranz gegenüber ihrer Bekundung walten lassen? In dieser Situation scheint gänzlich unklar, in welcher Richtung das Toleranzgebot eigentlich weist, wer also wem gegenüber Toleranz zu üben hat (III. 3.). Bevor der Versuch einer Antwort unternommen wird sind deren Voraussetzungen in den einfacheren Fallkonstellationen zu klären.
III. Das Toleranzgebot im Recht 1. Toleranz in der Gesellschaft oder: Toleranz durch Recht in den Beziehungen gesellschaftlicher Gleichordnung a) Rechtliche Entfaltungsgrenzen geistiger Freiheit als abschließende Festlegung des Toleranzanspruchs in der Gesellschaft Was sich die Mitglieder der Gesellschaft in (aktiver) Entfaltung ihrer geistigen Freiheit wechselseitig zumuten können, was an Toleranz geschuldet ist, ist im Grundsatz vom Recht zu entscheiden und in der Tat durch das Recht bei genauem Hinsehen präziser bestimmt, als die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gelegentlich glauben macht. Wo es aber an präzisen rechtlichen Aussagen fehlt, wird mit der Formel von der »Berücksichtigung des Toleranzgebots«24 das Problem als dessen Lösung ausgegeben. Es kann hier, mit anderen Worten, nicht um Toleranz im Sinne eines unmittelbar rechtlichen und auf den Einzelfall anzuwendenden Prinzips gehen. Es kommt auf die sorgfältige Deutung der verfassungsrechtlichen und rechtlichen Vorgaben für eine Gestaltung des sozialen Miteinanders an, die größtmögliche individuelle Freiheit mit wechselseitigem Respekt vor der gleichen Freiheit der anderen vereint. Daran vermag auch die (vielfach) vorbehaltlose Gewährleistung der Geistesfreiheit in ihren verschiedenen Erscheinungsformen25 nichts zu ändern. Beginnen kann man mit den tradierten Beispielen selbstverständlicher Schranken solch vorbehaltloser Freiheitsgewährlei-
24 BVerfGE 108, 282 (301, 302). 25 Umstritten ist, ob entgegen z. B. BVerfGE 33, 23 (29, 30 ff.) sich Schranken der religiösen Betätigung aus den in das Grundgesetz inkorporierten Weimarer Kirchenartikeln ergeben könnten (Art. 140 GG mit Art. 136 Abs. 1 WRV), hierzu die Betrachtung bei Helmut Goerlich, in diesem Band S. 207 (221) und bejahend Muckel, Berliner Kommentar (Fn. 18), Art. 4 Rn. 47 ff.; Schoch, Grundrechtsdogmatik (Fn. 18), S. 149, 159 ff.; ebenso BVerwGE 112, 227 (231 f.) – Verbot des Schächtens. Für die Gewissensfreiheit versagt allerdings dieser Begründungsansatz aufgrund der begrenzten Regelung in Art. 136 WRV, vgl. Muckel, Berliner Kommentar (Fn. 18), Art. 4 Rn. 64.
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stung: Schon immer war anerkannt,26 daß die Glaubensüberzeugung oder das religiöse Gebot nicht etwa das Menschenopfer und die Kunstfreiheit nicht den Mord auf der Theaterbühne rechtfertigt. Zur Begründung darf an die Erwägung des Bundesverfassungsgerichts erinnert werden, daß Freiheit ihre kulturgeschichtlich geprägten und begrenzten Formen hat, von denen auch der Verfassungsgeber unweigerlich ausgeht, wo immer er von Freiheit spricht. Diese zutreffende, freilich rechtsdogmatisch noch wenig gehaltvolle Begründung selbstverständlicher Schranken vorbehaltlos gewährleisteter Freiheit läßt sich vervollständigen und untermauern. Denn es ist – das Bundesverfassungsgericht hat dies vielfach konstatiert – in der Tat gerade die Geistesfreiheit, die das Grundgesetz verstärkt in Schutz nimmt.27 Der Grund liegt aber darin, daß eben die Überzeugung als solche und die geistige Wirkmächtigkeit ihrer Botschaft vor staatlicher Einflußnahme, Stigmatisierung und Unterdrückung, wie sie das Willkürsystem des Nationalsozialismus kennzeichneten, bewahrt werden soll. Darauf, auf den Schutz der geistigen Provokation, beschränkt sich überall der nur insoweit auch absolute Schutz und demgemäß die berechtigte Forderung nach Toleranz. Nicht allein der Staat ist verpflichtet, solche Zumutung zu dulden, in einer freiheitlichen Gesellschaft muß jedes einzelne ihrer Mitglieder die Konfrontation mit fremden, auch ungewohnten Geisteshaltungen auszuhalten wissen. Die Rechtsordnung, hat das Bundesverfassungsgericht einmal im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit ausgeführt, vermittelt keinen allgemeinen Anspruch auf ein unbeschwertes Gemüt.28 Also versagt sie auch dem Betreiber eines Kaufhauses die Möglichkeit, ein vertragliches Arbeitsverhältnis allein deshalb zu kündigen, weil die ansonsten bewährte Verkäuferin infolge einer Wandlung ihrer religiösen Vorstellungen nurmehr mit Kopftuch in der Öffentlichkeit aufzutreten wünscht.29 In einer freiheitlichen Gesellschaft ist vom Kaufhausbetreiber nicht weniger als von seinen Kunden zu erwarten, daß sie unaufgeregt und klaglos mit dem sichtbaren Bekenntnis individueller religiöser Überzeugung anderer leben. Über diese – auch ideengeschichtlich – gesicherte Reichweite der rechtsstaatlichen Garantie geistiger Freiheit(en) aber hinauszugehen, würde unweigerlich auf ein jedes Gemeinschaftsleben lähmendes Diktat partikula26 Bereits H. Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 18 ff, 24. 27 Oben in Fn. 17. 28 BVerfGE 102, 347 (364). Vgl. auch BVerfGE 93, 1 (16), BVerfG-K BayVBl. 2006, S.633 (634) : »kein Recht …, von fremden Glaubensbekundungen … verschont zu bleiben«. Zur weiteren Begründung aus Art. 136 Abs. 4 WRV mit Art. 140 GG vgl. Hellermann, Freiheitsrechte (Fn. 18), S. 171 f. 29 BVerfG-K NJW 2003, S. 2815.
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rer Überzeugungen hinauslaufen. Es darf freilich nicht verwundern, daß dies in der gebotenen Klarheit nicht völlig unangefochten anerkannt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit seiner – im Blick auf die christliche Religion entwickelten – ausufernden Interpretation der Glaubens- und Religionsfreiheit (als »Recht des Einzelnen … sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln«) den Weg zu dieser Einsicht ohne Not verstellt. b) Toleranzgebotene Rechtsansprüche auf besondere Rücksichtnahme? Wenn die (aktive) Entfaltung der Überzeugung dergestalt auf das rein geistige Einwirken beschränkt ist und sein muß, lassen sich nicht umgekehrt aus dem Toleranzgebot sogar zusätzliche Rücksichtnahmeansprüche ableiten, die aus dem Respekt vor der innerlich begründeten (religiösen, weltanschaulichen) Überzeugung und Haltung erwachsen? Für das staatliche Schulverhältnis, das nicht nur eine besondere Nähebeziehung zum Staat herstellt, sondern auch die Beziehungen auf der Gleichordnungsebene (zwischen den Schülern) verdichtet und wegen des Fehlens von Ausweichmöglichkeiten das zwischenmenschliche Konfliktpotential mehrt, mag das in der Tat angenommen werden.30 Indessen verhindert hier zum einen die staatliche Pflicht zu religiös-weltanschaulicher Neutralität31, daß sich Einzelne wegen ihrer religiösen oder weltanschaulichen Haltung herabgesetzt fühlen könnten. Zum anderen greift die ausdrückliche Toleranzmaßgabe der Schulgesetze. Denn der schulische Bildungs- und Erziehungsauftrag geht gerade darauf, den Respekt einzuüben, den Menschen als Personen einander allgemein schulden. Unter den besonderen Umständen des Schulverhältnisses wird zu diesem Zweck ausnahmsweise auch eine gesteigerte Mäßigung und Rücksichtnahme verlangt werden können.32 Was aber gilt allgemein im Umgang gleichberechtigter Gesellschaftsglieder? Verleiht das Toleranzgebot gewissermaßen ein Achtungsprivilegium über das allgemeine Personsein hinaus? Karikativ-kritische Darstellungen des Propheten Mohammed in westlichen Zeitungen, durch die Muslime überall auf der Welt ihre religiösen Gefühle aufs Gröbste verletzt sahen, haben diese – als solche nicht neue – 30 Gerade für das Schulverhältnis wird – mit Blick auf die unterschiedlichen Weltanschauungsund Glaubensrichtungen der Schulkinder bzw. ihrer Eltern – dieser Aspekt der Toleranz primär problematisiert, vgl. oben in Fn. 2 und BVerfGE 108, 282 (301). 31 Zusammenfassend BVerfGE 108, 282 (299 ff.). 32 Das hier vom positiven Recht der Schulgesetze – auf der Basis der Landesverfassungen – ausgesprochene Toleranzgebot liefert eine Rechtsgrundlage zur pädagogischen Mäßigung der (positiven) Bekundung von Überzeugungen, insbesondere soweit diese sich ein Urteil über andere Glaubens- oder Weltanschauungsrichtungen erlauben oder diese anderweit zum Gegenstand haben, vgl. BVerfGE 52, 223 (250 f.: »verbindliche[s] Erziehungsziel des Geistes der Duldsamkeit«).
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Frage33 und damit die Frage nach den Grenzen der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit schlaglichtartig ins aktuelle Problembewußtsein gerückt. Tatsächlich hat der Vatikan aus Anlaß dieser Diskussion nicht nur Verständnis für die Muslime geäußert und einen »Mangel an menschlicher Sensibilität« auf Seiten der Presse beklagt, sondern darüber hinaus den besonderen Rechtsanspruch der Gläubigen auf Toleranz betont: Das Recht auf freie Meinungsäußerung bringe nicht »das Recht zur Beleidigung der religiösen Gefühle der Gläubigen mit sich«34. Auch hier hält freilich die rechtsstaatliche Verfassungsordnung Regelungen für den gesellschaftlichen Umgang parat, anhand deren sich die Toleranzfrage rechtlich klären läßt, ohne daß es der Konstruktion einer toleranzgebotenen Ausnahme bedürfte: Daß selbst rein geistige Einwirkungen ausnahmsweise Rechtsgüter verletzen können und dann zu Recht verboten sind, ist im – seinerseits tradierten – Fall der persönlichen Ehre verfassungsrechtlich anerkannt (Art. 5 Abs. 2 GG). Vor herabsetzenden Werturteilen geschützt35 ist mit diesem ausdrücklichen Vorbehalt aber die Achtung vor dem Eigenwert der natürlichen Person (und deren gesellschaftliche Anerkennung). Diese enge Begrenzung des Ehrenschutzes auf den privaten Einzelnen ist wohlerwogen. Der mißbräuchlichen Unterdrückung unangepaßter Standpunkte, weil diese womöglich die dumpfe Selbstzufriedenheit eines wohlregierten Volkes stören könnten, wären sonst Tür und Tor geöffnet. Staatliche Institutionen (bspw. die Bundeswehr) dürfen darum nicht ohne weiteres dem Schutz jenes personenbezogenen Ehrbegriffs unterstellt werden, will man sie nicht weithin gegen Kritik immunisieren.36 Ebensowenig dürfen aber religiös begründete Regeln, die von einer Glaubensoder Religionsgemeinschaft lediglich für ihre Mitglieder verbindlich gemacht werden können, auf dem Umweg über den Ehrenschutz zu allgemeinen Verhaltensstandards erklärt werden. Die Grenze zwischen dem – auch in Religionsdingen – gebotenen Schutz durch die Rechtsordnung und einer unzulässigen Verallgemeinerung und Verabsolutierung von partikularen Glaubenssätzen und Religionsnormen ist vielleicht nicht immer einfach zu ziehen. Aber das Gesetz hat hier den richtigen Weg beschritten, freilich auf der Grundlage von Wertvorstellungen, die 33 Bereits die Auseinandersetzung um George Grosz` Zeichnung »Christus am Kreuz mit der Gasmaske« hat sie aufgeworfen, dazu B. Schlink/W. Schlink, Das Dilemma der Kunstfreiheit, in: B. Schlink, Vergewisserungen, Zürich 2005, S. 112 ff.; vgl. RGSt 64, 121. 34 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 5 D v. 5.2.2006, S. 1. 35 Zum Unterschied zu Tatsachenbehauptungen insb. BVerfGE 90, 241 (247). 36 Das Bundesverfassungsgericht hat das Problem eines Ehrenschutzes zugunsten des Staates gesehen, BVerfGE 93, 266 (291), aber den Konflikt des § 194 Abs. 2 StGB mit der Schrankenklausel des Art. 5 Abs. 2 GG kurzweg dadurch gelöst, daß es diese Vorschrift als zulässig beschränkendes allgemeines Gesetz interpretiert hat.
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mit der Aufklärung überkommen sind und für die eine Vermutung zugunsten der freien und vorbehaltlosen geistigen Auseinandersetzung zentral ist:37 Es schützt das religiöse oder auch weltanschauliche Bekenntnis unter dem Aspekt des öffentlichen Friedens, weil die in der sozialen Wirklichkeit vorhandenen und sie prägenden Bekenntnisse oder Weltanschauungen ein wesentliches Strukturelement der kulturell geprägten Gesamtordnung bilden (§ 166 StGB). Religiöse Bekenntnisse oder Weltanschauungen sind dagegen ebenso wenig wie die sie vertretenden Gemeinschaften und ihre Einrichtungen oder Gebräuche als solche (um ihrer selbst willen) rechtlich geschützt. Dabei sollte es auch bleiben.38 Denn der freiheitliche Rechtsstaat erfährt seine Legitimation wesentlich auch aus seiner religiös-weltanschaulich neutralen Grunddisposition.39 Wollte er religiös-weltanschaulich begründete Sonderrechte auf Toleranz anerkennen, stünde er in Gefahr sich der Basis seiner Legitimation zu berauben und seine Daseinsberechtigung zu verspielen.
2. Der tolerante Staat Der Staat tritt aber nicht nur, kraft der von ihm garantierten allgemeinen Rechtsordnung wechselseitig gleicher Rechte und Pflichten, gegenüber der Gesellschaft als Hüter der Toleranz auf. Er verpflichtet auch die Gesellschaftsmitglieder als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger solidarisch ihre Beiträge zum Gemeinwesen zu leisten. Hier gibt es Pflichten, die man als staatsbürgerliche Grundpflichten bezeichnen könnte, soweit sie dem Erhalt des Gemeinwesens im Ganzen dienen, wie die Wehrpflicht, die Abgaben/Steuerleistungspflicht,40 sowie die Pflicht, in den Worten von Art. 163 Abs. 37 Zu diesem Verständnis der Aufklärung als einer »wechselseitige(n) Aufklärung eines Publikums im Streit der Meinungen«, einem Austausch der Argumente also, bei dem die Wahrheit in jedem Falle gewinnt, Jürgen Engfer, in diesem Band S. 159 (170). Dieses Verständnis, das Ralf Poscher, in diesem Band S. 129 (140 f. und 143 f.), auch für Spinozas Begründung der Toleranz nachweist, trifft sich mit den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Bedeutung, die die Geistesfreiheit (insb. die Meinungsfreiheit) in einem freiheitlich-demkratischen Gemeinwesen und für dieses hat, BVerfGE 5, 85 (205); 7, 198 (208), vgl. oben bei Fn. 15 und 27. 38 Vgl. H. Tröndle/T. Fischer, StGB, 54. Aufl. 2007, § 166, Rn. 1, 2c, 2d. Auch die Verkäuferin im weiter oben behandelten Fall des Bundesverfassungsgerichts kann nicht mehr rückhaltlosen Respekt vor ihrem persönlichen Bekenntnis verlangen, wenn tatsächlich betriebliche Störungen oder wirtschaftliche Nachteile von diesem verursacht werden sollten, BVerfG-K NJW 2003, S. 2815. Unter der Voraussetzung der Privatautonomie kann weder die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Verkäuferin noch die Intoleranz der Belegschaft oder Kundschaft ausschließlich zu Lasten des Kaufhausbetreibers gehen. 39 Er ist gerade und nur insofern »Heimstatt aller Bürger«, BVerfGE 108, 282 (299 f.). 40 Zum Steuerstaat E. Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), S. 8, 31; K. Vogel, Rechtfertigung der Steuern: eine vergessene Vorfrage, Der Staat 25 (1986), S. 481 (insb. 494 ff.).
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1 WRV, »seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert«.41 Solidarpflichten können sich aber auch auf das Verhältnis zwischen den Gesellschaftsgliedern beziehen, wo ein Verzicht auf Solidarität die lückenlose Wahrung von Sicherheit und Freiheit der Einzelnen, kurz: den Rechtsschutzzweck des Staates, gefährden könnte. Solche Erwägungen sind es, die im Grundsatz die Strafbewehrung der unterlassenen Hilfeleistung rechtfertigen (§ 323 c StGB). Auch hier fordert die innerlich begründete, mit der eigenen Persönlichkeit unlösbar verknüpfte, sie geradezu konstituierende Haltung Respekt vor der regelwidrigen Besonderheit; ein Verlangen, das diesmal auf Ausnahme von unzumutbarer Verpflichtung zielt: Die gesetzliche Pflicht könnte nur unter Verleugnung des eigenen Selbst erfüllt werden. Erwächst hier am Ende aus dem Toleranzgebot doch noch ein Recht und hat der Staat also aus Rechtsgründen Toleranz zu üben? Die verfassungsrechtliche Gewährung eines Rechts, aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern (Art. 4 Abs. 3 GG), darf nicht dazu verleiten, den Spezialfall für die Regel zu nehmen. Bei näherem Hinsehen weisen nämlich Rechtsgrundsätze in die entgegengesetzte Richtung: Der Staat kann innerlich begründete, selbst ernsthafte und als unbedingt verpflichtend empfundene Überzeugungen, damit auch die auf diesen beruhenden Entscheidungen nicht als regelmäßige (selbstverständliche) Ausnahmen von der allgemeinen Pflicht zum Gesetzesgehorsam und gegebenenfalls zur Solidarität akzeptieren, weil er sonst, seinem eigenen Zweck zuwiderlaufend, die partielle Entstaatlichung billigt. Daß jemand für sich aus religiösen Gründen ärztliche Hilfe grundsätzlich ablehnt, entbindet ihn also nicht von der Pflicht, anderen die benötigte Hilfe zu leisten und sie ärztlicher Versorgung anzuvertrauen. Wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner »Gesundbeter«-Entscheidung diesen Grundsatz angezweifelt und Strafsanktionen als inadäquat verworfen hat, wenn sie mit Glaubensgeboten kollidieren, die der Einzelne als ihn persönlich bindend erachtet,42 so ist dies doch nur geschehen um einen Rechtsfehler der Instanzgerichte zu korrigieren. Denn die hilfebedürftige Ehefrau des im Ausgangsfall Angeklagten hatte auf weitere medizinische Hilfe wirksam verzichtet und namentlich die Einweisung in ein Krankenhaus ausdrücklich von sich gewiesen. Eine gesetzliche Verpflichtung aber, andere gegen ihren frei und eigenverantwortlich gefaßten Willensentschluß zu einem Verhalten zu überreden, das ihrem wohlverstandenen (aber eben fremddefinierten) Besten entsprechen soll, verstößt offenkundig gegen das Prinzip der Autonomie, von dem die Grundrechte mit Art. 1 (Abs. 3) GG 41 C. Enders, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, VVDStRL 64 (2005), S. 9 ff., 38 ff. (m. Fn. 118, 130) zur Arbeitspflicht im Sozialstaat. 42 BVerfGE 32, 98 (108 f.). Bekräftigend BVerfG-K BayVBl. 2006, S. 633 – Schulpflicht.
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unabänderlich ausgehen.43 In diesem Sinne darf also auch die Hilfeleistungspflicht nicht (um-)interpretiert werden. Im übrigen bleibt es bei der Pflicht zum Gesetzesgehorsam,44 also auch der ausnahmslosen Verbindlichkeit von – im Grundsatz zwangsweise durchsetzbaren – Solidarpflichten.45 Erinnern wir uns daran: Selbst die Lehre vom Widerstandsrecht reduziert am Ende die Rechtsposition auf die Ausübung passiven Widerstands, die die rechtlichen Sanktionen, die sie zu gewärtigen hat, in Kauf nehmen muß.46 Daraus folgt dreierlei: (1.) Die Möglichkeit sich im Einzelfall von Rechtspflichten (namentlich Solidarpflichten) entbinden zu lassen, hängt zum einen ab von einer positiven Normierung, die typischerweise zugleich ein Verfahren zur Verfügung stellt, an dessen Ende erst die Anerkennung steht (»per viam dispensationis«). Das zeigt besonders deutlich die Regelung der Kriegsdienstverweigerung in Art. 4 Abs. 3 (Satz 2) GG. Aber auch sonst weist das Gesetz meist verfahrensmäßige Auswege aus dem Konflikt zwischen innerer (religiös-glaubensmäßiger, weltanschaulicher) Überzeugung und äußerer Verhaltenspflicht: Wer seine schulpflichtigen Kinder vor bestimmten in der Schule gelehrten Inhalten schützen will, weil diese religiösen Verhaltensregeln zuwiderlaufen, die als persönlich verpflichtend empfunden werden, muß, wenn informelle Lösungen keinen dauerhaften Erfolg versprechen, bei der zuständigen Stelle um eine förmliche, ausnahmsweise Entbindung von der Schulpflicht nachsuchen.47 Wer das allgemeine gesetzliche Verbot betäubungslosen Schlachtens (des Schächtens), das damit zugleich ein Betäubungsgebot formuliert (§ 4a Abs. 1 TierschutzG), aus religiösen Gründen nicht einzuhalten bereit ist, ist auf den nach § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG vorgesehenen Antrag auf Erteilung einer behördlichen Ausnahmegenehmigung verwiesen. Außerhalb der vorgesehenen Verfahren wird regelmäßig auch das Entpflichtungsbegehren keine Anerkennung finden. Zum anderen (2.) verstehen sich solche Ausnahmeregelungen als in Recht gegossene Toleranz. Sie sind weder rechtsgrundsätzlich gefordert, noch nach Rechtsgrundsätzen zu erklären. Denn hier wird nicht mehr in den wechsel43 Zu § 323c StGB Tröndle/Fischer, StGB (Fn. 38), § 323 c Rn. 6. 44 Hierzu auch Muckel, Berliner Kommentar (Fn. 18), Art. 4 Rn. 47. 45 Einfachgesetzlich definierte Verhaltensgebote haben dabei nur als wirklich allgemeine, nicht auf die Überzeugung zielende Verpflichtungen zum Schutze des Gemeinwesens im ganzen oder einzelner Rechtsgüter verfassungsrechtlich Bestand. 46 Zu Hobbes E.-W. Böckenförde, Sicherheit und Selbsterhaltung vor Gerechtigkeit, 2004, S. 23. Allgemein C. Enders, Art. Widerstandsrecht (J), in: Heun u.a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 2700, 2702. 47 Der Schulpflicht ist durch Teilnahme am Unterricht gerade einer öffentlichen Schule oder anerkannten Ersatzschule nachzukommen. Die in der Entscheidung BVerfG-K BayVBl, 2006, S.633 – Schulpflicht einschlägige hessische Regelung (§ 60 Abs. 2 Satz 2 HessSchulG) sieht deshalb vor, daß »anderweitiger Unterricht außerhalb der Schule … nur aus zwingenden Gründen vom Staatlichen Schulamt gestattet werden« darf.
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seitig gleichen Rechten und Pflichten des Rechtsverhältnisses gedacht. Im Gegenteil, es geht um einseitige Entpflichtung, die einseitig bleibt, selbst wo sie anderweit kompensiert wird. Deshalb ist in diesen Zusammenhängen auch so oft von Handlungsalternativen die Rede, die garantieren könnten, daß der Gesamtzweck des Ganzen trotz Entpflichtung des Einzelnen noch erreicht oder wenigstens nicht vollständig verunmöglicht wird und die deswegen der Einzelne, wenn er wirklich Entpflichtung anstrebt, notfalls aufzeigen können, um die er sich aktiv bemühen muß. Man sieht: Hier ist anstelle von rechtlicher Qualität auch schnell von Quantität die Rede. Ein starker Staat – so Hegel – kann sich Toleranz leisten und sogar (vereinzelt!) »Gemeinden (nämlich etwa Quäker, Wiedertäufer …) in sich aushalten, welche selbst die direkten Pflichten gegen ihn religiös nicht anerkennen« und eigentlich auf Mitgliedschaft im Staat gar keinen Anspruch erheben können.48 In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: »Das Gebot staatlicher Toleranz in Fragen des Glaubens und der Weltanschauung gilt insbesondere gegenüber Minderheiten und Sekten, die nach den vorliegenden tatsächlichen Erfahrungswerten schon zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen.«49 Diese allgemeingültige Überlegung muß man vor allem auf das Recht zur Kriegsdienstverweigerung beziehen (bei dem auch die Überlegung eine Rolle spielen mag, wie sinnvoll es ist, gesetzliche Pflichten gegen die innere Überzeugung der Adressaten zwangsweise durchzusetzen – ein Zwang zum Kriegsdienst schafft keine schlagkräftige Armee). Ein Gewissensrecht auf Kriegsdienstverweigerung mag darum durchaus »einem Staate angemessen (sein), der eine Gemeinschaft freier Menschen sein will«50 – es läßt sich dennoch nicht als notwendiger Bestandteil einer freiheitlichen Rechtsordnung nach Rechtsprinzipien begründen. Es ist rechtliche Toleranzgewährung, nicht Gewährleistung einer mit dem Menschen geborenen (natürlichen) Freiheit. Hier also ist es, um mit Hegel zu sprechen, »im eigentlichen Sinne der Fall, daß der Staat Toleranz ausübt«51. Dieser Grundzug kennzeichnet aber nicht nur die Option der Kriegsdienstverweigerung, er ist allen Verfahren eigentümlich, die der von Einzelnen wie Gruppen aus Glaubens- oder Überzeugungsgründen beanspruchten besonderen Freistellung vom allgemeinen 48 Hegel, Grundlinien (Fn. 5), § 270, Anm. (S. 420 f. mit Fußn*). Kritik an den Defiziten dieses Toleranzverständnisses übt Ludwig Siep, in diesem Band S. 177 (187 f., auch 189). Zu bedenken bleibt aber stets auch der umgekehrte Anerkennungsanspruch des historisch-konkreten Staatswesens, das auch und gerade wenn es auf Geistesfreiheit fußt, vom Gesetzesgehorsam im übrigen nicht absehen kann. 49 BVerfGE 33, 23 (32). 50 BVerfGE 12, 45 (54). 51 Hegel, Grundlinien (Fn. 5), § 270, Anm. (S. 421 in Fußn*). Als unmittelbaren Ausdruck der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte versteht demgegenüber das Recht auf Kriegsdienstverweigerung Helmut Goerlich, in diesem Band S. 207 (221 mit Fn. 48).
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Pflichtenstatus dienen: Die begehrte Freistellung wird nur nach Maßgabe des tatsächlich Möglichen konzediert, des als – namentlich wegen der geringen Häufigkeit der Abweichung – verträglich Erkannten und historisch-sozial Anerkannten. Auch der Blick auf den Dispens vom Schächtverbot zeigt, daß weniger in Vorstellungen unwägbarer (geistiger) Freiheit, als in quantifizierenden Kategorien argumentiert wird: die religiösen Regeln, die das Schächten vorschreiben, sind ihrem Rang nach einzustufen als gelebte Erscheinungsformen von Religion, als Bräuche und Riten (vgl. Art. 9 EMRK). Nach der inneren Systematik des Tierschutzgesetzes erfahren sie daher im Ergebnis, wenn hinreichend nachgewiesen, eine (freilich im Einzelfall ausdrücklich zu beantragende) Ausnahme vom Verbot betäubungslosen Tötens wie sie ähnlich auch der »Tötung eines Wirbeltieres ohne Betäubung im Rahmen weidgerechter Ausübung der Jagd« (nach § 4 TierSchG) gesetzlich zugestanden ist. Mehr als eine solche historisch-soziale, die Ernsthaftigkeit indizierende Verfestigung der religiös begründeten Verhaltensregel braucht der Anspruchsteller darum auch nicht zu substantiieren.52 Die dritte Schlußfolgerung führt zu absoluten Grenzen der rechtlichen Toleranzgewährung: Wo die Möglichkeit einer Entpflichtung aus Gründen der Toleranz eingeräumt und positiv-rechtlich näher bestimmt ist, geht sie (3.) nur genau so weit, wie die ausdrückliche Anerkennung des Toleranzanliegens samt der vom Recht hilfsweise zur Wahrung des Gesamtinteresses zur Verfügung gestellten Verhaltensalternativen reicht. Denn die Möglichkeit einer totalen Entpflichtung ist nicht nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen geschuldet. Scheiden Verhaltensalternativen aus oder werden sie nicht ergriffen, bleibt es bei der allgemeinen Gehorsamspflicht.53 Die Verweigerung auch der zum Wehrdienst bestehenden Alternative des zivilen Ersatzdienstes überschreitet deshalb den Rahmen der verfassungsrechtlichen Anerkennung und verdient keine Privilegierung aus Rechtsgründen.54 52 BVerfGE 104, 337 (354 f.). 53 BVerwG DÖV 1998, S. 424 für Tierversuche im Medizinstudium: Die Medizinstudentin, die keine dem Studienziel in gleich geeigneter Weise dienende Alternativen zu den von ihr abgelehnten Tierversuchen zu benennen vermag, bezahlt ihre Verweigerungshaltung mit dem Mißerfolg des Studiums. Weniger deutlich, aber letztlich doch in die nämliche Richtung argumentiert das BVerfG im Schulpflicht-Fall, BVerfG-K BayVBl. 2006, S. 633 (634): Naheliegende Handlungsalternativen schließen die (Total-)Verweigerung aus, wer sich um solche Alternativen nicht ernsthaft bemüht, ist darum mit seinem Entpflichtungsanspruch präkludiert. 54 Selbst eine generelle Entschuldigung der strafbaren Totalverweigerung ist daher abzulehnen, vgl. BVerfGE 23, 127 (132 f.); in Betracht kommen allenfalls im Einzelfall zu begründende Ausnahmen auf der Ebene des strafrechtlichen Schuldvorwurfs oder – was systematisch eher sachgerecht erscheint – auf der Ebene der Strafzumessung. Anders (mit zahlreichen Nachweisen der vertretenen Auffassungen) M. Kahlo, Die Problematik des Handelns aus strafgesetzwidriger Richtigkeitsüberzeugung – Überlegungen im Anschluß an Kants Philosophie freiheitsgesetzlicher Praxis, in: D. Klesczewski u.a. (Hrsg.), Kants Lehre vom richtigen Recht, 2005, S. 101, insb. 117.
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3. Der Streit um das Kopftuch Was gilt, wenn sich Staat und Gesellschaft unmittelbar berühren und begegnen und sich ihre je verschiedenen Ordnungsprinzipien überlagern – in der öffentlichen Schule? Zwei Fallkonstellationen sind von vornherein aus diesem Fragenkomplex auszuscheiden. Zum einen das Kreuz oder Kruzifix an der Wand. Macht sich der Staat religiöse Symbole zu eigen und ihre Botschaft zu der seinen, verstößt dies nicht nur gegen den Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität (Identifikationsverbot). Es bedeutet auch eine gezielte (jedenfalls versuchte) Einflußnahme auf die davon (zwangsweise) betroffenen Schülerinnen und Schüler, d.h. einen verbotenen Eingriff in ihre Glaubensfreiheit (Indoktrinationsverbot), die dafür nicht als »negative« näher qualifiziert zu werden braucht.55 Dem Staat ist jeder Versuch gezielter Einflußnahme auf das forum internum der geistigen Persönlichkeitsbildung absolut verboten. Bietet dagegen der Staat lediglich die Möglichkeit und den institutionell-räumlichen Rahmen, in der Schule außerhalb des Religionsunterrichts ein Schulgebet (innerhalb oder außerhalb der Unterrichtszeit) abzuhalten, ohne daß die Teilnahme verpflichtend wäre, so realisiert sich in der Religionsausübung der Mitschüler mit ihrer als solchen (auch dem Inhalt nach!) rein privaten Bekundung ein Stück Gesellschaft innerhalb der staatlichen Schule.56 Es bleibt daher – aus Sicht der betroffenen Schülerinnen und Schüler – im Grundsatz bei den für das Feld der Gleichordnung rechtlich abschließend geregelten Grundsätzen wechselseitiger Toleranz, deren oft mühevolle Praxis einzuüben nicht früh genug begonnen werden kann.57 Ein Recht, von der vom Gebet ausgehenden, geistigen Einwirkung gänzlich verschont zu bleiben, gibt es also nicht. Eine 55 Vgl. BVerfGE 93, 1 (16 ff.); 108, 282 (300); BVerfG-K BayVBl. 2006, S. 633: »keine gezielte Beeinflußung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung«. Das muß selbstverständlich auch für Akte religiöser Propaganda gelten, zu denen auch die gezielt auf Wahrnehmung gerichtete staatliche Präsentation eines Kreuzes/Kruzifixes zählt, mit dem unzweifelhaft eine religiöse Botschaft und insb. ein spezifisch religiöser Wahrheitsanspruch verbunden ist. Anders (kein Eingriff) etwa Muckel, Berliner Kommentar (Fn. 18), Art. 4 Rn. 45, da »in der pluralistischen Gesellschaft die Konfrontation mit religiösen Symbolen ohnehin unausweichlich« sei. Diese Argumentation übersieht, daß der Staat eben kein Teil der pluralistischen Gesellschaft ist. 56 Die in BVerfGE 52, 223 (248 ff.) angemahnten organisatorisch-verfahrensmäßigen Vorkehrungen einer verträglichen Gestaltung des Schulgebets dienen daher sämtlich dazu, die Privatheit der Veranstaltung und vor allem ihrer Botschaft zu signalisieren und sicherzustellen, vgl. Hellermann, Freiheitsrechte (Fn. 18), S. 111, 217. 57 BVerfGE 52, 223 (251); vgl. BVerfGE 108, 282 (310). Das BVerfG spricht insoweit auch von »gelebter Toleranz«, BVerfG-K BayVBl. 2006, S. 633 (634). Vgl. zu den möglichen Ausnahmen i. S. des positiv-rechtlich in den Schulgesetzen verankerten Toleranzgebots oben im Text bei und nach Fn. 30.
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ganz andere, vom Bundesverfassungsgericht im Schulgebet-Fall aber gleichfalls bejahte Frage ist es, ob der Staat selbst, auch wenn ihm die christliche Botschaft des Gebets als solche hier nicht zuzurechnen ist, wirklich noch die objektiv-rechtlich gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität wahrt, wenn er die Möglichkeit zum Schulgebet – namentlich innerhalb der regulären Unterrichtszeit und unter Mitwirkung des Lehrpersonals – schafft.58 Im Streit um das Kopftuch der muslimischen Lehrerin tritt nun ein weiterer Aspekt hinzu, der Aspekt der Freistellung von bestimmten Verhaltenspflichten, der wieder auf die Frage nach dem toleranten Staat zurückzuführen scheint: Einerseits ist das Kopftuch der Lehrerin häufig Zeichen eines religiösen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1 GG) und jedenfalls – in den streitigen Fällen – unmittelbar Ausdruck einer persönlichen inneren Haltung. Bewahren die Grundrechte nach heute ganz herrschender Auffassung auch in den früher sogenannten besonderen Gewaltverhältnissen (heute: Sonderstatusverhältnissen), etwa: dem Beamtenverhältnis, ihren Geltungsanspruch, dann wird der Amtsträger nicht völlig ent-persönlicht und muß das Tragen des Kopftuchs innerhalb der allgemeinen gesetzlichen Regelungen als erlaubt gelten.59 Die mit ihm verbundene geistige Äußerung eines inneren Standpunkts darf der Staat im Über-Unterordnungsverhältnis (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht als solche unterdrücken wollen. Den Schülerinnen und Schülern wiederum steht die Lehrerin, was gerade die geistige Äußerung ihrer persönlichen Haltung angeht, als Privatperson gegenüber. Denn der mit dem Kopftuch ausgedrückte Standpunkt ist ganz offenkundig nicht dem Staat als Dienstherrn zuzurechnen, er gehört der auch im Amt verbleibenden Eigensphäre persönlicher Entfaltung zu.60 Auf seinen persönlichen Standpunkt zu verzichten kann aber im wechselseitigen Verhältnis gleicher Rechte und Pflichten keinem Gesellschaftsglied angesonnen werden, solange es nicht die nach dem Grundsatz der gleichen Freiheit aller vom Gesetz gezogenen 58 Zu Recht a. A. Hellermann, Freiheitsrechte (Fn. 18), S. 216 f.; im Ergebnis auch Helmut Goerlich, in diesem Band S. 207 (227 f.) unter dem allerdings anderen (grundrechtlichen) Gesichtspunkt des Minderheitenschutzes. 59 BVerfGE 33, 1 – Strafgefangenen-Beschluß. Daß diese Erwägungen zur Geltung der Grundrechte in besonderen Gewaltverhältnissen wirklich auf das freiwillig begründete Beamtenverhältnis mit seinen spezifischen funktionalen Anforderungen Anwendung finden können, wird freilich auch vielfach bestritten, vgl. das Sondervotum Jentsch, Di Fabio, Mellinghoff, BVerfGE 108, 282 (315 ff.); ferner J. Schwabe, Literaturecho, DVBl. 2004, 616 ff. (m. w. N.). 60 Soll die Bekleidung (bzw. ihre Botschaft) dem Staat zugerechnet werden, bedient dieser sich des Mittels der Vereinheitlichung (Uniformierung). Anders auch insofern Schwabe, Literaturecho (Fn. 60), S. 616 (m. w. N.): eine Botschaft, die »als amtliche Aktion zu bewerten und dem Dienstherrn zuzurechnen (ist)«. Die Bekleidungswahl und die mit ihr verbundene Aussage bleiben indessen – mangels Uniformierung – eine Frage des Verhaltens bei Gelegenheit der Dienstausübung.
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Schranken überschreitet. Beide Überlegungen führen indessen je für sich nicht zur rechtlichen Lösung des Toleranzproblems. Der vom Kopftuch der Lehrerin ausgehende Toleranzkonflikt läßt sich nicht einfach nach den Regeln des allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnisses bewältigen, nur weil er mit Rücksicht auf die Grundrechte auszutragen ist. Aber auch die zwischen Gleichgeordneten (innerhalb der gesellschaftlichen Sphäre) wechselseitig geschuldete und rechtlich abschließend verfaßte Toleranz muß angesichts der besonderen, mehrpoligen Konfliktlage im Schulverhältnis ihre Ordnungsfunktion verfehlen. Denn die Lehrerin trifft gleichzeitig eine Dienstpflicht und in deren Rahmen die pädagogische Verantwortung zur sachgemäßen Wahrnehmung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags, was eine gewisse Neutralität der Amtsführung einschließt. Ob diese Pflicht ihrem spezifischen Inhalt nach erfüllt werden kann und erfüllt werden wird, bildet wiederum den maßgeblichen Anhaltspunkt, nach dem die Eignung zu beurteilen ist, die, verfassungsrechtlich gesichert, neben Befähigung und fachlicher Leistung eines Bewerbers oder einer Bewerberin Voraussetzung für den Zugang zu öffentlichen Ämtern ist (Art. 33 Abs. 2 GG). Dabei ist zwar eindeutig, daß negative Beurteilungen der geforderten Eignung nicht ohne weiteres an grundrechtsgeschützte Verhaltensweisen anknüpfen dürfen (Art. 4 Abs. 1 GG), diese können für sich betrachtet keinen Ausschluß- oder Benachteiligungsgrund abgeben (auch: Art. 3 Abs. 3 GG).61 Determiniert von der spezifischen und alternativlos unausweichlichen Situation mögen aber an sich grundrechtsgeschützte Verhaltensweisen tatsächliche Folgen nach sich ziehen, die die Funktion der zweckgebunden eingerichteten und organisierten staatlichen Einrichtung insgesamt gefährden.62 Erschüttert vielleicht das mit einer bestimmten inneren Einstellung verbundene (und mit weiteren Bedeutungsgehalten assoziierte) Kopftuch der Lehrerin das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung derart, daß eine unbefangene Kommunikation im Unterricht unmöglich wird und die Schüler den Unterrichtsinhalten nicht hinreichend offen begegnen? Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule würde dann grundlegend in Frage gestellt. Da alternative Möglichkeiten der Pflichterfüllung, unter deren Voraussetzung die Lehrerin von dem strikten Gebot, sich »störende« Bekun61 So zutreffend E.-W. Böckenförde, Kopftuchstreit auf dem richtigen Weg?, NJW 2001, S. 723, 724. 62 Von daher kommt das Sondervotum Jentsch, Di Fabio, Mellinghoff, BVerfGE 108, 282 (315 ff.) zu Beschränkungen bereits des grundrechtlichen Schutzbereichs (S. 315 »Funktionsvorbehalt des öffentlichen Dienstes«, S. 317 »Funktionsvorbehalt für Grundrechtsansprüche der Beamten im Dienst«, S. 325 »kein Funktionshindernis bei der Ausübung des übertragenen öffentlichen Amtes«), die also die Rechtfertigungsbedürftigkeit der funktionstypischen Anforderungen ausschließen. Das erübrigt aber nicht die Antwort auf die Frage, was im einzelnen die Wahrung der Funktionstüchtigkeit erfordert.
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dungen zu versagen, befreit (»entpflichtet«) werden könnte, offenkundig ausscheiden, bliebe der Lehrerin nur die Wahl, entweder auf das Kopftuch und damit den Ausdruck ihrer inneren Überzeugung oder aber auf das öffentliche Amt zu verzichten. Wirklich hat das Bundesverwaltungsgericht eine Regelung auf Länderebene63 für zulässig gehalten, die u.a. religiöse oder weltanschauliche Bekundungen verbietet, wenn sie geeignet sind (durch ihren Symbolgehalt) die Neutralität oder den Schulfrieden zu stören oder auch nur zu gefährden.
IV. Ein Weltbürgerrecht auf Toleranz Kann wirklich schon die abstrakte und dazuhin durch die – gemutmaßte (!) – Wahrnehmung der Empfänger (Schülerinnen und Schüler) definierte Möglichkeit einer tatsächlichen Gefährdung ausreichen, um die Äußerung von Geistesinhalten zu verbieten? Immanuel Kant hat in seiner Friedensschrift als dritte prinzipielle Voraussetzung des Weltfriedens neben republikanischer Regierungsform und Völkerbund ein Weltbürgerrecht postuliert, das auf den ersten Blick merkwürdig substanzlos erscheint, weil es rein negativ gefaßt ist: »das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden«64. Schon nach Kants eigener Interpretation gewährt dieses Recht nur eine schwache Position: nicht einmal ein Gastrecht, nur ein Besuchsrecht. In einer Ordnung des positiven Rechts scheint es keinen Platz zu haben. Und doch läßt sich aus ihm eine Zuspitzung des Toleranzgebots auf einen möglichen rechtsprinzipiellen Gehalt gewinnen, dem dann nicht etwa nur international, für den Umgang der Staaten und Völker miteinander, sondern für das Recht überhaupt Bedeutung zukommt. Denn Fremdheit wird nicht erst unter den Umständen der Globalisierung und der zunehmend multikulturell geprägten Lebenswelten zur alltäglichen Erfahrung. Daß eine innere Haltung äußerlich bekundet wird, schafft regelmäßig eine Situation der Fremdheit – auch in der 63 § 38 Bad.-Württ. SchulG, Änderung v. 1.4. 2004, GBl. S. 178. Das Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 108, 282 (307 f.), hatte solche Regelungen zur Präzisierung der Eignungsvoraussetzungen mit Blick auf die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit für geboten erachtet. Das BVerwG (E 121, 140) hat die Neuregelung im bad.-württ. Schulgesetz für verfassungskonform gehalten, soweit das strikte Gebot der Gleichbehandlung aller Glaubensrichtungen eingehalten wird und damit jegliche religiös-weltanschaulichen Bekundungen oder Symbole aus der Schule verbannt werden, dazu E.-W. Böckenförde, JZ 2004, S. 1181 (Entscheidungsanm.); vgl. jetzt konsequent hieran anknüpfend VG Stuttgart NVwZ 2006, 1444. 64 Kant, Zum ewigen Frieden, in: Werke (Fn. 11), Bd. 6, S. 193, 213. Die Textstelle lautet weiter: »Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann, so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen.«
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organisierten Vervielfältigung des Demonstrationszugs wird sie nur gemildert, nicht beseitigt. Und stets fragt sich in dieser Situation, ob dem friedlichen Anschein zu trauen ist oder vorsorglich der Gefährlichkeitsverdacht zum Prinzip erhoben werden soll. Kants Weltbürgerrecht weist den Verdacht zurück und kann so mit einer Wortprägung des Bundesverfassungsgerichts als staatsgerichtetes »Wohlwollensgebot« zugunsten jeder friedlich, ob durch Worte oder Symbole geäußerten inneren Überzeugung verstanden werden.65 Auch auf den Fall des Kopftuchs der muslimischen Lehrerin läßt sich das »Wohlwollensgebot« rechtsprinzipieller Toleranz anwenden, das hier wiederum keinen selbständig für sich stehenden und als solchen anzuwendenden Rechtsgrundsatz bezeichnet, vielmehr in grundsätzlicher Weise den Blick für rechtlich bedeutsame Umstände sensibilisiert und so die Anwendung des Rechts zu dirigieren vermag: Sollte man nicht – bis zum Beweis oder wenigstens begründeten Verdacht des Gegenteils – eine religiöse, weltanschauliche, selbst politische Äußerung – als Ausdruck der Person und ihres Selbstverständnisses – zunächst ernst nehmen im Sinne ihrer unmittelbaren Aussage und nicht gemutmaßter schädlicher Intentionen und Wirkungen? Diese Frage ist aus der Perspektive des toleranzgebotenen Wohlwollens zu bejahen. Für die Lösung des Kopftuch-Falls bedeutet dies: Gefahren für die Neutralität der Amtsführung oder den Schulfrieden, die mit dem äußeren Bekenntnis einer Lehrperson zu ihrer inneren Haltung nur möglicherweise, in rein abstrakter Perspektive, verbunden sein könnten, reichen, anders als dies in den einschlägigen landesrechtlichen Regelungen angenommen wurde, nicht aus, um die Eignung für das öffentliche Amt zu verneinen und damit den Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. Es bedarf konkreter und sicherer Anhaltspunkte namentlich in der Unterrichtsgestaltung, daß eine solche Gefahr besteht.66 Denn das ungewohnt Fremde und Andersartige darf nach dem Grundsatz des toleranzgebotenen Wohlwollens nicht per se unter Generalverdacht gestellt werden. 65 BVerfGE 23, 127 (134), hier mit Blick auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit. Dagegen Kahlo, Handeln aus strafgesetzwidriger Richtigkeitsüberzeugung (Fn. 55), S. 101, 107, der dies als tendenziell paternalistische Grundhaltung kritisiert. Allerdings besteht keine staatliche Rechtspflicht zur Toleranz, nach der über das Maß verfassungsrechtlicher Gewährung hinaus ein außerordentlicher Entpflichtungsanspruch (als Privilegium) anzuerkennen wäre. In Paternalismus schlägt die wohlwollende Gewährung im Recht aber erst um, wenn die Rechtsposition überhaupt und als solche (die gesamte Rechtlichkeit der Person) zur Frage »väterlichen« staatlichen Wohlwollens würde. Hier soll demgegenüber der Gedanke toleranzgebotenen Wohlwollens dabei helfen, von der Rechtsordnung belassene Spielräume nicht zum Nachteil der innerlich begründeten Haltung der Normadressaten einengend zu deuten, vielmehr die Argumentationslast auf Seiten des Staates zu sehen. 66 Böckenförde, Kopftuchstreit (Fn. 61), S. 728 zu VG Lüneburg NJW 2001, 767; ähnlich Muckel, Berliner Kommentar (Fn. 18), Art. 4 Rn. 50. Die These von der abstrakten Gefahr will nicht zuletzt dem einzelnen Urheber (mögliche) Bedeutungsgehalte seiner geistigen
Toleranz als Rechtsprinzip?
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V. Der demokratische Rechtsstaat: Offenheit durch Toleranz Schon länger befindet sich der Rechtsstaat mit seiner Freisetzung individueller Beliebigkeit in den Grenzen des für alle gleichen Rechts auf dem Rückzug – zuletzt vor allem angesichts globaler terroristischer Bedrohung. Die Schwelle der Gefährlichkeit, die den staatlichen Zugriff rechtfertigt, wird im Namen der Vorsorge überall nach vorne verlagert, staatliche Abwehrmaßnahmen gelten mittlerweile in weitem Umfang der Gefahrerforschung, die überall und ohne konkreten Verdacht Anhaltspunkte für eine möglicherweise schädliche Entwicklung der Situation zu finden vermag.67 Der Schädlichkeitsverdacht richtet sich aber auch gegen religiös-weltanschaulich bedingte Werthaltungen. Auch solchen Einflußnahmen soll das freiheitliche System frühzeitig die Stirn bieten, um seine Funktionsfähigkeit dauerhaft zu sichern. Nur auf diesen Ausschnitt des Problemkomplexes bezieht sich das Toleranzgebot mit seinem hier – jenseits der ideengeschichtlichen Bedeutung für die Genese des Rechtsstaats, durch den es heute weithin substituiert ist (oben I. und III.) – als rechtsprinzipiell bedeutsam herausgearbeiteten Gehalt. Es gibt am Ende einen unmittelbar rechtlich ernst zu nehmenden Hinweis für unseren Umgang mit der Geistesfreiheit: Wird sie unter Generalverdacht gestellt, verzichten wir auf die Erprobung unserer Grundsätze, auf die Chance sozialer Kreativität und einer offenen, im Wortsinne allgemeinen Regelbildung68 und enden auf dem »Kirchhof der Freiheit«69, womit dann, so Kant, »die Menschen, gutgläubig wie die Schafe, die sie weiden … ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat«70.
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Äußerung zurechnen, die von ihm subjektiv nicht gemeint und nicht zu vertreten sind, dagegen zu Recht BVerfGE 82, 43 (zur Meinungsfreiheit). Anders z.B. OVG Bremen NVwZ-RR 2006, 402; VG Stuttgart NVwZ 2006, S. 1444 (1446); mit Blick auf die bayerische Verfassungslage jetzt BayVerfGH Vf. 11-VII-05 v. 15.01.2007, der auf den Einzelfall abhebt, gleichwohl aber die Darlegungslast zum Nachteil äußerer Symbole oder Kleidungsstücke anderer als christlich-abendländischer Provenienz verschiebt. Enders, Berliner Kommentar (Fn. 18), Art. 1 Rn. 106 m. Fn. 407 und 408. Dazu fügt sich die nach Arnulf von Scheliha, in diesem Band S. 109 (125 f.), dem Christentum – jedenfalls nach heutigem Verständnis – zuzuschreibende »prinzipielle Disposition zum Dialog«, die nicht nur eine »reflexive(n) Vertiefung des Eigenen« befördert, sondern damit auch »notwendige Umorientierungen auf der Basis der jeweils selbst mitgebrachten Sinnressourcen« ermöglicht. Selbst eingedenk seiner christlich-abendländischen Orientierung kann es also auch in sensiblen Bereichen nicht Aufgabe des Rechts sein, die Auseinandersetzung mit fremden Einflüssen vorsorgend abzuwehren. Zu dieser Rechtfertigung der Toleranz auch Jürgen Engfer, in diesem Band S. 159 (171 f.) und – zugleich zur heutigen (verfassungs-) rechtlichen Bedeutung – Ralf Poscher, diesem Band S. 129 (144). Kant, Zum ewigen Frieden, in: Werke (Fn. 11), Bd. 6, S. 226. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke (Fn. 11), Bd. 6, S. 38.
Liste der Teilnehmerinnen und Teilnehmer Prof. Dr. Ulrich Barth (Halle) Prof. Dr. Jörg Berkemann (Hamburg/Leipzig/Berlin) Prof. Dr. Jörg Dierken (Hamburg) Prof. Dr. Christoph Enders (Leipzig) Prof. Dr. Jürgen Engfer (Berlin/Leipzig) Prof. Dr. Wolfgang Fach (Leipzig) WissMa’in Dr. Katrin Gierhake (Bonn) Prof. Dr. Helmut Goerlich (Leipzig) PD Dr. Dieter Gosewinkel (Berlin) Prof. Dr. Michael Kahlo (Leipzig) PD Dr. Brigitte Kelker (Tübingen/Bielefeld) Dr. Michael Kienecker (Paderborn) Prof. Dr. Diethelm Klesczewski (Leipzig) Prof. Dr. Michael Köhler (Hamburg) Prof. Dr. Markus Kotzur (Leipzig) Prof. Dr. Janez Kranjc (Ljubljana) WissMa Robert Kühne (Leipzig) WissMa Christoph Labrenz (Leipzig) Dr. Michael Ling (Mainz) Dr. Andreas Mosbacher (Berlin) WissMa’in Dr. Bettina Noltenius (Bonn) Prof. Dr. Ralf Poscher (Bochum) WissAss Alexander Rädke (Leipzig) Prof. Dr. Arnulf von Scheliha (Osnabrück) Prof. Dr. Wolfgang Schild (Bielefeld) Prof. Dr. Ludwig Siep (Münster) WissMa’in Anja Schmidt (Leipzig) Prof. Dr. Werner Stegmaier (Greifswald) Prof. Dr. Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig) Prof. Dr. Ernst A. Wolff (Darmstadt) WissMa Dr. Benno Zabel (Leipzig) Prof. Dr. Rainer Zaczyk (Bonn)