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German Pages [541] Year 2023
Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.)
Visionen und Praktiken religiöser Toleranz Die Reformation als Epochenschwelle
Academic Studies
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Refo500 Academic Studies Herausgegeben von Herman J. Selderhuis In Zusammenarbeit mit Christopher B. Brown (Boston), Günter Frank (Bretten), Barbara Mahlmann-Bauer (Bern), Tarald Rasmussen (Oslo), Violet Soen (Leuven), Zsombor Tóth (Budapest), Günther Wassilowsky (Berlin), Siegrid Westphal (Osnabrück)
Band 99
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Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.)
Visionen und Praktiken religiöser Toleranz Die Reformation als Epochenschwelle
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Das Werk ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-Commons-Lizenz BY-NC-ND International 4.0 (»Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitung«) unter dem DOI https://doi.org/10.13109/9783666500183 abzurufen. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie https://creativecommons.org/ licenses/by-nc-nd/4.0/. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN: 2198-3089 (print) ISSN: 2197-0165 (digital) ISBN: 978-3-525-50018-7 (print) ISBN: 978-3-666-50018-3 (digital)
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Inhaltsverzeichnis
Dank....................................................................................................
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Barbara Mahlmann-Bauer Einleitung ............................................................................................. 11
I. Religiöse Toleranz oder Konkordanz vor und nach der Reformation Wilhelm Schmidt-Biggemann Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion: Raimundus Lullus, Nikolaus von Kues, Guillaume Postel, Tommaso Campanella ............ 35 Thomas Leinkauf Zwischen Rationalismus und Millenarismus. Guillaume Postels Begriff der universalen Konkordanz als Konsequenz menschlicher Freiheit ... 65 Christine Christ-von Wedel Erasmus von Rotterdam ruft in Basel zur Gewissensfreiheit auf. Hintergründe einer Erfolgs- und Misserfolgsgeschichte ............................. 103 Kilian Schindler Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism. Religious Toleration, Nicodemism, and Republicanism between Italy, Basel, and London .......................................................................................... 117 Sascha Salatowsky Toleranz auf der Kippe. Christoph Besolds Konzept zwischen den Konfessionen ........................................................................................ 187 Michael Egger Bildung als Waffe im Glaubenskrieg. Wie konfessionelle Konflikte im Umfeld des Dreißigjährigen Kriegs Zürcher Volksbildungsreformen auslösten ............................................................ 233
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Inhaltsverzeichnis
II. Toleranzideen und -praktiken im Südosten und Nordwesten Europas Mihály Balázs Adam Neuser in Klausenburg.................................................................. 301 Gábor Tüskés Formen gelebter Toleranz in Ungarn: Péter Perényi, Péter Pázmány, Ferenc Rákóczi II. .................................................................................. 317 Christian Maurer Religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und Einheit der Kirk. Schottland auf dem Weg zur Aufklärung................................................... 341 Ralph Häfner Toleranz und ihre Geschichte: Isaac Disraeli im Blick auf Pierre Bayle .......... 359
III. Toleranz und Monarchie – Diskurse in den Reichsterritorien Oliver Bach „allein, ohne allen Ernst“. Islamkritik und Utopie in Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg ......................................................... 373 Grażyna Jurewicz Herrschaft, Zwang, Toleranz. Die Kultur der Wertschätzung nach Moses Mendelssohn ............................................................................... 397 Friedrich Vollhardt Mehr als die Ringparabel. Lessings Kultur der Toleranz in ihren historischen Bezügen ............................................................................. 425 Daniela Kohler Religionskritik und ihre Folgen. David Friedrich Strauß in der Nachfolge von Lessing und Voltaire.......................................................... 443
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Inhaltsverzeichnis
IV. Toleranzdiskurse aus muslimischer Perspektive Barbara Mahlmann-Bauer Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer. Tour d’horizon von Al-Afghānī bis Ayaan Hirsi Ali .............. 467 Namensregister ..................................................................................... 531
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Dank
Die Beiträge dieses Sammelbandes dokumentieren die Tagung „Praktiken religiöser Toleranz nach der Reformation in Europa“, die im Oktober 2018 in den Räumen der Universität Bern stattfand. Es ist meine letzte internationale Konferenz, die ich in den Räumen meiner langjährigen Alma Mater veranstalten durfte. Ich danke Privatdozentin Dr. Daniela Kohler, meiner früheren Assistentin, die bei der Vorbereitung und Organisation der Tagung mitgeholfen hat. Die Diskussionen und die Zusammenarbeit mit allen zur Tagung Eingeladenen, die ihre Vorträge sorgfältig für den Druck überarbeitet haben, waren eine pure Freude und haben meinen Horizont erweitert. Meinem Kollegen Herman J. Selderhuis danke ich dafür, dass die Beiträge zur Geschichte der religiösen Toleranz im frühneuzeitlichen Europa in derselben Reihe erscheinen können, in der schon die Erträge meiner früheren internationalen Tagung, Sebastian Castellio (1515–1563) – Dissidenz und Toleranz veröffentlicht wurden. Den Lektorinnen für die Programmplanung Theologie und Religionswissenschaft bei Brill, Böhlau und Vandenhoeck & Ruprecht Jehona Kicaj und Laura Röthele danke ich sehr für die kompetente Betreuung des Druckmanuskripts. Der Internationalen Castellio Gesellschaft in Basel danken wir für einen großzügigen Druckkostenzuschuss, der den Ladenpreis des Bandes senkt und die Publikation im Open Access ermöglicht. Burgdorf/ Bern, 18. Mai 2023
Barbara Mahlmann-Bauer
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Barbara Mahlmann-Bauer
Einleitung1
Sebastian Castellios Anthologie De haereticis an sint persequendi entstand aus Protest gegen Michel Servets Hinrichtung als Ketzer am 27. Oktober 1553 in Genf.2 Castellio übt unter den Pseudonymen Martin Bellius und Basilius Montfort mit der anonymen Edition historischer Zeugnisse wider die Ketzerverfolgung und -tötung De haereticis an sint persequendi über die causa Serveti hinaus auch Kritik an der Täuferverfolgung, die von Heinrich Bullinger verteidigt wurde. Italienische und französische Glaubensflüchtlinge erinnerte die Ketzerpolitik in Bern, Zürich und Genf an die kirchliche Inquisition, vor der sie geflohen waren. Sie verglichen die Schriften des Erasmus von Rotterdam und Luthers Abhandlungen der Jahre 1520–1523 mit den Kirchenordnungen und offiziellen Bekenntnissen, denen Bürger in Basel, Genf, Zürich oder Straßburg zustimmen mussten. Martin Bellius‘ Urteil über die Verfolgung und Tötung Andersdenkender als Ketzer fällt vernichtend aus: sie stehe im Widerspruch zu den Lehren Jesu. Der Heiland wäre selber Opfer der modernen Ketzerrichter geworden. Welcher Jude oder Muslim wird sich für die Lehren Jesu interessieren, wenn er erfährt, wie sich Christen verschiedener Konfession gegenseitig verketzern?3 Die Anthologie De haereticis spiegelt die post-reformatorischen Diskurse über eine mehr oder weniger exklusive Kirche wider und macht den Abstand zu den 20er Jahren deutlich. Die Verklärung der Anfangsjahre der Reformation (Luthers Rom- und Papstkritik, seine Forderung nach Rückkehr zum Originaltext des Evangeliums, nach dem Priestertum der Laien und der Ausrichtung der Gemeinden am Urchristentum) wird ein Dauerthema im konfessionellen Zeitalter bleiben. Charakteristisch für die Krisenstimmung unter den Kirchenobersten in der Mitte des Jahrhunderts waren, verstärkt durch das kaiserliche Interim 1548, die skeptischen Bilanzen, in denen sie die Neuorganisation der Kirche in den protestantischen Städten und Territorien den Visionen der 1520er
1 Das Programm der Berner Tagung im Oktober 2018 knüpft an Überlegungen an, die ich am Ende meiner Einleitung formuliert hatte; s. Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.), Sebastian Castellio 1515–1563 – Dissidenz und Toleranz, bes. 44–49. 2 Castellio (Hg.), De haereticis an sint persequendi (1554), hg. von Sape van der Woude; deutsche Übersetzung von Werner Stingl: Castellio, Das Manifest der Toleranz; Guggisberg, Sebastian Castellio. Biographie; Castellio, De haereticis an sint persequendi – Von Ketzeren – Traicté des hérétiques. Kritische Edition der drei Texte 1554–1557 mit Kommentar, hg. von Barbara Mahlmann-Bauer, Kilian Schindler, Sonja Klimek und Daniela Kohler, Basel voraussichtlich 2023. 3 Martin Bellius in De haereticis an sint persequendi, 24–28.
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Jahre gegenüberstellten. Castellio nahm Anstoß an den gänzlich unevangelischen Methoden der Verketzerung, weil im Suchbild der neuen Ketzerrichter Jesus selbst als Abweichler hätte erscheinen müssen. Daher stellte er an den Anfang seiner Anthologie Auszüge aus Luthers früher Schrift Von weltlicher Oberkeit (1523) und aus Johannes Brenz’ Gutachten von 1528 Ob die weltliche Obrigkeit Wiedertäufer töten dürfe. Luther spricht 1523 selbst im Namen der Verfolgten; der Druck seiner Weimarer Predigten wurde durch das Mandat veranlasst, in dem Herzog Georg von Sachsen (im November 1522) Kauf und Verkauf von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments verbot und den Autor zum ordnungsgefährdenden Glaubensfeind erklärte.4 Luther und Brenz plädierten beide für die Trennung der Kompetenzen und Aufgaben zwischen weltlicher und kirchlicher Obrigkeit. Luther verwehrte es der weltlichen Macht, sich durch Strafverfolgung in geistliche Belange zu mischen, denn Gott allein regiere über die Seele. Kein weltlicher Herrscher dürfe ihr vorschreiben, was sie glauben solle. Dagegen herrsche in Gottes Reich allein das Wort, durch dessen Verkündigung ohne Zwang und Nötigung ein „frey willig volck“ Christi zu schaffen sei.5 Brenz nahm als Gutachter für den Magistrat der Stadt Nürnberg Partei für die Täufer. Er warnte davor, die Täuferverfolgung durch Berufung auf mosaische Vorschriften wider die Tötung falscher Propheten zu legitimieren und bestritt dem Kaiser das Recht, sie nach römischem Recht, aufgrund des Codex Theodosianus und Codex Iustinianus hinrichten zu lassen. Seit der Publikation von De haereticis an sint persequendi – Stefan Zweig bezeichnete die Anthologie als „Manifest der Toleranz“ – stand in den Diskussionen und Lehrbüchern der protestantischen Theologen die Frage auf der Agenda, wie sie mit Non-Konformisten, vor allem Spiritualisten und Täufern, umgehen sollten. Im Zentrum standen Definition und Begriff der Kirche: Wie universell sollte sie sein, damit alle, die mit der römischen Kirche unzufrieden waren, Aufnahme finden würden? Wie eng sollten Kirche und weltliche Regierung zusammenarbeiten? War es rechtens, den Lebenswandel der Gläubigen zu überprüfen und ihnen ein Glaubensbekenntnis vorzuschreiben? Seitdem protetantische Glaubensflüchtlinge neben Täufern und heimischen Spiritualisten Glaubensfreiheit forderten und gegen die Kontrolle der Gewissen und die Zwangsmethoden rebellierten, war der Wunsch nach religiöser Toleranz mit politischen Überlegungen verbunden. In seinem Conseil à la France désolée erörterte Castellio, an den König von Frankreich gewandt,6 die Frage: Wie sollte eine monarchische Regierung aussehen, die eine Eskalation des Antagonismus zwischen Altgläubigen und Reformierten verhindern und Bedingungen für eine friedliche 4 Martin Luther Studienausgabe, Bd. 2. Berlin 1983, Hans-Ulrich Delius’ Einleitung zur Textedition, 27–29. 5 Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, 157. 6 Castellio, Conseil à la France désolée (1562).
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Einleitung
Koexistenz verschiedener Kirchen und Lehrmeinungen in einem Staat schaffen könnte? Die Forderung nach Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kerngedanke der religiösen Toleranz, flammte immer auf, wenn religiöse Minderheiten unterdrückt oder vertrieben wurden. Die internationale Wirkung der Schriften Castellios (1515–1563), Jacopo Aconcios (1492–1566), Mino Celsis (1514–1575) und anderer protestantischer Glaubensflüchtlinge zum Thema „Ketzerverfolgung“ war nachhaltig, und die Hinrichtung Michel Servets wurde – wie diejenige Valentino Gentiles in Bern 1566 – in der Kirchengeschichtsschreibung als ‚Sündenfall‘ der reformierten Kirche beklagt. Die Wege ihrer Rezeption in der Neuzeit sind aber zum großen Teil unerforscht.7 Die Berner Tagung griff Desiderate auf, die sich im September 2015 während der Diskussionen der Castellio-Forscher und -Forscherinnen auf dem Monte Verità herauskristallisiert hatten. Die neuerliche Konferenz im Oktober 2018 wurde durch Fragen der Art veranlasst, ob die Diskurse über den Umgang mit Andersdenkenden, später mit Freidenkern und Ungläubigen, die in der Reformationszeit aufgrund der Intransigenz der reformierten Kirche in Zürich, Genf und Bern entstanden, einen Strom von Argumenten nährten, die in der Aufklärung, im Liberalismus und im interreligiösen Streitgespräch zwischen Juden, Christen und Muslimen neu verhandelt wurden und ob sie in der Folge der Migration aus Glaubensgründen nach England, Frankreich und in die Länder Osteuropas ausstrahlten. Gibt es Diskurse über den Umgang mit religiösem Non-Konformismus im Kreis von Regenten, Kirchenmännern und Politiktheoretikern, die nicht nur durch die Praktiken der kirchlichen Inquisition, sondern durch die skandalösen Fälle reformierter Intransigenz ausgelöst wurden? Gibt es außerdem einen genuin römisch-katholischen Weg, der von den Diskussionen der humanistischen Konzilsväter in Trient zur Gewährung von Glaubens- und Gewissensfreiheit und zur konfessionellen Pluralität unter einem römisch-katholischen Staatsoberhaupt führte? Fand ein Wettstreit der Ideen unter den Verhandlungspartnern während des Augsburger Reichstags 1555 oder während der Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück statt, wie am besten ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Konfessionen und Kirchen in den Ländern und Territorien Europas zu gewährleisten wäre? Welche Glaubensgemeinschaften wurden nach 1648 diskriminiert und wie wurde die Verfolgung beispielsweise der Protestanten in Schlesien oder der Pietisten und
7 Hier nur wenige ausgewählte Titel, am wichtigsten und noch unübertroffen Guggisberg, Castellio im Urteil seiner Nachwelt; ders., Sebastian Castellio. Biographie; Mino Celsi, In haereticis coercendis quatenus progredi liceat, hg. von Peter B. Bietenholz; Köhler (Hg.), Jacobi Acontii Satanae Stratagematum libri octo, hg. von Walter Köhler; Plath, Calvin und Basel; Mahlmann-Bauer, Der Teufel der Skeptiker und Zweifler; Overell, Italian Reformers.
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Täufer in Bern von den Eliten begründet? Welche historischen Präzedenzfälle und Exempla kamen in den Diskussionen über religiöse Toleranz zur Sprache, an denen sich Politiker und Kirchenvorsteher orientieren konnten? Entwickelten lokale Obrigkeiten und Staatstheoretiker bereits bewährte Praktiken religiöser Toleranz (z. B. im Königreich Polen, in Siebenbürgen oder in Mähren) weiter? Wer im 16./ 17. Jahrhundert in Europa Gewissens- und Glaubensfreiheit forderte, gehörte wahrscheinlich einer Minderheit an oder war Glaubensflüchtling. Er musste mit Widerständen „gegen die seit dem 16. Jahrhundert erhobene Forderung nach Toleranz und Religionsfreiheit“ rechnen. Intoleranz auf Seiten der weltlichen Obrigkeit und der Kirchenobersten war die Regel und mit Verweis auf Augustinus’ berüchtigter Begründung eines heilsamen Zwangs in der christlichen Tradition plausibel begründbar.8 Sascha Salatowsky und Winfried Schröder geben zu bedenken, dass in Staaten, in denen die christliche Obrigkeit für die cura religionis verantwortlich war, „durchaus rationale Gründe der Gewährung von Toleranz und Religionsfreiheit entgegenstanden. [...] Es war daher eine – in der christlichen Tradition gründende – selbstverständliche Pflicht, den durch falsche religiöse bzw. konfessionelle Überzeugung drohenden Schaden durch eine heilsame Repression zu begrenzen.“9 Denn die christlichen Theologen, die eine weit bemessene Toleranz und erst recht eine vollumfängliche Religionsfreiheit ablehnten, taten dies aus Gründen, die man nicht von vorneherein als abwegig oder vorgeschoben abtun kann. Und sie taten es aus Motiven, denen nicht ohne weiteres die Respektabilität abzusprechen ist.10
Wer dennoch nach seiner Überzeugung leben wollte, riskierte Haft, Vertreibung oder Körperstrafen, da die christliche Obrigkeit zur cura religionis und Kontrolle der Bekenntnisse ermächtigt war. Die Berufung auf Castellio oder die Auseinandersetzung mit seinen Argumenten blieb daher vereinzelt, denn im konfessionell gespaltenen Reich schien „ein Eintreten für Religionsfreiheit allerdings nicht bloß umstritten, es war schlechthin unannehmbar“.11 Sechs Beiträge in unserem Band nehmen indes direkt Bezug auf die causa Serveti. In mehreren Aufsätzen begegnen Lesende Argumenten wieder, mit denen bereits
8 Salatowsky/ Schröder (Hg.), Duldung religiöser Vielfalt, Vorwort, 9; Schröder, Tolerantia – libertas religionis – cura religionis, in: Salatowsky/ Schröder (Hg.), Duldung religiöser Vielfalt, 24–22, zu Augustinus’ Brief an Vincentius (ep. 94) aus dem Jahr 408 und seinem Verständnis von „compelle intrare“ (Lk 14,23) 15–17. 9 Salatowsky/ Schröder, Vorwort, 10. 10 Schröder, Tolerantia – Libertas religionis – cura religionis, 14. 11 Ebd., 22.
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Einleitung
Castellio für die Möglichkeit der friedlichen Koexistenz von Glaubensgemeinschaften im Gemeinwesen plädierte. Kirchenführer und politische Eliten waren sich in den von der Reformation betroffenen Ländern mit Castellio und anderen Angehörigen religiöser Minderheiten einig, dass sich Gewissenszwang schlecht zur Erreichung sozialer Stabilität im Gemeinwesen eigne, sondern Hypokrisie fördern und Märtyrern eine Bühne verschaffen würde. Für herrschende Eliten war Einheit im Glauben nur unter Suprematie des eigenen Dogmas vorstellbar, für Glaubensflüchtlinge war Glaubensfreiheit ein Grundrecht. Thema aller Beiträge sind Theorien und Praktiken toleranten Umgangs in der Christenheit in Mittelmeerländern, im deutschen und englischen Sprachraum und in Ungarn vom 16. bis 20. Jahrhundert. Dazu kommen Reflexionen von jüdischen und muslimischen Gelehrten über die Vorzüge ihrer Religion. Die Begegnung mit Juden und Muslimen erwies sich in Südeuropa und Ungarn seit dem 16. Jahrhundert als Testfall für Praktiken eines toleranten Umgangs unter Christen. In utopischen Entwürfen wurden Bedingungen für religiöse Diversität ausgelotet, die in Europa erst im 19. Jahrhundert als Menschenrecht anerkannt wurde. Als Voraussetzungen dafür erwiesen sich die Diskurse über Glaubensfreiheit und Ketzerverfolgung seit der Reformation. Die Ideen und Entwürfe, die aus wenig bekannten Quellen und auf neue Weise in der Geschichte religiöser Toleranz verortet werden, stammen u. a. von Guillaume Postel, Tommaso Campanella, Erasmus von Rotterdam, Niccolò Machiavelli, Christoph Besold, Adam Neuser, Ferenc II. Rákóczi, Johann Gottfried Schnabel, Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, von den schottischen Aufklärern, Isaac Disraeli, David Friedrich Strauß und von wirkmächtigen Islamreformern. Die ersten beiden Beiträge in unserem Band beschäftigen sich ausschließlich mit utopischen, spekulativen Entwürfen religiöser Konkordanz von römischkatholischen Autoren vor und nach der Reformation. Wilhelm Schmidt-Biggemann stellt vier höchst spekulative, zum Teil poetischallegorisch eingekleidete Entwürfe einer Universalreligion vor, die von Begegnungen mit Juden und Muslimen inspiriert wurden. Die Entwürfe stammen von Raimund Lullus, Nicolaus Cusanus, Guillaume Postel und Tommaso Campanella. Lull und Nicolaus bemühten sich um eine philosophische Begründung des Monotheismus und eine metaphysische Herleitung der Trinität und betrachteten das Christentum als höchste, vollendete Erscheinungsform einer Universalreligion. Postel und Campanella glaubten, dass die französische bzw. spanische Monarchie einen optimalen Rahmen für religiöse Konkordanz böten, die sich als Ergebnis erfolgreicher Missionierung einstellen würde. Zwar ließen sich die Verfasser aus philosophischem und kosmopolitischem Interesse auf die Nachbarreligionen ein und befürworteten den Austausch mit Juden und Muslimen, wozu ein Studium der orientalischen Sprachen beitragen könne. Postel wollte „das Christentum zur buchgewordenen, alle Religionen umfassenden Universalreligion“ weiterentwickeln.
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Die für realistisch gehaltene Bekehrung von Juden und Muslimen sollte ein neues Zeitalter eröffnen.12 Aber weder Postel noch Campanella äußerten Zweifel daran, dass das Christentum die überlegene Religion sei, geschweige denn Lullus oder der Kusaner. Campanella bettet seine Vision einer Universalreligion in eine „politische Theologie“ ein, derzufolge sich in Spanien, einer monarchischen Theokratie, die biblische Verheißung des tausendjährigen Friedensreichs erfüllen werde. Freie Religionswahl, Gewissensfreiheit und religiöse Diversität in einem Gemeinwesen lagen außerhalb des Vorstellungsbereichs der vier Visionäre einer einheitlichen, einzigen Weltreligion. Da sie in der Mission und Bekehrung Andersgläubiger ihr Hauptziel sahen, ging Offenheit für die orientalischen Kulturen nie bis zur Anerkennung fremder Religionsgemeinschaften außerhalb der römischen Kirche. In keinem der vier Entwürfe einer Universalreligion waren freie Religionswahl und Bekenntnisfreiheit erstrebenswert. Religiöse Toleranz war in Gesprächen mit Andersgläubigen nur eine Strategie der captatio benevolentiae für eine Bekehrung. Thomas Leinkauf beginnt seine Analyse von Postels „Begriff der universalen Konkordanz“ mit einer analytischen Begriffsklärung von „Toleranz“, die auch SchmidtBiggemanns Bilanz – Mangel an Toleranz in den Träumen von einer Universalreligion – in neuem Licht erscheinen lässt. Leinkauf erklärt das Fehlen von toleranztheoretischen oder -praktischen Erwägungen in Postels Missionshandbuch De orbis terrae concordia mit Hilfe einer begriffsgeschichtlichen Unterscheidung. Das Streben nach Eintracht, Einigung (concordia) im Glauben sei nicht mit Toleranz gleichzusetzen. Während Toleranz einen „(vorwiegend) psychisch-mentalen Zustand“ bezeichnet, ist Konkordanz eine Bezeichnung für „die ontologische, kosmologische oder auch mathematisch-rationale Struktur der Wirklichkeit“. Diese wollte Postel als kosmisch geordnetes Sein rational erfassen, durchaus auf den Spuren christlicher Neuplatoniker, wie Leinkauf nachweist, und mit Hilfe des Studiums orientalischer Sprachen. Wer tolerant gegenüber Muslimen ist, lehnt zwar ihr religiöses Dogma und ihr Wertsystem ab, aber verurteilt sie nicht, sondern lässt sie in ihrer Andersheit – mehr oder weniger widerstrebend – gelten. Leinkauf arbeitet die Differenz zwischen Konkordanz und Toleranz klar heraus: „Toleranz gegenüber Anderem setzt zumindest voraus, dass man selbst als Subjekt des Toleranzaktes nicht indifferent ist gegenüber dem, was man toleriert. Toleranz schließt Differenz ein, reine Indifferenz kann nur derjenige tolerieren, der selbst nicht indifferent ist. [...] die psychische Komponente verlangt hierbei permanente Zustimmung zur Differenz und Andersheit des Anderen.“ Guillaume Postel zielte mit seinem Missionshandbuch auf die Vereinheitlichung der abrahamitischen Religionen unter
12 Vgl. die Würdigung des Gesamtwerks von Guillaume Postel von Wilhelm Schmidt-Biggemann in: Christliche Kabbala, Bd. 1, Kapitel 10.
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Einleitung
dem Dach des römischen Katholizismus, der „religio verax“ und „sacra“, die ihn dank seiner venezianischen Vision vollendet dünkte. Leinkauf legt Postels Anthropologie und ihre schöpfungstheologischen Voraussetzungen offen. Er sieht in De orbis terrae concordia ein naturalistisches Religionsverständnis am Werk, demzufolge tatsächlich ein Einverständnis mit Andersgläubigen im Orient möglich wäre. Denn Christus habe alle Menschen zu Brüdern erklärt. Die Konkordanz der drei monotheistischen Religionen ist für Postel, wie Leinkauf erklärt, ein historisches Phänomen; sie entspringen alle aus einer Wurzel, der adamitischen Religion. Postel sei „tolerant“ gegenüber dem Islam und Judentum, insofern er deren verborgene Konkordanz mit der „religio verax“ aufspürt. Trotz der immanenten Vielfalt der Religionen und Konfessionen seien alle einzelnen Bekenntnisse doch nur Ausdruck einer einzigen wahren Religion. „Diese jedoch ist für Postel (wie es ja auch für Cusanus schon so gewesen ist) die christliche universale Religion, die daher aus seiner Sicht die Gestalt der historischen, partikularen Ekklesia ablegen muss und ihre quasi natürliche Universalität durch Enthierarchisierung, Entpolitisierung, Entdogmatisierung realisieren muss. Eine direkte Konsequenz hiervon ist Toleranz oder, besser noch, aktive Konkordanz.“ Postels Vision einer „universalen Restitution des Christlichen“ mündet in ein von Augustinus (De civ. Dei XIX,10–13) inspiriertes Friedensreich vollkommener kosmischer Ordnung. Leinkauf erforscht detailliert die neuplatonischen und patristischen Wurzeln von Postels Konkordanz-Theorie13 und verfolgt ihre konsequente Entwicklung aufgrund der abenteuerlichen Biographie Postels und im Kontext der politischen Diskurse in den katholisch gebliebenen Monarchien Europas. Christine Christ-von Wedel widerlegt das Urteil Mario Turchettis: „Wer sich wie Erasmus für die Einigung der Konfessionen eingesetzt habe, der habe nicht zugleich einem Nebeneinander verschiedener Kirchen das Wort reden können“.14 Sie zeigt, wie sich in Basel während der stürmischen 1520er Jahre und danach die Praxis bewährte, gleichzeitig alte und neue Frömmigkeitsformen zuzulassen, trotz der Anordnung, nur eine Religion zu dulden.15 Der Basler Rat stellte es seit 1525 den Bürgern frei, sich der einen oder anderen Glaubensrichtung anzuschließen. Erasmus von Rotterdam erklärte sich in seinem Gutachten für den Rat am Anfang des Jahres 1525 mit dem Nebeneinander von Altem und Neuem einverstanden, unter der Bedingung, dass der Friede gewahrt bleibe. Wie man sich in der Glaubensfrage
13 Das Weiterwirken der patristischen und der neuplatonischen Tradition im 15. und 16. Jahrhundert ist ein zentrales Thema von Thomas Leinkaufs zweibändiger Darstellung Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance, 2 Bde. 14 Turchetti, Mario, Érasme et la tolérance, 379–395. 15 Vgl. auch Christ-von Wedel, Erasmus von Rotterdam. Ein Porträt; dies., Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit. Die frühe Reformationszeit in Basel.
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entscheide, hänge vom individuellen Gewissen ab, dessen Stimme zu respektieren sei. Ähnlich urteilte Erasmus auch 1526 und 1530. Christ-von Wedel führt die ungewöhnlich großzügige Basler Praxis, auch nach 1529 dissidente Glaubensformen gelten zu lassen, auf den Einfluss des Erasmus zurück. Bonifaz Amerbach bürgte nach Erasmus’ Wegzug nach Freiburg beispielsweise dafür, dass Altgläubige dem Abendmahl (bis 1535) fernbleiben konnten. 1559 verhinderte er die Vertreibung der niederländischen Joris-Gemeinde in der Folge des postumen Ketzerprozesses gegen den in Basel untergetauchten Täuferpropheten David Joris. Kilian Schindlers Panorama der Machiavelli-Rezeption und der Rollen, die italienische Glaubensflüchtlinge bei der Propagierung seiner Werke spielten, greift weit aus, nämlich von Basel, wo 1560, 1580 und 1588 wirkungsreiche lateinische Editionen Machiavellis im Druck erschienen, zu den Politiques nach Frankreich und nach England, immer dank der publizistischen Aktivität der italienischen Glaubensflüchtlinge. Schindler weist nach, dass diese schon in Basel maßgeblich an der Verbreitung des lateinischen Machiavelli beteiligt waren. Die drei Editionen 1560, 1580 und 1588 werden umsichtig „eingebettet“ in die religiösen und politischen Kontexte ihrer Zeit, in denen sich die Flüchtlinge gegen Verfolgung und Glaubenszwang zu schützen suchten. Die Editionen spiegeln, so Schindler, die enormen Herausforderungen wider, vor der jene standen: 1560 waren die Editoren und Kommentatoren Machiavellis auf der Suche nach Konzepten, wie ein ‚neues Papsttum‘, das sich unter der Ägide Calvins und Bezas abzeichnete, verhütet werden könnte. 1580 suchten sie in Machiavellis Schriften nach Argumenten für eine Herrschaftsform, welche die Koexistenz von verschiedenen Glaubensgemeinschaften erlauben würde. Bereits in Silvestro Teglis lateinischer Übersetzung des Principe von 1560, die stellenweise eine Bearbeitung ist, wird eine Relecture offenbar. Schindler interpretiert Teglis Zusätze aus der Perspektive eines Untertanen, der – als Nikodemit – vor Verfolgung und Unterdrückung auf der Hut sein wollte und der deswegen die historischen Fallbeispiele Machiavellis im Hinblick auf eine Erweiterung des eigenen Handlungsspielraums studierte. So hofften Religionsflüchtlinge von Machiavellis Beobachtungen und Schlussfolgerungen zu lernen. An der Apologie Machiavellis und einem republikanischen Verständnis seiner Herrschaftslehre war, wie Schindler zeigt, vornehmlich „ein dichtes Netzwerk italienischer Flüchtlinge“ beteiligt, in Basel ebenso wie in London. Das Für und Wider des Nikodemismus ließ sich anhand des berühmten Kapitels im Principe über die Lizenz zur dissimulatio neu und ohne theologische Ressentiments erörtern. Deutlich wird zudem, als in Basel 1580 und 1588 auch andere Traktate Machiavellis von Pietro Perna gedruckt wurden, das gemeinsame Interesse der italienischen Glaubensflüchtlinge an einem zeitgemäßen Verständnis des Principe und der Discorsi. Die „promoters of Machiavelli“ in Basel, Genf und in England nutzten also Machiavellis Schriften für die Analyse aktueller religiöser Konflikte
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Einleitung
und forschten in ihnen nach Strategien zur Verhütung von Religionskriegen. Bei Machiavelli fanden sie säkularisierte Konzepte politischer Herrschaft, die ohne die Bindung an eine Religion auskommen. Religiöse Toleranz wurde im 17. Jahrhundert vor allem in Politiklehrbüchern verhandelt, zum Teil auch in der Jurisprudenz. Die Lehre von der Politik war Teil der praktischen Philosophie. Sascha Salatowsky analysiert, welche Auswirkungen der zuerst schleichend und heimlich, 1635 öffentlich vollzogene Konfessionswechsel Christoph Besolds zum römischen Katholizismus auf seine Haltung zur religiösen Toleranz hatte. Als Lutheraner bezog Besold klar Stellung gegen die Tötung von Häretikern und verurteilte die Inquisition ebenso wie die Verfolgungspraxis in reformierten Gebieten, Häretiker hinzurichten, ähnlich wie sein Tübinger Kollege Theodor Thumm, von dem er sich nach der Konversion entfremdete. Besold zitierte – noch als lutherischer Theoretiker – Sebastian Castellios Anthologie De haereticis an sint persequendi, die er aufgrund der niederländischen Neuausgabe von 1614 kannte. Die Zurückhaltung des Konvertiten Besold gegenüber Gewissensfreiheit, für die er in den 1620er Jahren einstand, wertet Salatowsky als Folge seiner Hinwendung zum römischen Katholizismus mitsamt seiner mystischen Tradition. Besold sei aber bewusst gewesen, dass er seine frühere Überzeugung, ein friedvolles Zusammenleben unterschiedlicher christlicher Gemeinschaften in einem Staat sei erstrebenswert, als römischer Katholik habe aufgeben müssen. Allerdings konvertierte Besold nicht wegen der rigoroseren Haltung der römischen Kirche gegenüber Andersgläubigen, sondern aus Gründen, die in der Forschung kontrovers beurteilt werden. Offenbar wollte Besold seine tolerante Haltung in seinen nach der Konversion entstandenen Schriften retten. Dies sei ihm aber, so Salatowsky, nicht gelungen. Zwar polemisierte der römisch-katholische Besold heftig gegen den Kollegen Theodor Thumm, der aufgrund von Luthers berühmter Obrigkeitsschrift (1523) die Einmischung der weltlichen Justiz in Religionsfragen und deswegen die Ketzertötung ablehnte, aber der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre hatte der konvertierte Besold wenig mehr als Zitate päpstlicher Theologen entgegenzusetzen. Salatowskys Untersuchung geht weit über die gestellte Frage nach der religiösen Toleranz hinaus. Die gründliche Analyse beinahe sämtlicher politischer Schriften Besolds dokumentiert Schritt für Schritt dessen intellektuelle Entwicklung. Zürcher Pfarrer waren im 17. und frühen 18. Jahrhundert verpflichtet, in sogenannten „Seelenbeschreibungen“ Rechenschaft über den Glauben, d. h. den religiösen Wissensstand ihrer sämtlichen Gemeindeangehörigen abzulegen. Michael Egger wertet diese Quellen aus dem Zeitraum 1633–1767 erstmals aus und gelangt in seiner Untersuchung, wie der Zürcher Antistes Johann Jacob Breitinger (1575–1645) und seine Kollegen in ihren Kirchgemeinden mit Heterodoxie umgingen, zu neuen Einsichten. Die offiziell verlangten Seelenbeschreibungen dokumentieren das
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Bemühen um eine Verbesserung des Zürcher Bildungswesens in einer Zeit politischer Unsicherheit und konfessioneller Unübersichtlichkeit. Eggers Quellenanalyse gibt Antworten auf folgende Fragen: „Wieso setzte es die Kirche inmitten einer als Bedrohungslage empfundenen Zeit durch, den religiösen Bildungsstand ihrer Bevölkerung umständlich zu prüfen?“ Warum führte Breitinger zur Begründung einer derart umfassenden Bestandsaufnahme der religiösen Praktiken seiner Gläubigen die lutherische Reformation sowie die Gegenreformation an und wieso hieß er die Teilnahme beider Konfessionen an der reformierten Unterweisung und am Abendmahl gut? Wie positionierte sich der Kirchenvorsteher, als Fragen, wie mit anderen christlichen Konfessionen und sogenannten Häretikern umzugehen sei, die eidgenössischen Kirchenobersten polarisierten? Sind bei Breitinger Ansätze zu religiöser Toleranz erkennbar? Zuerst informiert Egger über die Gattung ‚Seelenbeschreibung‘. Außer den Namen der Befragten und dem Datum enthalten diese Verzeichnisse Angaben „zum religiösen Wissensstand der Kinder und des Gesindes, seltener auch der Eltern“, über Lesefähigkeit und Buchbesitz der Gemeindemitglieder. Seit dem Zweiten Landfrieden (1531) war ein Wettstreit um die Seelen der Untertanen in reformierten und katholischen Orten zu beobachten, der sich während des Dreißigjährigen Kriegs zuspitzte. Zu den kirchenpolitischen Maßnahmen gegen eine ‚äußere‘ konfessionelle Bedrohung durch die erfolgreiche Rekatholisierung und den Kriegsverlauf sowie einer ‚inneren‘ Bedrohung durch geflüchtete Lutheraner und eine erstarkende Täuferbewegung gehörte ein neuer Umgang mit ‚Häretikern‘ auf dem eigenen reformiertem Gebiet. So beendete der Zürcher Antistes Breitinger die von Bullinger für gut geheißene Praxis der Täuferverfolgung. Als die Zürcher Obrigkeit eine neue Welle der Täuferverfolgung in Gang setzte, wies Breitinger auf die vorbildliche Frömmigkeit der Täufer hin. In vertiefter Frömmigkeit, Bibelkenntnissen und verbesserter Sittlichkeit sah Breitinger ein Distinktionsmerkmal der reformierten Religion im Wettstreit mit Katholiken und Dissidenten. Die während seiner Amtszeit eingeführten ‚Seelenbeschreibungen‘ spiegeln die Konkurrenzsituation zwischen den Konfessionen wider. Sie waren zwar Kontrollinstrumente zur Abwehr fremder Einflüsse, dokumentieren aber einen beträchtlichen Spielraum für abweichende religiöse Auffassungen, da es den Pfarrern mehr auf das „Glaubenswissen“ und eine Handhabe zur Förderung elementarer Bildung als auf das Beherrschen des Katechismus ankam. Adam Neuser, evangelischer Pfarrer in Heidelberg, sympathisierte mit dem Antitrinitarismus. Er hielt sich nach seiner Flucht zeitweise in Klausenburg auf und konvertierte in Konstantinopel auf spektakuläre Weise zum Islam. Martin Mulsow habe mit seiner Interpretation der neuen Erfurter Neuser-Autographen die Tendenz von Lessings Rettungen fortgesetzt und die mutmaßliche Annäherung des radikalen Antitrinitariers an den Islam als Phänomen frühmoderner „Multikulturalität“
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Einleitung
charakterisiert.16 So urteilt Mihály Balázs, Experte für die Geschichte des Antitrinitarismus und der Unitarier in Siebenbürgen, Ungarn und Polen.17 Balázs hat die neuen Erfurter Quellenfunde im Kontext dessen, was über den Klausenburger Aufenthalt Neusers in Erfahrung gebracht werden kann, geprüft. Er vermutet, dass Mulsow Vorurteile der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung gegen die Unitarier aufgegriffen und den vermeintlichen Makel – die Annäherung des Unitarismus an den Islam – zum Kennzeichen multikultureller, interreligiöser Offenheit umgedeutet habe. Es gebe keine unitarischen Quellen, die für eine Symbiose des antitrinitarischen Glaubens mit dem Islam sprächen. Wer die Trinität als unbiblisch ablehnte, war deswegen nicht schon für Allah und den Koran gewonnen. Balázs warnt davor, den Antitrinitarismus mit einem und nur einem Dogma oder mit lediglich einem lokalen Wortführer zu identifizieren. In Polen habe Fausto Sozzini versucht, die Lehre zu vereinheitlichen, in Siebenbürgen trat der Antitrinitarismus hingegen farbiger und variantenreicher in Erscheinung. Dies macht Balázs an theologischen Aussagen von Jacob Palaeologus, Johannes Sommer und Ferenc Dávid deutlich, die sich, ähnlich wie Neuser, mit den Lehren der Reformierten kritisch auseinandergesetzt haben. Eine neue Handschrift eines Dialogs zwischen einem „Dominus Adam“ (d.i. Neuser) und Jacob Palaeologus über das Verhältnis zwischen Christentum und Islam offenbart, wie unterschiedlich beide über strittige Punkte des christlichen Dogmas dachten. Während Neuser nach seiner Konversion mutmaßlich an einer Übersetzung des Koran arbeitete, wollte Palaeologus das Neue Testament aufgrund neuer Codices edieren. In Siebenbürgen war, seitdem es unter osmanischer Herrschaft stand, Wohlverhalten der geduldeten christlichen Kirchen gegenüber dem Usurpator, dem sie steuerpflichtig waren, politisch opportun. Von der Religion der muslimischen Okkupatoren grenzten sich die Unitarier indes deutlich ab, um die traditionelle Verbundenheit Siebenbürgens mit Ungarn zu betonen. Die Osmanen mischten sich nicht in religiöse Streitigkeiten und verlangten von den Christen keine religiöse Akkommodation. Insofern hält Balázs Vorwürfe, dass Siebenbürgen türkenfreundlich gewesen sei und seine Herrscher Johann Sigismund Szápolya und Gábor Bethlen sich bekenntnismäßig den ‚Türken‘ angepasst hätten, für pure anti-unitarische Polemik. Aus Habsburger und jesuitischer Perspektive waren diejenigen, die aus politischer Rücksicht auf die islamische Obrigkeit vor der Beteiligung an einem ‚Kreuzzug‘ gegen die ‚Türken‘ warnten, freilich Türkenfreunde und Verräter, gleich, welcher Konfession sie angehörten, und mussten dafür 1594 mit dem Leben büßen.
16 Zuletzt Mulsow, Antitrinitarians and Conversion to Islam, 181–193. 17 Mihály Balázs et al., Ungarländische Antitrinitarier, 4 Bände, Baden-Baden 1990–2008.
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Im Fürstentum Siebenbürgen wurde religiöse Toleranz früher als anderswo praktiziert. Dies war unter den politischen Bedingungen der osmanischen Oberherrschaft eher möglich als unter den Habsburgern. Gábor Tüskés skizziert die religiösen und politischen Verhältnisse im dreigeteilten ungarischen Königreich als einer religiösen „Brückenlandschaft zwischen Ost und West, aber auch zwischen Süd und Nord“ im 16. und 17. Jahrhundert. Im Verhältnis der christlichen Konfessionen zueinander und der Christen zu den Osmanen beobachtet Tüskés einen gewissen „Pragmatismus, der sich aus dem gezwungenen Zusammenleben von verschiedenen Konfessionen, Religionen und Ethnien ergab“. Diese aufgeschlossene Haltung führt Tüskés anhand ausgewählter Schriften von Péter Perényi, Péter Pázmány und Ferenc Rákóczi vor. Perényi sympathisierte mit der Reformation Luthers und Melanchthons, nahm aber aus politischen Rücksichten auch Ideen der katholischen Reform auf. Die illustrierte Bibelkonkordanz, die Perényi in der Gefangenschaft in Wien und Wiener Neustadt erarbeitete, bezeichnet Tüskés als „überkonfessionell“, gemäß dem Anspruch des adligen Grundbesitzers, dass er und seine Standesgenossen in ihren Herrschaftsgebieten Religionsfreiheit besäßen. Der Jesuit und spätere Erzbischof von Esztergom Pázmány wagte es 1608 als einziger von vier Priestern, vom designierten ungarischen König, dem späteren Kaiser Matthias, Religionsfreiheit für die Protestanten zu fordern und begründete dies in einem ausführlichen Memorandum mit Argumenten, die auch aus Sebastian Castellios ‚Manifest der Toleranz’ De haereticis an sint persequendi bekannt sind, und mit Blick auf die besonderen Verhältnisse in Ungarn. Pázmánys Stellungnahme gehört aus der Sicht von Tüskés in die „Vorgeschichte der Toleranzidee in Mitteleuropa“. Sein Memorandum sei ein Gründungsmanifest der Religionsfreiheit für Protestanten in Ungarn. 1705 einigten sich die katholischen und protestantischen Stände unter Leitung von Fürst Ferenc II. Rákóczi auf die Gewährung von Religionsfreiheit in Siebenbürgen. Zusicherung der Glaubensfreiheit der drei Religionen und autonome Verfügung über kirchliche Güter und Zehnten waren u. a. grundlegende Forderungen im ungarischen Freiheitsfeldzug, den Rákóczi von 1703 bis 1711 anführte. Er begründete die „liberté des consciences“ in Briefen, Flugschriften, seinen Mémoires und in seiner Autobiographie Confessio peccatoris vor allem mit der Sorge um Frieden und Eintracht im Fürstentum Siebenbürgen. Anwendung von Gewalt fördere vielmehr Renitenz und provoziere Hass. Selber Katholik, bat er protestantische Höfe ebenso wie deren katholische und muslimische Gegner um Unterstützung im ungarischen Freiheitskampf. Für den Fürsten war „Religionsfreiheit mit der Freiheit der Kirchen und der Freiheit der Kirchenorganisierung identisch“. Sein Ziel war, um des Friedens und der Unabhängigkeit Siebenbürgens willen die unterschiedlichen Religionen zur „wahrhaften katholischen Einheit“ zusammenzuführen. Der Ehrgeiz von Theologen, in die Mysterien des christlichen Glaubens eindringen zu wollen, fördere Sekten und Häresien. Theologen, die sich um Dogmen stritten und nach politischem Einfluss im Habsburgerreich strebten, machte Rákóczi für Religions-
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Einleitung
streitigkeiten und ihre militärische Eskalation verantwortlich. Noch im türkischen Exil engagierte er sich für die Duldung der christlichen Minderheiten.18 Das Werk und die Politik der drei Persönlichkeiten zeugen, unbeschadet der individuellen Frömmigkeit und Kirchenzugehörigkeit, von Pragmatismus und Flexibilität, womit sie den komplexen religionspolitischen Bedingungen im dreigeteilten Königreich Rechnung trugen. Christian Maurer führt in die Debatten der schottischen Aufklärer über religiöse Toleranz ein. Deren Meinungsführer waren meist Theologen. Sie stellten die Institution der Kirk nicht grundsätzlich in Frage. Bemerkenswert ist ein Zitat des Edinburgher George Mackenzie: Seine Klage über die Vielzahl von Glaubensbekenntnissen, die nur in einem Meridian gültig seien, aber zwanzig Meilen weiter nicht mehr, klingt an das Münzgleichnis aus Martin Bellius’ Epistel an Herzog Christoph von Württemberg in Castellios Anthologie De haereticis an sint persequendi an.19 Es herrschte Ende des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Schottland das Bewusstsein vor, dass einerseits Gewissenszwang eine papistische Unart sei, andererseits aber die Zulassung größerer bekenntnismäßiger Diversität in der Kirk deren Einheit und Stabilität gefährde. Maurer stellt exemplarisch die Argumentation zweier Meinungsführer vor, John Simsons und Archibald Campbells, die im frühen 18. Jahrhundert mehrfach von Committees for the Purity of Doctrine wegen häretischer Ansichten angeklagt wurden. Beide wiesen die Anschuldigungen zurück, indem sie Mitgliedern der Committees das Recht bestritten, über Wahr und Falsch in dogmatischen Fragen zu entscheiden. Sie argumentierten für mehr Toleranz bei der individuellen Bibelexegese und plädierten dafür, die Entscheidung darüber, was als orthodox, heterodox und häretisch gelte, nicht einer menschlichen Autorität zu überlassen, vielmehr solle das Prinzip der sola scriptura dem Sachverstand des einzelnen Gläubigen in der Gemeinde anvertraut werden. Sie glaubten, dass eine freie, offene Debatte über dogmatische Fragen unter Einbeziehung neuer Erkenntnisse der Naturwissenschaften den moralischen und religiösen Fortschritt der Menschheit fördern würde. Dem Engagement der beiden angeklagten Geistlichen sei es zu verdanken, dass eine Diskussion über die Praxis, von jedem Gläubigen eine Unterschrift unter das offizielle Glaubensbekenntnis zu verlangen, in Gang kam. Offiziell beendet wurde diese Praxis aber erst im 19. Jahrhundert. Als Isaac Disraeli’s Curiosities of Literature in fünf Bänden in elfter Auflage 1839 erschienen, war das Grundrecht auf Religionsfreiheit längst in den Verfassungen der
18 Vgl. Tüskés’ Einleitung zu seiner kommentierten Edition der französischen Übersetzung von Rákóczis Confessio peccatoris (2020). 19 Martin Bellius in Castellio (Hg.), De haereticis an sint persequendi, 19 f.
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regenerierten Kantone der Schweiz verankert. Seit den frühneuzeitlichen Religionskriegen und der Migration von Glaubensflüchtlingen gab es länderübergreifende Diskurse, wie mit Andersgläubigen umzugehen sei. Dazu trugen nicht zuletzt die negativen Schlagzeilen nach der Hinrichtung Michel Servets als Ketzer in Genf bei. Es gab Gesetze, die religiöse Minderheiten schützten; die englische Toleranz-Akte 1689 ließ im Vereinigten Königreich eine Vielzahl von Bekenntnissen außerhalb des staatlichen Bereichs zu. Die Praktiken der Toleranz variierten in England je nach Religionspartei, Regierung und Machtverteilung. Ralph Häfner legt die Familienähnlichkeit der scheinbar ad libitum zusammengestellten Essays in Disraelis Curiosities mit der Struktur und dem Geist der biographischen Artikel in Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique offen. Disraelis anekdotischer, an „cross examinations“ und Digressionen reicher Stil erlaubt, wie Häfner bemerkt, „neue, ungewohnte, herausfordernde Perspektiven auf scheinbar bekannte Tatsachen“. Disraelis Bilanz aus seinen exemplarischen Beobachtungen zur Geschichte der Toleranz ist aus Häfners Sicht „ernüchternd“. Disraeli entlarve den Anschein von Toleranz bei denen, die sie einklagen, nur um ihre Forderung als opportunen Weg zu einer intoleranten Herrschaft durchzusetzen. Will man „toleration“ und „tolerance“ verstehen, gelte es, das Verständnis derer, die sie fordern, von demjenigen der Herrschenden, die sie gewähren, zu unterscheiden. Disraeli beobachtet dasselbe, was Castellio in seiner Antwort auf Bezas Anti-Bellius in De haereticis a civili magistratu non puniendis 1555 Calvin vorwarf.20 Als Angehöriger einer verfolgten Minderheit appellierte er an die Toleranz der Mächtigen, einmal zur Macht gelangt, verfolgte er dagegen Andersgläubige und ließ nur die eigene Lehre gelten. Häfner zeigt, wie sehr sich die Methode des leidenschaftslosen Beobachtens und Vergleichens, die Disraeli von Bayle abgeschaut habe, dazu eignet, politisch bewährten Praktiken des toleranten Umgangs auf den Grund zu gehen. Sie seien alle pragmatisch motiviert; ihr Ziel sei die Erhaltung des sozialen Friedens im Gemeinwesen. Derartige Praktiken untersucht Disraeli am Beispiel des Staatsmanns und Diplomaten Michel de Castelnau. Baruch de Spinoza hatte sie übrigens ebenfalls nachdrücklich in seinem Tractatus theologico-politicus als Mittel zur Stabilisierung der sozialen Ordnung empfohlen.21 Gábor Tüskés hat eben solche Praktiken toleranten Umgangs im gemischt-konfessionellen Ungarn zur Zeit der Türkenherrschaft im östlichen Landesteil untersucht, die weniger auf moralphilosophischen Grundsätzen denn auf Erfahrung beruhten. Ordnungsvorstellungen in frühneuzeitlichen Staatsutopien gehen in der Regel von einer starken zentralen Lenkung politischer und sozialer Interaktionen aus,
20 Castellio, De haereticis a civili magistratu non puniendis, 44. 21 Baruch de Spinoza, Tractatus theologico-politicus, Praefatio und Kapitel 20.
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Einleitung
wobei den Regenten ein Höchstmaß an Tugend und Verantwortung für das Wohlergehen aller abverlangt wurde. Wenn in den utopischen Visionen die weltliche Macht lediglich Weisungen einer geistlichen Spitze vollzieht und die Regierung auch für das individuelle Seelenheil Sorge zu tragen hat, scheint allerdings individuelle Gewissens- und Glaubensfreiheit nicht durchsetzbar zu sein. Oliver Bach analysiert die politische Theologie, die dem Staatsmodell auf der Insel Felsenburg in Johann Gottfried Schnabels Robinsonade in den Wunderlichen Fata einiger SeeFahrer zugrundeliegt. Schnabels Utopie visiert einen Gottesstaat an, in dem alle Bürger die Lehre Luthers aus Überzeugung annehmen und im Gleichklang der Herzen vereint sind. Am Beispiel der Binnenerzählung des Herrn von Blac im dritten Buch analysiert Bach die unterschiedlichen Bedingungen für die politische Partizipation bzw. den sozialen Aufstieg im islamischen und im lutherisch organisierten Staat. Die Freiheit, eine andere als die staatlich anerkannte Religion auszuüben, gilt weder im Reich des Sultans noch auf der lutherischen Felsenburg. Im marokkanischen Reich herrscht Glaubenszwang, wenn auch der Sultan bei von Blac eine Ausnahme macht und ihm den christlichen Glauben lässt. Das Regime der Felsenburger trägt Sorge für die Staatsreligion, indem es vorschreibt, was gut für das individuelle Seelenheil sei, und mit Verordnungen dem Teufel wehrt. Die Bürger bekennen sich aus Überzeugung zum Luthertum, und auch der Neubürger von Blac ist nach der Flucht aus Marokko bereit, „aus freien Stücken“ die lutherische Konfession anstelle der reformierten anzunehmen. Wenn wahrer Glaube dadurch definiert wird, dass er freiwillig internalisiert wird, weil für ihn bessere Argumente sprechen als für eine andere Konfession, ist die Gewährung von religiöser Toleranz unnötig. Glaubensfreiheit ist nichts anderes als die Freiheit, sich als Bürger der Felsenburg von der Superiorität der lutherischen Lehre überzeugen und vom Herzensgleichklang der Gläubigen einnehmen zu lassen. Ein vernünftiger Bürger erkennt freiwillig das bessere Argument der Gemeinschaft an. Utopisch ist am Felsenburger Tugendstaat, dass er qua Gottesstaat beansprucht, aus gleichermaßen von der Vernunft und ihren Herzen geleiteten Bürgern und Regierenden zu bestehen und dass der Glaube, ins Belieben des Einzelnen gestellt, als wahr erkannt und von der Gemeinschaft freiwillig angenommen wird. Die Religionspolitik im Reich des Sultans ähnelt eher der in den römisch-katholischen Monarchien des 16. Jahrhunderts. Ähnlich intransigent war die Haltung gegenüber den Glaubensfreiheit fordernden Hugenotten im französischen Königreich des 16. Jahrhunderts. Von Blac lehnt den Glaubenszwang im Reich des Sultans ab. Eine Konversion aus Opportunismus „ohne allen Ernst“ und gegen seine Überzeugung, kommt für ihn nicht in Frage. Eine Regierung, welche vorgibt, den rechten Glauben in Bekehrungsgesprächen argumentativ auszuhandeln, ist aber noch fern davon, Andersgläubige oder Atheisten im Staat zu tolerieren. Ließe eine Gemeinschaft, die einvernehmlich das Reformationsjubiläum feierte und die bestehende Ordnung
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als naturrechtlich verbürgt bejahte, auch zu, dass Reformierte, Katholiken und Muslime mitfeiern dürfen? In einem Band mit Beiträgen zur Geschichte der religiösen Toleranz in Europa darf eine Würdigung der Werke Moses Mendelssohns und Gotthold Ephraim Lessings nicht fehlen. Lessings Schauspiel Die Juden (1749) spielt mit den Erwartungen der Zuschauer/Leser und stellt ihre Bereitschaft auf die Probe, angesichts der Hilfsbereitschaft des vornehmen, höflichen Juden alte Vorurteile zu überwinden, wie sich in Johann David Michaelis’ Kritik des Stücks zeigt. Die Freundschaft Lessings mit Mendelssohn war von Beginn an eine beiden Gewinn bringende Arbeitsgemeinschaft, wovon ihr Briefwechsel über die Poetik des Trauerspiels zeugt. Mendelssohn hat sich im Selbststudium philosophisches, theologisches und historisches Wissen angeeignet, ohne die Religion seiner Väter aufzugeben. Er erregte damit Bewunderung und Befremden zugleich. Obwohl er an den Diskursen seiner Zeit über Ethik und Ästhetik beteiligt war und sein Ruhm die preußische Landesgrenze überstrahlte, blieben ihm und seinen Nachkommen der soziale Aufstieg, kulturelle Integration und politische Mitwirkung versagt. Grażyna Jurewicz untersucht, wie Mendelssohn mit den sozialen Hürden, welche der jüdischen Minderheit in Preußen auferlegt wurden, umging und wie es ihm gelang, ein Selbstbewusstsein als Jude und Intellektueller zu entwickeln, das sich auf die Überzeugung von der Aufgeklärtheit der jüdischen Religion gründete. Jurewicz arbeitet drei Leitmotive seines schriftstellerischen Wirkens heraus: die Kritik an der politischen Praxis bloßer Duldung, den Protest gegen die Zumutung, zum Zwecke vollgültiger Aufnahme in die intellektuelle Elite Preußens zu konvertieren, und die begründete Forderung nach Respekt auf der Basis gegenseitiger Wertschätzung trotz kultureller und religiöser Andersheit. Einen Vorschein davon vermitteln die interreligiösen Freundschaften Mendelssohns mit Lessing und Thomas Abbt. Als erstes dekonstruiert Jurewicz den Anspruch von Zedlers Grossem vollständigem Universal-Lexicon, mit einer Zusammenführung des Wissens aus allen Gebieten und Disziplinen der Aufklärung zu dienen. Der Artikel Juden präsentiere einen „pervertierten Wissensbestand“ des Zeitalters über Juden und Judentum. Dagegen schreibe der Artikel Tolerantz die gegenwärtige Praxis der Duldung und Entrechtung der Juden fest und betrachte Toleranz bloß als „Instrument“ einer ‚sanften‘ Missionspolitik. Lavaters Versuch, Mendelssohn von der Überlegenheit des Christentums zu überzeugen und zur Bekehrung zu animieren, ist, wie Jurewicz zeigt, getränkt von einer Ideologie, die sich im Universal-Lexicon als dernier cri aufgeklärter Wissenschaft artikuliert. Seit 1782 wagte es Mendelssohn, die Rechtlosigkeit und Unterdrückung der Juden in aller Offenheit anzuprangern. Im ersten Teil von Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) beschreibt Mendelssohn die „Zuständigkeitsbereiche von Staat und Religion“ auf naturrechtlicher Basis und hebt dabei die utopische Dimension der Staatslehre hervor. Die jüdische
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Einleitung
Religionsphilosophie, die er im zweiten Teil ausarbeitet, wertet Jurewicz als „eine der elaboriertesten Schilderungen des jüdischen Selbstverständnisses in der Moderne“. Mendelssohn stellte sich dem interreligiösen Wettbewerb, zu dem der Richter der Ringparabel in Lessings Nathan der Weise die Söhne des Erblassers aufforderte, indem er, der Lessingfreund, die besondere Eignung der jüdischen Religion als Vehikel von Aufklärung hervorhebt. Das Judentum sei kein Glaube, zu dem sich einer bekennen müsse, unter Absage an die Vernunft, sondern eine Lebensform, bestehend aus sozialen Praktiken und einer in den jüdischen Gesetzen artikulierten Ethik, die das Gegenüber nie als Mittel zum Zweck erniedrige, sondern auf Augenhöhe ernst nehme. Der jüdischen Religion liege das Streben nach Herrschaft und Macht fern, welches dagegen christlichen Herrschern zu aggressiver Missions- und Eroberungspolitik Anlass gegeben habe. Jede Religion sei, so Mendelssohn in Jerusalem, ein Instrument zur Vervollkommnung und Selbstwerdung des Menschen; die jeweilige Religionskultur entspreche dabei dem Bildungsstand des bestimmten Kollektivs, dem sie zur Verbesserung verhelfen solle. Auch das Judentum diene als Instrument des Fortkommens des Menschen, jedoch nicht nur Juden, sondern allen Menschen. Als strikter Monotheismus weise die jüdische Religion nämlich auch Nichtjuden auf die Gefahren des Götzendienstes hin. Diese universelle Aufgabe könne sie aber nur in einem Gemeinwesen erfüllen, in dem Juden gleichberechtigt lebten und so die Freiheit, der eigenen Bestimmung zu folgen, genießen würden. Friedrich Vollhardt verabschiedet sich von einer Geschichte religiöser Toleranz, welche sich auf die Exegese und den Vergleich der Ideen ‚großer Geister‘ (Locke, Bayle, Voltaire, Lessing) beschränkt. Er beginnt mit einem Vergleich der Toleranzschrift des Großvaters von Gotthold Ephraim Theophil Lessing mit dem dramatischen Gedicht Nathan der Weise. Der Großvater behandelte die „religionum tolerantia“ als staatsrechtliches Problem: Duldung erschien ihm als „Pflicht des Souveräns“, als „Gebot der Staatsräson“. Lessing gehe es um Verwirklichung von Toleranz Andersdenkender in der gesellschaftlichen Praxis. Vollhardt rekonstruiert die Annäherung Lessings an das Thema religiöser Gleichberechtigung als gelungene Loslösung aus großväterlichen Denktraditionen.22 Aus Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie schöpfte, so Vollhardt, Lessing seinen vorurteilsfreien Blick auf Sonderlinge und Selbstdenker. Er eignete sich Arnolds Perspektive in seinen Rettungen an. Für Vollhardt besitzt Arnolds Kirchengeschichte „eine Schlüsselstellung zwischen prämoderner Religiosität und einer mit dem aufklärerischen Rationalismus verbundenen Infragestellung kirchlicher Lehrmeinungen“. Aus ähnlicher Perspektive wie Arnold sehe Lessing in der
22 Vgl. Vollhardt, Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk, Göttingen 2018, bes. Kapitel VI.
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Emanzipation der ‚Sekten‘ im Protestantismus ein Ferment von Toleranz, auf welches die protestantische Orthodoxie mit Exklusion und Polemik reagiert habe. Mit Anknüpfungen an die lutherische Maxime des Laienpriestertums, an vorkonziliare Religion und einen Geistbegriff, der zur persönlichen, gefühlshaften Hermeneutik der Schrift kraft der „inneren Wahrheit“ ermächtigt, bearbeitet Lessing aus Vollhardts Sicht das Feld religiöser Diversität, die den an der Vernunft als Richtschnur des Glaubens orientierten Neologen suspekt war. Lessing war, wie Vollhardt darlegt, die Gefahr einer Darstellung mittelalterlicher Religionskonflikte auf der Schaubühne bewusst. Lessing lag es fern, dramaturgisch Partei für aufgeklärte, vernunftorientierte Religiosität zu ergreifen. Lieber näherte er sich der Darstellung seines Programms gelebter Toleranz in seinem dramatischen Gedicht mit Hilfe des Münzgleichnisses aus Martin Bellius in De haereticis an sint persequendi.23 Der Goldwert uralter Münze steht bei Martin Bellius ebenso wie in Nathans berühmtem Monolog im Vorzimmer des Sultans (Nathan der Weise III,6) fest. Er ist den drei konkurrierenden Glaubenslehren allemal gemein. Vollhardt gliedert die Ringparabel in vier Teile. Erst im Schlussteil, im Urteil und in der Handlungsanweisung des Richters an die drei Söhne, komme das Eigene in Lessings Verständnis von Frömmigkeit zur Geltung, die sich im Handeln ethisch bewähren müsse. Der gemeinsame Ursprung der drei Religionen gibt ihren Glaubenden ein moralisches Vermächtnis mit. Die positiven Religionen sind historisch und kulturell distinkte Erscheinungsformen, die ihren Anhängern gleichermaßen Stimuli zum ethisch verantwortungsvollen Handeln geben können, weswegen sie alle mit ihren Frömmigkeitspraktiken gleichermaßen Achtung verdienen und zu Respekt, mehr noch Liebe, anleiten können. Der „Wettstreit um humane, gleichwohl auf Religion gegründete Lebensformen“ ist die Botschaft des Nathan, dank welcher das Drama zur Weltliteratur gehört – und ein Vermächtnis der Aufklärung, wonach religiöse Toleranz stets den „Konflikt“ (Rainer Forst) zwischen konkurrierenden, inkongruenten Werten und Lebensweisen austarieren muss. Daniela Kohler zeigt, wie David Friedrich Strauß sich gegen Vorwürfe einer in ihrem Glauben verletzten Theologenzunft verteidigte. Er insistierte auf der Wissenschaftlichkeit seines Zugangs zum Leben Jesu und glaubte, dieser Standpunkt der Behandlung werde sich in der akademischen Theologie durchsetzen. Toleranz forderte er für seine Ansicht daher nicht, denn auf Duldung seien bloß subjektive Ansichten angewiesen, nicht aber wissenschaftliche Beweisführungen. Hingegen fand er, dass die Einwände theologischer Gegner gegen sein Leben Jesu nicht den Anforderungen an wissenschaftliche Auseinandersetzungen genügten, da sie auf
23 Castellio, De haereticis an sint persequendi, 19 f.
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Einleitung
dogmatischen Vorentscheidungen beruhten. Die Gegenschriften hielt er für wissenschaftlich bedeutungslos; Christian Friedrich Steudels intolerable Meinungsäußerung quittierte er daher mit „feiner Ironie und satirischen Untertönen“. Für religiöse Toleranz seien aber Hermann Samuel Reimarus, Lessing in seinem dramatischen Gedicht Nathan der Weise und Voltaire eingetreten, die Strauß in sorgfältig recherchierten literarhistorischen Porträts gewürdigt hat. Als ein Leitmotiv seiner Literaturgeschichte übernahm Strauß die von Georg Gottfried Gervinus vertretene Auffassung, dass das deutsche Volk seit der Reformation beständig der geistigen und gesellschaftlichen Freiheit entgegenstrebe. Lessing habe mit seinen Fragmenten und dem Nathan den Boden bereitet für bibelkritische Ansätze, die letztlich Strauß zu seiner mythenkritischen Analyse des Lebens Jesu bewogen hätten. Strauß bemühte sich in seiner kommentierten Teilausgabe, Reimarus’ Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes in ihrem historischen Kontext gerecht zu werden und ordnete auch Lessings Nathan der Weise in die theologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit ein. In der Ringparabel und ihrer Deutung habe Lessing Einsichten vorweggenommen, die Strauß im Leben Jesu aufgreifen konnte. Das Insistieren des Richters auf der Geschichtlichkeit, auf welche die drei monotheistischen Religionen ihren Wahrheitsanspruch gründeten, vergleicht Strauß mit seinem Befund, dass diese Religionen sich kraft mythologischer Narrative selbst beglaubigten. Kohler führt den „Erfolg der Voltaire-Biographie“ auf Strauß’ Versuch zurück, die Motive, die Voltaire zu seinem engagierten Schreiben bewogen hätten, vor dem Hintergrund seiner Zeit herauszuarbeiten und gängige Vorurteile gegen seinen Charakter auszuräumen. Die Beschäftigung mit Ulrich von Hutten, Lessing, Reimarus und Voltaire verhalf dem Theologen dazu, die Beweggründe seines Forschens und das Scheitern seiner akademischen Karriere selbst historisch zu sehen und sich in die Nachfolge Lessings zu stellen. Der Islam kommt in den Aufsätzen von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Thomas Leinkauf, Gábor Tüskés, Mihály Balázs und Friedrich Vollhardt allein aus christlichabendländischer Sicht im Vergleich mit dem Christentum vor. Barbara MahlmannBauer erkundet, wie muslimische Intellektuelle, die im reformierten Islam einen Schlüssel zur Modernisierung der orientalischen Gesellschaften sahen, den Weg Europas von der Reformation zur Aufklärung und in die Moderne interpretiert haben. In Geschichtswerken, besonders in Darstellungen zur Geschichte der religiösen Toleranz, beginnt die Neuzeit mit der Reformation. Historiker und Historikerinnen sind sich in ihrem Urteil einig, dass Luthers Reformation und ihre Folgen, die Emanzipation der protestantischen Territorien und Städte im Reich und die Religionskriege, die Entwicklung zur Aufklärung und zur Erklärung der Menschenrechte vorangetrieben haben. Die rechtliche Anerkennung verschiedener christlicher Glaubensgemeinschaften in den Territorien und Städten des Heiligen römischen Reichs sei die Voraussetzung für die Gewährung religiöser Toleranz
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Barbara Mahlmann-Bauer
und die Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit als Menschenrecht gewesen. Die Bedeutung Luthers als Akteur und des Buchdrucks als Medium der Kirchenkritik und Glaubensreformation ist unbestritten. Sind andere Wege gesellschaftlicher und politischer Modernisierung überhaupt denkbar und wurden sie beschritten? Das europäische ‚Meisternarrativ‘, ohne Reformation keine Aufklärung, ohne Luther keine Gewissensfreiheit, wurde von muslimischen Intellektuellen in den von England und Frankreich verwalteten Kolonien und Protektoraten in Nordafrika und im vorderen Orient seit 1870 übernommen und diente ihnen – keineswegs kritiklos – zum Anlass für Selbstvergewisserung und religiöse Identitätsbildung. Islamwissenschaftler charakterisieren derartige Reformdiskurse als „Protestantisierung“ des Islam. Luther und seine Reformation sind Bezugsgrößen in politischen Überlegungen von Islamreformern, welche Rolle der Islam als Glaubenssystem und das Leben steuerndes Traditionsgeflecht für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und wissenschaftliche Modernisierung im Vorderen Orient und Nordafrika spielen sollte. Barbara Mahlmann-Bauer untersucht, wieso Seyyed Djamāloddīn al-Afghānī, Muḥammad ‘Abduh, Ahmīda an-Naifar, Mahmoud Muḥammad Tāhā und jüngst Ayaan Hirsi Ali Luther und die Wittenberger Reformation im Hinblick auf die langfristigen, alle Lebensbereiche umwandelnden Folgen vorbildlich fanden. Es geht ihr nicht um eine Wirkungsgeschichte Luthers oder die Geschichte evangelischer Mission, sondern um die Fremdwahrnehmungen muslimischer Intellektueller, die sich über orientalistische Ressentiments ereiferten. Auch die Herkunft ihrer Europa-Geschichtskenntnisse steht auf dem Prüfstand. Sie diskutierten darüber, welche Reformen im Koranverständnis und im Verhältnis theologischer Rechtsgelehrter und Glaubenshüter zur politischen Macht nötig wären, um die wissenschaftliche, technologische und gesellschaftliche Rückständigkeit ihrer Länder zu überwinden. Die hier vorgestellten Islamreformer hatten bzw. haben eine demokratisch verfasste Gesellschaft, in der Gleichberechtigung verwirklicht ist, als Ziel vor Augen, aber nicht alle gehen auf die politischen Voraussetzungen für religiöse Toleranz ein. Von den panislamischen Visionen der Jahrhundertwende, die das verkannte, in der Kolonialherrschaft unterdrückte ‚Eigene‘ muslimischer Kultur hervorhoben, ohne einen Modus vivendi mit Christen und Juden zu berücksichtigen, führt allerdings ein Weg über ‘Abduhs Schüler Rashīd Ridā und die 1828 gegründeten ägyptischen Muslimbrüder zum modernen Islamismus.24 Ihm leistete ein Verständnis von „Reformation“ im Sinne eines Rückgangs auf den ursprünglichen Wortlaut des Koran und die Scharia Vorschub.
24 Abdel-Samad, Islam. Eine kritische Geschichte, 242 f.
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Einleitung
Literatur Quellen Acontius, Jacobus, Satanae stratagematum libri octo [1565] [...], hg. von Walther Köhler, München 1927. Brenz, Johannes, Ob eyn weltliche Oberkeyt ... möge die Widerteuffer ... zum Tod richten lassen, in: Frühschriften, Bd. 2, hg. von Martin Brecht, Gerd Schäfer und Frieda Wolf, Tübingen 1974, S. 472–497. Anonymus [= Castellio, Sebastian,] De haereticis an sint persequendi et omnino quomodo sit cum eis agendum, Lutheri & Brentii, aliorumque multorum tum veterum, tum recentiorum sententiae. Reproduction en fac-similé de l’édition de 1554, avec une introduction de Sape van der Woude, Genève 1954. –, Das Manifest der Toleranz. Sebastian Castellio, Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll. De haereticis an sint persequendi. Aus dem Lateinischen von Werner Stingl. Mit einer historischen Darstellung von Hans R. Guggisberg. Hg. und eingeführt von Wolfgang F. Stammler, Essen 2013 (Bibliothek historischer Denkwürdigkeiten). –, Conseil à la France désolée. [sine loco] 1562. Nouvelle édition avec préface et notes explicatives par Marius F. Valkhoff, Genève 1967. –, De l’impunité des hérétiques – De haereticis non puniendis. Lateinischer Text hg. von Bruno Becker, französischer Text hg. von Marius F. Valkhoff, Genève 1971. –, De haereticis an sint persequendi – Von Ketzeren – Traicté des hérétiques. Kritische Edition der drei Texte mit Kommentar, hg. von Barbara Mahlmann-Bauer, Kilian Schindler, Sonja Klimek und Daniela Kohler, Basel voraussichtlich 2023. Celsi, Mino, In haereticis coercendis quatenus progredi liceat [ca. 1570–1575] [...], hg. von Peter G. Bietenholz, Neapel/Chicago 1982. Luther, Martin, Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), eingeleitet von Siegfried Mühlmann, in: Martin Luther: Studienausgabe, hg. von HansUlrich Delius, Bd. 3. Berlin (Ost) 1983, 27–71. Spinoza, Baruch de, Tractatus theologico-politicus – Theologisch-politischer Traktat, hg. von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner, Darmstadt 1979 (Spinoza, Opera – Werke, lateinisch und deutsch, Bd. 1).
Forschung Abdel-Samad, Hamed, Islam. Eine kritische Geschichte, München 2023. Balázs, Mihály et al. (Hg.), Ungarländische Antitrinitarier, 4 Bände, Baden-Baden 1990–2008. Christ-von Wedel, Christine, Erasmus von Rotterdam. Ein Porträt, Basel 2016. –, Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit. Die frühe Reformationszeit in Basel, Basel 2017.
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Barbara Mahlmann-Bauer
Forst, Rainer, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a. M. 2003. Guggisberg, Hans R., Sebastian Castellio im Urteil seiner Nachwelt vom Späthumanismus bis zur Aufklärung, Basel/Stuttgart 1956 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 57). –, Sebastian Castellio 1515–1563. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1997. Leinkauf, Thomas, Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance, 2 Bde., München 2020. Mahlmann-Bauer (Hg.): Castellio – Dissidenz und Toleranz. Beiträge zu einer internationalen Tagung auf dem Monte Verità in Ascona 2015. Göttingen 2018 (REFO 500 46). –, Der Teufel der Skeptiker und Zweifler – Acontius über die Strategie des Teufels und die Konjunktur der Teufelsliteratur, in: Sascha Salatowsky und Wilhelm Schmidt-Biggemann, unter Mitarbeit von Jan-Luca Albrecht (Hg.), De homine. Anthropolgien in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2021 (Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit 16), 73–120. mulsow, Martin, Antitrinitarians and Conversion to Islam: Adam Neuser reads Murad b. Abdullah in Ottoman Istambul, in: The Lure of the Other: Religious Conversion in the Early Modern Mediterranean and Beyond: Conversion and Islam in the Early Modern Mediterranean, hg. Claire Norton, London 2017, 181–193. Overell, Anne, Italian Reformers and English Reformations, c. 1535 – c. 1585, Aldershot 2008. Plath, Uwe, Calvin und Basel in den Jahren 1552–1556. Dissertation, Zürich 1974 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 133). Salatowsky, Sascha/ Schröder, Winfried (Hg.), Duldung religiöser Vielfalt – Sorge um die wahre Religion. Toleranzdebatten in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2010 (FriedensteinForschungen 10). Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Geschichte der christlichen Kabbala, 4 Bände, Stuttgart/ Bad Cannstatt 2012–2014. Schröder, Winfried, Tolerantia – Libertas Religionis – Cura Religionis. Zur Einführung, in: Salatowsky/ Schröder (Hg.), Duldung religiöser Vielfalt, 13–22. Tüskés, Gábor, Introduction (ch. 1), in: François II. Rákóczi, Confession d’un pécheur, traduite du latin par Chrysostome Jourdain. Ed. critique avec introductions et notes établies sous la direction de Gábor Tüskés, avant-propos de Jean Garapon. […], Paris 2020. Turchetti, Mario, Une question mal posée: Érasme et la tolérance: L’idée de Sygkatabasis, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance, 53 (1991), 379–395.
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I. Religiöse Toleranz oder Konkordanz vor und nach der Reformation
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Wilhelm Schmidt-Biggemann
Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion: Raimundus Lullus, Nikolaus von Kues, Guillaume Postel, Tommaso Campanella
1.
Universalreligion und Mission
Wer missionieren will, muss die Religion, zu der bekehrt werden soll, in vorteilhaftem Licht darstellen. Er muss die Überlegenheit der neuen Religion dergestalt beschreiben, dass sie die Vorteile der alten Religion übertrifft; dabei ist es zweckmäßig, an Topoi der alten Religion anzuknüpfen. Schließlich muss die Bekehrung dort beginnen, wo sich die zu Bekehrenden gerade befinden. Der Missionar muss deshalb möglichst viel von der alten Religion verstehen, die überwunden und verlassen werden soll, damit er Widerständen und Einwänden gegen seine Bekehrungsversuche erfolgreich begegnen kann. Eine kluge Missionspolitik schult deshalb die Missionare entsprechend; sie müssen sich also mit beiden Religionen auskennen, mit der fremden und der eigenen. Mission ist ein vornehmlich rhetorisches Geschäft: Es soll durch die Kraft der Rede das Handeln des Adressaten verändert werden. Missionarische Rhetorik ist deshalb zugleich asymmetrische Kommunikation: Am Ende soll die neue Religion siegen. Sie muss als die erscheinen, die zu wählen sich lohnt. Um diesen Zweck zu erreichen, sind zwei Methoden hilfreich: 1. Die neue Religion sollte in ihren Lehren und Praktiken als so elastisch dargestellt werden, dass der Übergang von der alten zur neuen Religion als einfach erscheint. Ein Weg besteht darin, zu behaupten, die neue Religion umfasse die Lehren der alten, aber sie sei vernünftiger und allgemeiner. 2. Dabei ist es durchaus konversionsbeschleunigend, wenn die neue Religion auch die der politischen Herrscher ist. Unter diesen Bedingungen ist auch die Polemik gegen die zu bekämpfende und überwindende Religion Teil des missionarischen Geschäfts in der Hoffnung, dass die Kombination von politischem Druck und Überlegenheitsbehauptung der neuen Religion die Konversion befördert. Die Tendenz, die neue Religion als rationaler und universaler darzustellen als die alte, bleibt nun freilich nicht ohne Folgen für die Missionare. Wenn sie ihre Religion als elastisch, vernünftig und allgemein darstellen, dann verändern sie zugleich ihre eigene Religion, die ihre Lehren den Kriterien anpassen muss, die missionstauglich sind. Missionare sind deshalb häufig dogmatisch weniger strikt als die Glaubenswächter ihrer eigenen Kirche. Dieser inneren Logik folgen auch die
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Wilhelm Schmidt-Biggemann
missionarischen Apologeten, die im Folgenden dargestellt werden: Raimundus Lullus (Ramón Llull) versucht, die christliche Religion durch kalkulatorische Logik zu begründen – freilich ist er so vorsichtig, zuerst diese vernünftig-natürliche Religion als Voraussetzung für einen Theismus zu beschreiben, der allen monotheistischen Religionen zugrunde liegt. Erst auf dieser Grundlage will er dann die Avancen des Christentums beschreiben. So vorsichtig sind seine Nachfolger nicht: Selbst der spekulative Nikolaus von Kues, der zunächst die gemeinsame Grundlage von Christentum und Islam darstellt, übernimmt schließlich doch die polemischen Topoi der intellektuellen und praktischen Überlegenheitsbehauptung des Christentums. Guillaume Postel folgt ihm in der Polemik, aber Postel stellt seine Fassung des Christentums als spekulativ-philologische Überwindung der alten Kirchendogmatik dar. Um eine allgemeine Religion zu ermöglichen, verlässt Postel die Lehren seiner Kirche, deren Dogmatik er mit Argumenten überhöht, die der Kabbala entstammen. Tommaso Campanella, der letzte der hier vorgestellten Propagandisten einer Universalreligion, verbindet das Missionskonzept des Katholizismus zunächst mit der Idee einer Endzeitmonarchie, die er sich als spanische Weltherrschaft vorstellt. Diese Herrschaft, die das spanische Königtum eng mit der geistlichen Herrschaft des Papstes verschränkt, erfordert eine universale Religion, die sich aus dem Katholizismus entwickeln soll. Die theokratische Verfassung seines Sonnenstaates soll die Universalreligion umfassen, auf die die Weltgeschichte hinzielt; es ist die biblisch verheißene Religion des 1000jährigen Reiches.
2.
Raimundus Lullus (1232–1316)
2.1
Die Religionen in der Reconquista
2.1.1 Das Königreich Aragon im 13. Jahrhundert
Das 13. Jahrhundert ist die Periode der spanischen Reconquista.1 Zunächst ein paar Daten: König Jaume I. (1208–1276, reg. seit 1213), König von Aragón und Graf von Barcelona, hatte 1229 Mallorca von den Muslimen erobert, wurde 1238 Herr von Valencia und eroberte 1263 Murcia. Seinen Sohn Peter III. (1240–1285, reg. seit 1276) von Aragón vermählte er mit Constantia, der Enkelin Friedrichs II, des Römisch-Deutschen Kaisers und Königs von Sizilien. Peter III. hatte 1278, zwei
1 Salrach Marés/Abadia, Giunta, Artikel „Aragón. Geschichte des Königreichs. Recht“, in: Lexikon des Mittelalters 1, 856–858.
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Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion
Jahre nach seiner Krönung, seinen Bruder Jaume II. (1243–1311, reg. seit 1276), der König von Mallorca war, zu einem Lehnseid gezwungen, womit er das Königreich Mallorca seiner Herrschaft einverleibte. In der „Sizilianischen Vesper“ 1282, in der sich der sizilianische Adel gegen die Herrschaft der „französischen“ Anjou empörte, unterstützte Peter III. die Aufständischen und wurde anschließend auch König von Sizilien. Sein Reich umfasste nun Aragon, Katalonien einschließlich Montpellier und Teile des Languedoc, sowie Valencia, Murcia, Mallorca und Sizilien. Im westlichen Mittelmeer war Peter III. nun der mit Abstand mächtigste Herrscher. Aber schon in der folgenden Generation zerfiel sein Reich. Jaume II. wurde König von Aragón (1291–1327), Friedrich II. König von Sizilien (1291–1336) und Sancho I., der Sohn Jaumes II., König von Mallorca (1277–1324, reg. seit 1311). 2.1.2 Christliche Missionspolitik
Die Reconquista der aragonisch- katalonischen Könige wurde von Beginn an von christlichen Missionsanstrengungen begleitet. Die Kirche beauftragte den Dominikanerorden mit der Missionierung. Der Dominikaner Raimund von Penyafort (1175/80–1275) war schon 1242 wahrscheinlich die treibende Kraft hinter der Vorschrift König Jaumes I., die Juden und Muslime zu zwingen, christliche Missionspredigten anzuhören. Um 1245 gründete Raimund in Tunis und Murcia, wahrscheinlich auch in Mallorca, Schulen für jüdische und muslimische Studien, in denen christliche Missionare auf ihren Dienst vorbereitet werden sollten. Gegen 1260 beauftragte er Thomas von Aquin, die Summa contra Gentiles zu schreiben; 1263 war er verantwortlich für die berühmte Disputation in Barcelona zwischen Nachmanides (1194–1270) und Pablo Christiani (gest. 1274); zusammen mit seinem König Jaumes I. wohnte er dieser Veranstaltung bei. Raimund scheint ein außerordentlich erfolgreicher Missionar gewesen zu sein. 1256, so wird berichtet, habe er 10.000 Muslime getauft.2 Raimund von Penyaforts bedeutendster Schüler war Ramon Martí (Raimundus Martini), der eine ungewöhnliche Kenntnis rabbinischer Lehren und besonders des Talmud erwarb und sich auch in der Islamischen Theologie gründlich auskannte.3 1260 schrieb er eine Summa contra errores des Koran, 1267 das Capistrum Judaeorum (Zaum der Juden) und 1278 beendete er sein Hauptwerk Pugio fidei adversus Mauros et Judeos. Er ist einer der bedeutendsten – wenn nicht überhaupt der bedeutendste – christliche Apologet und Polemiker der Juden- und Muslimenmission4 im Mittelalter. 2 Acta Sanctorum s.v. Raimundus de Pennaforti III. Kap. V, Abschnitt [24], Anm. M. 3 Vgl. Fidora, The Influence of the Pugio Fidei on Ramon Llull, Arnau de Villanova and Francesc Eiximenis, 373–397. 4 Vgl. Hasselhoff und Fidora (Hg), Ramon Martí’s Pugio Fidei.
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2.1.3 Dominikanische Mission und jüdische Kabbala a.
Ramon Martí: Pugio fidei (1278)
Der Pugio Fidei hat die Struktur der polemischen christlichen Missionsapologetik geprägt. Sowohl Nikolaus von Kues als auch Guillaume Postel sind Ramon Martí in ihren Apologien des Christentums gegen die Muslime und Juden gefolgt. Diese Schriften waren der Hintergrund für ihre Entwürfe einer universalen christlichen Religion. Der erste Teil des Pugio Fidei5 enthält die dogmatische Grundlegung des Christentums nach folgenden theologischen Topoi: „De Deo, Deique scientia: De summo bono, de creatione mundi, de immortalitate animae; de resurrectione mortuorum“. Dieser Teil sollte als Basis für die Mission der Muslime dienen. Der zweite Teil6 umfasst die Partien, die vor allem für die Judenmission verwendet wurden. Er enthält Auszüge aus dem Talmud, verschiedene Midraschim und Exzerpte aus späteren rabbinischen Schriften. Der Grund für diese Anthologie war, dass sich die jüdischen Texte auch auf angeblich verborgene christliche Topoi hin interpretieren ließen. Der dritte Teil7 des Pugio Fidei ist seinerseits in drei Partien geteilt: Der erste Part stellt die christliche Trinitätslehre und die Lehre von den göttlichen Prädikaten vor, wobei die Belege der Trinität, die sich im Alten Testament finden, sowie die Lehre von der Sapientia divina besonders hervorgehoben werden. Die Schlusskapitel 21 und 22 spitzen dann die Christologie missionspolitisch zu. Sie handeln „De iudaeorum reprobatione“,8 von der jüdischen Weigerung, den Herrn anzuerkennen, und allgemein vom jüdischen Widerstand gegen das Christentum. b.
Jüdische Kabbala (1270–1290)
1263 fand das berühmte Religionsgespräch in Barcelona zwischen Nachmanides und Pablo Christiani statt. Es war ein Höhepunkt der gelehrten Religionspolemik zwischen Christen und Juden – freilich war das Machtverhältnis zwischen Christen und Juden bekanntlich asymmetrisch; es mag sein, dass die Verschärfung der missionspolitischen Situation durch die Christen auch die Juden zwang, ihren eigenen Glauben schärfer zu profilieren; das könnte die Blüte der jüdischen Kabbala am Ende des 13. Jahrhunderts erklären. Jedenfalls ist es bemerkenswert, dass die drei
5 Raimundus Martini Ordinis Praedicatorum, Pugio Fidei adversus Mauros et Judaeos, cum observationibus Josephi de Voisin, et introductione Jo[annis] Benedicti Carpzovi[i], qui simul appendices loco Hermanni Judaei opusculum de sua conversione ex M[anu]sc[rip]to Bibliothecae Paulinae Academiae Lipsienis recensuit, Leipzig: Lanckisch 1687, 191–258. Zur komplizierten Editionsgeschichte vgl. Schmidt-Biggemann, Geschichte der christlichen Kabbala, Bd. 1, 264 –270. 6 Pugio fidei, hg. von Carpzov, S. 259–478. 7 Ebd., 479–960. 8 Ebd., Kap. 21.
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Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion
berühmtesten jüdischen Kabbalisten in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ihre Texte verfassten. Abraham ben Shmuel Abulafia (1240 – 1291/92) schrieb Kommentare zum kabbalistischen Sefer Jezira (Buch der Schöpfung) und zu den Kapiteln über den Namen Gottes in Maimonides’ Führer der Verirrten. Er ist nach dem Urteil Moshe Idels ekstatischer Praktiker der jüdischen Kabbala.9 Sein Schüler Josef Gicatilla (1248 – nach 1305) ist der Systematiker unter den jüdischen klassischen Kabbalisten. Er hat seine Traktate Nussgarten (Ginnat Egoz) und vor allem aber Scha’are Ora (Pforte des Lichts) in den siebzger und achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts fertiggestellt.10 Moshe de Leon (Moshe ben Schem Tov de Leon), geboren um 1240 in Gudalajara gest. 1305 in Arévalo, war mit Josef Gicatilla gut bekannt und lernte durch ihn die Kabbala gründlich kennen. Er schrieb über Jahrzehnte am Hauptwerk der jüdischen Mystik, dem Sohar, für den er eine neue Sprache, ein Kunst-Aramäisch, entwickelte. Seit etwa 1275 wird dieses Werk zitiert als „angeblich altes Werk des Rabbinen Schimon ben Jochai“ (2. Jh. n. Chr.).11 Moshe de Leon ist, wenn man so will, der Mythograph unter den großen Kabbalisten. 2.2
Lull’s Buch vom Heiden und den drei Weisen12
Zur selben Zeit war Raimundus Lullus als philosophisch-theologischer Missionar aktiv. 1232/33 in Palma de Mallorca als Sohn eines mittleren Adeligen geboren, war er von 1246 bis 1263 zunächst Page, dann Seneschall und Prinzenerzieher am Hof Jaumes I. 1263 erlebte er eine Bekehrung und widmete sich der Abfassung eines „durchschlagenden apologetischen Buches“,13 zum Zwecke der Sarazenen-Mission. Er beriet sich mit Raimund de Penyafort und unternahm Werbefahrten für die Einrichtung von Sprachenschulen an den europäischen Höfen in Italien und Katalonien sowie in Paris. Zugleich betätigte er sich als Missionar in Nordafrika. 1316 starb er, der frommen Erzählung zufolge, auf dem Schiff im Angesicht Mallorcas an den Folgen der Steinigung, die er auf seiner letzten Missionsreise in Tunis erlitten hat. Lulls erstes großes Buch, der Liber de gentili et tribus sapientibus stammt in der katalanischen Fassung von 1274/76; die lateinische Fassung ist später entstanden.
9 10 11 12
Idel, Abraham Abulafia und die mystische Erfahrung. Vgl. Maier, Die Kabbalah. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 128266. Lull, Buch vom Heiden und den drei Weisen. Dieser Übersetzung von Theodor Pindl liegt die lateinische Fassung zugrunde, die in der Salzinger-Ausgabe der Werke Lulls abgedruckt ist: Opera omnia, Bd. 2, 21–114, Mainz 1721. Die katalanische Fassung in den Selected Works of Ramón Llull, hg. von Anthony Bonner, Princeton 1985. 13 Platzeck, Raimund Lull, 15.
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Das Buch vom Heiden und den drei Weisen ist ein zumal für einen mittelalterlichen christlichen Apologeten bemerkenswertes Dokument: Es vergleicht die drei abrahamitischen Religionen, lässt die Entscheidung zwischen den Religionen aber offen. Das Werk umfasst einen Prolog und vier Bücher: 1. Gott und die Auferstehung (das ist eine rationale Theologie). 2. Der Glaube der Juden. 3. Der Glaube der Christen. 4. Der Glaube der Sarazenen. Ich fasse die Haupttopoi des Buchs zunächst zusammen. a.
Prolog: Die Offenbarungen der Dame Intelligenz.
Drei Weise treffen sich vor einer Stadt ein Jude, ein Christ und ein Sarazene. Sie gehen in den nahegelegenen Wald, in dem ein Heide umherirrt, und kommen zu einer Quelle mit fünf Bäumen, an der sie die Dame Intelligenz, auf einem Pferd reitend, treffen. Die Intelligenz erklärt die Bedeutung der fünf Bäume. (Für unsere Argumentation sind nur die ersten beiden wichtig): Der erste Baum stellt Gott dar, „den Schöpfer aller Dinge, und die seinem innersten Wesen zukommenden ungeschaffenen Tugenden.“ Gemeint sind: Güte (bonitas), Größe (magnitudo), Ewigkeit (aeternitas), Macht (potestas), Weisheit (sapientia), Liebe (amor), Vollkommenheit (perfectio). Der zweite Baum hat 49 Blüten (7x7), darunter auch die sieben ungeschaffenen Tugenden des ersten Baums und sieben geschaffene Tugenden: Gerechtigkeit (iustitia),14 Klugheit (prudentia), Tapferkeit (fortitudo), Maß (temperantia), Glaube (fides), Hoffnung (spes), Liebe (caritas). Entscheidend ist, dass diese Begriffe nun als Elemente eines kombinatorischen Kalküls erscheinen.15 Untereinander müssen die geschaffenen und ungeschaffenen Tugenden widerspruchsfrei kombinierbar sein. Gemeint ist offensichtlich die Kombination dieser semantisch-atomar vorgestellten Begriffe, die später für die lullsche Kombinatorik verwendet werden. b.
Rationale Theologie und die monotheistischen Religionen
Also kombinieren die Weisen im ersten Buch, in dem sie Gott und die Auferstehung beweisen wollen, nach der Anweisung der Dame Intelligenz zunächst die göttlichen, unerschaffenen Tugenden: Güte und Größe, Größe und Ewigkeit, Ewigkeit und Macht, Macht und Weisheit, Weisheit und Liebe, Liebe und Vollkommenheit, Güte und Ewigkeit, Größe und Macht, Ewigkeit und Weisheit, Macht und 14 Es ist bemerkenswert, dass justitia nicht als absolutes Prädikat Gottes figuriert. 15 Es mag sein, dass Lull die Idee einer Kombinatorik aus der jüdischen Kabbala übernommen hat. Zu Lulls Kombinatorik vgl. Schmidt-Biggemann, Llull, Leibniz, Kircher and the History of Lullism, 38–61.
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Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion
Liebe, Weisheit und Vollkommenheit. Sie beweisen die Existenz Gottes dadurch, dass sie die absolute, selbstverständliche Geltung dieser Prädikate herausstellen. Analog werden die anderen Prädikatenlisten durchkombiniert. Die Menge der so gewonnenen Argumente ist überwältigend; und so muss dem Heiden einleuchten, dass es einen guten Gott gibt und dass die menschliche Seele unsterblich ist. Damit erlangt er die Hoffnung, dass ein gutes Leben seinen Sinn in der Verherrlichung Gottes findet und die Seele sich diesem Gott in der Seligkeit angleicht. Wie nicht anders zu erwarten, überzeugen Lulls drei monotheistische Weisen den verstörten Heiden mit ihrem Gottesbeweis. Als aber der Ex-Heide fragt, warum sie sich in ihren einzelnen Glaubensrichtungen dennoch uneins sind, entfalten sie im Lehrgespräch mit dem Heiden und dann in einem Streitgespräch untereinander ihre jeweiligen Lehren. Die Wortführer folgen sich gemäß der Anciennität der jeweiligen Religionen: Zunächst redet der Jude, dann der Christ, zuletzt der Muslim. Bemerkenswert ist, dass Lull alle drei Religionen präzise auf eine Reihe von Katechismustopoi eindicken kann. c.
Ein offenes Ende
Der Heide wiederholt, nachdem die drei apologetischen Unterweisungen des Juden, des Christen und des Sarazenen abgeschlossen sind, deren Argumente und betet dann zu Gott. In diesem Gebet ruft er alle Tugenden an, die die Dame Intelligentia anfangs als Blüten der fünf Bäume an der Quelle geoffenbart hatte. Er bittet abschließend um die Verzeihung seiner Sünden und darum, den Gottesdienst ausführen zu können, mit dem Gott „von seinen Dienern bedient werden“ möchte.16 Bemerkenswerterweise gibt es kein klares Ergebnis dieser Apologetik. Denn als der Heide seine Wahl bekannt geben will, kommen andere Heiden, die er seinerseits bekehren will. Wozu, bleibt zwar aus dem Duktus des Gesprächs erahnbar, nämlich wohl zum Christentum, aber es wird nicht ausgesprochen. Die drei Religionsvertreter insistieren auch nicht. Im Gegenteil: Das Ergebnis ist ähnlich wie das von Boccaccios und Lessings Ringparabel: Auf die erstaunte Frage des Heiden, ob sie denn nicht wissen wollten, wofür er sich entschieden habe, antworten sie, „sie wollten es nicht wissen, damit ein jeder von ihnen glauben könne, er (scil. der Heide) habe seine Religion gewählt“.17 Ein solch offenes Ende ist singulär – aber der Monotheismus war damit als Muster einer allgemeinverbindlichen Grundlage aller Religionen eingeführt. Lull selbst hat später schließlich seinerseits versucht, mit Hilfe seiner Kombinatorik das Christentum als diejenige Religion herauszustellen, die zwar komplizierter, aber
16 Lull, Buch vom Heiden und den drei Weisen, 244. 17 Lull, Buch vom Heiden und den drei Weisen, 246.
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eben theologisch auch anspruchsvoller sei als die andern beiden abrahamitischen Monotheismen.
3.
Nikolaus von Kues (1401–1464)
3.1
De pace Fidei: Konziliante Spekulationen18
Am 29. Mai 1453 fiel Konstantinopel; die Eroberung der Stadt durch die Türken unter Mehmed II. bedeutete das Ende der ununterbrochenen christlichen Tradition des römischen Reiches. Genau in der Zeit dieser Niederlage des oströmischen Reichs schrieb Nikolaus De pace Fidei (1452/53). Das Buch enthält ein theologisches Lehrgespräch, in dem die Theologien der christlichen Denominationen, die Nikolaus kannte, gemeinsam mit dem Islam besprochen werden. Der Islam ist hier als eine der Religionen imaginiert, die unter der geistlichen Federführung des römischen Christentums vereinigt werden könnten. Die drei Lehrer, das „Wort“, d.i. ein allegorischer Sprecher des göttlichen Logos, sowie die Apostel Petrus und Paulus, informieren die Vertreter der Religionen über die Kernpunkte des Glaubens. Das „Wort“ unterrichtet über die Weisheit als Schöpfungsprinzip, über den ersten Grund, die göttliche Einheit und ihre trinitarische Ausfaltung; Petrus belehrt über die Gottmenschlichkeit und das Mittleramt Christi, die Jungfrauengeburt, Kreuzigung und Ewigkeit, Paulus über Glaube, Werke und Sakramente. Man muss das Büchlein als Selbstversicherung des Kardinals über die philosophischen Prinzipien des christlichen Glaubens lesen; es handelt sich, wie von Nikolaus nicht anders zu erwarten, um eine spekulative Selbstversicherung. Er will die Hauptpunkte der christlichen Dogmatik beweisen, ohne sich strikt an der biblisch-historischen Offenbarung zu orientieren. Gegenüber den spekulativ gewonnenen Dogmen, welche die Trinität, die Schöpfung durch das Wort, aber auch die Inkarnation und Soteriologie, die Unsterblichkeit der Seele und das Endgericht umfassen, betrachtet Nikolaus den katholischen Kultus und die kirchlichen Riten, also auch die Sakramente, eher als Adiaphora. Er fasst das spekulativ gewonnene Konzept von „fides“ bemerkenswert weit: Es handelt sich um die Skizze einer Universalreligion, die auf der Idee der Mitteilung des göttlichen Logos an alle Wesen, die der Vernunft teilhaftig sind, beruht. Dieser spekulative theologische Rahmen schließt auch den Islam ein – freilich touchiert ihn Nikolaus hier nur oberflächlich.
18 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Schmidt-Biggemann, Logostheologie als Missionskonzept. Christentum und Islam bei Nikolaus von Kues und Guillaume Postel, 63–94. Vgl. Stünkel, Una sit religio, 41–124.
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Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion
Sein Fazit lautet: „omnem diversitatem in ritibus potius compertum fuisse quam in unius Dei cultura“.19 3.2
Die Cribratio Alkorani nach ihren Haupttopoi
Während der Islam in De pace fidei allgemein und undifferenziert behandelt wird, ist die theologische Auseinandersetzung in der Cribratio Alkorani (1460/61) erheblich gründlicher – und polemischer. Die Abhandlung besteht aus drei Büchern und zwei Vorreden; sie ist Pius II. gewidmet. Das systematisch wichtigste Buch ist das zweite, das die rationale Theologie der Trinität, die Christologie und die Eschatologie enthält, hier ist das Paradigma der ‚Philosophia pia‘ bedient. Das geschichtstheologisch wichtigste Buch ist das polemische dritte mit den Kapiteln über die Unsterblichkeit und das Jüngste Gericht. a.
Jesus im Koran
Nikolaus geht hier, anders als in De pace fidei, nicht mehr von einer selbstverständlichen Integration des Islams ins Christentum aus: Er wolle den Koran sieben und klarstellen, dass Mohammed nicht wie Christus das Heil der Welt, sondern seine eigene Ehre suchte. Die Übereinstimmungen mit dem Christentum bestünden darin, dass der Koran nur Gott (den Vater) als „Herr“ anrede, nicht hingegen Jesus, und Maria nicht als „Herrin“. Gott werde auch nie als „Vater“ tituliert. Das entspreche der nestorianischen Lehre.20 Der Koran,21 stellt Nikolaus zu Recht fest, leugne die Gottessohnschaft und die Kreuzigung Christi. Nikolaus stellt dagegen die Monopolstellung der Bibel klar. Seine Begründung ist logostheologisch: Christus sei Wort Gottes.22 Es geht dem Kardinal vor allem um die dogmatische Klärungen: Er kontert den Vorwurf des Koran, die Gottessohnschaft sei Polytheismus (Sure 37, 151–157), mit dem Argument, es handle sich bei der Trinität um Emanation, um eine geistige Zeugung 19 Nicolaus de Cusa, De pace fidei, lib. XIX, 67, in: ders.: Opera omnia, Bd. VII. 20 Nestorianismus, benannt nach Nestorius, der von 428–431 Patriarch von Konstantinopel war. Er leugnete, dass Maria Gottesgebärerin (theotokos) sei. Stattdessen nahmen die Nestorianer nur die ewige Zeugung Christi in Gott an. Diese Lehre hat die Leugnung der Gottmenschlichkeit Christi zur Folge: Christus ist nicht wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich. Damit wird das für das orthodoxe und lateinische Christentum zentrale Dogma der Inkarnation nicht akzeptiert. 21 Nikolaus benutzt die lateinische Übersetzung von Robert von Ketton. Vgl. Bobzin, Der Koran im Zeitalter der Reformation. 22 Cusanus, Cribratio Alkorani I,10–13, hier auch II, 1 n. 86, II, 12, 119, II, 13, 124, II, 19,154. Vgl. Gottlöber, De pace fidei, in: Marco Brösch u. a. (Hg.), Handbuch Nikolaus von Kues, 195–201; Levy u. a. (Hg.), Nicholas of Cusa and Islam.
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von Ewigkeit zu Ewigkeit.23 Bei der Frage des Inkarnationsdogmas stellt Nikolaus das Neue Testament gegen den Koran – weitere Argumente hat er nicht: Christus sei als Gott und Mensch durch Maria geboren worden24 ; er sei Mensch und göttliches Wort und als der höchste Gesandte auch Sohn Gottes.25 Im Koran findet er vor allem: Christus werde auch „Geist und Seele Gottes“ genannt.26 b.
Trinität
Nikolaus stellt ein ganzes Set von trinitarischen Argumenten zusammen. Sein Hauptargument ist pythagoreisch: Die Eins sei nur als Distinktion von der Zwei zu denken; beide gehören als Zahlen zusammen. Deshalb ist die Drei für die Zahlenlehre axiomatisch unabdingbar. Nikolaus variiert diese Zahlenlehre: Wenn man den Urgrund (Principium purum) auf das Begründete beziehe, führe das notwendig zur Annahme der Trinität von Vater, Sohn und Geist (II, 1.88), denn das Zweite hänge notwendig mit dem Ersten und das Erste mit dem Zweiten zusammen: Die Verbindung beider sei der Heilige Geist. – Dieses Argument verwendet er immer wieder, zuerst in der Docta ignorantia.27 c.
Theologia Crucis
Die Kapitel 12–17 des zweiten Buches stellen die Bedeutung des Kreuzestodes Christi heraus. Nikolaus betont die historische Wirklichkeit von Jesu Kreuzigung gegen die Behauptung des Koran, Christus sei nicht gestorben, sondern die Juden hätten einen anderen Menschen, der ihm ähnlich sah, getötet, und der unbegreifliche Gott habe Christus zu sich erhoben.28 Für Nikolaus ist das Argument entscheidend, dass es keine andere Heilsgeschichte geben kann als die, die in Jesus Christus kulminiert. Sie impliziert die Geburt aus der Jungfrau Maria, den Kreuzestod und die Auferstehung. Er konzediert allerdings: Auch der Koran kenne den Sündenfall Adams, und Christus sei die Weisheit, die der Koran Gott zuschreibe.
23 24 25 26 27 28
Cribratio I, 14. Cribratio I, 15. Cribratio I,16. Cribratio 1,18. Cusanus, De Docta Ignorantia I, 7. De Coniecturis Kap. 2, § 8. Cribratio II, 12. Sure 4, 157–159.
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d.
Polemik gegen den Islam
Das dritte Buch der Cribratio ist nur noch polemisch – es vereinigt alle antiislamischen christlichen Topoi: Gesetzlosigkeit, Grausamkeit, Sinnlichkeit. Von der pia interpretatio der ersten beiden Bücher ist nichts mehr zu spüren. e.
Die Gottmenschlichkeit Christi garantiert Unsterblichkeit
Die spekulative Christologie ist die Pointe des dritten Buchs der Cribratio Alcorani. Nikolaus argumentiert: Das Versprechen des ewigen Lebens, das Mohammed seinen Anhängern gegeben habe, sei ungültig, denn nur durch die Gottmenschlichkeit Christi sei den Menschen Anteil an der Unsterblichkeit gegeben; und sie könne nur durch ihn gewährt werden.29 Der gottmenschliche Messias ist König aller Lebendigen. Darin besteht seine messianische Dignität. Er ist das geistige Leben, weil er Moment des göttlichen trinitarischen Lebens ist, das sich im reflexiven Selbstvollzug des Geistes manifestiert. Diese trinitarische Reflexivität begründet alles intellektuelle Leben. In seiner Gottmenschlichkeit vereinigt und erhebt Jesus Christus den menschlichen Geist in die Sphäre des Göttlichen. Dieses spekulativ-erbauliche Moment ist die Pointe, der usus epanorthoticus der Missionierungsanstrengungen des Cusaners. Es wird später von Guillaume Postel übernommen und messianisch ausgestaltet werden. Es ist bemerkenswert, dass in der Cribratio Alcorani nichts mehr von den Ideen von De Pace Fidei übriggeblieben ist. Offensichtlich war der Cusaner bei näherer Prüfung der islamischen Lehre zu dem Ergebnis gekommen, dass die optimistische Sicht, die das Christentum als Universalreligion spekulativ so umfassend gefasst hatte, dass auch der Islam in diese Religion integrierbar war, einer genauen Prüfung nicht standhielt.
4.
Guillaume Postel (1510–1581)
4.1
Biographie eines Messiaspropheten
Guillaume Postel ist einer der bemerkenswertesten Gelehrten der an bemerkenswerten Gelehrten reichen Frühen Neuzeit. Er war ein genialer Philologe, auch Geograph und Astronom, der das gesamte spekulative Feld seiner Zunft bediente. Er betrachtete sich je länger, desto dezidierter als neue Verkörperung des göttlichen Logos, als philologischen Messias. Er entkam nur knapp den Mühlen der
29 Cribratio III, 19.
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Inquisition, war lange vergessen und wurde erst im letzten Jahrhundert in seiner Bedeutung erkannt.30 Aus armen Verhältnissen stammend, wurde er von Juan Gélida am Collège de Cardinal Lemoine gefördert, studierte am Collège St. Barbe in Paris und erlebte er eine rasante Karriere als königlicher Philologe. 1535 nahm er an der Reise des Französischen Botschafters nach Istanbul teil, 1537 erhielt er eine großzügige Dotation des Königs für Bücherkäufe und wurde Professor am Collège Royal für Griechisch, Hebräisch und Arabisch. 1542 verlor er die königliche Gunst, durchlitt eine finanzielle und spirituelle Krise und verfasste sein Hauptwerk De Orbis Terrae Concordia (1543) sowie die Alchorani seu legis Mahometi et Evangelistarum Concordia (1543), eine vergleichende religionswissenschaftliche Studie, in der er einerseits in der Tradition des Nikolaus von Kues die Übereinstimmung von Koran und Christentum darstellte, andererseits die künftigen Schrecken für die Christen und das bald bevorstehende Jüngste Gericht prophezeite.31 Er war erfüllt von den eschatologischen Ideen, die seit der Eroberung von Konstantinopel die christlichen Geschichtstheologen umtrieben: Die Bekehrung der Türken zum Christentum und die Vollendung der Welt bei der letzten Ankunft Christi. Hier wird der Kerntopos deutlich, der in allen Schriften Postels variiert wird: Die Wiederkunft des Herrn bedeutet die Erlösung des gesamten Kosmos; diese Erlösung vollzieht sich in einer Spiritualisierung der Materie und damit als Rückkehr der Welt zu ihrer primordialen geistigen Natur. 1544 schloss er sich in Rom als Novize dem neu gegründeten Jesuitenorden an, verließ ihn aber ein Jahr später und lebte in Venedig. Hier erlebte er 1547 eine Offenbarung: er lernte die „venzianische Jungfrau“ „Madre Zuana“ eine mildtätige Aristokratin kennen, die er als neugeborene Eva / Maria erkannte. Er selbst erkannte sich als ihren sprituellen Sohn, als neuinkarnierten Messiaspropheten, der das Christentum vollenden werde. Das Buch, das diese neue Religion verkündete, war die Πανθενωσία: Compositio omnium dissidiorum circa aeternam veritatem, die 1547 im Druck erschien. Die venezianische Inquisition bekam 1555 Wind von Postels Aktivitäten; überzeugt von seiner Rechtgläubigkeit, stellte er sich, und seine Sache wurde in einem Prozess verhandelt. Anders als Giordano Bruno entkam er dem Scheiterhaufen, weil er für verrückt erklärt wurde. Seine Schriften wurden allerdings konfisziert und
30 Vgl. Schmidt-Biggemann, Geschichte der christlichen Kabbala, 1, 510–657 und die Bibliographie in Bd. IV, 78–95. 31 Guillaume Postel, Alcorani seu legis Mahometi et Evangelistarum Concordia liber, in quo de calamitatibus orbi christiano imminentibus tractatur: Additus est libellus de universalis conversionis iudicii vel tempore; et intra quot annos sit expectandum conjectatio ex divinis ducta authoribus, veroque proxima, Paris: Gromorsus 1543. Vgl. Bobzin, Der Koran im Zeitalter der Reformation, Kap. 5; dort werden Guillaume Postel und seine Excussio alcorani (1544) ausführlich behandelt.
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er selbst in Rom eingekerkert. 1589 entkam er und lebte nach einer abenteuerlichen Flucht bis zu seinem Tode 1581 interniert im Kloster St. Martin du Champs in Paris. 4.2
De orbis terrae concordia (1543)
a.
Christliche Philosophie als weltgeschichtlicher politischer Auftrag32
Postels De orbis terrae concordia33 ist eine monumentale spirituelle und prophetische Weltgeschichte in vier Büchern. Die leitende Idee deckt sich mit den Plänen Nikolaus’ von Kues: Die Philosophia christiana werde alle Menschen von der einen philosophischen, historischen und christlichen Wahrheit überzeugen. Postel machte sich anheischig, dieses Werk christlich-spekulativer Philologie zu schreiben; zugleich plädierte er für eine neue Übersetzung der gesamten Bibel ins Arabische und des Neuen Testaments ins Hebräische. Dieses Programm sollte die paulinische Prophetie (Röm 11,26 f.) erfüllen, nach der zuerst die Heiden bekehrt werden und schließlich die Juden das Christentum annehmen; dann werde der Herr wiederkommen. Postel geht von der Konzeption eines Philosophus christianus aus, der die Vernunftgründe der Religion darlegen will; er stellt sein Versöhnungsprogramm als allgemeine und vernünftige Religion vor. Die Keime dieser Vernunft hält Postel für angeboren; sie taugen für die Erklärung der eigenen Religion und für die Einsicht in andere Religionen. Er unterbreitet in der Concordia einen Vorschlag zur Mission der Muslime mit den Mitteln der Philosophia christiana; das ist in gewissem Sinne eine Repristination des Programms, das Raimundus Lullus 250 und Nikolaus von Kues 80 Jahre früher versucht hatten. Mithilfe der französischen hohen Politik will Postel mit den Arabern, deren Sprache in fast ganz Afrika und Asien gesprochen werde34 , ins Gespräch kommen. Er möchte seine Concordia ins Arabische und zum Zweck der Judenmission ins Hebräische übersetzen lassen. Die Araber seien Menschen, die viel von Philosophie und den Humaniora verstünden;35 und sein Buch stelle diejenigen Elemente der christlichen Philosophie dar, die auch den Arabern und Juden einleuchten müssten. Dieses Programm politischer Theologie propagiert Postel zunächst als heilsgeschichtlichen Auftrag der französischen Krone, dann, nach dem Bruch mit dem französischen Hof, als Pflicht des römisch-deutschen Kaisers. Bei beiden Instanzen hatte er keinen Erfolg. 32 Vgl. Schmidt-Biggemann, Geschichte der christlichen Kabbala, Bd. 1, 529–545. 33 Guillaume Postel, De orbis terrae concordia [Basel 1543]; dazu Secret, Bibliographie des manuscrits, Nr. 7. 34 Postel, De oribs terrae concordia, unpag. (Bl. 6v ): „tota ferme in Africa & Asia communis est.“ 35 Ebd.: „qui in philosophicis & literis humanioribus sunt versati.“
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b.
Restitutio omnium
Der Aufbau von De Orbis Terrae Concordia ähnelt überraschend stark der Cribratio Alkorani des Kusaners, allerdings verwendet Postel kabbalistische und philologische Argumente, die Nikolaus von Kues nicht zur Verfügung standen. Das erste Buch der Concordia ist insgesamt der Entwurf einer Philosophia Christiana, mit der die Muslime und Juden überzeugt werden sollen. Die Themen dieses Buchs sind Trinität, Kosmologie und Sündenfall sowie Christologie. Postel ist vor allem an der Endphase der Welt, an ihrer Restitution, interessiert – hier kommen seine prophetisch-politischen Ideen zur Geltung.36 Dass der menschliche Geist die Restitutionsbedürftigkeit der Welt einsieht, ist für Postel Indiz seiner Göttlichkeit. Christus leitet den Prozess der ‚Restitutio omnium‘ ein. An der Restitution der Primordialwelt werden die unsterblichen menschlichen Seelen teilhaben. Wir werden am Ende zu derjenigen Glückseligkeit geführt, „quae aeterna Deoque simillima est: ad quam nos sua misericordia conducere dignetur“.37 c.
Missionsregeln für die eine wahre Religion
Das vierte Buch „De falsarum persuasionum ad veram conversione“38 ist das eigentliche Missionsbuch, in dem die Regeln für die Bekehrung der Muslime und der Juden vorgegeben werden. Postel stellt sich zwar eine staatlich unterstützte Mission vor, aber Zwangsbekehrungen verwirft er als unwirksam. „Was durch Gewalt geschieht, trägt kaum jemals Frucht. […] Gott will nämlich freie Geister.“39 Die Argumente, die zur Bekehrung taugen, entnimmt Postel der philosophischen Theologie, die er im ersten Buch dieses Werks vorgestellt hat. Er glaubt, dass den Muslimen der Gottesbegriff, die Trinität und auch die Christologie nahegebracht werden können. Postel mag sich die Bekehrung der Muslime als vergleichsweise einfach vorgestellt haben; im Falle der Judenmission ist er sich offensichtlich bewusst, dass es sich um ein schwieriges Terrain handelt. Selbst wenn er Martinis Pugio Fidei nicht zitiert, kannte er die Argumente dieses Hauptwerks der Judenmission aus Galatinus’ De arcanis Catholicae
36 Ebd., 79: „Vt igitur Deus aeternus per sapientiam, id est filium creauit omnia: ita in instaurationis mysterio longè sublimiore quoad aestimationem, sensus nostros omnino abnegare, uerbisque diuinis fidem adhibere debemus.“ 37 Ebd., 124. 38 Ebd., 326. 39 Ebd., 327: „Nam quod ui factum est, uix unquam ad frugem proficiscitur. Ideo uera religio uetat, uim cuiquam recto constantique iudicio fieri: & improbat, si quis ui imprudenter adactus ad ueritatem fuerit. Animos enim liberos uult Deus.“
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Veritatis.40 Der weltgeschichtliche Rahmen, in dem er sich bewegt, ist das 6000Jahre-Schema des „Vaticinium Eliae“. Selbst brennender Eschatologe, polemisiert Postel gegen die Juden, die das triadische Weltzeitschema nicht christlich deuten wollen: Nicht der jüdische Messias werde am Ende der Zeiten kommen, sondern Jesus Christus werde als Weltenrichter erscheinen. 4.3
Panthenosia (1547)41
a.
Jesuanismus und Christologische Eschatologie
Die Panthenosia ist der dogmatische Schlüsseltext Postels. Er behandelt die vollständige Erlösung der Welt durch eine spirituelle Christologie. Postel unterscheidet zwischen Jesus und Christus. Das historisch fleischgewordene Wort ist für ihn Jesus, der Sohn Gottes. Das derzeitige Christentum ist für ihn deshalb nur „Jesuanismus“. Die eschatologische zweite Ankunft Christi ist also nicht, wie bei Paulus gelehrt, die äußere Erscheinung der in Jesus Christus bereits vollzogenen inneren Erlösung. Erst der, der am Ende aller Zeiten wiederkommen wird, ist der wahre Christus. Es wird sich mit diesem Schritt die endgültige Realwerdung des Wortes vollziehen. Die göttliche und zugleich kosmische Natur des Menschen, der in Christus geheiligt ist, begreift Postel als göttliches Urbild des Makrokosmos. Dieses Urbild ging mit dem adamitischen Sündenfall verloren und soll in der ‚Restitutio omnium‘ wiederhergestellt werden. Postel sieht sein eigentlich christologisches Amt darin, diesen erlösenden Geist Christi, der die Welt schuf und der sie restituieren soll, im Menschengeschlecht zu wecken. Er sieht diesen Geist im Leben der Natur auch nach dem Sündenfall präsent und mächtig, so „dass die Welt durch diese Gesetze lernt, Jesus zu finden,
40 Ebd., 416: „maximum Franciscanorum ornamentum.“ Zum Zusammenhang vgl. SchmidtBiggemann, Christliche Kabbala, Bd.1, 308–46. 41 Der vollständige Titel dieser Schrift von Postel: Πανθενωσία: Compositio omnium dissidiorum circa aeternam veritatem aut verisimilitudinem versantium, quae non solum inter eos, qui hodie infidelium, Judaeorum, haereticorum, et catholicorum nomine vocantur, orta sunt et vigent, sed etiam ab admissis per peccatum, circa nostrum intellectum, tenebris fuere inter ecclesiae peculiaris et communis membra. Scriptore Elia Pandocheo. Tubae penultimae stridor. Solus erit Iudex, qui meliora dabit („Panthenosia: Vereinigung aller Zerwürfnisse über die ewige Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit, die nicht nur bei denen entstanden und in Geltung sind, die heute Ungläubige, Juden, Ketzer und Katholiken genannt werden, sondern die auch durch die Zulassung der Sünde unseren Verstand verfinstert haben und unter den Gliedern der besonderen und der allgemeinen Kirche bestehen. Beschrieben von Elias Pandocheus. Vorletzter Posaunenstoß. Es soll nur Richter sein, wer Besseres geben kann.“), o.O. o. J. [Basel: Oporinus 1547]. Vgl. Schmidt-Biggemann, Geschichte der christlichen Kabbala, 555–565.
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den alleinigen, allgegenwärtigen Urheber jeden Heils, das ein jedes Geschöpf gewöhnlich erfährt. Wenn sie ihn erst gefunden hat, wird sie lernen, ihn zu erkennen, zu verehren und zu lieben.“42 b.
Enzyklopädische, buchgewordene Religion
Erlösung erhofft sich Postel von einer Art Religionsenzyklopädie, die die Lehrtopoi der monotheistischen Religionen harmonisiert. Da es ihm unmöglich erscheint, alle Abweichungen des Islam und des Judentums vom Christentum im Einzelnen durchzugehen, möchte er die Haupttopoi und die Zentraldogmen des Christentums vorstellen, um sie den anderen Religionen akzeptabel zu machen. In dem merkwürdigen Zwielicht von Postels Spiritualismus laufen hier Wissenschaftspläne und Heilsgeschichte ineinander: Mit seiner Enzyklopädie will Postel das Heil vollenden, das Jesus unvollendet hinterlassen hat. Es handelt sich hier um ein eschatologisches wissenschaftliches und religionskonziliatorisches Unternehmen. Seine religiösen Topoi sind katholisch konventionell: Gott, der Mittler, die Engel, die Seele und ihre Teile, die materielle Natur, das Menschengeschlecht, Adam, Melchisedech, Abrahams Glaube, Elias und die Propheten, die Lehren des Neuen Testaments, der Primat Petri, Konzilien, Schlüsselgewalt, die Lehre von den Sakramenten, die Heiligen sowie die Gebete zu ihnen, das Jüngste Gericht, die Auferstehung, die Wiederherstellung aller Dinge, das ewige Leben, das vollkommene Reich des Erlösers. Diese Religionstopoi werden den „wichtigsten Gründen der Mohammedaner und der Juden“ entgegengestellt43 – und natürlich obsiegen die katholischen Argumente.44
42 Postel, Πανθενωσία, 4: „ut his legibus discat mundus unicum salutis a quamvis creatura experiri solitae authorem JESUM ubivis praesentem reperire, repertum agnoscere, agnitum colere et amare. Hic enim finis est universi.“ 43 Ebd., 33 f.: „Quum autem inexhausti sit operis, per singula adferre rationes, quibus excusationem merentur & veniam qui inter haereticos, Ismaelitas, Iudaeos, aut in quamvis classem falsitatis nocivae nota insignem reponuntur: opus est locorum quorundam classibus ordinate exponi capita rerum, quarum falsitatis gratia, ob asseverationem, aut contrariorum impugnationem, sunt homines hactenus censuris separati a praecipuis membris corporis. Sic itaque videbimus: De Deo, De mediatore, De angelis, De anima et eius partibus, De natura materiali, De genere humano, De Adamo, Melchisedec, Fide Abrahami, Elia & prophetis: De rebus ad Novum Testamentum spectantibus, De primatu, concilio, & clave: De Sacramentis, Sanctorum statuis, & orationibus: De iudicio, resurrectione, instauratione, vita aeterna, et perfecto Salvatoris regno: De rationibus Muhamedicorum & Iudaeorum praecipuis, & quae contra nos faciunt.“ 44 Insgesamt bedient diese Liste die seit Raimundus Lullus gängige Missionstopik; und sie wird später von Campanella weiter fortgeführt. Zur Beziehung von Postel zu Campanella vgl. Kvačala, Thomas Campanella, bes. S. 78–87.
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Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion
Es ist das Anliegen Postels, in seiner spirituellen Eschatologie alle Religionen und Stämme zu vereinigen. Er argumentiert dabei typologisch: Der biblische Christus habe auf das Schöpfungswort als auf seinen Wesensgrund verwiesen und dadurch gezeigt, dass er alle Völker und Nationen, Sünder und Heilige vereinte. Diese endliche Beglückung einer spirituellen Einheit besteht für Postel, den spekulativen Philologen, Hebraisten und Arabisten, in der Vereinigung aller monotheistischen Religionen, vor allem in der Vereinigung von Christentum, Judentum und Islam. Diese Vereinigung ist ein Prozess, der die Weltgeschichte der nachparadiesischen Zerstreuung dadurch überwindet, dass er die Menschheit in Adam typologisch wiedervereint. c.
Die Instauration der Gotteswelt und ihr philologischer Prophet
Diese Vereinigung hat ihre naturphilosophische Korrespondenz in der letzten Erlösung durch Christus. Der kosmische Christus enthält als fünfte, umfassendendgültige Einheit die vier Seeleneinheiten der Welt (spiritus, mens, anima, corpus) in sich, die wiederum dem kosmischen Urmenschen Adam entsprechen. Hier wird der kosmische Christus über Jesus hinaus, der als vierte Hypostase der Weltseele gedeutet wird, als fünfte Hypostase eingeführt. In dieser „Instauratio“ der Welt durch den kosmischen Christus vollendet sich die Wiederherstellung, die durch die Vereinigung der Religionen vorbereitet wird. Es ist die Einheit von spiritus, mens, anima und corpus. Diese Einheit ist die vollzogene Erlösung; und diese Erlösung bildet eine eigene, die fünfte Hypostase. Somit hat der Prozess der Instauratio der kosmischen Christologie für Postel eine linguistische, eine naturphilosophische und eine kosmopsychologische Seite: Sprache und Geist durchdringen sich im Prozess der Restitution des primordialen Zustandes der Welt. Postel ist als philologischer Prophet selbst begeisterter Teil dieses Realisierungs-Prozesses. In diesem Geiste verkündet er die kommende Realisierung der spirituellen Einheit aller Religionen im endzeitlichen Christus. Es gibt in der Frühen Neuzeit, die an religiösen Spekulationen reich ist, keinen Religionsentwurf, der vergleichbare Dimensionen aufruft – Logostheologie, Soteriologie und Eschatologie durchdringen und vollenden gemäß Postels religiös begnadeter Einbildungskraft alle Wesen des Kosmos.
5.
Tommaso Campanella (1568–1639)
Campanellas traurige Biographie ist bekannt; wegen Mitwirkung an einem Aufstandsversuch mit eschatologischem Hintergrund war er von 1603 bis 1630 in Neapel eingekerkert; in der Haft hat er unablässig an seinen prophetischen theologischpolitischen Entwürfen gearbeitet. Er war ein prominenter Gefangener, trotz teils
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schlimmer Kerkerhaft konnte er seinen Besuchern viele Manuskripte mitgeben, die sie handschriftlich und im Druck verbreiteten. Er hat viele prominente Fürsprecher gehabt, dennoch ist er erst 1630 freigelassen worden. Bis 1634 hat er in Rom gewirkt und ist, als er unter Häresieverdacht geriet, nach Paris geflohen, wo er von der französischen Krone eine Zeitlang gefördert wurde. Dort ist er 1639 gestorben. 5.1
Der politische Theologe
Campanella hat sich, nach seiner frühen naturphilosophischen Phase, in der er vor allem Bernardo Telesios Naturphilosophie propagierte und weiterentwickelte, zu einem politischen Theologen mit eschatologischen Hauptinteressen gewandelt. Er unterstützte 1603 einen vergeblichen Adelsaufstand gegen die spanischneapolitianische Herrschaft mit millenaristischen Argumenten,45 die die spanischkatholische Universalherrschaft als Endzeit der Welt propagierten. An dieser Idee der geistlichen Weltherrschaft, die die fünfte Monarchie und das 1000jährige Reich umfasste, hat er lebenslang festgehalten. Er hat in seiner 27jährigen Kerkerhaft in Neapel, in der kurzen Zeit, in der er von Papst Urban VIII. gefördert wurde, und nach seiner Flucht nach Paris 1634 unablässig universalstaatliche Verfassungen entworfen, die die weltgeschichtliche Leitrolle der katholischen Kirche herausstellten. Diese Lehre hat er mit mittelalterlichen Prophetien und astrologischen Kalkulationen begründet. In diesem Zusammenhang sind die Articuli prophetales (1602/1607),46 die Monarchia Messiae (1606/1607)47 und die apokalyptische Abhandlung Quod reminiscentur et convertentur ad Dominum universi fines terrae (1630)48 von besonderem Interesse.
45 Campanella, Monarchia di Spagna. 46 Campanella, Articuli prophetales (1602/1607). 47 Campanella, Monarchia Messiae (1606/07), apud Gregorium Arnazzinum 1633 (Nachdruck Turin 1960, 1973: Bottega d‘Erasmo. A cura di Luigi Firpo). Der gesamte Titel: A.R.P. F. Thomae Campanellae. Ord. Pred. Sac. Theol. Mag. Monarchia Messiae. Compendium Scripti secundi. In quo per Philosophiam Divinam, & Humanam, demonstrantur Iura summi Pontificis, Christianorum Patris, & Capitis, super vniversum orbem in temporalibus, & spiritualibus: & Iura Principum, filiorum, ac membrorum super subditos Populos, mirabili quadam, novaque ratione. Reipub.[licae] utilissima, in confusione schismaticorum, & pseudo politicorum, & haereticorum: Ad extinguendum inter Principes zelum, discordiasque; & ad tutelam ipsorum mutuam ab invicem, & ab exteris sectarijs. Etiam de Iuribus Regis Catholici in alterum Hemisphaerium, contra adulantes & aduersantes. 48 Campanella, Quod reminiscentur et convertentur ad Dominum universi fines terrae. Psalm XXI. Volumen quadripartitum. In prima parte continentur: Legationes ad Coelicolas et Christianos sacerdotes et Reges. In Secunda: Legationes ad praecipuos Reges Gentilium. In Tertia: Legationes ad Judaeorum Synagogas et Proceres etc. In Quarta: Legationes ad Machomethanos, vgl. die Ausgabe von Romano Amerio, 1939–1960.
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5.2
De monarchia Hispanica49 (1598/1606)
Spanien als habsburgische katholische Weltmonarchie
Die Monarchia Hispanica ist das Buch, das Campanella im 17. Jahrhundert bekannt gemacht hat.50 Weder die naturphilosophischen Schriften noch die Civitas solis haben ein vergleichbares Echo gehabt. Das Buch hat eine so komplizierte Editionsgeschichte, dass bislang keine kritische Ausgabe zustande gekommen ist. Es ist eine Mischung von biblischer Typologie,51 apokalyptischer politischer Theologie und Prophetie mit politischen Analysen. Es steht in der Tradition der apokalyptischen Quintomonarchisten von Annius von Viterbo über Petrus Galatinus bis Guillaume Postel, später werden sich auf protestantisch-reformierter Seite die prophetischen Apokalyptiker Böhme, Alsted und Comenius anschließen.52 Zugleich ist es ein Symptom für die neue Macht der Verwaltungsstaatlichkeit, die sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelte. Wie in allen Prophetien ist auch bei Campanella die Perspektive auf die Bibel typologisch: entscheidend ist, dass das 1000jährige Endreich als nahe bevorstehend verkündet wird. Das Buch ist deutlich unter dem Eindruck der Expansion des osmanischen Reiches geschrieben und deshalb getragen von einer dominanten antiislamischen Propaganda. Leitidee ist, dass das spanische Weltreich das neue Reich sei, das die danielischen vier Reiche ablöse, und dass seine vordringliche weltgeschichtliche Aufgabe in der Vernichtung des Islam bestehe. Erst dann könne die Weltherrschaft des Katholizismus unter päpstlicher und spanischer Ägide beginnen. Dieser Aufgabe ist die gesamte politische Theologie Campanellas untergeordnet. Campanellas ständige Aufmerksamkeit gilt der Bevölkerungspolitik, die der Rekrutierung des Militärs dient. Er empfiehlt Heiraten zwischen allen Völkern und Rassen, zumal denen, bei denen die Frauen besonders fruchtbar sind. Das Militär
49 Zitiert wird folgende Ausgabe: Thomas Campanella, De Monarchia Hispanica. Francoforti ad Viadrum. Impensis Jeremiae Schrey & Henr. Joh. Meyers. Literis Christophori Zeitleri 1686. Vgl. Headley, Tommaso Campanella and the Transformation of the World. Das ist, soweit ich sehe, das mit Abstand beste Buch zum Thema; außerdem Ernst, Tommaso Campanella. Il libro e il Corpo della natura. 50 Die erste Ausgabe erschien in der deutschen Übersetzung von Christoph Besold 1620 in Tübingen und wurde 1623 mit einem Anhang Besolds über die Universalmonarchie neu gedruckt. Zwischen 1640 und 1709 gab es zahlreiche lateinische, englische und französische Drucke. Vgl. SchmidtBiggemann, Besold und Andreae, 103. 51 Dazu gehören Campanellas Articuli prophetales. 52 Vasoli, Profezia e ragione und Schmidt-Biggemann, Apokalypse und Philologie, hier Teil II: Politische Theologie im Zeichen der Apokalyptik, 141–228 sowie Teil III, 5: Heilsgeschichtliche Inventionen: Annius von Viterbos Berosus und die historische Genealogie S. 301–330. Außerdem SchmidtBiggemann, Geschichte der christlichen Kabbala, Bd. 1, 308–383 und Bd. 2, 187–234.
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spielt bei Campanella eine Schlüsselrolle; er plädiert bei der Rekrutierung von Soldaten dafür, allen Geworbenen, gerade auch den nichtspanischen Untertanen des Königs, Aufstiegschancen im Heer zu eröffnen.53 Sein Muster ist die Rekrutierung der Janitscharen im osmanischen Reich, wo die kleinen Kinder von den (meist christlichen) Eltern getrennt und in „Seminarien“ zu lebenslangen Berufssoldaten ausgebildet werden.54 Vor allem geht er davon aus, dass eine Bündnispolitik der christlichen Herrscher unter spanischer Ägide die Konfessionsgrenzen in Europa überwinden kann, friedlich oder kriegerisch.55 Das Ziel von Campanellas Universalmonarchie ist die Weltherrschaft des Katholizismus, die die Spanier erringen sollen. Es habe sich gezeigt, dass das Haus Habsburg durch göttliche Fügung, durch Klugheit und durch Glück zur Herrschaft in Spanien, Deutschland und Italien gelangt sei; die Spanier hätten die Mauren besiegt, Columbus habe die Neue Welt für die Spanier entdeckt – zur Weltherrschaft fehle die Versöhnung der Franzosen, Engländer und protestantischen Deutschen sowie der Endsieg über die Türken. 5.3
Der Weg in die fünfte Weltzeitmonarchie
Campanellas politische Theologie ist in einen endzeitorientierten weltgeschichtlichen Rahmen gestellt. Er sieht sich und seine Zeit an der Schwelle zur fünften Monarchie. Diese letzte, 1000jährige Monarchie soll die vierte Monarchie der Daniel-Visionen ablösen. Campanella ist durch und durch von den mittelalterlichen Weltgeschichtsprophetien bestimmt; in den Articuli Prophetales hat er seine Quellen aufgelistet. Die vier Monarchien der Weltgeschichte waren Teil der mittelalterlichen Geschichtsallegoresen: Die vier Untiere, die Daniel in seiner Vision (Dan 2 und 7) gesehen hatte, waren als Sinnbilder des assyrischen, persischen, griechischen und römischen Reiches gedeutet worden – das Römisch-Deutsche Reich beanspruchte, dieses letzte, vierte Reich zu sein. Die Johannes-Apokalypse hatte prophezeit, dass vor dem göttlichen Endgericht ein tausendjähriges Friedensreich erstehen würde (Apk 20) – dieses Endreich galt als das Friedensreich, das die Weltgeschichte beschließen sollte. Campanella ist fest davon überzeugt, dass dieses letzte Friedensreich bevorsteht. Es sei evident, dass „Prophetiam finis mundi, tam in natura, qvam in arte politica, mox completum iri“.56 Er führt als Beleg numerologische Konstellationen57 und zahlreiche weitere Prophetien an.
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Campanella, Monarchia Hispanica 116 ff. Ebd., 111. Ebd., S. 8. Ebd., 15. Monarchia Hispanica, 15 f.: “Imperium Christianum, res sane notatu digna, iam 1600. annos duravit: qui numerus è septenario & novonario compositum, fatalis omni Monarchiae est; quemadmodum
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Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion
Darüber dürfe man nur insgeheim reden, nicht öffentlich. „Sed ego dico, finem Monarchiarum jam advenisse, & qvod in eo jam aevo simus, qvo omnia Sanctis & Ecclesiae subjici debent; qvod futurum est, finitis quatuor Monarchiis, & mortuo Antichristo, qui tres hebdomadas cum dimidia durabit, secundum Lactantium, Iraenaeum, Tertullianum, Originem, Victorianum [Hugo und Richard von St. Victor] S. Bernardum, abbatem Joachimum, Dantem, Petrarcham, & alios Theologos, Philosophos, Prophetas & Poetas, sicut alibi declaravi“.58 Bedingung für das Eintreten dieses Endreiches ist die Besiegung der Türken. Auch hier bezieht sich Campanella auf biblische Stellen, die auf die politischen Konstellationen seiner Gegenwart appliziert werden. Nach Röm 11 müssen zunächst alle Heiden bekehrt werden, ehe die Juden in die Kirche „heimkehren“ werden. Campanella deutet diese Schlüsselstelle neu: Der erste Schritt sei der Sieg über den „heidnischen“ Islam, der zum Christentum konvertiert werde. Die Bekehrung der Juden sei im spanischen Reich spätestens seit 1492 erfolgt, seit dem Jahr, in dem Gott den Spaniern auch die Entdeckung Amerikas gewährte. Diese Konversion der Juden werde in der neuen Universalmonarchie vollendet. Der zunächst notwendige Sieg über den Islam wird mit der biblischen Prophetie aus dem apokryphen vierten Buch Esra begründet. Nach dieser pseudepigraphischen biblischen Vision ist die Weltherrschaft durch einen Adler mit drei Köpfen symbolisiert.59 Campanella deutet dieses Bild gegenwartspolitisch: der westliche Kopf sei das Römisch-Deutsche Reich, der andere, östliche, das Reich der Türken und Sarazenen, der Kopf in der Mitte symbolisiere Konstantinopel. Nun besage die Prophetie Esras,60 dass der linke (der türkische) Kopf den mittleren fresse, und das sei unter Mehmed II. geschehen, der Konstantinopel erobert habe. „Iam reliquum est, teste eodem Propheta, quod dextrum Occidentale, qvod est Germanicum, devorat sinistrum, Turcicum videlicet.“61 Campanella macht für diesen Krieg gegen die Türken strategische Vorschläge Er ist davon überzeugt, dass die Spanier mit ihrer militärischen Disziplin die Türken besiegen könnten, vorausgesetzt, sie berücksichtigen die politisch-militärischen
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Pythagoras & Plato scripserunt, atque ex Moyse etiam intelligi potest, cum de Jubilaeo & hebdomade loquitur; item ex Jerimia in Sabbatismo terrae sanctae; & ex Medicina, circa curationem febris & varietatem complexionum, & aetatum […] Quin & Deus ipse omnem creavit in numero. Hoc igitur tempus magnum vel amplificationem, vel inclinationem & mutationem, in rebus omnibus praesagit.” Ebd., 19. Ergänzung von mir, W. S.-B. Campanella bezieht sich hier wohl auf die Articuli Prophetales, in denen vor allem Joachim von Fiore prominent figuriert. Vgl. ebd. den Index. Viertes Buch Esra, fünftes Gesicht, 11 f. Der Adler aus dem Meere, er hat zwölf befiederte Flügel und drei Häupter. Vgl. Kautzsch (Hg.), Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, 2. Bd: Die Pseudepigraphen, 390–395. Diese Fassung steht nicht explizit in der Fassung bei Kautzsch. Monarchia Hispanica, 20. Diese Prophetie findet sich noch einmal in Kapitel XXX: De Magno Turca, eiusque Imperio, 325.
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Ideen, die er entwickelt habe, nämlich die Integration der gesamten Bevölkerung des spanischen Weltreichs in Heer und Verwaltung, sowie die häufige Anwesenheit des Königs im Heer. In der Civitas Solis hat er diese Militärpolitik ausführlich entwickelt.62 Das Haus Österreich, das ja beim Heiraten territorial so erfolgreich sei – „alii belli gerant, tu, felix Austria, nube“ – solle die Heiratspolitik auch auf die arabischen Staaten ausdehnen um sie so zur Christianisierung vorzubereiten. Aber vor allem solle der spanische König für ein Bündnis zwischen den Persern und dem Priesterkönig Johannes sorgen, damit die Reichtümer des Ostens nicht auf dem Wege über die Türkei in den Westen kämen, sondern an ihr vorbei. Dann könnte, gemeinsam mit den Äthiopiern – offensichtlich das Reich des Priesterkönigs Johannes – auch Jerusalem, „ubi Christi servatoris nostri sepulchrum est“,63 erobert werden. Dann findet, wie am Ende der babylonischen Gefangenschaft des Volkes Gottes, eine neue, christliche Besiedlung Jerusalems statt: „Turca autem, qvi typicus Cyrus est, extincto, Ecclesia renovabitur“.64 5.4
Das Friedensreich und die Civitas Solis
Nach dem Endsieg über die Türken und der Vereinigung der christlichen Religionen soll sich die paradiesische Universalmonarchie einstellen. Die Religion dieses Friedensreichs ist in der Civitas Solis dargestellt,65 in den Articuli Prophetales66 hat Campanella die Civitas Solis als die Verfassung des bei Jesaia 11,6 vorhergesagten Säkulums beschrieben, in dem der Wolf friedlich neben dem Lamm liegt und der Panther neben dem Böcklein. „Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten“.67 Es sei prophezeit, vor dem Ende der Welt werde es eine „felicissima respublica monarchica“ geben.68 Die Theologen redeten davon, dass der Messias wiederkom-
62 Vgl. Schmidt-Biggemann, Die Rolle des Militärs in Campanellas Civitas Solis, 127–137. 63 Campanella, Monarchia Hispanica, Kapitel XXX: “De Magno Turca, eiusque Imperio”, 334. 64 Ebd., 341 f. „Wenn aber der Türke, dessen typischer Vertreter Cyrus ist, ausgelöscht worden ist, wird sich die Kirche erneuern.“. 65 Sie ist zuerst 1602 in Italienisch verfasst, es existiert auch eine zweite Fassung von 1611. Die beiden italienischen Fassungen blieben bis ins 20. Jahrhundert ungedruckt. Der lateinische Text Civitas solis idea republica philosophica (1613), der allein wirkungsvoll war, erschien zuerst 1623 in Frankfurt und dann 1638 in Paris. Lateinisch: Civitas Solis. Idea Reipublicae philosophicae. Frankfurt 1623 als Anhang zur „Realis Philosophia epilogistica Campanellae.“ Italienisch: La Città del sole. Dialogo di Repubblica nel quale si dimostra l’idea di riforma della Repubblica cristiana conforme alla promessa da Dio fatta alle Sante Catarina et Brigida. 66 Campanella, Articuli Prophetales, 118–120: „Appendix respondens philosophis et machiavellistis“. 67 Ebd., 87. 68 Ebd., 80.
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Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion
men werde um den Status der Unschuld wiederherzustellen. Die Verfassung dieses Staates habe er in seiner Monarchia Messiae et Christianismi dargestellt.69 Die Wiederherstellung des Paradieses sei ein allgemeiner philosophischer Wunsch: Sokrates, Pythagoras und Plato, Philo, Clemens von Alexandrien, Ambrosius und Augustinus70 hätten ihn gleichermaßen gehegt. Dieses Endreich ist das Säkulum, in dem die Civitas Solis verwirklicht werde. Campanella zitiert erneut den Propheten Jesaia (65,20): „Dort gibt es keinen Säugling mehr, der nur wenige Tage lebt, und keinen Greis, der nicht das volle Alter erreicht; wer als Hundertjähriger stirbt, gilt noch als jung, und wer nicht hundert Jahre alt wird, gilt als verflucht“. „Hic Isaias loquitur de morte et de generationis modo qualem ego descripsi in Civitate solis sub felicitate astris, quando parentes purgati scelere in nomine Dei coeunt, quod non erit in Paradiso, nisi machometico. Ergo sensus prophetae est historicus, et in terra ponit haec, et non in coelo; ergo non anagogicus est.“71 Hier wird deutlich, dass der Sonnenstaat als Verfassung des 1000jährigen Reiches konzipiert ist, in der Natur und Religion übereinstimmen.72 Campanella wird nicht müde, Prophetenstellen als Beleg seiner millenaristischen Endzeitutopie anzuhäufen: zunächst aus der Bibel, dann aus den Vätern, schließlich aus mittelalterlichen und neueren Propheten: Joachim von Fiore (1135–1202)73 , Birgitta von Schweden (1303–1373)74 und Vinzenz Ferrer (1350–1419).75 Die Verfassung des kommenden Reichs und seine Religion sollen durchaus katholisch sein, aber es soll ein Katholizismus sein, der zugleich den Gesetzen der Natur, d. h. der Astrologie, entspricht und eine Papstherrschaft ist, die sich als vernünftig und universal zeigt. Die Monarchia Hispanica, die Articuli prophetales und die Civitas solis verfolgen dasselbe millenaristische Konzept: Die Religion, die Campanella hier konzipiert, ist zugleich trinitarisch und natürlich verfasst. Leitbild ist die kommende „Monarchia Messiae“.76 Für dieses Ziel soll der gegenreformatorische Katholizismus so flexibel sein, dass er für das kommende tausendjährige Reich vorbereitet ist. Die Sonnenstadt, die Verfassung der „Monarchia Messiae“, bildet das Paradies und das perfekte Universum ab. Sie ist in sieben Ringe mit doppelten Mauern
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Ebd., 81. Ebd., 83. Ebd., 89. Die Aufgabe des goldenen Zeitalters bestehe „in legem naturae restituendam“. Vgl. Campanella, Articuli Prophetales, 174. Ebd., 113 f. Ebd., 109 –112 (lange Birgitta-Zitate). Ebd., 112 f. Campanella, Monarchia Messiae, Kap. V: „Propositio vniversalis de Vnitate Regni Messiae; & de potestate Summi Sacerdotis, eiusdem Vicarij & Locum tenentis“.
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eingeteilt, die die Planetenbahnen symbolisieren. Die Innenseiten der Mauern sind Paläste; und deren Mauern sind mit Bildern geschmückt; das Programm dieser Bilder ist vom Minister für Weisheit festgelegt. Der Berg besteht oben aus einer ebenen Fläche, darauf steht ein runder Tempel, der von einem Gewölbe mit Laterne gekrönt ist. In der Mitte befindet sich ein Altar mit einer großen Kugel, die das Firmament abbildet und eine kleine Kugel, die die Erde abbildet. Die Kuppel ist innen mit Sternen von der ersten bis zur siebten Größe ausgeschmückt. Sieben Leuchten symbolisieren die sieben Planeten. Auf der Laterne der Kuppel ist eine Wetterfahne, welche die 36 Windrichtungen anzeigt. Unter der Fahne wird ein mit goldenen Lettern geschriebenes Buch aufbewahrt. 40 Priester und Mönche wohnen in diesem Tempel. 5.5
Christlich- kosmologische Theokratie
Campanella stellt das gesamte Arsenal einer kosmologisch-theokratischen Symbolik vor – eine politische Theokratie als Variation eines endzeitlichen Katholizismus. Der Staat wird allein von Priestern regiert. An der Spitze steht der Sonnenpriester Metafisico / Hoh / Sol, der dem Papst entspricht, wie in der „Monarchia Messiae“ erläutert wird. Er wird von drei Regenten unterstützt, Pon / Macht, Sin / Weisheit und Mor / Liebe. Diese Dreiheit halbpersonaler Allegorien verwaltet die ihr zugehörigen Ressorts. Dem Ressort der Weisheit unterstehen alle freien und mechanischen Künste und Wissenschaften sowie der gesamte Gelehrtenapparat; pro Fach ein Beamter: ein Astrologe, ein Kosmograph, ein Arithmetiker, Geometer, Historiograph, Poet, Logiker, Rhetoriker, Grammatiker, Arzt, Physiologe, Politiker und Moralphilosoph – und für alle gibt es nur ein Buch, in dem alle Wissenschaften leicht und fasslich vorgestellt werden. Das entspricht der Wissenschaftspolitik der Monarchia Hispanica.77 Dieses Buch wird „nach Art der Pythagoreer“ dem Volk vorgelesen.
77 Die Wissenschaft ist strikt katholisch und antiphilologisch – d.i. vor allem antiprotestantisch, denn die protestantische Philologie hat die katholische Kirche zersetzt. Offensichtlich ist Campanella der Ansicht (wie Telesio), dass die aristotelische Philosophie unchristlich und naturphilosophisch untauglich ist. Seine Wissenschaftsvorschriften (vgl. Campanella, Monarchia Hispanica, 78–79) sind strikt und entsprechen dem Wissenschaftskonzept der Civitas Solis: 1. Konversionsverbot für Wissenschaftler. 2. Die Theologen müssen strikt nach den Heiligenfesten und Wochentagen ihre Gottesdienste feiern. 3. Wissenschaften sollen platonisch und stoisch sein, nicht aristotelisch. Er empfiehlt Telesio. 4. Naturwissenschaften anstelle von Scholastik. 5. Strikt christliche Schulen. 7. Hebräisch- und Griechischstudien sind abzuschaffen, stattdessen sollen Arabisch und Türkisch gelehrt werden, um die Konversion der Muslime zu beschleunigen. 8. Einrichtung von Mathematikschulen, vor allem Geographie und Cosmographie, Astronomie, Astrologie.
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Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion
Außerdem ist die „Weisheit“ für die Bemalung der Mauerwände der sieben Ringe zuständig, die eine Enzyklopädie des Wissenswerten darstellen: Der erste Ring zeigt mathematische Figuren und Erklärungen in Versform – mehr als bei Archimedes und Euklid. Es folgt die Geographie: Darstellungen der Heimat und der Erde. Danach: Mineralogie, Flüsse und Seen, Meteorologie, Flora in der Beziehung zu den Metallen und Himmelskörpern und den menschlichen Gliedern; Wassertiere und ihre Symbolik; Vögel (inclusive Phönix); Kriechtiere und Landtiere. Es folgen die mechanischen Künste mit den Namen ihrer Erfinder, schließlich ein Heiligenkalender bedeutender Erfinder, Techniker und Gesetzgeber, u. a. Moses, Osiris, Pythagoras, sogar Mohammed, „indessen hassen sie diesen als lügenhaften und schmutzigen Gesetzgeber“78 . „Am würdigsten Platze jedoch sah ich das Bildnis Jesu Christi und die der zwölf Apostel, die sie für besonders ehrwürdig und gleichsam für Übermenschen halten.“79 Der Katholizismus, wie er in der Civitas Solis imaginiert wird, ist bereits zu einer zentralistischen Astral- und Naturreligion mutiert. Campanella selbst hat aber offensichtlich gemeint, hier eine politische Theologie zu beschreiben, die den römischen Katholizismus als Religion der spanischen Universalmonarchie geeignet erscheinen ließ.
6.
Universalreligionen sind nicht tolerant.
Handelt es sich bei Campanella um den Entwurf einer Universalreligion? Gewiss, aber diese Religion ist sehr römisch-katholisch. Mit ihrem prophetischen Drall zur messianischen Universalmonarchie geht sie deshalb über die Vorstellungen einer natürlichen Religion hinaus, weil es sich hier um wesentlich um politische Theologie handelt. Diese konkrete historisch-politische Dimensionierung unterscheidet Campanellas Religionsentwürfe von den andern Konzepten, die hier vorgestellt worden sind. Alle haben freilich eine missionarische Agenda. Raimundus Lullus kommt es offensichtlich darauf an, mit Hilfe seiner Entdeckung eines Alphabetum der ersten Begriffe, die ihm die Dame Weisheit offenbart hatte, zunächst einen allgemeinen Monotheismus zu beweisen. In seiner frühen Phase geht er über diese Lehre nur insofern hinaus, als er zusätzlich die drei abrahamitischen Religionen vorstellt, aber keine Entscheidung zwischen ihnen fällt. Später wird er sich dann anheischig machen, auch die Christologie und die Trinität kombinatorisch zu beweisen. Aber es ist deutlich, dass es sich in der Missionssituation, in der er sich befindet, beim Gespräch zwischen dem Heiden und den drei
78 Campanella, Sonnenstaat deutsch, 122. 79 Ebd.
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Weisen um so etwas wie einen ersten, vertrauensbildenden Schritt handelt, der ihm überhaupt Gehör verschaffen soll. Das ist bei Nikolaus von Kues anders. Er vertraut auf die Überzeugungskraft der Spekulation. Die philosophisch-theologische Spekulation leistet für ihn völlig selbstverständlich den Beweis für die trinitarische Dynamik Gottes, die er aus der pythagoreischen Zahlentheorie ableitet. Wie sich die Inkarnationschristologie mit allen mariologischen Implikationen zu seiner spekulativen Trinitätstheologie verhält, wird allerdings nicht wirklich deutlich. Nikolaus stützt sich hier auf die christliche Tradition, die er spekulativ nicht beweist. Er geht vielmehr von der Wahrheit der christlich gefassten Offenbarung aus und benutzt sie als Folie für seine Polemik gegen den Koran. Als Entwurf einer Universalreligion lässt sich deshalb wohl allein der kurze Traktat De pace fidei werten, aber die „toleranten“ Momente dieses Stücks scheinen am Ende doch von der im engeren Sinne dogmatischen Fassung des Christentums überdeckt zu werden, wie sie sich in der Cribratio Alkorani zeigen. Guillaume Postel baut zwar formal auf Nikolaus’ von Kues Cribratio auf, aber er entwickelt in De Orbis Terrae Concordia und der Pantheonosia einen prophetischen Messianismus, der weit über die Spekulationen des Kusaners hinausgeht. Postel sieht sich als Messiasphilologen, als erneuerte Inkarnation des Worts, der das Christentum zur buchgewordenen, alle Religionen umfassenden Universalreligion weiterentwickelt. Er ist der inspirierte Verkünder dieses Überchristentums, er sieht sich an der Schwelle zum neuen Zeitalter, und er fordert die christlichen Obrigkeiten auf, diese neue Zeit politisch dadurch zu ermöglichen, dass sie die Muslime christianisieren und damit die Bedingung für die Bekehrung die Juden schaffen. Campanellas Entwurf schließt hier an, aber er ist politischer und konkreter als Postels Visionen. Seine Universalreligion hat ihren historisch-politischen Ort im Universalkönigtum der Monarchia Hispanica. Diese Universalmonarchie begreift Campanella als prophetisch vorhergesagt; sie ist das tausendjährige Reich des Friedens, das Reich, das gemäß Apk 20 dem endgültigen Weltgericht vorausgeht. Die Verfassung dieses Reichs ist in der Civitas Solis konzipiert. Ob dieser Staat auch ein Reich des Glücks ist, mag man unter modern-individualistischen Freiheitskriterien allerdings bezweifeln. Toleranz? Wie immer man Toleranz fassen mag: Keine der vier vorgestellten Entwürfe einer Universalreligion erfüllt die Bedingungen der Toleranz, sofern diese Religionsfreiheit in einem Staat bedeutet. Eine gewisse Wahlfreiheit wäre noch am ehesten bei Lullus zu finden; aber auch für ihn gilt, was für die anderen religiösen spekulativen Geister, die hier vorgestellt wurden: Das Christentum, in welcher Fassung auch immer, ist alternativlos.
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Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion
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nis membra. Scriptore Elia Pandocheo. Tubae penultimae stridor. Solus erit Iudex, qui meliora dabit. O.O. u. J. [Basel: Oporinus 1547]. Raymundus Lullus, Opera omnia, 3 Bände, Mainz 1721. –, Buch vom Heiden und von den drei Weisen, übersetzt und herausgegeben von Theodor Pindl, Stuttgart 1998. Selected Works of Ramón Llull, hg. von Anthony Bonner, Princeton 1985. Raimundus Martini Ordinis Praedicatorum Pugio Fidei adversus Mauros et Judaeos, cum observationibus Josephi de Voisin, et introductione Jo[annis] Benedicti Carpzovi[i], qui simul appendices loco Hermanni Judaei opusculum de sua conversione ex M[anu]sc[rip]to Bibliothecae Paulinae Academiae Lipsienis recensuit, Leipzig: Lanckisch 1687.
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Vier Entwürfe einer christlichen Universalreligion
–, Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der frühen Neuzeit, hg. von Anja Hallacker und Boris Bayer, Göttingen 2007. –, Logostheologie als Missionskonzept. Christentum und Islam bei Nikolaus von Kues und Guillaume Postel, in: Cusanus Jahrbuch 8 (2016–2018), 63–94. –, Llull, Leibniz, Kircher and the History of Lullism in the Early Modern Era, in: Amador Vega, Peter Weibel und Siegfried Zielinski (Hg), Dia-Logos. Ramon Llulls Method of Thought and Artistic Practice, Karlsruhe und Minnesota 2018, 38–61. –, Besold und Andreae. Die Konversions- und Dissoziationsgeschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Frieder von Ammon, Cornelia Rémi und Gideon Stiening (Hg.), Literatur und praktische Vernunft, Berlin/ Boston 2016, 101–146. –, Die Rolle des Militärs in Campanellas Civitas Solis, in: Ottfried Höffe (Hg), Politische Utopien der Neuzeit: Thomas Morus, Tommaso Campanella, Francis Bacon, Berlin 2016, 127–137. Scholem, Gershom, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, deutsch zuerst Zürich 1957. Secret, François, Bibliographie des manuscrits de Guillaume Postel, Genève 1970. Stünkel, Knut Martin, Una sit religio. Religionsbegriffe und Begriffstopologien bei Cusanus, LLull und Maimonides, Würzburg 2013. Vasoli, Cesare, Profezia e ragione. Studi sulla cultura del Cinquecento e del Seicento, Napoli 1974.
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Thomas Leinkauf
Zwischen Rationalismus und Millenarismus Guillaume Postels Begriff der universalen Konkordanz als Konsequenz menschlicher Freiheit
1.
Konkordanz statt Toleranz
Der Begriff Toleranz mit seinen mannigfaltigen Implikationen, d. h. Duldung, Ertragen, Zulassen und Aushalten, ist ein psychologischer Begriff, kein physikalischer und auch kein logisch-intellektualistischer Begriff. Seine metaphorischen Schnittmengen freilich sind größer mit physikalischen Phänomenen, etwa der ‚Toleranz‘ eines Materiales unter Belastungen, als mit logischen oder rein rationalen Gesetzen folgenden Strukturen. Im Definiten und Definitiven kann es keine Toleranz geben, logische Gesetze sind selbst ‚intolerant‘, was ihre Geltung betrifft. Andererseits ist es eben gerade auch Zeichen von Toleranz, wenn die harte Grenze des ‚tertium non datur‘ überschritten werden kann, wenn dem ‚sic aut non‘ ein ‚sic et non‘ entgegengestellt werden kann. Das Phänomen von Toleranz begegnet daher vor allem in der ‚Materie‘ der Politik und deren Stresszonen, etwa der Zulassung anderen Verhaltens, anderer Religiosität, anderer Meinungen überhaupt. Die Einschließung des ‚Anderen‘ in die eigene Position lässt Toleranz sachlich allerdings wieder in die Nähe spekulativ-dialektischer Einsichten rücken, jedoch nur scheinbar: es ist gerade Signum von Toleranz, dass ich die Position des Anderen eben nicht mir zu eigen mache, dass ich das Andere als Anderes doch außer mir lasse. Hier wird die Ebene spekulativer Synthesis nicht erreicht. Texte, die Toleranz fordern, müssen selbst nicht tolerant sein. Man kann gegenüber der Notwendigkeit von Toleranz selbst ganz intolerant sein. Toleranz gegenüber Anderem setzt zumindest voraus, dass man selbst als Subjekt des Toleranz-Aktes nicht indifferent ist gegenüber dem, was man toleriert. Toleranz schließt Differenz ein, reine Indifferenz kann nur derjenige tolerieren, der selbst eben nicht indifferent ist. Die Indifferenz, da sie zu nichts in Spannung steht, kann noch nicht einmal tolerant sein. Das ist ihr eben gleichgültig. Toleranz kann gelebtes Zusammen des Heterogenen sein, die psychische Komponente verlangt hierbei permanente Zustimmung zur Differenz und Andersheit des Anderen. Guillaume Postels Text De orbis terrae concordia, publiziert in Basel im Verlag des Johannes Oporinus 1544, eine der klarsten Abhandlungen dieses durchaus
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Thomas Leinkauf
‚dunklen‘ Denkers,1 vertritt eine klare und radikal christliche Position mit deutlich apologetischem Anspruch und setzt sich in eine nicht indifferente Differenz zu allen anderen Religionen, insbesondere zur jüdischen und islamischen Religion.2 Diese werden, wie auch die antike Philosophie, gnadenlos kritisiert, bis hin zum Vorwurf des Betruges.3 Dies muss man sich zwar abgestuft vorstellen – das Jüdische
1 Vgl. Radetti, Il teismo universalistico di Guglielmo Postel, 279: Postel sei Teil der „oscura e multiforme vita di pensiero“ des 16. Jahrhunderts, dessen komplexe Faktur aus den Strömungen des Humanismus mit seinen universal-religiösen Tendenzen (Ficino) und des spät-mittelalterlichen, aristotelisch geprägten Denkens zusammensetze. Radetti sieht in Postel eine Entwicklung von einer apologetischen Darstellung des vor allem katholischen Christentums zu einem Ansatz, der eine „religio naturalis“ in den Mittelpunkt stelle. Postel erreiche aber nicht die Sichthöhe eines Herbert von Cherbury, sondern bleibe „sul piano del teismo universalistico ficiniano“ (ebd., 284). Radetti hebt auf S. 285–286 als Markenzeichen von Postels Religionsbegriff dessen Fundierung in einem universalen, von Gott gegeben Rationalismus heraus, die „ratio veri et falsi“ und ihre Verankerung in universal gültigen Axiomata (Ursachen-Begriff, Einheits-Begriff etc.) ist das letzte Kriterium der Orientierung des Menschen in der Welt, siehe De concordia, Epistula nuncupatoria 1544, fol. a2v: „nascente ecclesia Christi miraculis, nunc senescente et tantum non afflicta pietate rationibus est agendum“. Dies sieht auch Bouwsma so, der auf Panthenosia von 1561, fol. 6 verweist: „Die erste (primäre) Intention Gottes ist es, alle Dinge zu vereinen (oder: in eine Einheit zu bringen)“ (Postel 1957, 98–137). 2 Postel, De concordia 1544. Es gibt noch eine separate Publikation nur des ersten Buches Paris 1560 bei Petrus Gromorsus (ursprünglich vor der Basler Ausgabe 1543), sowie spätere Aphorismen: Aphorismoi 1580, fol. 35r; zur Datierung S. 239: Vigilia Festi per Ave Maria consecrati anno salutis 1580). Zur Vita Postels informiert kurz und gut die Introduction von Jean-Pierre Brach zu Postels Des admirables secrets des nombres platoniciens, Brach 2001, S. 7–29, siehe auch Bouwsma, Career and Thought of Postel, S. 1–29 und Kuntz, Guillaume Postel, passim. 3 Hierzu und zu der auch sprachlichen Drastik nur einige wenige Stellen aus De concordia, so etwa Lib. I, cap. 7; fol. 55: „imposturas falsae religionis vestrae“; c. 14; fol. 96: gegen die Reformatoren als „pestiferi homines“, die „incendium in medium Christianissimum immisisse, sacrosancta sacramenta pedibus inculcasse“; c. 17; fol. 107: „insurget hoc in loco Muhamedes (…) cuilibet tyranno iniquissimo ita licuit“; c. 20; fol. 114 gegen Pomponazzi, der zu „ea hominum monstra“ gehört, deren Italien sich zu erwehren habe; II, 13; fol. 176: Muhammad hat, „quovis modo popularibus & rudibus suadebat“, Irritümer verbreitet (errores disseminando); fol. 217: es gibt „religiones falsae“ – also nicht jede Religion ist wahr oder auch überhaupt gleich zu einer oder allen anderen (wie es für Toleranz gelten sollte); IV, fol. 414: „populus diaboli Iudaicus“. De magia orientali (1580), c. 17, fol. 102r; nach der Edition von Secret, Postel, 1966, S. 259: „muhammedica impietas“. Natürlich ändert sich der Blick etwa auf Mohammed, so Secret 1969, S. 27: „En 1543 dans un De orbis terrae concordia, qui malmène Juifs et Musulmans, Mahomet est un imposteur. Dans la Panthenosia de 1547, Mahomet est un prophète, à la manière de Saul, gand prophète, vrai et faux ensemble“. Die Tradition der „Graecia mendax“ (Josephus, Contra Apion I, 1.72; ed. Reinach-Blum 1972, 3–15) lebt z. B. fort in Postel, De concordia, Lib. I, c. 11; fol. 73: „nugae Graecorum“, oder in Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis, 1549, fol 177r; bei Brach S. 46: „vanitas Graeca“, und kann sogar auf den sonst geschätzten Platon und seine Tradition übergreifen. Zu Platon und platonischen Grundzügen in Postels Ansatz siehe De concordia 1544, I, (praef.) fol. 1–2; cap. 2; fol. 15: „divinus ille Plato philosophorum deus“; c. 3; fol. 23: „philosophorum divinorum deus Plato“; c. 6; fol. 44, 50 f.: zur Kosmologie des Timaios und zum Ideen-(Form-)Begriff; c. 14, fol. 95; c. 15, fol. 98 u. ö. sowie die Hinweise unten Anm. 4. Postel
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Zwischen Rationalismus und Millenarismus
erreicht lange nicht die Perversionsstufe des Islamischen, es sieht dennoch nicht nach Toleranz aus, und ich denke, hier gibt es bei Postel auch keine Toleranz. Die christliche Religion ist die allein und einzig „wahre“ Religion, die „religio verax“, die „religio sacra“.4 Von ihren Zentralprämissen wie Trinität, Weltschöpfung oder Inkarnation – die Theorie des theanthrôpos wird als Kernpunkt deutlich markiert5 – kann und dürfe kein Deut abgerückt werden. Wo dies geschieht oder geschehen ist, ist „falsa autoritas“ im Spiel, bei der Suggestionen wie eine Infektion den mentalen Körper der Menschen heimsuchen.6 Alle anderen Religionen außer der „einen, wahren“ (unicam veram) entstehen vor allem durch Autorität und Meinungen, sie verdunkeln oder schwächen das Licht durch ihren „ingens opinionum cumulus“.7 Es gibt, neben der wahren oder den wahr-ähnlichen Religionen daher auch „falsche Religionen“ (Lib. II, c. 13; f. 217: religiones falsae), so ist der Babylonische Talmud, im Unterschied zum Sohar, für Postel eine „summa depravatio veritatis“.8 Hier wird radikal auf Differenz gesetzt und keinerlei Indifferenz oder Überschneidung zugelassen.9 Der radikal-christliche Nucleus der theologischen Überzeugung Postels ist
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lehnt sich insbesondere an Platons Lehre vom Einen Gott (Politeia II), an die Weltentstehungslehre des Timaios, die Eros (charitas)-Lehre und an das Homoiôsis-Theôi-Theorem (Theaitetos) an, zu letzterem Postel, De Concordia I, cap. 2; fol. 15; zu Gott als dem neidlos sich mitteilenden EinenGuten, c. 3; fol. 17: „Nam Deus (ut inquit Plato) quum bonus sit, vult suum beneficium latissime in omnes patere, eo quod omnia amet“. Platon bleibt im ganzen Werk der philosophische Kernautor. Zu Postels Haltung zur antiken, insbesondere griechischen Philosophie und Literatur sowie Budés Rolle siehe Bouwsma: Career and thought of Postel, 48–52. Eine vergleichbare Präsenz Platons findet sich etwa auch den Texten des nicht als ‚Platoniker‘ bekannten Gasparo Contarini, siehe Leinkauf, Contarini, passim. Postel, De concordia, Lib. I, fol. 1; Aphorismoi fol. 18v, c. 1, 20v; ders., Catastrophes, cap. 4; fol. 56v: “sola vera religio erga unum solum Deum“. Postel, De concordia 1544, Lib. I, cap. 11–13; fol. 73–92. Postel, De concordia 1544, Lib. I, fol. 1–3, fol. 2: „In summa, universum ordinem inficit ignorantia, vanitas, cupiditas“. Postel, De concordia 1544, Lib. III, cap. 1; fol. 264: „religiones ipsas, quae authoritate & opinionibus, praeter unicam veram, potissimum nascuntur, augentur, constant, hominum artibus, aut potius supina negligentia ita excrevisse, ut arbitrandi licentia ingens opinium cumulus consurrexit, uti lux nimia aciem iudicandi hebetaverit“. Postel, De originibus seu de hebraicae linguae et gentis antiquitate, 1538, fol. 85. Hingegen ist die Tradition der Kabbala für ihn spätestens seit 1545 nahezu „identisch mit der Vernunft“ selbst, siehe Bouwsma, The career and thought of Postel, 38–46. Postel, De concordia 1544, Lib. I, fol. 92: radikale Differenz zwischen christlicher Religion und jeder anderen, z. B. der islamischen und dem Koran! Das ganze Kapitel 14, fol. 92–97, ist apologetisch und kontroverstheologisch, bes. fol. 96. So auch Brach, Introduction 2001, S. 9: „Il y [sc. dans la Concordia] réaffirme les dogmes fondamentaux tout en réfutant ‚démonstrativement‘ les objections de certains philosophes ou celles contenues dans le Talmud et le Coran, sans oublier de préconiser au passage les moyens et les instruments qui lui semblent nécessaires à la mise en Œuvre concrète de ladite ‚Concorde‘“.
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hier (und auch anderswo) allerdings eingebaut in durchaus traditionelle, aus der Patristik (vor allem Augustinus), der Scholastik (vor allem Thomas von Aquin) und aus dem Humanismus des 15. Jahrhundert gut bekannte und im Kern auf schon antike, vor allem platonische Philosopheme zurückgehende Argumente. Diese sind wohl sicherlich auch durch seine Lektüre von Autoren wie Charles de Bovelles, Marsilio Ficino oder Francesco Giorgi Veneto vermittelt worden und prägen insbesondere die Ausführungen des ersten Buches von De orbis terrae concordia und den ganzen Rationalismus, der bei aller offensichtlichen Tendenz zu mystischen, eschatologischen und visonären Spekulationen die Texte des Postel prägt.10 Sie 10 Postel, De concordia 1544, Lib. I, fol. 1–125 zu Prinzipienlehre, Gottesbegriff, Weltstruktur, Mathematik. Die deutlich spürbare Präsenz neuplatonischer Autoren (exemplarisch in cap. 6; fol. 50–55) dürfte m. E. auf Lektüre von Cusanus, Ficino oder Bovillus zurückgehen (ungewöhlich ist fol. 52 der Rekurs auf einen Autor wie Damaskios, dessen ‚revival‘ eigentlich erst mit Francesco Patrizi beginnt). Postel machte vermutlich zur Zeit seiner Ausbildung in Paris auch Bekanntschaft mit französischen Humanisten von Bedeutung wie Jean-Antoine de Baif, Guillaume Budé, Jean oder Jacques Lefèvre d’Etaples. Wichtig ist auch die durch Faszination und Kritik geprägte Lektüre der deutlich anti-religiösen Texte von Rabelais, der kabbalistischen Arbeiten von Reuchlin sowie seines Verteidigers Petrus Galatinus (De arcanis catholicae veritatis) und von Melanchthons Werken, die Rezeption Giovanni Pico della Mirandolas und Marsilio Ficinos. In Venedig spätestens liest er De harmonia mundi totius cantica, Venetiis 1575 und In sacram scripturam problemata (Venetiis 1536) von Francesco Giorgio Veneto (Zorzi); zu Postel und Francesco Giorgio siehe Secret, Postel et Francesco Giorgio, 385–389 und die Hinweise im Kommentar von Brach zu De admirandis secretis, z. B. die Seiten 107, 115, 127, 139, 143, 157, 161, 205, 239. Siehe auch Secret, L’ésotérisme und Kuntz, Guillaume Postel, 46–48. Wichtig sind vor allem die durch Ficino teilweise wieder zugänglich gemachten Texte des Corpus hermeticum, ebenso der Sohar und dessen vielschichtige Exegese, vgl. Secret. L’hermeneutique de Postel und Vasoli, L‘Homo novus restitutus“ di Guillaume Postel, auf S. 226 verweist er auf De vita coelitus comparanda von Ficino, siehe Postel, Le prime nove 1555, fol. 46–48 zur „duplicità della natura umana“, „costituita da duoi corpi in uno, l’uno spirituale et simile al fuoco delle stelle, l’altro extratto dai quattuor elementi“. Vgl. Brach, Notes zu De admirandis secretis 1549, fol. 177v, S. 49; fol. 179v, S. 57 auf Ficinos De religione christinana, mit Verweis auf Jean-Claude Margolin, Sur quelques ouvrages de Postel annotés de sa main, 109–130, bes. 112–117, aber auch Secret, Introduction, 34, der die Annotationes Postels im Ms. Bibliothèque national de Paris Res. D. 80186 von 1510 hervorhebt, sowie die Verantwortung für die französische Übertragung durch Guy Le Fèvre de la Boderie: De la religion chrestienne, Paris 1578. Die durchaus spürbaren Einflüsse der antiken Philosophie und auch aktiven Rückbezüge Postels auf diese werden, aus der Sicht des Radikal-Christen, durch die Konstruktion der ‚prisca sapientia‘ ermöglicht, die, garantiert durch die substantielle Kontinuität von mosaischer, griechischer, jüdischer und christlicher PhilosophieTheologie, einen legitimen Rekurs etwa auf Platon, Plotin oder Proklos erlaubte. Dies entspricht auch der Einschätzung von Brach; vgl. Brach, Introduction, 14–16 am Beispiel der Zahlentheorie in De admirandis numerorum platonicorum secretis, 1549, Praefatio, fol. 175r–v, bei Brach S. 32–38, vgl. auch fol. 174r, bei Brach S. 32: „Ex priscorum Platonis et Pythagorae praeceptorum, hoc est ex Moseos alumnorum scriptis unde illi desumpserunt“, setzt die Basis-Linie Moses-Schüler des Moses-Pythagoras-Platon; so auch fol. 175r – v; S. 34–38, fol. 176v, S. 42; Plotin wird genannt fol. 175v, S. 38; fol. 186r, S. 9 (zu VI 8, 7). Zur ‚prisca sapientia‘ der Verweis auf den Orient (Syrien, Pherekydes)-(Phönizier)-Juden-Pythagoras-Platon [das ist eine recht heterogene Aufzählung] fol. 178v –
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Zwischen Rationalismus und Millenarismus
tragen ontologische, kosmologische und anthropologische Grundgedanken in die theologische Kernannahme ein, sie zeigen vor allem, und das wird gerade in den auf die Publikation von De orbis terrae concordia folgenden Jahren von größter Bedeutung werden, den Gedanken einer – doch im Unterschied zur Toleranz zu sehenden – Kon kord an z in die Weltauffassung des französischen Humanisten ein.11 Konkordanz markiert, im Unterschied zu Toleranz, keinen vorwiegend psychisch-mentalen Zustand, sondern bezieht sich vor allem auch auf die ontologische, kosmologische oder auch mathematisch-rationale Struktur der Wirklichkeit, die Postel in der Tradition des Gedankens einer ‚concordia discors‘ oder ‚concordia discordantium‘ gedacht hat.12 Zu dieser Struktur der Wirklichkeit gehört auf Seiten des Menschen eine notwendige, quasi natürliche, universale Form von Religion, deren Faktur die einer christlichen, nicht-hierarchischen, nicht-konfessionellen Religion ist, in der alle anderen Glaubensform konkordieren.13 Die Toleranz
179v, bei Brach S. 54–58. Die ‚Platonici‘, von denen Postel in De orbis terrae concordia 1544, Lib. I, c. 3; fol. 17 spricht, sind vermutlich die Mittelplatoniker (Alkinoos) oder Plotin –wahrscheinlich durch Ficinos Übersetzungen und Kommentare vermittelt: „voluere ideo non immerito Platonici, omnium specierum ideas in mente divina veluti in proprio subjecto consistere“. Darauf weist auch eindeutig die Aufzählung der bedeutenden Neuplatoniker in De concordia, Lib. I, c. 3; fol. 22–23, aus denen Postel auch zitiert. 11 Zur Konkordanz ist immer noch Bouwsma, The career and thoughts of Postel, 64–65, 100 f. zu konsultieren. Vasoli spricht in L‘Homo novus restitutus“ di Guillaume Postel auf S. 198–199 von der umstürzenden Veränderung der Persönlichkeit Postels („mutazione“, „persona mutata“), der, vor dem Hintergrund einer extremen „tensione escatologica“, ein radikales Reformprojekt der europäischen Kultur in Anschlag bringt mit ihm als „neuem Adam“ und als Restitutor-Institutor ursprünglicher Einheit, Reinheit und Salviertheit der Menschheit unter dem Index universaler Konkordanz. S. 219: „ […] ma tutte le opere dall’Orbis terrae concordia agli scritti pubblicati a Basilea dall’Oporinus nel ‘47, all’interpretazione del Candelabrum sono indicati come altrettanti momenti della progressiva intelligenza e communicazione della ‚sapienza eterna‘“. Basel (und vor allem Oporinus’ Verlag) soll, nach dem Widerstand seitens Rom, des Kaisers und der französischen Krone, jetzt das Bollwerk der Verkündigung der neuen Eschatologie des ‚Restitutors‘ Postel werden. Wichtig hierfür war sein Aufenthalt in Basel 1553, nach dem ‚Erleuchtungserlebnis‘ oder der mystischen Vision vom 6. Januar 1552 und der Verschärfung seiner Position als neuer Messias, Adam und Jesus in einer Person, als universeller Welten-Retter, dessen (schriftliche) Botschaften durch die Presse des Oporinus laufen sollten. Hierzu auch Brach, Introduction 2001, 12 f. [Die Universität und der Magistrat in Basel gingen allerdings auf Distanz; Oporinus zog es vor, später Postel nicht mehr zu antworten. Dagegen gibt es Verbindungen zwischen David Joris in Basel, seinen Anhängern in Frankreich, denen er geheime Sendbriefe schickte, und Postel. Die UB Basel hat Joris’ handschriftliche Exzerpte aus Postels Texten.]. 12 Das zeigen Postels Texte. Zur Bedeutung dieses Gedankens im Denken des 16. Jahrhunderts siehe Leinkauf, Der Ternar essentia-virtus-operatio, 75–83. 13 So ganz richtig schon Radetti, Il teismo universalistico, S. 289.
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wäre von dieser universalen Konkordanz gleichsam die entspannte Form innerlicher Zustimmung trotz äußerer Differenzen. In der Konkordanz muss es ein gemeinsames, normierendes und auch herrschendes oder gültiges Maß für alle in dem konkordierenden Zusammenhang stehenden Teilmomente geben. Wer hingegen Toleranz übt, steht noch lange nicht in Konkordanz mit dem Tolerierten. Man kennt das aus Nachbarschaftsverhältnissen: ich toleriere meinen Nachbarn, um des allgemeinen Hausfriedens willen, deswegen stehe ich mit ihm jedoch in keinerlei Konkordanz. Eine Konkordanz kann zulassen, dass ihre Teilmomente sich untereinander auch intolerant verhalten, solange sie nicht die übergreifende Struktur oder das gemeinsame Maß beschädigen. So ist die Konkordanz der monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam als historisches Phänomen für Postel Indiz der Überwindung des antiken Denkens und Seins.14 Letzteres steht jedoch, aus übergreifender Perspektive, wenn es etwa um die Tatsache des allen Menschen gemeinsamen Interesses am Ursachenwissen und um die Ausbildung religiöser Einstellungen geht, wiederum in Konkordanz mit diesen. Ebenso stehen die drei monotheistischen Religionen in einem Zusammenhang, der ihrer historischen Ist-Stellung sozusagen als archäologischer in situ-Befund vorausläuft: Ihre gemeinsame Wurzel liegt in einer ursprünglichen (adamitischen) Religion: daher kann Postel zu den Vertretern des ansonsten als aberrant kritisierten Islam sagen, er liebe sie sehr, „weil ihr ein Teil von uns wart, der zugrunde ging“.15 Es ist signifikant, dass Cusanus in seiner für den Religionsdiskurs so wichtigen Abhandlung De pace fidei die Konkordanz der Religionen nicht unter den Index der Toleranz stellt, wohl aber unter denjenigen der einen, wahrhaften Religion und der von dieser ausgehenden caritas – hierin folgt ihm Postel, was die Struktur seiner
14 Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis, 1549, fol. 177r, bei Brach S. 46 Brach: „Nam licet vanitas gr[a]eca duce spiritu invidiose ambitionis multa confixit, vicit tamen ita veritas ut hodie sub Mose Christo et Muhamede Ismaelis filio vicerint sacrae opiniones ut in dubium trahi numquam possint“. 15 Postel, De concordia 1544, lib. I, cap. 3; fol. 28: „Videtis ergo (ô Mahumedici, quos magis amo, quia eratis pars nostri, quae periit) ratione & divina, & humana, autoritate philosophorum omnium, & Mosis, & vestra, nostram [!] de trinitate fidem esse verissimam, esseque Iesum Christum Dei filium […]“. Das Nomen ‚tolerantia‘ oder das Verbum ‚tolerare‘ spielt in De concordia fast keine Rolle; eine der wenigen Okkurenzen bezieht sich auf das Zulassen von Üblem oder Bösem seitens Gottes und wird sprachlich vom einschlägigen Verb ‚permittere‘ flankiert, vgl. De concordia 1544, Lib. I, c. 6; fol. 46: „Deum scire & creare particularia, mala tolerare & permittere“; fol. 47: tolerare [hier fehlt der grammatische Kontext]. Dagegen ist Konkordanz durchaus eher zu finden, vgl. Aphorismoi, elementaque veritatis aeternae, ca. 1580, c. 7, fol. 27v, bei Secret S. 221: „universum mundum per concordiam unicam civitatem satagat“; c. 8, fol. 29r, bei Secret S. 225: „per concordiam quae finis est omnium vivendo politice“. Toleranz sieht Postel als Ausdruck genuin christlicher „compassio“, nicht als ursprünglich politischen Faktor, siehe seine Apologia pro Serveto, fol. 473 (zitiert nächste Anm.)
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Zwischen Rationalismus und Millenarismus
Grundargumentation in De orbis terrae concordia betrifft, eindeutig.16 Es ist also noch nicht einmal eine wirkliche ‚Konkordanz‘ der Religionen das eigentliche Ziel, sondern die „zusammenstimmende“ (concordanter) Reduktion auf eine e i ge nt l iche Religion, die der „religio verax“ Postels systematisch entsprechen dürfte.17
16 Siehe Cusanus, De pace fidei, in: Opera omnia iussu et auctoritate academiae litterarum Heidelbergensis, Vol. VII, ed. R. Klibansky et H. Bascour, Hamburgi 1970, I, n. 1; S. 4,1–5: „[…] omnium talium diversitatum quae in religionibus per orbem observantur […] unam posse facilem quandam c onc ord ant i am reperiri, ac per eam [!] in religione perpetuam pacem […] constitui“; III, n. 9; S. 10, die Verschiedenheit aller Religionen soll allerdings (aus Sicht Gottes selbst) „in unicam concorditer [!] reduci amplius inviolabilem“. 17 Im Sprachduktus herrscht bei Cusanus jedenfalls ‚concordantia‘ mit Ableitungen wie ‚concordanter‘, ‚concordia‘ und ‚concordare‘ vor (S. 11,5; 12,5; 20,2; 30,11; 58,5; 59,1; 61,16.20; 62,19: concordia religionum), daneben benutzt Cusanus zur Veranschaulichung des Verhältnisses zwischen den positiven Religionen ‚complicare‘, ‚concurrere‘ oder ‚connectere‘. Das Verb ‚tolerare‘ taucht nur eimal XVI, n. 60; S. 56,19 auf: „sufficiat igitur pacem in fide et lege dilectionis firmari, ritum hinc inde tolerando“. Eine Kenntnis von Schriften des Cusanus nimmt etwa auch Brach an, hier bezüglich der graduellen Gewissheitsstufen verum, verumsimile, falsum und der Bedeutung der „similitudo“ (assimilatio) von geometrischen Figuren und Zahlenverhältnissen (vgl. Brach, Introduction 2001, 18, dazu vgl. De admirandis numerorum Platonicorum secretis, 1549, fol. 180v, bei Brach auf Seite 64. Brach zufolge verweist auch der Aussagesatz „nullum schema in sua dimensione esse vero adaequatum“ auf Cusanus, De docta ignorantia I, cap. 11, n. 30–32. Diese Gradation der Gewissheitsstufen ist schon klar vorgegeben in De concordia 1544, Lib. I, cap. 1, fol. 4–5: parum vera, vera, veriora, longe veriora, verissimum, veritas ipsa = deus. Sie könnte ebenso gut auf Augustinus zurückgehen. Auf Cusanus verweist m. E. auch der Umgang mit dem Begriff der „Unwissenheit“ (ignorantia), der in direktem Bezug zum positiven Wissen steht und etwas über die Struktur des menschlichen Erkennens aussagt, siehe etwa Lib. I, c. 1; fol. 12; c. 2, fol. 12–13, dort auch „conjicere“ fol. 13 f. Vor allem ist vermutlich der dritte Abschnitt des dritten Kapitels von Buch I zum Zusammenhang von ‚amor‘ und ‚aequalitas‘ durch Cusanus beeinflusst, ebd.; fol. 117–18. Wenn es stimmt, dass Postel De pace fidei gelesen hat, dann konnte er etwa dort De pace fidei, h VII, c. VII, n. 22–24; p. 22–25; X, n. 27; auf S. 29 exakt diesen Zusammenhang von aequalitas, nexus, amor (vor dem Hintergrund des cusanischen Ternares unitas-aequalitas-conenxio) finden. Auf Lektüre des Cusanus kann auch die Verwendung des Begriffs „idemtitas“ verweisen, vgl. Postel, De admirandis secretis, fol. 200v; bei Brach S. 168. „Idemtitas“ ist ein Kunstbegriff, der auf die „idemptitas“ in Cusanus‘ Schrift De pace fidei hinweist (vgl. Cusanus, h VII, c. 7, S. 25,7; Sermo XXII; h XVI, n. 21,5). Was Bouwsma (Concordia mundi, 125–127) zur „tolerance“ bei Postel sagt, stellt richtig den Sachzusammenhang von Freiheit, Menschenwürde und – aus der Sicht Postels – spezifisch christlichem Liebes-und Duldungsgebot her: einerseits können die Kritik an Autorität und die Emphase für Freiheit nur eine tolerante Einstellung gegenüber anderen Positionen implizieren, die auf die Kraft des rationalen Argumentes setzt; andererseits kann das christliche Gebot der Friedfertigkeit, des Aushaltens und der allgemeinen Zuneigung zum Sein ebenfalls nur eine tolerante Grundhaltung zur Voraussetzung haben (mit Bezug auf De concordia 1544, fol. 247: „lex Dei qui omnia vult fovere“, 327: „nam quod vi factum est, vix unquam ad frugem proficiscitur“) und Verweis auf Postels Apologia pro Serveto, fol. 473: „Compassione igitur et tolerantia instar Apostolorum agendum est, non gladiis aut ignibus. […] Infirmum in fide assumere, non abiicere aut occidere iubemur“. Siehe auch De originibus […] 1553, c. 1, S. 7: „Finis vero huius meae tractationis, licet sit in charitate erga proximum, & in laude
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Für Postel, der einerseits, ich habe es schon gesagt, radikal die Differenz und auch das Gefährliche alternativer Glaubensformen herausstellt, gilt doch andererseits ein Ur- und Grundvertrauen darein, dass die Menschheitsgeschichte, für die der orbis terrarum nur die äußere Hülle und Szene ist, durch einen providentiellen, rational einsehbaren Grundzug sich, um mit Leibniz zu sprechen, ‚ad optimum‘ entwickelt18 und in dieser Entwicklung das scheinbar Absurde und eben auch das Böse eine positive Funktion besitzt, welche die menschliche Vernunft zu erkennen habe oder zumindest das Individuum hierfür offen zu halten habe. Dies Offenhalten für eine verborgene oder nur zum Teil schon erkennbare Konkordanz vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass die Menschheit nach Adam „niemals ohne Kirche gewesen ist“,19 möchte ich als Toleranz im Sinne Postels bezeichnen. Solche Toleranz läßt den Anderen oder das Andere sein, kann es sogar lieben oder mögen, weil es um das große Ganze geht. Was das Individuum hier vor allem tun kann, ist die Wahrheit nicht zu unterdrücken.20 Dies bedeutet jedoch für den Humanisten Postel insbesondere: die Dimension des Sprachlichen, in der Wahrheit allein als artikulierte, kommunizierbare Form zum Ausdruck kommen kann, zu kultivieren. Einen großen Teil seines intellektuellen Lebens hat Postel, der orientalischer Sprachen kundig war,21 daher der Erschließung des Sprachlichen – seiner syntaktischen und semantischen Natur – und der Sprachen in ihrer vergangenen und aktuellen Mannigfaltigkeit gewidmet.
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erga Sapientiam divinam positus: tamen […] potissimum variarum gentium & originum historias tenebris, tanquam cognitionis nostrae thesauros promere, visum est“; [c. 23, S. 123 f.:] “Ad sacrosancta Christi membra, & illi per passiones conformia […] und „Quum itaque vos solos videam, ab illis qui maxime de Christi nomine gloriantur, & qui alioqui infirmos in fide assumere, hoc est tolerare, non tollere aut necare deberent, impetitos esse […]“, vgl. auch S. 128: „maxime excusare & supportare erga alios eorum vitia“ und S. 129: „naturale enim est, velle excusari & laudari“. Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 4; fol. 29: „[…] immutationem [sc. mundi], quam & Deus & natura facit, omnino in melius futuram, ut omnis absit in posterum corruptio, affirmamus“. Postel, Aphorismoi, c. 6, fol. 24r, bei Secret 212: “nunquam fuere sine Ecclesia”. Postel, Apologia pro Serveto, in: Lorenz von Mosheim, Versuch einer unpartheiischen und gründlichen Ketzergeschichte, Bd. II, 475: „[…] cum opprimitur veritas, et quasi occidatur Deus aut tollatur divinitas, ad quam nos conducit veritas“. Dennoch ist hiermit keine Toleranz verbunden, wie etwa die Disqualifikation des Pomponazzi zeigt, des „nephandissimus ille […] P. Pomponatius“, der alle Einsichten der Philosophen und Theologen verdreht habe, um die Sterblichkeit der Individualseele behaupten zu können, vgl. Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 1; fol. 7–8; c. 20; fol. 114. Da nach De concordia, Lib. I, c. 14; fol. 93 ‚die‘ Wahrheit „keinen Ort“ (non habet locum) in dieser durch Lüge, Meinung, Wahrscheinlichkeit bestimmten Welt hat, kann sie Gott insofern gleichgestellt werden als die superlativische Form – als veritas ipsa – derjenigen des höchsten Wesens – essentia, existentia ipsa = Deus – gleicht. Bouwsma, Concordia mundi, 5–8.
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Sprache und Wahrheit
Das Kalkül ist: wenn uns allein die Wahrheit zu Gott führen kann, führt die Unterdrückung der Wahrheit, so verführerisch und bequem sie für den Menschen auch sein möge, zum Verbauen dieses Weges. Es kann also gegenüber der Wahrheit keine Indifferenz geben und gegenüber der Falschheit keine Toleranz. Es kann die Wahrheit durch das vermeintlich Falsche, Unwahrscheinliche und auch Negative sich zeigen, so wie sich der eigentliche christliche Glaube erst sogar im eigenen Feld gegen Arianer, Nestorianer, Sabellianer durchsetzen musste oder das Monotheistische gegen die Antike oder, letztlich, das Christliche gegen das Jüdische und, später, Islamische. Das macht die Sache kompliziert, und hier ging Postel auch immer ein Risiko ein. Es kann aber eben auch das Falsche oder zumindest die unwahre Religion sich im Gewande des Wahren zeigen, etwa die antike Philosophie und Theologie des Einen Gottes als der wahre Monotheismus erscheinen,22 die antike, gnostische oder allgemein nicht-christliche Weltentstehungslehre als die wahre Erklärung des unleugbaren Faktums der Existenz einer wohlgeordneten Struktur als Kosmos.23 Rationale Haltepunkte sind hier schwierig zu finden, das bloße historische Faktum ist immer interpretiebar. Dass es eine übergreifende Konkordanz im Sein gibt, läßt sich zwar relativ leicht am komplexen aber in sich stimmigen Aufbau der Welt ablesen – und hier folgt Postel den seit Platons Timaios vorgebrachten Argumenten für den ‚theós aisthêtos‘ –, dessen zeitlose, a-historische Faktur hilft allerdings kaum zum Verständnis der mäandrierenden Menschheitsgeschichte und
22 Postel, De concordia 1544, Lib. I, fol. 2: „omnes enim aut quaerunt, dum se habere putant, aut profitentur Deum. Iudaei, Muhamedici, Indi creatorem unum coeli & terrae aut colunt, aut agnoscunt: itidem & nos [!] facimus“. Postel will aber gerade im Eingehen auf diesen Typus natürlicher oder philosophischer Religion, die Wahrheit der christlichen „religio verax“ erweisen, fol. 3: „Coronis erit, ut philosophicis contra philosophos argumentis agamus, atque totius praesentis vitae catastrophen in animorum immortalitatem, resurrectionem, & vitam aeternam, materiaeque immutationem ducendam esse ostendamus“. Dass es einen ‚Weg‘ gerade auch vom Falschen oder durch das Falsche zum Wahren geben könne, vertritt Postel in De admirandis numerorum Platonicorum secretis, 1549, fol. 180v, bei Brach S. 64. Dort verweist er auch auf die – platonische – dialektische Einsicht, dass „nichts Wahres erkannt werden könne, ohne im Vergleich mit dem Falschen“ und dass Wahr und Wahrähnlich im Erkennen „immer verbunden“ (semper uniti) seien. Eine Überzeugung, die Postel bis an sein Lebensende teilte, so etwa in Catastrophes veritatis et victoriae aethernae 1581; c.1, fol. 55r; bei Secret S. 273: „[…] esse eandem scientiam ut qui noverit falsum, vel errorem, noscat et in eiusdem rei, temporis et loci ratione non falsum sed verum“; dies gehört zu den universellen Axiomata: „constat ubivis gentium“. Siehe Platon, Politeia V, 477 D f; Timaios 27 D; siehe auch Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis, fol. 183v – 184r, bei Brach S. 78: „bonitas itaque summa sit in caeteris rebus quamvis occulta necesse est, quum etiam finis pessimarum rerum sit in pr[a]estantissimum naturae bonum conductus“. 23 So ganz explizit in Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 4; fol. 28–41.
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schon gar nicht zu demjenigen einer Funktion dieses Kosmos im Rahmen eines ihn transzendierenden Heilsplans. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die Welt und der Kosmos gerade nicht im Sinne seiner antiken griechischen Selbstgenügsamkeit zu verstehen ist (seiner Indifferenz gegenüber dem Menschen), sondern ganz umgekehrt in seiner grundständigen Ausgerichtetheit allein auf den Menschen und – dies stoisch-christliche ‚mundus propter hominem‘-Argument noch einmal ste i ge r nd – auf die Kirche.24 Die mit dem antiken (platonischen und aristotelischen) Denken geme i ns ame Vorstellung, dass das Sein oder Wesen der Dinge eigentlich im Intellekt anzusetzen sei – also in ihrem Intelligibel- und Erkanntsein –, wird erweitert zu der spezifisch christlichen, dass dieses Sein auch „nach außen“ (ad extra) und „außer sich“ (extra se) gebracht werden müsse und d. h. spr a ch l i ch und h istor is ch faktisch werden müsse.25 Es darf im Kontext dieser Thematiken
24 Auch Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis 1549, fol. 190r; Brach S. 110: „homo huius gratia conditum esse mundum nec porcus quidem Epicurus negaret“. Postel, Aphorismoi, elementaque veritatis aeternae, c. 6, fol. 24v; Secret S. 213: „Ecclesia, ut mente divina, et maxime in cordis illius, et medii centro, iam erat quoad nos [!] collecta ante mundi constitutionem […] sic omnia sunt propter Ecclesiam condita ad extra id est visibiliter in hoc adspectabili mundo, ut omnia membra Christi seminata ab eo invisibiliter, in ea visibiliter essent“; c. 7, fol. 27r; auf S. 220 hingegen finden wir das klassische: „propter hominem“. Ebenso in De magia orientali caput, 1580, fol. 94r – v, c. 1; bei Secret S. 241–242. Es ist klar, dass die Ausgerichtetheit des Kosmos auf den Menschen, die bei den Vorsokratikern und vor allem bei Aristoteles keine Rolle spielt, bei Platon nur vermittelt über den Weltseelen- und Demiurgie-Gedanken in Anschlag zu bringen ist, allerdings im hellenistischen Denken, vor allem bei den Stoikern, eine bedeutende Rolle gespielt hat. Zum Gedanken des ‚mundus propter hominem‘ siehe Leinkauf, Der Ternar essentia-virtus-operatio, 87 f. und Mundus combinatus 377–397. Postel transformiert diese anthropologische Grundform in eine ekklesiologisch-religiöse, die auf der ersteren aufsockelt: die sichtbare Wirklichkeit soll eine kirchliche Signatur aufweisen, die als (gleichsam architektonische) Hülle für die unsichtbare Wirkichkeit des universellen Glaubens dienen kann. Aber auch hier bleibt das Grundmass Christus und, vermittelt durch ihn, der Mensch selbst! Die „ecclesia militans“ ist im Kern christlich, auch wenn sie vom ersten Menschen bis in die Gegenwart dauert. Siehe c. 7, fol. 25v; S. 216: die babylonische, ägyptische, phönikische, tuskische Religion ist von den „secreta“ der mosaischen Schriften ausgeschlossen, sofern sie sich dem Glauben an Jesus Christus verschließt, siehe c. 8, fol. 29r – v; S. 224; 10, fol 32r; S. 230: „nam nec Judaeus, nec Luteranus, aut haereticus alius, nec Ismaelita aut Muhammedanus ullus (quia nullus [!] eorum ut decet vel de Christo, vel in Christum credit) posset ullum daemonem ex humano corpore pellere“. 25 Zur Antizipation des Wesens oder der Ideen allen Seins in einem (universalen, allgemeinen) Intellekt – nach dem Muster des Plotinschen Nous oder des Augustinschen mundus intelligibilis siehe Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis, 1549, fol. 183v; bei Brach S. 76–78: „Universa itaque in prima essentiae suae notione antequam essentiae suae ullam rationem aut in se habeant aut intellectui creato ad extra manifestent ad unitatem reducantur necesse est. Per unitatem itaque incipiunt omnia esse in seipsis, […] necesse est si sint spiritualia ut motu actioneve aliqua propria sese manifestando assurgant, si sunt corporea molem sui corporis extendunt et sic [! d. h. durch die Manifestation oder Verkörperung] post unitatem, veritatem se habere omnino a tota unitatis suae natura genitam et consubstantialem […]“. Jedes Sein entfaltet sein konkretes, faktisches Sein aus der idealen Subsistenz im göttlichen Intellekt heraus, analog zur Selbst-Manifestatuon des göttlichen
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nicht außer Blick kommen, dass der Idealismus Postels durchaus radikal ist: das Sein jedes Seienden kommt erst in seine letzte Bestimmung, wenn es „erkannt oder begriffen“ (cognitum sive comprehensum) ist, d. h. apriori im göttlichen Intellekt und aposteriori im menschlichen Intellekt.26 So bildet der Kosmos die Szene, als ‚theatrum mundi‘, der einzig bedeutungsvollen Menschheitsgeschichte27 . In dieser und ihren Widersprüchen, in ihren Vor- und Rückläufen, Ungerechtigkeiten und Kontingenzen gilt es von Seiten des Menschen eine dahinter stehende Ordnung zu entdecken, eine nicht nur synchrone, wie sie für die griechisch-hellenistische Auffassung grundlegend ist (in der daher die Begriffe des Einen und vor allem des Seins dominieren), sondern eben auch diachrone Konkordanz (in der das Sein in letzter Instanz unter den Index der Geschichte gestellt werden wird).28 Das Maß oder metron des Historischen im Sinne der historia hominum ist nun aus der Sicht Postels die Sprache und in der Sprache die Sinn-Einheit. In ihr und durch ihre verschiedenen Ausprägungen bringt sich eine Information zum Ausdruck, die wesentlich theologisch ist und die nicht nur auf das an s i ch Unausprechliche (das arrhêtón) durch das Ausgesprochene verweist (im Sinne der negativen Theologie, von der Postel stark beeinflusst ist29 ), sondern auch im Bereich
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Wortes in Christus. Auf diese Analogie weist eindeutig der Sprachgebrauch mit ‚consubstantialis‘, ‚genita‘, ‚manifestare‘, ‚se ostendere‘. Siehe auch fol. 187r, bei Brach S. 96: „deus ipse […] per fontem idearum seu intellectum generalem sibi [sc. Deo] ante omnia unitissimum, mundum in esse deduxerit“; diese Welt ist ‚explicatio‘ (vgl. explicarit) Gottes ähnlich der Vorstellung des Cusanus. Zu ‚intellectus generalis‘ siehe auch fol. 189v, bei Brach S. 108. Postel hatte diesen Gedanken natürlich auch schon in De concordia präsent, siehe Lib. I, c. 11; fol. 73: ‚mundus increatus, & in mente divina ab aeterno creatus, in filii sapientia‘; außerdem Postel, Catastrophes veritatis et victoriae 1580–581, c. 2, fol. 55v, bei Secret S. 274: „Deus pater unus, in suo filio unico Jesu omnia simul faciat latenter et invisibiliter seu (ut optime Parisiensis theologi dicunt) ab intrinseco“; c. 6, fol. 57v; S. 277. Vgl. Postel, De magia orientali (1580), c. 1, fol. 94r, bei Secret S. 241: „quodcumque ens, donec vere ut est sit in haberi, id est cognitum sive comprehensum sit ab homine“. Postel, De originibus 1553, c. 1, S. 7: „Sit autem rerum summa in hoc ipsa posita, ut omnia in laudem primae causae, & in usum cognitionemque humanam referantur“; c. 5, S. 22: „Praestantissimum esse rerum est in intellectu. Quum ergo a Deo omnia sint factam ut praestantissimum esse consequantur in mente humana [also nicht im allgemeinen Nus], non satis est ut sint & fiant omnia in se, sed necesse est omnino ut fiant & formentur extra se, secundum veritatem sacram primam & aeternam, & non secundum Aristotelicas nugas, aut Demosthenis praestigias, in mente nostra secundum quod omnia in aeterna lingua fuerint expressa“; c. 9, S. 38: „prius est enim in mente, quod ultimum est in effectu, eo quod ibi [= ab effectu] omnia ad sua reduci primordia [= in mente] opus est“. Postel, De concordia, Lib. I, c. 1; fol. 4: die eine, in sich vollständige geordnete, durch Gott geschaffene Welt ist „templum naturae“; c. 10; fol. 71: „in hoc naturae templo“. Siehe hierzu das Kapitel ‚Historik‘ in Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, Bd. I, 951–1060. Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 2; fol. 12: „uti vocabulis nostris cognitis, quamvis revera eius esse exprimi nunquam possit“; fol. 13: „utimur ergo de divinis agendo, verbis more humano, intercapedinibus temporum, circumstantiis rerum, & caeteris, quibus nostri sensus possunt moveri, ut
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des als Sinn sich Aussprechenden die Verschiedenheit menschlicher Religionen und Kulturen in die Perspektive einer übergreifenden, gemeinsamen Entwicklungslinie stellt. Diese Entwicklung, insofern sie wesentlich auf den Menschen und dessen Wohlsein und – in einem weiteren Sinne – seine Erlösung ausgerichtet ist, hat man schon vor Postel Heilsgeschichte genannt.30 Postels Schlüssel jedenfalls für die Heilsgeschichte – als deren vollstreckendes Vollmitglied er sich selbst ja (spätestens seit dem Schlüsselerlebnis in Venedig) gesehen hat – ist d i e Id e e e ine r Un ive rs a lspr ache, die uns die geheime, verborgene Semantik des geschöpflichen Seins aufschließen kann.31 Dass das Sein der Welt hier wesentlich als Sinn-Kodierung verstanden wird, als ‚Text‘, dessen Sinn es zu lesen und verstehen gilt, macht (darauf kann nur hingewiesen werden) den wesentlichen Sachgrund dafür aus, dass der ‚Menschenfeind‘ für Postel im Wesentlichen ein „Feind des menschlichen Geistes“ (adversarius humanae mentis) ist, dass die Betrugsdimensionen des theologischen Bösen wesentlich – neben den klassischen libidinösen Bereichen – im Sprachlichen liegen und dass, vor allem, das Böse oder Übel nicht Sache der Natur, sondern des Menschen ist.32 Die Realisierung einer universalen Restitution des Christlichen soll-
tandem earum rerum argumento in sublimiorem cogitationem, quae animo tantum conjici potest veniamus, quae ipsa verbis explicari nequit. […] Ideo quum nos utimur praesentibus verbis, id fit, quia aliter exprimere & notionem de Deo explicare nequimus“. Die Argumentationsform der theologia negativa, mit dem Grundgedanken der Unaussprechlichkeit des Prinzipiellen, wird von Postel auch auf die Naturtheorie übertragen: selbst wenn wir Menschen das „Warum“ oder „Weshalb“ – tò dihóti – eines Naturgeschehens erkennen oder denken könnten, so könnten wir es dennoch nicht „aussprechen“ und „erklären“ (explicare), c. 5; fol. 42: „Primum quidem to dihoti nunquam scient, & nisi admiratione providentiae nunquam cognoscent: & si cognoscent, ita fieri, ut animo concipiant, verbis explicare nequeant“. Zur Bedeutung der Sprache siehe Bouwsma, Concordia mundi, 104–106. 30 Postel, De originibus 1553, c. 2, S. 11: „Decretum vero ita est spoliare Aegyptios, id est, humanitatis authores: ut nil illis reliquam, quod ad historiae sacrae confirmationem, aut nostrae cognationis recognitionem faciat, quin illud in suum finem conducam“. 31 Postel, De originibus 1553, c. 2, S. 9: „Litera enim ubivis occidit, praeterquam in simplici historia: quae tamen ipsa etiam ubivis, praeterquam in Alcorano, est umbra futurorum, omnia in figuris exponens“; c. 3, S. 11: die Kenntnis der Geschichte ist ohne Bücher nicht möglich, Bücher sind ohne Buchstaben nicht zu verfassen, die „wahren Buchstaben“ schließlich nicht ohne Kenntnis der „ersten Sprache“ (prima lingua) zu unterscheiden und wahrzunehmen (discernere). Aufgabe ist es daher: „primo disquirere quaenam & cuiusmodi literae primae in mundo fuerint, & extent“. 32 Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 4; fol. 29–30, fol. 31: cogitandi voluptas. Neben dem Diabolus, dem eigentlichen „adversarius“, ist es durchaus die Philosophie, vor allem die griechisch-antike, die den Menschen in eine falsche Deutungsperspektive des Wirklichen stellt. Hier wird auch entschieden bewertet: Platon „cum nobis“, Aristoteles „contra nos“, etc., alle antik-griechischen Philosophen jedoch sind im Kern „impii“; c. 4; fol. 34: „revera nil malum in tota natura praeter peccatum […] caetera omnia in malis sunt ponenda opinione tantum [!], non essentia“; auf fol. 36 heißt es konsequent: „Atqui quum Deus rerum, non privationis sit autor, mali causa esse non potest“; fol. 40: die Materie wird allerdings immer wieder als „faeculenta“ herausgestellt.
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te in den Augen Postels einen universalen Frieden zur Folge haben; möglicherweise geht dieser Gedanke bei ihm zurück auf die Lektüre des 19. Buchs von Augustinus’ De civitate Dei.33 Die Prominenz des Hebräischen als des Hauptkandidaten für die Ursprache hingegen ist eindeutig Resultat von Postels intensiver Beschäftigung mit der Kabbala und vor allem dem Sohar. Diese Intention Guillaume Postels ist schon vor De orbis terrae concordia in anderen Texten zum Ausdruck gekommen, vor allem auch in seiner Überzeugung, dass es eine gemeinsame linguistische Basis, das Äquivalent des quantitativen Grund-Metrons sozusagen in der Qualität des Sprachlichen, für die mentale und vor allem religiöse Entwicklung der Menschheit geben müsse.34 Zur Restitution einer Ursprache aus den Relikten des gemeinsamen Sprachmaßes in den ältesten orientalischen Sprachen, also im Hebräischen und Arabischen, dienen seine Sprachreisen und Sprachstudien der späteren Dreißiger Jahre. Zur programmatischen Fundierung des trans-sprachlichen ‚mystischen‘ Gedankens einer zukünftigen „ecclesia universalis“ diente die Konzeption einer ursprünglichen, durch erstere zu restituierenden Offenbarung und darauf aufbauenden christlichen – wohl gemerkt: keiner allgemein-religiösen oder philosophischen – Urgemeinschaft. Postel kann sie durchaus ebenso als ‚ecclesia universalis‘ bezeichnen.35 Deren erste Kommunikationsform und Sprache wiederum ist unmittelbarer Abkömmling der adamitischen Ursprache, die durch einen einmaligen Akt der Selbstmitteilung Gott (oder die Weisheit Gottes) dem ersten Menschen mitgeteilt hat,36 ebenso wie die
33 Bouwsma, Concordia mundi, 66–69; Augustinus, De civitate Dei XIX, 10–13. Augustinus denkt Frieden nicht nur psychologisch oder politisch, sondern wesentlich ontologisch fundiert, also in Ordnung, Harmonie und Konkordanz. Der höchste Friede besteht in der Ein-Ordnung der geordneten Seele in den Willen Gottes. 34 Zur Bedeutung der Sprache(n) für Postel siehe u. a. Kuntz, Guillaume Postel, 34–40. 35 Vgl. Postel, Catastrophes veritatis et victoriae, c. 16, fol. 69v, bei Secret S. 297; dazu Kuntz, Guillaume Postel, 150: „In Postel’s mind the Ecclesia catholica is God’s Ecclesia universalis which has been nourished, since the creation of the world, by divine manna which is the principle of creation and recreation“. 36 So ganz klar und eindeutig ausgedrückt in De originibus 1553, c. 4, S. 15: „Quum autem ante primum hominem nullus esset homo qui voce exteriori loqueretur, necesse est ut voce interiori omnia rerum conceperit vocabula. Quare ab ipsissima Dei sapientia fuisse infusa nomina rerum, secundum veritatis aeternae omnia ordinantis rationem, est omnino necesse. Divinitus itaque Adam accepit vocabula a Sapientia, seu intellectu agente & possibili, cuius universi sumus membra“. S. 16: „Sic etiam ipsi Adamo […] necesse erat literas characteresque perfectissimos & Deo doctore dignos menti insculptos adesse, quae in marmoribus ex solo voto exarerentur“. S. 17: Wesentlich ist die zeitfreie, absolute ‚transscriptio‘ aller Ding-Namen „in saxis massimis“. Wichtig ist der Gedanke: „tabulae ergo interiores sunt mens aut animus, in quo prius concepit scribenda & proferenda, quam scripserit & protulerit ad extra. Siquidem a mente scriptura procedit, loquendi & docendi thesaurus“. Auf S. 20 postuliert Postel konsequent, dass die Gesetzestafeln, die Moses von Gott gegeben worden sind, in derselben ursprünglichen Schrift und Sprache Adams verfaßt sein müssen: „ut sit illa
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erste und ursprüngliche Modalform der Existenz des Menschen durch Freiheit und Liebe bestimmt ist.37 Die Geschichte im bestimmten Sinne der Koinzidenz von Fakten- und Heilsgeschichte ist unter dieser Perspektive freier Intellektualität und mit der Brille einer auf universale Konkordanz ausgerichteten Toleranz zu erstellen.38 Prinzip des Seins wie auch der Geschichte ist Gott als erste Ursache, die
ipsa lingua & character coelestis, quem primo dederat Adamo“. In cap. 6 auf S. 23–25 wird das Hebräische zur Würde der Ursprache erhoben, diese in Analogie zur pythagoreisch-platonischen Dimensionenlehre abgeleitet: punctus = vox, linea = accentus als remissio & intensio vocalium, superficies = consonantia, corpus = vocabulum. Hierzu auch De originibus seu de Hebraicae linguae et gentis antiquitate, Parisiis 1538, fol. A iii r – v. Aus dem Hebräischen entsteht das ChaldäischAramäische und Arabische. Zu neu-pythogerischen Zahlen- und Dimensionentheorien siehe auch Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis 1549, fol. 184v; S. 80–82 Brach: Unitas, Quaternar (Tetraktys), Denarius. Hintergrund vermutlich Nicolaus Cusanus, De coniecturis I, c. 2, n. 7–9; cap. 3, n. 10; cap. 4, n. 12–16; h III, p. 18–21; II, cap. 2, n. 83–85; h III, p. 81–82; Johannes Reuchlin, De verbo mirifico, Tubingae 1514, hier: Lugduni 1552, Lib. II, c. 20, fol. 205–208 zum ‚quaternarius‘ Reuchlin, De arte cabalistica libri tres, Haganovae 1530, Lib. II, fol. XXXVIIv, XLIIv ff. 37 Wichtig ist hier Postel, De concordia, Lib. I, c. 4, fol. 33; c. 8; fol. 58. Vgl. außerdem Lib. I, c. 8, fol. 58: „quemadmodum animus noster est arbitrii libertate praeditus, ut agat in utramvis partem, ex deliberatione scilicet, non ex necessitate […] nihil enim supra hanc elementarem molem servitute premitur: libera sunt omnia. Posse igitur & uti & abuti sua potentia & libertate, est certum“; fol. 61 und 65; c. 9, fol. 67; c. 13, fol. 89–90. In der Freiheit und der Entscheidungsmacht des Menschen verortet Postel den Ursprung des Bösen, eine Position, die nicht augustinisch ist, sondern den Einfluss des Origenes verrät (Bouwsma, Concordia mundi, S. 118 spricht von „typically Alexandrian concern“). Der ursprünglich als gut erschaffene Mensch weicht durch seine freien Entscheidungen von der Intentions-Linie Gottes ab. Die Folgen sind: Schuld, Gesetze, Strafe. Hier scheint subkutan massiver Einfluss von Origenes vorzuliegen, vor allem fol. 59. Konsequent leugnet Postel, dass die negative, dunkle Seite des Menschen durch extrinsische Einflüsse, etwa Dämonen, böse Geister etc., aktiviert werde, so auf fol. 61: „Est enim impossibile hominem a daemone informari“. Hiervon ist die ‚inspiratio‘ abzusetzen, zu der man sich frei verhalten kann. Andererseits ist für Postel ebenso evident, dass die aus und in Freiheit vollzogene Tätigkeit (actio) des Menschen in nichts Anderem bestehen kann als der „Betrachtung“ (contemplatio) Gottes und der Natur, c. 19, fol. 110: „Est igitur animi libere agentis actio felicitas, Dei scilicet sui, & naturae contemplatio. […] Certe voluntas libera nulla esse potest, nisi quae facultatem voto respondentem habet“. 38 Postel gibt an einer bemerkenswerten Stelle eine Zusammenfassung aller Kriterien einer künftigen christlichen Geschichtsschreibung, die allerdings auch die ganz allgemeinen, rein ‚historiographischen‘ Kriterien frühmoderner Historik mit enthält. Vgl. Postel, De originibus, 1553, c. 19, S. 91: „Illam certe mihi persuadeo esse verissimam historiam, quae (i) sine fuco aut ullo verborum apparatu, nude et simplicissime traditur: quae (ii) a nullo, nisi ab ipsa veritate Deo, & antiquissimis monumentis desumpta sit: quae (iii) a mortalium nemine praemium aut favorem expectat: quae (iv) nullius authoritate a veritate ipsa propalanda deterretur: quae (v) nusquam in suis authoris aut mortalium laude, sed perpetuo in celebrando primae causae in homines beneficio versatur, quando (vi) aeque hominum virtutes & vitia attingit, nec quicquam dissimulat: si ipsam princeps, & sapiens, & sanctus, & qui a nemine mortalium timeat, ac nullius gratia ducatur, describat: & in summa, quae [vii] nulla eloquentiae superfluitate, sed tantum ipsa perpetuo sibi constanti veritate commendabilis sit“.
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in einer radikalen Weise als ‚frei‘ bestimmt wird, indem Postel A-seität (causa sui) und Freiheit (liberum arbitrium) gleichsetzt: „Siquidem libertas arbitrii quum sit sui causa, nulli convenit magis quam primae causae, sui causa omnia agenti“ (De orbis terrae concordia, Lib. I, c. 2; fol. 12). Aus dieser Freiheit des Urbildes leitet Postel direkt die Freiheit des Abbildes, der „imago“, als Wesens-bestimmend ab.39 Katastrophal war daher auch die Kollision, motiviert durch eine anfängliche Attraktivität, die sich als Schein-Affinität herausstellte, mit den Gründungsfiguren der Societas Jesu.40 Für Postel sollte die renovatio oder reformatio der Kirche eben auf kirchlicher Seite nicht durch einen straff organisierten, quasi-militärischen Orden erfolgen, sondern durch den eher in der Folge des heiligen Franziskus stehenden, neuen, durch Liebe und Mitgefühl ausgezeichneten ‚Papa Angelico‘, als dessen Inkarnation Postel sich selbst ins Spiel bringt,41 und, auf politischer Seite, ausschließlich durch den von ihm auserkorenen ‚allerchristlichsten‘ König François I. Auf die genauen, historisch sicherlich sehr interessanten Umstände soll jetzt hier nicht eingegangen werden, wichtig ist nur, dass Postel seine radikalen Gedanken nicht-radikal umgesetzt sehen wollte. Die universale Konkordanz der Religionen unter dem Dach der „religio verax“ auf der einen und die universale Konkordanz der Staaten unter dem Primat des französischen Königshauses auf der anderen Seite – der letzte Aspekt übrigens in Syntonie mit den ‚politiques‘ um Ronsard, denen wiederum Giordano Bruno folgte42 – vermittelt durch die Universalität der ‚neu-alten‘ Universalsprache. Das ist der nicht immer ganz offenliegende Faden, der das Gewebe des Postelschen Denkens immer stärker verknüpfen sollte. In seinen Bemühungen um Plausibilisierung von Konkordanz und vielleicht auch Toleranz vor dem Hintergrund des Gedankens eines universalen Gesetzes menschheitlicher 39 Auch Cusanus verweist immer wieder, vor allem aber eben auch in De pace fidei, auf die genuinen Freiheitsakte der menschlichen Natur: Zur Konsitution und Ausübung von Religion ist die Praktizierung des liberum arbitrium unabdingbar. Vgl. De pace fidei, I, n. 4; S. 5, Z. 15–16: „ut propria utentes arbitrii libertate ad sui notitiam pergere“; II, n. 7; p. 8, Z. 14–5, p. 9, Z. 9–11: „ut quilibet homo secundum electionem liberi arbitrii in sua humana natura, in homine illo qui et Verbum, immortale veritatis pabulum se assequi posse non dubitaret“. 40 Hierzu Kuntz, Guillaume Postel, 1–3, 13–18, 58–62 (Ignatius von Loyola). 41 Hierzu und zu den anderen Visionen, Erscheinungen, Prophezeiungen und den „divers avatars de Postel“ (Secret) siehe Secret 1969, 1–38, bes. S. 8 ff.: der Inhalt des Thrésor des Prophéties betrifft zwei parallel zu sehende Bereiche, einmal die „vocation de Postel à la Papauté angélique“, zum anderen die Berufung Franz I. zur „monarchie universelle“. Die Kirchenstruktur schein einer Hierarchie des areopagitischen Typus nicht fern zu sein, so legen es jedenfalls Stellen wie De orbis terrae concordia 1544, lib. III, c. 8, fol. 287 nahe: Lib. III, c. 8, fol. 287: „Nulli praeter communem consensum, aut sacrum conventum, Principemve, licet summo praeesse pontifici: nec res semel sacris addictas, veluti perpetuae religionis haereditati ascriptas, avertere. Summus pontifex mediis (quotquot sunt) prima iura dat, p ar ite r & infimis. Ei parent medii, infimisque in iure sibi concredito praescribunt. Parere tantum ultimi, non item propria authoritate sui ordinis hominibus praescribere solent“. 42 Hierzu Nuccio Ordine, Giordano Bruno, Ronsard and Religion, 11–73.
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Entwicklung, das exakt zu seinen Zeiten in seine prekäre, apokalyptische Phase kommt, distanziert sich Postel explizit von rein rationalen Argumenten einer in der menschlichen Seele oder ihrem Intellekt ‚natürlicherweise‘ eingesenkten, allgemein verbindlichen Religion oder Religiosität – etwa nach dem Muster stoischer oder akademischer Vorgaben. Dagegen setzt er Folgendes: was „von Gott herkommend von uns (allen) aufgenommen ist“ (divinitus a nobis accepta), kann nicht aus natürlichen Grundelementen bestehen, die „allen gemeinsam sind“ (elementa naturaliter communia).43 Andernfalls wäre eine Offenbarung, die, das muss man hinzufügen, auch eben Nicht- oder Übernatürliches bekannt macht, völlig überflüssig gewesen. Postel leugnet natürlich nicht, dass es ein „seminarium rationis“ gebe, das uns (wie es z. B. die stoische Tradition immer wieder nahelegt) die göttliche Providenz als universales und für jeden gleich zugängliches Mittel zur Weltdeutung zur Verfügung gestellt habe, „quo in rerum cognitionem causa vel effectu veniremus.“44 So ist etwa das Rechtsbewusstsein eine universale Wirkung der „unendlichen göttlichen Kraft“, deren ubiquitäres dynamisches Sein im Unterschied zur lokalen Dynamik des Offenbarungs-und Heilsgeschehens auch als ‚Natur‘ bezeichnet wird.45 Rechtsstruktur (Moralität) und Seinsstruktur (Naturaufbau) sind zwei Seiten der direkten ‚natürlichen‘ Wirkung göttlicher Macht. Beide dienen der Seins- oder
43 Postel, De concordia 1544, Epistola nuncupatoria, fol. a2 v: „Si enim quae sunt divinitus a nobis accepta haberent elementa naturaliter omnibus communia, proculdubio in illis orbis pridem convenisset, nec revelatione fuisset opus, ut nec in mathematicis“. 44 Postel, De concordia 1544, Epistola nuncupatoria, fol. a2 v; Lib. I, c. 1; fol. 9: „quicquid in omnibus eiusdemque specie a natura inditum est, id falsum, aut frustra persuasum esse non potest“, das alte Argument also ‚ab consensu gentium‘ (meist mit Blick auf Gesetze oder allgemeines Recht), ebenso c. 7, fol. 53–54: consensus omnium gentium; bezüglich der Mathematik geht Postel ebenfalls von „principia per se nota“ aus, vgl. Lib. I, c. 1, fol. 9 [nr. 13]. De originibus 1553, c. 3, S. 11: „in ratione ductu omnes conveniunt“; c. 4, S. 14. Der Ursprung dieser konsensuellen Vorstellungen, Überzeugungen und Begriffe ist (fast immer) die Natur, so De concordia, Lib. I, c. 7, fol. 54; „In qua re non posset fieri ut convenirent homines, legibus humanis diversissime adstricti, nisi a natura omnibus id innotesceret, remque esse certo cognoscerent“. Vgl. Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis 1549, fol. 193r; bei Brach S. 128: die durch Sprachen, Sitten, Orte unterschiedenen (omnino semotum et dissimilimum) Menschen besitzen dennoch gemeinsame Evidenzen, wie z. B. hinsichtlich der Tetraktys oder des Denarius, die Postel der „mens generalis“ zuschreibt. Zu den stoischen „gemeinsamen Begriffen“ (koinai ennoiai) siehe Forschner, Die stoische Ethik, 150–159, zum ‚consensus‘ bei Postel Radetti, Il teismo universalistico, 289 f. 45 So auch Aphorismoi, ca. 1580, c. 3, fol. 21v; Secret S. 205: „Divina illa et infinita virtus qua omnia sunt et constant, licet sit basis ipsius justitiae, quae ad illius instar agit, ita ut moralis Legis seu justiciae opera sint esseve debeant, aut ut arborum dispositio aut in hominis partes mutuo compositae in natura sunt: tamen una ab altera latissime differt“. Zur Orts-Gebundenheit Jesu Christi im Unterschied zur Ubiquität des Sohnes im Vater, siehe Postel, Catastrophes veritatis et vitoriae aethernae, ca. 1580–1581, c. 10, fol. 59v; Secret S. 280: „Deus verus et Patri consubstantialis ubique est et quatenus Virginis Judeae filius est IBI tantum est, ubi esse vult corpus eius locale, et non ubique, ut est Deus“.
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Selbsterhaltung, der Dauer und dem Funktionieren des geschaffenen Seins. Es ist hochinteressant, dass Postel seine Ontologie der Ethik unterordnet:46 Das Sein ist „sinnlos“ (vanum) oder „vergeblich“ (frustra), wenn es nicht von irgendeinem „sozialen Wesen gehabt oder besessen würde“ (a nulla sociali essentia haberetur), d. h. das Sein der geschaffenen Welt ‚existiert‘ oder ‚ist‘ nicht einfach, sondern ist auf eine dynamische, praktische, letztlich durch freie Akte vollzogene Existenz – etwa innerhalb einer Familie, einer Gemeinde, eines Staates – wesentlich ausgerichtet. Mit dem Intellekt und seinen rationalen Strategien, die zeitgleich in der umfassenden Methodendiskussion der Humanisten erörtert und raffiniert worden sind, könne der Mensch nicht nur die Dinge erkennen, sondern letztlich das Sein des Göttlichen von der Wirkung aus, „ab effectibus“ (durch Induktionen und Syllogismen), erschließen.47 Die Wirklichkeit (die Welt und die Geschichte) ist die ‚manifestatio veritatis suae essentiae ad extra‘; ihre Erkenntnis ist nur durch Vernunft und Sprache möglich. Auch über diese, vor allem über die „ratio“, können wir nur „ex operibus“ urteilen, die analog zu den Wirkungen (effectus) zu verstehen sind, so ist auch, hinsichtlich der Sprache, die „locutio ex auditu. Nunquam enim loqui posset homo, nisi ab alio prolata auditu capiat“.48 Dem demonstrativen starken Wissen, das von den Ursachen zu den Wirkungen geht, wird hier, mit Blick auf das Sein des Göttlichen, ein induktives, schwaches Wissen entgegengestellt, mit dem wir auf die übernatürlichen, göttlichen Dinge aus der Kenntnis der Wirkungen heraus schließen können.49 Die ‚natürlichen‘ Grundaxiomata menschlichen Erkennens erreichen nur die Struktur des Rationalen selbst, die ursprünglich von der Natur angeborenen Primärerkenntnisse betreffen nur „Indizien“ der Wahrheit, nicht schon diese selbst.50 Der griechischen, vor allem platonischen Mathematisie46 Postel, Aphorismoi, c. 4, fol. 22r, bei Secret S. 206. 47 Postel, De concordia 1544, Epistola nuncupatoria, fol. a2 v: „Quemadmodum enim divina providentia dedit animis nostris quoddam rationis seminarium, quo in rerum cognitionem causa vel effectu veniremus: ita secundum ea principia quae nullus negare potest, possumus de causis naturalibus et supernaturalibus agere, inductionibusque & syllogismis ita suadere et demonstrare, ut ab effectibus saltem divinarum rerum natura apariatur“. 48 Postel, De originibus, seu de varia incognita, aut inconsyderata historia, Basileae 1553, c. 3, S. 13; c. 4, S. 14 f. und das obige Zitat c. 9, S. 38. Vgl. Postel, Brief an Melanchthon, Wien 1555; zitiert bei Kuntz, Guillaume Postel, 109: „Certissimum est in hoc reformationis Ecclesiae aut restitutionis omnium motu […] ad hoc ut possit demonstrari, et non tantum suaderi, aut verisimilibus tradi argumentis […] opus esse omnino, non autoritatis, quam quisque pro sua contorquet libidine, sed rationis, toti mundo cognitae, et non tantum creditae argumentis ad persuadendum“. 49 Dieser Gedanke ist seit der späteren christlichen Antike durchaus bekannt, er findet sich bei einem für die Renaissance so wichtigen Autor wie Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae (Perì physeon) II, 551 C; vgl. in der Ausgabe Perì physeon von Sheldon-Williams, S. 60. 50 Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 1, fol. 4: „Veritatis enim indicia, quamvis animis nostris veluti cognata natura fecerit: tamen ut in illius occupatione perpetuo retineremur, tam a rebus ipsis, quam a nostri sensus infirmitate difficultas oborta est“. Zur Wahrheit c. 14, fol. 93: „veritas in paucissimis
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rung des Kosmos, die Postel durchaus bewundert hat, stellt dieser eine christliche Theologisierung derselben entgegen, deren Matrix die Sprache und ihre Elemente, die Buchstaben, ist. Wenn letztere die erstere benützt, was sie durchaus tut, dann wird das Theologische selbst mathematisch kodifiziert. Daher ist für Postel die ganze Tradition der Sohar-Exegese und der Kabbala mit ihrer Zahlen- und Nummernmystik so wichtig; daher arbeitet er die pythagoreisch-platonische Zahlentheorie auf und stellt die Tetraktys besonders heraus.51 Der Weg ‚ab effectibus ad causas‘ ist nun, wie schon gesagt, hinsichtlich seines Großprojektes der Erforschung der Wirklichkeit als Ausdruck göttlichen Willens, vor allem der Weg, der von den einzelnen Sprachen ausgeht, die man ja eben auch als Wirkungen oder Effekte göttlicher und mentaler Selbstmitteilung verstehen kann. In der Sprache, also in den Worten und ihrer Bedeutung, ist das Sein der Dinge als ein intelligibles, wißbares Sein kodiert und ebenso das Sein der Welt als Ausdruck des Willens Gottes.52 Danach erst kommt man zur „ratio rei“ und zu ihrem Etymon! Der Zugang zu diesem Ding-Wissen allerdings muss reguliert werden, die in der Sprache aufbewahrten „mysteria rerum“ dürfen – wie schon bei den Pythagoräern und Platon –nicht vulgarisiert werden.53 Nur aus der Kenntnis der religiösen Hauptsprachen, also des Arabischen, Aramäischen, Chaldäischen und Hebräischen, kann die kritische Differenzmasse der in ihnen artikulierten Glaubensformen zur „verax“ semper fuit. Et quia semper minor pars maiorem & deteriorem sequitur, veritas non habet locum“; Lib. III, c. 1, fol. 261: „una (est) in tota natura veritas, opiniones innumerae“. Beispiele sind griechische, arabische, ägyptische Entwicklung auch nach Moses (AT) und vor allem nach Christus (NT), so fol. 93–95; fol. 95: christliche Grundsätze sind zwar schon von den Alten, von Platon, Aristoteles, Horaz u. a. formuliert worden – „melius esse mori, quam contra virtutem agere“ –, aber nicht wirklich durch Taten bekräftigt worden: „verum illa sunt verba, haec sunt facta“! Das Christliche ist von strukturellem Vorteil für die Wahrheitserkenntnis: „ea constantia [stoische Tugend] contra totius mundi iudicium animis inhaerens Christianorum, revera Deum solum immutasse eorum hominum mentes arguit, praesensque futurae vitae praemium ostendit“. Zum strukturellen Vorteil gehört die Annahme, dass die metaphysische Bedingung einer möglichen Überwindung der weltlichen Übel – Verbrechen, Lüge, Mord, Tod – tatsächlich faktisch in der Gestalt Christi, dem Theanthrôpos, realisiert ist und zwar durch die asymmetrische Synthese aus Körper und Geist; vgl. fol. 95 finis: „nam ille solus quam composuit naturam, alterare novit“ (Quelle Tertullian, Apologeticum c. 1); zur Gewissheit c. 15, fol. 99. 51 Mit Prov XXV,2 kann Postel sagen (in: De admirandis secretis 1549, fol. 188r; bei Brach S. 102): „Gloria enim dei est abscondere verbum suum in similitudinibus et parabolis, sed multo magis in numeris“. Zur pythagoreisch-platonischen Zahlentheorie und der Bedeutung der Tetraktys für das Verständnis der Buchstaben, vgl. ebd., fol. 193r–194r; bei Brach S. 128–136. Die Parallelitäten etwa zu Reuchlin sind unübersehbar, siehe etwa Reuchlin, De arte cabbalistica libri tres, Hagenau 1530, Lib. II, fol. XXXVIIr – v: die Weisheit der Pythagoräer ist ein „abundantissimus scientiarum fons“. 52 Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis, 1549, fol. 176r, bei Brach S. 40: „sic est a spiritu naturae moderatore constitutum ut in rerum cognitionem non nisi per vocem et nomen venias“. 53 Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis, fol. 176v, bei Brach S. 42.
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oder „vera religio“ erfasst, dargestellt und den Andersgläubigen entgegengehalten werden. Darauf müssten besonders auch Missionare Rücksicht nehmen, „damit sie, nachdem sie das Falsche zurückgewiesen haben, das Wahre aufnehmen mögen“.54 In den Gesetzen der Natur spiegelt sich das Gesetz des Intellektes und in diesem dasjenige Gottes: Alles spiegelt letztlich die ‚heilige‘ dreifaltige oder trinitarische Natur Gottes wider.55 Der Gang ‚zurück‘ in die Wahrheit ist ein Gang von der Sinneserfahrung zur Mentalerfahrung, vom (instinktiven) Glauben zur Vernunfteinsicht, vom Selbstbezug zur Adhärenz an transindividuelle Wahrheiten, von der Sequenzialität der Prozessfaktoren zur vorgreifenden Einheit ihres Ursprungs.56 Erst dort, das ist Postels Überzeugung, kann der paradoxale Gedanke einsichtig werden, dass die Priorität des Mentalen in Bezug auf das ‚Fleisch‘ auch dessen Posterität impliziert, d. h. die temporale Indifferenz jeder sich in einer „doctrina“ zeigenden Religion gegenüber ihren weltlichen Inkorporierungen.57 Allerdings zeigen sich in der grundständigen Rationalität und auf ein Maß bezogenen Struktur
54 Postel, De concordia 1544, Epistola nuncupatoria, fol. a3 r: „hoc ipsum in eorum populorum linguas, contra quorum errores scribo, convertere, adque eos deferre, & aperire, ut contra se obiecta aut diluant & satisfaciant, aut reiectis falsis vera suscipiant“. Postel diskutiert daher immer wieder entscheidende Passagen sowohl des Koran, des Sohar, des Talmuds, der beiden Testamente als auch anderer wichtiger religiöser Bücher und ihrer verschiedenen Sprach- und Zeichenform (figurae, signa, characteres), vgl. außerdem: De originibus, seu de varia incognita, aut inconsyderata historia 1553, c. 2–3, S. 8–13. Bouwsma, De concordia mundi 1957, S. 64: „The De orbis terrae concordia is essentially a manual for missionaries; hence concordia has religious meaning“. 55 Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 3; fol. 19–22, bes. fol. 22: „in summa nil non repraesentat sacrosanctam illa divinitatis proprietatem [sc. trinitariam respective trifariam]“; c. 6; fol. 44: „divinitatis semper agentis ubique agnoscamus vestigia“. 56 Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis, 1549, fol. 176r; S. 40 bei Brach: „Hoc vero longe certissimum docet natura, quum omnes velit a sensu ad rationem, a fide ad intelligentiam, a privatione sui ad assensum proficisci. […] sic est a spiritu naturae moderatore constitutum ut in rerum cognitionem non nisi per vocem et nomen venias, in quo necessario acquiescas, antequam ad rationem sive rei, sive Etymi pervenias“. Es ist festzuhalten, dass das Vokabular teilweise stoisch ist (assensus = synkatathesis, proficisci = prokoptein, spiritus = pneuma). Vermutlich spiegelt sich hier die Stoa-Rezeption, die seit dem frühen Humanismus, seit Petrarca, kontinuierlich Bestand gehabt hat, auch wenn die jeweiligen Autoren selbst keine genuin stoische Position vertreten haben. Auch hier bei Postel finden sich zugleich platonische, hermetische und christliche Begriffe neben diesen des Portikus. Postels ontologische Position ist eindeutig platonisch-aristotelisch bestimmt, es gilt: die sinnliche Welt hat kein substantielles Sein in sich selbst, das Individuelle ist „nicht wirklich“, vgl. De magia orientali, 1580, c. 11, fol. 99r; bei Secret S. 252: „totus mundus sensibilis iste, licet in se non esset, tamen ex Haberi suo in Jesu rege nato ante mundi huius constitutionem, verissime est totius mundi essentia, magis, melius et prius quam ex proprio esse. […] quod autem nascitur in individuis, proprie non est“. 57 Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis, 1549, fol. 177r; S. 44 bei Brach: „Siquidem doctrina est prior carne, licet posterior adsit“.
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des Wirklichen die transzendenten Sinnlinien nicht auf direktem Wege der apodeiktischen Logik, sondern nur auf dem nicht als irrational, sondern über-rational zu verstehenden Wege der gezielten Offenbarungen des Numinosen. Die Reflexion auf die ‚concordia‘ der Religionen (und ihrer Sprachen) und, dahinterstehend, diejenige des universalen, enzyklopädischen Wissens oder dessen, „quod duce ratione universo suadebitur“58 , schraubt sich bei Postel immer mehr aus den konkreten historischen Kontexten und deren ‚horizontalen‘ Bedingtheiten heraus in eine durch seine individuelle ‚mystische‘ Erfahrung geprägte ‚Vertikalität‘. In den Sog dieser Vertikale werden durch den spirituellen Furor allerdings durchaus verschiedene, auch heterogene Ingredienzien gezogen, die die Faktur der Person Postels so schwer exakt bestimmen lassen: Kabbala, apokalyptische Texte, Prophezeiungen, orientalistische Texte, philosophisches Lehrgut, etc.59 Auch ist es deutlich, dass ein Text wie De orbis terrae concordia nur einen bestimmten,
58 Postel, De admirandis numerorum Platonicorum secretis, 1549, fol. 181r; S. 64 bei Brach. Zur Bedeutung der Zahlen für die wissenschaftliche „certitudo“ oder „praecisio“ siehe ebd., fol. 181r – v; S. 64–66 bei Brach, und fol. 181r (ebd. S. 66): „cum itaque constet similitudines et numeros esse extremam [!] naturae gratiaeque potentiam ad veri persuasionem, constat necessario summam rerum notionem a numeris processisse et in numeros resolvi“. Der Zusammenhang von Zahlen und Ähnlichkeit(en) ist ontologisch allerdings unklar, auch scheint Postel den Zahlen keine rational vollständige Diskretheit oder Präzision zuzuschreiben. Vielleicht ist auch hier wieder der Einfluss von Cusanus merkbar: De coniecturis II, c. 1, n. 75; h III, S. 73–74, n. 75,12–14, S. 74: „praecisio igitur non nisi contracte in ratione reperitur, rationabiliter scilicet, sicut in sensu sensibiliter“; c. 2, n. 80, 10–17; S. 78 u. ö. Neben die Zahlen stellt Postel daher fol. 182r (bei Brach S. 68) die Buchstaben, die Punkte und Akzente (der Sprachen) als Mathematik-affine Kodierung der theologischen Wirklichkeit. Das Maß der Zahlnatur, etwa die Eins oder der Punkt, tritt bei Postel neben das Maß der Sprachnatur, also die Sinn-Einheit; beide können als unerkannte, nicht-entzifferte subkutan über lange Zeit verborgen bleiben, ohne doch ihren hohen qualitativen Informationsrang zu verlieren, beide sind Ausdruck der Universal-Tatsache, dass der Mensch „Maß aller Dinge“ sei, vgl. De Magia orientiali caput, 1580, c. 1, fol. 94r; ed. Secret, Postelliana, S. 241: „res […] conditae propter nos […] animus humanus […] est quodammodo omnia [dies ist ein Zitat aus Aristoteles, De anima III, 8, 431 b 21–22: pôs esti panta], ut sit mensura omnium duce intellectu“. Die Zahlen sind, wie es in De admirandis secretis fol. 183r (bei Brach S. 74) heißt, Strukturform (rationes) der ‚res abditae, quae alioqui sub sensum non cadant‘, siehe auch fol. 191v – 192r; bei Brach S. 118–20: ‚sub-multiplicitas omnino infinita‘, d. h. die Verhältnisse einer Zahl zu ihren höheren und niederen Zahlwerten oder zur Eins (monas), die Postel auch als „rationes abditas“ bezeichnet – das ‚opficium mundi‘ ist auf diesen Verhältnissen aufgebaut. Siehe Josse Clichtovius, De mystica numerorum significatione opusculum: eorum presertim qui in sacris litteris usitati habentur, Parisiis 1513, vor allem Praefatio, p. 1: „[…] in humanis disciplinis philosophica traditione numeri tantam habent energiam symbolique sunt rerum cognitu dignissimarum“. 59 Nützlich hierzu sind die Arbeiten von François Secret und Cesare Vasoli. Vgl. Secret, Introduction, in: Postel, Le Thrésor 1564–1566, 1–38; ders., L’ésotérisme de Guy Le Fèvre de la Boderie; ders. Zur Edition von Postel, Aphorismoi, elementaque veritatis aethernae. Einige Literatur hierzu findet sich in dem Anmerkungsapparat bei Vasoli, L‘„Homo novus restitutus“, vor allem Anm. 19, 20 und 24.
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für einen Moment festgehaltenen Ausdruck dieser flüssigen, immer in Spannung befindlichen Mentalität anzeigt.60 Mit dem zweiten Aufenthalt in Venedig seit 1546–1549 (der erste Aufenthalt war 1537) und dem engen Kontakt zu der lebendigen reichhaltigen heterodoxen religiösen Kultur wächst nicht nur das Bewusstsein, dass Venedig das neue Athen und Rom in Einem sein könnte, sondern, sofort mit dem zunehmenden Druck des gegenreformatorischen, sich radikalisierenden ‚römischen‘ Katholizismus beginnend, eine neue Orientierung hin zu den ‚toleranten‘, selbst wiederum dem sich entwickelnden Dogmatismus der Reformation kritisch gegenüberstehenden Intellektuellen in Basel, der Stadt, in der Erasmus, Curione, David Joris und auch Castellio wirkten. Nachdem Oporinus schon De orbis terrae concordia und andere frühere Texte publiziert hatte, sandte Postel ihm auch seine neue Übersetzung des Sefer ha-Bahir zu sowie eine Apologia, in der er seine Positionen zusammengefasst hat.61 Es scheint, neben den ekstatisch-mystischen Komponenten im Religions-und Glaubensbegriff des Postel auch einen Aspekt zu geben, der ihn in die naturalistischen oder besser vielleicht: naturalisierenden Strömungen des Denkens um 1600 einbettet. Dies betrifft die positive, nicht jedoch absolute oder decisive Bedeutung der natürlichen und innerweltlichen Entwicklungen religiöser Vorstellungen. Aufgrund der ursprünglichen Freiheit, Selbstbestimmtheit und Rationalität des Menschen muss es neben den Offenbarungsreligionen mit ihren einschneidenden und, was das Christliche betrifft, absolut verbindlichen Implikationen auch an sich oder von ‚uns‘ aus entstandene Formen der Religiosität geben, deren Kern in den hinzutretenden Offenbarungsreligionen erhalten bleibt oder, mit Hegel, in ihnen ‚aufgehoben‘ wird.62 60 Kurz zuvor, 1543, hatte Postel drei durchaus programmatische Texte veröffentlicht: De rationibus Spiritus Sancti libri II. Parisiis 1543; Alcorani seu legis Mahometi et evangelistarum concordia liber, Parisiis 1543 und Sacrarum Apodixeon seu Euclidis Christiani libri II, Paris 1543, alle bei Petrus Gromorsus. 61 Siehe Rotondò, Postel e Basilea, 117–159, dort Auszüge aus der Apologia auf S. 473–486. 62 Hierzu ist das ganze dritte Buch zu vergleichen, so Postel, De concordia 1544, Lib. III, c. 5, fol. 277–282 zur Entstehung von Religion aus natürlichen (vor jeder Offenbarung anzusetzenden) Voraussetzungen: „necessitas utilitasve […] atque libido variarum religionum, praecipuae causae prodentibus fuere, unde tertia, partim libidine instituendis, partim utilitate popularium nixa, orta est. […]. Necessitas pariter (nam omnia similia incrementa, progressus, consistentiam, finesque habuere) rel ig i one s pr imar i as, ut iam docuimus, ad homines ob eorum utilitatem tantum i n offic i o re t ine nd o s excogitavit, mentibusque prudentiorum inseruit, verbis eorum atque eloquentia explicavit: quod cum ubivis gentium pateat, tum potissimum in illis civitatibus, quae tyrannis nunquam obnoxiae fuere: tamen quadam religionis opinione teneri, omnibus omnium gentium historiis patet“ (Hervorhebungen von TL). Die Entwicklung der Religion als ein sozialer Stabilisierungsfaktor (ganz im Sinne des Averroes) wird in Analogie zu Elementarprozessen und zu physikalischen Relationen gesehen, fol. 277–278: „molle in molle agens torpescit, flaccescitque. Durum molle collidit. Sic molle in durum agit“ etc. Als mythologisches Beispiel diente Orpheus,
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Freiheit: Mensch und Gott
Aus den zuvor angesprochenen Grundideen des Humanismus übernimmt Postel einiges, das man in der Forschung auch noch intensiver diskutieren müsste. Sicherlich übernimmt er diejenigen ‚anthropologischen‘ Grundideen des Menschen, die schon seit der Patristik den Menschen vor allem als einen ‚Vermittler‘ (mediator, medium) und als ein ‚Band‘ (vinculum) der Schöpfung und ihrer verschiedenen ontologisch-kosmologischen Bereiche herausgestellt hatte.63 In dieser Zentralstellungs-Funktion wird der Mensch (im Sinne der Spezies) auch als „rittrato ovvero compendio […] di tutte le perfettioni che sono nella natura“ gedacht, also als durch seine Vernunft und seinen Intellekt zu realisierender potentieller Welt-Inbegriff.64 Als zukünftiger Restitutor empfiehlt Postel sich quasi selbst als die absolute Inkarnation solcher verknüpfenden Vermittlung. Vor allem, das zeigt ja Postel, entsteht aus der freien Rationalität des Menschen, die empfänglich für dessen Musik nicht nur Menschen, sondern auch animantia & vegetabilia bewegte. Allgemein dient Religion grundsätzlich zur Bildung stabiler Gemeinschaften, keiner, außer der christlichen, wird von Postel hier der Vorzug gegeben, Postels Formel hierfür: ‚homines in officio retinere‘, so c. 4; fol. 274 und so auch im zuvor zitierten Text fol. 277 f. Allgemeines Phänomen ist die Gliederung und Rhythmisierung des Lebens durch Feiertage, Riten, Spiele, Zeremonien, fol. 278: „& ea quae a sacerdotibus & religionum authoribus responsa sunt audit, & quae ob publicam utilitatem ratione instituta sunt cognoscit, frequenter eam in memoriam revocet, servetque. Nam ubi numen aliquid respondisse credebatur, longe errant obsequentiores populi, quam si homo illis similis ipsorum author fuisset“. Wichtig ist hier der Vorschein des Numinosen, gegenüber rein menschlichen Ansprüchen! Siehe auch fol. 281: „nec tantum ea religio dicenda est quae timore aut amore numinis incutitur ab a l iqu o, sed quam d e s e obl at am popularibus & persuasam cupit“; es gibt eine Differenz zwischen priesterlicher, institutioneller Fundierung von Religion und derjenigen durch das Geglaubte oder die Religion selbst. 63 Hierzu versuchte Postel einen Text zu publizieren: De restitutione humanae naturae. Geschrieben wurde er 1546 in Rom und dann zu Oporinus nach Basel gesendet. Dessen Veröffentlichung ist durch das Hl. Officium allerdings verhindert worden. Siehe Kuntz, Guillaume Postel, 65–66. Zur Tradition humanistischer ‚dignitas‘-Konzepte in der Patristik vgl. Garin, La ‚dignitas hominis‘ e la letteratura patristica; zur humanistischen Würde-Debatte Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, I, 128–158, zu Aspekten der Anthroplogie Leinkauf, Selbstrealisierung. Anthropologische Konstanten. 64 Postel, Le prime nove, 1555, fol. 19–20. Siehe dazu Vasoli, L‘Homo novus restitutus“, 225 f.: „dottrine non peregrine ed anzi particolarmente presenti nella tradizione platonico-ficiniana“. Siehe auch Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 9; fol. 65–69: De hominis natura; fol. 65: die „ingens hominum multitudo in orbe respersa“, die also den ganzen Erdkreis bevölkert, ist dennoch aus einem Ursprung (principium) und aus einem Erzeuger (parens), also Adam, entstanden; sie basiert auf einem Formprinzip, una forma = humanitas; fol. 66: der Mensch zeichnet sich durch optimale Ausstattung in Körperbau, biologisch-sensitiven Potentialen und Intellekt aus; durch Eigenliebe (philautia), Gottesverachtung und Begierde allerdings ist dieses Gut-Sein in ein Böse-Sein umgedreht worden (deflectere, depravare, torquere); c. 10; fol. 71: „homo finis est mundi materialis: Deus autem hominis scopus“.
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Transzendenz und ihre eigene Freiheit ist, überhaupt so etwas wie (natürliche) Religiosität.65 Daher spielt der Gedanke der Freiheit eine so überaus zentrale Rolle in der Konkordanz-Schrift. Postel übernimmt auch die Idee eines universalen Intellektes, der mittels bestimmter methodischer Strategien sein Potential zu umfassendem Wissen zu einem tatsächlichen, wenn auch immer nur ausschnitthaften Wissen zu erheben sucht, zu einem „homo encyclopaedia formatus“.66 Dieses herausragende, einmalige Wesen, dessen Sein prekär ist nicht nur wegen der Temporalität seiner Existenz, sondern vor allem wegen der Korruptibilität seiner Potenz, ist in einem ursprünglichen Sinne auf Freiheit und die aus Freiheit entstehende Glückserfahrung der Selbstrealisierung ausgerichtet: „est igitur animi libere agentis actio felicitas, Dei scilicet sui, & naturae contemplatio, magnarum rerum fortunaeque obnoxiarum despicientia“.67 Das Paradigma der ‚liberalitas‘ und ‚libertas‘ ist die Person Jesus Christus, in ihm ist in absolutem Vorgriff realisiert (schon innerhalb des göttlichen Selbstbezuges als Verbum), was Gott grundsätzlich in Bezug auf den Menschen will: „Animos enim liberos vult Deus“.68 Durch Christus und die seine Freiheit (libertas) und Großherzigkeit (liberalitas) ‚nachahmenden‘ Menschen wird Freiheit nach der nahezu vollständigen Korruption wieder Wirklichkeit in dieser Welt und führt zur möglichen ‚restitutio‘.69 Das Paradigma der Negation dieses freiheitlichen Grund-
65 Postel, De concordia, Lib. III, c. 5. 66 Postel, De originibus, seu de varia incognita, aut inconsyderata historia 1553, c. 15, S. 64; De concordia 1544, Lib. I, c. 13, fol. 89–90: „compendium“. Zum Begriff des ‚compendium‘, der ‚encyclopaedia‘ und des universalen Wissens siehe meine Analysen in Leinkauf, Mundus combinatus, Teil 2 und Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, I, 159–221, insbesondere S. 211 f. 67 Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 18–19, fol. 108–110 zu „felicitas“. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen christlicher Religion, Freiheit und Glück, vgl. as Zitat fol. 110. 68 Postel, De concordia 1544, Lib. IV, fol. 327; ebd. außerdem: „Debet autem deligere ad suadendum veram fidem viros idoneos, & omnibus artibus, quantum fieri poterit, sed potissimum in verae religionis placitis exercitatissimos: ad solvenda autem falsae obiecta, ex philosophia instructissimos. Qui quum pauci haberi possint, totas regiones sacrosanctissimi, inviolatique etiam sit opus custodia pervigili servati, peragrent & volentes verae religionis placita probare initient, caeterum libertatem credendi cuivis reliquant. Nam quod vi factum est, vix unquam ad frugem proficiscitur. Ideo vera religio vetat, vim cuiquam recto constantique iudicio fieri: & improbat, si quis vi imprudenter adactus ad veritatem fuerit. Animos enim liberos vult Deus“. 69 Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 13; fol. 89: „homini ex prima origine naturali in miseriam collapso, ut revera posset ad deperditam innocentiam redire, opus necessaria Dei accessione fuit: quem [quae] per Christum facta est, ratione necessitatis hominis, cui sua liberalitate & misericordia succurrere voluit. […]. Nam quotquot imperfectiones ex traduce semine & opera Satanae contraxeramus, eas omnes dempta una culpa (cui qui peccatum non fecit, obnoxius esse non potuit) in se recipit. Similiter omnes hominis constitutiones [also auch die verschiedenen möglichen Formen der Religion] in sua natura suscipere voluit, ut omnino suae naturae & libertati, aut quam proxime fieri posset, hominem redderet“. Ziel ist die „restitutio pristinae libertatis“, denn der Mensch ist, ganz dem Origenes folgend, als in seiner Grundeinrichtung (constitutio, kataskeuê) ‚frei‘ erschaffen, s. fol. 89–91: „Ille quem ex sacris oraculis Adamum dicimus […] ille inquam a Deo optimo maximo constitutionem [kataskeuên]
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verhältnisses zum Sein ist die Wirkkraft des Bösen, Satanischen und Teuflischen, die Postel immer wieder herausstellt.70 Zwischen diesen Extremen steht sozusagen die notwendige Bedingtheit des materialisierten idealen Seins, d. h. der Mangel, die Ungenauigkeit und die Konfusion, die durch die physischen Bedingungen (als Resultat des peccatum originale) besteht (aber nicht als Resultat der Intervention des Bösen in statu isto).71 Alle Vermögen des Menschen, man könnte sagen das ganze Set an dignitas-Bestimmungen, die von den patristischen Autoren bis hin zum Humanismus der Zeit Postels angesammelt und differenziert worden sind, stehen unter dem Index der faktischen Reduktion und der potentiellen Deformation. Daher teilt Postel mit den Skeptikern seiner Zeit, d. h. mit Autoren wie Agrippa von Nettesheim, Gianfranceso Pico della Mirandola, Montaigne u. a., die Zweifel an den epistemischen, nicht nur an den ethischen Kapazitäten des Menschen: die „philosophiae humanae vanitas“ überstrahlt negativ alle Bemühungen des Menschen, sofern er sich nicht durch Gott und seinen Mittler Christus leiten lässt.72 Sofern also der Mensch sich in den Fokus der wahren (christlichen) Religion und des
eiuscemodi acceperat, qua nulla praestantior, nulla liberior. In summo enim totius visibilis naturae apice constitutum quem ideo mikrokosmon dixere Graeci, veluti summae infimaeque naturae creare compendium [!], oportuit quaecumque summa erant, insita a Creatore in se habere. Libertatem vero in tota natura, qua nil sane maius esse potest, summam illum habuisse fatendum est: cuius etiam magna videmus vestigia in illis, qui divino afflatu in se descenderunt, in aliis tenuia quaedam“. Derjenige ist hingegen in Sklaverei, der nicht von Gott und von sich selbst abhängt (a deo & a se pendet), sondern vom Zufall der Meinung, vom Leichtsinn der Dinge, von Dingen, die durch Wink des Zufalls gesetzt sind, die Menschen sind im Regelfall der Tyrannei ausgesetzt und unfrei, Ziel ist die restitutio pristinae libertatis. 70 In einem an Origenes erinnernden radikalen Sinne ist der Mensch physei oder sua natura frei. Diese Eigenschaft, die er mit Christus teilt (ja, die Christus paradigmatisch wieder in die Welt einführt), ist das Antidot und das Provocans zugleich des Bösen, siehe De concordia, Lib. IV, fol. 406–407: Christus ist der Christus aller Menschen, die eigentliche Religion erstreckt sich auf alle Menschen, ebenso sind auch ursprünglich alle Menschen frei (fol. 407: homines sunt liberi arbitrii, eruntque ad finem usque mundi), damit sich zeigen kann, dass sie auch zum Bösen fähig sind und dadurch die Präsenz der Gesetze rechtfertigen. Vgl. auch fol. 407 finis: Christus hat alle Menschen (omnes homines) zu Brüdern, „qui potest illis male velle? Haec sunt sanctissimae religionis praescripta, esse per omnia simillimum Deo“. 71 Postel, De concordia 1544, Lib. IV, fol 403: „nam quum animus noster sit divinarum rerum & significationum comprehensioni impar, & occupatus hac mole corporis non tam libere quam quum est separatus iudicet, impulsum divinum non potest tam distincte recipere, ferre, & proferre, quin antequam ad corporis organa perveniat, multum a summa illa notione absit“. Die Dunkelheit der Propheten und Orakel rechtfertigt Postel mit diesem ‚materialen‘ Anteil, der unvermeidlich sei und zugleich die Projektionsfläche der Hermeneutik bilde. 72 Postel, De concordia, Lib. I, c. 15, fol. 100: zur „vanitas“, die neben der absoluten, alles übertrumpfenden Weisheit Gottes menschliches Wissen als Nichts erscheinen lässt.
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Glaubens stellt, kann dieser Defekt zumindest gedämpft werden.73 Postels Begriff des Menschen ist also einerseits durchaus durch den Humanismus beeinflusst, vor allem jedoch ein religiös fundierter Begriff, der die Wesensform des Menschen radikal unter den Index göttlicher Intentionen und heilsgeschichtlicher Programmatik stellt. Daher stellt Postel – dem furor des frühen Luther nicht unähnlich – die fundamentale Gewissheit des Glaubens über diejenige Gewissheit, die die rationes bzw. notiones innatae oder die mathematischen Wahrheiten uns aus der Natur unserer Rationalität heraus gewähren.74 Es ist daher unabdingbar, sich einige Aspekte von Postels Vorstellung eines höchsten göttlichen Wesens klar zu machen. Trotz der faktischen, historisch-kulturellen Verschiedenheit aller Religionen, die Postel während der zweiten Reise in den Orient und aufgrund der dort aufgefundenen Texte eher noch zu seinen missionarischen Feldzügen ermuntert hatten, anstatt dass sie ihn hätte irgend bremsen können, fundiert Postel, wie wir gesehen haben, seinen Gedanken der genuinen Konkordanz aller Religionen durchaus in Theoriemodellen der antiken und patristischen Tradition, die in seinen Textkonglomeraten immer wieder Palimpsest-artig durchscheinen. Diese gründen vor allem in einem Gottesbegriff und Prinzipbegriff, welcher der Tradition des christlichen Platonismus sehr nahesteht. Postel ist hierbei nicht so sehr an den Aspekten der Unsagbarkeit, Undenkbarkeit und absoluten Transzendenz Gottes interessiert, sondern eher an dem Bezug, den ein so gedachtes erstes Prinzip zu einer aus ihm qua Willensintention hervorgegangenen Welt und vor allem zum Menschen haben konnte. Hierzu muss es einen Bezug im einen Prinzip geben, der als ternarischer oder trinitarischer Selbstbezug gedacht wird, vor allem in den Begriffen potentia,
73 Postel, De concordia, Lib. IV, fol. 433: „Omnibus in rebus vult arbitrium nostrum exercere Deus, ut qu e ma dmo du m ab eo miracula omnia, quibus excitamur ad oboedientiam & virtutem facit, it a & nobis res exequendi facultatem & arbitrium p e r m itt it, ut manifestentur qui probati probique sunt“ (Hervorhebungen von TL). Das Wissenspotential, das Gott uns „gewährt“ oder „erlaubt“ (permittit), ist etwas Anderes, als das naturale Wissensvermögen, das der humanistische Diskurs in den dignitas-Kanon gestellt hatte. 74 Postel, De concordia 1544, Lib. I, c. 15; fol. 98: „quid Ioannis euangelio mirabilius? Quis divinitatis magnitudinem explicat altius? Ut etiam summi philosophi fateantur, quicquid unquam Plato & caeteri de divinis tradiderunt, esse paucissimis in eo compraehensum: & tamen nullam subiungit rationem“. Die Konsequenz zeigt sich fol. 99: „atque si diceret philosophus, nil mihi tam certum est, quam quatuor esse elementa: aut geometer, nil certius novi linea & puncto. Longe autem maximam fidem & autoritatem affert Evangelio, autorisque eius divinitatem probat, quod ea etiam suasit, quae ex diametro pugnent cum rationibus humanis vulgo receptis“. Beispiele der Präsenz der göttlichen Macht (divina potentia) im menschlichen Handeln sind die Sprache (Rhetorik) und auch die Kunst (ars): „Ubi sane in summa arte quicquam non est positum, non est certe, ut illud fieri possit, quum inferiori effici nequeat. Quum autem fieri videatur, non ab arte industriave humana, sed a divina plane potentia fieri constat“; siehe hierzu die folgenden Ausführungen.
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sapientia, voluntas bzw. amor.75 So wird aber auch, ohne mit der Wimper zu zucken, Gedankengut der griechischen und jüdischen Tradition mitverarbeitet. Gott ist also denkbar – oder: nicht wirklich denkbar – als derjenige, der „Alles in Allem ist“ und „Alles aus Allem macht“, der das dynamische, samenhafte, fruchtbare Prinzip ist, das (im Sinne des neuplatonischen diffusivum sui) alles durchwirkt und gestaltet.76 So etwa mit trinitätstheologischen Argumentationen, die Postel in De orbis terrae concordia mehrfach anwendet und deren Hintergrund in der patristischen Interpretation des Trinitätsdogmas sowie in dessen neuplatonischen Voraussetzungen zu sehen ist. Vor allem geht es ihm dabei, gut augustinisch könnte man sagen, um das Verhältnis dieses in sich ternarischen Gottes zur Schöpfung.77 So sieht Postel
75 Postel, De concordia 1544, Lib. II, c. 13, fol. 181: „Ita etiam in Deo verbum dicimus potentiae eius e xpl ic at i one m, qua venit in ef fe c tu m, quicquid in his inferioribus est. Itaque Deus totus est in sua potentia, totus in verbo, & sapientia, aut omnino negandus. Nec enim sine trinitate esse posset, nec quicquam sine illa subsisteret. Nam ante res conditas oportuit esse praepotentem Deum, & necessario etiam sapientem. Nam frustra eris potens, nisi scias uti potentia, nec satis fuit esse potentem & sapientem, oportuit accedere voluntatem & amorem agendi a potentia & sapientia Dei procedentem“; den Ternar potenta, sapientia, voluntas-amor, wie auch die Begriffe explicatio und effectus, finden wir auch in dem Text, den ich oben diskutiere. Siehe auch zur analogen Struktur des Menschen ebd., fol. 182: „Impossibile est Deum sine illis proprietatibus agere, atqui agere in omnibus patet. No s a simili oportet posse, scire, velle, antequam quicquam agamus“. Dies gelte auch für alle artes und Naturprozesse: „Ignis quum calefacit, aut disgregat, oportet ut sit inexhausta agendi potentia, & processu eius assiduo, & quadam naturae delectatione, ut agere naturaliter amet, & non possit non amare. Itaque illa tria sunt una potentia certis proprietatibus distincta. Foecunditas ignis, totus ignis est: processus actionis ab igne, unus idemque ignis est: ille agendi ardor & amor, idem ignis. Nec primum est secundum, nec secundum tertium, aut e diverso. Ita nec sunt tres dii, sed unus est Deus“. Vgl.auch lib. IV, fol. 440 und 445: „Divina bonitas unitissima in trinitate, ut ante diximus, non potest habere repugnantia in voluntate, nec potest quicquam fieri, quin potentia, sapientia, & amor una concurrant“. 76 Postel, Ms London British Library, Sloane Mss, fol. 312r, in: Secret, L’herméneutique, 1963, S. 107 (Diskussion des Sohar): „Qui est omnia in omnibus facit omnia, et omnia ex omnibus, ut doceat se ex nihilo prius omnia fecisse. Sic semen quodvis est deus, spiritus, coelum, elementa, radix, truncus, rami, folia, flos, fructus, effectus, medicinae ecc. Sola relatione ad res diversas aut tempus locum modum et caetera acciderat. Multo magis sacrosanctus ille noster Vertumnus Jesus Christus, ut nos lucrifaciat tam in suis scripturibus quam in suis naturis agit continuo Proteus [!], quia in aequivalentia, eminentia potentia et realitate est omnia et in se et in omnibus“. 77 Siehe oben Anm. 75. Die Einsetzung des Ternars potentia-sapientia-voluntas ist ungewöhnlich, nach Postel wird sie markant und einflussreich von einem nicht minder eigentümlichen Denker wie Tommaso Campanella verwendet. Vor Postel jedoch muss man schon weiter zurückschauen und ich habe – und ich ließe mich gerne eines Besseren belehren – eine signifikante Verwendung dieses Ternares erst in der Chartrenser Schule des 12. Jahrhunderts finden können, bei Wilhelm von Conches in seinem Text Philosophia; siehe Philosophia, Liber Primus, II, § 8, hg., übersetzt und kommentiert von Gregor Maurach, Pretoria 1980, 20: „in hac divinitate omnium conditrice et omnia gubernante dixerunt philosophi inesse potentiam operandi, sapientiam, voluntatem. Si enim non potuit et nescivit, quomodo tam pulcra fecit? Si iterum fecit et noluit, vel ignorans vel
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den christlichen Gott – in scharfem Gegensatz zum jüdischen und islamischen Gott – als in einem grundständigen Liebesverhältnis zur Schöpfung stehen, das er im Verhältnis zu sich selbst als absoluter Selbstliebe, präfiguriert.78 Es ist nach dem Textbefund, der die Begriffe ‚amare‘, ‚amans‘ und ‚amatum‘ bzw. ‚amabile‘ miteinander zu einer ternarisch substantiellen Konstellation verknüpft, sehr wahrscheinlich, dass Postel Texte zur Kenntnis genommen hat, die in der Tradition des Denkens von Raimundus Lullus (Ramon Llull) stehen, also etwa Nicolaus Cusanus, Bovillus oder auch Raimundus Sabundus. Dies bleibt ebenfalls noch genauer zu analysie-
coactus hoc fecit. Sed quid ignoraret, qui etiam novit hominum cogitationes? Quis iterum cogeret illum, qui omnia potest? Est ergo in divinitate potentia, sapientia, voluntas, quas sancti tres personas vocant vocabula illis a vulgari propter affinitatem quandam transferentes, vocantes potentiam patrem, sapientiam filium, voluntatem spiritum sanctum“. Siehe auch ebd., III, §§ 9–12, S. 20–22. Wilhelm verwendet den Ternar auch in seinem Dragmaticon philosophiae, das von Gratarolus 1567 in Straßburg herausgegeben worden ist (Nachdruck Frankfurt/Main 1967), praef., fol. 6 (ed. I. Ronca, Turnhout 1996, I, 1, § 9). Man wüßte gerne, wer einerseits die „philosophi“ gewesen sind, auf die sich Wilhelm hier beruft, und wer andererseits die „sancti“ gewesen sind, die die trinitätstheologische Applikation vollzogen haben sollen. Zu Wilhelm von Conches siehe Gregory, Anima mundi und Speer, Die entdeckte Natur 130–221. Eine Verbreitung des Textes ist unter dem Namen Bedas (in: Migne [Hg.], Patrologia latina Bd. 90, coll. 1127 sqq) und auch des Honorius Augustodunensis (in: Migne [Hg.], Patrologia Bd. 172, coll. 39 sqq, bes. Lib. I, c. 6-–2; col. 45–46; c. 21, col. 51 B) bis in das 16. Jahrhundert belegbar, siehe in Maurachs Edition des Wilhelm von Conches S. 4–5. Da auch De philosophia mundi als viertes Werk eine Sammlung von Texten des Honorius etwa in Basel 1544 aufgelegt worden ist (Honorii Augustodunensis […] libri septem, Basileae 1544), war der Zugriff leicht möglich. Wir können also mit guten Gründen annehmen, dass Postel unseren Ternar aus der Schule von Chartres gezogen hat. Dass er ihn aber überhaupt aus dem reichhaltigen Angebot an Alternativen für sich auswählt, stellt ihn doch in eine übergreifende Entwicklungslinie, in der, beginnend sicherlich mit Duns Scotus, aber beschleunigt Fahrt aufnehmend dann im 15. und vor allem 16. Jahrhundert das Vermögen, das Potential, das Kraftvolle den Primat vor dem Sein, dem Wesen und der definiten Bestimmtheit gewinnt – natürlich bleibt in und für Gott selbst sozusagen dieses Potential ‚gebändigt‘ durch seine Güte, Rationalität und Einheit, dennoch wird mit dem Gedanken absoluter Mächtigkeit hier ein Irritationsfenster geöffnet, das sich so leicht nicht schließen ließ. Zur Sache Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, I, 29–57, 647–687. 78 Postel, De concordia Lib. I, c. 3; fol. 17–18: „Est igitur Deus, cuius amore consistunt, quaecunque sunt, amor maxime amans. Quum vero maxime omnia in seipso amet (in ipso enim vita est amore illius constans) maxima amoris unitate id facit, nam ut est perfectissimus, ita perfectissime unit. Quum autem sit summus amor, in eo est ipsa amoris aequalitas (nam alioqui nil amaret, nisi aequalitas amoris se illi ex seipso repraesentaret) respondens amanti, ita ut sit in eo amans, & amatus, a quibus procedit communis amor. Amans amicitia Dei patris loco est: amicitia, qua vigent omnia, filius est: amor ab amante & amato procedens, spiritus sanctus dicitur: tota amicitia in amante, tota in amato seu amabili, tota in amore est: & tamen non sunt tres amicitiae, sed una amicitia. Dum enim seipsum in se cognoscit Deus, amore maxime uniente se in sui cognitione amat (quemadmodum qui seipsum in speculo videt, maxime se amat, eo quod maxime diligat formam suam) & amatum amorem generat, quam filium Dei dicimus: a quibus procedit nexus, quae tres res una sunt“.
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ren, ich kann hier nur darauf hinweisen.79 So kann er hinsichtlich des Horizontes menschlicher Handlungen von einer universalen Grundstruktur ausgehen, wie sich aus De orbis terrae concordia I, c. 9 entnehmen lässt: „Tria itaque sunt in actione perpendenda (ut sine imagine & mysterio trinitatis nil fit) agens, instrumentum, patiens. Duo postrema oportet disponi proportionaliter ad agentis potentiam“.80 Jede Tätigkeit (in physicis) oder Handlung (in anthropologicis) ist, da sie durch den konstitutiven Grundakt göttlicher und daher dreifaltiger Schöpfungsleistung a priori geprägt ist, selbst – bildhaft – dreifältig strukturiert, wobei die Mittel und dasjenige, worauf diese angewendet werden, selbst in der ersten Instanz des Agens potentiell grundgelegt und daher proportional aus seiner Dynamis abgeleitet sind. Jedes Resultat und Ziel eines innerweltlichen Prozesses ist grundsätzlich als Entfaltung eines in sich komplexen Agens zu denken, eine Entfaltung, die sich wesentlich auf das Resultat der dazu dienenden Mittel bezieht – ein solches „instrumentum“ ist für Postel zweifellos innerhalb des intentionalen Heilsprozesses die Sprache. Damit setzt Postel auch ein zentrales, vielleicht, neben dem Logos oder der Rationalität, ‚das‘ zentrale Anthropologicum des humanistischen Diskurses an eine prominente Stelle seiner komplexen Weltdeutung (siehe oben den Abschnitt II).81 Wenn wir im nächsten Beispiel die Verben ‚exprimere‘ und ‚explicare‘ lesen, dann beziehen diese sich zwar auch allgemein auf die möglichen Handlungen eines Individuums (im Sinne von actiones, operationes, machinationes etc., hier das Bauen eines Gebäudes), vor allem jedoch auf die Sprache als die Logos-konforme, dem göttlichen ‚Verbum‘ am nächsten kommende, dem Menschen als ‚proprium‘ zugewiesene Ausdrucksdimension: Gott ist also dreifaltig und einzig [...] Ich denke die Form des Gebäudes, ich drücke sie durch Worte (Sprache) aus oder auch schriftlich oder in Form eines Grundrisses (ichnographia), und schließlich kümmere ich mich um die (oder: besorge die) Ausführung oder Errichtung des Gebäudes. Daher gibt es drei Betrachtungsweisen (considerationes) des Gebäudes: die erste im Denken, die zweite im Ausdruck (Entfaltung) und die dritte im
79 Vgl. die Traditionslinien, die Wilhelm-Schmidt-Biggemann in seinem Beitrag in diesem Band aufzeigt (Anm. der Hg.). Siehe den Anm. 64 zitierten Text, für Raimundus Sabundus (gest. 1436), wo die terminologische und sachliche Schnittmenge vielleicht am größten ist, wäre zu vergleichen seine Theologia naturalis, pars III, § 134; ed. 1966, S. 177–178: „omnia alia amata amantur in virtute rei primo amatae (sc. Dei), quia propter illam amantur“. Gott ist der „amor primus“, aus dessen normativer Figuration – höchste Einheit von amans und amatum durch den Akt des amare – alle anderen modi amandi hervorgehen. Siehe Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, II, 1301–1306. 80 Postel, De concordia, fol. 67. Zu vergleichen ist hier der ganze Passus in De concordia 1544 c. 10, fol. 69 – 73: „De hominis scopo in hac vita“. 81 Zur Sprache als zentralem Faktor in der ‚dignitas‘-Diskussion siehe Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, I, 139–142 mit weiterführender Literatur.
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Werk; und dennoch sind es nicht drei Gebäude, sondern nur eines. Es kann nichts durch die Kunst und die Natur getan werden, das nicht in der und durch die Tätigkeit einen Reichtum, einen Hervorgang und einen Willen zum Ausdruck brächte, oder, wie ich gesagt habe, Fruchtbarkeit, Geburt, Liebe. Wenn nämlich aus dem Kunstvermögen (potentia artis), welches jemand besitzt, kein Hervorgang möglich wäre und kein Entstehen hervorginge, dann würde er geradezu gar nichts tun (nil plane ageret)“.82
Wir sehen zunächst: Postel instrumentalisiert genuin trinitätstheoretische Überlegungen, deren zentrale Bedeutung für die lateinische Tradition seit Augustinus’ Haupttext De trinitate festgeschrieben war. Die vor allem hochmittelalterliche Ausformulierung (Thomas von Aquin) dieses hochkomplexen christlichen Zentraldogmas war zu Postels Zeiten zwar dogmatisches Lehrgut, ist aber zugleich von selbständigen Denkern wie Nicolaus Cusanus, Marsilio Ficino, Charles de Bouvelles u. a. zu einem Moment ihrer philosophischen, spekulativen Weltdeutung gemacht worden, etwa durch ternarische (aus neuplatonischen Zusammenhängen gezogene) Theoreme wie dasjenige von ‚essentia-virtus-operatio‘, das ja gerade, wenn auch modifiziert, in unserem Postel-Text präsent ist.83 Der erste Teil unseres Zitates („Est ergo … divinitas“) ist klassisches Lehrgut, und man kann es aus meiner Sicht für Postel so interpretieren: So, wie in der transzendenten Trinität alle drei Personen doch nur die eine Gottheit oder der eine Gott sind, so sind in der immanenten Multiplizität der Religionen (und Konfessionen) alle einzelnen Religionen doch nur die eine Religion, diese jedoch ist für Postel (wie es ja auch für Cusanus schon so gewesen ist) die christliche universale Religion, die daher aus seiner Sicht die Gestalt der historischen, partikularen Ekklesia ablegen muss und ihre quasi natürliche Universalität durch Enthierarchisierung, Entpolitisierung, Entdogmatisierung realisieren muss. Eine direkte Konsequenz hiervon ist Toleranz oder, besser noch, aktive Konkordanz.84
82 „Est ergo Deus trinus & unus. Nam eadem divinitas est in potentia, eadem in sapientia, eadem in amore: et tamen non sunt tres divinitates, sed una divinitas. Ut quum cogito, exprimo [!], facio, sunt differentes actiones: et tamen non sunt tres res, sed una tantum. Cogito formam aedificii, explico [!] eandem verbis, aut scriptis, aut ichnographia, demum illud fieri curo. Sunt itaque tres aedificii considerationes, prima ut in mente, altera ut in explicatione, tertia ut in opere: & tamen non sunt tria, sed unum. [….]. Quemadmodum enim in potentia artificis est tota ars, ita etiam in eius scientia est tota ars, & in eius voluntate atque effectu est tota ars: nec tamen sunt tres res, aut artes, sed una ars. Et item: Nil agi ab arte aut natura potest, quin sit in actione copia, processus, voluntas: aut, ut dixi, foecunditas, partus, amor. Nam si ab ea potentia artis, quam quis habet, non posset esse progressio, & generatio procedere, nil plane ageret.“ (Postel, De concordia 1544, Lib. IV, fol. 330; siehe aber auch fol. 329–331, 440) Wichtig ist das Architektur-Beispiel. 83 Hierzu Leinkauf, Der Ternar essentia-virtus-operatio. 84 Postel, De nativitate mediatoris ultima, nunc futura […], s.l. 1546, Praefatio, fol. 6–7: „Omnia opus est restitui, Patres. Nec potest ullo modo deus homini prius damnato quam nato, aeternas infligere
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In der Schrift De nativitate mediatoris erhob Postel diese Forderung direkt an die Adresse der in Trient versammelten Konzilsväter; wie andere Humanisten (Jacopo Sadoleto z. B.) auch, erhoffte er sich mit dem Appell an Einigkeit und die Öffnung der Kirche zu einer Ecclesia universalis 1546 eine katholische Reform. In systematischer Hinsicht ist für das Folgende festzuhalten, dass die Trinität als aus potentia, scientia und amor gefügt bezeichnet wird. Der zweite, längere Passus hingegen („Ut quum cogito … ageret“) ist genuin Postelsche Exegese (jedenfalls habe ich bislang nichts gefunden, was ihm hier in der Beispielfindung und Wortfügung als direktes Vorbild hätte dienen können). Hier wird der trinitarische Grundgedanke – mia usia, treis hypostaseis – direkt ‚angewendet‘ im Blick auf das schon oben diskutierte Explikations-theoretische (anthropologische) ‚tria sunt in actione‘: wenn ‚ich‘ (d. h. wir Menschen) denke, ausdrücke und mache (cogito, exprimo, facio), so sind das zwar aus Postels Sicht „drei verschiedene Tätigkeiten“ (differentes actiones), aber nicht drei durch diese ausgedrückte oder realisierte verschiedene „Dinge“ (res, auch: Sache), sondern nur ein Ding oder eine Sache – so wie die drei göttlichen Personen in ihrer transzendenten Aktivität immer nur die eine göttliche Wesenheit zum Ausdruck bringen. Postel nimmt in gediegener humanistischer Tradition ein Beispiel aus der Kunst (oder Kunstfertigkeit, ars) und setzt für ‚res‘ ein ‚aedificium‘ (Bauwerk, Gebäude). So wie bis zur Endgestalt eines Bauwerks ein Grundriss, ein gedankliches Konzept und die Errichtung nötig sind und Stufen eines Prozesses bilden, ist alles, was Menschen kraft ihres Vermögens sich ausdenken, wollen und vollbringen, dreigestaltig.85 Ganz klar hält Postel (und zwar nicht nur an dieser Stelle) an der Substantialität des Form-Begriffs fest, der eine komplexe Einheit in verschiedenen modi agendi und auch modi essendi zum Ausdruck bringen kann: das ‚aedificium‘ als Idee im Denken des Künstlers, das ‚aedificium‘ in den verschiedenen Weisen des Entwurfes (sprachlich: Beschreibung, materiell: Skizze, Grundriss), das ‚aedificium‘ als realisiertes, gebautes Werk. In allen diesen modi ist die Einheit und Selbigkeit der Form gewahrt, es ist dasselbe x, das als idea, als expressio und als opus ‚ist‘. Natürlich ist dies nur eine Analogie und strikte, trinitätstheologische Selbigkeitsbedingungen des göttlichen Seins werden hier nicht erreicht. Aber Postel geht es hier um die alte Lehre von den ‚Spuren‘ (vestigia), ‚Bildern‘ (imagines) oder ‚Erscheinungen‘
poenas. […]. Hanc vero scribo vobis veritatem, patres, ut desinatis anathematis perdere [?] illos, pro quibus mortuus est Christus. Ipse enim in omnibus et singulis agit“; fol. 9: „satis enim est quod totus mundus fide implicita, Jesum, id est salutem quovis modo a deo homini propositam quaerit, et quovis conscientiae testimonio, duce lumine vitae, consequi satagit“. Barabara Mahlmann-Bauer wies in der Diskussion darauf hin, dass dieser Appell an die Konzilsväter auf deutlichste Weise die politische Mission Postels zum Ausdruck bringe, das Schisma der Kirche mit aller Energie verhindern zu wollen. 85 Vgl. Postel, De concordia 1544, Lib. IV, fol. 331.
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(apparitiones, theophaniai) Gottes: die absolute Dreiheit ‚erscheint‘ sozusagen in relativen Dreiheiten. Die Kunst erscheint ihm, sicherlich in Kenntnis und Aufnahme humanistischer Texte hierzu, als ein gutes Metaphernfeld, ja, wie man zu Ende unseres Zitates sieht, die Kunst selbst (ars) ist in sich trinitarisch verfasst: „Wie nämlich in dem Vermögen (potentia) des Künstlers die ganze Kunst ist, so ist auch in seinem Wissen (scientia) die ganze Kunst, und in seinem Willen (voluntas) und seiner Wirkung (effectus) die ganze Kunst: deswegen gibt es dennoch nicht drei Dinge (Sachverhalte) oder drei Künste, sondern (nur) eine Kunst“.86 Und Postel spitzt dies Ganze noch einmal zu in Richtung auf eine verschärfte Bewußtmachung des Gedankens des Vermögens, Potentiales und der Mächtigkeit (potentia, potestas, vis, virtus) – ein Diskussionsfeld, das typisch für spätmittelalterliche Theologie und frühneuzeitliche Philosophie gewesen ist87 . So, wie es im Bereich des Explikates (des Kunstwerks, Gebäudes) verschiedene modi des Seins gibt, als Idee, Entwurf, Realisierung, die doch nur ein Sein ausdrücken, so gibt es auch im Bereich des Potentiales und des Vermögens (der Kunst) zwar verschiedene modi des Seins, als Vermögen, als Wissen, als Wirkung, die doch nur eines und dasselbe Vermögen ausdrücken. Und es gilt grundsätzlich, wie oben schon zitiert: „Wenn nämlich aus dem Kunstvermögen (potentia artis), welches jemand besitzt, kein Hervorgang möglich wäre und kein Entstehen hervorginge, dann würde er geradezu garnichts tun (nil plane ageret).“ Doch zurück zum Gottesbegriff, der hier markant im Hintergrund steht: die Faktoren des innergöttlichen Selbstverhältnisses, die wir gerade eben diskutiert haben: potentia (potestas, virtus), scientia (sapientia) und voluntas (amor) und die sich nach guter augustinisch-neuplatonischer Denktradition im individuellen Wesen des Menschen als dessen jeweilige dynamische Einheit bildhaft reflektieren, werden in der Zeit des 16. Jahrhunderts mit großer Wirkung auf die Folgezeit zu den Zentralbegriffen des göttlichen Wesens – dies, und das ist mit Blick auf Postel wichtig, vor allem im nicht-akademischen oder außeruniversitären Bereich. Schauen wir uns folgenden Text aus De orbis terrae concordia an, der letztlich das, was wir hinsichtlich des Architektur-Beispiels gefunden haben und dessen ad extra gehenden Entfaltungsvektor, aufnimmt:
86 „Quemadmodum enim in potentia artificis est tota ars, ita etiam in eius scientia est tota ars, & in eius uoluntate atque effectu est tota ars: nec tamen sunt tres res, aut artes, sed una ars.” (Ebd.) 87 Dies habe ich, was die Renaissance betrifft, mehrfach zu zeigen versucht am Beispiel von Autoren wie Nicolaus Cusanus, Marsilio Ficino, Franceso Patrizi, siehe Leinkauf, Cusanus und Bonventura; ders., Renovatio et unitas; ders., Nicolaus Cusanus zu Kunst, Spiel und Denken; hinsichtliche der von Johannes Duns Scotus angestoßenen Diskussion (die selbst wiederum aufruht auf der Frage nach der ‚pluralitas mundorum‘) um die absolute und geordnete Mächtigkeit oder Macht Gottes verweise ich auf Courtenay, Capacity and Volition.
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Die gesamte Schöpfung ist daher im allmächtigen Gott, sie ist gesamthaft im unübertrefflich weisen, allmächtigen Sohn, und ebenso im allmächtigen Willen, der Liebe oder dem Heiligen Geist, der von beiden ausgeht: aber dennoch sind es nicht drei Allmächtige, sondern nur ein Allmächtiger (unus omnipotens). Wir können als Abbild Gottes nichts tun, wir erfassen (nichts) durch die in uns gelegte Seele, wenn wir nicht die ganze zu tuende Sache im Geiste haben, sie als Ganze im Entwurf (in explicatione) haben und auch als Ganze in der Tat (in opere) und im Denken haben: niemals kann es einen Willen geben, wenn ihm nicht Vermögen und Wissen vorhergehen.88
Neben der uns jetzt geläufigen Sicht Postels, dass unser Handeln und Tun ein Bild des göttlichen Handelns ist, wobei die jeweilige Instantiierung der Sache (res, opus etc.) in der Idee (im Geist, Intellekt, in mente), im Entwurf (Grundriss, in explicatione) und im Werk (in opere) nicht drei verschiedene Sachen konstituieren, sondern eine Sache unter verschiedenen modi essendi, taucht explizit der Hinweis darauf auf, dass Gott selbst eine dreifältige Synthese und Einheit aus den Faktoren potentia, scientia und voluntas sei. Wir sehen hier deutliche Kontinuität zur oben zitierten Stelle89 und halten die Ersetzung von ‚amor‘ durch ‚voluntas‘ von der Sache her für absolut einsichtig. Vor dem Hintergrund der wirkmächtigen Konzeptionen des Augustinus zur Trinität und zur trinitarischen Verfaßtheit der Wirklichkeit, insbesondere des menschlichen Geistes, entwickelt sich von der zweiten Hälfte des 15. bis hin zum Beginn des 17. Jahrhunderts eine Diskussion der inneren Struktur des Göttlichen, die mit Tommaso Campanellas drei „primalitates“ einen Punkt erreicht, den wir auch hier bei Postel finden können: Gott ist die Dreieinheit von potentia-sapientiavoluntas (auch: potestas-scientia-amor).90 Es ist allerdings, da die ‚drei Primalitäten‘ 88 „Tota ergo rerum creatio est in deo omnipotente, tota item est in sapientissimo, omnipotenteque filio, & tota in omnipotente voluntate, amore, aut spiritu sancto ab utroque procedente: & tamen non tres omnipotentes, sed unus omnipotens. Nil nos posse agere in imagine dei, animo in nobis posito scilicet cernimus, nisi totam rem agendam in mente habuerimus, totam in explicatione, & totam in opere & cogitatione: nunquam potest esse voluntas, quin eam praecedant potentia & scientia“ (Postel, De concordia, Lib. IV, fol. 392). 89 Postel, De concordia, Lib. IV, fol. 330. 90 Tommaso Campanella, Universalis philosophiae seu metaphysicarum rerum iuxta propria dogmata, Paris 1638, lib. II, c. 1, §§ 1–2; X, c. 1 passim; siehe Art. ‚Primalitäten‘ (verfasst von der Red.), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel-Stuttgart 1989, col. 1310–1311, der aber rein Campanella-immanent vorgeht und keine Ableitung aus der Tradition anbietet. Augustinus hatte schon – vorbereitet in seinen Confessiones XIII, 11,12: „sum enim et scio et volo; sum sciens et volens et scio me esse et velle et volo esse et scire“ – den Ternar Sein-Wissen-Wollen (aufgenommen etwa in De civitate Dei XI 26: „sicut enim novi me esse, ita novi etiam hoc ipsum, nosse me. Eaque duo cum amo, eundem quoque amorem quiddam tertium … adiungo“) – sowie den Ternar SeinWissen-Lieben herausgestellt und dann explizit in De trinitate immer wieder ternarische Relationen diskutiert, die in sich das besondere Verhältnis artikulieren, dass in ihren einzelnen Gliedern
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bislang als genuine Erfindung des Campanella gelten, nicht abzusehen, woher genau Postel seine exakt gleichlautenden drei göttlichen Wesensbestimmungen gezogen haben könnte. Sie sind, wie gesagt nicht in der Tradition des Augustinus, nicht in derjenigen des Thomas von Aquin und auch nicht in der der RenaissancePhilosophie von Nicolaus Cusanus oder Marsilio Ficino verankert.91 Nun hat die Forschung zur hochmittelalterlichen Diskussion im Rahmen der Schule von Chartres zeigen können, dass dieser Ternar in Texten des Wilhelm von Conches auftaucht, des Schülers von Bernhard von Chartres und Magisters an der Chartrenser Kathedral-Schule, die teilweise – auch unter dem falschen Autornamen des Honorius Augustodunensis – gerade im 15. Jahrhundert und in der ersten
jeweils das Ganze der drei Momente als Ganzes präsent ist – dies sollte die uns unbegreifliche SeinsStruktur der überseienden göttlichen Einheit als Ein-Vielheit dem Denken wenigstens problematisch zugänglich machen. Diese Ternare sind: memoria-intellegentia/cogitatio-voluntas (De trinitate X, 11, 18), memoria-acies (sc. mentis)-voluntas (XIII 20,26; XIV 2,4; 6,8), mens-notitia-dilectio/amor (XV 7,11). Diese Zugänglichkeit basiert für Augustinus auf der inneren Natur und Struktur des Geistes (mens), nämlich seiner aller Reflexion vorlaufenden wesentlichen Einheit, die in sich die potentiellen Relata des Ternares der Selbst-Entfaltung trägt. Dies scheint mir von der Sache her auch für Postel anzunehmen zu sein. Dafür sprechen seine direkten Vergleiche unseres Selbst, unseres Wesens, unseres Denkens mit dem innergöttlichen Selbstvollzug. 91 Auch Autoren, deren Einfluss auf Postel naheliegt, wie etwa Johannes Reuchlin, kennen diesen Ternar soweit ich sehe nicht, dafür aber etwa den einschlägigen Ternar essentia-virtus-operatio, siehe Reuchlin, De verbo mirifico, Tubingae 1514, hier benützt: Lugduni 1552, Lib. I, c. 11, fol. 71; lib. II, c. 15, fol. 161 zum Problem der Gottesnamen (mit Bezug auf Dionysius Areopagita): „iuxta humanam contemplationem ex traditis nobis divinitus sacris nominibus quoddam essentiae attribuimus, quoddam virtuti, quoddam operationi, reliquae nostrae erga Deum affectioni“; Reuchlin, De arte cabalistica libri tres, Hagenau 1530, lib. I, fol. XVIIIv: substantia-virtus-operatio, fol. XXIIIr: essentia-potentia-operatio. Zur Sache Leinkauf, Der Ternar virtus, essentia, operatio. Eine sachliche Motivation, die potentia oder potestas an erste Stelle des göttlichen Ternares zu setzen, könnten die posse-Spekulationen des Cusanus in verschiedenen seiner Werke gewesen sein (De possest vor allem), die u. a. von Reuchlin aufgegriffen worden sind, De arte cabbalistica, Lib. II, fol. XXXIIv: „cuius (sc. Dei) posse esse, cum omnia complectitur mentalia, rationalia, intelligibilia, sensibilia, vitalia, substantialia, adhaesibilia & adhaesiva, non tantum eorum quae sunt, verumetiam quae non sunt, tum vere illud poterat infinitum appellare Pythagoras, quod & a sapientissimis dictum erat apeirodynasthai, id est infinite posse, quoniam & ipsum est infinitum, & una eademque infinitas & essentiali Idea complectitur res infinitas […] ex hoc omnia prodeunt […] infinitipotens & omnipotens potentifica potentia, quae nihil aliud est quam divina essentia“. Hier wäre zumindest die Ersetzung von essentia durch potentia erklärbar, sofern letztere durch Cusanus (im Rückgriff auf Proklos’ Begriff der apeirodynamia) oder Ficino als das, was das Wesen des Ersten ausmacht, bestimmt wird. Es wird vorstellbar, dass die zweite Instanz der sapientia dann die transformierte „virtus“ des Grundternars ist, d. h. die Vorstellung zum Ausdruck bringen soll, dass das unendlich Vermögende sein Potential durch Wissen artikuliert, um es dann durch seine voluntas (dritte Instanz) Wirklichkeit werden zu lassen.
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Hälfte des 16. Jahrhunderts in Druckfassungen vorlagen.92 Meine Hypothese, die ich hier abschließend zur Diskussion stellen möchte, ist, dass Postel einen dieser Texte bei der Befriedigung seines unersättlichen Lese- und Informationshungers in die Hände hätte bekommen können und die ad extra, in die Dynamik der Produktivität, des Herstellens und der Expressivität hineinreichende Bedeutung dieses Ternares (gegenüber den ad intra in die Seele und innere Reflexivität gerichteten Ternaren des Augustinus) intuitiv erfasst haben könnte. Die Integration dieses Ternares an systematisch so bedeutender Stelle wirft zumindest ein bezeichnendes Licht auf die grundsätzliche Denkrichtung Postels, die sich auch in den meisten seiner anderen Werke finden lässt. Dass er ihn überhaupt aus dem reichhaltigen
92 Wilhelm von Conches, Philosophia (ca. 1124/5), Liber Primus, II, § 8, hg., übersetzt und kommentiert von Gregor Maurach, Pretoria 1980, S. 20: „in hac divinitate omnium conditrice et omnia gubernante dixerunt philosophi inesse potentiam operandi, sapientiam, voluntatem. Si enim non potuit et nescivit, quomodo tam pulcra fecit? Si iterum fecit et noluit, vel ignorans vel coactus hoc fecit. Sed quid ignoraret, qui etiam novit hominum cogitationes? Quis iterum cogeret illum, qui omnia potest? Est ergo in divinitate potentia, sapientia, voluntas, quas sancti tres personas vocant vocabula illis a vulgari propter affinitatem quandam transferentes, vocantes potentiam patrem, sapientiam filium, voluntatem spiritum sanctum“. Siehe auch ebd., III, §§ 9–12; S. 20–22. Wilhelm verwendet den Ternar auch in seinem ca. 20 Jahre später entstandenen Dialog-artig konzipierten Dragmaticon philosophiae, das von Wilhelm Gratarolus 1567 in Straßburg herausgegeben worden ist (Nachdruck Frankfurt am Main 1967), praef., fol. 6 (ed. I. Ronca, Turnhout 1996, I, 1, § 9). Man wüßte gerne, wer einerseits die „philosophi“ gewesen sind, auf die sich Wilhelm hier beruft, und wer andererseits die „sancti“ gewesen sind, die die trinitätstheologische Applikation vollzogen haben sollen. Zu Wilhelm von Conches siehe Gregory, Anima mundi, 106–121 (S. 115 f. und 150 f. auch zu dem Vorwurf der mit diesem Trinitätsbegriff verbundenen Häresie des Sabellianismus sowie dem Vorwurf des Naturalismus-Pantheismus, die, nach den schweren Vorwürfen des Bernhard von Clairvaux und des Theodoricus von Chartes, auf dem Konzil von Sens diskutiert worden sind); Speer 1995, S. 130–221. Eine Verbreitung des Textes des Wilhelm von Conches ist unter dem Namen Bedas (in: Migne [Hg.], Patrologia Latina Bd. 90, coll. 1127 sqq) und auch des Honorius Augustodunensis (in: Migne [Hg.), Patrologia latina Bd. 172, coll. 39 sqq, bes. Lib. I, c. 6–12; col. 45–46; c. 21, col. 51 B) bis in das 16. Jahrhundert belegbar, siehe Maurach S. 4–5. Da auch De philosophia (mundi) als viertes Werk einer Sammlung von Texten des Honorius etwa in Basel 1544 aufgelegt worden ist (Honorii Augustodunensis […] libri septem, Basileae 1544) war der Zugriff leicht möglich. Wir können also mit guten Gründen annehmen, dass Postel unseren Ternar aus der Schule von Chartres gezogen hat. Mir scheint es daher eher wahrscheinlich, hier an Wilhelm von Conches als an Abelard zu denken, der den Ternar ebenso kennt, siehe Expositio in epistulam Pauli ad Romanos, s. die Edition von Migne (Hg.), Patrologia latina Bd. 178, col. 804; Theologia christiana, in Migne (Hg.), Patrologia latina Bd. 178, col. 1126 und Gregory, Anima mundi. 108–109, der auch zeigt, dass dieser Ternar seinen sachlichen Ursprung in den Überlegungen von Abelard und Wilhelm hatte, wie man den schöpfungstheologischen Zusammenhang Gott-Welt erklären könnte und nicht vornehmlich in innertrinitarischen Problemstellungen. Wilhelm ordnet folglich die drei Seins-oder Weltursachen (causa efficiens, c. formalis, c. finalis) der ad extra gerichteten Aktivität der göttlichen Personen zu: Vater = causa efficiens = potestas/potentia, Sohn = c. formalis = sapientia, Geist = c. finalis = voluntas/bonitas.
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Angebot an Alternativen für sich ausgewählt hat, stellt ihn aus meiner Sicht in eine übergreifende Entwicklungslinie, in der, beginnend sicherlich mit Duns Scotus, aber beschleunigt Fahrt aufnehmend dann im 15. und vor allem 16. Jahrhundert, das Vermögen, das Potential, das Kraftvolle den Primat vor dem Sein, dem Wesen und der definiten Bestimmtheit gewinnt – natürlich bleibt in und für Gott selbst sozusagen dieses Potential ‚gebändigt‘ durch seine Güte, Rationalität und Einheit, dennoch wird mit dem Gedanken absoluter Mächtigkeit hier ein Irritationsfenster geöffnet, das sich so leicht nicht schließen ließ.93
Literatur Quellen Augustinus, Aurelius, De civitate Dei libri XXII, hg. von Bernhard Dombart und Alfons Kalb. Dvas epistvlas ad Firmvm addidit Johannes Divjak, editio quinta, 2 Bände, Leipzig 1993. Clichtovius, Josse, De mystica numerorum significatione opusculum: eorum presertim qui in sacris litteris usitati habentur, Paris 1513. Johannis Scotti Eriugenae Peri physeon, lib. II, hg. v. Inglis Patric Sheldon-Williams unter Mitarbeit von Ludwig Bieler, Dublin 1983. Postel, Guillaume, De originibus seu de hebraicae linguae et gentis antiquitate, Paris 1538. Postel, Guillaume, De orbis terrae concordia libri quatuor, Basel (Oporinus) 1544, konsultiertes Exemplar: Biblioteca nazionale Firenze, Guicc. 4.4.3/2. Elia Pandocheo = Postel, Guillaume, Panthenôsia. Compositio omnium dissidiorum circa aeternam veritatem, Basel 1547. Postel, Guillaume, De admirandis numerorum platonicorum secretis, 1549, ed. JeanPierre Brach. Vgl. Postel, Guillaume, Des admirables secrets des nombres platoniciens, édition, traduction, introduction et notes, Paris 2001. –, De universitate liber, in quo astronomiae doctrinaeve coelestis compendium terrae adaptatum […] exponitur. Sed ante omneis alia orbis parteis Terra Sancte […] describitur, Paris 1552. –, De originibus, seu de varia incognita, aut inconsyderata historia […], Basel 1553. –, Signorum coelestium vera configuratio aut asterismus, stellarùmue per suas imagines aut configurationes dispositio, & in eum ordinem quem illis Deus praefixerat [...] siue coelum repurgatum [...] authore Guilielmo Postello [...], Paris: apud Hieronymum Gourmontium è regione Collegii Cameracensis, sub insigno trium Coronarum, 1553.
93 Zur Sache siehe Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, I, 29–57 und 647–687.
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Thomas Leinkauf
–, Le prime nove dell’altro mondo, cioè l’Admirabile Historia et non meno necessaria et utile da esser letta et intesa da ogni uno […], Venedig 1555. –, Le Thrésor des Prophéties de l’Univers ca. 1564–1566, Paris Bibl. Nat. franc. 2113, fol. 27–124, ed. François Secret, La Haye 1969, 39–251. –, Panthenôsia, compositio omnium dissidiorum circa aeternam veritatem Basileae 1547 und 1561. –, Apologia pro Serveto Villanova, de anima mundi […], in: Versuch einer unpartheiischen und gründlichen Ketzergeschichte, Vol. II, hg. v. Johann Lorenz von Mosheim, Helmstedt 1748, fol. 466–499. –, Aphorismoi, elementaque veritatis aethernae pro concordia universi instituta de necessarii unius, ut sit in Haberi in humana mente, sicut est, id est, ut cognoscatur manifesta demonstratione: quod Deus est et quod Remuneratio est, ca. 1580, Bibl. Nat. Paris Ms. Lat. 3401, fol. 18–35, ed. François Secret, Postelliana, Nieuwkoop 1981, 198–239. –, De magia orientali caput origove seu volumen libri aetherni de latentibus hactenus causis […] 1580; Paris, Bibl. Nat. Ms Lat. 3402, fol. 93r – 107v, hg. von François Secret, in: Postelliana, Nieuwkoop 1981, 240–272. –, Catastrophes veritatis et victoriae aethernae de praesentis mundi immutatione, Bibl. Nat. Paris, Ms Lat. 3402 (1580–1581; siehe fol. 65v, cap. 13: terraemotus 1580 factus in Gallia Belgica), hg. v. François Secret, Postelliana, Nieuwkoop 1981, 273–305. Wilhelm von Conches, Philosophia (ca. 1124/5), Liber Primus, II, § 8, hg., übersetzt und kommentiert von Gregor Maurach, Pretoria 1980.
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Zwischen Rationalismus und Millenarismus
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Erasmus von Rotterdam ruft in Basel zur Gewissensfreiheit auf Hintergründe einer Erfolgs- und Misserfolgsgeschichte 1991 hat Mario Turchetti in einem viel beachteten Aufsatz erklärt: Bei Erasmus nach Spuren einer Toleranz zu suchen, die Kultus- und Gewissensfreiheit einschließe, sei fruchtlos. Wer sich wie Erasmus für die Einigung der Konfessionen eingesetzt habe, der habe nicht zugleich einem Nebeneinander verschiedener Kirchen das Wort reden können.1 Vielleicht tat es ein Denker wie Erasmus doch, ein Denker, der Ambivalenz nicht scheute, sondern kultivierte,2 ganz abgesehen davon, dass er sich vielleicht ein zeitliches Nacheinander erhoffte: Zunächst und solange die Einheit nicht herzustellen ist, ein Nebeneinander der Konfessionen, als Ziel aber eine Kirche für alle Christen. Im Übrigen hat er auch ein gut nachbarschaftliches Zusammenleben mit Menschen jüdischen Glaubens befürwortet.3 Aber zunächst einige Worte zur Basler Ratspolitik: Im April 1528 war in Basel ein wilder Bildersturm ausgebrochen. Die Streitereien zwischen reformatorisch Gesinnten und Anhängern des überkommenen Glaubens eskalierten und die Eidgenossenschaft taumelte auf die Kappeler Kriege zu. Beide Seiten drängten Basel, sich für eine Glaubenspartei zu entscheiden und in den Glaubensstreit in Glarus einzugreifen. Der Basler Rat aber ließ im Juni 1528 antworten: „dann so wir mandaten by unns uszgan unnd mencklichen des gloubens gefryett, will unns nit gepuren, solche Sachen zu entscheiden mit recht.“4 Der Rat habe also Gewissensfreiheit verordnet und fühle sich nicht zuständig, über die brennenden dogmatischen Fragen zu entscheiden. Tatsächlich hatten die Ratsherren seit 1525 eine Politik betrieben, die es den Bürgern freistellte, sich der einen oder anderen Glaubensrichtung anzuschließen. Nonnen und Mönche sollten nach ihrem Gewissen entscheiden dürfen, im Kloster zu bleiben oder nicht. Fastenbrüche
1 Turchetti, Mario, Érasme et la tolérance, 379–395. 2 Zum Zusammenhang von psychischer Ambiguitätstoleranz und politischer Toleranz vgl. die Eingangskapitel von: Bauer, Ambiguität. 3 Christ-von Wedel, Erasmus: Porträt, 119–125. 4 In modernem Deutsch: „denn, wie wir Mandate bei uns haben ausgehen lassen und allen den Glauben freigestellt haben, gebührt es uns nicht, dergleichen rechtlich zu entscheiden“. – BRA, Bd. 3 (1937), Nr. 154.
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Christine Christ-von Wedel
verfolgte der Rat nicht mehr, Messfeiern und reformatorische Predigtgottesdienste mit Abendmahlsfeier in beiderlei Gestalt bestanden nebeneinander. Wie fand der Basler Rat zu seiner Politik der Gewissensfreiheit, die er 1528 gegenüber der Tagsatzung so selbstbewusst proklamiert hat und die er ein halbes Jahr später im Februar 1529 unter dem Druck der Straße aufgeben musste? Basel5 konnte auf einen politischen Pragmatismus zurückblicken, was den Umgang mit theologischen Lehren betraf. Im Rat tonangebend waren weltgewandte, zum Teil akademisch gebildete Großkaufleute und reich gewordene Söldnerführer. Sie entmachteten seit langem konsequent den Bischof und das Domkapitel und drängten schon vor der Reformation erfolgreich Privilegien, Gerichtsrechte und Herrschaftsansprüche der Kirche zurück. In dogmatischen Fragen aber hielten sie sich – im Gegensatz zu den Ratsherren in Zürich oder Straßburg – für nicht zuständig. Das hatte Tradition. An die 1460 gegründete Universität hatten sie zunächst „moderne“ nominalistische Lehrer engagiert, aber schon bald konnte sich mit einigen Frühhumanisten auch die ‚via antiqua‘ einnisten. Als die Streitigkeiten der Scholastiker vor den Rat kamen, entschied der sich nicht für eine der beiden Lehren, er wollte beide zulassen. Universtäten, an denen beide Wege gelehrt wurden, gab es auch sonst. Die Begründung aber scheint mir für Basel typisch und für unser Thema bemerkenswert: Basel sei ein Grenzort, es müsse sich darum verschiedenen Richtungen öffnen. Auch könnte es für die Studenten nur ein Gewinn sein, beide Wege vergleichen zu können. Ihnen wollten es die Ratsherren überlassen, den einen oder den anderen Weg, die ‚via moderna‘ oder die ‚via antiqua‘, für ihr Studium zu wählen.6 Entsprechend versuchten sie, sich aus den Streitigkeiten um die Glaubensspaltung herauszuhalten. Ende 1520 weigerten sie sich, Lutherdrucke zu verbieten. Achselzuckend ließen sie der Tagsatzung erklären: „drucks unnd kouffs, wer da well.“7 Aber es wurde schon ein Jahr später schwierig, diese Haltung durchzuhalten. Denn die „katholischen“ Stände – in Basel bezeichneten sich die beiden Glaubensparteien schon sehr früh als katholisch und evangelisch, ich wähle darum und auch der Einfachheit halber diese Begriffe – die katholischen Stände also bestanden auf der Durchsetzung des Wormser Ediktes. Die Basler hielten sich jedoch möglichst zurück. Sie griffen nicht wirklich durch. Basler Drucker wurden wohl mehrfach verhaftet, aber bald wieder freigelassen und druckten weiter Lutherisches. Zunächst versuchten auch die Basler Ratsherren – wie Kaiser und Reich am Reichstag von Nürnberg – mit Mandaten gegen zwiespältiges Predigen vorzugehen. Von den Kanzeln sollte nur noch verkündigt werden, was mit der Bibel im Einklang stand. 5 Vgl. grundsätzlich zu Basel in der frühen Reformationszeit: Christ-von Wedel, Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit. 6 Bonjour, Universität, 87–89. 7 Instruction uff den tag zu Zürich, 4. Nov. 1520, BRA, Bd. 1 (1921), Nr. 57.
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Erasmus von Rotterdam ruft in Basel zur Gewissensfreiheit auf
Aber ebenso wenig wie im Reich, verhinderten diese Mandate in Basel „gotteslästerliche“ Reden, Zehntverweigerungen, Klosteraustritte, Heiraten von Priestern, Fastenbrüche oder zu Gewalt aufrufende Pamphlete. Die Parteien gerieten immer heftiger aneinander. Es blieb nicht bei Beschimpfungen, es kam zu Tätlichkeiten und Hausfriedensbruch. Die Bauern auf der Landschaft solidarisierten sich mit den Bauern des Sundgaus. Die Hoffnung, die von den Evangelischen geforderten Disputationen könnten eine Klärung bringen, zerschlug sich. Zwar „disputierten“ Guillaume Farel (1489–1565), Johannes Oekolampad und Stephan Stör (aus Diessenhofen, gest. 1529) zusammen mit ihren evangelischen Kollegen öffentlich, aber die Katholischen verweigerten sich dem Gespräch. Es waren einseitige Proklamationen.8 Noch hoffte der Rat auf eine geplante inner-eidgenössische Disputation, aber die ließ auf sich warten. In den Zünften gärte es und auch auf dem Land kam es zu ersten gefährlichen Zusammenrottungen. Gleichzeitig forderten der Kaiser und die Mehrheit der Eidgenössischen Stände, Basel solle endlich gegen die aufrührerischen Lutherischen durchgreifen.9 Der Glaubensstreit drohte, auch den Rat selbst zu spalten. Da wandten sich die Herren in ihrer Not Ende 1524 an Erasmus. Dass er vermittelnd dachte, war bekannt. Auch dürften die beiden Bürgermeister, Heinrich Meltinger (vor 1471–1531) und Adelberg Meyer (nach 1482–1548), mit ihm verschiedentlich über die bedrohlichen Zeitläufe gesprochen haben, waren sie doch unmittelbare Nachbarn des berühmten Gelehrten am vornehmen Nadelberg. Erasmus hatte in seiner Laus stultitiae, erstmals erschienen 1511, bereits theologische Streitigkeiten und Häretikerverfolgungen aufs Korn genommen: „Jetzt zu den Theologen!“, rief die Torheit aus. Es wäre allerdings vorzuziehen, sie mit Schweigen zu übergehen [...], sind diese Art Menschen doch außerordentlich arrogant und empfindlich. Es ist zu befürchten, dass sie mit einem Heer von 600 Conclusionen auf mich losgehen und mich zum Widerruf drängen und – sollte ich mich weigern – dann schreien sie sofort: Ketzerei!10
Anders – als bis vor Kurzem noch der Forschung – dürfte den Zeitgenossen eines klar gewesen sein: Erasmus’ schillernde stultitia war mit der ‚mulier stulta‘ des im 16. Jahrhundert überaus beliebten biblischen Buches der Sprüche gleichzusetzen. Dort war die ‚mulier stulta‘ wie Erasmus’ stultitia mit der sophia, der in den Sprüchen ebenfalls personifizierten Weisheit, leicht zu verwechseln. Die ‚mulier stulta‘ der Sprüche aber galt im 16. Jahrhundert nicht als irgendeine Närrin, die mittelalterliche Exegese hatte sie längst zur Häretikerin gestempelt, die sich erkühnte, vom Katheder
8 Christ-von Wedel, Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit, 127–131 und 134–142. 9 Ebd., 145–147. 10 Erasmus, Opera, ASD, Bd. VI–3, 144: 381–385.
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herab ihre Lehren hinauszuposaunen, genauso wie Hans Holbein d. J. die Dame Torheit dargestellt hat.11 Wenn nun aber die stultitia bei Erasmus als Häretikerin spricht und proklamiert, alle Menschen seien ihre Schüler, so verkündigt sie auch: alle Menschen seien Häretiker. Es wäre also sinnlos, sie ausmerzen zu wollen. Erasmus hat im Lob der Torheit die Toleranzproblematik schon vor der Reformation aufgegriffen und auch schon, bevor das Laterankonzil sich 1513 und 1515 mit den neuplatonischen Lehren und der Bücherzensur befasste.12 In einem anderen Bestseller hatte Erasmus in ernsteren Zusammenhängen vor der Todesstrafe von Häretikern gewarnt. In seiner Paraphrase von Mt 13,24–30 zum Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, hatte er 1522 erklärt: Gott befehle, Pseudoapostel und Sektenhäupter nicht auszulöschen, sondern zu „ertragen (tolerari)“. Sie seien, auch wenn sie sich nicht besinnen wollten, Gottes Urteil zu überlassen.13 Eben erst war er in seiner Willensschrift der reformatorischen Selbstgewissheit entgegengetreten, über die einzig wahre Auslegung der Heiligen Schrift zu verfügen. Es gebe viele dunkle Stellen, bei denen es besser sei, kein Urteil zu fällen, sondern die Fragen offenzulassen.14 Eine Sicht, die pragmatischen Politikern sicher einleuchtete. Schon vor Luthers Auftreten hatte er in einer Einleitungsschrift zu seiner griechisch-lateinischen Ausgabe des Neuen Testamentes vor einer allzu einseitigen Auslegungsmethode gewarnt: „Es gibt Abschnitte“, betonte er, „die sollen sich nur an die Jünger und ihre Zeit richten, andere an alle. Einiges wird dem Empfinden der damaligen Zeit zugestanden und über manches soll ironisch gelacht werden.“15 Erasmus sah die Bibel wohl als ein heiliges Buch an, das vom Heiligen Geist inspiriert war, aber es sei von Menschen niedergeschrieben, Menschen die zeitgebunden waren und auch irren konnten, ganz abgesehen von Kopisten und Übersetzern. Die Ausleger hätten es aus der zeitgebundenen Schale herauszulösen und die Botschaft von Gottes erlösendem Kommen in die Welt neu für ihre Zeit zu formulieren. Anders als den Reformatoren ging es dem Bibelhumanisten nicht darum, Kirche und christliches Leben nach einem engen Schriftprinzip in Sitten und Gebräuchen den paulinischen Gemeinden anzuverwandeln und alles, was in der Schrift nicht geboten war, als Menschsatzung im kirchlichen Kontext abzuschaffen, also Ämterhierarchie und ihre Finanzierung, Zölibat, Klöster, Bilder, Heiligenkult, Fastengebote oder den lateinischen Messritus zu bekämpfen. Erasmus ging es darum,
11 Vgl. Christ-von Wedel, Erasmus: Advocate, 61–78 und dies., Torheit und Häresie, 103–116. 12 “Damnatur omnis assertio contraria veritati christianae fidei illuminatae”, Dekret von 19. Dezember 1513, in: Conciliorum oecumenicorum decreta, 605 f. und “Super impressione librorum”, Dekret vom 4. Mai 1515, ebd. 632 f. 13 Erasmus, Opera, LB, Bd. VII, c. 80 E. 14 Erasmus, De libero arbitrio, in: ders., Opera, LB IX, c. 1215 D – 1219 A. 15 Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Werke, hg. von Holborn, 157:25–158:5.
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Erasmus von Rotterdam ruft in Basel zur Gewissensfreiheit auf
kirchliches und weltliches Leben im Geist christlicher Liebe für die eigene Zeit angemessen zu gestalten.16 Auch wenn nicht alle Räte Erasmus selbst gelesen haben werden, so haben sie doch bestimmt Einiges von dem mitbekommen, was in der Sodalitas Erasmiana verhandelt wurde. Erasmus, so durften sie annehmen, würde differenziert urteilen. Auch war er wie die Bürgermeister in hohem Masse besorgt über die Zeitläufe und befürchtete einen Bürgerkrieg. Manches Gespräch mag sich mit ihnen und anderen Ratsherren ergeben haben. Es lag nahe, sich bei Erasmus Rat zu holen. Erasmus hat die Basler Politiker denn auch nicht enttäuscht. Er lieferte ihnen um den Jahreswechsel 1524/1525 – das genaue Datum ist unbekannt – ein vermittelndes, ausgewogenes und differenzierendes Gutachten zu den brennenden Fragen: Bücherzensur, Fastengebote sowie Gelübde von Mönchen und Priestern. Er schrieb einführend: „Keine Seite handelt besonnen. Wenn ich darum besonnen rate, verärgere ich beide Seiten. Aber ich will lieber beide Seiten gegen mich aufbringen, als mich einer von beiden sklavisch ergeben.“17 Er wollte neutral bleiben und fällte kein Urteil über Luther. Er warnte die Räte vor einem Alleingang. Ein Konzilsentscheid sei dringend. Entsprechend fielen die Ratschläge aus: Die Klöster sollten geöffnet, aber nicht abgeschafft werden, Priester sollten in begründeten Fällen heiraten können. Tatsächlich öffnete nach dem Gutachten der Basler Rat die Klöster, ohne sie aufzuheben. Auch die Priesterehe ließ er nun zu. Vor allem, so Erasmus, ginge es darum, Aufruhr zu vermeiden. So sollten die Räte auch nur anonyme sowie aufrührerische und Schmähschriften verbieten. Würden sie die Zensur auf alles Lutherische ausweiten (wie das Wormser Edikt bekanntlich forderte) dann würde viel Nützliches verloren gehen.18 Die Toleranz endete bei Erasmus also bei Aufrührerischem, ein so einleuchtender, wie problematischer Grundsatz. Denn bereits im folgenden Jahr konnten Oekolampad und seine Mitstreiter leicht die Täufer als Aufrührer brandmarken. Inzwischen hatten Bauern in Süddeutschland aber auch in der Schweiz umfassende Freiheiten gefordert und mit der Waffe in der Hand ihrem Begehren Nachdruck verliehen und tatsächlich neigten einige Bauernführer zum Täufertum. Wie Zwingli in Zürich hatte auch Oekolampad in Basel Erfolg damit, auch die pazifistischen Täufer, mit denen die Geistlichen zu tun hatten, als Aufrührer zu charakterisieren.19 Die Taufgesinnten wurden zum Sündenbock im ganzen Reich. Die Basler Ratsherren erließen, beraten von ihren protestantischen und katholischen Geistlichen, im Juli 1527, also nach Zürich, aber schon vor Erzherzog Ferdinand und Kaiser Karl ein 16 17 18 19
Vgl. Christ-von Wedel, Nachwirkung, 291–310. „Senatui Basiliensi salutem“, c. Januar 1525, Erasmus, Epistolae, hg. von Allen, Bd. 6, Ep. 1539. Ebd. Vgl. Christ-von Wedel, Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit, 160. Christ-von Wedel, Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit, 206 und 235 f.
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Mandat, das die Täufer aus der Stadt verbannte.20 Allerdings schreckten sie, anders als ihre Zürcher Kollegen, vor Hinrichtungen zurück. Erst der erneuerte, nur von Reformationsanhängern besetze Rat verhängte nach 1529 auch Todesstrafen.21 Es scheint, der vorreformatorische Rat habe auch Oekolampads erste Abendmahlsschrift, die die überkommene Messe frontal angriff, für aufrührerisch gehalten. Jedenfalls verbot er den Verkauf des Werkes und belegte den beliebten Prediger – allerdings nur kurzfristig – mit einem Druckverbot.22 Prinzipiell war die Zensur jedoch sehr viel milder als vor Erasmus’ Gutachten. Zwischen 1525 und Februar 1529 landeten keine Drucker mehr im Gefängnis. In der Fastenfrage verwies Erasmus explizit auf das Gewissen: Er schrieb in seinem Gutachten: „hic vnumquemque relinquerem suae concientiae [!]“ Also: „Hier würde ich jeden seinem Gewissen überlassen“ und weiter: und niemanden behelligen, es sei denn, er handle aufrührerisch und rufe andere dazu auf, das Gewohnheitsrecht (consuetudo) zu verachten. Sollte aber jemand seinem eigenen Gewissen misstrauen, so erbitte er von seinem Priester oder Bischof eine Erlaubnis.23
Forderte er damit bereits Gewissensfreiheit? Sich auf das Gewissen zu berufen war beliebt und wohlfeil, seit nicht nur Abaelard, sondern auch Thomas von Aquin und Duns Scotus erklärt hatten, auch einem irrenden Gewissen sei unbedingt zu folgen. Allerdings galt das nicht für Häretiker, bzw. in Glaubensfragen. Ein Getaufter, der christliche Dogmen verleugnete, war ein Abtrünniger, ein Gotteslästerer. Häretiker, so lehrte Thomas von Aquin, irrten nicht einfach, sie waren Sünder, die sich aus Stolz und Ehrsucht nicht belehren ließen.24 – Wie bereits gesagt, schrieb Erasmus Stolz und Ehrsucht im Laus stultitiae allen Theologen zu, machte sie also implizit zu Häretikern und führte damit jede Häretikerverfolgung ad absurdum. – Die ehrsüchtigen Häretiker haben nach Thomas den Tod verdient, denn sie beleidigten Gott und verdürben die Seelen anderer. Sie genossen nicht das Vorrecht, sich auf ihr irrendes Gewissen berufen zu können. Martin Luther hatte sich denn auch in Worms nicht einfach auf die Stimme seines Gewissens berufen, er hatte vielmehr erklärt: „Mein Gewissen ist im Wort Gottes gefangen.“25 Er hat später gegenüber dem Einwand, auch Karl V. könne sich auf sein Gewissen berufen, wenn er Luthers Lehre verfolge, erklärt: Der Kaiser
20 21 22 23 24 25
BRA II, Nr. 681. BRA IV, Nr. 324 und V, Nr. 130 und 132 u. a. Christ-von Wedel, Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit, 197. Erasmus, Epistolae, hg. von Allen, Bd. 6, Ep. 1539. Thomas von Aquin, Opera omnia, Bd. 2, 539 f. (Summa theologica II,2, q. 11, a 1 und 3). Luther, Acta comparitionis Lutheri in Diaeta Wormatiensi, 18. April 1521, in: Luther, Werke, Weimarer Ausgabe (WA), Bd. 7, 838a: 6 / RTA/JR, Bd. 2, 581 f.
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Erasmus von Rotterdam ruft in Basel zur Gewissensfreiheit auf
könne gar nicht gewiss sein, weil er irre und „widder das Euangelion“ strebe.26 Mit anderen Worten: Die Gegner können sich nicht auf ihr Gewissen berufen, weil sie gotteslästerlich von der Schrift abweichen. Wer nicht die Wahrheit vertrete, könne nicht gewiss sein. Ein freies Gewissen war für Luther ein Gewissen, das sich im Glauben an die rechtfertigende Gnade von der Verzweiflung über die eigene Sünde befreit hatte, kein Gewissen, dass frei in einer Glaubensfrage so oder so entscheiden konnte.27 Anders Erasmus.28 Es war nicht von ungefähr, dass er bei der Fastenfrage auf den freien Gewissensentscheid wies. Denn Paulus hatte im 1. Korintherbrief (8,7–13) von schwachen und starken Gewissen gesprochen. Den Starken war es gleichgültig, ob Fleisch, das sie aßen, zuvor den heidnischen Göttern geopfert worden war oder nicht. Die Schwachen aber schreckten davor zurück. Auf den Gewissensentscheid der Schwachen war nach Paulus Rücksicht zu nehmen. Der undogmatische Erasmus hat nicht wie Luther eine ausgefeilte Gewissenslehre entwickelt, auch nicht wie die Scholastiker, die von zwei Gewissenskategorien sprachen, von ‚conscientia‘ und ‚synteresis‘. So unterschieden sie die verschiedenen schillernden Bedeutungen des Gewissensbegriffes der Antike und des Neuen Testamentes. Sie beschrieben ‚conscientia‘ als eine Willenskraft und ‚synteresis‘ als einen Rest an unzerstörtem Wissen um Gut und Böse, über das der Mensch auch noch nach dem Sündenfall verfüge. Das Gewissen verwirkliche mit seiner Willenskraft das von der ‚synteresis‘ erkannte Gute. Der ältere Erasmus sprach nicht von einem unzerstörbaren Wissen um Gut und Böse, von einem göttlichen Funken, der jedes Gewissen erhelle. Die bei Platonikern und auch beim jungen Erasmus so beliebte Rede vom göttlichen Funken im Menschen, lehnte der ältere Erasmus mehr und mehr ab,29 und er benutzte wie Luther den unbiblischen Begriff ‚synteresis‘ m. W. nicht. Aber für ihn blieb das Gewissen im traditionellen Sinn eine innermenschliche, richterliche Instanz, die zum Handeln motivierte. Diese Instanz entschied jedoch auch in Glaubensfragen nicht bei allen Menschen gleich. Darum scheute Erasmus sich, über andere Gewissen zu urteilen. Er schrieb an Konrad Pellikan, seinen bisherigen engen Freund, der ihn für sein reformiertes Verständnis vereinnahmen wollte: Mein Ende steht bevor, ich möchte mit reinem Gewissen vor Christus stehen. [...] Ich ließe mir lieber meine Glieder zerstückeln, als etwas gegen mein Gewissen zu bekennen. Ich überlasse euch euren Gewissen. Es ist nur billig, dass ihr mich dem meinen überlasst.30
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Luther an Philipp Melanchthon, Veste Koburg, 11. September 1530, WA Br., Bd. 5 (1934), 614 f. Vgl. Krüger, Art. „Gewissen III“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 13 (1984), 219–225. Vgl. Christ-von Wedel, Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit, 153–159. Vgl. Christ-von Wedel, Erasmus: Advocate, 120–123 und bes. Erasmus, Ecclesiastes (erschienen August 1535), ASD, Bd. V–4, 38:81–3 und 40: 124–32. 30 Erasmus an Konrad Pellikan, c. 27. August 1526, in: Epistolae, hg. v. Allen, Bd. 6, Ep. 1737.
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Da ging es um die kirchlich sanktionierte Abendmahlslehre, die Erasmus zwar nicht einleuchtete, von der abzuweichen er aber auf keinen Fall bereit war, weil er der überkommenen Kirche nicht untreu werden wollte.31 Wenn Erasmus die Basler Ratsherren in seinem Gutachten auf das Gewissen verwies, das individuell entscheiden sollte, so meinte er das durchaus in einem Sinne, der ansatzweise schon die moderne Kultus- und Gewissensfreiheit umfasste. Im April 1526 warnte er über Johannes Fabri (1478–1541), einen Ratgeber Erzherzog Ferdinands, den Bruder und Vertreter des Kaisers vor dem Versuch, das Reich unter die Obödienz Roms zurück zu zwingen: „Es ist Zeit, vernünftig zu werden“, schrieb er, „jeden privaten Vorteil hintanzusetzen und das allgemeine Wohl im Auge zu haben, eingedenk, dass wir alle im gleichen Boot sitzen, das nicht sinken kann, ohne uns alle ins Verderben zu ziehen.“32 Und weiter: „In den Städten, in denen das Übel schon eingerissen ist, wird es wohl das Beste sein, beiden Parteien ihren Platz zu schaffen und jeden nach seinem Gewissen handeln zu lassen.“33 Bekanntlich hat Ferdinand am 27. August desselben Jahres in Speyer nicht seinen Untertanen, aber den Reichsständen Gewissensfreiheit zugestanden, nämlich: „für sich also zuleben zuregiren vnd zuhalten wie ein yeder solchs gegen Gott vnd Keyserlicher Maiestat hofft vnd vertrawt zuuerantworten“.34 Ähnlich mahnte Erasmus Lorenzo Campeggio (1474–1539), den päpstlichen Gesandten beim Augsburger Reichstag von 1530. Der Versuch, eine Glaubensrichtung durchzusetzen, würde zu Krieg führen und das ganze Reich verderben. In vielen Städten, ob sie sich nun offiziell an die katholische oder an die protestantische Lehre hielten, gebe es beide Parteien. Die könnten also nebeneinander bestehen: „semperque hactenus servata sit inter eos commerciorum civilis concordia“, also: „Immer sei bisher unter ihnen die zivile Eintracht im Handel und Wandel erhalten geblieben“, so im Juni 1530. Im August wurde er noch deutlicher: Im römischen Reich habe der Kaiser Arianer, Donatisten und Circumcellionen, Manichäer und Marcionen ohne Blutvergießen in Schranken halten können. Sie hätten in einem Staat mehr oder weniger friedlich zusammengelebt.35 Dazu nun riet Erasmus nicht ganz wirkungslos auch für das Reich. In Wien und am Kaiserhof gab es starke „erasmische“ Parteien, bis Juni 1530 noch angeführt vom Kanzler Mercurino Gattinara (1465–1530).36
31 Erasmus, Detectio praestigarum, erschienen Mai 1526, in: Opera, ASD, Bd. IX–1, 256:572–258: 607. 32 Erasmus, an Johannes Fabri, c. 16. April 1526, in: Epistolae, hg. von Allen Bd. 6, Ep 1690: 81–84. 33 „Et fortasse praestiterit a ciuitatibus vbi malum inualuit, hoc impetrare, vt utrique parti suus sit locus, et suae quisque conscientiae reliquatur, [...]. Ebd., hg. von Allen, Bd. 6, Ep. 1690:106–109. 34 Abschidt des Reichstags, fol. Aiij r. 35 Erasmus, Epistolae, Allen, Bd. 8, Ep. 2328, an Lorenzo Campeggio, 24. Juni 1530 und Bd. 9, Ep. 2366, an Lorenzo Campeggio, 18. August 1530. 36 Vgl. z. B. Allen, Bd. 6, Ep. 1757, Gattinara an Erasmus, 1. Oktober 1526 und Bd. 8, Ep. 2336, Cornelius Scepperus an Erasmus über den am 5. Juni verstorbenen Gattinara, Brief vom 28. Juni 1530.
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Erasmus von Rotterdam ruft in Basel zur Gewissensfreiheit auf
Diese suchten 1530 den Ausgleich und waren bereit, Kompromisse in der Glaubensfrage einzugehen. An vom Kaiser initiierten Religionsgesprächen 1540/41 konnten sich die Theologen aufgrund von Vorschlägen des Rotterdamers weitgehend einigen, scheiterten dann aber in der Abendmahlsfrage und am Amtsverständnis, sowie an der Absage aus Rom und Wittenberg.37 Erst daraufhin versuchte der Kaiser, eine Einigung mit Gewalt durchzusetzen, war aber auch nach dem Schmalkaldischen Krieg immer noch bereit, den Protestanten Zugeständnisse zu machen und sie in sein Bundesprojekt einzubeziehen.38 In Basel war Erasmus kurzfristig noch erfolgreicher: In Mandaten proklamierten die Ratsherren die Gewissensfreiheit. So erließen sie im Oktober 1527 ein Mandat, in dem sie sich selbst verpflichteten, sich gegenseitig zu respektieren, keinem sein Votum zu verargen und „einem jedenn seinen fryen rattschlag [zu] lassenn. Darzu soll ein jeder seines gloubens frey, nimans getrungen noch gezwungen, mesz oder nit, dyse oder ghinnige predig ze hörenn, sunder soll das eins jeden concientz heimgestelt sin, […]“.39 In Basel konnten offiziell zwei Glaubensrichtungen nebeneinander leben. Die einen feierten deutsche Gottesdienste, bald auch in Kirchen ohne Bildschmuck, sie nahmen das Abendmahl in beiderlei Gestalt und tauften ihre Kinder nach einem neuen Formular von Oekolampad, die anderen begingen weiter ihr feierliches Messopfer mit Heiligenanrufung, lateinischen Gesängen und Orgelklang. Dass niemand zum Glauben gezwungen werden könne, war eine Binsenweisheit auch des 16. Jahrhunderts und sogar die intolerantesten Theologen haben sie nicht bestritten. Die maßgeblichen reformatorisch Gesinnten forderten zudem das Recht, überall frei das Evangelium zu verkünden. Dennoch setzte sich Zürich, genauso wie die Reichsstände für ihre Untertanen darüber hinweg. Zürich sah sich denn auch dem Vorwurf ausgesetzt, im Thurgau und im äbtischen Rheintal Gewissenszwang auszuüben. Es wies den Vorwurf weit von sich,40 obwohl die Ratsherren wenige Wochen später, im Januar 1529, für ihre Stadt, in der selbstverständlich Messfeiern verboten waren, ein Mandat erließen, das auch Messebesuche auswärts unter Strafe stellte.41 Gleichzeitig versuchten sie, in den Gemeinen Herrschaften – gegen den Willen der Mehrheit der gemeinsam regierenden Orte – in den einzelnen Gemeinden mit Mehrheitsentscheid den „Zürcher“ Glauben ohne Minderheitenschutz
37 Christ-von Wedel, Erasmus zwischen den Glaubensparteien, 21–39, bes. 38 f.;. Jedin, Bd. 1, 363 f.; Brandi, Kaiser Karl V., 214 und 351; auch trotz aller bekannten Mängel: Heer, Die dritte Kraft, 411–427. Vgl. auch Hubert Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, I, 202 und 290–99. 38 Kohler, Karl V., 319–326. 39 BRA, Bd. 2, Nr. 740, „Ratserkantnis“ vom 21. Oktober 1527. 40 Zürich an (Uznach, Gaster, Sargans?), Nov. 1528?, in: Strickler, Bd. 1, Nr. 2188. 41 Mandat des Rates vom 20. Januar 1529, in: Egli, Nr. 1536.
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durchzusetzen. Auf ihre wirtschaftliche und militärische Macht vertrauend, übergingen sie den Landvogt im Thurgau und riefen Ende 1529 eine Synode unter dem Vorsitz Zwinglis ein. Wer der Synode fernblieb, dem drohten sie Verlust der Pfründe an, und der Synodaleid verpflichtete alle Priester nach dem Alten und Neuen Testament und nach der Lehre Zürichs und der Burgrechtsstädte zu predigen.42 Der Passus entsprach mit seinem Zusatz zum Alten und Neuen Testament dem kaiserlichen Mandat vom Nürnberger Reichstag, datiert auf den 6. März 1523. Danach sollte ebenfalls nur nach dem Alten und Neuen Testament gepredigt werden, aber nun nicht nach der Lehre Zürichs und der Burgrechtstädte, sondern nach der überkommenen kirchlich approbierten Lehre.43 1529 genügte es auch in Zürich nicht mehr, bibelgemäßes Predigen zu fordern. Der Zürcher Rat gestand keineswegs dem einzelnen Individuum zu, seinen Glauben frei zu praktizieren, ja nicht einmal auf einer Zunft am Freitag Fisch zu essen oder im privaten Rahmen abweichende Meinungen zu äußern.44 Bezeichnend für die Intoleranz auf beiden Seiten ist der Fall von Marx Wehrli.45 Der Thurgauer Landweibel hatte sich auf der Reise zur Tagsatzung in Zürich am Wirtshaustisch auf eine Diskussion über das Abendmahl eingelassen. Empört über die Zürcher Lehre, die ein Gesprächspartner vertrat, verklagte er diesen bei der Tagsatzung als Gotteslästerer. Zurecht musste Zürich fürchten, sein Bürger würde wegen Ketzerei und Gotteslästerung hingerichtet. Die Inneren Orte hatten schon 1524 in Beckenried beschlossen, an ihrem Glauben festzuhalten und die „lutherische, zwinglische, hussische, irrige, verkehrte Lehre in allen unseren Gebieten und Herrschaften auszureuten, zu wehren, zu strafen und niederzudrücken, soweit es in unserem Vermögen steht“.46 Es gelang Zürich, seinen Bürger rechtzeitig zu warnen. Er mied die Innerern Orte. Wehrli aber verhafteten die Zürcher, als er durch ihr Gebiet zurückreiste, und enthaupteten ihn nach einem fragwürdigen Prozess im Mai 1528. Wer wie Marx Wehrli in Zürich Zwinglis und damit auch die Lehre des Rates kritisierte (und zudem im Thurgau die katholische Lehre tatkräftig verteidigte), kam vor Gericht. Zwingli hat in einem Brief an Oekolampad ausdrücklich erklärt, es sei verheerend, wenn in einem Staatswesen zweierlei Predigt geduldet werde,47
42 Tagsatzung vom 14. Dezember 1529, EA, Bd. IV–1b (1876), 464. Der Synodaleid ist abgedruckt bei Knittel, Reformation, 273 f. 43 RTA/JR, Bd. 3, Gotha 1901, 447–52. 44 Ratsbeschluss vom 16. Januar 1529, in: Egli, Nr. 1535. 45 Alle Nachweise zum Fall Wehrli: EA, Bd. IV–1a, 1312 und 1314 f. Wyss, Bernhard, Chronik, 93 f. Strickler, Bd. 1, Nr. 1970–1973. Vgl. Knittel, Reformation, S. 153–155. 46 Tag der fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug am 8. April 1524, EA, Bd. IV–1a (1873), 411. 47 Zwingli an Oekolampad, 3. Januar 1527, Opera, Z, Bd. 9, Ep. 569. Vgl. Christ-von Wedel, Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit, 241 f. und 270 f.
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Erasmus von Rotterdam ruft in Basel zur Gewissensfreiheit auf
eine Sicht, die nicht nur auch der ältere Luther vertrat,48 auch Oekolampad und seine Anhänger übernahmen sie in Basel mehr und mehr und konnten sich damit schließlich durchsetzten. Dass indessen auch im frühen 16. Jahrhundert Anderes denkbar und möglich war, hat Erasmus nicht nur behauptet. Es wurde nicht nur in Basel vor der eigentlichen Einführung der Reformation praktiziert. Ich beschränke mich auf Beispiele in der Eidgenossenschaft. Der damals noch mehrheitlich altgläubig gesinnte Schaffhauser Rat duldete 1525 nicht nur den Reformator Sebastian Hofmeister in der Stadt, er duldete auf seinem Gebiet auch Täufer, die aus dem Zürcher Gefängnis geflohen waren. Sie konnten in Hallau unangefochten eine bedeutende Gemeinde gründen. Erst ein Aufruhr der Rebleutezunft veranlasste den Rat, Hofmeister und die Täufer zu vertreiben.49 In Diessenhofen schrieb der Rat im Januar 1529 an Zürich, das die kleine Stadt mit ihrem wichtigen Rheinübergang zur Reformation drängte, sie wollten weiter bei ihrem „alten Herkommen“ bleiben. Sie erklärten: „Sie erkennen indessen wohl, dass einige Personen unter ihnen seien, welche das Gewissen anders leite; diese werden sie ungehindert und ungestraft dabei bleiben lassen, indem sie erachten, dass im Glauben niemand solle gedrängt werden; so haben sie auch bisher jedem die Freiheit gelassen.“50 Während Basel, Schaffhausen und Diessenhofen 1529 rein protestantische Städte wurden, konnte Glarus die Duldung beider Konfessionen trotz schwieriger Auseinandersetzungen, insbesondere während der Kappeler Kriege, auch in der Zeit des Konfessionalismus durchhalten.51 Ebenso ermöglichte in den eidgenössischen Gemeinen Herrschaften der zweite Landfrieden vom November 1531 ein mehr oder weniger friedliches Nebeneinander von Katholiken und Protestanten in vielen Dörfern und Städten. Die Kirchen wurden in der Regel gemeinsam benutzt. Einzelne paritätische Gemeinden feiern bis heute ihre Gottesdienste nacheinander im gleichen Gotteshaus. Eine Stadt wie Frauenfeld besetzte seit 1532 ihre politischen Gremien mit Vertretern beider Konfessionen. Das Schultheißenamt wechselte jährlich zwischen einem Protestanten und einem Katholiken. Nur in Kirchenfragen berieten Katholiken und Protestanten getrennt.52 In der Stadt Glarus verwalteten sie sogar die Kirchengüter gemeinsam.53
48 So in seiner Auslegung des 82. Psalms: Luther, Der LXXXII Psalm, in WA, Bd. 31–I, 189–218, bes. 209 f. 49 Egli, Nr. 674. Vgl. Wipf, Reformationsgeschichte, 149–155 und 185–201. Vgl. Christ-von Wedel, Äbtissin, Kapitel zu Schaffhausen und den Täufern. 50 Diessenhofen an Zürich, 15. Januar 1529, Strickler, Bd. 2, Nr. 15 (Rechtschreibung von mir angepasst). 51 Gottfried Heer beschrieb die Glarner Verhältnisse, soweit ich sehe, durchaus angemessen: Heer, Glarus, Bd. 1, bes. 19–142. 52 Leisi, Geschichte, 95 und Gnädiger / Spuhler, Frauenfeld, 15 f. 53 Heer, Reformationsgeschichte, 74.
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Christine Christ-von Wedel
Auch wo wie in Basel mit der Reformation die toleranten Mandate aufgehoben wurden, konnte eine Reformationsordnung, die Glaubensfreiheit kategorisch auszuschließen versuchte,54 eine praktische Toleranz nicht ganz unterdrücken. Trotz Verbots deckte die Bevölkerung immer wieder Täufer, nannte obrigkeitliche Vögte, die die Täufer verfolgten, Bluthunde und schmähte die Täuferpolitik als unrechtmäßig.55 Die Toleranzideen konnte der Rat nicht auslöschen. Bonifacius und Basilius Amerbach setzten sich in Theorie und Praxis für Toleranz in Basel ein.56 1540 erschien die Gesamtausgabe von Erasmus’ Werken und selbst auf dem Höhepunkt der Basler Orthodoxie machte sich der Chronist Christian Wursteisen die Mühe, Erasmus’ Gutachten zu kopieren. Publiziert war es schon zuvor in einem Raubdruck von 1526.57 Die Mandate des Rates dürften späteren Generationen außerhalb Basels kaum mehr bekannt gewesen sein. Aber Erasmus’ Aufrufe zu einem christlichen Skeptizismus, zur Duldung von Häretikern und auch zur Gewissensfreiheit waren im Druck erhältlich. Toleranzdenker wie Sebastian Franck und Sebastian Castellio haben Auszüge von Erasmus publiziert. Weitere Ideen von Erasmus fanden über Rabelais und Montaigne Eingang bei der französischen Elite, über die Remonstranten in den Niederlanden und über die ins Englische übersetzen Paraphrasen, die jede Parochie anschaffen musste, sogar den Weg in entlegene Kirchgemeinden Britanniens.58 Der Einsprache von Mario Turchetti zum Trotz halte ich es für durchaus lohnend, der Frage nachzugehen, ob sich eine Linie von ihnen bis zu den Autoren der Bill of rights und der Menschenrechtserklärung von 1789 nachzeichnen lässt.
Literatur Quellen Abschidt des Reichstags zu Speyer Anno M.D.XXVI gehalten, in:
54 Die Basler Reformationsordnung vom 1. April 1529, BRA, Bd. 3, Nr. 473. Vgl. Christ-Wedel, Erasmus: Porträt, 148. 55 Urfehde vom 1. März 1530, BRA, Bd. 4, Nr. 388, auch Urfehde vom 16. Februar 1531, BRA, Bd. 5 (1945), Nr. 130 und Bartlime Scheunenberg, vogt zuo Homburg, an bürgermeister und den rat der stadt Basel, 6. März 1531, ebd. Nr. 150. 56 Leider steht eine neuere ausführliche Würdigung aufgrund der 2010 abgeschlossenen Edition der Amerbachkorrespondenz noch aus. Vgl. den wertvollen Katalog von Jacob-Friesen (Hg. u. a.), Bonifacius Amerbach, bes. den Aufsatz von Beat Rudolf Jenny, Bonifacius Amerbach. Zu seinem Lebenslauf und zu seiner Persönlichkeit, S. 7–16, hier 14 und im Katalog Nr. 19, 60 f. 57 Vgl. Erasmus, Epistolae, hg. von Allen, Bd. 6, Vorbemerkung zu Ep. 1539. 58 Zur bedeutenden Nachwirkung von Erasmus vgl. Mansfield, Phoenix und ders., Man on his own; Flitner, Erasmus.
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Erasmus von Rotterdam ruft in Basel zur Gewissensfreiheit auf
Aulinger, Rosemarie (Hg.), DRTA.JR, Bd. 5/6: Der Reichstag zu Augsburg 1525. Der Reichstag zu Speyer 1526. Der Fürstentag zu Esslingen 1526, München 2011, S. 879–895, Nr. 221 (Reichsabschied von 1526). Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation, hg. von Emil Egli, Zürich 1879 [=Egli]. Actensammlung zur Schweizerischen Reformationsgeschichte in den Jahren 1521–1532, 2. Bde., hg. von Johannes Strickler, Zürich 1878–1879 [=Strickler]. Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, 6 Bde., hg. von Emil Dürr und Paul Roth, Basel 1921–1950 [=BRA]. Amtliche Sammlung der älteren eidgenössischen Abschiede, hg. auf Anordnung der Bundesbehörden unter der Direction des eidgenoessischen Archivars Jacob Kaiser u. a., Luzern u. a. 1839–1856, EA, Bd. IV–1a, Brugg 1873 und Bd. IV–1b, Zürich 1876 [=EA] Conciliorum oecumenicorum decreta, hg. von Josepho Alberigo u. a., Bologna 3 1973 (erstmals Wien 1962). Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe – Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Gotha seit 1893 (ND Göttingen 1962 ff.), Bad 2, Gotha 1896, Bd. 3, Gotha 1901 [=RTA.JR]. Erasmus von Rotterdam, Desiderii Erasmi Roterodami opera omnia, hg. von Johannes Clericus, Bd. I–X, Leiden 1703–1706 [=LB]. Desiderius Erasmus Roterodamus, Ausgewählte Werke, hg. von Hajo Holborn in Gemeinschaft mit Annemarie Holborn, München 1933. –, Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, Amsterdam seit 1969 [=ASD]. –, Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, hg. von Percy S. Allen, Bd. I – XII, Oxford 1906–1958 [=Allen]. Luther, Martin, D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883–2009 [=WA]. –, D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel, Weimar 1930–1985 [=WA Br.]. Thomas von Aquin, Summa theologiae, in: Opera omnia, hg. von Roberto Busa, Bd. 2, Stuttgart 1980. Wyss, Bernhard, Die Chronik des Bernhard Wyss, hg. von Georg Finsler, in: Quellen zur Schweizerischen Reformationsgeschichte I, Basel 1901. Zwingli, Ulrich, Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Bd. 1 – 21, in: Corpus Reformatorum, Berlin u. a. 1905–2015, Bd. 9, Leipzig 1925 [=Z].
Forschung Bauer, Thomas, Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islam, Berlin 2011. Bonjour, Edgar, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460–1960, Basel 19712 .
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Christine Christ-von Wedel
Brandi, Karl, Kaiser Karl V.: Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches, 2 Bde., Darmstadt 1961 und 1967. Christ-von Wedel, Christine, unter Mitarbeit von Irene Gysel, Jeanne Pestalozzi und Marlis Stähli, Die Äbtissin, der Söldnerführer und ihre Töchter: Katharina von Zimmern im politischen Spannungsfeld der Reformationszeit, Zürich 2019. –, Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit: Die frühe Reformationszeit in Basel, Basel 2017. –, Erasmus von Rotterdam: Ein Porträt, Basel2 2017. –, Die Nachwirkung des Neuen Testamentes von Erasmus in den reformatorischen Kirchen, in: Basel 1516: Erasmus’ Edition of the New Testament, hg. von Martin Wallraff, Silvana Seidel Menchi und Kaspar von Greyerz, Tübingen 2016. –, Erasmus of Rotterdam: Advocate of a New Christianity, Toronto 2013. –, Erasmus von Rotterdam zwischen den Glaubensparteien, in: Zwingliana 37 (2010), 21–39. –, Torheit und Häresie in: Religiöse Toleranz im Spiegel der Literatur: Eine Idee und ihre ästhetische Gestaltung, hg. von F. W. Springer und Alexander Fidora, Münster 2009. Flitner, Andreas, Erasmus im Urteil seiner Nachwelt. Das literarische Erasmus-Bild von Beatus Rhenanus bis zu Jean Leclerc, Tübingen 1952. Gnädiger, Beat/ Spuhler, Gregor, Frauenfeld: Geschichte einer Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Frauenfeld 1996. Heer, Friedrich, Die dritte Kraft: Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters, Frankfurt 1959. Heer, Gottfried, Geschichte des Landes Glarus, Bd. 1, Glarus 1898. –, Reformationsgeschichte der Kilchhöri Glarus, Glarus [1918]. Jacob-Friesen, Holger/ Jenny, Beat Rudolf/ Müller, Christian (Hg.) Bonifacius Amerbach 1495–1562: Zum 500. Geburtstag des Basler Juristen und Erben des Erasmus von Rotterdam, Basel 1995. Jedin, Hubert, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 1: Der Kampf um das Konzil, Freiburg 1949. Knittel, Alfred L., Die Reformation im Thurgau, Frauenfeld 1929. Kohler, Alfred, Karl V. 1500–1558: Eine Biographie, München3 2014. Krüger, Friedhelm, Art. „Gewissen im Mittelalter und in der Reformationszeit“, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 13 (1984), 219–225. Leisi, Ernst, Geschichte der Stadt Frauenfeld, Frauenfeld 1946. Mansfield, Bruce, Phoenix of his age : interpretations of Erasmus c. 1550–1750, Toronto 1979. –, Man on his own : interpretations of Erasmus c. 1750–1920, Toronto Press 1992. Turchetti, Mario, Une question mal posée: Érasme et la tolérance: L’idée de Sygkatabasis, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance, 53 (1991), 379–395. Wipf, Jakob, Reformationsgeschichte der Stadt und Landschaft Schaffhausen, Zürich 1929.
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Kilian Schindler
Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism Religious Toleration, Nicodemism, and Republicanism between Italy, Basel, and London The first Latin translation of Machiavelli’s Prince was printed in 1560 in Basel.1 This is a remarkable fact, given that the Swiss Confederacy had shown only little interest in Machiavelli by the mid-sixteenth century, let alone in his contribution to early modern republicanism.2 The Basel edition was the exclusive product of Italian refugees religionis causa, translated by Silvestro Tegli (1554–1573), from Foligno in Umbria, and printed by Pietro Perna (1522–1582), a native of Lucca and one of the most important mediators of Italian intellectual culture north of the Alps.3 That is to say, Tegli’s translation of The Prince is a typical product of sixteenth-century Basel as a major European centre of cultural exchange and, not least, an important bridge between Italy and England.4 By the end of the sixteenth century, Tegli’s translation had gone through eight editions and had made The Prince available to a learned readership all over Europe.5 Its importance in the early modern reception of Machiavelli is therefore not to be underestimated. The aim of this essay is to contextualise Tegli’s translation of The Prince from 1560 and its second edition from 1580 in the religious and political debates which occupied the Italian community in Basel during these years and to show how the experience of religious persecution and conflict shaped the reception of Machiavelli among Italian Protestants, who played such an important role in the dissemination of Machiavelli’s writings in Protestant Europe, especially in Basel and in England. In the first part of this essay, I will situate the publication of The Prince in 1560 in the
1 Tegli’s translation is thus one of the earliest translations of The Prince in any language, only preceded by the French translations by Gaspard d’Auvergne and Guillaume Cappel, both published in 1553. (Jacques de Vintimille’s translation, finished by 1546, was never printed). See Anglo: 2005, 192–201. For Vintimille in particular, see Bianchi Bensimon: 2010. 2 See Maissen: 2010a, 2010b. However, for Machiavelli’s great interest in the Swiss Confederacy, see Reinhardt: 1994, 1995. 3 On Perna, see Perini: 2002; Rotondò: 1974. 4 For the European significance of the printing industry in Basel, see Bietenholz: 1959, 1971a; Gilly: 1985. For the university’s international character and reputation in the sixteenth century, see Bonjour: 1960, 221–241. 5 See Gerber: 1962, 3:60–75. For the seventeenth century, Gerber’s bibliography is to be complemented with Bertelli and Innocenti: 1979.
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Kilian Schindler
community of Protestant religious refugees in Basel and Geneva and discuss their conflict with John Calvin, especially his endeavours to restrain anti-Trinitarian proselytising in Geneva during the 1550s. Furthermore, I will offer a fuller picture of the enigmatic Silvestro Tegli than has been available so far by drawing attention to some aspects of his biography which have received only little attention in previous scholarship, such as his relationship to the period’s most significant proponent of religious toleration, Sebastian Castellio. In a second step, I will discuss Tegli’s translation itself and show how questions of religious persecution, dissimulation, and perjury, which Calvin’s agitation against the anti-Trinitarians had raised, affect Tegli’s translation as well as its paratexts. Thirdly, I will question a critical commonplace established by Werner Kaegi’s seminal essay, “Machiavelli in Basel“ (1940), namely, that the printer and translator were guided by republican ideals in their decision to publish Machiavelli. Instead, I hope to offer a more nuanced account of the interrelations between religious and political aspects of Machiavelli’s reception among Italian Protestants. I will do so particularly with reference to the new edition of Tegli’s translation in 1580, which presented Machiavelli as a spokesman of a ‘politique’ approach to the French Wars of Religion in opposition to the revolutionary ideology of Calvinist resistance theorists. In the final part of the essay, however, I argue that republicanism was nonetheless a significant strain in Machiavelli’s reception among the Italian exiles, at least those who eventually migrated to England in the late sixteenth century. Numerous connections between the Italian communities of Basel and London, where most of Machiavelli’s works were printed in Italian editions in the 1580s, therefore offer a fascinating case study of the mediating role of Basel in the literary and intellectual exchange between Italy and England.
1.
The Italian Refugees, religionis causa
Little is known about Silvestro Tegli, whose only publication was his Latin translation of Machiavelli’s Prince.6 We find the earliest trace of him in 1549 in England, where he might have fled, like many Protestant Italians, for religious reasons. In Oxford, he was a house guest of Pietro Martire Vermigli (1499–1562), another exile from Italy, who had left Strasbourg for England at the invitation of Archbishop Cranmer (1489–1556) in 1547 and taken up the position of Regius Professor of Divinity at Oxford in the following year.7 Like Vermigli, Tegli probably left England after the accession of the Catholic Queen Mary in 1553. His presence is next attested 6 For brief surveys of Tegli’s biography, see Mahlmann-Bauer: 2013; Mordeglia: 2010. 7 Anderson: 1990, 184. See also Calvin’s letter to Vermigli (March 1559), in which the Genevan reformer alludes to Tegli’s stay in England (CO 17:468). CO = Joannis Calvini opera quae supersunt omnia, ed.
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
in Geneva, where he was registered as ‘habitant’ on 10 December 1554 and soon learned that religious intolerance was not only to be found in the Church of Rome.8 Before Machiavelli’s name was associated with the atrocities of the St Bartholomew’s Day’s Massacre in 1572, a number of his Protestant readers had approvingly registered the Florentine’s unflattering observations on the Church of Rome from the 1530s onwards.9 Matthias Flacius (1520–1575), for instance, praises Machiavelli in his Catalogus testium veritatis (Basel 1556) because “he often shows clearly in his history that many evils and wars have befallen Christianity because of the ambition and cruelty of the popes.”10 However, some Italian Protestants, including Tegli, experienced persecution not only in their Catholic homeland, but also in exile, especially in Calvin’s Geneva. Machiavelli’s anti-clericalism might therefore also have been attractive to those who felt that Calvin, as a clergyman, had acquired too much influence over secular jurisdiction in Geneva and begun to imitate the alleged tyranny of the Church of Rome. Thus, Tegli left Geneva in 1558 in the wake of Calvin’s endeavour to weed out the anti-Trinitarian tendencies that had taken root in the Italian community in Geneva.11 In the dedicatory epistle to The Prince, Tegli gives the following account of Calvin’s efforts: For in that time, we had experienced the gravest injuries at the hands of a most unpleasant man, as impure as sycophantic, a bastard, whom the earth has lately regurgitated like foul and rotten food: He passes judgement on capital crimes, and lately, also a sacred society of excellent men has suffered from this destroyer.12
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Edouard Cunitz, Johann-Wilhelm Baum, and Eduard Wilhelm Eugen Reuss, 59 vol., Braunschweig/ Berlin, 1863–1900. Geisendorf (ed.), Livre des habitants: 1957–63, 1:43. For Protestant, anti-clerical readings of Machiavelli, see Zwierlein: 2018, 348–53. For the early diffusion of Machiavelli’s writings among reform-minded Italians in the Veneto, with whom Perna was well-connected, see further Perini: 1969, 880–902. “Is in sua historia saepe clare ostendit, ex ambitione et crudelitate pontificum, pleraque mala ac bella Christianis prouenisse” (Flacius, Catalogus 993). In this essay, I cite from modern English editions, whenever available. When translations are my own, the original passages are provided in footnotes. For the Italian anti-Trinitarian movement in Geneva more generally, see Rotondò: 1974; Williams: 1992, 943–972; McLelland: 2009. “Grauissimis enim iniuriis fueramus eo tempore affecti ab ingratissimo, simul ac impurissimo quodam sycophanta, quem spurium terra nuper tanquam putrem, ac pestilentem cibum euomuit: capitalium rerum iudicium, inter facinorosos aluit: postremis his temporibus, praestantium uirorum sacra quaedam societas, passa est euersorem” (Princeps, 1560, Tegli, dedicatory epistle *3v). The identification of Calvin with the “sycophanta” in this passage was first proposed by Leandro Perini: 1969, 905.
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The Genevan reformer had played a key role in the trial and condemnation of the Spanish anti-Trinitarian Michel Servet, who was burned outside Geneva on 27 October 1553. The event triggered a long-lasting debate on religious toleration in the Protestant cantons that led to the publication of the anthology De haereticis an sint persequendi (1554) by Sebastian Castellio, who accused Calvin of having usurped Genevan jurisdiction in order to get rid of his troublesome opponent. The burning of Servet also shocked the Italian refugees, many of whom entertained, more or less openly, anti-Trinitarian opinions, as is evident in the Apologia pro Michaele Servete (1556), commonly ascribed to the anti-Trinitarian Matteo Gribaldi.13 Like Castellio, Gribaldi criticised procedural aspects of Servet’s trial and accused Calvin of pursuing a private vendetta under the cover of religious zeal and public duty.14 The claim that Calvin imitated the Pope and turned Geneva into another Rome with his alleged ambition to subject secular authority to his own interests may thus well have given an additional edge to Machiavelli’s anti-clericalism and his dissection of hypocritical piety when Tegli’s translation was published in 1560.15 The recently dissolved “sacred society of excellent men” mentioned by Tegli brings us even closer to our translator’s own past, namely, to Calvin’s efforts in 1558 to dismantle the anti-Trinitarian movement in Geneva for good.16 Gribaldi had already been banished from Geneva after an abortive disputation against Calvin in 1555.17 However, the gravest blow against Servet’s intellectual heirs followed three years later. On 16 May 1558, Calvin was authorised by the Petit Conseil to impose an orthodox confession of faith on the Italian congregation in Geneva in order to put an end to anti-Trinitarian speculations.18 Two days later, the Italians were summoned before the consistory. Gian Paolo Alciati (1515–1573) persuaded five
13 The text of the Apologia is printed in CO 15:52–63. For an English translation, see Gribaldi: 1965. Gribaldi’s authorship has been convincingly demonstrated by Williams: 1992, 356–359; Plath: 1969; Plath: 2014, 183–189; Gilly: 1985, 298–304. As Carlos Gilly has shown, Gribaldi probably dictated the manuscript to his student Celio Agostino Curione, the son of Celio Secondo Curione, whose writings are also cited in Castellio’s De haereticis. Further anti-Trinitarian responses to the burning of Servet were brought to light in Lausanne in the aftermath of the Bollwyler conspiracy in February 1558, an attempt to foment an uprising in Bordeaux on behalf of Spain, for which a number of pamphlets were printed in Basel at the instigation of Spanish agents (Bietenholz: 1971a, 113 f.). These “verses pour Servet” are reprinted in Dufour: 1961 and will be discussed in more detail below. 14 CO 15:56, 61 f. 15 For Castellio’s paralleling of Calvin with the Pope, see Schindler: 2018, 217–222. The same accusation is frequently made in the “verses pour Servet” discovered in Lausanne in 1558. I will discuss the question of their authorship (probably Curione) in more detail in the third section of this study. 16 For the following events, see Williams: 1992, 974–978, and, more extensively, Fazy: 1878. 17 Williams: 1992, 952. 18 For the text of the confession, see CO 9:385–388.
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
others, including Tegli, not to sign the confession. However, under the threat of banishment, all of them had given in by 23 May, with the exception of Alciati himself. Another anti-Trinitarian spokesman, Valentino Gentile (1520–1566), who had excused himself on 18 May with reference to his supposedly bad health, eventually signed as well. Alciati subsequently left Geneva, just as another anti-Trinitarian spokesman, Giorgio Biandrata (1510–1588), had already done, even before Calvin had summoned the Italian congregation.19 Gentile and Nicola Gallo, however, who had initially signed Calvin’s confession, remained in Geneva and continued to voice their heterodox opinions in secret until they were denounced by one Alexandre Guyottin and faced the death penalty.20 Remarkably, Gentile requested the highly respected Pietro Martire Vermigli as a theological advisor in his process.21 Apparently, Tegli’s former host in Oxford was not only highly regarded by Calvin but also by his anti-Trinitarian opponents.22 Eventually, Gallo and Gentile escaped Servet’s fate (for the time being), possibly also through the efforts of the lawyer Nicolao Liena, another emigré form Lucca, who appealed to the council of Geneva with a plea for clemency.23 It was only in 1566 that Gentile was eventually executed in Bern for his anti-Trinitarian beliefs. In the dedicatory epistle to The Prince, Tegli clearly comments on the tempestuous events in Geneva in 1558 and even mentions some of the protagonists by name. Nicolao Liena, who had intervened on Gentile’s behalf, is praised as a grave man of great integrity, and Nicola Gallo, who had been denounced together with Gentile and lived with Tegli in Geneva, is praised as “modestus ac laudatus iuvenis.”24 Notably, Castellio likewise mentions Gallo in his Defensio (1558) against Calvin in an acerbic attack on the Genevan reformer: “Did you not accuse a young nobleman,
19 Fazy: 1878, 4. 20 Mordeglia has suggested that the object of Tegli’s tirade was indeed not Calvin but Guyottin (2010: 66). However, this seems unlikely, considering that Tegli speaks not only of two people, but of a “societas,” and writes in the first person plural. By the time that Guyottin denounced Gallo and Gentile, however, Tegli had already left Geneva, which suggests that Tegli rather referred to the incident in May, which had led to the exodus of a number of Italians from Geneva, including Tegli himself. 21 Fazy: 1878, 16. 22 It seems that anti-Trinitarians believed Vermigli’s writings to support their tenets. To Vermigli’s great dismay, he was cited by the anti-Trinitarian representatives at the synod of Pinczow, Poland, in 1559 (McLelland 2009: 154 f.). 23 For Liena, see Adorni-Braccesi: 1997, 34; Mordeglia: 2010, 66; Ragagli, art. “Liena, Nicolao,” Dizionario biografico degli Italiani Bd. 65 (2005), online. The text of his appeal is printed in CO 17: 285–287. 24 “uir ille, omnibus in rebus (ut nosti) integer, & grauis” (Princeps, 1560, Tegli, dedicatory epistle *2v, *3v).
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Nicola Gallo from Sardinia, of a capital crime yourself?”25 Castellio and Tegli were evidently unanimous in condemning Calvin’s willingness to resort to secular jurisdiction in order to maintain purity of worship in Geneva. After his arrival in Basel, Tegli is soon to be found in the milieu that was responsible for the sustained critique of Calvin’s persecutory policies. He first stayed with Celio Secondo Curione (1503–1569), a contributor to Castellio’s anthology, who is the object of a warm encomium in the dedicatory epistle to The Prince.26 The book’s actual dedicatee, however, is Abraham Zbaski (1531–1577), a young Polish nobleman, who would eventually become a contender for the throne of Poland-Lithuana in the 1572–1573 interregnum. Zbaski had temporarily stayed with Tegli in Geneva in 1558 and had been a student of Curione in Basel in the early 1550s, where he also conversed with other Italian refugees, such as Bernardino Ochino (1487–1564) and Lelio Sozzini (1525–1562).27 Curione himself dedicated a commentary on Juvenal to Zbaski in 1551. Moreover, Zbaski and his uncle, Jan Lutomirski, introduced Curione’s De amplitudine beati regni Dei (1554) to the Polish monarch Sigismund II Augustus, who favourably received the dedication of Curione’s theological magnum opus. Hence, it may well have been Curione who proposed the dedication of The Prince to Zbaski.28 As Tegli’s dedication of The Prince to a Polish aristocrat further suggests, he too may have considered emigrating eastwards, just as other anti-Trinitarians in Geneva, such as Alciati and Biandrata, eventually did.29 While Tegli’s critique of Calvin in the dedicatory epistle echoes Castellio’s condemnation of the treatment of Gentile and Gallo in Geneva, he has much less to say about his own conduct in the affair, which has not received much attention in previous scholarship either. Apparently, Tegli left Geneva for Thonon-les-Bains (Bernese territory at the time) soon after the confrontation with Calvin in May 1558, as we learn from a letter that he sent to Calvin three months later.30 As Tegli writes to Calvin, he heard that in the wake of the trial of Gentile and Gallo, his previous retreat from Geneva raised suspicions concerning his own beliefs. Tegli
25 “Nonne in Nicolaum Gallum e Sardinia nobilem adolescentem accusationem ipse instituisti capitalem?” (qtd. in Guggisberg: 1967, 189). The passage was not included in the version that Perna eventually printed with the Dialogi quatuor in 1578. It is possible that Gallo likewise fled to Basel or at least made contacts in the heterodox milieu there. As a letter by Giovanni Bernardino Bonifacio to Castellio from 30 June 1561 suggests, Gallo had befriended both Bonifacio and Castellio by then. See Spini: 1951, 169 f. 26 Notably, Curione was also responsible for the Latin translation of Guicciardini’s Storia d’Italia (1566), likewise published by Perna. 27 For Zbaski, see Kot: 1942, 112–118; Barycz: 1964, 79–81. 28 See Kaegi: 1940, 9; Mordeglia: 2010, 67 f. 29 For Basel as an important centre of transfer between Italy and Eastern Europe, see also Kot: 1942; Cantimori: 1949; Bernhard: 2014. 30 Tegli to Calvin, August 1558, CO 17:69–271.
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
tried to allay these suspicions by sending Calvin once more a copy of the confession of faith that he had already signed in May and subsequently seems to have returned to Geneva. However, he did not entirely succeed in clearing his name, as can be gathered from Calvin’s letter to Vermigli from March 1559.31 Calvin reports that Tegli had shown many signs of his sympathy for the anti-Trinitarian heresy of Giorgio Biandrata. In fact, as Calvin had written to Galeazzo Caracciolo already in July 1558, Tegli had been summoned to appear before the consistory in the illustrious company of “Misser Georges [Biandrata]” and “Mr . Iehan Paul [Alciati]” even before the whole congregation was summoned on 18 May.32 Tegli may thus well have played a greater role in the Italian anti-Trinitarian movement in Geneva than has been recognised before. If Tegli tried to keep a low profile in the aftermath of Gentile’s and Gallo’s trial, he failed. He became involved in yet another scandal, which sheds further light on his eventual departure from Geneva. As Calvin goes on to report in his letter to Vermigli, a catechist called Simon accused Tegli of “perfidia” (perhaps because his abjuration of his anti-Trinitarian beliefs was as insincere as that of Gallo and Gentile?).33 Tegli retaliated in truly “Machiavellian” fashion by accusing the catechist in turn of an abominable crime (“foedissimum et nefandum crimen”), an unspecified, shameful act (“flagitium”). However, when it was discovered that Tegli had urged the boys (“pueri”) to bear false witness, he took flight (“aufugit”).34 When exactly these events unfolded is not clear. However, they must have occurred before Tegli matriculated at the University of Basel during the academic year 1558/59 (i. e. between 1 May 1558 and 30 April 1559).35 Whether Tegli discretely held on to his anti-Trinitarian beliefs or whether he should be classified as an “ex antitrinitario,” as Antonio Rotondò believes, is not entirely clear either.36 At any rate, suspicions did not cease in the following years, even though Tegli enjoyed the favour of influential supporters, as is illustrated by the following episode, which seems to have been overlooked in previous scholarship on Tegli. In 1558, and again in 1562, Nikolaus Zurkinden (1506–1588), secretary of the council of Bern, eagerly promoted Castellio as a candidate for a professorship at
31 Calvin to Vermigli, March 1559, CO 17:468 f. 32 Calvin to Caracciolo, July 1558, CO 17:256 f. 33 Calvin to Vermigli, March 1559, CO 17:468 f. The editors of the Opera Calvini identify the catechist as Simone Simoni, another exile from Luca, who later fell into suspicion of holding anti-Trinitarian views himself (CO 17:469 n.5). However, Simoni arrived in Geneva only in 1565. See Madonia: 1980, 163. 34 In Geneva, sodomy was punished with death by fire, the same fate that lay in store for unrepentant anti-Trinitarians. See Monter: 1974. 35 Wackernagel et al. (ed.), Matrikel 2:117. 36 1974, 60.
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the Academy of Lausanne.37 However, the attempt to secure a position for Castellio in Lausanne failed in early 1562. As Zurkinden wrote to Castellio in a letter from 20 January, rumours had reached Bern that Castellio had been spreading his poison in Lyon, where the views of the Anabaptist leader David Joris (c. 1500–1556), Castellio’s collaborator on De haereticis an sint persequendi, were allegedly gaining a foothold.38 Castellio’s candidature thus suddenly became hopeless. Instead, Tegli stepped forward and persuaded Simon Sulzer (1508–1585), the antistes of the Church of Basel, to write to Wolfgang Musculus (1497–1563) in Bern and to recommend him for a position in Lausanne. In this letter (dated 10 May 1562), Sulzer characterises Tegli as a moderate man, who has never drawn attention to himself through controversial doctrinal opinions or any other misconduct, despite Calvin’s suspicions.39 However, while Castellio’s star was on the rise again in August, Sulzer’s efforts on behalf of Tegli proved fruitless. On 4 August 1562, Zurkinden invited Castellio to come to Bern and to present himself before the council. In the same letter, however, he also mentions that Tegli could not hope for employment at the academy, citing the latter’s deficient knowledge of French and lingering suspicions concerning his religious views.40 Tegli’s candidature can hardly have been facilitated by the attention that had been given to heterodoxy in the case of Castellio, who still faced, despite Zurkinden’s support, substantial resistance in Bern. On 15 August 1562, the agitated Johann Haller (1534–1575) wrote to Bullinger in Zurich that Castellio had arrived in Bern on the previous day and been appointed as a professor at the Lausanne academy without prior consultation of the Bernese theologians.41 Haller asked Bullinger for compromising evidence against Castellio in order to launch a smear campaign against the newly appointed professor, and Bullinger complied. In his reply, Bullinger wrote that the best tactic to stall the appointment would be to ask Castellio for a confession of faith, and he also indicated a number of problem areas in this regard. Bullinger suspected Castellio of Nicodemism (“allerley seltzamer meinungen im busen verborgen tragend”), including unorthodox views on the Trinity, and reported a rumour that Castellio had undergone rebaptism: “[Pier Paolo Vergerio]
37 For an account of the affair, see Bähler: 1911–1912, 314–323. The correspondence between Castellio and Zurkinden in this matter is reprinted in Buisson: 1892, 2:401–406. For the correspondence of Bullinger, Vermigli, Haller, and Calvin on the subject, see CO 19: 235, 243–245, 253, 293, 303 f., 368. See also Calvin’s complaint to Zurkinden about the latter’s promotion of Castellio’s cause (CO 17: 464–467), which Bähler dates to spring 1562 (1911–12, 266–268). 38 Buisson: 1892, 2:402. 39 Sulzer to Musculus, 10 May 1562, CO 19:405 f. 40 Tegli himself had admitted his ignorance of French in his letter to Calvin from July 1558 (CO 17:269), despite his years of living in in Geneva. 41 CO 19: 496 f.
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
kenne einen der sich geruomt er habe mit siner hand den Castalio wider getoufft.”42 In the end, however, a pay raise for Castellio, who was already professor of Greek in Basel, made further action redundant.43 As the correspondence concerning Castellio’s possible employment in Lausanne reveals, he and Tegli remained untenable outside Basel after their clash with Calvinist orthodoxy in the 1550s. Moreover, as Zurkinden’s comments on Tegli suggest, not only Sulzer but also Castellio may have written to Bern on behalf of Tegli.44 Zurkinden concludes his letter (4 August 1562) by assuring Castellio that he would not let Tegli down if an opportunity should arise and if Castellio could vouch for the man’s integrity.45 However, such an opportunity evidently never presented itself. Nonetheless, the episode is of further interest for Castellio’s as well as Tegli’s biographers. Thus, the implied familiarity between the two men arguably strengthens Bruno Becker’s suggestion that the friend identified as “S.T.”, who was allegedly involved in the composition of Castellio’s An possit homo per spiritum sanctum perfecte obedire legi Dei (1562), may have been Tegli.46 Tegli’s presence is next documented in Lyon in 1567, from where he wrote a letter to Giovanni Bernardino Bonifacio (who presentend a copy of De haereticis an sint persequendi to his ‘patronus’ Bonifacius Amerbach)47 , asking his friend to obtain the permission for his return to Basel. Tegli was back in Basel in the following year. Even though he is not known from any other publication than the translation of The Prince, Pierre de la Ramée (1515–1572) claims in his Oratio de Basilea (1571), after mentioning the translation of The Prince, that Tegli was “labouring daily to erect greater monuments to his own name.”48 In the absence of any other known major literary activities on Tegli’s part, this may perhaps have 42 Bullinger to Haller, CO 19:503. Bullinger’s German letter is undated (the editors suggest August 1562). Vermigli echoed Bullinger’s advice that Castellio should be questioned on his beliefs, but unlike Bullinger, who insisted that Castellio should be questioned “in causa Trinitatis” (CO 19:504), Vermigli only focused on Castellio’s views on predestination (Vermigli to Bullinger, August 1562, CO 19:505), perhaps again a sign of Vermigli’s diplomatic attitude towards anti-Trinitarian dissent. Moreover, Castellio’s heterodox views on predestination were known well enough and not necessarily a liability in Bern, as Haller had already told Bullinger (CO 19:496). This suggests that Vermigli was a rather lukewarm participant in the intrigue. 43 Bähler: 1911–12, 322. 44 In early 1558, Castellio had apparently done the same for one Girolamo [Zanchi?], yet another refugee from Lucca and the son-in-law of Curione. See Buisson: 1892, 2:392. 45 The letter is printed in Buisson: 1892, 2:403–05. 46 Becker: 1952–53, 128n.3. 47 Plath: 2018; Welti: 1976, 89 f. On the question of Bonifacio’s financial contribution to the printing of De haereticis an sint persequendi, see Welti: 1969. Plath (2018) has shown that this would have been highly improbable, for the Marchese d’Oria did not arrive in Basel before 1557. 48 “Teglius Machiavelli principem latine loquentem fecit, majoraque nominis sui monimenta quotidie molitur” (54).
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been a translation of further works by Machiavelli, and there is indeed reason to believe that Perna had commissioned Tegli to undertake such an endeavour. In May 1571, Tegli transcribed Sebastian Castellio’s Dialogi quatuor, possibly in order to prepare an edition for Perna’s press, which only appeared in 1578.49 The last page of the manuscript in question (Universitätsbibliothek Basel, Jorislade XVI) also contains Italian expressions from The Art of War and the Discourses, as well as their Latin translation, which suggests that Tegli may have started working on additional Machiavelli translations.50 However, if this was the case, Tegli’s project was cut short by his death in 1573. His library, including the manuscript of the Dialogi quatuor, passed into the hands of Perna as payment for Tegli’s debts to the printer.51 His widow joined Giorgio Biandrata in Transylvania, which suggests that Tegli had indeed not cut all ties with his anti-Trinitarian past.
2.
Silvestro Tegli’s Translation of Machiavelli’s Prince
The interest in Machiavelli among the Italian exiles is not self-evident, and neither is there an immediate, obvious connection between The Prince and the anti-Calvinist polemic of the dedicatory epistle. The Florentine secretary was hardly an apostle of toleration. Machiavelli’s argumentation that Christian virtues can and must be ignored, if political necessity requires doing so, is difficult to reconcile with the Christo-centric plea for toleration that Calvin’s nemesis, Sebastian Castellio, propagated in Basel in the tradition of Erasmus. Moreover, there is no space for competing truth claims in Machiavelli’s political conception of religion. As Machiavelli argues in the Discourses, “[t]hose princes or those republics that wish to maintain themselves uncorrupt have above everything else to maintain the ceremonies of their religion uncorrupt and hold them always in veneration; for one can have no greater indication of the ruin of a province than to see the divine cult disdained.”52 In turn, Machiavelli declares in The Prince that reform movements can only succeed with
49 For the circumstances of the publication of the Dialogi quatuor, see Guggisberg: 1967; MahlmannBauer: 2009. I will discuss Perna’s long-standing plans for a complete Latin edition of Machiavelli’s works in more detail in section 4 of this essay. 50 Gilly: 1998, 158n.33. 51 Guggisberg: 1967, 200. 52 Discourses, 1996, book 1, ch. 12, 36. English references to the Discourses are to the edition by Mansfield and Tarcov: 1996. English references to The Prince are to the edition by Skinner and Price: 2017, and Italian references are generally to the critical edition by Martelli and Marcelli: 2006. All citations from Machiavelli’s works, including critical editions as well as early modern editions and their paratexts, will be identified with reference to the year of publication and, in the case of the two issues of the Latin edition of the Prince from 1580, the VD16 number (Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts).
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
the backing of political power. In chapter 6, “New principalities acquired by one’s own arms and ability,” he cites a number of examples, including Moses, Cyrus, Romulus, and Theseus, and comes to the following conclusion: Consequently, all armed prophets succeed whereas unarmed prophets fail. This happens because, apart from the factors already mentioned, the people are fickle; it is easy to persuade them about something, but difficult to keep them persuaded. Hence, when they no longer believe in you and your schemes, you must be able to force them to believe.53
Machiavelli illustrates his conclusion with the example of the Florentine prophet and proto-reformer Girolamo Savonarola, “who perished together with his new order as soon as the masses began to lose faith in him; and lacked the means of keeping the support of those who had believed in him, as well as of making those who had never had any faith in him believe.”54 Of course, Machiavelli has in mind more than just religious reform, but from a post-Reformation perspective, the passage hardly recommends a renunciation of religious violence. However, as I argue in the following, Tegli was sensitive to such issues. Even more, his translation, especially his deviations from the original text, can be characterised as an ideological rewriting of The Prince in light of the conflict between Calvin and the Italian exiles.55 I begin with the example from chapter 6, which I have just cited above, and its implications for the interplay of political and spiritual authority. Arguably most prominent among Machiavelli’s examples for successful reformers is Moses. As Machiavelli observes, the Old Testament prophet seized a golden opportunity when he “found the people of Israel in Egypt, enslaved and oppressed by the Egyptians, so that they would be disposed to follow him.”56 In chapter 26, his “Exhortation to liberate Italy from the barbarian yoke,” Machiavelli likewise alludes to Exodus as a model for Italian liberation: “in order for the valour and worth of an Italian spirit to be recognized, Italy had to be reduced to the desperate straits in which it now finds itself: more enslaved than the Hebrews.”57 The prominence of Moses is indicative of Machiavelli’s general tendency to describe political action in religious language, as when he observes that “recently a spark was revealed in one man that might have led one to think that he was ordained by God to achieve [Italy’s] redemption
53 The Prince, 2017, 21. 54 The Prince, 2017, 21. 55 The most detailed study of Tegli’s translation is to be found in Perini: 1969, who offers a comprehensive overview of Tegli’s stylistic and lexical choices, as well as of his deviations from the source text. I will not discuss all aspects of the translation, but mainly draw attention to those aspects that seem particularly pertinent to the conflict between Calvin and the Italian anti-Trinitarians. 56 The Prince, 2017, 20. 57 The Prince, 2017, 88.
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[redenzione].”58 This sacralised language of political action is significant, for just as religious reform requires political backing, Machiavelli postulates in the Discourses that any major political rupture must have recourse to religion as a legitimising principle: “And truly there was never any orderer of extraordinary laws for a people who did not have recourse to God, because otherwise they would not have been accepted.”59 Exodus also enjoyed great prominence in the religious and political imagination of Italian Protestantism.60 In a Protestant context, Machiavelli’s Mosaic discourse of reform and his critique of the papacy, which he viewed as a substantial impediment to Italian unification and independence, might thus have lent themselves readily to buttress a philo-Protestant revolution.61 Such a religio-political revolt was attempted in 1546 by the Luccan Gonfaloniere di Giustizia Francesco Burlamacchi (1498–1548), whose uncle had been a fervent disciple of Savonarola.62 However, not all Italian Protestants endorsed such a call to action, which inevitably involved some degree of violence and coercion in Machiavelli’s eyes.63 A case in point is Bernardino Ochino, another radical in the Castellio circle and erstwhile star preacher in Italy, who knew the religious and political developments in Tuscany from first-hand experience until he fled from Italy with Vermigli in 1542. In his Dialogi triginta (1563), Ochino argues that the kingdom of Christ must be advanced with spiritual weapons. In contrast with The Prince, Exodus does not serve as a blueprint for political action for Ochino. The divine licence for the Jews to conquer and defend Canaan with worldly weapons has been superseded by the Gospel and no longer applies to the Protestants living under the yoke of the Papacy. Huguenot resistance, in Ochino’s view, is a regression into Judaism.64 In Tegli’s version of chapter 6 of The Prince, similar concerns might be responsible for a brilliant mistranslation, to which Leandro Perini has drawn attention.65 Machiavelli’s conclusion that only armed prophets succeed, “Di qui nacque che
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The Prince, 2017, 88. Discourses, 1996, book 1, ch. 11, 35. Perini: 2002, 49; Perini 1969, 878 f. Discourses, 1996, book 1, ch. 12. For an account of Burlamacchi’s revolution in the context of the Protestant tendencies in Lucca and his affinities with Machiavellian ideas, see Adorni-Braccesi: 1994, 161–190. For an English account of his career, see also Hewlett: 2008. 63 Cf. Discourses: “And whoever reads the Bible judiciously will see that since he wished his laws and his orders to go forward, Moses was forced to kill infinite men who, moved by nothing other than envy, were opposed to his plans. Friar Girolamo Savonarola knew this necessity very well” (1996, book 3, ch. 30, 280). 64 Ochino, Dialogi triginta, book 2, dialogue 26, “De ratione extruendi regni Christi, & destruendi Antichristi” 317 f. 65 Perini: 1969, 911.
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tutti e’ profeti armati vinsono e li disarmati ruinorono,”66 is translated as “Hinc factum est, quos praediximus armis instructos, eos omnes victoriam reportasse. Porro inermes, domitos periisse.”67 Even though the context of Savonarola makes clear that “profeti” is to be translated as “prophets,” Tegli reads it as a past participle: “Hence, all those whom we have mentioned before and who were equipped with weapons were victorious, while those who were unarmed were vanquished and perished.” While the French translator Gaspard d’Auvergne, for instance, amplifies the religious dimension of Machiavelli’s argumentation at this point in a manner that might easily be applied to the religious conflicts of post-Reformation Europe, Tegli does the opposite.68 By suppressing the reference to Machiavelli’s “prophets,” Tegli severs, like Ochino, Machiavelli’s close association of religious reform and political upheaval. However, the most incisive changes and omissions in Tegli’s translation occur in the controversial chapter 18, “How rulers should keep their promises.” Three major tendencies can be discerned, which I will briefly illustrate with some conspicuous examples. First, Tegli entirely suppresses Machiavelli’s central argument, namely, that perjury is a justifiable, even necessary, political course of action. Whereas Machiavelli argues that “a prudent ruler cannot keep his word, nor should he, when such fidelity would damage him,”69 Tegli insists that “a wise prince must avoid promises if he foresees that they will stand in the way of his own interests.”70 Moreover, Tegli is clear that no political advantage can be gained from breaking one’s word. Thus, he entirely omits Machiavelli’s observation “that in our times the rulers who have done great things are those who have set little store by keeping their word, being skilful rather in cunningly deceiving men; they have got the better of those who have relied on being trustworthy.”71 Tegli likewise fails to reproduce Machiavelli’s more general justification of dissimulation and omits the Florentine’s claim that “to seem merciful, trustworthy, humane, upright and devout”
66 Il principe, 2006, 119. 67 Princeps, 1560, 31. 68 Note d’Auvergne’s reference to Biblical proof in addition to Machiavelli’s classical precedents, as well as his invocation of “preaching,” “reformations,” “martyrdom,” and “new doctrine,” which are absent in the original Italian: “Et qu’ainsi soit, il appert par la saincte histoire de la Bible, tous les Prophetes qui ont eu puissance de contraindre, estre venus au dessus de leurs reformations. Et les autres, qui n’estoient garnis que de la simple parolle, & predication, auoir esté martirizez & banniz, par ce qu’oultre ce, que i’ay desia dit, la nature du peuple est variable, & fort facile à se persuader du commencement quelque nouuelle doctrine…” (Le prince, 1572, 650 f.). 69 The Prince, 2017, 61. 70 “Princeps propterea qui sapientia sit praeditus, debet ea promissa vitare, quae suis commodis contraria fore videt” (Princeps, 1560, 111). 71 The Prince, 2017, 61.
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is more important than actually to be so.72 Whereas Machiavelli argues that it is not necessary to possess the conventional princely virtues, Tegli simply states that it is not necessary to display them.73 Secondly, Tegli generally suppresses, or at least limits, Machiavelli’s tendencies towards reason of state and his justification of necessary evil. While Machiavelli declares that a prince must “be capable of entering upon the path of wrongdoing when this becomes necessary,”74 Tegli insists that the prince “should not deviate from the good, but should be instructed, if the need arises, how to ward off evil.”75 This brings us to the third point, namely, that Tegli tends to transform Machiavelli’s active advice into passive advice. Machiavelli states that for a ruler who “contrives to conquer, and to preserve the state, the means will always be judged to be honourable and be praised by everyone”.76 In contrast, Tegli stresses self-defence rather than military expansion: “A prince may protect his own life and preserve the state.”77 As already noted, Tegli similarly qualifies Machiavelli’s notorious license for breaking promises by stating that princes should not break their word, but avoid disadvantageous promises, just as they should ward off, and not commit, evil deeds. Machiavelli’s moral latitude is, of course, conditioned by his acute awareness of the vulnerability of the aspiring prince in a fallen and wicked world: “This advice would not be sound if all men were upright; but because they are treacherous and would not keep their promises to you, you should not consider yourself bound to keep your promises to them.”78 However, while Tegli reproduces Machiavelli’s observation that men are evil and treacherous, he does not accept the conclusion that one may retaliate in kind. Instead, he observes that “one will have to elude their wickedness and perfidy carefully.”79 In the same vein, Tegli further adds that one has to beware of dissemblers and to frustrate their cunning (artificium) skillfully
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The Prince, 2017, 62. Princeps, 1560, 113. The Prince, 2017, 62. “…ab eo, quod bonum est, ne discedat: at si necessitas vrgeat, edoctus sit, & malum auertere” (Princeps, 1560, 113). The Prince, 2017, 63. “Vitam igitur princeps tueatur, curetque imperium conseruare” (Princeps, 1560, 114). Remarkably, Justus Lipsius similarly restricted the sphere of reason of state to self-preservation some thirty years later in his Politicorum sive civilis doctrinae libri sex (1589). At the end of book four, in which Lipsius observes that “[s]ome kinde of persons rage too much against Machiauell” (114), he concludes that “the Prince in desperat matters, should alwaies follow that which were most necessarie to be effected, not that which is honest in speech. Then I say, let him decline gently from the lawes, yet not except it be for his own conseruation, but neuer to inlarge his estate” (123). The Prince, 2017, 62. “[…] verum cum improbi sint, diligenter eorum improbitas perfidiaque erit eludenda“ (Princeps, 1560, 111).
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(arte).80 There is an ‘ars’ in Tegli’s version of The Prince, which is not the art of government, but rather the art of survival and self-preservation. In conclusion, Tegli adopts the perspective of the subject rather than the perspective of the ruler in his translation of chapter 18. His repeated emphasis on the need to flee from evil and to avoid disadvantageous promises is mostly impractical for holders of political office. Far from advocating immoral methods of government, Tegli’s version might be better characterised as an anatomy of tyranny that is supposed to enable its subjects to protect themselves against it. Tegli thus develops an interpretation of The Prince that is already adumbrated in the preface to the ‘Giunta edition’ from 1532, in which Machiavelli is compared to the teachers of medicine, who also teach the knowledge of poison, not in order to use it, but in order to recognise it as such.81 Tegli makes a similar distinction between doing evil and knowing evil in his dedicatory epistle: “The knowledge of evil is not evil as such, only the desire of evil and the deed itself.”82 Even though The Prince conveys insight into the secret counsels of tyrants, this does not mean that its maxims and conclusions are to be applied by the reader. Tegli might thus almost be characterised as a Tacitist avant la lettre and seems to express the same ambivalence towards Machiavelli as does Guicciardini towards Tacitus in his Ricordi: “Cornelius Tacitus teaches those who live under tyrants how to live and act prudently; just as he teaches tyrants ways to secure their tyranny.”83 If Tacitus was to become an important point of reference for those who experienced religious persecution in the second half of the sixteenth century,84 Tegli’s translation of The Prince may likewise have made Machiavelli attractive to dissenters by teaching them strategies to cope with tyranny and to elude their persecutors.
3.
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As I argue in the following, Tegli’s translation of The Prince addresses a number of concerns that were acutely relevant for the Italian exiles, in light of their experience of persecution in their homeland as well as the dangers and pitfalls that awaited them in the confessionalised Swiss city states and in Geneva, which offered only
80 “[…] quo magis tales homines cauendi erunt, eorumque artificium arte frustrandum” (Princeps, 1560, 112). 81 “[…] quegli, che l’herbe, & le medicine insegnano; insegnano parimente ancora i ueleni; solo accioche da quegli ci possiamo cognoscendogli guardare” (Il principe, 1532, †iir). 82 “Cognitio enim mali, non est malum, sed appetitio, ipsaque actio“ (Princeps, 1560, *5v). 83 Maxims and Reflections of a Renaissance Statesman (Ricordi), 1970, 45. 84 Burke: 1969, 168 f.
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little tolerance for their desire for a ‘libertas disputandi’. In its discussion of dissimulation, chapter 18 (“How rulers should keep their promises”) of Machiavelli’s Prince addresses a form of behaviour that must have been widespread in the confessional conflicts and persecutions of the sixteenth century, even to the extent that Perez Zagorin has characterised the period as “the Age of Dissimulation.”85 The questions concerning perjury and dissimulation which Machiavelli raises in The Prince were of immediate relevance for religious dissidents, who often faced a hard choice between martyrdom, emigration, or Nicodemism, that is, hiding one’s true beliefs and outwardly conforming to the established religion. As I argue in the following, Machiavelli’s defence of dissimulation therefore played a particularly controversial role in his reception among radical Italian Protestants, who frequently dissembled their heterodox views in both Catholic and Protestant territories. Perhaps the earliest synthesis of Machiavellian dissimulation and spiritualist Nicodemism is offered by Bartolomeo Carli Piccolomini (1503–1538/39), chancellor of Siena from 1525 to 1529.86 Like Lucca, Siena was an early centre of heterodox ideas in the Italian peninsula. Carli was not only one of Machiavelli’s earliest attested readers but also a follower of the Spanish exile Juan de Valdés, one of the towering figures in the early years of the Italian Reformation.87 In his fragmentary Trattati nove della prudenza (c. 1537), which have never been printed, Carli takes more than a leave out of Machiavelli when he marries a Valdesian stress on internal piety and indifference concerning external rites to the Florentine’s anti-clericalism, worldly cynicism, and license for deception, in order to bolster his case for religious dissimulation.88 Echoing the pessimistic anthropology that underlies Machiavelli’s justification of perjury in chapter 18 of The Prince, Carli writes: My reasoning […] adapts itself to the compelling needs of everyday life and to the general behaviour of men, the essence of which is often different from what one sees on the surface. And if some of you think that I sometimes overstep the boundaries of honesty, I tell you that since necessity and men’s nature overstep them too, one must often follow them.89
85 Zagorin: 1990, 330. 86 Cf. Marchetti and Belladonna, art. “Carli Piccolomini, Bartolomeo,” in: Dizionario biografico degli Italiani Bd. 20 (1977), online. 87 As citations from The Prince and the Discourses in Carli’s Trattato del perfetto cancelliere (1529) reveal, Carli had read Machiavelli’s writings already before they were printed. For Carli’s place in the early reception of Machiavelli, see Bausi: 2015. For the heterodox context of Carli’s reading of Machiavelli in Siena, see Pallini: 2016, 55; Firpo: 2016, 65 f. 88 For a discussion and transcripts of the relevant chapters, see Belladonna: 1975. See also Belladonna: 1980, for an English translation of the same excerpts. 89 Qtd. in Belladonna: 1980, 31n.6.
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Like Tegli, Carli deduces an ethics of survival from Machiavelli’s argumentation rather than a justification for the ruthless pursuit of power. In line with de Valdés’ emphasis on inward inspiration, Carli accordingly reports elsewhere that “my teacher told me to conform to what others did on the outside but internally to do whatever the Spirit inspired me to do.”90 Carli’s notion of prudence thus implies an ethics of survival in a fallen and wicked world, which responds to the plight of religious dissenters by legitimising dissimulation as a means of self-preservation. Such a Nicodemite application of Machiavellian ideas, fused with Valdesian spiritualism, would not have been far-fetched for Tegli either. Among the Italian exiles in the Swiss Confederacy, Vermigli and Ochino had known de Valdés personally, and other refugees in Basel, including Curione, Perna, and Castellio, attentively read and published his writings, which were a significant source of inspiration for Italian Nicodemism and anti-Trinitarianism.91 Even though Carli never left Italy and died at a young age already around 1537/38, some of his associates were to play a more significant role in the Italian reform movement abroad. Carli was a prominent member of the Accademia degli Intronati, which harboured a number of crypto-Protestants, such as Lattanzio Ragnoni (1509–1559), who became pastor of the Italian congregation in Geneva after the death of Massimiliano Celso Martinengo in 1557.92 While Ragnoni was to become an important ally in Calvin’s anti-Trinitarian and anti-Nicodemite efforts, another member of the Accademia, Mino Celsi, remained in Siena as a Nicodemite until July 1569, when he was probably implicated in the Inquisitorial trial of Paleario and suddenly fled to Basel, leaving behind his family and estates. Notably, Celsi wrote a long treatise in favour of religious toleration, In haereticis coercendis quatenus progredi liceat, which was
90 Qtd. in Belladonna: 1980, 37, n.20. The identity of the teacher in question is unclear. Carli may be referring to de Valdés himself, but possibly also to one of his prominent followers, Aonio Paleario, who had arrived in Siena in October 1530 (Pallini: 2016, 55). Paleario was eventually called to teach classics in Lucca in 1546, under the condition that he keep his religious views to himself, by the Officio sopra le scuole, which included philo-Protestants such as Francesco Burlamacchi and Nicolao Liena, who would later play such an important role in the Gentile trial (Hewlett: 2008, 145; Adorni-Braccesi: 1994, 190). 91 For the spread of Valdesian ideas and printing of his works in Basel, see Gilly: 1985, 318–326. For his role in Italian Nicodemism, see further Rotondò: 1967, 1012–1016. 92 Firpo: 2016, 65. As Ragnoni’s biographer has argued (Cignoni: 2001, 24–27), he was probably responsible for the Italian translation of Calvin’s collection of anti-Nicodemite writings, De vitandis superstitionibus (1549), which was published as Del fuggir le superstitioni in 1553. Cf. Biasiori, art. “Ragnoni, Lattanzio,” Dizionario biografico degli Italiani Bd. 86 (2016), online.
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published posthumously in 1577 by Pietro Perna, in whose print shop Celsi had found work as a corrector.93 However, although there are significant continuities between Carli’s and Tegli’s intellectual milieus, the legitimacy of dissimulation remained an area of controversy. Even for those who had fled from Italy for religious reasons and sought refuge in Geneva and the Swiss Protestant cities, the question of dissimulation, even perjury, which Machiavelli treated in such candid terms, did not lose its relevance. So much is attested by Calvin’s efforts to stifle the anti-Trinitarian movement in Geneva. The confession of faith which Calvin imposed on the anti-Trinitarians stressed that anyone who dissembled their consent committed perjury – “pro periuro ac perfido habeatur.”94 Accordingly, the charge of perjury also featured prominently in the conviction of Gentile.95 Tegli affirmed Calvin’s confession of faith even twice, but was nonetheless suspected of “perfidia” and ultimately failed, as we have already seen, to allay Calvin’s suspicions.96 Even though there is good reason to believe that Tegli was insincere in his abjuration of anti-Trinitarian beliefs, he does by no means advance a Nicodemite interpretation of The Prince. On the contrary, Tegli mostly eliminates Machiavelli’s licence for dissimulation. There are a number of possible reasons for this reticence. One the one hand, the point of Nicodemism is that it goes undetected. Especially for Tegli, who was already under suspicion of insincerity, it was only prudent to distance himself from Machiavelli’s propagation of perjury and dissimulation if he did not wish to suffer the same fate as Gentile. On the other hand, however, it cannot be taken for granted that all Nicodemites felt entirely comfortable with their practice of dissimulation. As Carlos Eire puts it, “Nicodemism was caused just as much by fear and confusion as it might have been by theoretical considerations.”97 That is to say, it might simply be viewed as a practice rather than an intellectual movement or system, and under the pressures of persecution, it probably frequently co-existed with anti-Nicodemite attitudes. Such tension between dissimulation and anti-Nicodemism is also evident in the case of Tegli. Thus, Tegli introduces his letter to Calvin from August 1558, in which 93 For Celsi, see Bietenholz: 1971b, 1972. Moreover, also important representatives of the next generation of Italian dissenters, Fausto and Camillo Sozzini, had been members of the Accademia in the 1560s (Bietenholz: 1971b, 107). 94 “Confessio fidei edita in italica ecclesia Genevae 18. Maii Anno 1558,” reprinted in “Brevis explicatio impietatum et triplicis perfidiae ac periurii Valentini Gentilis, de quibus cognovit senatus genevensis,” CO 9:388. 95 The sentence is reprinted in Impietas Valentini Gentilis detecta from 1561 (CO 9:4 16–418). 96 Calvin to Vermigli, March 1559, CO 17:469. 97 Eire: 1986, 252. For a more comprehensive critique of Carlo Ginzburg’s (1970) hypothesis of Nicodemism as a unified, intellectual movement that took its starting point from Otto Brunfels’ Pandectae (1527), see further Eire: 1979.
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he disavows any heterodox views on the Trinity, with a reference to 1 Peter 3,15: “But sanctify the Lord God in your hearts: and be ready always to give an answer to every man that asketh you a reason of the hope that is in you with meekness and fear.”98 Calvin had already cited the verse in two of his anti-Nicodemite treatises,99 and it is remarkable that Tegli cites it too in his disavowal of anti-Trinitarian views, given that he had clearly revealed three months earlier that his views on the Trinity did not square easily with Genevan orthodoxy. Evidently, Tegli’s appropriation of anti-Nicodemite rhetoric should not be taken at face value. However, it would also be reductive to dismiss it as nothing but cynical dissimulation. Nicodemism has traditionally been described as a characteristic aspect of the Italian Reformation.100 However, the case was different for those like Tegli, who had uprooted their lives and gone into exile for their beliefs. It is admittedly true that their departure was frequently not a voluntary act that resulted from principled unease with dissimulation. Arguably many of them, such as Mino Celsi, had lived in Italy as Nicodemites for long periods of time until their cover was blown and they were forced to leave. Nonetheless, religious refugees in particular were predisposed to condemn Nicodemism, not least as a justification of their flight, an act which made them vulnerable to the accusation of having abandoned the Protestant cause in their homeland. Thus, a number of radicals in Tegli’s milieu had made significant contributions to the steady stream of anti-Nicodemite literature that flowed from Italian pens in exile during the 1540s and 1550s.101 However, their predicament was particularly dire when they found themselves on the wrong side of orthodoxy once again in Protestant territories. As another radical, Camillo Renato, suggests in his poem on the burning of Servet, the religious intolerance which they encountered in Protestant territories was particularly frustrating in light of the sacrifices which they had already made for their religious convictions: [W]e departed from the Ausonian shore [i. e. Italy], embracing exile, to live in foreign lands. Poverty is our only companion. Our condition in life is hard. Work cheats us on some days, but constant labor pays us our tutor’s fees, worn though we be. We ourselves brought
98 As Tegli puts it, “Divus Petrus nos admonet, virorum praestantissime, ut semper praesto simus quo respondeamus si quis nos interroget de spe quam in nobis sitam esse sentimus” (Tegli to Calvin, August 1558, CO 17:269). 99 Epistolae duae (1537), ep. I “De fugiendis impiorum illicitis sacris, et puritate Christianae religionis observanda,” CO 5:245; Petit traicté monstrant que c’est que doit faire un homme fidele congnoissant la verité de l’evangile quand il est entre les papistes (1543), CO 6:545. 100 See, e. g., Cantimori: 1970; Zagorin 1990, 83–99; Cameron: 1998. 101 For Italian anti-Nicodemism, see, e.g, Overell: 1995 and 2000; Rotondò: 1967, 994 f.; AdorniBraccesi: 1997, 348–361; Cantimori: 1559.
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the gospel whenever occasion offered, neither prompted by ambition for advancement nor adequately recompensed.102
For the Italian exiles, the stakes were high. Resorting to Nicodemism cannot have been an easy choice and must have called into doubt all their previous hardships which they had suffered for their beliefs. A number of refugees in Tegli’s milieu had indeed continued to uphold the antiNicodemite stance that had often motivated – or at least justified – their flight in the first place. Thus, Nicolao Liena’s appeal to Geneva for clemency on the behalf of Gentile is, despite the latter’s perjury, paradoxically based on anti-Nicodemite premises. Turning Calvin’s exhortations to flee from idolatry against the French reformer himself, Liena argues with consummate flattery that if the Genevans showed mercy towards Gentile, Calvin’s reputation of equity and clemency might persuade crypto-Protestants to leave Italy and seek refuge in Geneva, where they could proclaim the Gospel freely.103 However, according to less diplomatic expressions of Italian discontent, radicals who sought exile in Geneva were jumping out of the frying pan into the fire. A case in point are the anonymous Latin “verses pour Servet,” which were found in Lausanne in 1558. In a dialogue that takes up the satirical genre of the pasquinade, Marphorius asks Pasquillus why he is suddenly leaving Rome. The latter replies that the Pope has gotten wind of his Protestant beliefs, forcing him to flee to Geneva. However, Marphorius counters that Servet was burned in Geneva ten days ago and that there was no safety for dissenters beyond the Alps either. Hence, Pasquillus is resolved to suffer martyrdom in Rome: “If I have to die for Christ, I would rather do so in this city and serve as an example for my fellow-citizens.”104 Clearly, Pasquillus does not contemplate Nicodemism. On the contrary, he cherishes the exemplary value of martyrdom. Curione, who had already played an important role in popularising the Protestant pasquinade with his Pasquillus ecstaticus (1541?),105 is a plausible candidate for the
102 I am quoting from the English prose translation by Dorothy Rounds: 1965, here 189. The Latin original is printed in Trechsel: 1839, 1:321–328. 103 Liena to the council of Geneva, August 1558, CO 17:287. 104 “Si mihi pro Christo moriendum est, urbe vel ista / Malo mori et specimen civibus esse meis” (“Verses pour Servet,” in: Dufour: 1961, 494). Cf. Camillo Renato: “It is better to take a stand albeit fearfully in the land of Ausonia [i. e. Italy], than to gaze with silent eyes on monstrous deeds” (“Against John Calvin” 192). 105 Speaking of the pasquinade as a genre is, admittedly, not unproblematic in Curione’s formally diverse satire, which includes both verse and prose, ranging from short epigrams over fictitious epistles to extensive dialogues. However, for Curione’s contribution to the genre, see Dalmas: 2017. For the complex textual history of Curione’s Pasquillus works and their translations, see the introduction to the critical edition by Cordibella and Prandi: 2018.
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authorship of the Latin verses on Servet’s death.106 Moreover, regardless of whether Curione was involved in the composition or dissemination of these verses or not, anti-Nicodemite sentiment features prominently in his early publications in exile. In Pasquillus ecstaticus, he mounts an ugly attack against Erasmus as a temporising opportunist and, in the 1544 edition, further notes that there are many others like Erasmus, who conceal the truth, imparted to them through divine favour, for fear, avarice, or ambition.107 In 1550, Curione further published a collection of eyewitness accounts of the death of the Italian lawyer Francesco Spiera, who died in miserable despair because he had recanted the truth of the Gospel before the Inquisition in Venice in 1548. Calvin too contributed an epistle to the collection, in which he characterises Spiera, who was “led to such perfidious simulation (just as the reprobates never cease to fall from one sin into another)” as a representative case of the Italians, “who dally too familiarly with God.”108 Notably, another contributor to the Spiera collection was the anti-Trinitarian Gribaldi.109 Finally, a 106 Curione’s authorship has been suggested by Dufour: 1961, 490, and more recently, Biasiori: 2015, 84–86. As Dufour points out, Genius, who accuses Geneva of a great crime in burning Servet, already features in “Iulius exclusus” (123–178) in Pasquillorum tomi duo (1544), another collection compiled by Curione. Moreover, there had been rumours in early 1554, spread by Rudolf Gwalther, that Curione had composed verses against the burning of Servet, even though Curione vigorously disclaimed the authorship (Curione to Bullinger, April 1554, CO 15:101–103). However, Plath (2014: 179 f.) has suggested that the verses circulating in Zurich were possibly those by Renato Camillo. If this is the case, Curione did not lie in denying his involvement, but the “Verses pour Servet” cited here are of course not touched by this disavowal on Curione’s part. Finally, one might bring forward further, circumstantial evidence for Curione’s authorship. The author of the Latin verses cites Juvenal’s thirteenth satire (“Verses pour Servet”, in: Dufour: 1961, 495), in which one Calvinus declares: “at vindicta bonum vita iucundius ipsa” – “But vengeance is good, sweeter than life itself ” (Juvenal, “Satire 13,” l. 180). This felicitous quotation suggests a thorough knowledge of the text, on which Curione had already published an extensive commentary. 107 Pasquillus ecstaticus, 1544, 170 f. 108 “…se abduci ad perfidam illiam simulationem passus est (sicuti aliud ex alio peccare non cessant reprobi)” (Curione, ed., Francisci Spierae […] historia 60); “[…] Italiani, quibus nimium familiare est cum Deo ludere” (ibid. 59). 109 However, ideological tensions between Calvin and Gribaldi are already evident at this stage. Gribaldi’s judgement of Spiera is less damning than Calvin’s, more attuned to the ethical dilemma that Spiera faced (especially the fate of his family, if he should be convicted of heresy), and raises uncomfortable questions about the doctrine of predestination. As Gribaldi notes in a postscript in the first edition (Wittenberg 1549) of his account (missing in the Curione edition), Spiera was not rightly taught, became entangled in Stoicist fantasies of election, and did not heed the voice of the Gospel and its universal promise (C 3r). Gribaldi’s account thus points obliquely into the direction of the Epistola di Giorgio Siculo servo fidele di Jesu Cristo (1550), which blamed predestinarian theology, and not his Nicodemism, for Spiera’s fatal despair and became one of the polemical targets of Calvin’s De aeterna praedestinatione Dei (1552). Notably, Spiera’s despair also featured in the debate on Nicodemism between Calvin and Dirck Volkertszoon Coornhert twelve years later (CO 9:622).
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French compilation of anti-Nicodemite writings, Les conseils et advis de plusieurs excellens & savans personnages, sur le faict des Temporiseurs (Geneva 1556), likewise contained excerpts by Ochino (128) and Curione (129–141).110 In the late 1550s, however, a number of radicals, including Gentile, Curione, and Gribaldi, were put on trial and faced difficult choices that put their anti-Nicodemite views to the test. While some emigrated once again, mostly to Eastern Europe, others retreated into secrecy and silence.111 Gribaldi was put on trial in Bern in 1557 after he had fled from his professorship in Tübingen, where he faced an investigation by the university senate into his heretical views. The investigation in Tübingen brought to light Gribaldi’s treatise, De vera cognitione Dei, which contained compromising marginal notes by Curione, who was put on trial as well.112 Gribaldi unsuccessfully tried to avert banishment and the confiscation of his estate in Farges near Geneva by signing an orthodox confession of faith. However, he was banished nonetheless and only allowed to return one year later after the death of his wife, under the condition that he would keep his heretical views to himself.113 Unlike Gribaldi, Curione insisted that his notes were merely grammatical and suffered no serious consequences. However, he too had to compose an orthodox confession of faith and subsequently wrapped himself in “enigmatic, academic silence,” despite his earlier anti-Nicodemite agitation.114 The anti-Nicodemism of the Italian radicals thus often stood in contradiction with their actual behaviour. Ochino, for one, attempts to rationalise this dilemma in the eleventh sermon (“Sententia a Deo contra Missam lata”) of his Liber de corporis Christi praesentia in Coenae Sacramento (1561?). Ochino mounts a strong case against conformity with the Church of Rome and participation in the Mass that could have been written by Calvin himself. Moreover, he warns religious refugees against letting their fervour cool down in exile. However, Ochino further adds that in light of the dogmatic diversification of the Protestant churches, charges of heresy can hardly be avoided even north of the Alps. Hence, he admits that in things indifferent and in obscure and controversial questions (including the Trinity?), conformity is not to be condemned wholesale but must be considered in the circumstances of each particular case.115 In this emphasis on the dogmatic
110 For Ochino’s anti-Nicodemism, which has been drastically underplayed in the past (e. g. by Cantimori: 1949, 236–240; Williams: 1992, 962–965), see also dialogue 26 (“De ratione extruendi regni Christi, & destruendi Antichristi”) in his Dialogi triginta (1563) and sermon 11 (“Sententia a Deo contra Missam lata”) in De corporis Christi praesentia in Coenae Sacramento (1561?). 111 Cantimori: 1949, 221–224. 112 Williams: 1992, 952 f. 113 Williams: 1992, 977. 114 Rotondò: 1967, 999. 115 Ochino, Liber de corporis Christi praesentia in Coenae Sacramento: 1561?, 267–270.
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diversity of the Protestant churches and the need to focus on fundamentals, there are unmistakable echoes of Castellio’s monetary metaphor in De haereticis: If you would live today, you must have as many faiths and religions as there are cities and sects. Just as he who travels from country to country must change his money from day to day, since the coin which is accepted in one place is rejected in another, unless indeed the money be gold, which is valid everywhere regardless of the imprint.116
As Ochino’s sermon makes clear, such a distinction between fundamentals and things indifferent could also serve as a justification of a qualified form of Nicodemism in the sphere of the latter. The conflict between Tegli’s unease with dissimulation, as expressed in his expurgation of The Prince on the one hand and his prudent accommodation to the exigencies of political pressures on the other, is thus a typical product of the predicament that radical Protestants faced in Geneva and the Swiss city republics. Tegli’s rewriting of chapter 18 (“How rulers should keep their promises”) reflects the same emphasis on avoidance and flight, as opposed to dissimulation, which the Italian refugees propagated in their condemnations of idolatry. Just as Tegli’s version of chapter 18 recommends fleeing from evil, he had left Italy as well as Geneva in order to escape from Calvin’s reach. Additionally, it is also possible to read Tegli’s Prince as a more general intervention in an intra-Italian debate on Nicodemism – although, as prefigured in Carli’s Trattati nove della prudenza, in a secular rather than theological register. As already noted, flight itself was controversial among Italian Protestants and sometimes criticised as a desertion of the Church in its greatest hour of need.117 For Calvin, on the other hand, flight was a valid alternative, not least in order to avoid the charge of sedition and open resistance that might be levelled against a more intransigent position. Despite his later, careful turn towards resistance theory, Calvin was at pains to stress in his earlier writings against the Nicodemites from the 1530s and 1540s that the refusal to compromise was not to be understood as a call to political action.118 As we have seen, Tegli’s changes to chapter 6 (“New principalities acquired by one’s own arms and ability”) can likewise be read as a critique of violent religious reform, and his emphasis on passivity and retreat in chapter 18 similarly tallies with Calvin’s ostentatious political quietism. If
116 Castellio, De haereticis an sint persequendi: 1935, 129. 117 For instance, Cantimori (1959) reads the preface of Del fuggir le superstitioni (1553), Lattanzio Ragnoni’s translation of Calvin’s De vitandis superstitionibus (1549), as a refutation of Giulio della Rovere’s Esortazione al martirio (second edition 1552) and justification of emigration instead of martyrdom. For the Italian debate on the legitimacy of emigration see also Cantimori: 1960, 37–66; Zagorin: 1990, 91–93. 118 Eire: 1985; Eire 1986: 265–270.
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Tegli’s changes to the text of The Prince are read in context of contemporary debates on Nicodemism, they are, ironically, not a far cry from Calvin’s anti-Nicodemite campaign, despite the strong personal disagreements between the two men. Finally, however, Tegli’s case is also symptomatic of the situation of the Italian radicals who contributed to Protestant anti-Nicodemite discourse by justifying their going into exile, but found themselves once more at odds with consolidating orthodoxies in Protestant territories. By the late 1550s, many Italian radicals acted in contradiction to their public anti-Nicodemite stance, and there is also a significant contrast between Tegli’s condemnation of dissimulation in his version of The Prince and his own, more dubious conduct in Geneva, which apparently included calumny and possibly perjury. Actually, Tegli had not left Geneva in order to avoid dissimulation. On the contrary, he disavowed any anti-Trinitarian views he may have harboured in order to be able to return to Geneva after the Gentile trial. Tegli only moved to Basel once his misconduct had been discovered by the Genevan authorities. In line with his counterattack on Calvin in the dedicatory epistle, one might therefore argue that there is also an element of personal vindication in Tegli’s version of The Prince, an attempt by Tegli to whitewash his own behaviour in Geneva and to clear his name from suspicions of perjury.
4.
Republicanism and Resistance Theory
Since the publication of J. G. A Pocock’s The Machiavellian Moment (1975), much scholarship on the early modern reception of Machiavelli has been preoccupied with his role in early modern traditions of republicanism. In the case of Tegli’s translation, this emphasis on Machiavelli as a republican thinker goes even further back. Werner Kaegi argued in his seminal essay, “Machiavelli in Basel” (1940), that the interest of the Italian refugees in Machiavelli is to be explained with their alleged republican tendencies, a longing for political liberty that mirrored their longing for religious liberty. This republican hypothesis has also been reiterated in more recent scholarship.119 However, even though such a connection between political and religious liberty was indeed highly pronounced in the Dutch Revolt,120 evidence for explicit republican sympathies on the part of Tegli or Perna is circumstantial at best. For radical Italian protestants, the relationship between republicanism and religious liberty was a good deal more problematic than Kaegi and his more recent followers suggest. That is not to say that Tegli’s translation did not potentially lend itself to a republican interpretation, as I hope to show in the last section of this essay,
119 See Welti: 1976, 89; d’Andrea: 1980, 54; Viroli: 2010, 232; Mordeglia: 2010, 62; Pirillo: 2016, 129 f. 120 See Van Gelderen: 1990, 218.
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but a more differentiated appraisal of Tegli’s contribution to Machiavelli’s afterlife as a republican theorist is in order, especially with regard to the republication of the Latin Prince in 1580. As Kaegi argued, the memory that united Protestant Italian refugees in a shared republican cause was Francesco Burlamacchi’s failed conspiracy in Lucca in 1546, an attempt to restore republican rule in the Tuscan city states that also came with ambitions of religious reform. Some of Burlamacchi’s relatives had fled to Geneva, and Tegli is known to have conversed with Luccan emigrants in Geneva and Basel. The printer Perna had been a Dominican monk in San Romano, and Curione had been a private teacher in the household of Niccolò Arnolfini in Lucca.121 Notably, Tegli mentions another member of that family, who had emigrated to Geneva, Paolo Arnolfini (1519–1593), as a “vir bonus” in his dedicatory epistle to The Prince (*2v).122 Finally, the most prominent refugee from Lucca, Pietro Martire Vermigli, had likewise been acquainted with Tegli at least since the late 1540s. However, Kaegi does not quote a single expression of republican sentiment by Tegli, Perna, or Curione, and his case for actual republican sympathies on the part of the Italian refugees is rather thin beyond their geographical and social connections with Lucca. For instance, Kaegi insinuates that Curione had to flee because of his sympathies with the Burlamacchi revolution,123 even though Perna, Curione, Ochino, as well as Vermigli had left Lucca because of their religious views already four years earlier, when the Roman Inquisition was established in 1542.124 Nicolao Liena, whom Tegli praises so warmly in his dedicatory epistle, was indeed in Lucca during the Burlamacchi revolution, but was actually among the judges who sentenced the failed revolutionary to death.125 Moreover, when Tegli prepared his translation of The Prince, the causes of religious reform and political liberty were no longer aligned in Lucca. On the contrary, Lucca cracked down on Protestant dissent in 1558 in order to safeguard its liberties against its neighbours, such as
121 Kaegi: 1940, 10–12. 122 Paolo Arnolfini was, like Nicolao Liena, part of a major wave of Luccan refugees religionis causa, who left for Geneva in 1555, when, under the pontificate of Paul IV, the Holy Office and the Bishop of Lucca heightened pressure on Lucca to extirpate heresy within its domain. See Adorni-Braccesi: 1994, 337–350; Miani, art. “Arnolfini, Paolo,” Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 4 (1962), online. 123 “Curione hatte selbst in Lucca während der kritischen Zeit der Verschwörung als Lehrer gewirkt und dann fliehen müssen” (Kaegi: 1940, 12). 124 For the details of Curione’s flight, see Biasiori: 2015, 62 f.; for Vermigli’s flight, see McLelland: 2009, 32 f.; for the religious refugees from Lucca more generally, their conflict with Calvin, and their attitudes towards religious tolerance, see also Adorni-Braccesi: 1997. 125 Ragagli, art. “Liena, Nicolao,” in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 65 (2005), online.
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Cosimo de’ Medici, who had been encouraged by Paul IV to cleanse the city of heresy.126 Kaegi’s suggestion that there was a real connection (“echte Verbindung”) between the spirit of Machiavellian republicanism and the Luccan “patriots,” who may have seen their dreams realised in Geneva and in the Protestant city republics of the Swiss Confederacy, is questionable.127 Admittedly, Burlamacchi himself may indeed have been inspired by the free imperial cities and the Swiss Confederacy as a model for a Tuscan league of free republics.128 However, when Italian Protestants eventually sought refuge in these places, they turned out to be anything else but the fulfilment of Italian utopian fantasies. On the contrary, after the exiles’ experiences of persecution in Protestant territories, especially in Geneva, the vision of a theocratic republic of the Savonarolan type must have lost much of its appeal for them. It is perhaps for this reason that Tegli’s translation of chapter 6 of The Prince downplays Machiavelli’s alignment of political and religious reform and defuses its potential for religious violence, as I have argued in the second section of this essay. Contrary to what one may have expected from Kaegi’s account, Tegli’s dedicatory epistle remains silent on Burlamacchi’s doomed efforts to liberate Tuscany from the yoke of Medici rule and to introduce religious reform. I have argued instead that Tegli’s dedicatory epistle rather situates The Prince in Calvin’s endeavours to extirpate anti-Trinitarianism in Geneva – a vivid warning that Protestant republics too could lapse into relentless persecution of religious minorities. Tegli’s Prince thus aptly reflects the experiences of the Italian exiles, who would quickly have given up any illusions that there is an inherent connection between republican government and religious liberty. Radical Protestants, who suffered from the political enforcement of religious uniformity on both sides of the confessional divide, were arguably predisposed to adopt a more sceptical stance than others towards the close alliance of religious and political authority. In the eyes of Castellio or Gribaldi, for instance, it was not least Calvin’s undue influence over Geneva’s secular jurisdiction that had enabled the persecution of radical dissenters such as Servet. Accordingly, Tegli’s focus on the evils of religious violence – rather than a call to republican-Protestant renewal, which could alternatively have been read into Machiavelli’s political writings – is also apparent in the paratexts of the second edition of Tegli’s translation. In 1580, however, the concrete conflict in question was no longer the persecution of radical Protestants in Geneva, but the French Wars of Religion, in which Machiavelli’s editors intervened with a searing critique of Huguenot resistance theory. Instead of sympathising with militant Calvinism, the 1580 edition of The Prince endorses a
126 Adorni-Braccesi: 1994, 350–371. 127 Kaegi: 1940, 12. 128 Adorni-Braccesi: 1994, 167.
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
pragmatic and secular approach to toleration that is predicated on the divorce of political authority from the duty to enforce the true faith and thereby sidesteps the religious foundations of resistance theory and its republican implications. The 1580 edition of The Prince thus echoes the pleas for toleration of the so-called politiques, who prominently argued that France, ravaged by religious conflict, could only be saved from internecine warfare and political disintegration by abandoning an absolute standard of confessional purity and uniformity in favour of compromise and diplomacy.129 Notably, these pleas for toleration rested on the imperative of political stability, to be achieved with a strong monarchy, which trumps the ideal of religious uniformity and stands in tension with the notions of popular sovereignty and republican constitutionalism that underlie treatises on resistance theory such as the Vindiciae contra Tyrannos.130 Even more than in 1560, Machiavelli’s Italian editors can therefore hardly be credited with a republican motivation. When The Prince was republished in 1580, Machiavelli’s reputation had suffered considerably, especially in the course of the French Wars of Religion, when he was identified as the inspiration for the religious violence of the St Bartholomew’s Day Massacre in 1572.131 Nicolas Barnaud, for instance, claims in his Reveille-Matin des François (1574) that le Roy a esté persuadé par la doctrine de Machiauelli, qu’il ne faut pas qu’il souffre en son Royaume, autre religion que celle sur laquelle son estat a esté fondé … Asseurez-vous qu’on luy a enseigné & souuent repeté ceste leçon, que son Royaume ne peut estre paisible & asseuré, cependant qu’il y aura deux religions.132
Clearly, Machiavelli could not possibly have foreseen a scenario like the French Wars of Religion, but this passage may well refer to the Florentine’s observation in the Discourses that “princes of a republic or of a kingdom should maintain the foundations of the religion they hold; and if this is done, it will be an easy thing for them to maintain their republic religious and, in consequence, good and
129 I use the term’ politique’ in a general sense for an approach to religious toleration which was first propagated prominently by Catherine de’ Medici and Michel de l’Hospital in the early 1560s and which is based on pragmatic and political rather than theological considerations. However, it needs to be stressed that ‘politique’ was not a term of self-identification and often carried pejorative connotations. Moreover, a continuous and clearly definable party of politiques from the 1560s up to the 1590s may, contrary to the assumptions of older scholarship, not have existed. See Bettinson: 1989; Turchetti: 2002. 130 For the republican implications of resistance theory, see, e. g., Lee: 2016, 121–157. 131 Anglo: 2005, 229–70; Zwierlein: 2010a, 916–922. 132 Barnaud: 1574, 37.
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united.”133 In turn, however, the politiques too were occasionally denounced by the Catholic hardliners of the ‘Holy League’ as Machiavellians for their alleged religious indifference.134 In a poem cited in a ligueur treatise in 1588, for instance, the politique is characterised as follows: Sonner l’Estat, & non la piete, Forger son Dieu du fonds de sa marmitte, Demander paix, ou paix estre ne peult, Prest de porter le turban si l’on veut, Nourrir soubs-main & armer l’heretique, Pour Euangil’ Machiauel tenir, De l’autre monde en rien se souuenir, Sont les couleurs du masque Politique.135
It is the priority of political over religious considerations that can, in the eyes of the ligueurs, only look like opportunistic, Machiavellian hypocrisy. In France, diametrically opposed positions of political compromise on the one hand and confessional intransigence on the other could thus both have Machiavellian connotations. As I will show in the following, however, the 1580 edition of The Prince is remarkable because it positively af f ir ms the association of politique pragmatism with Machiavelli and candidly propagates the Florentine’s political thought as a remedy for the religious conflicts that ravaged France in the second half of the sixteenth century. While The Prince had been published in 1560 as a single-text edition, Perna now published it together with a number of further writings: the speeches for and against monarchy by Maecenas and Agrippa from Cassius Dio’s Historia romana (in Curione’s Latin translation), two Huguenot treatises on resistance theory (the Vindiciae contra tyrannos, first printed in the previous year in Basel, and the Latin translation of Théodore de Bèze’s Du droit des magistrats), and a short and anonymous excerpt, entitled “Ex cuiusdam scripto, De Magistratu.”136 For this project, Perna relied on the help of his frequent collaborator Giovanni Niccolò Stoppani, or Stupanus (1542–1621), Curione’s successor as professor of rhetoric and, as of 1589, Theodor Zwinger’s (1533–1588) successor as professor of medicine, at the
133 Discourses, 1996, book 1, ch. 12, 37. 134 Bettinson: 1989, 46–48; Turchetti: 2002, 371–374. 135 [Rolland,] Remonstrances tres-humbles au Roy de France et de Pologne Henry troisiesme de ce nom, 1588, 251. 136 Nicholai Machiavelli Princeps [trans. Silvestro Tegli]. Adiecta sunt eiusdem argumenti, Aliorum quorundam contra Machiauellum scripta de potestate & officio Principum, & contra tyrannos, Basel, 1580, VD16 M 10.
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
University of Basel.137 Stupanus revised Tegli’s translation and also contributed a dedicatory epistle to the edition.138 As this dedicatory epistle reveals, he had apparently taken over the project of a complete translation of Machiavelli’s works from the deceased Tegli: “Persuaded and inspired by friends, I took it on me some years ago to translate into Latin all works of Niccolò Machiavelli, which are partly political, partly historical, and partly about the art of war, and I have already accomplished no small part of this work.”139 In fact, Stupanus later attested that Perna
137 For biographical information on Stupanus, see Koelbing: 1970. 138 As Stupanus writes in the epistle, his text is taken “ex antiqua accurateque emendata Sylvestri Telii editione” (a5r), and it is also announced as such on the title page: “ex Sylvestri Telii Fulginatis traductione diligenter emendata.” However, none of Stupanus’ c. 65 revisions concern Tegli’s major deviations from his source, which I have discussed above. The revisions of the 1580 edition are mostly very local, i. e. corrections of obvious errata (while simultaneously adding new ones), some changes of word forms (e. g. nominal cases or modal verb forms), different spellings of names, clarifications (by adding titles to names), and some substitutions (usually synonyms), additions, or omissions of single words. Moreover, unlike the 1560 edition, the 1580 edition sometimes highlights Machiavelli’s occasional generalisations and citations, which could potentially be collected as isolated maxims, in capitals or italics, such as the following at the end of chapter 3: “AVTHOREM ALIENAE POTENTIAE SEIPSUM PERDERE” (21), i. e., “anyone who enables another to become powerful, brings about his own ruin” (14). See further 104, 174, 175. Sydney Anglo dates the beginnings of Machiavelli’s reception in the form of single maxims to the 1570s, exemplified most famously by Innocent Gentillet’s notorious Contre-Machiavel (2006, 279). Apparently, Stupanus and Perna were willing to cater to Gentillet’s way of reading Machiavelli, despite “typographus’” acerbic critique of Gentillet in the preface of the final issue of the 1580 edition. As “typographus” notes, the Contre-Machiavel is “baculo dignus” (a 6r), worthy to be beaten, which is probably an allusion to an incident in Geneva in March 1577, when Gentillet was attacked for his anti-Italian rhetoric by another Italian refugee, Francesco Lamberto. For this incident, see d’Andrea: 1980, 57. 139 “[…] ante annoes aliquot, suasu & instinctu amicorum Nicolai Machiauelli scripta, quae sunt partim Politica, partim Historica, partim denique, de Ratione bellum gerendi, omnia in Latinam linguam transferenda suscepi eiusque operis partem non exiguam iam absolui” (Princeps, 1580, VD16 M 10, Stupanus, dedicatory epistle, fol. a4r). Remarkably, Stupanus remains silent on Machiavelli’s literary works. However, since he nowhere indicates that this is a conscious omission, Stupanus and Perna may possibly not have been aware of their existence. Such a hypothesis is plausible, given that Tegli’s translation was probably based on the first (1540) or second (1548) Aldine edition of Machiavelli’s works (Gerber: 1962, 3: 66), both of which only contained The Prince, the Discourses, and The Art of War. Even later, Tegli may still have relied exclusively on one of the Aldine editions, given that the Machiavelli-related notes in Tegli’s manuscript of Castellio’s Dialogi quatuor are limited to the Discourses and The Art of War. Stupanus’ description of Machiavelli’s writings as “partim Politica, partim Historica, partim denique, de Ratione bellum gerendi” does not necessarily suggest familiarity with any other works by Machiavelli either. However, “partim Historica” might, of course, also include the Florentine Histories. In fact, Gábor Almási has drawn attention to a relevant letter from 3 June 1583 by the Venetian Girolamo Donzellini, a friend of the recently deceased Perna, to Theodor Zwinger (2016: 867, n. 63). Apparently, a friend of Donzellini had lent to Perna a copy of the four-volume Giunta edition (1551), which additionally included the
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was the driving force behind the project, which apparently had been in preparation for quite some time.140 However, nothing came of these plans, not least because of the public scandal and the estrangement between Perna and Stupanus that followed the publication of The Prince in 1580.141 Initially, the source of concern was Stupanus’ dedicatory epistle to Jacob Christoph Blarer von Wartensee (1542–1608), the Bishop of Basel and one of the leading Swiss counter-reformers.142 By praising the bishop for his alliance with the Catholic cantons and his efforts to establish the “correct form of worship,” Stupanus blithely transgressed the acceptable bounds of flattery in Protestant Basel. Sensing trouble ahead, Perna consulted Theodor Zwinger and Basilius Amerbach, who presided the committee responsible for the censorship of the book production in Basel in his capacity as rector of the university.143 Despite minor changes to the epistle, a public scandal could not be averted. The Council itself instigated an investigation, fined Perna, and suspended Stupanus from his professorship. Perna claimed that Stupanus had promised him to cover any financial losses that might result from his daring epistle, but the latter refused to do so, which led to a legal feud and even to a physical altercation between the two. Perna eventually reissued the volume without Stupanus’ controversial epistle. Still dated to 1580, the title page no longer identified the printer. The first gathering, which included Stupanus’ epistle and the excerpt “De magistratu” was entirely replaced with a new preface by the printer (“typographus”), a eulogy of Machiavelli by Paolo Giovio (1482–1552), whose complete works Perna had printed two years earlier, and two epitaphs.144
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Florentine Histories, and asked whether Perna’s heir, Konrad Waldkirch, still wished to make use of it. As Stupanus reported in the course of the legal dispute that arose between Stupanus and Perna after the publication of The Prince in 1580, “Es hab sich begebenn, dass vor etlichen Joren Perna zu Ime kommen, begert, das er Ime die Opera Machiauelli welte transferieren, dass aber von vile der gschefften nit beschehen kennen” (qtd. in Almási: 2016, 865n.54). The standard account of the circumstances of the 1580 edition is Kaegi: 1940, which is now to be complemented with Almási: 2016, who discusses Gilly’s unpublished archival findings concerning the 1580 edition, which had not been accessible to Kaegi due to the precautionary measures to protect the Basel state archive from destruction in the 1940s. Stupanus’ bizarre praise for the bishop may be related to the latter’s help in retrieving his income from his old family rights and possessions in the Valtellina (Kaegi: 1940, 34). Since 1558, pre-publication censorship (including new works as well as new editions) was handled by the rector and the four deans of the university, who shared the workload according to the subject area of the publication in question. For the regulation of censorship in Basel, see Roth: 1914; Thommen: 1944; Lüber: 1997. The exact time of these changes and the publication of this issue (VD16 ZV 10216) is subject to debate. Kaegi (1940, 45) believed that it followed the scandal caused by Stupanus’ epistle in December 1580. However, one of the new documents brought to light by Gilly suggests that Amerbach had not seen the final version of Stupanus’ epistle before publication. When he finally
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The publication of The Prince together with Calvinist treatises of resistance theory was by no means an attempt to align the controversial Machiavelli with the Huguenot cause. According to the preface of the Vindiciae contra tyrannos, for instance, its author’s “inquiries diametrically conflict with the evil arts, vicious counsels, and false and pestiferous doctrines of Niccolò Machiavelli.”145 Stupanus’ epistle likewise emphasises the contrast between Machiavelli and the resistance theorists: we have collected and added some writings by very learned men on the same topic, which are fundamentally opposed to Machiavelli’s teachings, so that an astute reader, weighing the arguments on both sides of the question, may more conveniently arrive at a judgement in this controversy and the scope of the rights of princes and magistrates over their subjects.146
Machiavelli is thus explicitly placed in opposition to Calvinist resistance theory, as had already been done, if only as a slur, in Huguenot pamphlets such as the anonymously published Epistre aux delicats et flateurs Machiavelistes, qui ne peuvent trouuer bonne la prinse des armes, contre la tyrannie violente des perturbateurs de l’Estat du Royaume de France, & repos Public (1575).147 According to Kaegi, the publication of The Prince as part of an exercise of arguing both sides may have served to blunt the provocation of publishing The Prince after the St Bartholomew’s Day Massacre.148 It is in such terms that the addition of the treatises was eventually justified rather listlessly in the preface of the third issue: “I wish to say one more thing, namely, that I have added these two salubrious and Christian books to Machiavelli, so that those who find him poisonous have an
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saw it, he asked Perna to change it again, even before the council became involved in the affair in December. Plans for this new issue may thus already have taken shape in autumn 1580. See Almási: 2016, 864. Stephanus Junius Brutus, Vindiciae, contra tyrannos, ed. and trans. George Garnett, Cambridge, 1994, 8. “[...] alia eiusdem argumenti scripta quaedam doctiss. virorum collegimus & adiecimuus [sic], quae Machiauelli institutum maxime oppugnare conantur. Uidelicet vt ingeniosus lector, vtriusque partis argumenta ponderans, commodius de hac controuersia, totoque principum ac Magistratuum in suos subditos iure, sententiam suam interponere posset” (Princeps, 1580, VD16 M 10, Stupanus, dedicatory epistle, fol. a 5r–v). Indeed, Machiavelli observes in chapter 19 of The Prince that France safeguarded “the liberty and security of the king” with “countless good institutions” that restrained “the ambition and arrogance of the nobles” (2017, 66). Hence, his praise for France as “one of the best-ordered and best-governed modern kingdoms” (2017, 66) might have appealed to politique defenders of the monarchy as much as it annoyed the resistance theorists of the 1570s. Kaegi: 1940, 29 f.
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antidote with which they may cure themselves from his poison and need not accuse me of favouring tyranny, as it were.”149 Curione, for instance, had likewise been advised by the censor to frame his heterodox De amplitudine beati regni Dei as an exercise in arguing both sides of the question and to state that he would leave the judgment to the pious and impartial reader and to the orthodox church.150 In fact, the 1580 edition is probably the only instance of any attempt to subject Machiavelli to a formal procedure of censorship in Protestant territories, even though Perna and Stupanus might simply have ignored the censors’ instructions.151 However, the antidote explanation should not be taken at face value. Even though the title page of the 1580 edition announces that “some writings against Machiavelli by others on the same argument, on the power and office of princes and against tyrants, are attached,”152 The Prince and the Calvinist treatises were probably also sold independently. Noting that they are not included in the copy of The Prince that is kept in the Universitätsbibliothek Basel (Kd XII 5:2), Almási suggests that this is the form in which the book may have been distributed on the Swiss market.153 There are indeed several surviving copies in which the Calvinist treatises are missing, and the latter may have circulated independently as well.154
149 “Illud vnum addam, me libellos illos duos tam salubres & christianos Machiauello coniunxisse, vt qui illum venenosum existimant, habenat [sic] antipharmacum quo se a veneno curare possint, & me tanquam tyrannidis fautorem non insimulent” (Princeps, 1580, VD16 ZV 10216, preface, fol. a 4v). 150 For the transcript of the censor’s report and a discussion of the circumstances of the publication of Curione’s treatise, see Plath: 1974. 151 Zwierlein: 2018, 352 f. The Prince was submitted to the faculty of arts, as can be gathered from the testimony (Appendix A in Almási: 2016) which Basilius Amerbach composed for the eventual legal dispute between Perna and Stupanus before the university senate in May 1581: “Ob es nun Machiavellus censirt oder verbotten worden hab ich kein andern bericht dan ich von D. Rectore Zuingero verstanden wie facultas artium etwas darin underschriben hebet, so verbessert werden sollt” (qtd. in Almási: 2016, 881). Censorship did not just concern the well-known case of the controversial epistle, but also the book itself, as Stupanus later emphasised: “zuo dem hab facultas artium sowol dass buch, als auch die praefation censiert, und durch strichenn, also dz dz buch so gut, als die praefation” (qtd. in Almási: 2016, 866n.56). However, a comparison of the 1560 edition and Stupanus’ revisions nowhere raises the suspicion of censorship – unless Stupanus’ faithfulness to Tegli’s expurgations of the text is, in fact, the product of censorship. 152 “Adiecta sunt eiusdem argumenti, Aliorum quorundam contra Machiauellum scripta de potestate & officio Principum, & contra tyrannos” (Princeps, 1580, VD16 M 10). 153 Almási: 2016, 858. 154 The Calvinist treatises are also missing in the copy of The Prince held in Stuttgart described by Gerber (1962: 3:68 f.) and in the copy held at the Folger Shakespeare Library in Washington, D.C., (JC143 .M3 1580 Cage), which I have seen myself. Whether the Swiss market was the specific target for such a truncated version remains, without a systematic survey of the surviving copies of the 1580 edition, a matter of speculation. However, complete copies likewise give the impression of a composite product. They contain continuous page numbers and signatures throughout The
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Even in its composite form, the Calvinist treatises can hardly have been meant to mitigate the volume’s impressive potential to cause scandal. As I suggest in the following, printing these treatises was a risky business in its own right, which was arguably motivated just as much by economic considerations, that is, an attempt to cater to an ideologically heterogeneous print market both in Basel and abroad, as by the desire to make The Prince palatable to a Protestant readership. Basel had become an important centre for the printing of Huguenot literature already in the 1570s, even before Basel’s political and military support for the Huguenot cause followed in the mid-1580s. Thomas Guérin, for instance, seems to have been responsible for the publication of a number of Huguenot pamphlets and treatises, such as Hotman’s De furoribus Gallicis (1573), a Latin translation of Le Reveille-Matin des François (1574), and the editio princeps of the Vindiciae contra tyrannos (1579), all under the false imprint of “Edimburgi.” However, while “[t]he Basle printers by and large came to serve the Huguenot cause quite faithfully,”155 they did not represent Basel’s official position towards the French Wars of Religion. Initially, the Swiss Protestant cantons were rather lukewarm in their support of the Huguenots. During the first war in 1562/63, only Bern sent troops to support them, and Basel, unlike Zurich and Bern, even renewed its alliance with the Crown in 1564. Despite increasing sympathy for the Huguenots in Basel in the following decades, a significant change in the city’s French policy occurred only after the death of the Duke of Alençon in 1584, when Henry of Navarra became heir presumptive to the throne and Basel became an important recruiting center for his Swiss and German auxiliary troops.156 In 1580, however, there would have been much more suitable texts to add to The Prince than treatises on resistance theory – that is, if Perna’s only aim had been to avoid controversy and to mitigate the provocative character of The Prince. In Basel, these treatises apparently still had to be published under a false imprint. The risk of publishing these treatises is also suggested in the exchange between Perna and Stupanus before the university senate on 10 May 1581, when Perna
Prince and the Cassius Dio excerpts, followed by an index (which only contains references to The Prince and is also part of the truncated versions). The Vindiciae contra tyrannos then follow with a separate title page and new pagination and signatures. De iure magistratum likewise comes with a separate title page, but continues the page numbers and signatures of the Vindiciae. This composite volume was reprinted several times throughout the sixteenth and seventeenth century. However, in his critical edition of the Vindiciae, George Garnett has identified several copies of these editions (1595, 1600, 1608), in which the separately paginated supplement of Calvinist treatises circulated independently of The Prince (Garnett 1994: lxxxiv). 155 Bietenholz: 1971a, 113. 156 For the significant Huguenot presence and printing of Huguenot works in Basel more generally, see Bietenholz: 1971a, 112–121; for Basel’s role in the French Wars of Religion, see Holzach: 1902; Burckhardt: 1939.
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eventually accused his collaborator because of his failure to compensate him for the expenses that had followed from the whole affair. Whereas Perna had felt confident enough to submit The Prince to the censors, Stupanus claimed that the printer had not been fined for The Prince or Stupanus’ dedicatory epistle, but for the Vindiciae, which he had failed to submit to the censors. In fact, Stupanus complained that Perna had been so secretive about the Huguenot treatises that he had not said anything about the addition of the Vindiciae even to Stupanus himself.157 Apparently no longer able deny his responsibility, Perna admitted that he had indeed printed the Vindiciae without Stupanus’ knowledge, but claimed that this had not been the reason for his fine.158 We may of course question the sincerity of Stupanus’ attempt to shift the blame on the printer. Even though Stupanus successfully managed to avert Perna’s claims, Zwinger writes in a letter from May 1581 that the actual reason for Perna’s fine had indeed not been the printing of Huguenot treatises under a false imprint, but his failure to show the final version of Stupanus’ epistle to the censors.159 Nonetheless, Perna had evidently attempted to disguise his responsibility for printing the Vindiciae and Du droit des magistrats and took, as his eventual failure to obtain a compensation from Stupanus suggests, a considerable risk in doing so. Unlike on the title page of The Prince, Perna’s name and the place of publication are, in violation of the censorship mandate from 1558, absent on the separate title pages of the Vindiciae and of Du droit des magistrats.160 In fact, the vocabulary of the title page and the preface (colligere, adicere) does not necessarily concede that Perna had indeed pr i nte d these works, but may also be taken to mean that he merely retailed them. The separate pagination of the supplement of resistance 157 “Zum 3. hab er ein famosum libellum zuo dem buch druckht, das er Ime Stupano nit angzeigt, vnndt hiemit in also decipiert. 4°. sub poena infamiae sig Ime verbotten worden nit zu druckhen oncensiert, es sig nüw oder alt, diewil und dan er umb solcher ursach willen gstrafft.” This is presumably an allusion to Perna’s brief incarceration after his clandestine publication of Castellio’s Dialogi quatuor two years earlier. As Stupanus goes on, Perna had “ein buch, vnndt Ottomanni famosum [sic!], darzuo gedruckht, weiss auch nit ob es ime von den H[erren] zuglassen […] dann sollicher druckh beschehen ex sua improbitate partim, partim ex negligentia” (StAB, UA H 2,1, fol. 26r , qtd. in Almási: 2016, 864n.48). Remarkably, there is no mention of de Bèze’s Du droit des magistrats. The reference to Hotman’s authorship of the Vindiciae is particularly startling and confirmed by Perna himself (Almási: 2016, 865n.48). As Almási points out, this is the earliest authorial attribution of the Vindiciae and has been previously unknown in the extensive literature on the authorship of the treatise (2016: 867). 158 “[…] es sig waar, daß er Ottomanni büchlein darzu druckht, vnndt ime Stupano, nit davon anzeigt” (qtd. in Almási: 2016, 856n.48). 159 Rotondò: 1974, 290n.41. 160 The mandate stipulates that “alle solliche in ir gnaden statt Basell wonende truckhere […] vermögend das sy kein buch vor der presenntierung vnnd besichtigung ouch one ire gerechte touff- vnd zunammen selbs truckhenn noch andere truckhenn lassen sollen” (qtd. in Roth: 1914, 63).
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theory treatises, as well as the separate index for The Prince, further strengthen the impression of a nonce collection that had not originally been planned by the printer as a single unit. This is significant because, unlike in Bern or Geneva, only printing was subject to the censorship regulations in Basel whereas booksellers were free to retail without previous approbation of individual titles.161 By publishing the volume as a (pseudo-)nonce collection, Perna could have defended himself by pointing out that it would have been not his duty, but the (hypothetical) printer’s duty, to submit the texts to censorship. As has been overlooked in subsequent scholarship, Bietenholz identifies two editions of the Vindiciae, both bound with Du droit des magistrats, from 1580. I have not been able to see copies of either edition in person. However, Bietenholz notes that “one is in every way characteristic of the productions of P. Perna; the second looks like a contrefaçon of the first, but since all the typographical material used in it was available to Perna, it may also be ascribed to his press.”162 Several scenarios are possible: for instance, one of these editions may be the separately circulating supplement to The Prince, in which case the demand for the Calvinist treatises would apparently have been high enough to warrant another edition. Alternatively, Perna may actually have published the treatises first as a stand-alone volume and subsequently launched a second print run for the Machiavelli volume. Although somewhat less likely, the Machiavelli edition may also have been a nonce collection indeed, for which Perna partly resorted to remaining stock of the Calvinist treatises. In this scenario, however, Perna’s decision to print within a short space of time a second edition of the Calvinist treatises although the first edition apparently was a shelf warmer – if both editions were indeed printed in 1580 – would require an additional explanation. In conclusion, the precise circumstances of their publication may remain a matter of speculation for now, but there is no doubt that the Calvinist treatises were not simply a means to mitigate the provocative character of The Prince. Instead, they were a significant part of Perna’s ambitious and controversial publishing programme in 1580, which aimed to address one of the burning political issues of the day, “the scope of the rights of princes and magistrates over their subjects,” from a variety of perspectives.163 Nonetheless, the Machiavelli volume as a whole arguably endorses a political and intellectual tradition in Basel that was critical of both Calvinist orthodoxy and Huguenot resistance and very open to politique thought on toleration from the early 1560s onwards. Thus, Basel refused to send troops to either party in the first war and suggested instead at the Federal Diet in 1562 that the Swiss Confederacy 161 Lüber: 1997, 93. 162 Bietenholz: 1971a, 304n.88. 163 “[...] de hac controuersia, totoque principum ac Magistratuum in suos subditos iure [...]” (Princeps, 1580, VD16 M 10, Stupanus, dedicatory epistle, fol. a 5r–v).
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send a diplomatic delegation to France in order to mediate between Catholics and Protestants.164 Such a spirit of confessional reconciliation was also given voice in Basel’s printing presses. For instance, a Latin translation of the Exhortation aux princes et seigneurs du conseil du Roy (1561), commonly attributed to Étienne Pasquier and possibly translated by Castellio, was printed by John Oporinus in Basel in the same year.165 Of particular interest for the reception of politique thought in the milieu of the Italian exiles in Basel is Castellio’s Conseil à la France desolée (1562). In the Conseil, Castellio comes to the conclusion that “la principale cause de ceste guerre est vouloir maintenir la religion” and approvingly cites the Exhortation, “auqel livre est donné le mesme conseil que je veux donner, c’est de permettre en France deux Eglises”.166 Moreover, Castellio also mounts, as Ochino would do one year later in his Dialogi triginta (1563),167 a trenchant critique of Huguenot resistance: “Voilà les trois remèdes dont vous usés, à sçavoir espandre sang, forcer consciences et condamner et tenir pour infidèles qui ne sera du tout d’accord avec vostre doctrine.”168 In Castellio’s eyes, armed resistance is simply the flipside of the intolerance and persecution which Anabaptists and anti-Trinitarians experienced under Protestant authorities in Geneva and the Protestant cantons. As both advocates and opponents of resistance theory recognised, the duty to rise up against a heretical ruler rested on a premise of religious unity that left no conceptual space for religious toleration. It is for this reason, among others, that in De haereticis a magistratu puniendis (1554) Théodore de Bèze had criticised Castellio’s plea for toleration, namely, because Castellio questioned the duty to uphold the true faith, which legitimised the resistance of inferior magistrates against heretical superiors, as, for instance, in the refusal of Magdeburg to accept the Augsburg Interim.169 Castellio, on the other hand, propagates non-resistance, as expounded by the early Luther,
164 Holzach: 1902, 9 f. 165 Bietenholz 1971a: 209 f. Notably, also the Luccan Protestants were receptive to politique thought on religious toleration. Filippo Rustici, for instance, one of the Italian refugees from Lucca who had been forced to sign Calvin’s Trinitarian confession of faith in 1558 together with Tegli, published an Italian translation of the Bible in 1562. Of particular interest is the preface, “Ai principi e republiche d’Italia che si debben leggere le Sante Scritture in lingua volgare” (La Bibia fol. a2r–a5v). This (limited) plea for toleration is, as Adorni-Braccesi has pointed out, inspired by the precarious forms of toleration in France in the early 1560s, Gallican attitudes towards spiritual authority, and perhaps, more specifically, by the Exhortation aux princes et seigneurs du Conseil privé du Roy (1997, 355–360). 166 Conseil à la France désolée, ed. Marius F. Valkhoff, 1967, 20, 53. 167 Book 2, dialogue 26, “De ratione extruendi regni Christi, & destruendi Antichristi.” Cf. the discussion of Ochino’s Dialogi triginta in section 2 of this essay. 168 Castellio, Conseil, 28. 169 De Bèze, De haereticis puniendis, 133.
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
who “combattoit de langue et de plume, sans mettre la main aux armes, et sans y pousser les autres, ains les en retirer, comme il appert par le livre qu’il a faict du magistrat.”170 The 1580 edition of The Prince is arguably invested in the same endeavour to extricate the magistrate from the duty to uphold the true faith in a narrow, confessional sense by means of coercion on the one hand, and to invalidate resistance on religious grounds on the other. In this regard, the brief excerpt “Ex cuiusdam scripto, De Magistratu” (fol. a 7r – a 8v), which Perna added to the first issue of the 1580 edition, deserves more attention than it has received so far. I have been able to identify the piece as an excerpt from a scholium, entitled “de magistratu,” from Vermigli’s commentary on Judges (In librum iudicum), first published in Zurich in 1561, which was also included in Vermigli’s posthumously compiled Loci communes (London, 1576). Notably, Perna reprinted the Loci communes in 1580 as part of a three-volume edition of Vermigli’s collected works (1580–1582), one of the last major publishing projects before his death.171 That is to say, Perna would have had the text readily available when he included it in his edition of The Prince in 1580. The reason for its anonymous publication in The Prince is not entirely clear. Perhaps, Perna had scruples to link the memory of his revered associate in the Protestant movement in Lucca with such a controversial publication and wished to avoid unnecessary controversy. However, an additional motivation may also lie in the fact that the excerpt misrepresents Vermigli’s political thought and that Perna intended to cover his tracks by anonymising the excerpt. In his commentaries on the historical books of the Old Testament, Vermigli gives a sympathetic and consistent account of the ‘Respublica Hebraeorum’ in the terms of classical republican language and offers an influential justification for the resistance of inferior magistrates. Thus, Vermigli’s commentary on Judges would still be cited as late as in Milton’s Tenure of Kings and Magistrates (1649), and his commentary on Kings is even paraphrased in the Vindiciae contra tyrannos.172 None of this, however, could be gathered from the excerpt which Perna reproduced. Here, the magistrate is defined as “a person chosen by the institution of God in order to keep the laws concerning outward discipline (disciplina externa), to sanction transgressors with corporal punishment, and to favour and promote the good (boni).”173 The magistrate is therefore to be distinguished from the ministers of
170 Castellio, Conseil, 31. Castellio is alluding to Luther’s On Secular Authority (1523), which he had already cited at length in De haereticis an sint persequendi. 171 In Perna’s edition of the Loci communes, the excerpt is to be found at 1655A–1658A. 172 For Vermigli’s republicanism, see Bravi: 2002. 173 “Magistratus sic potest describi: vt sit persona diuino instituto delecta, vt quo ad externam disclipinam leges custodiat, poena corporis transgressores plectendo, & bonos foueat atque amplectatur” (Princeps, 1580, VD16 M 10, “Ex cuiusdam scripto, De Magistratu” fol. a 7r).
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God, who are “guardians of the word of God and His law.”174 To be clear, Vermigli’s disciplina externa also includes the outward aspects of the ‘cura religionis’. However, Perna’s selection does not accurately reproduce Vermigli’s notion of a twofold cura religionis both by the secular magistrate, who is responsible for outward aspects of worship and ecclesiastical jurisdiction, and the ministers, whose office it is “to reach the inward motions of the soul with the word of God.”175 Vermigli’s conclusion that “both of them promote the godly (pii), although in different manners,” is missing in Perna’s version and thus gives way to a more secular account of political authority.176 Accordingly, Perna also omits Vermigli’s remark that “princes in the Holy Scriptures are not only called diacons or ministers of God, but also pastors” and merely retains Vermigli’s observation that Agamemnon is called “pastor” by Homer, thereby defusing the Christian connotations of the office.177 As for Vermigli’s republican tendencies, Perna cuts a brief excursus on the constitutional history of Israel. Instead, the excerpt emphasises the divine injunction from Romans 13 that secular authority derives from God even in a pagan commonwealth, that the magistrate must be obeyed for the sake of conscience, and that tyranny must be suffered patiently. Vermigli mentions not only the example of Nero, the alleged object of Paul’s political reflections in Romans 13, but also alludes to the disastrous outcome of the rebellion of the Jews against the Babylonians, which Castellio likewise cites in his condemnation of Huguenot resistance in his Conseil, referring to Lament 4:12–15.178 Even though secular authority may derive from God, there is no trace, in Perna’s excerpt, of the magistrate’s duty to uphold the true faith, which is so central in the Calvinist resistance treatises. As it stands, the excerpt rather emphasises a radical distinction between spiritual and secular government and an unconditional imperative of political obedience. In line with this distinction, the only direct Biblical citation that remains in the excerpt (as it is reprinted in the Machiavelli edition) is from Mt 22,21: “render therefore unto Caesar the things which are Caesar’s; and unto God the things that are God’s.”179 This tendency towards a secularisation of political authority and the critique of resistance are confirmed more explicitly in the new preface by “typographus” to
174 “[…] qui tamen uerbi dei & legis eius custodes sunt” (Princeps, 1580, VD16 M 10, “Ex cuiusdam scripto, De Magistratu”, fol. a 7r). 175 “Quia ministrorum est officium, per uerbum dei ad intimos usque motus animorum pertingere” (Vermigli, Loci communes 1655B). I cite from Perna’s edition of the Loci communes (1580). On the relationship between secular and ecclesiastical jurisdiction in Vermigli’s thought, see Kirby: 2003. 176 “Vterque pios fouet, sed ratione diuersa” (Vermigli, Loci communes, 1655C). 177 “Sed id non est omittendum, Principes in diuinis literis non tantum appelari diaconos seu ministros dei, uerumetiam Pastores” (Vermigli, Loci communes, 1657C). 178 Castellio, 1563, 77. 179 Cf. Princeps, 1580, VD16 M 10, “Ex cuiusdam scripto, De Magistratu”, fol. a 7v.
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
the final issue of the volume, which replaces Stupanus’ epistle and the Vermigli excerpt.180 Acording to the preface, Machiavelli writes acutely and ingenuously about the acquisition and maintenance of principalities, “not as a Christian, but as a philosopher.”181 The Machiavellian prince first and foremost strives to maintain peace and is ready to use any means necessary in order to do so. The resistance theorists, on the other hand, do not wish to preserve the peace of the realm, but incite the people, under the pretext of liberty of conscience, with pamphlets, letters, sermons, even weapons, and all efforts, to war and sedition. But what do they achieve in the end? They have already uprooted (euerterunt) consciences, the noblest families, the people, and the whole realm, as anybody can see.182
Already Tegli had denounced Calvin as an “eversor” (*3v) in his dedicatory epistle to the 1560 edition, and the Huguenot eversores continue, as this preface suggests, the work of their master by fomenting religious strife and violence. It is in this pragmatic emphasis on the priority of political order, opposed to narrow confessional policies that allegedly lead to war and chaos, that Machiavelli begins to resemble politique theorists such as Jean Bodin,183 who famously declares in the preface to the third French edition of his Six livres de la République (1578): When I see how subjects everywhere arm themselves against their princes and that books are published, which, like torches, set the commonwealth on fire and teach us that princes, who have been assigned to humankind by God, are to be removed from power under the pretext of tyranny, and that princes are to be instituted by the will of the people and not by hereditary right – seeing that such doctrines undermine the foundations not only of this kingdom, but of all commonwealths, I affirm that neither a good man nor a good
180 The authorship of the preface to this issue (VD16 ZV 10216) is not entirely clear. Gilly believes that Zwinger, who apparently often wrote prefaces for Perna under the latter’s name, may also be responsible for this one (2004, 746), while Almási rightly points out that the great pride in his own productions (Princeps, 1580, VD16 ZV 10216, preface, fol. a 4v – a 5v), which “typographus” expresses, suggests at least a partial involvement on Perna’s part (2016, 870, n. 81). 181 “Ille enim de acquirendi ac retinendi principatibus artibus tam bonis quam malis (vt nihil dissimulemus) acute & ingeniose agit, & non vt Christianus, sed vt Philosophus” (Princeps, 1580, VD16 ZV 10216, preface a2r). 182 “Ipsi enim non regnum aut principatum in pace habere volunt, sed libellis, epistolis, concionibus, armis denique, omnibusque conatibus (vt res ipsa docet) populum ad arma & seditiones concitant, suae conscientiae libertatem praetexentes. Sed quid tandem efficiunt? Conscientias, familias nobilissimas, populum, regnum denique totum, vt omnes vident, iam iam funditus euerterunt” (Princeps, 1580, VD16 ZV 10216, preface, fol. a 3r–v). 183 For a detailed discussion of Bodin’s intellectual kinship with the politiques, see Voogt: 2006.
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citizen may move against his prince, regardless of how tyrannical he may be, and that vengeance must be left to God or to other princes.184
However, there are also significant differences between Bodin and the anonymous “typographus” from Basel. What Bodin offers is a refutation of resistance theory in its own, legal and constitutional terms. In this regard, his argument mirrors the claim of the Vindiciae that “there could be no more certain and prompt remedy” against Machiavelli’s pernicious precepts “than if the rule [imperium] of princes and the right of peoples [ius populorum] (who are under them) were referred to their legitimate and certain first principles.185 ” Although Bodin comes to radically different conclusions, he is likewise invested in the project of identifying the “legitimate and first principles” of political authority. “Typographus,” on the other hand, follows a more pragmatic approach and formulates his response in terms of reason of state. Abandoning the language of law and rights, in which the resistance theorists and Bodin debated their case, “typographus” is rather concerned with the question of how civil war might have been prevented to begin with. According to him, Machiavelli cannot be blamed for the descent of France into civil war, and a truly Machiavellian prince would never have provoked the Huguenot resistance: “If princes observed his precepts, they would not become so bad that they would be forcibly put in their place by their subjects.”186 What “typographus” recommends as a solution to the Wars of Religion is a dispassionate and empirical investigation of cause and effect, a practical rather than a theoretical solution to the crisis at hand. That is to say, the appeal to Machiavelli’s authority does not serve to buttress a normative and systematic refutation of Huguenot resistance theory, but advertises Machiavelli’s political prudence and pragmatism, which is set in contrast to the resistance theorists, who “cannot govern and neither know how to.”187
184 “Sed cum viderem ubique subditos in principes armari, libros etiam, veluti faces ad rerum publicarum incendia, palam proferri, quibus docemur principes divinitus hominum generi tributos, tyrannidis objecta specie de imperio deturbare, reges item non a stirpe, sed a populi arbitrio peti oportere; easque disciplinas, non solum hujus imperii, verumetiam rerum omnium publicarum fundamenta labefactare, ego boni viri, aut boni civis esse negavi suum principem quantumvis tyrannum ulla ratione violare; hanc denique ultionem immortali Deo aliisque principibus relinqui oportere” (Bodin, Les Six Livres de la République, vol 1:134). A modern French translation of the preface, originally published in Latin in the French edition of the Six livres from 1578, is available in the critical, bilingual edition by Turchetti and de Araujo, 127–139. 185 Stephanus Junius Brutus, Vindiciae, contra tyrannos, ed. and trans. George Garnett, Cambridge, 1994, 9. 186 “Imo si eius praecepta principes seruarent, non eo deuenirent, vt cogerentur a subditis in ordinem redigi” (Princeps, 1580, VD16 ZV 10216, preface a 4r). 187 “regnare non possunt, neque sciunt” (Princeps, 1580, VD16 ZV 10216, preface a3v).
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
It is due to its pragmatic approach to the French Wars of Religion that the 1580 edition of The Prince ultimately lacks ideological closure, especially in the final issue, despite its strong critique of resistance theory. As Cornel Zwierlein (2010b) argues, Machiavelli’s discussion of politics on its own terms, without adulterating his analysis with moral philosophy or law, stimulated, or at least came to stand for, this shift from a normative political discourse towards an empirical foundation for political decision-making in the German territories – as the 1580 edition of The Prince would seem to confirm indeed. Moreover, its juxtaposition of fundamentally opposed approaches to the French Wars of Religion and even different languages of political analysis becomes significant insofar as it ultimately privileges, to use Stupanus’ expression, the “ingeniosus lector” (fol. a 5r), who is no longer a passive recipient of political orthodoxies. Arguing both sides of the question is thus not simply a matter of avoiding censorship or catering to a heterogeneous print market, even though such factors, insofar as they contribute to the volume’s dialogic structure, reinforce the pressure on the reader to adopt a role as an active agent in the process of interpretation. One might even say that the structure of the 1580 edition itself exemplifies what Victoria Kahn has characterised as Machiavellian rhetoric: Faced with the dilemmas of contingent action, Machiavellian virtù responds not only with a rhetorical analysis of options – through argument on both sides of a question – but also with a rhetorical critique of the usual humanist approach to, or the dominant ideology of, politics.188
The dialogic structure of the 1580 edition and its emphasis on pragmatic decisionmaking do indeed favour such self-reflexive and ideologically open-ended reading. Such a method of reading, which is sensitive to the contingencies of political action, is exemplified in paradigmatic fashion by the most famous reader of Tegli’s translation – Baruch Spinoza.189 While Spinoza suggests in his Political Treatise (Tractatus Politicus) that Machiavelli “wanted to show how much a free multitude should beware of entrusting its well-being absolutely to one person,” he simultaneously ascribes to Machiavelli the type of pragmatic approach to resistance which “typographus” already recommends in the 1580 edition of The Prince. That is to say, Spinoza suggests that “[p]erhaps Machiavelli also wanted to show how imprudent many people are to try to remove a Tyrant from their midst, when they can’t remove the causes of the prince’s being a Tyrant. On the contrary, they give the 188 Kahn: 1994, 19. 189 A copy of “Machiavell. Basil.” is listed in an inventory prepared for the posthumous auction of Spinoza’s possessions (Ravà: 1931, 301). For Machiavelli as an author of a method that was appropriated even by self-declared opponents of the Florentine secretary, rather than as an author of a specific doctrine, see further Kahn: 2010; Zwierlein: 2006, 25–197; 2010b, 37–39; 2018, 342–345.
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prince more reason to fear, and so more reason to be a Tyrant.”190 Spinoza’s subtle and ambivalent reading of Machiavelli between republican idealism and political realism thus captures in an exemplary manner the interpretative flexibility of the Machiavellian “man of virtù as someone who can use the ironies of political action to achieve political stability.”191 Such flexibility was also required in the difficult position in which Basel found itself during the confessional conflicts of the sixteenth century, when the Rhine city was certainly no stranger to “the ironies of political action.” Even after Francis I had begun to tighten the reins on French Protestantism in the 1530s, Protestant Basel did not cut its ties to France. In 1549, the city even renewed its alliance with Henri II, an intransigent persecutor of the Protestant faith – paradoxically, in order to counterbalance the religious and military threat posed by the Empire, which was felt particularly keenly at the Upper Rhine in the wake of the Schmalkaldic War.192 The heightened degree of interpretative self-reflection in the 1580 edition of The Prince, giving voice both to the confessional imperative of Huguenot resistance and to Basel’s traditional alliance with the French Crown, is therefore symptomatic of this increasingly complex web of disparate religious sympathies and political considerations, which was eventually resolved in the turn of the city’s French policy in favour of Henry of Navarra. When reading the 1580 edition as a meta-reflection on political decision-making and different languages of political analysis as such, its politique-like take on the Wars of Religion is therefore not as dogmatically opposed to resistance theory (and its republican implications) as it may seem at first glance. Moreover, this metareflection can be characterised as specifically Machiavellian insofar as it registers the inherent tension between Machiavelli as a republican theorist on the one hand and Machiavelli as a hard-headed, empirical political analysist on the other, which is captured in such exemplary fashion in Spinoza’s Political Treatise and which is, in fact, already noted by Bodin.193 Finally, this tension ultimately both challenges and privileges the judgement of the reader and might therefore also help to comprehend the heterogeneous nature of Machiavelli’s reception among the Italian dissidents of the sixteenth century, which I shall discuss in more detail in the remainder of this essay.
190 Political Treatise, ch. 5.7, in: The Collected Works of Baruch Spinoza, ed. and trans. Edwin Curley, 2016, vol. 2:531. 191 Kahn: 1994, 24. 192 Burckhardt: 1939, 86–89. 193 As Bodin comments in his Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1566), “I know not why Machiavelli, a Florentine, praised popular rule so highly, since from his history it is plain that of all states none more unhappy than Florence existed as long as it was democratic” (in the edition of 1945, translated by Reynolds, 270).
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
5.
From Basel to London
While the 1580 edition of The Prince by and large presented Machiavelli as spokesman of a politique solution to the French Wars of Religion in opposition to Calvinist resistance theory, some Italian Protestants, especially in England, recognised in the Florentine a champion of republican ideals, who exposed tyrants and their stratagems and thereby offered a fundamental critique of monarchical forms of government. As already noted, Spinoza advanced such a republican interpretation of Machiavelli, and in the eighteenth century, it was Rousseau who famously observed in his Contrat Social (1762) that Machiavelli, “while he pretended to give instruction to kings, gave valuable lessons to their peoples. Machiavelli’s Prince is a book for republicans.”194 However, this republican interpretation of The Prince, which became particularly prominent among the political philosophers of the enlightenment, can already be found among the Italian dissidents of the sixteenth century. Tegli’s interpretation of The Prince, especially in chapter 18 (“How rulers should keep their promises”), as a descriptive analysis of tyranny rather than a prescriptive treatise on the art of government, arguably helped to enable this line of interpretation. Stupanus, for instance, echoes Tegli in his Latin translation of the Discourses, which was printed in 1588 in Mömpelgard/Montbéliard. Whereas Stupanus had defended Machiavelli’s ethically questionable precepts in his dedicatory epistle to The Prince in 1580 by comparing them to the desperate measures that a doctor may have to undertake if necessity calls for them,195 he pursued a somewhat different approach eight years later. In the preface to his translation of the Discourses, Stupanus proclaims that the reader “will know not only the grounds of good counsels, but also of devious and crooked counsels […] not in order to apply them, but in order to resist and properly oppose them. Otherwise, if we are ignorant of these things, we can easily fall into error and be deceived.”196 Such an analytical rather than normative reading of Machiavelli easily turns him into a subversive writer, whose republican sympathies are not restricted to the Discourses. So much is suggested, for instance, in Traiano Boccalini’s (1556–1613) satirical Ragguagli di Parnasso (1612–13), in which Machiavelli is hauled into the court of Apollo, where he excuses himself by stating that he is merely describing what the princes have always practised. However, this claim does not exonerate him – on the contrary,
194 The Social Contract, trans. Christopher Betts, 1999, book 3, ch., 6, 106. 195 Princeps, 1580, VD16 M 10, Stupanus, dedicatory epistle, fol. a 3r–v. 196 “Cognosces autem non bonorum tantum, sed etiam prauorum & callidorum consiliorum rationes […] Non equidem vt iis vtamur, sed vt iis resistamus & aduersus ea commode pugnemus: cum alioquin, si harum rerum ignari simus, facile labi ac decipi queamus” (Disputationum de Republica … libri III, Stupanus, preface, ¶3r–v).
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the prosecutor urges the judges to convict him because “he was found at night in a flock of sheep, endeavouring to put dogs’ teeth in their mouth, with the evident danger that the whole race of shepherds might desert.”197 In other words, nothing is more liable to undermine the status quo than to reveal what princes a c tu a l ly do.198 The discovery of Machiavelli’s subversive, even republican, potential, which gained greater currency in the English and Dutch republican movements of the seventeenth century and especially in the political thought of the French Enlightenment,199 was first aired prominently among the Italian refugees in England in the 1580s and may in turn have inspired Stupanus’ revaluation of Machiavelli in 1588. Even though I have argued above that the Latin editions of The Prince from 1560 and 1580 cannot be adequately explained as the result of a republican agenda, there are nonetheless significant links between the reception of Machiavelli in Basel and London. Tegli’s translation was evidently available to an English readership in the 1580s.200 Moreover, there were numerous contacts between the Italian refugees in Basel and London, where most of Machiavelli’s writings were printed by John Wolfe in Italian editions in the 1580s. When the Italian exiles in England championed The Prince as an anti-tyrannical, even republican, book already in the sixteenth century – contrary to Pocock’s narrative, according to which Machiavelli was hardly ever 197 “[…] esser di notte stato trovato in una mandra di pecore, alle quali s’ingegnava di accommodare in bocca i denti posticci di cane, con evidente pericolo che si disertasse la razza de’ pecorai” (327). 198 See also Soll: 2005, for an account of how reason of state, as a critical historical method of reading, was “an intellectual tool that could be used not only to bolster royal authority but to criticize and dismantle it” (2 f.) and thus inadvertently gave rise to the Enlightenment critique of the ‘ancien régime’. However, whereas Soll credits primarily Amelot de La Houssaye, who published a French translation of The Prince in 1683, with the establishment of a “reason of state of the self ” (83) and an “ethic of personal survival” (82), such a reinterpretation of Machiavelli already lent itself readily to Italian Protestants, whom Soll does not discuss, but whose experience of religious persecution and its concomitant, difficult ethic choices arguably played an important role in this process, as I have suggested in my discussion of the points of contact between Nicodemism and Machiavellianism in section 3 of this essay. 199 See Kahn: 2010. 200 “Machiavelli princeps” appears on a list of books which the stationer Thomas Chard sent to Cambridge in 1583 (Jahn: 1923, 225) and in the posthumous inventory of the library of a fellow of Brasenose College in Oxford from 1588 (Curtis: 1958, 117). Moreover, a copy of the 1560 edition is attested in John Dee’s library catalogue from 1583 (Mordeglia: 2010, 75), and two further copies of the 1560 edition are listed in the inventory of the Lumley library from 1609 (Petrina: 2009, 19). Tegli’s translation is also cited in contemporary political literature, such as John Case’s Sphaera civitatis from 1588 (Schmitt: 1978, 235) or Samuel Cottesford’s Treatise against Traitors from 1591 (Petrina: 2009, 19), and the poet and playwright Ben Jonson used Tegli’s translation in his discussion of Machiavelli in Discoveries (Boughner: 1968, 139–140). For a helpful, more general survey of the evidence of the actual dissemination of Machiavelli’s works in the British Isles in the sixteenth century, see also Petrina: 2009, 1–45.
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understood as a republican thinker before the Civil War201 – their reception of Machiavelli should therefore also be considered in the context of the Machiavelli editions in Basel. The potentially seditious implications of Machiavelli’s foray into the ‘arcana imperii’ are first formed into a fully-fledged statement of republican values by Alberico Gentili (1552–1608), who had fled from the Inquisition to England in 1580, where he became Regius Professor of Civil Law in Oxford in 1587. In De legationibus libri tres (1585), Gentili characterises Machiavelli not only as “the greatest enemy of tyranny,” but also as “a eulogist of democracy and its most ardent champion.”202 Like Tegli, whose translation of chapter 18 emphasises the need to be instructed (edoctus) in the arts of the tyrant in order to frustrate them, Gentili reads The Prince as an oblique critique of tyranny, from which its subjects may learn valuable lessons: For the following reason, [Machiavelli] does not favour the tyrant: his aim is not to instruct the tyrant, but to expose him by his crimes plain and visible to the wretched people. The intent of this most prudent man of all was to instruct the people under the guise of advice to the prince. And he resorted to this subterfuge in the hope of being accepted by those who are in power, as it were, as their advisor and educator.203
Such an anti-tyrannical, even republican, interpretation of The Prince and Machiavelli’s œuvre at large may, as Diego Pirillo (2016) has suggested, actually have been common among Protestant Italians in England in the late sixteenth century. From 1584 to 1588, John Wolfe, who had also printed several works by Gentili in the 1580s, printed Italian editions of almost all of Machiavelli’s works in London under fictitious imprints.204 In the preface to the Discorsi (1584), the “stampatore” is at pains to challenge Machiavelli’s bad reputation and proclaims that from Machiavelli, he has “learned the difference between a just prince and a tyrant, the difference between the government of many good people and few bad ones, and the difference 201 Pocock: 1975, 333–360. 202 “Machiauellus Democratiae laudator, & assertor acerrimus […] tyrannidis summe inimicus” (Gentili, De legationibus, book 3, ch. 9). 203 “Itaque tyranno non fauet: sui propositi non est, tyrannum instruere, sed arcanis eius palam factis ipsum miseris populis nudum & conspicuum exhibere […]. Hoc fuit viri omnium prudentissimi consilium, vt sub specie principalis eruditionis populos erudiret: & eam speciem praetexuit, vt spes esset, ut ferretur ab his, qui rerum gubernacula tenent, quasi ipsorum educator, ac paedagogus” (Gentili, De legationibus, book 3, ch. 9). 204 The attribution of the five editions to Wolfe was first established by Gerber: 1907. For a refutation of the misconception that Machiavelli had been subject to censorship and that Wolfe’s editions were illegal, see Clegg 2017: 53–56. On Wolfe as a printer of Italian literature and mediator of continental publishing practices more generally, see Massai: 2005; Wilson-Lee: 2014.
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between a well-regulated community and a confused and licentious multitude.”205 The author of the preface to the Discorsi was likely Giacomo Castelvetro, a frequent collaborator with Wolfe in the 1580s, who praised Machiavelli’s efforts to restore the ancient liberties of Florence, even in The Prince, in similar terms as Gentili.206 In his unpublished manuscript notes, for instance, Castelvetro reads Machiavelli’s unflattering account of Cesare Borgia (1475–1509) as an attempt to rouse the Florentines from their complacency under Medici rule and to rekindle their yearning for liberty.207 In their subversive reading of The Prince as an attempt to unmask tyranny and despotism, Gentili and Castelvetro were arguably inspired by the late humanist interest in secret histories in the vein of Tacitus, which coincided with the rise of absolutism and claimed to expose the ‘arcana imperii’ of tyrannical regimes.208 Hence, there was no need to distinguish, as a later critical tradition would do, between the absolutist Prince and the republican Discourses. Gábor Almási has suggested that “John Wolfe’s project in 1584–1587 of publishing Machiavelli’s complete works originated in Perna’s office in Basel.”209 This passing comment deserves further attention, as there are indeed close connections between the two editions. Wolfe was the leading English printer of Italian literature in the 1580s, and Castelvetro was of paramount importance in his Italian venture. He was “one of the earliest instances of a ‘professional’ editor” in England and also served as an agent for Wolfe abroad.210 In this capacity, he was responsible for the dissemination of Wolfe’s books on the continent, especially at the Frankfurt Fair, as well as for the import of large stocks of books to be sold by Wolfe in England.211 If Wolfe was “one center of a complex web of relations – material, social, and ideological – among England, Northern Italy, and Basel,”212 it was undoubtedly Castelvetro who enabled him to occupy this position. Wolfe’s and Castelvetro’s links with Basel and its intellectual trends are of significant interest in the context of the Machiavelli editions. Especially at the onset
205 “Imparai a punto a conoscere qual differenza sia da vn prencipe giusto ad vn Tiranno, dal gouerno di molti buoni, a quello di pochi maluagi, & da vn commune ben regolato, ad vna moltitudine confusa, & licentiosa” (Discorsi, 1584, preface, *2v). 206 Ottolenghi: 1982, 37–43; Zuliani: 2011. 207 “Ben per render loro odiosissimo ogni tiranno s’elessi il Borgia, come il più empio, et il crudele, che nascesse giamai […], accioché I Fiorentini ciechi tanto più venissero aprir gli occhi et odiassero vie più il vegnente o surgente usurpatore della lor cara libertà” (qtd. in Zuliani: 2011, 595). 208 For Castelvetro’s work on an anthology on the secret history of the Council of Trent, see Pirillo: 2014. For the genre of the secret history more generally, which flourished particularly in the late seventeenth century, see also Burke: 2012. 209 Almási: 2016, 867. 210 Massai: 2005, 113. 211 De Rycker: 2015, 242 f. 212 Wilson-Lee: 2014, 146.
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
of his Italian venture, Wolfe might be characterised as the English equivalent of Perna in his willingness to print the works of Italian radicals alongside classics of early modern Italian literature such as Machiavelli, Baldassare Castiglione, Pietro Aretino, or Giovanni Battista Guarini. For instance, he printed Una essortatione al timor di Dio (1579?) by Giacomo Aconcio (Jacobus Acontius, 1492–1566), who had left Italy in 1557 and travelled, via Basel, Zurich, Strasbourg, and Paris, to England in 1559. Notably, Aconcio’s Satanae stratagemata, perhaps the most systematic treatise on religious toleration written in the sixteenth century, were printed by Perna in 1565. Wolfe’s willingness to print the works of radical dissenters, who otherwise published – or wished to publish – with Perna is further attested by his publication of Sapientissimi regis Salomonis concio de summo hominis bono (1579) by the Spanish Protestant Antonio del Corro (1527–1591). Del Corro had likewise sought the services of Perna before and arrived in England in 1567, where he became the most prominent promoter of Castellio’s views on toleration and his critique of the Calvinist doctrine of predestination.213 Finally, Wolfe was probably also responsible for printing the Informatione della religione Christiana (London 1579) by the notorious Francesco Pucci (1543–1597) whose heretical views had already caused a scandal that led to the discovery of Perna’s clandestine print run of Castellio’s Dialogi quatuor in Basel.214 Castelvetro was in touch with Pucci at the time and may have played a part in the continental distribution of Pucci’s Informatione, a call to a council of all true Christians in the face of the imminent millennium.215 In turn, Castelvetro was also under suspicion in 1580 of bringing heretical books from Italy to England in order to have them printed there and was himself accused of anti-Trinitarian opinions in the same year by the English ambassador in Paris, Sir Henry Cobham, but without consequences.216 Castelvetro is indeed the strongest link between Wolfe and Perna and their shared dedication to Italian literature and religious radicalism. While Castelvetro never felt an urge to reveal any radical religious views he may have held, the company he kept suggests that he was, to say the least, well-informed of the radical currents in
213 For Del Corro and his considerable intellectual debt to Castellio, see Gilly: 1985, 356–358. See further 433–434 for his failed attempt in 1574 to publish his Dialogus theologicus, a commentary on Romans heavily influenced by Castellio, with Perna. For Aconcio, see Caravale: 2013. For a brief account of Aconcio’s biography in English, see also Overell: 2018, 190–193. 214 Pucci’s Informatione was, like Wolfe’s Machiavelli editions, printed with a false imprint (Florence). For the ascription to Wolfe, see Firpo: 1967, 1070–1074. For Pucci’s role in the discovery of Castellio’s Dialogi quatuor, see Gilly: 1998, 160 f.; for Pucci’s biography more generally, see Caravale: 2015. 215 For the distribution of the Informatione and the possibility of Castelvetro’s involvement in the endeavour, see also Biagioni: 2017, 48–56. 216 Castelvetro was suspected of importing heretical books by the Papal Nuntius in France, Anselmo Dandino, in a letter from 3 July 1580 (Dandino: 1970, 704). For the accusation of anti-Trinitarianism, see Butler: 1950, 7.
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Italian Protestantism.217 Born into a family with Protestant sympathies, Castelvetro was smuggled out of his native Modena with his brother in 1564 in order to join his uncle, Lodovico Castelvetro (c. 1505–1571), with whom he lived in Geneva, Lyon, and Chiavenna. Castelvetro appears to have been on good terms with Francesco Betti (1521–1590), who had fled from Italy with Aconcio in 1557 and was wellconnected with the Italian radicals in Basel. Thus, it was Betti who invited Pucci to come to Basel in 1577, and it was also Betti who sent a copy of Flacius’ Catalogus testium veritatis (which praises Machiavelli for his anti-clericalism) to Castelvetro in Lyon in 1567.218 Betti was also on friendly terms with Tegli, whose presence is likewise documented in Lyon in 1567.219 It is tempting to speculate that Tegli, the translator, and Castelvetro, the future editor of Machiavelli, might have met in the Italian community in Lyon, perhaps even through the mediation of Betti. If this was not the case, they would have been likely to meet in Basel, where Castelvetro moved in 1572 after his uncle’s death, that is, at a time when Tegli may have been working on further Machiavelli translations. Castelvetro learned the printing trade in Basel and published the second edition of his uncle’s Poetica d’Aristotele with Perna in 1576. Even after Castelvetro had begun his collaboration with Wolfe, he did not cut his ties with Basel. After a first stay in England and travels to Italy, his presence is again attested in Basel in early 1580, where he might have learnt about the plans for the new edition of The Prince to be published in the same year and, perhaps, the more ambitious project of publishing a Latin translation of Machiavelli’s complete political works. Moreover, Castelvetro did not abandon his collaboration with Perna, even after he moved to England once more, and saw Petrarch’s Rime diversi, annotated by his uncle, through Perna’s press in 1582.220 As these numerous links between Perna and Wolfe suggest, especially in the person of Giacomo Castelvetro, it seems practically impossible that the Machiavelli editions in London could have been printed without direct knowledge of the parallel attempts in Basel to restore Machiavelli to a position of intellectual respectability. Despite the more pronounced republican tendency in Machiavelli’s reception among the Italian exiles in England, it is worthwhile to consider the potential connections between the two editorial projects. As Stupanus notes in his dedicatory
217 Butler (1550) still offers the most comprehensive account of Castelvetro’s life, on which I mainly depend in the following, unless indicated otherwise. 218 Ottolenghi: 1982, 11, n. 17. Betti had also been in England, perhaps with Aconcio, but was back in Basel in 1565 and temporarily in Lyon in the following year (Welti: 1976, 87). Furthermore, Betti was responsible for a second transcription of Castellio’s Dialogi quatuor, which served, together with that of Tegli, as a source for Perna’s edition in 1578 (Guggisberg: 1967, 200). 219 Welti: 1976, 89. 220 Wilson-Lee: 2014, 150–52.
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epistle to The Prince, prejudice precludes, as so often, a fair assessment of a notorious writer like Machiavelli: Before they see and read [Machiavelli’s works], and form their own judgment, they condemn him, seduced by popular opinion rather than led by reason. By no means did I therefore consider abandoning the work I had begun, because I hope that, if the complete works of this writer are published, those who now find some fault with him will give him utmost praise afterwards.221
Castelvetro discusses the same phenomenon in his preface to the Discorsi four years later and inscribes himself in the narrative projected by Stupanus. He recounts how he himself began to hate Machiavelli, until a wise man, desirous “di giouare a buoni,”222 advised him to actually read the Florentine’s works. Both editions are thus framed in terms of a desire to make Machiavelli’s works available in print in order to combat prejudice and bring the “true” Machiavelli to light. In fact, considering the close connections between the Italians in Basel and London, it might be worthwhile to reopen the question of the identity of the “huomo, negli affari politici molto profondo,” in the preface of Wolfe’s Discourses, who recommended Machiavelli to Castelvetro “agli anni passati.”223 While this “wise man” has traditionally been identified with Alberico Gentili,224 we might also look for him in the Italian milieu in Basel and consider such candidates as Perna, Stupanus (who eventually published his Latin translation of the Discourses in 1588), or Tegli, all of whom Castelvetro may well have known personally even before he met Gentili in England. Such personal connections remain necessarily tentative. However, there are further parallels between Castelvetro’s preface to the Discourses and Stupanus’ epistle in the 1580 edition of The Prince, which suggest an intellectual kinship between the two editorial projects that goes beyond the personal acquaintance of those involved in them. Most fundamentally, the concern with Machiavellian method, rather than doctrine, was equally pronounced among the Italians in England as in Basel. Like Stupanus, Castelvetro and Gentili praise Machiavelli above all as a historian – or rather, as reader of history, whose great achievement was to have shown in what manner history may be read most profitably.
221 “[…] vt antequam ea viderent, legerent atque iudicarent, sententiam pronunciarent, vulgi fama potius seducti, quam rationem sequuti. Nequaquam igitur ab incoepto opere discedendum existimaui, quod sperem omnino, si omnia huius scriptoris opera in publicum edantur, fore vt qui nunc pauca quaedam vituperant, ii postea laudent quamplurima” (Princeps, 1580, VD16 M 10, Stupanus, dedicatory epistle, fol. a 4v). 222 Discorsi, 1584, preface, *2v. 223 Discorsi, 1584, preface, *2r. 224 Ottolenghi: 1982, 44; Donaldson: 1988, 95; Anglo: 2005, 367.
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In the preface to the first book of the Discourses, Machiavelli diagnoses his contemporaries with ignorance of the “true knowledge of histories” and its practical application. Hence, he claims to “to take a path as yet untrodden by anyone” in his Discourses, “so that those who read these statements of mine can more easily draw from them that utility for which one should seek knowledge of histories.”225 Of course, Machiavelli does not disavow the long tradition of history as magistra vitae. Unlike most of his predecessors, however, Machiavelli claimed to tread a “new path” by incorporating historical examples into an empirical political analysis instead of moralising them.226 It is in this alleged fidelity to empirical reality rather than normative systems of political thought in which Francis Bacon later recognised Machiavelli’s great merit and practical use in The Advancement of Learning (1605): the fourme of writing which of al others is fittest for this variable argumente of Negotiation and occasions is that which Machiauel chose wisely and aptly for Gouernmente: namely discourse vpon Histories or Examples. For knoweledge drawne freshly and in our view out of particulers, knoweth the waie best to particulers againe. And it hath much greater life for practise: when the discourse attendeth vpon the Example, then when the example attenddeth vpon the discourse.227
Bacon’s assessment of Machiavelli as the principal representative of an empiricist and, above all, useful and practice-oriented method of historical analysis is anticipated by the Italian promoters of Machiavelli in both Basel and London. Thus, the preface of the London edition of the Discorsi praises him for his “new modes of learning the true way of benefiting from the salubrious reading of histories.”228 In his epistle to The Prince, Stupanus similarly highlights Machiavelli’s merits in applying history to practical uses, especially its prognostic potential: “[Machiavelli] alone seems to have understood the true use of history” and knew how to anticipate the outcome of future events from the lessons of history.229 Gentili discusses the same idea in De legationibus and further highlights that Machiavelli “in lectione 225 Discourses, 1996, book 1, preface, 5 f. 226 Zwierlein: 2006, 106. For the more broadly empirical connotation, which ‘history’ acquires in the early modern period, see also Seifert: 1976. 227 The Advancement of Learning, book 2, in: The Oxford Francis Bacon, 1996 ff., vol. 4:162. 228 “[…] nuoui modi d’apprendere la vera via di trarre alcuno vtile dalla gioueuole lettura delle historie” (Discorsi, 1584, preface *2v). 229 “In consiliis capiendis ac rerum suscipiendarum deliberatione, [Machiavellus] solus videtur Historiae vsum intelexisse: tanta scilicet fuit eius solertia & industria in conferendo praesentia exempla cum praeteritis, domestica cum peregrinis, simila similibus, vt ex praeteritis rerum futurarum euentus prouidere persaepe potuerit” (Princeps, 1580, VD16 M 10, Stupanus, dedicatory epistle, fol. a 2v – 3r). For Machiavelli’s claim that future events may be predicted on the basis of studying the past, see Discourses, 1996, book 1, ch. 39; book 3, ch. 43.
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historiarum non grammatizet, sed philosophetur.”230 According to Gentili, philosophy is the soul of history insofar as it elevates knowledge of history from a nude and empty thing (“nuda inanisque”) to the sphere of purposed, practical application (“in certos, vtilesque rerum vsus”). As a philosophical reader of history, Machiavelli is therefore able to draw the right conclusions even from a plethora of contradictory historical exempla.231 In their concern with a manner of reading history that is both hermeneutically sophisticated and practice-oriented, the Italian promoters of Machiavelli in England emphasise the interpretative work of the reader just as much as the 1580 edition of The Prince in Basel. If Machiavellian virtù is primarily understood as a cognitive ability to appraise a given political situation correctly,232 Stupanus, Gentili, and Castelvetro evidently considered reading history as a privileged training ground for cultivating such virtù.233 Importantly, Machiavelli’s empirical analysis of history was perceived as more than simply a resource for pragmatic policy-making. As already noted, Bodin and Spinoza perceived that the historical-empirical dimension of Machiavelli’s thought stood in tension with his republican convictions, and the editors of the 1580 Latin edition of The Prince likewise pitted Machiavelli’s pragmatism against Huguenot resistance theory. At the same time, however, reading Machiavelli’s works as historical analysis rather than advice to princes could also give him the subversive edge that Gentili or Castelvetro recognised even in The Prince. Boccalini, for instance, associates in his Ragguagli di Parnaso the very idea of reading history through a political lens with such subversive Machiavellianism since it demystifies and democratises the ‘arcana imperii’.234 Despite the shared enthusiasm for Machiavelli as a reader of history in both Basel and England, the Italian refugees in England thus tended to foreground this republican dimension of Machiavelli’s thought. As Victoria Kahn suggests, the Wolfe editions may have made Machiavelli attractive to those who favoured a mixed constitution and insisted on the privileges of Parliament, such as the aristocratic wing of the militant Protestant party in the 1580s, embodied most
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De legationibus, book 3, ch. 8; book 3, ch. 9. De legationibus, book 3, ch. 9. Zwierlein: 2006, 64. For Machiavelli’s historical method and its reception in the sixteenth century in the milieu of Stupanus, Perna, and Zwinger, see also Zwierlein: 2006, 98–107; Almási: 2018. Notably, the recognition of Machiavelli as the author of a method of reading history is also highlighted by Justus Reiffenberg, with explicit reference to Gentili, in the paratexts of his new, annotated edition (1620) of Stupanus’ translation of the Discourses and in his Monita politica (1619). See Zwierlein: 2010b, 51–56. 234 “[L]a lezione delle istorie, non sola permessa ma tanto commendata da ognuno, notoriamente ha virtú di convertire in tanti Macchiavelli quelli che vi attendono con l’occhiale politico” (327).
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prominently by the Earl of Leicester, Francis Walsingham, and Philip Sidney,235 or the malcontents in the Essex circle in the 1590s, which included both Puritans and Catholics and where continental resistance theory fell on fertile ground.236 English Tacitism, usually an ideology of opposition rather than of state building, was likewise receptive to the anti-tyrannical interpretation of Machiavelli that Tegli or Gentili offered.237 Francis Bacon, one of the most prominent members of the Essex circle in the 1590s, praises Machiavelli not only as an empiricist reader of history and methodological model for policy-making. He also follows the Italian Protestants in his characterisation of Machiavelli as an exposer of evil in his Advancement of Learning (1605) and argues, as Tegli had already done, that one may learn from Machiavelli how to protect oneself against it: [W]e are much beholden to Macciauell & others that write what men doe and not what they ought to do. For it is not possible to ioyn serpentine wisedom with the Columbine Innocency [Mt 10:16], except men know exactly all the conditions of the Serpent, his basenesse and going vpon his bellye, his volubility, and lubricity, his enuy and stinge, and the rest, that is al fourmes and Natures of euill. For without this, vertue lyeth open and vnfenced.238
This English perception of Machiavelli as a writer who exposes tyrants, offers lessons on how to avoid their snares, and even expresses republican values, has its most obvious sources in the efforts of Italian Protestants to rehabilitate their compatriot. While earlier scholarship focused predominantly on the demonised English image of Machiavelli, allegedly derived from Gentillet’s Discours sur les moyens de bien gouverner (1576), the Italian exiles played a crucial role in enabling an alternative and more direct reception of Machiavelli in England as a serious historical and political analyst, which recent scholarship has increasingly come to emphasise as
235 Kahn: 1994, 106 f. For the links of Wolfe’s Italian associates with aristocratic patrons of militant Protestant and even Puritan sympathies, see further Panizza: 1969, 482–483; Ottolenghi: 1982, 37, 44. A republican reading of The Prince is, for instance, attested in a manuscript commonplace book from the circle of Philip Sidney, the dedicatee of Gentili’s De legationibus (Schurink: 2010, 359). 236 Remarkably, it was Wolfe who printed John Hayward’s Life and Reign of King Henry IV (1599), whose usurpation of the English throne could potentially be seen as a precedent for the aspirations of the Earl of Essex, which landed both author and printer in jail (Donaldson: 1988, 104–110). The role of resistance theory in the abortive Essex revolt in 1601 was noted by contemporary observers such as the Elizabethan historian William Camden, who recounts how “suspitions are increased both by the more frequent resort than was wont, of the multitude to Essex House vnder colour of hearing Sermons, and by some words which had fallen from the Preachers, as if the superior Magistrates of the Realme had power to restraine Kings” (Yyy 3v). 237 For early modern English Tacitism, see Salmon: 1989; Womersley: 1992; Smuts: 1994. 238 The Advancement of Learning, book 2, in: The Oxford Francis Bacon, 1996–, vol. 4:144 f.
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well.239 The English reception of Machiavelli as an anti-tyrannical writer is therefore bound up with complex processes of cultural mediation between Italy, Basel, and England, which cannot be separated from the post-Reformation phenomenon of large-scale religious conflict and persecution and the new social class which it produced: religious refugees.240 However, the subversive potential which the Italian exiles unearthed in Machiavelli’s writings did not mean that they generally endorsed the revolutionary designs of radical Puritans and aristocratic malcontents. Beyond methodological affinities, the Italians in Basel and England both shared a deep-seated aversion to political Calvinism. Thus, Castelvetro married the widow of Thomas Erastus (1524–1583) in 1587 and took up as role as “literary executor” of Erastus’ unpublished works, such as his treatise on excommunication (c. 1569), which he published with John Wolfe in 1589 under the false imprint of Poschiavo.241 As Charles Gunnoe puts it, Castelvetro thereby “finally exposed to the world the major rift on the question of church discipline between the Genevan and Zurich schools of Reformed Protestantism,”242 the latter of which Erastus had represented in the debate on church discipline in the Palatinate some twenty years earlier. In addition, by publishing Erastus’ claims for the disciplinary privileges of the secular magistrate in ecclesiastical affairs, Castelvetro also clearly took the side of the Church of England against the Puritans in the debate over the subordination of church government to royal supremacy, which had reached fever pitch by the late 1580s.243 Gentili too diverged from Calvinist political thought in his reception of politique thought on religious toleration and his pioneering application of politique arguments to questions of foreign policy.244 In contrast to the proponents of international Protestant interventionism, as prominently theorised in the Vindiciae contra tyrannos and exemplified by his erstwhile patron Philip Sidney, Gentili promoted a secularisation of international conflict in analogy to politique approaches to civil war. Already in De legationibus, Gentili postulates that “wars are not to be waged for the sake of religion” and thereby contradicts Reformed conceptions of the ‘bellum
239 The thesis of Gentillet’s influence has its origins in Meyer: 1897. For the claim of a more direct and substantial reception of Machiavelli, see, for instance, Clegg: 2017, 51–71. 240 For a recent account of the Reformation that puts religious refugees centre stage, see, for instance, Terpstra: 2015. 241 Butler: 1950, 11–13. 242 Gunnoe: 2010, 390. 243 For the debate in the Palatinate, see Gunnoe: 2010, 163–209; Maissen: 2015. For the circumstances of Castelvetro’s publication and the scandal which it caused, see Gunnoe: 2010, 388–393. For the controversial question of its impact on what would come to be known in England as ‘Erastianism’ in the 1640s, see also Gunnoe: 2010, 396–406. 244 For a detailed discussion of Gentili’s thought on religious toleration, see Minnucci: 2018.
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iustum’ on account of religion.245 This principle is further developed in De iure belli (1598), in which Gentili, citing authorities such as Michel de l’Hospital and Jean Bodin, mounts a typically politique critique of religious coercion and applies it to the Ius gentium.246 Hence, for instance, Gentili comes to the conclusion that “the Spaniards were not just in giving […] the pretext of religion as the reason for their war with the Indians.”247 Just as “typographus” praises Machiavelli “not as a Christian, but as a philosopher” in the final issue of the 1580 edition of the Latin Prince,248 Gentili famously carves out a space for the legislation of international conflict outside the domain of theology: “Let the theologians keep silence about a matter which is outside of their province.”249 Like the promoters of Machiavelli in Basel, Gentili sought a solution to religious conflict in the independence of secular authority from narrow confessional constraints. Arguably, Gentili’s acerbic tone is owed to his long-lasting debate during the 1590s with John Rainolds (1549–1607) one of the leading Puritan divines at Oxford, over the legitimacy over the theatre and eventually a number of more fundamental issues, such as the respective domains of law and theology. Rainolds had already played an instrumental role in the expulsion of Francesco Pucci from the University of Oxford and in the rejection of Antonio del Corro’s application for the doctorate in theology, in both cases on account of their suspicious theological views.250 Remarkably, Gentili echoes the critique of Calvin’s Geneva as a second Rome that was voiced in Basel in the 1550s, but also Erastian polemics, when he recognises in Rainold’s aggressive promotion of religious orthodoxy the signs of “a Papist spirit” and a new persecutory regime: “Do you not see that you act tyrannically with him [i. e. Gentili himself] who despised the power of the Pope and was banished from his country and the entire papal realm?” Countering Rainolds’ insistence on the primacy of theology, Gentili asserts: “Theology is the teacher of faith and of life, but not of all life.”251 As his clash with Rainolds suggests, Gentili’s secularising
245 “Bella religionis caussa mouenda non sunt” (2.11). For religious war in Reformed thought, see Schmidt: 2009. For Bullinger’s and Vermigli’s discussion of religious war in particular, see also Zwierlein: 2013, 232 f. 246 De iure belli, book 1, ch. 9–11. 247 De iure belli, book 1, ch. 12. 248 “[…] non vt Christianus, sed vt Philosophus” (Princeps, 1580, VD16 ZV 10216, preface, fol. a 2r). 249 De iure belli, book 1, ch. 12. 250 Feingold, art. “Rainolds [Reynolds], John,” ODNB (2012), online. 251 Gentili and Rainolds, Latin Correspondence: 1977, 39. Proponents of Erastian views on church discipline such as Bullinger likewise tended to dismiss Calvinist claims to an independent ecclesiastical jurisdiction as a regress into papal tyranny. See Maissen: 2015, 197. Gentili even explicitly refers to Erastus in his response to Rainolds’ efforts to put him in his place: “As Erastus says to people like you, ‘Do you not see that you have been trying this for seventy years?’” (Gentili and Rainolds, Latin Correspondence 39).
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tendencies may thus be motivated, as in the case of the Italian radicals in Basel, at least partly by the experience of religious persecution and harassment in both Catholic and Protestant territories.252 One of Gentili’s central arguments for toleration in De iure belli (1598), in which he resembles politiques such as Bodin and Lipsius very closely, is that religion is a matter of voluntary assent, which cannot be defended and propagated by force.253 However, despite his willingness to entertain the idea of a multi-confessional state, Gentili also shares with Bodin and Lipsius an appreciation for the political function of religion that is so characteristic for the ambivalence of politique thought on toleration: “I could wish that unity of religious belief were highly regarded by princes, but also that arms and armies were not prepared for civil war in order to secure that unity.”254 This reluctance to abandon entirely the ideal of religious uniformity serves as a caveat not to overstate the secularising tendencies of the politiques and chimes in with Machiavelli’s emphasis on the political significance of religion, as demonstrated in his analysis of the religion of the Romans in the Discourses.255 However, such an analysis of the political functions of religion does, of course, not necessarily imply an imperative of religious uniformity. Just as The Prince could be read in a subversive manner, a Machiavellian analysis of religion could also serve to undermine religious justifications of warfare as an ideological fiction. Gentili mostly avoids citing Machiavelli in De iure belli in favour of less controversial authorities, which is perhaps a consequence of his controversy with Rainolds, who had already denounced him as “Italicus, Machiavellicus, athaeus.”256 However, Machiavelli’s account of Ferdinand of Aragon (Prince, ch. 21) comes to mind, for instance, when Gentili writes:
252 See also Strohm: 2014, who situates Gentili’s insistence on the autonomy of jurisprudence from theology in a broadly reformed tradition, but likewise considers the conflict with Rainolds as a catalyst for the remarkable scope and vehemence of Gentili’s claim for a secular sphere of life. 253 De iure belli, book 1, ch. 9. 254 De iure belli, book 1, ch. 10. 255 Discourses, 1996, book 1, ch. 11–15. Erastianism, even while it may have appealed to Castelvetro and Gentili, was likewise not necessarily a benign form of secularism. Tellingly, Jeffrey R. Collins points to the close association of Erastianism with Machiavellian civil religion in England the 1640s and observes that “it did not take long for [Erastianism] to become a byword for Machiavellian statism in religious affairs” (2005, 171). Moreover, prominent anti-Erastian voices such as John Milton characterised the subordination of church affairs to the secular magistrate simply as a mirror image of the Papacy’s encroachment on secular institutions. In his Treatise of Civil Power in Ecclesiastical Causes (1659), for instance, Milton condemns “Erastus and state tyranny over the church” as the bedrock of a “civil papacy,” which endangers religious liberty just as much as a potent ecclesiastical jurisdiction (Complete Poems and Major Prose 845, 842). For Milton’s attitude towards Erastianism, see further Gregory: 2015. 256 Qtd. in Lavenia: 2015, 33.
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King Ferdinand, who was called the Catholic, covered almost all his excesses with a respectable mantle of religion, as Guicciardini remarks. And it was under a similar pretext that the Emperor Charles, the grandson of Ferdinand, veiled his desire for dominion, as Giovio has written.257
In the same vein, Gentili’s assessment of the French Wars of Religion is reminiscent of the polemical preface of the last issue of the 1580 edition of The Prince. Just as “typographus” censures the Huguenots’ “pretext of liberty of conscience,” Gentili argues that “in these latest times religion is merely a pretext. When was Gaul without foreign and domestic wars?”258 Citing Tertullian, he declares in line with Castellio and Ochino: “God forbid that a divine sect should be maintained by men with fire and sword.” Hence, at least a private citizen “has no recourse save to follow the order of Christ, and flee,” as Gentili himself had done when he left Italy in 1579: “It is hard to be despoiled of one’s goods and fatherland; but this is the order of Christ.”259 In his Machiavellian critique of religious violence as opportunistic hypocrisy, Gentili is in tune with prominent politique accounts of the Wars of Religion such as the Historiarum sui temporis libri CXXXVIII (published in successively extended and revised editions between 1604–1620) by Jacques-Auguste de Thou (1553–1617), who interpreted them primarily as a political conflict, driven by aristocratic ambition and royal misgovernment. As this perspective implies, confessional co-existence does not inevitably lead to war and sedition, considering
257 De iure belli, book 1, ch. 9. As Machiavelli writes in one of the few passages in The Prince where he seems to express moral revulsion, “in order to undertake even greater campaigns, [Ferdinand] continued to make use of religion, resorting to a cruel and apparently pious policy of unexampled wretchedness: that of hunting down the Moors and driving them out of his Kingdom. Using this same cloak, he attacked Africa” (77). 258 De iure belli, book 1, ch. 10. 259 De iure belli, book 1, ch. 11. However, just as in Tegli’s case, Gentili’s anti-Nicodemite stance is complicated by his actual behaviour. So much can be gathered from a curious episode related by Tobie Matthew, son of Bishop Matthew, in his account of his own conversion to Catholicism. As the youthful convert reports in his diary, his father, one of Gentili’s patrons, employed the Italian lawyer to visit him in prison and persuade him to abandon his folly, or at least to conform outwardly to the Church of England and to take the Oath of Allegiance that was recently imposed on English Catholics. As Matthew junior recounts, Gentili told him that he had similarly dissembled his Protestant convictions in Italy: “He said I should do discreetly to take it in such sort as he had taken his oath of believing the Council of Trent before he came out of Italy in his youth. I asked him how that was; and he made me this answer in direct words (for we spoke Italian): ‘Giusto come pigliarei un scudello di brodetto.’ – Just as I would take a mease of broth!” (Matthew: 1904, 89). Regardless of whether Matthew correctly reproduces their conversation or not, Gentili did indeed justify some forms of lying and dissimulation in other works, e. g. in De abusu mendacii (1597). See Lavenia: 2015.
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Machiavelli’s Prince and Radical Italian Protestantism
that it is not religious difference that lies at the root of the conflict.260 Like the politiques, Gentili additionally suggests that a strong monarchy might serve as a bulwark against civil war in France, which has its cause in “the position held by their chiefs and nobles. For these, who are very powerful and entirely free, do not grant any request of the king or obey any command of his.”261 Clearly, there are tensions between Gentili’s earlier praise for Machiavelli as a champion of democracy and such a politique programme of toleration with its absolutist tendencies – just as there are inherent tensions between Machiavelli’s republican idealism and his political pragmatism.262 Nonetheless, it is evidently possible to speak of an ideological continuum between the Italian promoters of Machiavelli in Basel and in England in their shared critique of religious conflict and persecution as well as their steps towards a more secularised conception of political power that is no longer under the spell of confessional antagonisms.
6.
Conclusion
As I have argued in this essay, the first Latin translation of The Prince and its afterlife in the sixteenth century responds in many ways to the concerns and experiences of Italian Protestant exiles. The first publication of Tegli’s translation placed The Prince in the context of the suppression of anti-Trinitarianism in Calvin’s Geneva and was the product of the same intellectual coterie that pioneered the idea of religious toleration in the sixteenth century. Machiavelli thus adressed a number of questions that posed themselves to Italian Protestants, such as the relationship between religious reform and political revolution in their homeland, or the question of dissimulation, so famously treated in chapter 18 of The Prince, which became increasingly urgent for radical dissenters, not only in Italy but also in Geneva and the Swiss Confederacy, in the face of religious persecution. As I have suggested, Tegli’s incisive transformation of Machiavelli’s justification of dissimulation is there-
260 For the question of the respective roles of religious and political motives in the Wars of Religion and their contemporary perception, see Benedict: 2016. 261 De iure belli, book 1, ch. 10. 262 Gentili’s absolutist tendency reaches its peak in his Regales disputationes tres (1605). In the third disputation, “De vi civium in regem semper iniusta,” Gentili also adopts a more determined stance against resistance theory than he does in De iure belli, where he still offers a carefully differentiated justification of resistance, depending on whether the magistrate in question is “a ruler of unlimited power” or not and whether those who resist are private citizens or inferior magistrates (book 1, ch. 11). For the vexed question of the relationship between republican and absolutist elements in Gentili’s thought and the parallel tensions between the Ius gentium and aspects of reason of state in De iure belli, see also Vergerio: 2017.
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fore also to be read in the context of a contemporary debate on the legitimacy of Nicodemism. The 1580 edition is likewise deeply embedded in the religious and political context of its time, in particular, the French Wars of Religion. As I have shown, the opposition of The Prince to Calvinist treatises on resistance theory in the 1580 edition makes The Prince legible as a manifesto for a secularising and pragmatic approach to religious conflict, as advertised by the politiques against the confessional intransigence that had precipitated France into civil war. However, such a politique reading of The Prince also complicates the alignment of a yearning for political and religious liberty, which earlier scholarship posited as a motive for the attraction of the Italian Protestants to Machiavelli. The Prince as a critique of tyranny may be anticipated in Tegli’s translation, but only becomes the foundation of an explicitly republican interpretation among the Italian refugees in England in the 1580s. Such diverse interpretations of Machiavelli’s writings are arguably owed to the pragmatic, reflexive, and ideologically open-ended nature of Machiavellian method. Nonetheless, it is possible to speak of a dense and closely connected network of Italian refugees, who played a key role in publishing, mediating, and interpreting Machiavelli’s writings in Protestant Europe. Moreover, they pursued a number of common themes in the process that were typical concerns of the Radical Reformation, such as their sustained critique of religious persecution and their advocacy for a more secular understanding of political power. Thus, it was probably the experience of persecution in both Catholic and Protestant territories and a concomitant distrust in the alliance of spiritual and secular authority which drew the Italian radicals to Machiavelli’s pioneering analysis of politics on its own terms as a guide to political decision-making beyond the constraints of confessionalised conceptions of political legitimacy. In bringing Machiavelli’s writings and ideas to bear on debates on religious toleration and confessional co-existence, they may in turn well have contributed to the increasingly secular and political register, in which such questions came to be discussed in the course of the early modern period.
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Sascha Salatowsky
Toleranz auf der Kippe Christoph Besolds Konzept zwischen den Konfessionen
1.
Einleitung
Die Toleranzfrage wurde seit dem 16. Jahrhundert von Philosophen, Humanisten, Theologen, Freigeistern, Juristen, Hofbeamten und Diplomaten sowie von den Herrschenden diskutiert. Diese Aufzählung vergegenwärtigt, dass die Argumente für oder gegen die Gewährung von Toleranz nicht nur aus verschiedenen Disziplinen kamen, sondern auch Gegenstand gemeinsamer Bemühungen und Debatten waren. Entsprechend unübersichtlich ist das Feld im Blick auf die beteiligten Personen, Disziplinen und Konfessionen in der Frühen Neuzeit, und entsprechend vielfältig und kaum noch zu überblicken ist zwischenzeitlich auch die Forschung hierzu.1 Viele Gelehrte – weniger die Laien – äußerten sich zur Toleranzfrage, orientierten sich hierbei entweder an der Konfession, der sie zugehörten, oder formulierten eine eigene unabhängige Haltung. Oft genug dominierte noch die Theologie den Diskurs. Jedoch kristallisierte sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmend die ‚Politica‘ – als Teil der praktischen Philosophie – als d i e zentrale Disziplin für die Verhandlung der Toleranzfrage heraus. Gemäß ihrem Gegenstand, die res publica, war sie u. a. für die Beschreibung des Verhältnisses von Religion bzw. Kirche und Staat verantwortlich. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass der Zugriff auf die Politica von ganz verschiedenen Professionen her, nämlich von den eben genannten Personengruppen, erfolgte.2 Die Vermutung liegt nahe, dass die Toleranzfrage hieran einen gewichtigen Anteil trägt. Die Bedeutung dieser interdisziplinären Konstellation ist wiederum vor allem einem historischen Umstand geschuldet: Die Frühe Neuzeit war vor der Entwicklung
1 Als Klassiker muss immer noch gelten: Lecler, Religionsfreiheit. Vgl. ferner die jüngst veröffentlichten Sammelbände Salatowsky/ Schröder (Hg.), Duldung; Vollhardt/ Bach/ Multhammer (Hg.), Toleranzdiskurse. Dort finden sich weitere Literaturangaben. 2 Zur Politik der Frühen Neuzeit mit den verschiedenen Traditionslinien des Aristotelismus, Tacitismus und Neustoizismus vgl. im Einzelnen mit Angabe weiterführender Literatur Stolleis, Geschichte, Bd. 1, 80–125; Dreitzel, Politische Philosophie, 607–748; Ottmann, Geschichte, Bd. 3,1, 63–248; Leinkauf, Grundriss, Bd. 1, 797–949.
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Sascha Salatowsky
eines eigenständigen Naturrechts,3 das die Säkularisierungstendenzen in Wissenschaft und Gesellschaft verstärken sollte, von einer engen Verbindung von Politik, Theologie (Religion) und Jurisprudenz geprägt. Der Grund hierfür liegt nahe: Die Lage in Europa hatte sich mit dem Aufbrechen der Einheit der katholischen Kirche durch die Reformation dramatisch verändert. Nun hatte man es mit einer Pluralität von christlichen Kirchen zu tun. Wie sollte man mit dieser Situation umgehen? Sollte der Versuch unternommen werden, die Einheit der Kirche, gegebenenfalls auch mit Gewalt und Zwang, wiederherzustellen, oder sollte die Vielfalt der Konfessionen in ein gedeihliches, von Toleranz oder Duldung gekennzeichnetes Zusammenleben überführt werden? An dieser Frage schieden sich die Konfessionen: Während die Lutheraner sich überwiegend gegen Gewalt in Glaubensdingen und damit gegen die Todesstrafe aussprachen, sahen dies viele Calvinisten und Katholiken anders. Ich möchte hier einleitend nur zwei Quellen benennen, die diese Einschätzung der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Konfessionen belegen und zugleich das historische Tableau der Toleranzdebatten im frühen 17. Jahrhundert zumindest grob skizzieren helfen.4 Der lutherische Philosoph und Theologe Balthasar Meisner (1587–1626) äußerte sich in seiner Philosophia sobria von 1611 im Blick auf die Frage, ob Häretiker hinzurichten seien, wie folgt: Zusammen mit den Katholiken halten es so Calvin, Bullinger und Beza, die die Festsetzung der Todesstrafe für die Häretiker nicht nur lehren, sondern dazu ermuntern, nicht nur billigen, sondern die Obrigkeit dazu anstacheln. […] Diese grausame und der christlichen Sanftmut entgegenstehende Ansicht der Calvinisten verdammen unsere Theologen aber nicht zu Unrecht, die zwar die Bestrafung der Häretiker durch Vertreibung oder Gefangennahme bejahen, ihre Tötung aber verneinen.5
3 Auch die Forschungsliteratur zum Naturrecht in der Frühen Neuzeit ist zwischenzeitlich sehr umfangreich. Vgl. die Übersichten mit Angabe weiterführender Literatur bei Stolleis, Geschichte, Bd. 1, 268–297; Dreitzel, Naturrecht, 751–866. 4 Ausführlicher habe ich dieses Tableau in meinem Aufsatz Zwischen Hinrichtung und Duldung entwickelt. 5 Meisner, Philosophia sobria, p. I, s. II, c. IV, q. IV, 333: „An haeretici sint interficiendi? Ita quidem cum Pontificiis statuunt Calvinus, Bullingerus, & Beza, qui de Haereticis capitale supplicium sumendum esse, non modo docent, sed monent; non modo approbant, sed & magistratum ad id instigant […]. Hanc vero Calvinianorum sententiam, ut crudelem & Christianae mansuetudini contrariam, non immerito nostri damnant Theologi, qui haereticos quidem vel expulsione, vel captivitate coercendos esse affirmant, interficiendos autem negant.“ Dass diese Haltung auch noch im 17. Jahrhundert bei den Reformierten verbreitet war, zeigt der Steinfurter Philosoph Clemens Timpler (1563/4–1624). Auch wenn er sich gegen einen Glaubenszwang aussprach, da das Gewissen frei sei, bestätigte er gleichwohl die Ansicht, dass der Magistrat jene Personen körperlich bestrafen könne, die entweder Atheisten oder Epikureer seien oder moralisch böse handelten. Ja, er ging sogar soweit, unter bestimmten
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Toleranz auf der Kippe
Auf katholischer Seite hat der Jesuit Martin Becanus (1563–1624) in seinem Manuale controversiarum von 1623 die gleiche Frage mit einer etwas anderen konfessionellen Gewichtung wie folgt beantwortet: Die Calvinisten bejahen sie, die Lutheraner verneinen sie. Wir unterscheiden dagegen wie folgt: Auf zweierlei Weise kann man eine Häresie betrachten. Erstens, dass sie eine Sünde ist, und darin stimmt sie mit allen anderen Sünden überein. Zweitens, dass sie den Frieden und die Ruhe des Staates stört, und darin stimmt sie nicht mit allen anderen Sünden überein, sondern nur mit einigen, nämlich mit Mord, Diebstahl, Plünderung, Ehebruch, Rebellion und ähnlichem mehr. Die erste Weise kann vom Magistrat nicht mit der Todesstrafe geahndet werden, die zweite aber sehr wohl, und das ist gerecht.6
Becanus rechtfertigte die katholische Haltung damit, dass dies die Lehre der Hl. Schriften sei. Dem stehe auch die Glaubensfreiheit nicht entgegen, denn diese bestehe nur im Blick auf die i n ne re Zustimmung bzw. den Glaubensakt, den die Obrigkeit nicht erzwingen könne, nicht aber im Blick auf die äuß ere Ausübung, die den Häretikern von der Obrigkeit zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens verboten werden könne. Wer dem nicht gehorche, der werde mit dem Tod bestraft. Eine Gewissens- und Glaubensfreiheit bestand für Becanus also nur nach innen, nicht aber nach außen, in dem für jeden sichtbaren gläubigen Lebensvollzug, jedenfalls dann nicht, wenn man in einem katholischen Land einem n i cht-katholischen Glauben angehörte. Jeder Gelehrte wusste also, was auf dem Spiel stand, wenn er von einer Konfession zur anderen wechselte. Auch der Konvertit Christoph Besold (1577–1638), der
Umständen die Todesstrafe für Ketzer zu rechtfertigen: „nulli magistratui licitum esse haereticum capitali supplicio afficere propter solam & simplicem haeresin: sed si cum haeresi manifesta malitia & improbitas sit coniuncta, eaque ex se pariat delicta externa & nefaria, quae lege divina & humana morte digna iudicantur: tunc licitum esse magistratui haereticum morte afficere.“ (Philosophia practica, p. III, l. IV, c. II, Nr. 6, 288) Freedman überging diese klare Aussage, kam stattdessen zu dem nicht überzeugenden Urteil: „Timpler’s news concerning the punishment of heretics and the freedom from violent religious inquisition and coertion which he accords to residents of the republic both serve as evidence that Timpler favors a large amount of religious toleration within public society.“ (European Academic Philosophy, vol. I, 375) 6 Becanus, Manuale controversiarum, l. V, c. XVII, Nr. 1, 722: „An Princeps vel Magistratus possit haereticos propter solam haeresim pœna capitis punire? Affirmant Calvinistae; negant Lutherani. Nos distinguimus. Duo enim spectari possunt in haeresi. Primo, quod sit peccatum. Et hoc illi commune est cum omnibus aliis peccatis. Secundo, quod perturbet pacem & tranquillitatem Reipublicae. Hoc non est illi commune cum omnibus, sed tantum cum aliquibus; ut cum homicidio, furto, rapina, adulterio, rebellione, & similibus. Priori modo non punitur a Magistratu pœna capitis; sed posteriori. Et quidem juste.“
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Sascha Salatowsky
im August 1630 heimlich in Heilbronn anlässlich eines Gottesdienstes zum Katholizismus übertrat, gleichwohl noch weitere fünf Jahre unverändert seine Professor für Jurisprudenz an der lutherischen Universität Tübingen ausübte, ehe er 1635 ins von den Jesuiten beherrschte Ingolstadt ging, hat diesen Schritt im vollen Bewusstsein vollzogen.7 Seine vielen Schriften zeugen davon, welche Auswirkungen die Konversion auf die Toleranzfrage hatte.8 Ich möchte in diesem Beitrag zeigen, dass Besolds eigenes Toleranzkonzept, das seit den Anfängen als durch und durch lutherisch – die Mystik ist in dieser Frage nicht der entscheidende Faktor – zu bezeichnen ist, mit der Konversion buchstäblich auf der Kippe stand. Er versuchte, seine alte Überzeugung mehr oder weniger unverändert auch in den Katholizismus zu retten, der jedoch ganz offensichtlich in seinen führenden Vertretern, die er auch benannte, eine andere Ansicht vertrat. Welche Spannungen hierbei in seinem Konzept zu Tage traten, auf wen er sich vor und nach seiner Konversion und mitten im Prozess der Neuorientierung berief und wie sich schließlich seine Argumentationslinien veränderten, soll in diesem Aufsatz ausführlich dargestellt werden. Die Gewissensfreiheit, die Besold lange Zeit ein Herzensanliegen war, in einem Akt des radikalen Widerrufs aufzugeben, ist ein tragisches Resultat seines Konfessionswechsels.
2.
Forschungsstand und Gewinnung des Ausgangspunktes
Der „Fall“ Besold war in den letzten Jahren häufiger Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Zu auffällig sind die widersprüchlichen Aussagen, die Besold im Zusammenhang mit der Toleranzfrage in seinen Schriften äußerte, als dass die Forschung dies hätte übersehen können. So hat Besold als Tübinger Jurist in seiner Dissertatio Politico-Iuridica, de Majestate in genere: eiusque Iuribus specialibus von 1625 zustimmend den Satz zitiert: „Es ist ein Naturrecht, dass das Gewissen frei ist, zu glauben, was es wolle“.9 Knapp zehn Jahre später, nach seiner Konversion, vertrat er in seiner Bekehrungsschrift Christliche und erhebliche Motiven von 1637 nunmehr die Ansicht von der „höchst gefährliche[n] Freyheit des Gewissens“.10 Die interessante Frage für die Forschung lautet, wie sich dieser Meinungsumschwung, der die Fundamente philosophischer, theologischer und
7 Zu Leben und Werk vgl. Boehm, Besold; Dreitzel, Politische Philosophie, 644 f. und 659–663. 8 Brecht hält zu Recht fest: „Eine angemessene Darstellung Besolds setzt eigentlich zugleich rechts-, philosophie- und theologiegeschichtliche Kompetenz voraus […]. Die Quellenlage ist komplex.“ (Besold, 13) Da sich der Briefwechsel (mit Ausnahme der Briefe an Kepler) nicht erhalten hat, bleibt nur der Rückgriff auf die veröffentlichten Werke. 9 Besold, De Majestate in genere, s. II, c. VI, 132: „Juris naturalis est, conscientiam liberam habere, & credere quicquid velis.“ 10 Besold, Christliche und erhebliche Motiven, Kap. 1, 11.
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Toleranz auf der Kippe
juristischer Ansichten betrifft, beschreiben lässt. Gibt es eine plausible Erklärung dafür? Hat Besold damit seine alte Überzeugung aufgehoben oder bloß eingeschränkt? Was war so gefährlich an der Gewissensfreiheit, dass sie, kaum wurde sie zum Prinzip juristisch-humanistisch-religiösen Denkens, gleich wieder eingehegt werden musste? Welcher Zusammenhang besteht hier zwischen Konfession und Konversion?11 Die Forschung zeichnet ein erstaunlich breites, dabei mitunter auch widersprüchliches Bild von Besold und benennt ganz unterschiedliche Gründe für seine Konversion. So bezeichnet Martin Brecht in seinem Aufsatz Christoph Besold. Versuche und Ansätze einer Deutung den Tübinger Juristen als einen „verkappten Erbauungsschriftsteller“.12 Seine Schriften kämen „weithin mit den Frömmigkeitsbestrebungen Arndts überein“.13 Ja, Besold dürfte der Frömmigkeitsbewegung um Johann Arndt (1555–1621) als bedeutender und bemerkenswert eigenständiger Vertreter zuzuordnen sein. Für Brecht zeigt sich gerade in Besolds Rückgriff auf die vorreformatorische Tradition der ‚devotio moderna‘ die eigenständige Haltung des Konvertiten, die ihn – sehr zum Leidwesen seines ehemaligen engen Freundes Johann Valentin Andreae (1586–1654) – weit von der lutherischen Frömmigkeitsbewegung entfernt habe.14
11 Vgl. hierzu Bremer, Konversionalisierung statt Konfessionalisierung. Bremer äußert sich in diesem Zusammenhang auch zu Besold. Im Blick auf dessen Motiv für die Konversion fragt Bremer, inwiefern sie die Folge einer sozialen Ausgrenzung gewesen sei: „Möglicherweise war Besold eine Art frühneuzeitliches Mobbing-Opfer?“ (ebd., 400) Ferner dürfe der Fluchtpunkt der Konversion nicht notwendig als Ziel idealisiert werden, sondern müsse vielmehr als „Ort des geringeren Übels“ (ebd., 401) begriffen werden. 12 Brecht, Besold, 27. 13 Ebd. 14 Andreae äußerte sich in seiner Vita zunächst betrübt, später sehr kritisch über Besolds Konversion. Vgl. Andreae, Autobiographie, l. IV, 301: „Omnium luctuosissima mihi debet esse mors Besoldi spiritualis, sive a nobis in Religione ad Pontificios discessus, viri supra omnes mortales de me praeclare meriti, caetera, ne quid dissimulem, nunquam sibi in Religione constantis, sed ex multiplici variarum sententiarum lectione sese volutantis, qui, aut valde fallor, nec in his castris habebit, ubi acquiescat, ubi verborum accepisse plurimum, rei vix umbram possidere animadvertit“. (Eintrag zum Jahr 1635) Andreae, der ja selbst einen Weg in seinen religiösen Anschauungen zurückgelegt hatte, hielt Besold für einen unsteten Charakter, der durch die Lektüre vieler verschiedener Meinungen in seinen ehemals lutherischen Überzeugungen verwirrt worden sei. Andreae sparte in diesem Zusammenhang nicht mit harter Kritik an den Tübinger lutherischen Theologen Theodor Thumm (vgl. zu ihm unten die Nr. 5), dem er Rücksichtslosigkeit und Hochmut vorwarf. Sein Verhalten habe Besold in die Stricke und Netze der Papisten getrieben. Möge Gott ihn retten und der lutherischen Religion wieder schenken. Andreas Eintrag im Zusammenhang mit Besolds Tod im Jahre 1638 lautet dann deutlich kritischer: „Sed et Besoldus apostasiae brevem periodum absolvit Ingolstadii, majore lubricitatis in Religione, an perfidiae in Patriam domumque Würtembergicam virulenti odii infamia incertum, ut qui venenato calamo plus cladis et damnosae morae, quam armatorum totae acies, gladiique milleni nobis intulit, detestabilis ob id ad omnem posteritatem habendus.“ (Autobiographie,
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Matthias Pohlig betont in seinem Aufsatz Gelehrter Frömmigkeitsstil und das Problem der Konfessionswahl: Christoph Besolds Konversion zum Katholizismus stärker Besolds „intellektuelle Orientierungskrise“15 in den frühen 1620er Jahren, die zwangsläufig in die Konversion von 1630 habe münden müssen. Er schreibt Besold einen gelehrten Frömmigkeitsstil zu, der darin bestanden habe, „einen intellektuell reflektierten Anspruch auf individuelle Glaubensauffassungen geltend zu machen“.16 Gemäß dieser Ansicht hat Besold im Rahmen des Späthumanismus eine eigenständige Glaubenshaltung entwickelt, die sich nicht an konfessionellen Grenzen orientierte, sondern die individuelle Überzeugung – durchaus in Konsequenz der frühen reformatorischen Berufung auf das Gewissen als letzte Entscheidungsinstanz – zum Primat erhob. Allerdings, so Pohlig, habe Besold einen zwiespältigen Weg gewählt, indem er bis zu seiner Konversion zwischen dem öffentlichen Bekenntnis für das Luthertum und einer sich wandelnden privaten religiösen Auffassung unterschieden und so „den strukturellen Zwängen entsprechend, eine Aufspaltung in ein öffentliches und ein privates Ich, die sich nicht zur Deckung bringen ließen“,17 vorgenommen habe. Pohlig erklärt folglich die Konversion „als ein Sich-Fügen in die Einsicht, dass die unkonfessionelle Selbstbeschreibung, die Besolds Selbstverständnis zugrunde lag, mit den strukturellen Zwängen nicht länger zu vermitteln war“.18 In anderen Worten: Die Konversion war das Ergebnis eines Scheiterns der Simulation – eines in den späten 1620er Jahren bloß gespielten lutherischen Glaubens –, die Besold in eine Sackgasse führte, aus der er sich nur mit einem Sprung in den Katholizismus meinte, retten zu können. Für Pohlig ist das Ergebnis im Blick auf die Gewissensfreiheit jedoch beängstigend: „Die Subjektivierung des Glaubens und die aus ihr entstehende Suche nach Wahrheit führte Besold letztlich zur Überwindung eben dieses Subjektivismus und in eine militant orthodoxe Rhetorik, die sich gegen die ,höchst gefährliche Freyheit des Gewissens‘ wandte.“19 Hierzu gehöre auch, dass Besold in seinen politischen Schriften nach 1635 seine alte Forderung, Häresie nicht zu kriminalisieren, auf subtile, aber uneindeutige Weise revidiert habe. Erklären lässt sich diese Haltung
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360) Auch hier wird Besolds Wankelmütigkeit in der Religion betont. Noch schwerwiegender wog es für Andreae, dass Besold nach seiner Konversion mit seiner „giftigen Feder“, und das heißt wohl mit seiner Konversionsschrift und der Synopsis Politiciae Doctrinae (beide aus dem Jahr 1637), mehr Schaden angerichtet habe als Soldaten und Schwerter. Abscheu blieb hier als letzte Haltung übrig. Viel früher, nämlich bereits im Jahre 1610, gab der lutherische Theologe Johann Georg Sigwart (1554–1618) bei Besolds Berufung nach Tübingen zu Protokoll, „daß ihne fürkhommen, allß ob D. Besold in der Religion nitt fest were“ (zitiert nach Brecht, Besold, 15). Er sollte damit recht behalten. Pohlig, Gelehrter Frömmigkeitsstil, 342. Ebd., 328. Ebd., 339 f. Ebd., 345. Ebd., 346. Pohlig zitiert hier aus der oben genannten Textstelle zu Anm. 10.
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aus Pohligs Sicht nur als Ergebnis einer „hochgradig individuellen religiösen Biographie“. Die „Glaubenskrise und die Konversion Besolds“ seien dementsprechend als „Akte individueller Autonomie zu deuten“.20 Besolds Wahl des Katholizismus enthalte so ein tragisches Moment der Unfreiheit, nämlich tatsächlich „nicht mehr selbst wählen zu wollen“,21 sondern die Entscheidung der katholischen Kirche zu überlassen. Die politisch-juristische Fallhöhe von Besolds Konversion hat Robert von Friedeburg in seinem Aufsatz Lutherische Unverfügbarkeit des Glaubens und Juridifizierung des Naturrechts beschrieben. Er hat das erste oben genannte Zitat von Besold – „es ist ein Naturrecht, dass das Gewissen frei ist, zu glauben, was es wolle“ – zum Ausgang der folgenden These genommen: „So sehr manche protestantische Auslegung des Augsburger Religionsfriedens auch auf eine Freistellung der Landstände drängte, zielte Besold mit dieser Formulierung doch, weit über solche Auslegungen hinausführend, auf eine Juridifizierung des Naturrechtsgedankens zur Abwehr obrigkeitlichen Eingriffs in die Sphäre der privaten Andacht, der bis zum ersten Viertel des 17. Jahrhunderts in dieser Form kaum etwas Vergleichbares gegenüberstand.“22 Friedeburg versteht den frühen Besold als einen Trendsetter, der die Verrechtlichung des Verhältnisses des Menschen zu Gott durch die Begründung eines Naturrechts der Gewissensfreiheit mit Martin Luthers Forderung nach einer Zurückhaltung der Obrigkeit eines Zwangs in Glaubenssachen verbunden habe. Nach der Konversion sei freilich von dieser Begründung nicht mehr viel übrig geblieben. Das Ereignis und seine Folgen bewertet Friedeburg ausgesprochen negativ. „Konsistenz der Argumentation“, so heißt es, „darf jedoch bei Besold nicht erst seit seiner Konversion zum Katholizismus ohnehin nicht vorausgesetzt werden.“23 Ja, Friedeburg erkennt eine gewisse Beliebigkeit in der Argumentation: „Die häufigen Wechsel in dem, was Besold zwischen 1614 und 1635 jeweils forderte, zeigen uns, dass er als gewandter Autor in der Lage war, für völlig unterschiedliche Ziele jeweils ein ganzes Arsenal an Argumenten aufzuführen.“24 In einem weiteren Aufsatz unter dem bezeichnenden Titel Between Scylla and Charybdis? Evidence on the Conversion of Christoph Besold from his Letters and his
20 Pohlig, Gelehrter Frömmigkeitsstil, 351. 21 Pohlig, Gelehrter Frömmigkeitsstil, 352. Pohlig zitiert ausführlicher nur aus Besolds Konversionsschrift Christliche und erhebliche Motiven von 1637, in der er sich als „orthodoxer Katholik“ (ebd., 345) präsentiert habe. Auch hier seien hochgradig intellektuelle Konstruktionen am Werk, die seinen Glaubenswechsel theoretisch erklärbar machen sollten. 22 Friedeburg, Lutherische Unverfügbarkeit des Glaubens, 33 f. Friedeburg stützt sich in dieser Studie vorwiegend auf Besolds Dissertatio Politico-Iuridica de Majestate in genere von 1625. Zu Besolds juristischem Konzept des Gesetzes vgl. auch Friedeburg, Luther’s Legacy, 187 ff. 23 Friedeburg, Lutherische Unverfügbarkeit des Glaubens, 46, Anm. 54. Vgl. ferner ebd., 58, Anm. 117. 24 Friedeburg, Lutherische Unverfügbarkeit des Glaubens, 58.
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Legal and Political Thought hat Friedeburg seine Kritik an Besold noch verstärkt und dabei auch indirekt Pohligs These, bei dessen Konversion müssen man von einem Akt individueller Autonomie sprechen, in Frage gestellt. Für Friedeburg ist es alles anders als das. Er spricht von Besolds „volte-face of conversion to Catholicism“.25 Friedeburg schildert hier nochmals Besolds Einsatz für die Juridifizierung des Naturrechts zur Rechtfertigung einer Gewissensfreiheit in den 1610er und 20er Jahren, die er dann in den 1630er Jahren schändlich verraten habe: Seine Forderung, von konfessionellen Eigenheiten abzusehen, sein Widerstand gegen eine Gewissensprüfung und sein Kampf gegen die Ausweisung von Häretikern – nichts davon habe in den Werken der 1630 Jahre, wie der Synopsis politicae doctrinae in der Auflage von 1638, überlebt. Friedeburg erkennt nun keine Argumente für eine Konversion mehr. Alles, was Besold in seiner Konversionsschrift als Gründe benannt habe – der Konflikt mit den theologischen Autoritäten, sein Interesse an der Mystik und die frühen Kirchenväter etc. –, hätten auch viele andere lutherische Autoren, wie z. B. Andreae, vorgebracht, ohne dass sie deswegen konvertiert seien. Für Friedeburg war „under the umbrella of the Lutheran Konfessionskultur“26 genügend Platz, um dergleichen Konflikte auszuhalten, ohne dabei die eigene Gewissensfreiheit aufs Spiel setzen zu müssen. Indirekt gegen Pohlig gewendet heißt es dann: „None of the statements of Besold, thus, do provide evidence of the personality of an intellectual any more free thinking then other scholars or torn between rival confessions any more then Kepler or of a non-confessional, intellectual religion of his own.“27 Für Friedeburg gibt es also gar keine nachvollziehbaren Gründe für Besolds Konversion.28 Dessen Freunde hätten daher allen Grund gehabt, in ihm einen Verräter des Glaubens und des Vaterlands zu sehen. Die bislang ausführlichste Beschreibung des frühen Besold liefert Michael Widmann im Rahmen seiner Monographie Wege aus der Krise zu Andreae und Johann Amos Comenius (1592–1670). Sich Brechts Ansicht anschließend, dass die Darstellung von Besolds philosophischen und theologischen Überzeugungen nach wie vor ein „dringendes Desiderat“29 der Forschung sei, versucht Widmann „erste Schneisen“30 in dieses weite Feld zu schlagen. Er beschränkt sich hier auf den frühen und mittleren Besold der Jahre 1610 bis 1623, lässt also die Entwicklung
25 Friedeburg, Between Scylla and Charybdis, 419. 26 Friedeburg, Between Scylla and Charybdis, 418. Zur lutherischen Konfessionskultur vgl. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg; ders., Konfession und Kultur. 27 Friedeburg, Between Scylla and Charybdis, 423. 28 Vgl. Friedeburg, Between Scylla and Charybdis, 425: „We have no direct evidence on why he converted.“ 29 Brecht, Andreae, 290. Vgl. ferner Brecht, Besold, 12. 30 Widmann, Krise, 219, Anm. 38. Vgl. den gesamten Abschnitt zu Besold ebd., 210–305.
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zum Katholizismus weitestgehend unbeachtet. Ziel sei es, zum einen die Bedeutung Besolds für den jungen Andreae aufzuzeigen, der nach wiederholter eigener Aussage von dessen Freundschaft, Gelehrsamkeit, Frömmigkeit und Bibliothek enorm profitiert habe,31 und zum andern die „Genese, Entwicklung und Vielfalt der Besoldschen Überzeugungen“32 deutlich zu machen. Im Mittelpunkt stehen hierbei zum einen Besolds Axiomata Philosophica-Theologica von 1616, die Widmann von einem für diese Zeit charakteristischen „Schwanken […] zwischen reformatorischer Theologie mit ihrem Schwerpunkt auf der Rechtfertigungslehre und einer im Kern wohl von der vorreformatorischen Mystikern geprägten, stark heiligungsbetonten Theologie“33 geprägt sieht. Widmann skizziert ferner in aller Kürze Besolds Toleranzhaltung anhand seiner Politicorum libri duo von 1618. Hier sieht Widmann nicht nur eine „grundsätzliche Billigung der Pluralität religiöser Überzeugungen“34 vorliegen, sondern sogar die Bejahung einer Duldung verschiedener Religionen in einem Staat. Widmann weist zu Recht darauf hin, dass sich Besold hier zwischen Luther, Johann Gerhard (1582–1637)35 und Sebastian Castellio (1515–1563)36 verortete und sich gegen eine Ketzerverfolgung oder sogar Ketzertötung wie im Falle von Michael Servetus (1509/11–1553) aussprach. Freilich habe Besold diese Ansicht im Rahmen seiner Konversion mit einer „Kehrtwendung“37 vollständig aufgegeben. Widmann hat hiermit wichtige Parameter für eine angemessen Beschreibung der Besoldschen Toleranzhaltung beschrieben, auf die ich im weiteren Verlauf zurückkommen werde. Ein sehr wohlwollendes Bild von Besold zeichnet dagegen Wilhelm SchmidtBiggemann in seinem Aufsatz Besold und Andreae. Eine Konversions- und Dissoziationsgeschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Während Andreae als theokratischer Theologe und „bedingungsloser Propagandist der lutherischen Partei“38 bezeichnet wird, der an einer Unabhängigkeit von geistlicher und weltlicher Herrschaft nicht interessiert gewesen sei, wird Besold in einem deutlich milderen Licht als ein „frommer Spiritualist“39 gezeichnet. Anders als Andreae habe Besold schon früh die Tradition der katholischen Mystik und Spiritualität erkannt. So habe er 1615 Savonarolas Schrift De simplicitate christianae vitae veröffentlicht. Auch
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Vgl. die Nachweise in Widmann, Krise, 214, Anm. 14. Widmann, Krise, 220. Ebd., 229. Ebd., 272. Zu Gerhards Toleranzkonzept vgl. Heckel, Staat und Kirche, insbes. 164–166; Salatowsky, Zwischen Hinrichtung und Duldung, 42–45. Zu Castellio vgl. Mahlmann-Bauer, Häresie. Dort weitere Literatur. Widmann, Krise, 270, Anm. 264, und 272, Anm. 275. Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 105. Ebd., 146.
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habe er von Anbeginn an die „katholische politische Theologie“40 geschätzt, wie sich an der Übersetzung und Publikation von Campanellas Monarchia hispanica von 162041 zeige. Insgesamt hält Schmidt-Biggemann Besolds Religionskonzept für umfassender als Andreaes evangelische Frömmigkeit. Dort sieht er die Idee einer Philosophia perennis am Werk, nach der alle Religionen, auch die heidnischen, auf Gott abzielen würden. Auch wenn Besolds frühe Tübinger Vorlesungen, die Collegii politici classis prima & classis posterior von 1614, „durchaus in lutherischem Geiste“42 verfasst worden seien und anti-katholische Tendenzen enthalten, so seien sie doch insgesamt ein Zeichen für dessen „juristisch-besonnene Politiktheorie“ ganz im Gegensatz zu Andreaes „agitatorische(m) Gegenentwurf “43 in seiner Christianopolis.44 Ähnlich milde urteilt Schmidt-Biggemann über die beiden Bände der Axiomata philosophica-theologica von 1616 und 1626, die er als Zeichen von Besolds tiefer Frömmigkeit deutet, während er Andreaes Theca gladii spiritus von 1616 als geistliche Kriegsliteratur bezeichnet. Er verweist auf Andreas „antipäpstlich deklinierte Eschatologie“, die den Papst als Antichristen verstanden habe, während Besold schon 1616 wesentlich zurückhaltender argumentiert habe.45 Seine Ekklesiologie, wie sie aus dem zweiten Band der Axiomata sichtbar werde, sei „ausgewogen, präzise und unpolemisch“.46 Schmidt-Biggemann deutet Besold hier als einen christlichen Philosophen, der sich auch für die Hermetik, Alchemie und Philosophia Mosaica interessiert habe. All dies habe den Grundstein für Besolds
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Ebd., 103. Vgl. hierzu Kap. 3. Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 105. Ich komme auf diese Schrift in Kap. 4 zurück. Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 117. Ich kann die Einschätzung von Schmidt-Biggemann an dieser Stelle nicht teilen. Andreae verdeutlichte in der Christianopolis seine eigenen Ansichten, ohne zu agitieren. Folgendes verdient hier festgehalten zu werden: Sichtbar wird zum einen eine Skepsis gegenüber der Vernunft in geistlichen Zusammenhängen, gepaart mit einer Kritik an der aristotelischen Philosophie, während Platon gewürdigt wird (vgl. Andreae, Christianopolis, Nr. 34, 211). Auffällig ist ferner das harte Urteil über die beiden lutherischen Bekenntnisschriften: „Ihr Augsburger Bekenntnis ist häufig eine engherzige Verwirrung, ihre Konkordienformel ein Forum der Zwietracht.“ (Nr. 29, 197), obwohl zugleich eine Rückbesinnung auf die „Strenge unserer Reformation“ (Nr. 72, 317) erhofft wird. Die Einheimischen nennen sich am liebsten Christen, vermeiden konfessionelle Bezeichnungen und Sektennamen, „obwohl sie es lieben, wenn man sie Lutheraner nennt“ (Nr. 76, 331). Die Gewissensfreiheit wird gewahrt; niemand wird zu einem Bekenntnis gezwungen; körperliche Bestrafungen sind unbekannt (Nr. 87, 363–367). Schließlich werden die christliche Armut und die heilige Einfalt betont. Hätte Besold nicht gerne in einem solchen Christenstaat gelebt? 45 Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 123. Ich komme auf diese Einschätzung weiter unten zurück. Vgl. Anm. 59 und 65. 46 Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 129.
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Konversion gelegt, die er in seiner Schrift Christlich und erhebliche Motiven gerechtfertigt habe. Letztlich erkennt Schmidt-Biggemann in dem Widerwillen der Tübinger orthodoxen Theologen gegen jede Art von Mystik den Ausgangspunkt von Besolds Konversion. Dieses uneinheitliche Forschungsbild von Besold lässt viele Fragen offen. Ich möchte mich für den vorliegenden Zusammenhang auf die Darstellung von Besolds Toleranzkonzept beschränken, das hier ausführlich von den Anfängen um 1612 bis zur Veröffentlichung der Synopsis politicae doctrinae von 1637 nach seiner Konversion rekonstruiert werden soll. Ähnlich wie Brecht, Pohlig, von Friedeburg und Widmann sehe ich hier einen fundamentalen Bruch in Besolds Denken, der ihn in letzter Konsequenz zu einem Widerruf seiner früheren Ansichten einer Toleranz ohne Gewissenskontrolle zwang. Es geht mir nachfolgend – das sei ausdrücklich betont – nicht um eine persönliche Bewertung von Besolds Konversion, sondern um die Frage nach den strukturellen Zusammenhängen, ja auch Zwängen eines Denkens, das sich zunächst von starren konfessionellen Zuordnungen freizuhalten versuchte, sich dann jedoch genau darin verlor. Ich werde nachfolgend zwischen einem frühen, mittleren und späten Besold unterscheiden, um dadurch den Wandel seiner Ansichten besser beschreiben zu können. Der frühe Besold umfasst ungefähr den Zeitraum bis 1616, der noch von einer zum Teil sehr deutlichen Kritik an der katholischen Kirche und dem Papst als Antichristen gekennzeichnet ist. In einem ersten Schritt (Kap. 3) werde ich knapp einige von Besolds frühen Schriften im Blick auf die religiöse Grundhaltung beschreiben, die deutlich von Luthers Theologie geprägt ist, auch wenn sich schon eine Grundneigung zur ‚devotio moderna‘ abzeichnet. Beim mittleren Besold, der den langen Zeitraum bis zu seiner heimlichen Konversion 1630 markiert, verstärkt sich der Einfluss der Mystik. Gleichwohl kommt es hier noch nicht zum Bruch mit dem Luthertum, wie ich zeigen werde (Kap. 4). Meine These lautet, dass Besold sehr genau wusste, was bei einem Konfessionswechsel auf dem Spiel stand, nämlich seine mit vielen politischen, juristischen und religiösen Argumenten gestützte Toleranzhaltung, die er im Katholizismus so nicht hätte formulieren können. Allein im Luthertum und im christlichen Humanismus eines Castellio fand er jene Toleranzhaltung, die er für richtig hielt. Diesen Zusammenhang werde ich anhand seiner politischen Schriften, vor allem dem Collegium Politicum von 1614, den Politicorum libri duo von 1618 und der Dissertatio politico-iuridica de majestate in genere von 1625 (Kap. 5) veranschaulichen. Ein hier erstmals durchgeführter Vergleich von Besolds Haltung mit dem Tractatus theologicus, de haereticis non occidendis, sed coerecendis von 1621 des von ihm so sehr verhassten Tübinger Lutheraners Theo-
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dor Thumm (1586–1630)47 wird verdeutlichen, dass in dieser Kernfrage zwischen den beiden Gelehrten überhaupt keine Differenz bestand (Kap. 6). Als tragisches Moment entpuppt sich vielmehr, dass der späte Besold seine „lutherische“ Toleranzhaltung in den Katholizismus hinein zu retten versuchte, was nicht glückte. Welcher Bruch mit seiner Konversion erfolgte, werde ich anhand der verschiedenen Ausgaben der Synopsis politicae doctrinae von 1620 bis 1637 zeigen (Kap. 7). Sobald sich Besold am Ende auf Jesuiten wie Roberto Bellarmin (1542–1617), Becanus und Adam Contzen (1571–1635) berief, war seine Überzeugung von der Gewissensfreiheit nicht mehr zu retten.
3.
Der frühe Besold: Ausgang vom lutherischen Milieu, 1612–1616
Besolds frühe Schrift Templum iustitiae (1612), sein erstes größeres Werk, bietet eine umfangreiche Einführung in die aus seiner Sicht notwendigen Vorkenntnisse der Jurisprudenz, indem sie den Gebrauch aller philosophischen Disziplinen beschreibt. Sie ist eklektisch48 und unterscheidet sich darin klar von jenen an Aristoteles orientierten Lehrbüchern, die in Tübingen zu dieser Zeit verlegt worden sind.49 Gleich am Anfang heißt es in der Inhaltsübersicht: „Man darf keiner der philosophischen Schulen folgen, sondern muss sich einer Auswahl bedienen.“50 Besold bevorzugte
47 Zu Person und Werk vgl. Ehmer, Art. Thumm. Thumm galt neben Lukas Osiander d.J. (1571–1638) als schärfster Kritiker von Besolds mystisch-spiritualistischen Ansichten, lange bevor dieser 1630 zum Katholizismus konvertieren sollte. So veröffentlichte Thumm 1622 die Schrift Impietas Wigeliana, die sich gegen Valentin Weigel (1533–1588) und die „neuen himmlischen Propheten“ wandte, die von Privatoffenbarungen getrieben nolens volens eine Abkehr von der Wirksamkeit der Hl. Schrift bewirken würden. Diese Schrift dürfte ein Anlass für die zunehmende Entfremdung Besolds vom orthodoxen Luthertum gewesen sein. Dieser Konflikt betraf jedoch eben nicht die Toleranzfrage. Zur Verwobenheit Besolds in die Tübinger „Subkultur“ um Wilhelm Schickard (1592–1635) vgl. Bubenheimer, Schickard; Kühlmann, Schickard. 48 Zum Konzept vgl. Albrecht, Eklektik. 49 Vgl. Besold, Templum iustitiae. Ich zitiere nach der zweiten Auflage Tübingen 1614. Eine weitere Auflage erschien 1616 in Frankfurt am Main. Brecht, Besold, 17, stellt zu dieser Schrift knapp fest: „Man bekommt hier [sc. im Templum iustitiae] einmal mehr den umfassenden wissenschaftlichen Ansatz zu Gesicht, wie er auch bei Andreae in dieser Zeit begegnet. Die Eklektik, die Besold so schwer präzise verorten lässt und die auf Kosten denkerischer Klarheit gehen musste, erweist sich als beabsichtigt.“ Zur Schulphilosophie in Tübingen vgl. Sparn, Schulphilosophie, 532–534. Im frühen 17. Jahrhundert wirkten dort u. a. die Aristoteliker Vitus Müller (1561–1626), Jonas Hoecker (um 1582–1617) und Johannes Geilfuss (1592–1654). 50 Besold, Templum iustitiae, Praef., Nr. 49, Bl. ):( 3v: „Nullam ex Philosophorum sectis sequendam; sed electione utendum.“ Besold zitierte hier eine große Anzahl von klassischen und neueren Autoren, darunter viele aus dem Bereich der aristotelischen Schulphilosophie, aber auch Vertreter eines neuen Denkens wie Jean Bodin und Justus Lipsius.
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folglich keine bestimmte Philosophie, schloss auch keine von vornherein aus, selbst die stoische nicht, die oftmals zu dieser Zeit, gerade in ethischen Zusammenhängen, verworfen wurde.51 Auch wenn sich hier und da schon die Einflüsse der Mystik zeigen, so decken sich Besolds Ansichten zum christlichen Staat noch weitestgehend mit den gängigen lutherischen Positionen. So betonte er, dass die philosophischen Tugenden, obgleich an sich betrachtet gut, gemäß Augustinus bei Gott nur Sünde seien, sofern sie nicht zuvor durch die ,pietas‘ gereinigt würden.52 Wer sich ohne Gott beratschlage, der ziehe Not auf sich und bringe Eitelkeit hervor. Ja, um jede Anwandlung eines Anti-Christus Politicus zu zerstreuen, zitierte Besold den „göttlichen Luther“ mit einer anti-päpstlichen Polemik: „Der Papst wollte über Gott stehen. Jetzt wollen sie [sc. nicht näher bestimmte Antichristen] alles ohne Gott verhandeln. Und nachdem sie von den päpstlichen Satzungen befreit worden sind, wollen sie auch vom Gesetz Gottes befreit sein und nur dem politischen Gesetz folgen.“53 In großer Übereinstimmung mit Luthers Haltung sah Besold zu diesem Zeitpunkt seines politisch-juristischen Denkens im Papsttum jene Kräfte am Wirken, die auf einen politischen Umsturz der gottgegebenen Ordnung abzielten. Auch Besolds zweite größere Schrift, die Signa temporum von 1614, belegt, dass er noch ganz ungezwungen in den Bahnen der lutherischen Tradition stand. Erneut berief er sich in der Vorrede auf den „göttlichen Luther“, der die Religion wieder glücklich in ihren alten Stand gebracht habe.54 Auch die erste Dissertation verdeut-
51 Vgl. Besold, Templum iustitiae, 44: „Stoica sane Philosophia non negligenda: certe ea vel praecipue curam manumque meretur Christiano medicam: a qua ad nostram Religionem brevissimus non nemini videtur esse transitus; quam nostro dogmati simillimam esse dixit Divus Hieronymus. A cujus sensibus multis non abeunt Arnobius, Tertullianus, Pantaenus, Clemens Alexandrinus.“ (Ebd., 44) Allerdings vermerkte Besold die Grenzen der stoischen Philosophie im Blick auf die christliche Lehre. 52 Zur philosophischen Ethik der Lutheraner vgl. Salatowsky, „Dic cur hic?“ 53 Besold, Templum iustitiae, 64: „Nunc vero in eo vivimus Seculo, de quo Divus Lutherus loquutus est quondam: […] Adest tempus, inquiens, olim praedictum, quod post revelatum Antichristum essent homines futuri, qui sine Deo viverent: unusquisque secundum suas Concupiscentias & illusiones. Nam Papa fuit supra Deum: nunc sine Deo omnes agere volunt. Et cum a Legibus Papae liberi sint: volunt etiam a Lege Dei liberi esse: nihil nisi Politica sequi.“ Besold zitierte hier aus Johannes Wolf, Lectionum memorabilium et reconditarum centenarii XVI, Lauingen 1600. Es handelt sich hierbei um ein Vaticinium, das nach Wolfs Worten von Luthers Hand stammen und nach dessen Tod in seiner Bibliothek gefunden worden sein soll. Vgl. hierzu auch Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg, 133 f. 54 Vgl. Besold, Signa temporum, Praef., Bl. A 2r: „Huic [seiner Exegese de pace religonis], de Religione a divo Luthero in statum veterem feliciter restituta […] volui commonstrare.“ Auch Becker, Kriegsrecht, 154–158, verweist auf die deutlich sichtbare lutherische Ausrichtung der Schrift in wichtigen religiösen und theologischen Fragen. Luther sei der Held, der im ge ist l iche n Kampf gegen alle Widerstände und ohne Unterstützung der weltlichen Macht das Wort Gottes von menschlichen
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licht mit dem programmatischen Titel De reformatione religionis, paceque Religiosa in Germanica constituta diese Orientierung. Sie beginnt mit der gewichtigen Frage, ob in einem Staat mehrere Religionen geduldet werden können. Besold skizzierte nachfolgend zwei Positionen. Einige, so der Lutheraner Johann Gerhard, hielten eine solche Duldung für möglich, während andere, die Kriegstreiber seien und mit inquisitorischer Härte Andersgläubige verfolgten, schwadronierten, dass eine solche Vielfalt nicht zu dulden sei.55 Besold hatte hier ohne Zweifel die Katholiken im Blick. Er schilderte nachfolgend die Einführung der Reformation in Deutschland und lobte den Augsburger Religionsfrieden – beide Ereignisse seien als Werk der göttlichen Vorsehung notfalls mit Gewalt zu verteidigen. Selig seien jedoch insbesondere jene Menschen zu nennen, die Urheber des Friedens seien, nicht des Krieges. Glücklich sei der Tag zu nennen, an dem die Zwietracht zwischen den Religionen aufgehoben, der goldene Frieden wieder eingesetzt wäre. Besold plädierte – erneut ganz im Sinne des Luthertums – für eine klare Trennung von Politik und Religion: Mögen auch Ehepaare, Eltern und Kinder oder Brüder und Schwestern in der Religion unterschiedlicher Meinung sein, so sind sie doch in der Politik eines Sinnes und erledigen ihre Aufgaben ohne Zwietracht.56 Sichtbar wird hier eine tiefe Friedenssehnsucht als höchstes Gut des zwischenmenschlichen und -staatlichen Zusammenlebens, das Besold von katholischer Seite gefährdet sah. Überzeugend hat Brecht daher im Blick auf die Signa Temporum festgehalten: „Die Schrift spiegelt das evangelische Zeitgefühl im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges. Von katholisierenden Neigungen Besolds ist noch nichts zu spüren, wohl aber von einem charakteristischen Unbehagen am sittlichen Zustand und von
Deutungen und Traditionen befreit habe. Gleichwohl sprach sich Besold zugleich gegen eine Überhöhung Luthers aus. Vgl. Besold, Signa temporum, Diss. I, 9: „Ex Lutheri cerebello, nostrane Religio est deprompta? Haut equidem reor: sed Apostolorum, Christique ipsius doctrinam, quae sola & omnibus modis est perfecta, ex Sacro Codice haurire, & ab inquinamentis Traditionum humanarum purgare, non frustra conamur.“ 55 Besold, Signa temporum, Diss. I, 1: „Quidam enim, rem, ut puto, acu tangentes; Rempublicam si maxime in illa Religiones sint discrepantes, nihilominus bene administrari posse, firmiter asseverant. […] Alii contra, turbatores Pacis exoptatae, dissimiles de culto Divino sententias, minime tolerandas esse, caeco quodam impetu, Zeloque qui non est secundum scientiam, clamitant impudenter. Immo vero Dominicus quidam Bannis, professor Academiae Salmaticensis […] publicis monumentis consignare non veretur: Inquisitores haereticae pravitatis, ex praesumptionibus etiam procedere posse; & teneri punire eum, qui ex dictis vel factis haereticus esse apparet, etiam si revera non existat.“ Um wen es sich bei Bannis handelt, konnte nicht ausfindig gemacht werden. 56 Vgl. Besold, Signa temporum, Diss. I, 4. Die Herstellung der Eintracht ist auch Andreaes großes Thema in seiner Christianopolis: „Itaque concordia opus foret, quam nemo nisi Christianismus dare potest, qui et Deum hominibus conciliat et homines inter se connectit, ut pie credant, bene agant, vere sciant, tandemque feliciter moriantur et aeternum vivant. Ah uniamur aliquando, ne in omne aevum disuniamur.“ (Christianopolis, Nr. 26, 182)
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apokalyptischer Befürchtung.“57 Besold hat dieser Befürchtung auch in seiner Rektoratsrede De periculis nostri seculi von 1614 Ausdruck verliehen, wie Brecht gezeigt hat.58
4.
Der mittlere Besold: Zeichen eines beginnenden Wandels, 1616–1630
Im Jahr 1616 veröffentlichte Besold den ersten Band seiner Axiomata philosophicotheologica.59 Es handelt sich hierbei um eine Sammlung von Aphorismen, die, so Schmidt-Biggemann, „die Frömmigkeit Johann Arndts und der spätmittelalterlichen Mystik weiterführen“.60 Widmann betont ganz ähnlich das charakteristische Nebeneinander der vom jungen Luther geprägten Demutstheologie, die die Dimensionen des Christseins in der ,oratio‘, ,meditatio‘ und ,tentatio‘ abschreitet, und einer von der erbaulischen Frömmigkeitsliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit beeinflussten Kreuzesmeditation.61 Besold zitierte in der Tat in seiner Schrift nun eine ganze Reihe von Autoren unterschiedlichster Provenienz, z. B.
57 Brecht, Besold, 18. 58 Vgl. Brecht, Besold, 18 f. Diese Einschätzung bringt auch das Motto der Rede zum Ausdruck, das als Emblem gelegentlich Verwendung fand. Vgl. Besold, De periculis nostri saeculi: „Terra fremat, Regna alta crepent, ruat Ortus et Orcus; Cui comes est Christus, nulla Ruina nocet.“ 59 Vgl. Besold, Axiomata philosophico-theologica. 1626 erschien der zweite Band der Axiomata, 1628 die stark überarbeitete zweite Auflage des ersten Bandes. Zu den Inhalten vgl. umfassend Widmann, Wege aus der Krise, 226–250. Das Werk wurde zusammen mit Andreaes Theca gladii spiritus publiziert. Diese Schrift, angeblich aus den Aufzeichnungen des seligen Tobias Heß (1586–1614) stammend, enthält über 800 kurze Maximen und Reflexionen eines christlichen Humanismus, der seine Nähe zu Luther jedoch nicht verbirgt: „Post primitivae Ecclesiae lumina, salubriorem hominem mundo non contigisse Luthero, sane omnes affirmare coguntur.“ (Andreae, Theca, Nr. 367, 134) Der Titel verweist auf Eph. 6,17: „Gladium Spiritus, Ephes. 6. id est divina dicta sumite.“ (ebd., Nr. 771, 276) Auch wenn man diese Schrift eine „geistliche Kriegsliteratur“ (Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 121) nennen kann, so ist sie doch weit davon entfernt, kriegslüstern zu sein. Ganz im Gegenteil betonte Andreae: „Vita omnis Dei unius Servitio, proximi ministerio, animae cura insumitor.“ (Andreae, Theca, Nr. 772, 276) Und dass Andreae „den Papst als Antichristen (identifiziert)“ (Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 123), unterscheidet ihn, anders als Schmidt-Biggemann behauptet, gerade nicht von dem angeblich wesentlich zurückhaltenderen Besold, der nämlich genau diese Aussage in seinen Axiomata trifft. Vgl. hierzu den Text zu Anm. 65. 60 Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 119. 61 Vgl. Widmann, Wege aus der Krise, 229. Auch Becker erkennt in den Axiomata viele Stellen, die Besold „noch klarer im Protestantismus lutherischer Prägung verorten“ (Kriegsrecht, 155). Dazu gehört vor allem die Übernahme der lutherischen Abendmahlslehre in strikter Abgrenzung von der reformierten und katholischen Lehre. Vgl. Besold, Axiomata philosophico-theologica, Nr. 250, 74: „Sub specie panis, nobis exhibet corpus suum Salvator; ut demonstraret, non minus necessarium esse sui corporis participationem, nostramque cum illo conjunctionem, ac panis ad corporis nutritionem.“
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Augustinus, Bernhard von Clairvaux (1090–1153), Johannes Tauler (1300–1361), Francesco Petrarca (1304–1374), Savonarola (1452–1498), Johann von Staupitz (1465–1524), Luther, Arndt, Gerhard, die Kabbalisten und Hermes Trismegistos. In der seinem Freund Andreae gewidmeten Vorrede betonte Besold, dass er hier nicht den Subtilitäten der Philosophie folge, sondern demütig in der Nachfolge Christi meditiere, sich in Seelenreinigung und Gebet freimache für die geistige Armut. Die ,devotio‘ erscheint als Kardinaltugend, den Menschen zur Erfüllung aller Tugenden anzuhalten.62 Dieses Programm ließ sich noch immer als lutherisch rechtfertigen, auch wenn der Hamburger Pastor Jacob Werenberg (1582–1623) gegen diese Art von Frömmigkeit schwere Einwände erhob.63 Diese lutherische Orientierung änderte sich freilich mit der zweiten Auflage dieser Schrift von 1628, die nun auch explizit katholische Autorinnen und Autoren wie die Mystikerin Theresa von Avila (1515–1582) oder den römischen Kardinal Carlo Borromeo (1538–1584) zitierte und die Schrift mit katholischen Gebeten enden ließ. Schmidt-Biggemann verweist auf charakteristische Ergänzungen bzw. Entschärfungen, die „die antirömischen [sc. Invektiven der ersten Auflage] mindestens relativieren und sie tendenziell gerade in eine Kritik an der lutherischen Orthodoxie umkehren“.64 So hieß es 1616 in den Axiomata: Der römische Papst, und kein anderer Ketzer oder weltlicher Fürst, ist der Antichrist, denn er irrt nicht nur in den Glaubensartikeln und verdirbt die Sitten, sondern er macht aus der Kirche eine Politik und ein weltliches Reich, das seine eigene Staatsräson hat und Geheimmanöver durchführt. Das ist direkt dem Königreich Christi, das geistlich ist und nicht von dieser Welt, entgegengesetzt. Und so wäre der Papst auch dann der Antichrist, wenn er sich nicht im Glauben geirrt hätte, was Savonarola erkannt hat.65
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Gleich anschließend folgt ein Zitat aus Luthers Kirchen-Postille, wonach man sich zu prüfen habe, ob man einen rechtschaffenen Glauben habe, der von Gott sei. Vgl. Besold, Axiomata philosophico-theologica, Nr. 2, 7. Auch in dieser Schrift wird gelegentlich eine deutliche Distanz zum scholastischen Katholizismus sichtbar. So heißt es an einer Stelle: „Devotioni magis est quam Eruditioni studendum; in quo multi hodie peccare videntur. Olim fuerunt Pharisaei, nunc Scribe [sic]. Die Papisten wahren vorzeiten Werckheiligen/ jetzunder findet man vil Schrifftheiligen. Nunc quadrat dictum Salviani.“ (Ebd., Nr. 17, 11) Vgl. Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 124. Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 125. Besold, Axiomata philosophico-theologica, Nr. 842, 230: „Romanus Pontifex, non ullus alius haereticus, aut seculi princeps est Antichristus: quia is non in fidei solum articulis errat & in moribus impingit, sed ex Ecclesia facit Politiam, & Imperium aliquod mundanum, quod suas habet status rationes, & arcana atque simulachra. Id quod directe contrarium est regno Christi, quod est spirituale, & non de hoc mundo. Et sic Papa esset Antichristus, etiamsi non erraret in fide Religio Romana [sic!]: quod intellexit Savonarola […].“ Die arcana simulachra verweisen direkt auf das Werk De Arcanis rerumpublicarum von 1605 des Arnold Clapmarius (1574–1604), der dort im sechsten Buch die
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Besold formulierte hier eine Kritik am Papsttum, wie sie ein lutherisch-orthodoxer Theologe in Tübingen nicht schärfer hätte formulieren können. Gerade die Verweise auf die eigene ‚ratio status‘66 des Papstes, die sich eben nicht am Gemeinwohl aller orientiert, sondern nur die eigenen Machtverhältnisse im Blick hat, sowie auf die päpstlichen Praktiken der Verschleierung, Vorspiegelung und/oder Vortäuschung markieren den größtmöglichen Abstand zu einer Kirche, die sich diesem Papsttum ausgeliefert hat. Savonarola hat diese Seite des Papsttums nicht nur erkannt, sondern bei seiner Verbrennung auch bitter durchlitten.67 In der zweiten Auflage von 1628 hat Besold, wie bereits Schmidt-Biggemann68 bemerkt hat, diesen eben zitierten Abschnitt durch die Voranstellung des Satzes „Lehre auch derer, die sich von den Katholiken abgetrennt haben“, als eine Ansicht beschrieben, die nicht (mehr) die seine ist, und er hat durch die Anfügung des Nachsatzes „Aber unzweifelhaft ahmen nicht wenige den römischen Papst nach Kräften nach, und wenn sie könnten, würden sie ihn in dem, was sie ihm vorwerfen, sogar noch übertreffen“69 die Praxis der ‚arcana simulachra‘ nun den abtrünnigen Konfessionen unterstellt, vor allem dem Luthertum. Nachfolgend hebt Besold auch noch seine frühere Identifikation der römischen Kirche mit Babylon auf.70 Diese Aussagen verdeutlichen, dass Besold sich bereits seit den späten 1620er Jahren sehr stark dem Katholizismus zugeneigt hat, und es war nicht allein die Mystik, die diesen Wandel bewirkte, sondern auch die Akzeptanz des Papsttums als ordnende Kraft der einen katholischen Kirche.
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Vorspiegelungen den echten Herrschaftsstrategien (arcana imperii) und dem Herrschaftsrecht (ius imperii) gegenübergestellt hat. Vgl. Clapmarius, De Arcanis rerumpublicarum, l. VI, c. I, 478. – Die Papstkritik, die er auch auf das Ablasswesen und andere gängige Punkte (Zölibat, Heiligenverehrung etc.) erweiterte, stützte Besold durch den Nachweis, dass bereits Autoren des Mittelalters wie Petrarca gegen den päpstlichen Antichristen gekämpft hätten. Vgl. Besold, Signa temporum, Diss. I, 15–23, wo erneut vom römischen Antichristen die Rede ist. Zur Lehre der ‚ratio status‘ vgl. Stolleis, Arcana imperii. Dort auch eine Schilderung der Lehre des Clapmarius. Besold hat 1615 und 1621 einige Schriften Savonarolas ediert. Vgl. Besold (Hg.), De Simplicitate christianae vitae; Ders. (Hg.), Meditationes Hieronymi Sava[sic]narolae. Zur Rezeption Savonarolas in Deutschland vgl. Bernhardt, Gestalt, insbes. 76. Eine offene Frage ist, wie sich Besold nach seiner Konversion zu Savonarola stellte. Vgl. Schmidt-Biggemann, Besold und Andreae, 125. Besold, Axiomata philosophiae christianae, Nr. 55, 235: „Dogma & eorum, qui a Catholicis secesserunt […]. Sed certe strenue non pauci imitantur Pontificem Romanum, aut si possent hac etiam in parte superarent ii, qui hoc in illo culpant.“ Vgl. Besold, Axiomata philosophico-theologica, Nr. 843, 230: „Roma spiritualis Babylon: Romanorum regnum (quatenus Apocalypticae meretricis patitur fraenum, atque capistrum) mysticus Assur.“ In Besold, Axiomatum philosophiae christianae, Nr. 56, 235, heißt es anschließend: „Hoc speciose quidam ex Apocalypsi deducunt: sed sane prophetica cautissime sunt tractanda, & rarius individuis applicandi.“
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Wie sehr sich dieser Wandel der eigenen Ansichten und des Glaubens über Besolds Denken der späten 1610er und frühen 1620er Jahre legte, verdeutlichen auch dessen Briefe an den berühmten Astronomen und lutherischen Gläubigen Johannes Kepler (1571–1630), den er aus gemeinsamen Tübinger Tagen kannte.71 In einem Brief vom 3. November 1618 an Kepler, mit dem Besold auf dessen Kritik am Manuskript seiner Schrift De verae philosophiae fundamento discursus reagierte, die erst 1619 veröffentlicht werden sollte,72 rechtfertigte er seine Sichtweise auf die ,imperfecta philosophia‘, deren einzige Aufgabe es sei, den Menschen auf die Theologie vorzubereiten. Ihm sei es in seiner Schrift darum gegangen, die menschliche Schwachheit aufzuzeigen, den Hochmut der Natur zu zerstören und so den Menschen demütig zu machen.73 Besold distanzierte sich hier noch von den Subtilitäten der scholastischen Theologie, die er nicht verstehe. Stattdessen wandele er in Einfalt.74 Sichtbar wird erneut Besolds Orientierung an der ,devotio moderna‘: Sie übe sich in Demut und weise jegliche Neugier und jeglichen scholastischen Versuch, die Mysterien Gottes zu verstehen, als falsch zurück. Seit den frühen 1620er Jahren liefen wiederholt Gerüchte über Besold um, er würde konfessionell abtrünnig werden.75 In einem weiteren Brief vom 17./27. Sep-
71 Zu Keplers Glauben und Theologie vgl. umfassend Hübner, Theologie. Trotz seiner bitteren Erfahrungen mit der lutherischen Kirche, die sich vor allem am Abendmahlsverständnis entzündeten und zu seinem Ausschluss vom Gottesdienst führten, konvertierte Kepler nie. 72 Vgl. Besold, Discursus. Besold ging von zwei Büchern aus, dem liber mundi als von Gott erschaffenen Makrokosmos und dem liber conscientiae als Mikrokosmos, den er als Weisheit in der Nachfolge der Tradition der prisca sapientia verstand. Alles ist hierbei auf Gott ausgerichtet: Wir sind „particula Diviniae aurae“ (ebd., A 2v). Außerhalb davon ist weder Vernunft noch Gewissen. Zur Schrift vgl. knapp Brecht, Besold, 22. 73 Vgl. Besold: Brief vom 3. November 1618 an Kepler, in: Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 17, Nr. 807, 282 f.: „Et hoc tantummodo nunc dico depinxisse me philosophum, qui non invenitur in natura corrupta: nec alio haec finde proposita a me sunt, quam ut nostram demonstrem inbecillitatem, superbiam deijciam naturae, et ita humilem dejectumque faciam hominem, hoc est accommodum faciam et praeparam Theologiae.“ Zum Brief vgl. Brecht, Besold, 22. Besold stand mit Kepler von 1618 bis 1626 in einem brieflichen Austausch. Die Bände 17 und 18 von Keplers Gesammelten Werke weisen insgesamt elf Briefe von Besold an Kepler nach. Die Briefe von Kepler an Besold haben sich bis auf eine Ausnahme (vgl. Brief vom 9./19. November 1627, in: Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 18, 318–320) leider nicht erhalten. 74 Vgl. Besold: Brief vom 3. November 1618 an Kepler, in: Kepler, Gesammelte Werke 17, Nr. 807, 283: „Theologia quae per schedam adjecta fuerunt, legi et scio seu suspicor potius quem depingas: Ego in simplicitate ambulo, nec illa mysteria scholastico-Theologica, intelligo; nec opto ut intelligere possim. Scio enim impedire magis quam promovere salutem et eam sapientiam, quae ex Deo.“ Brecht betont, dass hier die „Zentrallehren der Tübinger lutherisch-orthodoxen Theologie“ (Brecht, Besold, 22) gemeint sein dürften. Ich meine, dass an dieser Stelle überhaupt jegliche Scholastik kritisiert wird, deren subtile Debatten hier als nicht zu verstehende „Mysterien“ beschrieben werden. 75 Vgl. Schickard, Brief vom 7. September 1625 an Kepler, in: Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 18, Nr. 1015, 245 f., hier: 245: „Dominus Besoldus, cum haec ei narrarem, famae mendacia risit. Facile
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tember 1626 an Kepler trat er diesen Bedenken ausdrücklich entgegen. Für Brecht gibt dieser Brief „Einblick in den inneren Übergang Besolds zum Katholizismus“.76 Besold begann mit einer Äußerung über ein anti-katholisches Manuskript Keplers. Ihm gefiel daran, dass es mit großer Lauterkeit „unsere“ – die lutherische – Sache verteidige und sich dabei dem Fassungsvermögen derer angepasst habe, die in den Subtilitäten der modernen Theologen nicht geübt seien.77 Besold empfahl die anonyme Veröffentlichung der Schrift, da es für die katholischen Gegner lächerlich wäre, sich mit jemanden auseinanderzusetzen, der für das Luthertum eintrete, obwohl er vom lutherischen Abendmahl ausgeschlossen sei. Besold lieferte dann ein wichtiges Bekenntnis in eigener Sache: „Das Gerücht über meine Konversion ist vollkommen grundlos.“78 Denen, die ihn einer Neuerung verdächtigten, pflege er zu antworten, dass er den Alten, ja, den Ältesten folge, und lieber wolle er mit den Lehrern der ersten Kirche irren als die dunkle Sorgfalt der Neuerer nachahmen. Hier findet man einen für diese Zeit typischen Kipppunkt in Besolds Argumentation. Hatte er eben noch seine Zustimmung zum Luthertum zum Ausdruck gebracht, so formulierte er nun seine Distanz: Aber ich glaube und bin der festen Überzeugung, dass die Irrtümer, die die Unsrigen den Katholiken vorwerfen, neu sind und nicht aus der Urkirche stammen. Unsere Theologen bekämpfen neue wie alte Häretiker, unter anderen Arndt (den der Kanzler Osiander in einer veröffentlichten Schrift der Hölle übergeben hat), Mentzer (obgleich der in Gießen mit den Weigelianern mit Worten und Waffen kämpft), und die Photinianer, deren schreckliche Blasphemien ich lieber nicht genannt als vielmehr widerlegt sehen will.79
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colligis unde calumnia occasionem arripuerit, nempe quia in iudicio liberior est, et multa in nostris (an recte) culpat, vicissim aliqua in adversarijs quoque laudat […].“ Auch dieser Brief verdeutlicht, wie unvorstellbar Besolds Konversion für seine Freunde war, obgleich man sich gleichwohl fragte, wohin dessen freies und auch kritisches Urteil über das Luthertum wohl führen möge. Brecht, Besold, 25. Brecht betont ganz zu recht, dass Besolds Argumentation in diesem Brief „alles andere als eindeutig“ (ebd., 26) ist. Vgl. Besold, Brief vom 17./27. September 1626 an Kepler, in: Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 18, Nr. 1030, 270 f. hier: 270: „Remitto quae accepi fragmenta scripti Theologici tui, quod contra CatholicoRomanos paras. Placet id (licet fine ac principio carens) nam et ex ungue cognoscere Leonem licet. Placet, inquam, eam praecipue ob caussam, quod inibi, solito candore, remotis controversiarum tricis nostra defendis, et captui te accommodas eorum, qui in subtilitatibus novissimorum Theologorum haut sunt exercitati.“ Besold, Brief vom 17./27. September 1626 an Kepler, in: Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 18, Nr. 1030, 270: „Rumor de mea conversione, inopinatus plane fuit.“ Besold, Brief vom 17./27. September 1626 an Kepler, in: Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 18, Nr. 1030, 270 f.: „Sed puto et firmiter persuasum mihi est, errores quorum res agunt Catholico Romanos nostrates, novos esse, nec ex Ecclesia primitiva. Theologi nostri, strenue haereticos novos aeque ac veteres oppugnant: et inter alios, Arndium (quem orco, scripto publico addixit Dominus Cancellarius
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Die Uneindeutigkeit der Besoldschen Argumentation ist hier zu greifen. Zwar bekannte er sich zum Luthertum, wollte kein Neuerer sein, berief sich vielmehr auf die Urkirche der ersten Jahrhunderte, die ohne Irrtum gewesen sei – eine Argumentation, die auch das orthodoxe Luthertum verwendete. Zugleich war ihm jedoch der polemische Kampf der Lutheraner um die rechte Lehre zuwider, wie der Hinweis auf Balthasar Mentzer d.Ä. (1565–1627) verdeutlicht, der sich zu dieser Zeit in einer heftigen Auseinandersetzung mit den Tübingern Osiander d.J. (1571–1638) und Thumm um das rechte Verständnis der Christologie befand.80 Besold, so scheint es, war zu dieser Zeit auf der Suche nach einer friedvollen und einträchtigen Kirche, die er n i cht meh r im orthodoxen Luthertum fand, aber auch no ch n i cht im Katholizismus gefunden hatte. Die Urkirche wurde hier wie später beim Helmstedter Georg Calixt (1586–1656) zu einem fast utopischen Sehnsuchtsort, an dem vermeintlich alle dogmatischen Konflikte stillgestanden haben.81 Dieses religiös-theologische Bild wird noch komplexer, wenn man sich Besolds politische Überzeugungen vergegenwärtigt, auf die ich gleich ausführlicher zu sprechen komme. Hier ist zunächst vor allem sein Interesse an den italienischen Philosophen und von der Inquisition verfolgten Geistlichen Tomasso Campanella (1568–1639) zu erwähnen, dessen Traktat Monarchia di Spagna (um 1600 verfasst) er 1620 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Von der Spannischen Monarchy anonym veröffentlicht hat.82 1623 ergänzte er die zweite Auflage mit einem Anhang, in dem er der Frage nachging: „Ob zu wünschen/ daß alle Christlichen Herrschaften/ einem einzigen Oberhaupt underworffen weren“.83 Für Brecht wandte sich Besold hier gegen Versuche, biblische Prophetien auf die eigene Zeit zu beziehen und ein konkretes Datum für die Wiederkunft des Herrn zu benennen, anstatt demütig der Dinge zu harren, die da kommen.84 Die Frage, warum Besold ausgerechnet Campanellas Idee einer Universalmonarchie übersetzte und veröffentlichte, wurde von Brecht nicht thematisiert. Dabei ist die Frage durchaus einer Erörterung wert. Cecilia Muratori äußerte in ihrem Aufsatz Die Utopie der Politik um 1600 die Vermutung, dass Besold für die im Alten Reich vorherrschende Abneigung gegen
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Osiander) Menzerum, qui tamen Giessae cum Wegelianis litteris et armis decertat, Photinianos, quorum horrendas blasphemias malim non nominari, quam refutari.“ Dies ist der letzte überlieferte Brief Besolds an Kepler. Ob Briefe verloren gegangen sind oder ein Abbruch des Briefwechsels stattfand, lässt sich nicht mehr feststellen. – Bereits 1618 hatte sich Besold in einem Brief an Kepler abfällig über die orthodoxen Lutheraner geäußert, die „wie bissige Hunde wegen eines Knochens, sich gegenseitig ankläffen wegen eines Buchstabens in der Lutherischen Bibelübersetzung“ (in: Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 12, 354). Vgl. hierzu Baur, Tübinger Christologie; Haga, Lutheran Metaphysics, 213–269. Vgl. hierzu Sascha Salatowsky: Looking Back, S. 206–217. Vgl. Campanella, Von der Spanischen Monarchy. Besold, Anhang, in: Campanella, Von der Spannischen Monarchy, 1 (eigene Paginierung). Vgl. Brecht, Besold, 19 f.
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die Idee einer christlichen Universalmonarchie werben wollte. Muratori sieht hier einen Zusammenhang zu den Rosenkreuzerschriften, die in dem Anhang neben Paracelsus und weiteren Autoren der Alchemie und Astrologie erwähnt werden.85 Sie macht auch darauf aufmerksam, dass Campanellas Text „äußerst kritische Äußerungen gegen Luther und die gesamte Reformation“86 enthält und „gezielte Strategien für den Umgang mit der Ketzerei der Lutheraner“ beschreibt.87 Wie ging Besold damit um? Muratori kann zeigen, dass er an einigen Stellen die antilutherische Haltung Campanellas sowie seine Aussagen zur Ketzerbehandlung abmilderte.88 Auch in einem Anhang, den Muratori unberücksichtigt gelassen hat, findet man diesen merkwürdigen Mix politischer und religiös-konfessioneller Ansichten. Nachdem Besold die Argumente der katholischen Befürworter einer solchen spanischen Universalmonarchie und dann die ihrer Gegner ausgeführt hatte – darunter das für unseren Zusammenhang wichtige Argument, dass die „absolut Monarchen gestatten kein Freyheit deß Gewissens/ leider auch keinen Religionsfried“89 –, hielt
85 Vgl. Muratori, Utopie der Politik, 118 f. Vgl. hierzu auch Salvadori, Spiritual Regeneration. 86 Muratori, Utopie der Politik, 121. So sprach Campanella davon, dass man zwischen den Protestanten „Trennung und Zwyspalt“ (Von der Spannischen Monarchy, c. XXIII, 102) erwecken müsse, um die Eroberung Deutschlands durch das katholische Spanien vorzubereiten. Die Lutheraner werden in diesem Zusammenhang wiederholt als „Kätzer“ (ebd. und 104) bezeichnet. Campanellas Traktat ist ein übles Beispiel reiner Machtpolitik, in der die katholischen Könige und Kaiser im Dienste ihrer Kirche stehen. 87 Muratori, Utopie der Politik, 122. Bei Campanella heißt es: „Es ist aber auch dieses ein guts Mittel/ die Kätzer zu demütigen/ und unter einander Zwyträchtig zumachen/ daß man offene Schulen in welchen die Philosophia der Alten/ und Mathematic gelernet werde/ anrichte. […] Mir gefält uber die massen wol in diesem proposito dieser Weeg/ daß man sie [sc. die protestantischen Ketzer] unter einander uneinig mache/ welches auff zwo weiß geschehen kann/ Erstlich/ wann man ihnen Hertz und Sinn mit einander zu verstehen/ und sich mit einander zu verbinden/ benimpt/ welches geschieht/ wann man uberall Argwohn und Widerwillen unter ihnen foviert, daß keiner sich gegen dem andern darff mercken lassen noch einer dem andern trawen […]. Zum andern/ ihnen ein Gebiß einlegen/ daß sie nicht wider die Gesätz/ oder kein Geschlecht sich mit einem andern/ so ein grossen Anhang hat/ ohne Vorwissen und Erlaubnis/ sich zu verheurathen Macht habe. Zum dritten/ solle man diejenige Personen/ so fürnemb und in grossem Ansehen seyen/ nicht gedulden/ sondern sie anderst wohin verschicken […].“ (Von der Spannischen Monarchy, c. XXIII, 104) Auch hier werden aus politischer, ethischer und religiöser Sicht ausgesprochen fragwürdige Mittel vorgeschlagen, die auf die Zerstörung einer Gesellschaft abzielen, um die Universalmonarchie Spaniens einzuführen. 88 Vgl. Muratori, Utopie der Politik, 127–131. 89 Vgl. Besold, Anhang, 38. Es heißt dort ausführlicher: „Insonderheit aber wil vast nach allgemeinem ermessen/ der vielfältige Unterschied der Religion/ kein derogleichen Universal Weltbeherrschung/ ja auch in einem Königreich keinen absolut und ungemesnen Gewalt/ admittiren oder gestatten. Inmassen die Erfahrung bezeuget/ das wo dergleichen sich befindet/ mehr nicht dann ein Religion zugelassen/ kein Religions-Frid geduldet/ und alle genandte Kätzer/ auff das ärgst verfolgt werden.“ (Ebd., 38 f.)
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er zunächst in bewusster Unparteilichkeit (man könnte es auch Indifferenz nennen) fest: „Welche [sc. Argumente] in warheit nach meinem beduncken/ allerseits sehr ansehnenlich. Also daß ich selbsten nicht wissen mag/ welcher Meinung mehr bey zufallen seyn möchte.“90 Eine klare Distanzierung von Campanellas Realpolitik, die laut Ottmann, „auf eine unfreiheitliche, die Menschen instrumentalisierende Ordnung“91 hinauslief, erfolgte also nicht. Auch spielte die Frage nach der Gewissensfreiheit nachfolgend keine Rolle. Vielmehr verwies Besold auf die Haltung des „Hoch vernünfftigen“ Bellarmin: Eine Universalmonarchie sei nicht zwingend, doch wenn sie komme, dann solle dies im Rahmen des Rechts und ohne Krieg und Blutvergießen geschehen. Hierfür wäre es am besten, wenn die Fürsten dem Monarchen genau so gehorchten wie die Bischöfe dem Papst zu Rom. Letztlich kam Besold – und dies ist für jemanden, der als Jurist unterrichtete und genau zu dieser Zeit seine politischen Großschriften veröffentlichte, eine doch erstaunlich quietistische Haltung – zu der Überzeugung, dass solche politischen Diskurse „gantz vergebens und viel zu frech“92 , also überflüssig und gefährlich seien. Gott werde alles so richten, wie er es für richtig halte, und daran solle sich jeder Christ trösten lassen. Überhaupt, so Besold, sei die Welt zu verachten. Die ganze „fröhliche Begierde“ solle dahin gehen, sich nach Gott und seiner himmlischen Bürgerschaft zu sehnen. Christus habe nie politische Botschaften formuliert, sondern allein über das Leiden gepredigt. Daher solle sich der Christ von politischen Händeln fernhalten. Besold lehnte in diesem Zusammenhang politisch-religiöse Umsturzversuche ausdrücklich ab. Statt sich mit der einfältigen Gottesfurcht zu bescheiden und die bestehende politische Ordnung zu bewahren, würden viele „unterm Schein und Hoffnung einer nächst instehenden Reformation der gantzen Welt/ gern sehen und darzuhelffen/ das alles uber und unter einander geworffen“93 werde. Eine Revolution im Sinne Thomas Müntzers (um 1489–1525) war Besolds Sache also nicht, auch nicht das skrupellose politische Handeln eines Campanella, eher schon die konservative Haltung eines die Obrigkeit stützenden Luthertums. Doch auch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Besold nannte Campanella in seiner Schrift Spicilegia politico-iuridica von 1624 einen „ingeniosissimus Politicus“.94 Was also suchte und wollte Besold genau? Ich versuche nachfolgend eine sehr beschränkte Antwort auf diese umfassende Frage allein im Blick auf Besolds Tole-
90 Besold, Anhang, 40. 91 Ottmann, Geschichte, Bd. 3,1, 163. Ottmann verweist auch auf weitere Aussagen Campanellas, in denen er dem Papst die Universalherrschaft zugeschrieben habe. Auch habe er behauptet, dass es sich nirgends besser als unter der päpstlichen Herrschaft lebe. Der Papst besitze die Macht über beide Schwerter (vgl. ebd., 158). 92 Besold, Anhang, 41. 93 Besold, Anhang, 47 f. 94 Besold, Spicilegia politico-iuridica, 39.
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ranzkonzept zu geben. Trotz einiger Studien, die oben genannt worden sind, steht die Forschung erst am Anfang einer genauen Aufarbeitung.
5.
Der mittlere Besold: Politik und lutherische Toleranz, 1614–1625
Besold war seit 1610 Professor der römischen Rechte in Tübingen.95 Bereits 1614 veröffentlichte er zwei Serien seines Collegium politicum mit insgesamt 23 Disputationen zur Politik.96 Beide Sammlungen bildeten die Grundlage aller weiteren politischen Werke, die Besold nachfolgend veröffentlichen sollte. Dazu gehören vor allem die mehrere hundert Seiten umfassenden Politicorum libri duo von 161897 sowie die Synopsis doctrinae politicae, die von 1620 bis 1643 in insgesamt sechs Auflagen erschien; darunter befindet sich auch jene nach der Konversion stark überarbeitete Fassung von 1637.98 Aus den Politicorum libri duo übernahm Besold wiederum Teile des ersten Buches in die Dissertatio politico-iuridica, de Majestate in genere von 1625.99 Diese nie gekennzeichneten Wiederverwertungen, die mit Ergänzungen und leichten Veränderungen gepaart sein können, machen Besolds Werk so unübersichtlich. Ich werde nachfolgend von den frühen politischen Schriften Besolds ausgehen, vor allem von dem Collegium politicum und den Politicorum libri duo, dabei in den Anmerkungen ggf. weitere Querverweise auf die späteren Werke geben und ggf. vorkommende Abweichungen vermerken. Nur auf diese Weise lässt sich der Wandel von Besolds Toleranzlehre angemessen entwickeln und darstellen. Das Collegium politicum und die Politicorum libri duo sind Beispiele für Stolleis’ zutreffender Beschreibung von Besolds „vielfältige(n) Grenzüberschreitungen“100 , der sich kaum um disziplinäre Zuständigkeiten kümmerte. Beide Schriften handeln von der Herrschaft im Allgemeinen, ferner vom Recht der Herrschaft im Allgemeinen und vom Kirchenrecht im Besonderen, von den verschiedenen Herrschaftsformen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie etc.) und ihren Mischformen,
95 Zur Tübinger Juristenfakultät vgl. Holtz, Bildung. 96 Vgl. Besold, Collegii politici classis prima (12 Disputationen); Ders., Collegii politici classis posterior (11 Disputationen). Alle Disputationen umfassen eine eigene Paginierung. 97 Vgl. Besold, Politicorum libri duo. Eine weitere Auflage folgte 1620. Diese Schrift ist gegenüber der Disputationssammlung deutlich erweitert, auch was die Zitierung und den Nachweis von Autoren betrifft. 98 Vgl. Besold, Synopsis politicae doctrinae. Auflagen in Tübingen (1620), Straßburg (1628), Ingolstadt (1637 und 1643), Frankfurt/Main (1642) und Regensburg (1643). 99 Vgl. Besold, Politicorum libri duo, l. I, c. II–IV, 53–187 mit Besold, Dissertatio politico-iuridica, s. I–III, 3–210. 100 Stolleis, Geschichte, Bd. 1, 121.
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vom Recht und den Ständeordnungen etc. Besold beschrieb ausführlich die staatlichen Institutionen, benannte ihre Aufgaben für das öffentliche Wohl wie die Sorge um die Religion (‚cura religionis‘), erläuterte die Notwendigkeit von Recht und Gesetz, bestimmte das Verhältnis von Untertanen und Obrigkeit und vieles mehr. In der Vorrede an den Leser hat Besold für eine irenische Grundhaltung geworben. Gegen die vorherrschende Zwietracht in den politischen Händeln des Tagesgeschäfts wolle er ohne Vorurteile über die ,res publica‘, die öffentliche Sache, schreiben und sich hierbei die Freiheit nehmen, die Wahrheit zu suchen. Gemäß Augustinus seien nämlich diejenigen, die im guten Glauben leben und die Wahrheit suchen, nicht als Häretiker anzusehen.101 Die geistige Freiheit, die sich Besold hiermit nahm, bestand in den Politicorum libri duo u. a. darin, Autoren quer durch alle Konfessionen zu zitieren, darunter auch im Blick auf ihre Rechtgläubigkeit durchaus umstrittene Personen. So werden im ersten Kapitels des ersten Buchs, den Praecognita politices, teilweise gleich mehrfach Weigel, Arndt, Tauler und Paracelsus (1493/4–1541) zitiert, während Andreae eine „Allusio ad nomen auctoris“ als Gedicht beisteuerte, das Besold als wahren Christen preist.102 Da Besold jedoch im selben Zusammenhang auch lutherische Autoren wie Jacob Martini (1570–1649), Balthasar Meisner und Henning Arnisaeus (1575–1636) zitierte, ergab sich nach außen hin ein ausgewogenes Gesamtbild, das (noch) keinen Anstoß erregt haben dürfte. Auch die Inhalte vermitteln fast durchgängig den Eindruck einer klaren lutherischen Orientierung Besolds. So belegt der Abschnitt De Politica majestate, der sich u. a. der Frage nach der zeitlichen Macht („potestas temporalis“) des Papstes widmet, nämlich der Frage, ob alle christlichen Könige der Macht des Papstes unterworfen seien, wie entfernt Besold in dieser Zeit noch von dergleichen katholischen Ansprüchen stand und wie sehr er stattdessen von einem lutherischen Hintergrund her argumentierte. Es heißt wörtlich: „Hier muss von uns gegen jene angekämpft werden, die behaupten, dass der höchste Bischof über die höchste Macht in der Welt verfügt, auch in den zeitlichen Dingen, nicht nur hinsichtlich der Sünde, sondern auf direkte Weise zeitlich-körperlich, nicht geistig.“103 Vor allem die Kanoniker 101 Vgl. Besold, Collegii politici classis prima, Praef., ):( 2r–v. Unter Hinweis auf Augustinus, Epistola 43,1 (in Migne [Hg.], Patrologia latina, Bd. 33, 160). Besold nahm für sich in Anspruch, mit seinem Werk die pietas, recta ratio und publica tranquillitas gefördert zu haben. Diese Vorrede wurde unverändert übernommen in Besold, Politicorum libri duo. 102 Vgl. Besold, Politicorum libri duo, ):( ):( 2v–3v und l. I, c. I, 2–5. Dieser Passus ist hier deutlich ausführlicher als in der ersten Disputation des Collegii politici classis prima. Dort fehlen auch die Hinweise auf die genannten Autoren. 103 Besold, Collegii politici classis prima, disp. II, Nr. 14, 7: „Hic nobis pugnandum est contra eos, qui statuunt: SUMMUM PONTIFICEM habere summam in mundo potestatem, etiam in temporalibus, non ratione solum peccati, sed directe temporaliter, non spiritualiter […].“ Unverändert in Besold, Politicorum libri duo, l. I, c. II, Nr. 14, 62. In der Dissertatio politico-iuridica heißt es dagegen
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würden mit vollen Backen behaupten, dass der Papst das himmlische und irdische Oberhaupt sei. Auch die Päpstlichen würden diese bodenlose Unverschämtheit („infamis impudentia“) fortschreiben, indem sie die kirchliche ,potestas‘, die wiederum vom Papst ausgeübt werde, über die säkulare setzten, einschließlich der „äußeren“ Strafgerichtsbarkeit, zu der auch die Verhängung der Todesstrafe gehöre. Besold lehnte eine solche Machtfülle nicht nur aus philosophischer und juristischer Sicht, sondern auch im Blick auf die Botschaft Christi mit klaren Worten ab, da sich die Macht der Kirche nur auf das ewige Leben beziehe, nicht jedoch auf das politische: „Eines ist das Recht zu herrschen, ein anderes das zu lehren.“104 Christus habe nie einen Anspruch auf die weltliche Herrschaft formuliert. In den Politicorum libro duo hat Besold diese Ansicht von einer strikten Trennung beider Sphären auf die knappe Formel gebracht: „Ziel der politischen Macht ist das Wohlergehen des Staates.“105 Damit reduzierte er den Machtbereich der Kirche auf die ,res sacrae‘. Zugleich dehnte Besold im Abschnitt De Ecclesiastico majestatis iure den Handlungsraum der weltlichen Herrschaft so weit aus, dass dieser auch die genannten kirchlichen Dinge umfasste. Diese Zuständigkeit galt zum einen auf direkte Weise für die beiden Tafeln des Dekalogs, da nur so die schlechten Haltungen und Einstellungen, zu denen Besold vor allem Blasphemie, Magie und Atheismus zählte, verhindert bzw. bestraft werden könnten.106 Sie galt zum andern auf indischon weniger scharf: „Dicendum aliquid est, de Pontificis Maximi potestate temporali, & num omnes Christiani Reges eius subditi sint ac Vasalli. Hac sane de re, non solum ii disputant satis invidiose, qui se ab eius potestate spirituali exemerunt: vid. Ioh. Gerhardi, loco de Magistratu […]. Sed e contra, summum Pontificem habere summam in Mundo potestatem […].“ (Ebd., s. I, c. III, Nr. 1, 18) Noch stärker ist der Eingriff in der Synopsis politicae doctrinae von 1637. Nunmehr heißt es gleich aus katholischer Sicht: „Quod autem Maiestas, in suo territorio potestas quaedam existit summa; exinde etiam Catholici plerique concludunt; nec quoque Pontificem Max. talem habere potestatem, a qua dependeat imperium omnium Rerumpublicarum in orbe Christiano. […] Et idcirco eundem Iurisdictionem Caesari, Regive alicui tribuendi aut adimendi, vel Ius aliquod superioritatis in illos exercendi, regulariter haud directe habere potestatem, subsumunt.“ (Ebd., c. I, Nr. 20, 44) Gleich anschließend verwies Besold auf Bellarmin, der diese Machteinschränkung ganz richtig auf jene christlichen Fürsten begrenzt habe, die den Papst als Haupt der Kirche anerkennen würden. 104 Besold, Collegii politici classis prima, disp. II, Nr. 19, 9: „Aliud est Imperandi, aliud docendi jus.“ Unverändert in Besold, Politicorum libri duo, l. I, c. II, Nr. 19, 66. 105 Besold, Politicorum libri duo, l. I, c. II, Nr. 19, 67: „Et cum finis politicae potestatis sit Reipublicae salus […].“ Unter Berufung auf Arnisaeus. Ebenso in Besold, Dissertatio Politico-Iuridica, s. I, c. III, Nr. 4, 22. 106 Vgl. Besold, Collegii politici classis prima, disp. IV, Nr. 2, 1 f. Ausführlicher in Besold, Politicorum libri duo, l. I, c. III, 100 f.: „Caeterum Imperium hocce summum, quamvis tam late pateat, quam late ejusdem cura officiumque sese extendit; ejus tamen vis omnis, duo summa genera habet: quorum unum Politicas, alterum res Ecclesiasticas Civiles. […] Et primum quidem, certum expeditumque esse videatur; Magistratum Civilem custodem esse Decalogi Tabulae utriusque. Vitia nempe morum, etiam contra primam Tabulam commissa; Blasphemiam puta, Magiam, Atheismum, Epicureismum,
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rekte Weise, nämlich in Bezug auf die kirchlichen Güter („bona ecclesiastica“) und Amtsträger, die nicht außerhalb der weltlichen Rechtsordnung stehen. Denn eine Religionsgemeinschaft sei doch keine exterritoriale Organisation mit einem eigenen Rechtssystem und einer Immunität für ihre Angehörigen, sondern sei als Teil des Staates den Rechten und Pflichten des Gemeinwesens und damit dem weltlichen Machthaber unterworfen.107 Besold hielt ohne Einschränkung an dem säkularen Grundsatz fest: „Die Kirche ist im Staat, nicht der Staat in der Kirche.“108 Ja, es wäre ein Missbrauch der Religion, die Urteils- und Handlungsmacht auf die weltlichen Dinge ausweiten zu wollen, was letztlich zur Aufhebung des Staatsgebildes selbst führen würde. Dabei gelte doch, dass Gott die Staaten außerhalb der Kirche selbst eingerichtet habe und sie bis heute bewahre. Besold ging in diesem Zusammenhang sogar so weit, den päpstlichen Anspruch auf die heiligen und weltlichen Dinge als Zeichen des Antichristen zu deuten, der scharf gegen die biblischen Aussagen stehe.109 Damit schloss er sich einer Kernüberzeugung des Protestantismus an. Obgleich Besold, wie gesagt, die Grenzen der politischen Handlungsmacht in kirchlichen Angelegenheiten betonte – so seien die Administration der Kirche, ja die Religion selbst und die Frömmigkeit („pietas“) nach Ansicht der Protestanten nicht der Sorge („cura religionis“) der politischen Amtsträger unterworfen110 –,
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&e. quia prohibet punitque.“ Zu den sog. Atheisten heißt es weiter unten: „Atheistas, hoc est omnium religionum contemptores, directe vindictae magistratus committimus. Quemadmodum enim ex omni genere Reip. morborum, deterius nullum est anarchiâ; ubi nemo imperat, nemo paret: sic etiam nulla pestis Ecclesiae (& Reip. pariter) gravior accidere potest, Numinis carentiâ, quam Graeci Atheismum vocant […], ipsis Ethnicis etiam quae fuit exosa.“ (ebd., 105) Atheisten könnten daher in einem christlichen Staat nicht geduldet werden. Beide Textstellen finden sich auch in Besold, Dissertatio Politico-Iuridica, s. II, c. I, Nr. 4, 96 und Nr. 9, 102 f. Hier werden Pietro Pomponazzi (1462–1525) und Lucilio Vanini (1585–1619), der auf dem Scheiterhaufen endete, als neueste Atheisten genannt. Vgl. Besold, Collegii politici classis prima, disp. IV, Nr. 3, 3 f.: „Ea quippe cum per Religionis consortium non egrediantur mundum; sub seculari proinde Imperio manent.“ Unverändert in Besold, Politicorum libri duo, l. I, c. III, 106. In der Dissertatio Politico-Iuridica, s. II, c. II, Nr. 1, 105 heißt es noch deutlicher: „Bona ecclesiarum & Cleri non transire extra Reipublicae jurisdictionem.“ Zur Position der Protestanten vgl. ebd., 106–108. Besold, Collegii politici classis prima, disp. IV, Nr. 3, 4: „Huc spectat quod dicitur vulgo, Ecclesiam esse in Rep. non Rempubl. in Ecclesia.“ Unverändert in Besold, Politicorum libri duo, l. I, c. III, Nr. 6, 106; Ders., Dissertatio Politico-Iuridica, s. II, c. II, Nr. 1, 105. Vgl. Besold, Collegii politici classis prima, disp. IV, Nr. 5, 5: „Et hinc apparet Primatum in temporalibus & spiritualibus, quem sibi arrogat Pontifex […] veram & genuinam esse notam Antichristi: omni ex parte Salvatori nostro, ejusque Apostolorum functioni cum sit contrarius.“ So auch noch in Besold, Politicorum libri duo, l. I, c. III, Nr. 8, 108; Ders., Dissertatio politico-iuridica, s. II, c. II, Nr. 1, 105. Besold verwies nicht nur auf Joh 7,48 und 18,36 („mein Reich ist nicht von dieser Welt“), sondern auch auf Clemens Timpler und Martin Luthers Schrift über die weltliche Obrigkeit. Vgl. Besold,
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so setzte er nichtsdestotrotz gemäß dem Grundsatz, dass „wir“ alle ein Körper in Christo sind, den Magistrat als ordnende Kraft auch der Kirche ein: Deswegen muss die zivile Regierung, und besonders die höchste, gleichsam als Verteidigerin und Beschützerin der Kirche und der kirchlichen Disziplin das, was sie zusammen mit der Kirche eingerichtet hat, weiter betreiben, so nämlich, dass sie Irrtümer beseitigt, dafür sorgt, dass die Religion in der gereinigten Kirche gemäß der Schrift gedeiht, und dass sie die gebührende Ordnung einrichtet.111
Besold nahm hier erneut eine originär lutherische Position ein, die er noch dadurch verstärkte, dass er nachfolgend auf Philipp Melanchthon verwies, der das Ordnen nicht im Sinne von „herrschen“ oder „lenken“, sondern im Sinne von „mitwirkend unterstützen“ verstanden habe. Besold wehrte sich in diesem Zusammenhang gegen die beiden möglichen Extreme des Verhältnisses von Staat und Kirche: Das eine Extrem sei, alles der Kirche, das andere, alles dem Staat zu überantworten. Jenes Extrem sah er vor allem im Katholizismus verwirklicht. Dort würde die Obrigkeit auf Wink des Bischofs oder des Papstes verpflichtet, die Untergebenen zum Glauben zu zwingen und den Zaudernden mit Waffengewalt zu drohen. Besold nannte dies die jesuitische Methode: Obgleich die Obrigkeit die weltlichen Waffen trage, der Papst dagegen nur die geistlichen, würde er sie dazu zwingen, mit „blindem Gehorsam“ die Urteile der heiligen Inquisition zu vollstrecken.112 Diese Haltung habe sogar einigen Reformatoren (wie Calvin und Beza) gefallen, „die jedes Urteil über die Religion den Politikern verwehren, stattdessen danach streben, es sich selbst zuzuschreiben“.113 Politicorum libri duo, l. I, c. III, Nr. 16, 114; ders., Dissertatio politico-iuridica, s. II, c. III, Nr. 1, 113. 111 Vgl. Besold, Collegii politici classis prima, disp. IV, Nr. 14, 10: „Magistratus ideo Civilis, & praesertim Summus, tanquam defensor & protector Ecclesiae, Ecclesiasticaeque disciplinae, id quod una cum Ecclesia constituit, exequi: errores tollere, puraque in Ecclesia, secundum scripturam ut vigeat Religio curare; & ordinem debitum instituere debet.“ Unverändert in Besold, Politicorum libri duo, l. I, c. III, Nr. 17, 115; Ders, Dissertatio politico-iuridica, s. II, c. III, Nr. 2, 114. 112 Vgl. Besold, Collegii politici classis prima, disp. IV, Nr. 15, 10 f.: „Fatentur omnes boni, servitutem exitialem esse, ad nutum si Episcopi vel Pontificis […] Imperantes credere, Subditos ad credendum cogere, & in cunctantes gladium stringere teneantur […]. Ex hac enim Jesuitica traditione, Principes & Magistratus Seculares, non nisi Pontificium Carnifices sunt Spirituales: qui utpote in eos, quos sanctum Synedrium Inquisitionis reos judicat, animadvertere, rerumque a Clericis judicatarum vigorem, in Spiritualibus ac Ecclesiasticis negotiis, caeca obedientia ad effectum deducere cogerentur.“ In einer späteren Überarbeitung beginnt der erste Satz mit „Praetendunt Reformati […]“ (Besold, Dissertatio Politico-Iuridica, s. II, c. III, Nr. 3, 115). 113 Vgl. Besold, Politicorum libri duo, l. I, c. III, 116: „Id tamen fere placet Reformatis quibusdam; qui omne judicium de religione Politicis adimunt, sibique solis transcribere nituntur.“ Unverändert in Besold, Dissertatio politico-iuridica, s. II, c. III, Nr. 3, 115.
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Gegen solche Ansichten habe sich jedoch zu Recht Hugo Grotius (1583–1645) gewandt. Umgekehrt sei es jedoch auch falsch, j e d e Entscheidung über kirchliche Fragen der Obrigkeit zu überlassen, wie dies der reformierte Theologe David Pareus (1548–1622) vorgeschlagen habe. Hiergegen hätten sich Lutheraner wie Johannes Brenz (1499–1570) und Martin Chemnitz (1522–1586) gewandt. Letzterer habe zu Recht betont, dass der fromme Magistrat nicht die Kirche, sondern nur ein Teil derselben sei, so dass er nicht allein entscheide, sondern mit allen Mitgliedern der Kirche zusammen.114 Nachfolgend diskutierte Besold die zentrale Frage, wie sich die Obrigkeit gegenüber Ketzern zu verhalten habe.115 Damit stoßen wir zum Kern der vorliegenden Studie vor. Besold sprach sich letztlich gegen jede Art von Glaubenszwang aus, und es verwundert nach dem bisher Gesagten nicht, dass er vollständig der Position der Lutheraner folgte. Er wusste nur gut, dass in dieser Frage große konfessionelle Differenzen bestanden. Bereits in seinem Collegium politicum benannte er seine lutherische Haltung klar und deutlich, und hieran hielt er bis zur Dissertatio politicoiuridica fest. Er formulierte an dieser Stelle einige sehr programmatische Aussagen, die den Abstand zu seiner Position na ch der Konversion besonders deutlich machen (vgl. hierzu Kap. 7). Die Distanzierung, wenn nicht gar der Widerruf seiner früheren Ansichten fällt damit desto greller in die Augen. Einleitend hielt Besold eine fundamentale religiöse Einsicht fest: Wer ein Häretiker sei oder dafür gehalten werde, könne jederzeit, wann immer es Gott gefalle, von der wahren Ansicht überzeugt werden. Also sei es richtig, dass der Magistrat sich an dieser Stelle einer Vorgabe enthalte.116 Nicht minder wichtig ist Besolds
114 Vgl. Besold, Collegii politici classis prima, disp. IV, Nr. 16, 12: „Pius enim magistratus non est tota ecclesia, sed tantum membrum ejus.“ Besold benannte anschließend einige Gründe zur Stützung dieser seiner Ansicht. So heißt es aus juristischer Sicht: Wenn der Obrigkeit das Urteil und die Entscheidungsbefugnis über die ‚res sacrae‘ zukäme, dann wäre eine Abweichung von der wahren Religion nicht länger eine Häresie oder ein Schisma, sondern vielmehr ein Verbrechen gegen die Majestät. Vor allem gelte jedoch, dass Jesus Christus nicht auf eine weltliche Herrschaft abgezielt habe, sondern nur sein geistliches Reich habe einführen wollen. So komme also das Berufungsrecht der Geistlichen der Kirche insgesamt zu. Diese Argumentation findet sich unverändert in Besold, Dissertatio Politico-Iuridica, s. II, c. III, Nr. 4, 116 f. 115 Auch hier betonte Besold, dass es Aufgabe aller sei, vor allem aber des Magistrats, allen Zerwürfnissen in der Religion vorzubeugen bzw. diese abzuwehren. Vgl. Besold, Collegii politici classis prima, disp. IV, Nr. 21, 17. 116 Vgl. Besold, Collegii politici classis prima, disp. IV, Nr. 23, 19: „Et qui Haereticus est, vel pro tali habetur, se Deo placere, semper sibi persuasum habet. Ergo juste Magistratus jussionem se spernere putat.“ Nachfolgend merkte Besold kritisch im Blick auf den Religionsfrieden von 1555 an: „Qua ratione moti, non eam iniquitatem Religiosae Pacificationis in Romano-Germanico Imperio affingere quimus [!]; ut cum quibusdam, subditos pacifice viventes, ad hanc vel illam Religionem amplectendam, vel ad emigrandum, vigore illius cogi posse, dicere audeamus.“ (Ebd., Nr. 24, 19) Die Untergebenen standen letztlich vor der Wahl, entweder die Religion des Herrschers
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Hinweis, dass klügere Politiker, die die Verschiedenheit der Religionen tolerierten, sie damit nicht automatisch alle zugleich billigen würden. Vielmehr würden sie erkennen, dass sie das Böse, gegen das Christus Heilmittel vorgeschrieben habe, nicht vertreiben könnten.117 Besold war sich ferner dessen bewusst, dass man in Beantwortung der Frage, ob in einem Staat verschiedene Religionen und unterschiedliche Ansichten über den göttlichen Kult zu tolerieren seien, zwischen Skylla und Charybdis navigieren müsse.118 Zum einen ermahnte er, „sich nicht zu sehr der rechten Seite zuzuneigen und zu glauben, dass alle, von einem reinen Gemüt abstammenden Religionen, die die Absicht und den Drang haben, Gott zu ehren, ihm gleich willkommen sind“.119 Diese Position rechnete Besold den Libertinen zu. Hiergegen setzte er seine Ansicht, dass die e ine wahre Religion soweit wie möglich im Staat zu befördern und gegen die Oppressionen der Feinde und Häretiker zu verteidigen sei. Doch genau an diesem Punkt gelte es das zweite Extrem zu vermeiden, und es ist mehr als bezeichnend, wen Besold an dieser Stelle benannte. Es heißt: Da aber die Anhänger des Papstes einträchtig und mit großer Übereinstimmung behaupten, dass man Häretiker hinrichten lassen müsse, so dass sie dies beinahe für einen Glaubensartikel halten, so sage ich, dass dieses […] Lügen eines sehr bösen Geistes sind; und wir werden die Ansicht verteidigen, dass sie weder mit dem natürlichen noch mit unserem juristischen Verständnis überstimmen.120
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anzunehmen oder zu emigrieren. Eine echte Religionsfreiheit war also noch nicht gegeben. Vgl. hierzu Schneider, Ius reformandi, insbes. 152–156. Vgl. Besold, Collegii politici classis prima, disp. IV, Nr. 25, 20: „Quin & prudentioribus placuit Politicis interea dum haereseos malum, iis quae Christus praescripsit remediis, mutari nequit; tolerandam esse Religionum varietatem, non approbandam.“ Das spielt m. E. auf das Unkrautgleichnis Mt 13,24-30 an. Besold, Politicorum libri duo, l. II, c. I, Nr. 36, 567: „Sane hic, Lupum quod ajunt, auribus tenemus, & inter Scyllam navigamus atque Charybdin.“ Besold, Politicorum libri duo, l. II, c. I, Nr. 36, 567 f.: „Primo hoc moneo; non ad partem dextram nimis deflectendum credendumque esse; omnes Religiones a pura mente profectas, intentionemque & conatum colendi Deum habentes, ei gratas esse […]“ Besold, Politicorum libri duo, l. II, c. I, Nr. 37, 568: „At quod Pontificum Sectatores, Haereticos supplicio afficiunt extremo; unanimi, tantoque consensu, ut pro articulo Fidei istud habeatur. […] Haec, inquam, & si quae similia sunt Cacodaemonis commenta; Naturali, & Juri etiam nostro scripto, haud consona esse tuebimur.“ Besold verwies nachfolgend auf die grausame Praxis der Inquisition. Auf dieser Seite verortete er übrigens auch einige reformierte Theologen aus Genf und Bern – man darf hier an Calvin und Beza denken –, denen er Sebastian Castellio als leuchtendes Beispiel gegenüberstellte (vgl. ebd., 569).
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Bereits hier, in den Politicorum libri duo, verwies Besold auf das ,jus gentium‘, das angesichts der Gewissensfreiheit eine Hinrichtung von Häretikern verbiete.121 In Tyrannen wie Nero sah er die Figur des Antichristen vorgebildet. Eine Hinrichtung verbot sich für Besold jedoch noch aus einem weiteren Grund: Die Häretiker, die verfolgt werden, sind immer Christen. Ja, die Verfolgung sei ein Attribut der christlichen Kirche, so dass extreme Vorsicht geboten sei. Aus alledem lässt sich erkennen, dass für Besold weder ein Gewissenszwang noch gar eine Gewaltanwendung in Glaubensfragen in Frage kam. Auch wenn jeder Christ und der Magistrat zusammen mit der Kirche danach streben sollte, jede Zwietracht, gar Spaltung der Religion zu verhindern, so könne dieses Ziel doch nur mit jenen Mitteln erreicht werden, die Christus selbst mit seinen Jüngern gezeigt und die die frühe Kirche allein benutzt habe. Je weiter sich nämlich die Christen von ihren Ursprüngen entfernten, desto schneller irrten sie sich. Christus zeige trotz seiner Allmacht, dass er mit der Inkarnation, der Erniedrigung ins Fleisch, mit der Schmach der Kreuzigung seine Herrschaft auf eine Weise in die Welt eingeführt habe, die schlechthin gewaltfrei sei. Seine Waffen seien nicht fleischlich, zum Herrschen oder Töten der Ungläubigen angefertigt, sondern geistlich, zum Dienen der Gläubigen eingerichtet. Besold übernahm bei seiner Betonung der Friedfertigkeit der Religion sogar das bemerkenswerte Zitat seines Tübinger Kollegen an der juristischen Fakultät, Thomas Lansius (1577–1657), das seine ganze in Christo grundgelegte lutherisch-humanistische Überzeugung zum Ausdruck bringt: „Eine Vielheit der Religionen ist besser als eine Folter der Gewissen.“122 Besold bewies
121 Vgl. Besold, Politicorum libri duo, l. II, c. I, 569: „An autem libertas conscientiarum, per se sit concedenda; an vero tantum ad majus malum evitandum? disputatio est maxumi momenti. […] Sed ut ut sit, hanc non ego mihi despondeo litem. Illud expeditum videtur: (1) Contra Jus Gentium esse, ut Haeretici occidantur, & fuit Antiochus primus, qui hoc fecit.“ Unter Hinweis auf Meisner, De legibus, l. IV, s. I, qu. XIX, 348. Meisner bestätigte hier seine Ansicht aus der Philosophia sobria (vgl. oben Anm. 5) und setzte sich nachfolgend ausführlich mit den Argumenten der Katholiken und Calvinisten auseinander. In diesem Zusammenhang kritisierte er auch Lipsius für seine (katholische) Ansicht, mit Zwang eine Einheit der Religion herbeiführen zu wollen und jene zu bestrafen, die öffentlich mit ihren Ansichten einen Aufruhr erregen. In der Tat verwendete Lipsius die medizinischen Vokabeln im Imperativ „ure & seca“ als legitimes Mittel der Bestrafung von Irrenden, die öffentlich ihre falschen Ansichten vertreten würden. Unklar bleibt bei dieser Argumentation ferner, wer denn definiert, wann eine Abweichung von der Lehre der e ine n Religion vorliegt. Vgl. Lipsius, Politicorum libri sex, l. IV, c. III, Nr. 1, 259 und Nr. 7, 263 f. Zu dessen Toleranzlehre vgl. Oestreich, Antiker Geist, 128–130. Oestreich stellte bei Lipsius erstaunlicherweise eine „vermittelnde Tendenz“ (ebd., 130) auch in der Religionsfrage fest. Zu Meisners innovativer Naturrechtslehre vgl. Scattola, Naturrecht, 87–90. 122 Besold: Dissertatio politico-iuridica, s. II, c. VI, 129: „Melior est religionum multitudo, quam carnificina conscientiarum: illa habet superstitiosos, haec atheos.“ Das Zitat stammt aus Lansius, Consultatio de principatu inter provincias Europae, 731. Ähnlich wie Besold, so wünschte sich auch Lansius, dass es nur eine Religion in einem Land, überhaupt nur die e ine Herde Christi gäbe.
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Toleranz auf der Kippe
nicht nur mit diesem Zitat ein feines psychologisches Gespür für die Folgen religiöser Verfolgung, die den Abfall vom Glauben nach sich ziehen könnten. Die Gewissensfreiheit ist damit d as Prinzip der wahren christlichen Religion. Als Ergebnis bleibt für Besold festzuhalten: Da also 1. zum Glauben zu zwingen, dem Magistrat unmöglich ist, 2. die Religion in einer Billigung und Zustimmung dessen besteht, was den Gotteskult auszeichnet, 3. die Billigung aus dem Glauben und der Überzeugung kommt, und 4. die Menschen nicht mit Waffen und Drohungen überzeugt werden können, bleibt nur der Weg, die Gläubigen durch Lehre und Ermahnung, mittels Argumenten und Zeugnissen zur Zustimmung des rechten Glaubens zu bewegen. „Kein König, kein Oberhaupt kann bewirken, dass wir etwas gegen unsere Willen unternehmen.“123 Diese Position kennzeichnet nicht nur nach Besolds eigenem Selbstverständnis, sondern auch nach dem fast aller Lutheraner die größtmögliche Ferne zu jener der Katholiken. Sie gilt sogar für seinen lutherischen „Erzfeind“ Thumm, wie ich nun zeigen möchte.
Er verschwieg nicht, wo er die Probleme sah: Wann nämlich wird jener Tag sein, an dem die Doktoren und Schreiber in den theologischen Fakultäten, die in der Religion beinahe die höchste Macht besitzen, von diesem frommen Gedanken der Einheit ergriffen sein werden? Doch auch auf Seiten der Juristen gäbe es Rabulisten und Maulhelden, die alles auseinanderdividieren würden. Was Lansius forderte, war eine Freiheit des Denkens, die nicht gleich wieder aus juristischen oder theologischen Gründen eingezäunt werde. Eine ‚dictatura Religionis‘ sei auf jeden Fall zu vermeiden. In diesem Zusammenhang erfolgt die von Besold aufgenommene Aussage zur Vielfalt der Religionen, die zu dulden sei. 123 Besold: Politicorum libri duo, l. II, c. I, 570 f.: „Ad fidem cogere, magistratui impossibile; & graviora quo inrogabis supplicia, eo minus proficies: cum Religio in iis approbandis sit sit, quae ad Dei cultum pertinent; approbatio vero ex fide & persuasione oritur. At persuadere homines armis & minis nequeunt; sed docendo, monendo, argumentis & testimoniis, quae paulatim ad assentiendum illiciunt. Haec est hominum insita natura, ut ad aliquod assentiendum, sponte duci velit non cogi. Quis imponat mihi necessitatem vel credendi quod nolim, vel quod velim non credendi. Nullus Rex, nullus princeps potest efficere, ut quicquam agamus, animi praeter sententiam.“ Besold verwies einmal mehr auf die bemerkenswerte Aussage des frühen „göttlichen Luther“ aus seiner Postille von 1521 zu Lk 17,11–19, wonach nicht jene das Volk Gottes bilden, die den „Namen/ Schein unnd Ehr davon haben: sondern die vor Kätzer/ Abtrinnige/ unnd die deß Teuffels eigen gehalten werden“. (Ebd., 571) Vgl. mit WA 8, 340–397 (Evangelium von den tzehen auszsetzigen vordeutscht und auszgelegtt, 1521), hier: 383, Z. 5–8. In der Dissertatio politico-iuridica zitierte Besold in diesem Zusammenhang ausführlich aus Caspar Schwenckfelds Epistolar wider die Papisten, wo es u. a. heißt: „Doch soll kein Oberer seine Unterthanen weder zu seinem Gottesdienst/ noch Christlichen Glauben mit gewalt zwingen/ oder mit dem Schwerdt unnd Blutvergiessen denselben fürdern/ auch die/ so nicht seines Glaubens/ weder vertreiben noch tödten/ wie im Papsthumb beschicht: dann solches dem sanfftmüthigen unnd freywilligen Geist Christi entgegen und zuwider ist.“ (ebd., s. II, c. VI, 129 f.) Vgl. mit Schwenckfeld, Epistolar, 463.
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6.
Theodor Thumm: Gegen jeglichen Glaubenszwang
Der vollständige Titel von Thumms Tractatus theologicus, de haereticis non occidendis, sed coerecendis von 1621 mit dem Untertitel Erroribus Pontificorum ac Calvinianorum oppositus verdeutlicht die konfessionell-polemische Stoßrichtung der Schrift. Thumm lehnte die verbreitete Ansicht führender Katholiken und Reformierten, wonach Häretiker124 mit dem Schwert zu bestrafen seien, rundweg ab. Es ist bemerkenswert, dass er diese Haltung nicht nur seiner eigenen Konfession, dem Luthertum, zurechnete, sondern auch den Anabaptisten und Anti-Trinitariern.125 Er begründete diese Haltung mit dem folgenden Syllogismus: Welches Verfahren („modus procedendi“) 1. von Christus nicht vorgeschrieben sei, jedoch 2. der Lehre und Praxis der Apostel, 3. der Bestimmung des Neuen Testaments, 4. der gesunden Vernunft und 5. der hochzuachtenden, orthodoxen alten Kirche widerspreche, das sei auf keine Weise legitim. Da all dies auf die zu verhandelnde Frage zutreffe, sei die Hinrichtung von Häretikern verboten. Es fällt auf, dass Thumm nicht nur religiöse Gründe benannte, sondern auch die gesunde Vernunft aus dem philosophisch-ethischen Bereich ins Feld führte. Zum einen gilt ganz praktisch: Was den Menschen von der Möglichkeit einer Konversion und des beginnenden Heilsvollzuges ausschließt, das kann von den Christen nicht toleriert werden. Die Todesstrafe verhindert jedoch endgültig den Weg zu einer möglichen Konversion. Ergo. Zum andern verwies Thumm auf die schlechthin fundamentale Überzeugung, dass jede Ansicht, die das Gewissen des Menschen
124 Thumm grenzte die Verwendung des Begriffs ‚haereticus‘ auf jene Personen ein, die sich i nne rha lb der christlichen Kirche befinden; Juden und Türken sind daher nicht als solche zu bezeichnen. Thumm lehnte es auch ab, jene Christen Häretiker zu nennen, die „quoque modo circa fidem errant“ (Thumm, Tractatus theologicus, 5), denn ein Irrtum sei angesichts der christlichen Mysterien, die nur schwer zu verstehen seien, jederzeit entschuldbar. Auch gegenüber den Schwachen im Glauben müsse Nachsicht walten, da diese entweder bereits so aufgewachsen oder von Gelehrten getäuscht worden seien. Für Thumm ist ein Häretiker vielmehr jemand, der „1. in Ecclesiae gremio constitutus, 2. errat in causa Religionis, & quidem errorem fundamentum fidei vel directe vel indirecte petentem, eundem 3. malitiose, 4. cum periculoso Ecclesiae scandalo, 5. pertinenter contra fideles admonitiones defendit.“ (ebd., 6) Der böse Vorsatz – nicht die bloße Abweichung – sowie die Absicht, einen Aufruhr herbeizuführen, sind also die beiden entscheidenden Kriterien, um von Häresie sprechen zu können. 125 Thumms Ausgangsfrage lautet, ob ein Häretiker gemäß der Ansicht des Neuen Testaments durch die Obrigkeit mit der Todesstrafe zu verfolgen sei. Damit wird bereits der Rückgriff auf das Alte Testament ausgeschlossen, das aufgrund des Neuen Bundes in dieser Frage seine Gültigkeit verloren hat. Thumm wies anhand verschiedener Zitate nach, dass sowohl die Katholiken als auch die Calvinisten diese Frage bejaht haben. Dagegen gilt: „Negativa (citra vel Anabaptismum vel Arianismum) nostra erit, qua suis monita rationibus, fundamenta Affirmativae breviter discutiemus.“ (Thumm, Tractatus theologicus, 9) Zur Haltung der Sozinianer in der Toleranzfrage vgl. Salatowsky, Gefahr des Atheismus.
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Toleranz auf der Kippe
einer fremden Herrschaft unterwirft, gottlos („impius sententia“) sei. Allein Gott stehe es frei, über die Gewissen der Menschen zu herrschen.126 Thumm hatte keine Mühe, für diese Überzeugung bedeutende Zeugen von Laktanz (um 250–um 320) über Tertullian (nach 150–nach 220) und Ambrosius (339–397) bis hin zu Erasmus von Rotterdam (ca. 1469–1536) zu benennen. Der Glaube sei eine freie Entscheidung, die nicht erzwungen werden könne. Mit einem ganzen Arsenal von Zitaten ausgerechnet aus den Schriften des Augustinus (354–430) belegte Thumm, dass der Wille frei sei, dieses oder jenes zu glauben, frei, auch nicht zu glauben. So heißt es an einer Stelle bei Augustinus: „Zum Glauben kann niemand gezwungen werden, sondern durch Strenge, vielmehr durch die Barmherzigkeit Gottes pflegt die Niedertracht bestraft zu werden.“127 Selbst die berühmte Textstelle des Compelle intrarare aus Lk 14,23, die Augustinus128 in seiner späten Unerbittlichkeit als Bestätigung von Kapitalverbrechen für Häretiker verstanden wissen wollte und wogegen sich Pierre Bayle (1647–1706) 1686 in seinem Commentaire philosophique129 so leidenschaftlich wenden sollte, wird von Thumm politisch klug aufgelöst: Der Zwang sei entweder politisch zu verstehen, nämlich als Waffe der Obrigkeit, oder kirchlich, als Diener des Worts („ministri verbi“), von dem hier allein die Rede sei, und dieser Zwang sei geistlich, nicht körperlich.130 Thumm verwies in diesem Zusammenhang nicht nur auf Christus, dem jede Gewaltanwendung fremd gewesen sei, sondern benannte wie Meisner die Sanftheit der neutestamentlichen Kirche („mansuetudo ecclesiae Novi Testamenti“) als Charakteristikum einer friedliebenden Gemeinschaft. Gegen Bellarmin, der die Häretiker mit Wölfen verglich, vor deren man die Kirche schützen müsse, betonte Thumm, dass dies auch ohne Kapitalstrafe möglich sei, nämlich durch Exkommunikation der Häretiker, durch finanzielle Bestrafungen, Verlust der Güter oder schließlich durch Verbannung.131 Thumm hielt also an dem gut lutherischen Prinzip einer Trennung von Obrigkeit und Kirche fest, das eine Inanspruchnahme jener für eine körperliche Bestrafung von Häretikern in kirchlichen Fragen von vornherein ausschloss.
126 Vgl. Thumm: Tractatus theologicus, 22–25. 127 Augustinus, Contra litteras Petiliani libri tres, l. II, c. LXXXIII, Nr. 184, 315: „Ad fidem nullus est cogendus invitus, sed per severitatem, imo et per Dei misericordiam, tribulationem flagelli solet perfidia castigari.“ Zitiert von Thumm, Tractatus theologicus, 71. 128 Vgl. zur Position des Augustins die differenzierte Darstellung bei Thumm, Tractatus, 63–73. 129 Vgl. Bayle, Philosophischer Kommentar. 130 Vgl. Thumm: Tractatus, 24 f.: „Regerunt [sc. nonnulli Catholici], Christum ipsum Luc. 14 dicere: Compelle intrare. At inde pro capitalibus supplicijs haereticis irrogandi, inferri nil potest. Nam duplex est compulsio, alia politica, quae sit gladio Magistratus, quae hinc nullo modo probari potest: alia Ecclesiastica, quae fit per Ministros verbi, per exaggerationem minarum legalium &c.“ 131 Vgl. Thumm, Tractatus, 26.
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Die Kritik der Katholiken, die Lutheraner würden der Obrigkeit in den ,res sacrae‘ zu viel Macht zugestehen, prallte an der von diesen ganz bewusst errichteten christlichen „Mauer“ der Nächstenliebe ab, die der Katholizismus selbst zu bauen nicht willens war. Thumm und der frühe bis mittlere Besold, so darf man annehmen, waren sich in dieser Frage als Glaubensbrüder vollkommen einig. Dies erklärt auch, warum der späte Besold nach seiner Konversion zum Katholizismus keine andere Möglichkeit sah, als seine früheren Ansichten zu relativieren bzw. ganz zu widerrufen.132 Diese Wendung bleibt nun aufzuzeigen.
7.
Der späte Besold: Toleranz auf der Kippe, 1628–1637
Besolds Synopsis politicae doctrinae in der Auflage von 1628 bietet wohl das erste, nach außen hin sichtbare Anzeichen für seinen anstehenden Konfessionswechsel. Dies zeigt sich nicht so sehr an textlichen Veränderungen, sondern vor allem daran, dass Besold nun die konfessionellen Gegensätze zwischen den Lutheranern und Katholiken vor allem in der Toleranzfrage deutlich markierte, die er dann in der Auflage der Synopsis von 1637 durch Zitate und Verweise explizit machen sollte. Die naheliegende Erklärung hierfür lautet, dass Besold spätestens zu dieser Zeit die katholische Position als seine zukünftige fest im Blick hatte und die katholische Seite nicht mit weiteren direkten Angriffen oder Verunglimpfungen verprellen wollte. Es lässt sich also sagen, dass Besold 1628 in dieser Frage eine neutrale Haltung zwischen den beiden Konfessionen einzunehmen versuchte, die er dann 1637 eindeutig zu Gunsten der Katholiken aufgeben sollte. Diese Phase des Übergangs lässt sich an einer sehr charakteristischen Ergänzung des Textes der Synopsis von 1628 ablesen. Dort findet sich gegenüber der Auflage von 1623133 im Zusammenhang mit der
132 Dass dieser Wandel der Ansichten stärker auf der strukturellen als auf der inhaltlichen Ebene sichtbar wird, betont Becker in seiner Studie zum Kriegsrecht im frühneuzeitlichen Protestantismus. Grundsätzlich lasse sich bei Besold zwar eine „lutherische Prägung“ (Kriegsrecht, 161) feststellen, jedoch habe der Konfessionswechsel auf der Eben der Rechtsnormen „nur schwer erkennbare Spuren hinterlassen (ebd., 165). Am deutlichsten zeige sich der konfessionelle Wandel, wenn man die in den Passagen zur Kriegsrecht zitierten theologischen Autoren unter einem konfessionellen Gesichtspunkt miteinander vergleiche. Dann erkenne man nämlich einen „Wandel im Zitierverhalten“ (ebd., 164): „1620 [sc. in den Politicorum libri duo] greift der Tübinger Jurist besonders auf protestantische Autoren zurück. […] Dies verändert sich trotz der generell spärlichen Verweise in den späten Auflagen der Synopsis politicae doctrinae erheblich. In den relevanten Abschnitten zum Kriegs- und Bündnisrecht werden keine protestantischen Theologen zitiert. Demgegenüber sticht die Zunahme an Verweisen auf römisch-katholische Gelehrte ins Auge.“ (Ebd., 164 f.) Dieser Einschätzung ist vollkommen zuzustimmen. 133 Vgl. Besold, Synopsis (1623), l. I, c. III, 10.
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Toleranz auf der Kippe
Frage nach der Macht der weltlichen Obrigkeit der folgende neue Passus, der in voller Länge zitiert zu werden verdient: Was aber die kirchlichen Dinge anbelangt, inwieweit sie zur politischen Herrschaft gehören, so ist dies eine ebenso zweischneidige wie auch gefährliche Frage, da die Katholiken in dieser Sache nicht nur eine insbesondere von den Protestanten abweichende Meinung vertreten, sondern nicht einmal untereinander vollkommen übereinstimmen: Eines lehren hierüber die Theologen der Sorbonne und Venedigs, ein anderes wieder andere. Genauso wie sich auch diejenigen, die sich von der Römischen Kirche abgespalten haben, in diesem Punkt wechselseitig auf vielfältige Weise widersprechen (worüber am besten die Streitigkeiten zwischen den Puritanern und der Anglikanischen Kirche belehrt), und an vielen Orten in den Schriften das eine gelehrt, das andere aber praktiziert wird. Ich möchte hier frei von Vorurteilen mehr als Berichterstatter denn als Entscheider agieren.134
An diesem Zitat fällt zunächst auf, dass Besold, der doch ansonsten nicht davor zurückschreckte, Position zu beziehen, die Toleranzfrage plötzlich als eine gefährliche markierte. Gewiss, in den Politicorum libri duo sprach er bereits davon, dass man bei der Frage, ob in einem Staat verschiedene Religionen und unterschiedliche Ansichten über den göttlichen Kult zu tolerieren seien, zwischen Skylla und Charybdis navigieren müsse.135 Doch dort benannte er klar die beiden Extreme – auf der einen Seite eine libertäre Indifferenz, auf der andern eine katholische Intoleranz –, zwischen denen man hindurch seinen „mittleren“ Weg der bewussten Tolerierung Andersgläubiger finden müsse. Hier jedoch, in der Synopsis doctrinae politicae von 1628, verortete Besold die Frage zwischen den beiden Positionen des Katholizismus und Protestantismus, und nun offenbarte sich das Dilemma für ihn: Er konnte und wollte zu d i es e m Zeitpunkt für keine der beiden Seiten Position beziehen. Es scheint, als ob er seine eigene Überzeugung bewusst geheim halten wollte, um so jede eindeutige konfessionelle Zuordnung zu vermeiden. Deswegen zog er sich im Jahr 1628 auf die Funktion eines neutralen Beobachters zurück, da er seine eigene Toleranzhaltung gerade überdachte, überdenken musste. Na ch d e m die Konversion jedoch vollzogen war, verlor der letzte Satz des Zitats seine
134 Besold, Synopsis (1628), l. I, c. II, Nr. 2, 23: „Et vero, Ecclesiasticas quod attinet res; quatenus eae pertineant ad Politicam Majestatem, anceps ac etiam periculosa quaestio est: cum ea de re, non solum Catholici a Protestantibus dissentiant imprimis; sed nec ipsi Catholici inter se conveniunt plane: aliudque Sorbonici & Veneti Theologi, aliud alij hac de re tradunt. Pariter, ut quoque ij, qui a Romana Ecclesia secessionem fecerunt, sibi invicem hac in parte varie contradicunt (ut in primis edocent Puritanorum & Anglicae Ecclesiae lites) multisque in locis, aliud in scriptis traditur, aliud in usu habetur. Mihi: hic sine praejudicio cujusvis, relatorem magis, quam decisorem agere placet“ 135 Vgl. Anm. 117.
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Bedeutung, so dass Besold ihn in der Auflage der Synopsis von 1637 kurzerhand strich.136 Doch damit nicht genug. Ein Vergleich der verschiedenen Auflagen der Synopsis belegt, wie Besolds Äußerungen im Zusammenhang mit der Toleranzfrage immer uneindeutiger werden, so dass seine eigene Haltung kaum noch ersichtlich wird. So heißt es in der Synopsis von 1623 noch ganz unverblümt: Ebenso kann die höchste christliche Obrigkeit zusammen mit der Kirche die Wahrheit der Religion schützen, den Häresien und Unstimmigkeiten vorbeugen und sie beseitigen. Aber hier darf man nur diejenigen Mittel anwenden, die unser Erlöser seinen Aposteln gezeigt und derer sich die erste Kirche bedient hat.137
Und gleich anschließend betonte Besold ganz feierlich in der ersten Person Plural die Haltung der lutherischen Kirche: „Wenn es um die Erneuerung oder Bewahrung der Religion geht, lehnen wir mit Recht Gewalt und Herrschaft in Gewissensfragen ab.“138 Solange das Übel der Häresie mit den von Christus aufgezeigten Heilmitteln nicht gewandelt werden könne, müsse eine Verschiedenheit der Religionen und ein unterschiedlicher Gottesdienst toleriert werden. Diese Haltung stimmt vollkommen mit dem überein, was man in Besolds weiteren politisch-juristischen Schriften aus der Mitte der zwanziger Jahre, wie oben gezeigt wurde (vgl. Kap. 5), lesen kann. In der Überarbeitung der Synopsis von 1628 bekommt diese Haltung allerdings erste Risse. Denn nun spricht Besold nicht mehr in der ersten Person Plural als Zeichen einer eindeutigen Identifikation, sondern schreibt die eben genannte Position unbestimmt „vielen Protestanten“ zu.139 Deswegen, so Besold weiter, könne man Häretiker, sofern sie nicht zugleich politische Aufrührer seien, kaum mit dem Tod oder einer anderen körperlichen Züchtigung (mit Ausnahme des Exils) bestrafen. Könnte man diesen Passus noch im Sinne einer Aufrechterhaltung von Besolds früherer Toleranzhaltung lesen, so öffnete er mit dem nachfolgenden Hinweis auf Becanus doch die ,Büchse der Pandora‘, die nachfolgend zu einer Revision der ehemaligen Haltung führen sollte. Denn Besold wollte die von Becanus (vermeintlich)
136 Vgl. Besold, Synopsis (1637), l. I, c. II, Nr. 5, 56 (richtig: 57). 137 Besold, Synopsis (1623), l. I, c. III, Nr. 11, 11: „Sic etiam Magistratus Christianus summus, una cum Ecclesia, Religionis tueri veritatem, haereses & dissensiones praecavere, atque tollere potest: sed tamen hic media alia caveat adhibere, quam quae suis Apostolis praemonstravit Salvator noster, ac quae Primitiva Ecclesia usurpavit.“ So auch in ders., Synopsis (1628), l. I, c. II, Nr. 21, 27 f. 138 Besold, Synopsis (1623), l. I, c. III, Nr. 13, 12: „Merito autem, tam in reformanda quam in conservanda Religione, violentiam & Imperium in conscientias, detestamur.“ 139 Besold, Synopsis (1628), l. I, c. II, Nr. 23, 28: „Non praeter rationem autem, tam in reformanda quam in conservanda Religione, violentiam & imperium in conscientias detestantur plerique Protestantes.“
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getroffene Unterscheidung, dass man jeweils anders mit trügerischen Halsstarrigen, mit eifernden Zeloten und mit zweifelnden Häretikern verfahren müsse, nicht verwerfen.140 Freilich stellt sich sogleich die Frage, wer denn die Grenzen zwischen diesen Personengruppen ziehen soll? – Doch wohl im Zweifel die katholische Kirche, die die Obrigkeit als Erfüllungsgehilfen in Anspruch nimmt. Wo bleibt jedoch dann die Gewissensfreiheit? Diese Indifferenz in der Toleranzfrage findet sich bei Besold noch ausgeprägter in seinen letzten Äußerungen zu dieser Sache, in der Synopsis doctrinae politicae von 1637, auf die noch abschließend einzugehen ist. Dort gibt nicht nur die katholische Haltung den Ausschlag, sondern es hält auch die katholische Propaganda den vollen Einzug. Der entscheidende Passus beginnt wie in der Synopsis von 1623 und 1628 mit der wichtigen Aussage, dass die Obrigkeit nach dem Urteil der Kirche das Recht habe, die Wahrheit zu schützen, Häresien und Unstimmigkeiten vorzubeugen und sie zu beseitigen. Dabei dürften jedoch nur jene Mittel zur Anwendung kommen, die „unser“ Erlöser seinen Aposteln gezeigt und derer sich die erste Kirche bedient habe.141 Aus diesem Abschnitt wird aber überhaupt nicht klar, ob das noch Besolds eigene Haltung ist. Denn gleich nachfolgend qualifiziert er die Vertreter dieser Ansicht, und das heißt in erster Linie die Lutheraner, als Häretiker: „Infolgedessen verabscheuen sowohl die Häretiker wie auch einige Katholiken Gewaltanwendung und Herrschaft über die Gewissen zur Reformierung wie Bewahrung der Religion.“142 Aus dem ehemaligen „wir“ bzw. den „vielen Protestanten“ sind nun „Häretiker“ geworden, die mit einigen Katholiken die Fahne der Toleranz hochhalten. Nur „sie“ sind es, die die Todes- oder eine andere Leibesstrafe ablehnen. Besold zog an dieser Stelle eine ganz klare konfessionelle Grenze ein, bei der auf der einen Seite die Befürworter einer Toleranz stehen und auf der anderen die Calvinisten, die einst nichts außer der Gewissensfreiheit gefordert hätten, nun aber ihre Widersacher mit dem Schwert bekämpften, und der größere Teil der Katholiken, die wie Bellarmin und Becanus die Todesstrafe für Häretiker für gerechtfertigt hielten.143
140 Es ist nicht ganz klar, auf welche Textstelle sich Besold hier bezog. Denn die genannte Unterscheidung zwischen Halsstarrigen, Zeloten und zweifelnden Häretikern habe ich bei Becanus nicht gefunden. Vgl. Becanus, Manuale controversiarum, l. V, c. XVI und XVII, 715–728. Becanus ließ, wie einleitend bereits kurz beschrieben, kaum Platz für irgendeine Form katholischer Toleranz (vgl. Anm. 6). 141 Vgl. Besold, Synopsis (1637), l. I, c. II, Nr. 22, 67 f. Vgl. hierzu die Textfassung in Anm. 136. 142 Besold, Synopsis (1637), l. I, c. II, Nr. 22, 68: „Indeque, tam in reformanda, quam conservanda religione, violentiam & imperium detestantur, tam haeretici, quam etiam ex Catholicis nonnulli.“ Zitiert nach der deutschen Übersetzung in Besold, Synopse, 66. Vgl. hierzu die Textfassungen in den Anm. 137 und 138. 143 Vgl. Besold, Synopsis (1637), l. I, c. II, Nr. 22, 68: „Sed etiam Calvinistae, qui olim nil nisi libertatem conscientiarum expetebant; ubi tamen iam firmaverunt dogmata sua, etiam gladio contradicentes
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Dass Besold in diesem Zusammenhang auch noch Adam Contzen (1571–1635) als dritten Jesuiten benannte, macht deutlich, wo er selbst mittlerweile stand. Er beschrieb dessen Ansicht aus den Politicorum libri decem von 1621 dahingehend, „dass zuweilen leichtere Mittel in Anschlag gebracht werden könnten. […] Im Ganzen gesehen ist allerdings von Anfang an Strenge vonnöten, damit nicht etwa das Übel durch ungehindertes Wachstum schließlich nicht mehr ausgerottet werden kann.“144 Auch hier wird nicht klar, welche Haltung Besold denn nun selbst für richtig hielt. Contzen mag nicht der Hardliner gewesen sein, der sich vorbehaltlos für die Todesstrafe der Häretiker ausgesprochen hat; doch war er auch kein inniger Verfechter einer Toleranzidee, die diesen Namen verdient hätte. Milde und Härte standen bei ihm nicht im Gleichgewicht zueinander, wie der Zusammenhang belegt, den Besold nur anriss. Es heißt dort: „Mit dieser Milde darf man [nur dann] handeln, wenn es sich nicht um jene Häresien handelt, die keinen Aufschub dulden, wie jene der Anhänger Müntzers, der Anabaptisten und anderer, die sich gegen die Obrigkeit erheben.“145 Hier sei schnelles Handeln erforderlich, um ein Ausbreiten der Häresie zu unterbinden. Gewiss, diese Haltung gegenüber politischen Umstürzlern war auch bei den Protestanten üblich gewesen; Contzen hatte hier jedoch noch ganz andere Häretiker im Blick, nämlich vor allem die Protestanten. Unter der für den Jesuiten selbstverständlichen Annahme, dass es nur e ine wahre (katholische) Religion gebe, von der sich alle Abweichler abspalten, sei es die wichtigste Aufgabe des Staates, die Ausbreitung von Sekten von Anfang an zu unterbinden. Contzen erinnerte den Herrscher zunächst unter der bezeichnenden Kapitelüberschrift Princeps in religione nihil statuat an seine Grenzen: Er ist auf die Bewahrung der wahren Religion („cura verae religionis“) verpflichtet, hat jedoch keinerlei Macht im Blick auf deren Einrichtung oder Erneuerung.146 Er steht im Dienst der Kirche, ist ihr Ernährer („nutritius“) und trägt das Schwert zur Bestrafung der Schlechten und Bösen und zur Belohnung der Guten. Contzen ließ keinen
oppugnant. […] Et quoque Catholicorum pars maior haereticos supplicio extremo affici posse censet.“ Anschließend folgen die Nachweise der genannten Jesuiten. Besold verwies an dieser Stelle auch auf den lutherischen Rechtsgelehrten Franciscus Pfeil (1500–1599), späterer Syndikus in Magdeburg, der ebenfalls die Todesstrafe für Katholiken bei Widerstand gegen die lutherische Reformation gefordert habe. 144 Besold, Synopsis (1637), l. I, c. II, Nr. 22, 69: „[…] & levia interdum remedia usurpari posse autumat Dn. Contzen 2. pol. cap. 17. Verum ab initio severitate omnino opus est, ne, dum malum crescit, non amplius queat extirpari.“ Deutsche Übersetzung nach Besold, Synopse, 66. 145 Contzen, Politicorum libri decem, l. II, c. XVIII, § 4, 95b: „Hac igitur lenitate agendum est, nisi forte eae haereses sint, quae moram non patiuntur, ut sunt, Muncerianorum, atque Anabaptistarum, eorumque, qui in magistratum insurgunt.“ Das Verhältnis von Staat und Kirche bei Contzen behandelt umfassend Seils, Staatslehre, 81–88 und 100–105. 146 Vgl. Contzen, Politicorum libri decem, l. II, c. XVI, § 1, 91a: „Principi tuendae verae religionis cura commissa est, instituendae tamen, aut innovandae nulla est omnino potestas.“
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Zweifel, dass die Macht der Kirche unendlich größer sei als jene der weltlichen Obrigkeit, und überhaupt entpuppt er sich als strenger Vertreter des Kurialismus. Er listete nicht weniger als sieben Punkte auf, mit denen sich die Obrigkeit als Schutzpatronin der wahren Religion beweisen könne:147 Ein kluger Magistrat hat dafür zu sorgen, 1. dass sich die Sitten bessern und 2. mit Eifer die heilige Lehre erforscht und gelehrt wird, indem er Doktoren die Möglichkeit zur gelehrten Betätigung schafft. 3. Er ist Schüler und Zuhörer der Bischöfe und Doktoren, nicht ihr Herr. Sie sind seine Ratgeber, nicht umgekehrt. 4. Er schützt mit allen seinen Kräften und mit seiner Autorität die Kirche und ihre Würdenträger. 5. Um einen stabilen Schutz vor Neuerungen und Zwietracht sicherzustellen, bekämpft der Magistrat die Mutwilligkeit neunmalkluger Leute. 6. Er wendet Gewalt an und setzt Strafen durch, um die Religion zu bewahren. Contzen war sich dessen bewusst, wie hart diese Aussage klingt, da die Gewissen doch nicht gebunden werden können. Doch solle man sich hier keine Sorgen machen: Gott pflegt niemanden zum Heil zu zwingen.148 7. Der Magistrat verbietet ketzerische Bücher. Im Blick auf diese Punkte empfahl Contzen ganz konkret die Ausweisung sämtlicher Wortführer der Irrlehren aus dem jeweiligen Land.149 Dazu zählten auch die Protestanten. Daneben hielt Contzen es für notwendig, mit der Strenge des Gesetzes die Halsstarrigen zum wahren Gottesdienst zu zwingen, sei es mit Worten, sei es mit körperlichen Strafen. Er lehnte die Ansicht jener ab, die meinten, dass jeder Zwang bei der Bekämpfung der Ketzerei vergeblich sei, da ansonsten die Bekehrung nur scheinbar und geheimer Widerstand zu befürchten sei. Sollten die Irrgläubigen, so Contzen, auch innerlich weiterhin dem wahren Glauben fernstehen, so wäre doch wenigstens ihr öffentlicher Religionsfrevel unterbunden.150 In der Nachfolge des Augustinus hielt er daran fest, dass die christliche Liebe es verlange, den Nächsten nicht in der Sünde vergehen zu lassen, sondern ihn für das ewige Heil zu retten. Schafe, die sich durch Verführung verirrt hätten, müsse der Hirte notfalls mit Schlägen und unter Schmerzen zur Herde zurückführen. Vor diesem jesuitischen Hintergrund wirkt Besolds letzte Äußerung zur Toleranzfrage in der Synopsis von 1637 wie ein Fremdkörper und zugleich wie ein ferner Nachhall früherer Aussagen, die sich dorthin gerettet haben: „Und daher kann, solange das Übel der Häresie mit den von Christus aufgezeigten und mit anderen geeigneten Mitteln nicht gewandelt werden kann, die Verschiedenheit der Religio-
147 Vgl. für das Nachfolgende Contzen, Politicorum libri decem, l. II, c. XVII, § 3–10, 93a–95a. 148 Vgl. Contzen, Politicorum libri decem, l. II, c. XVII, § 9, 94b: „Nec ad salutem cogere Deus ipse soleat.“ 149 Vgl. Contzen, Politicorum libri decem, l. II, c. XVIII, § 5, 95b: „Tertio, Haeresiarchae & doctores errorum Republica pellendi sunt.“ 150 Vgl. Contzen, Politicorum libri decem, l. II, c. XVIII, § 12, 97b–98a.
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nen und ein unterschiedlicher Gottesdienst geduldet werden.“151 Würde man allein diese Aussage zum Maßstab für die Beurteilung von Besolds Toleranzhaltung nehmen, so müsste man ihn in die Reihe jener lutherischen Autoren einreihen, gegen die er am Ende seines Lebens so heftig polemisiert hat. Berücksichtigt man jedoch die gesamte Argumentationsweise in der Synopsis von 1637, so zeigt sich Besold nunmehr als ein Verfechter katholischer Intoleranz, die den Wahrheitsanspruch ihrer Religion über den aller anderen stellte. Besold hielt letztlich nicht durch, was ihm einst als Ideal vorgeschwebt hatte: Eine christliche Welt in Gewissensfreiheit.
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151 Besold, Synopsis (1637), l. I, c. II, Nr. 23, 69: „Et inde, dum haereseos malum ijs, quae Christus praemonstravit remediis mutari nequit, tolerari potest Religionum varietas diversusque Dei cultus.“ Deutsche Übersetzung nach Besold, Synopse, 67. So bereits in Besold, Synopsis (1620), Nr. 60, 14. Vgl. ferner Besold, Synopsis (1623), l. I. c. III, Nr. 14, 12; Besold, Synopsis (1628), l. I, c. II, Nr. 25, 28 f.
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Toleranz auf der Kippe
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Michael Egger
Bildung als Waffe im Glaubenskrieg Wie konfessionelle Konflikte im Umfeld des Dreißigjährigen Kriegs Zürcher Volksbildungsreformen auslösten Am 6. Mai 1635, inmitten des Dreißigjährigen Kriegs, steht der Zürcher Kirchenvorsteher Johann Jakob Breitinger (1575–1645) im Sitzungszimmer des Großen Rates vor seiner versammelten Pfarrerschaft. Er zeigt den über 150 Teilnehmern der halbjährlichen Kirchensynode – den Landpfarrern, der städtischen Geistlichkeit, einigen Klein- und Großräten1 – drei Bände mit Verzeichnissen, „gebunden in einem [...] beständigen Bund / der sich laßt aufbehalten auf unsere Nachkommenden“: Hierinn finden unsere Nachfahren/ was uns anvertraut gseyn vor Seelen/ was zu unseren Zeiten gelebt vor Menschen/ [...] wie geheissen in unseren vertrauten Gemeinden alle Elteren/ die Väter/ die Mütteren/ alle ihre Kinder/ die Knecht/ die Mägt [...]; Hierinnen ist zufinden ein Zeugnuß euers angewendten Fleisses/ [...] was einjedes Kind auf ihm gehabt für Jahr; wie vil es im selben Alter können bätten/ im Catechismo/ in Psalmen.2
1.
Einleitung
Antistes Breitinger kann seine Freude nicht verhehlen, sind doch die Pfarrer aus den rund 150 Kirchgemeinden Zürichs sowie den gemischtkonfessionellen Gemeinen Herrschaften endlich dem Auftrag nachgekommen, den religiösen Bildungsstand ihrer Gemeindebevölkerung – insbesondere der Kinder – zu erheben und der Kirchenleitung bekannt zu geben.3 Er sei „höchlich erquickt und erfreut“, denn es hätten zudem fast alle seiner „geliebten Mitarbeiteren“ auf der ersten Seite ihrer Verzeichnisse einen passenden Spruch hingeschrieben.4 Doch sein Ton ändert sich:
1 Für die Geistlichkeit war die Teilnahme unter Androhung einer Geldbuße Pflicht. Es nahmen auch vier Klein- (oft ein Bürgermeister) und Großräte sowie der Stadtschreiber teil (vgl. Leu, Letzte Verfolgungswelle, 206). 2 Breitinger, 29. Synodalrede 1635, in Miscellanea Tigurina, Bd. 3, 467 f. 3 Um 1630 sind das ca. 130 Kirchgemeinden der Zürcher Landschaft und über ein Dutzend Kirchgemeinden in den Gemeinen Herrschaften (vgl. Egger, Pisa-Studie?, 27). 4 Breitinger, 29. Synodalrede 1635, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 3, 468 f. Dabei sinniert er über ein solches Zitat des römischen Dichters Properz, das die Theologen alle in der Jugend gelernt hätten.
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Michael Egger
Zwar hätten viele große Lust an der Umsetzung dieses ,hochnützlichen Werks’5 gezeigt, von etlichen Pfarrern aber seien Einwände gekommen. Bekümmert, dass „noch [...] so unverleuchtete/ [...] so gar kaltsinnige unwidergebohrne Gemüther“6 in ihrem Heiligen Stand zu finden seien, habe er ,diesen Freunden’ erst gar nicht antworten wollen – um nun seine ganze Synodalrede, die einzige Möglichkeit, alle Pfarrer gleichzeitig und direkt anzusprechen, ihren Einwänden zu widmen. Was hatten die Pfarrer dagegen vorzubringen, den religiösen Bildungsstand ihrer Bevölkerung zu erheben? Breitinger nennt vier Argumente: 1) Die geforderten Verzeichnisse seien eine „Neuerung“ und „nicht gewachsen in unseren Gn[nädigen] Herren“, sondern von der Kirche (,uns anderen’) „in sie gestossen worden“; 2) sie müssten nur auf dem Land geführt werden, nicht aber in der Stadt; 3) angesichts der Kriegsgefahr könnten sie „bald dienen zu grossen Unstatten“ – wie in der Kurfürstlichen Pfalz, wo damit das Hab und Gut jedes einzelnen inquiriert worden sei; 4) sie seien wie die Volkszählung von König David. Punkt für Punkt nimmt Breitinger diese Argumente auseinander. Den Vorwurf einer „Neuerung“ kontert er mit der traditionellen Bedeutung religiöser Bildung: für die protestantischen Kirchen, aber auch für die Katholikinnen und Katholiken seit der Gegenreformation. Das Führen von bildungsspezifischen Verzeichnissen sei nichts genuin Neues: Er zitiert ältere Zürcher Kirchenmandate ab 1601, wo u. a. die Erhebung aller Kirchgenossen, die in den kirchlichen Unterricht („Kinder-Bericht“) gehören, bereits gefordert wurde.7 Kirche und politische Obrigkeit ließen sich nicht gegeneinander ausspielen; Breitinger verweist auf die finanzielle Unterstützung des Bildungswesens durch „unsere Gn[nädigen] Herren“.8 Die Räte würden erschrecken, wenn Männer und Frauen von der Landschaft ans städtische Ehegericht oder ins Gefängnis kämen, die „von ihrem Heil weniger Erkantnus gehabt/ als wären sie
5 Einfache Anführungszeichen bezeichnen im Folgenden, nebst Hervorhebungen, auch sinngemäße Paraphrasierungen/Übertragungen beim Zitieren längerer Quellenausschnitte zur besseren Lesbarkeit des Textes. 6 „Noch“ verweist auf die Bemühungen Breitingers, die Ausbildung der Pfarrer zu verbessern. Der Antistes machte Politik: Er lobte die Mehrheit der Pfarrer ausgiebig, die Einwände stammten nur von einer Minderheit, deren unvernünftige Worte aber von „groben gemeinen Menschen“ nicht gehört werden dürften (ebd., 470 f.). 7 Ebd., 473 f. Schon damals hätten eifrige Dekane „ihrer Mitbrüderen Unfleiß [...] an die verordneten Herren Examinatores von beyden Ständen“ angezeigt, diese Dokumente besitze er noch im Original. Das Führen der hier relevanten, an die Kirchenleitung abgegebenen Verzeichnisse sei außerdem schon im gedruckten Mandat von 1628 gefordert worden, es sei unerhört, dass die Pfarrer dieses offenbar nicht kennen würden (ebd.). Zu den entsprechenden Mandaten vgl. unten, Fußnote 30. 8 Breitinger fragt rhetorisch, wen die Pfarrer, die diese Vorwürfe erheben, denn für die Obrigkeit hielten? Er bezeichnet die Ratsmitglieder als „Fromme und Weisen“, die die Kriegsgefahr stündlich und mit hohen Kosten abwehren müssten, gleichzeitig aber immer noch in die niedere und höhere Bildung investierten.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
ihr Lebenlang nicht eines Fusses breit auf Christenlichen Boden getretten“. Dank den abgegebenen „Catalogi“ könnten die Pfarrer nun jederzeit beweisen, inwiefern solche ,fehlbaren Personen’ von ihnen unterrichtet worden seien.9 Und nur, weil die Idee von der Kirche ausging, sei das noch lange kein „Stoßen“ – wo stünden sie heute, wäre das, was im Alten Testament von den Priestern an die Könige gelangte, nicht umgesetzt worden? Auch den Vergleich mit der Volkszählung Davids weist Breitinger zurück, weil die Pfarrer nicht einfach zählten, sondern Seelen suchten, die ihnen anvertraut und denen sie schuldig seien, sie zu Gott zu führen. Hätten sie dies bereits früher fleißig getan, wären auch weniger arme Kinder und Waisen ins Elend gelangt. Und falls Gott sie tatsächlich mit Krieg heimsuchte, um das Land wegen dessen Sündern zu bestrafen, gäbe es mit Schuld- oder Rechenbüchern interessantere Verzeichnisse für feindliche Armeen als solche, wo stehe, „was für Fragstuck und Bätter könnind die Kinder“.10 Hervorzuheben ist die Antwort, warum die Verzeichnisse nur auf dem Land geführt werden müssten: In der Stadt Zürich existierten bereits zahlreiche solche Catalogi, u. a. zu den Latein- und Deutschschulen. Zudem seien hier noch wenige Fest- und Sonntage vergangen, wo sich nicht etliche Handwerks-Gesellen/ Dienst /Mägd /Kauffherren-Diener/ auch fürnehme StandsPersonen/ samt den ihrigen/ alles lauter Ausländer und frömde/ so wol Papisten als Lutheraner/ sich selbst unerforderet/ und mit rechter Andacht/ erstlich in den PfahrHäuseren zum Unterricht/ folgends auch in der Kirchen zur Communion eingestellt haben.
9 Ebd., 471–475, hier: 475. 10 Ebd., 476–479, hier: 479. Gemeint ist das kirchliche Unterrichtsprogramm für die jüngeren Kinder: die Zehn Gebote, das Apostolische Glaubensbekenntnis, das Vater Unser, die Sakramente sowie der Kleine Katechismus („Fragstücklein“, bestehend aus 93 Fragen mit kurzen Antworten). Hier nicht erwähnt, aber in den von Breitinger geforderten Verzeichnissen ebenfalls durchgehend mitgeprüft, sind der Große Katechismus (110 Fragen mit längeren Antworten) sowie die „Zeugnisse“, Belegstellen aus der Bibel, die von den fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern im kirchlichen Unterricht („Kinderbericht“) und in der Schule auswendiggelernt und verstanden werden sollen (vgl. Strehler, Kirche und Schule, 110 f.; Egger, Pisa-Studie?, 83 f.). Die Zürcher Katechismen gehen ursprünglich auf Leo Jud, den Mitarbeiter Zwinglis und Bullingers, zurück. Sein Großer Katechismus mit 100 Fragen erschien erstmals in Zürich 1534, der umfangmäßig Kürzere Katechismus (1541) mit 221 Fragen 1541. Markus Bäumler (1555–1611), Theologieprofessor an der Zürcher Hohen Schule, verschmolz 1609 Leo Juds Katechismen mit dem Heidelberger Katechismus (1563) zu einem Lehrbuch, das fortan einfach Zürcher Katechismus genannt und später auch in Glarus, Appenzell und Graubünden eingeführt wurde. Mehrfach überarbeitet, blieb dieser im Zürichbiet bis 1839 offiziell in Gebrauch (Lang, Heidelberger Katechismus, S. XX–XXVII; Leo Jud, Katechismen, Einleitung von Oskar Farner, 11–21). 1634 wurde er um die erwähnten „Zeugnisse“ ergänzt und 1639 mit weiteren formalen Überarbeitungen neu gedruckt – in derjenigen Form, „die er zwei Jahrhunderte beibehalten sollte“ (Sulmoni, Jugend, 47).
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Übten die Landpfarrer ihr Amt so aus wie ihre städtischen Kollegen, erübrigte sich auch ihre Kritik, fügt er an – um die Rede mit der zentralen Stellung der Bildung für die Reformation zu schließen. Dabei zitiert er weder Zwingli, Bullinger oder Calvin, sondern Luther: Der habe 1530, in einer ebenfalls ,schweren und gefährlichen Zeit‘, gelobt, wie die ,zarte Jugend von Knaben und Mädchen mit Katechismus und Schrift wohl wachsen‘ würde.11 In den 1630er Jahren näherte sich der europäische Konfessionskrieg bedrohlich den Zürcher Grenzen. Lutherische Geflüchtete fanden Schutz in Zürich, parallel eskalierten Konflikte in den benachbarten Gemeinen Herrschaften beinahe zum eidgenössischen Bürgerkrieg, und die Täufer wurden nach Jahren der Duldung wieder verfolgt. Wieso setzte es die Kirche inmitten einer als Bedrohungslage empfundenen Zeit durch, den religiösen Bildungsstand ihrer Bevölkerung zu prüfen? Warum argumentierte Breitinger dabei mit der lutherischen Reformation, der katholischen Gegenreformation und der Teilnahme beider Konfessionen an der reformierten Unterweisung und am Abendmahl? Wie positionierte sich der Kirchenvorsteher angesichts der eskalierenden Konflikte in der Frage des Umgangs mit anderen christlichen Konfessionen und Häretikern, sind Ansätze zu religiöser Toleranz erkennbar? Und vor allem: Was für Verzeichnisse sind das überhaupt, die hier eingeführt werden?
2.
Zürcher ,Seelenbeschreibungen‘ als Messinstrumente des Glaubenswissens
Die von Breitinger eingeforderten „Catalogi“ liegen heute als sog. ‚Bevölkerungsverzeichnisse‘ in einem Sonderkatalog des Staatsarchivs Zürich: Über 2000 Exemplare wurden zwischen 1633 und 1767 in unregelmäßigen Abständen der Kirchenleitung abgegeben.12 Die eingangs zitierte Charakterisierung als eine Quelle für die ,Nachkommenden‘ hält der Realität Stand: Gerade die fast durchgehend mitüberlieferten biografischen Eckdaten zu allen ,Seelen‘ jeder Gemeinde, – Namen, Alter, Wohnort, oftmals auch Beruf, Herkunft oder Abwesenheit – machen den Bestand im Lesesaal des Archivs
11 Breitinger, 29. Synodalrede 1635, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 3, 479 f., hier: 480. 12 1737 Bevölkerungsverzeichnisse zum Stand Zürich, ca. 300 aus den Gemeinen Herrschaften (STAZH E II 700). Zudem über 400 ,Haushaltungsrödel‘ (STAZH E III), die nicht der Synode abgegeben wurden.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
bis heute populär.13 Zwar haben die meist nach Ort und Haushalt gegliederten Bevölkerungsverzeichnisse weder einen einheitlich gestalteten Aufbau noch enthalten alle dieselben Angaben, doch sind sie in aller Regel mehr als Listen mit einfachen statistischen Personendaten: Ihr eigentliches Wesensmerkmal sind die von Breitinger verlangten Bildungsangaben. In 83% aller Bevölkerungsverzeichnisse der Zürcher Stadt und Landschaft finden sich mindestens Informationen zum religiösen Wissensstand (resp. Fähigkeiten) der Kinder und des Gesindes, seltener auch der Eltern – also die erlernten Gebete, Katechismen und Psalmen. Darüber hinaus erfassten einzelne Pfarrer bereits in den 1630er Jahren die Lesefähigkeit oder den religiösen Buchbesitz (zu Beginn meist nur Bibel und Neues Testament) ihrer Gemeindebevölkerung. Ihre Fragestellung veränderte sich dabei über den Erhebungszeitraum: Die Angaben zum auswendig gelernten Wissen nehmen ab, das pfarrherrliche Interesse an Lesefähigkeit und religiöser Lektüre nahm dagegen zu. Letzteres wird zwischen 1701 und 1750 bereits in über der Hälfte aller Verzeichnisse vermerkt. Seltener sind Daten zu Schulbesuch, Gesang, Schreiben oder zum ,sittlichen‘ oder sozialen Zustand von Haushalten und Einzelpersonen – z. B. Kirchenbesuch, Armut, Erziehung oder Alkoholismus.14 Die Bevölkerungsverzeichnisse waren also in erster Linie Instrumente zum Ermessen des persönlichen Glaubenswissens. Die Pfarrer beschreiben alle Pfarreiangehörigen, die ,Seelen‘ ihrer Gemeinde, d. h., sie notieren die in ihren Augen für das Seelenheil relevanten Angaben (Abb. 1).
13 Benutzer sind Laienforschende und Autoren/Autorinnen bevölkerungs-, wirtschafts- oder sozialgeschichtlicher Studien (z. B. bei Pfister, Fabriques u.v.m.) oder von Zürcher Kantons- oder Gemeindegeschichten. 14 Vgl. die Auswertung der Informationen aller Bevölkerungsverzeichnisse bei Egger, lesendes Volk, 115. Der geforderte Dreijahresrhythmus hielt nicht lange an: Seit 1650 gaben die Pfarrer nur noch vereinzelt Verzeichnisse ab, doch auch nach Breitingers Tod 1645 kam es mehrmals fast zu Vollerhebungen.
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Abb. 1 Ausschnitt aus einer Seelenbeschreibung aus der Zürcher Kirchgemeinde Fällanden 1646 (STAZH E II 700.35).
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
Aufgrund dieser Verortung in einem bildungsspezifischen, seelsorglichen Kontext werden die Bevölkerungsverzeichnisse im Folgenden ‚Seelenbeschreibungen‘ genannt – eine von den Pfarrern selbst häufig gewählte Bezeichnung. Die für sie konstitutiven Bildungsangaben wurden von der Forschung ebenfalls teilweise berücksichtigt, insbesondere die für die Frühe Neuzeit so seltenen direkten Angaben zu A lphab et is i er u ng u nd L ektüre.15 Dazu gehört vor allem die bis heute nicht ausreichend gewürdigte Dissertation von Wartburg-Ambühls von 1981.16 In meinem Dissertationsprojekt wird der Quellenbestand derzeit einer Neubewertung unterzogen.17 Zum einen entsteht eine Studie zur frühneuzeitlichen Alphabetisierung und Lesekultur der einfachen Bevölkerung Zürichs, möglichst ohne methodische Schwächen der Vorgängerstudien zu wiederholen.18 Zum andern versucht das Projekt einem anderen Forschungsdefizit Abhilfe zu schaffen: Subsumiert unter dem Begriff einer „unzureichenden Quellenkritik“, hat Reinhart Siegert die fehlende Kontextualisierung der Quellen bereits in seiner Rezension von Marie-Louise von Wartburg-Ambühls Studie bedauert.19
3.
Zum Entstehungskontext in Europa
Die von Siegert bemängelte Forschungslücke ist nicht nur auf Zürich zu beziehen: Obwohl Seelenbeschreibungen (u. a. auch ,Seelenregister‘, ,Status animarum‘) europaweit angelegt wurden,20 ist über die Quellengattung allgemein wenig bekannt. Die z. B. von der historischen Demografie intensiv benutzten Verzeichnisse wurden oft einfach als kirchliche Volkszählungen definiert, die darin enthaltenen
15 Die Seelenbeschreibungen der Gemeinen Herrschaften wurden z. T. von Löffler-Herzog (Bildungsstand) und Messerli (Alphabetisierung) sowie umfassend in einer Reihe studentischer Arbeiten ausgewertet, die von Heinrich Richard Schmidt (an der Universität Bern) betreut wurden (z.T. veröffentlicht unter www.stapferenquete.ch). 16 Sie widerlegte das Forschungsparadigma vom Volk ohne Buch (Schenda 1970, 444 f.), wonach erst der liberale Staat die Lesefähigkeit durchgesetzt habe (zur Rezeption vgl. Schmidt, Alphabetisierungsforschung, 159). Bis auf eine Handvoll Ausnahmen basieren die meisten Alphabetisierungsstudien zu Europa vor 1800 mangels Alternativen auf Unterschriften (vgl. ebd., 150). 17 Mein Dissertationsprojekt hat den Titel Das lesende Volk und wird von Heinrich Richard Schmidt und Veronika Albrecht-Birkner betreut. Über 100 Seelenbeschreibungen aus ca. 60 Gemeinden Zürichs werden mit Blick auf die Alphabetisierung ausgewertet, samt der Parameter Geschlecht, Alter, Beruf/Amt sowie z. T. Buchbesitz. 18 Zur detaillierten Kritik – u. a. deduktives Vorgehen, Methode, Quellenkritik, Vollständigkeit – vgl. Egger, Pisa-Studie?, 58 ff. 19 Siegert, Alphabetisierung und Lektüre. 20 Börsting, Geschichte der Matrikeln, 83, 109.
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Bildungsangaben kaum beachtet.21 Innerhalb des noch unübersichtlichen Waldes pfarrlicher Gemeindeverzeichnisse müssen Seelenbeschreibungen von Quellen und Kirchenbüchern unterschieden werden, die nur über Taufen, Eheschließungen, Bestattungen oder die Kommunion Buch führen. Monografisch erforscht ist ihr Entstehungskontext bisher nur für Sachsen-Gotha durch Veronika Albrecht-Birkner. 1641 wurden die Aufgaben der dortigen Pfarrer um Hausvisitationen und das Anlegen von Seelenbeschreibungen erweitert: Ihr Zweck war die Wiederaufrichtung von Zucht, Ordnung und Religiosität nach deren Niedergang im Dreißigjährigen Krieg, der vermeintlichen Strafe Gottes. Zum kirchenpolitischen Programm unter Herzog Ernst dem Frommen (1601–1676) gehörte die Bekämpfung eines „Maul-Christenthums“, bei dem Christen nur „äußerlich“ beteten und Zeremonien hielten. Die Seelenbeschreibungen dokumentieren hier pfarrherrliche Hausbesuche: Mit dem Ziel einer ‚Reformation des Lebens‘ war die „Einführung einer möglichst lückenlosen visitatio domestica [ein] deutliches Symptom der Bemühung, dem einzelnen näher zu treten, als dies die Predigt tun konnte.“22 Flankiert wurden die Gothaer Maßnahmen u. a. von Kirchenvisitationen, Schul-, Katechisations- und Predigtreformen. Die Zürcher Quellen können damit nicht isoliert von europaweiten Bestrebungen des 17. Jahrhunderts betrachtet werden, den religiösen Bildungsstand der Bevölkerung zu verbessern und direkt zu evaluieren. Ein aus dem Umfeld meines Dissertationsprojekts hervorgeganger Sammelband hält erstmals den Forschungsstand zur Quellengattung „Seelenbeschreibungen“ aus einer bildungs- und konfessionesgeschichtlichen Perspektive fest und nimmt punktuelle Auswertungen derzeit bekannter europäischer Bestände vor.23 Wie sich zeigt, handelt es sich bei den Seelenbeschreibungen (‚Libri status animarum‘) um ursprünglich römischkatholische Bestandsaufnahmen aller Gläubigen und z. T. auch ihrer religiösen Praktiken (Kommunion, Firmung, Beichte usw.) – eine „gegenreformatorische“ Maßnahme des 16. Jahrhunderts, eingeführt im Nachgang des Konzils von Trient.24 Obwohl überlieferte Vorgaben und Formulare der römisch-katholischen Kirche seit dem 17. Jahrhundert z. T. auch Bildungsangaben aller Gemeindemitglieder verlangen,25 zeigt die Zusammenschau der bisher gefundenen Bestände, dass katholische Seelenbeschreibungen mit religiösen Bildungsangaben kaum bekannt
21 Vgl. z. B. Mattmüller, Bevölkerungsgeschichte; Walther, Seelenregister; Mitterauer, Familienforschung. 22 Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens, 79 ff.; zum Begriff und theologischen Programm z. B. auch Klueting, reformatio vitae oder Münch, reformatio vitae. 23 Vgl. Schmidt/Albrecht-Birkner/Egger et al. (Hg.), „Seelenbeschreibungen“. 24 Vgl. ebd., darin insbesondere den Beitrag: Libri Status animarum – Seelenbescheibugnen – Seelenregister. Zum Forschungsstand von Veronika Albrecht-Birkner, 41–70. 25 Vgl. auch Michard/Couton, Les livres d’états des âmes, 263 ff.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
sind (beispielsweise in Münster), während die reformierten und die lutherischen Quellen gerade in Bezug auf die Erfassung von religiösen Bildungsangaben (Gebete, Katechismen, Lesefähigkeit usw.) insgesamt verblüffende Ähnlichkeiten aufweisen (so in Zürich/Thurgau, Sachsen-Gotha, Württemberg, Oldenburg, Norwegen, Schweden).26 Auch wenn die Erforschung dieser Quellen längst nicht abgeschlossen ist, wurden die bekannten protestantischen Seelenbeschreibungen erst seit dem 17. Jahrhundert eingeführt. Die zeitliche Parallelität ihrer Anlage zum Dreißigjährigen Krieg verweist auf eine europaweite Bedrohungslage für die Protestanten, die sich gleichsam in einer „belagerten Stadt“27 wähnten. Sowohl die Einführung der ‚calvinistisch‘ wirkenden Kirchenkonvente 1642/44 als auch die fast gleichzeitig einsetzenden Seelenbeschreibungen in Württemberg gehören in diesen konfessionellen Bedrohungskontext.28 Die Seelenbeschreibungen aus Oldenburg seit 165629 wie auch die „reading campaign“ und Examinationsregister Schwedens30 sind ebenfalls Mittel der Seelsorge und Bestandteil obrigkeitlicher Bildungsreformen. Die Förderung von Katechisation und Lektüre sind Teil eines „Reformprotestantismus“31 im Umfeld der Konfessionalisierung, Seelenbeschreibungen sind ihre Evaluationsmittel.
4.
Die Reformen in Zürich: Schulordnung, Hausvisitation, Bildungsevaluation
In Zürich, wo die Forderung nach pfarrherrlichen Verzeichnissen mit Angaben zur religiösen Bildung der Kinder bereits Anfang des 16. Jahrhunderts auftaucht,32 26 Vgl. Schmidt/ Albrecht-Birkner/ Egger et al. (Hg.), „Seelenbeschreibungen“ (zu den in Klammern angegeben Orten beinhaltet der Band je einen Beitrag mit kurzer Analyse des kirchenhistorischen Kontexts sowie punktuellen Auswertungen der Bildungsangaben, insbesondere zur erfassten Alphabtisierung der Bevölkerung). 27 Vgl. Delumeau, Une cité assiégée. 28 Vgl.: Schnabel-Schüle, Kirchenzucht; Schmidt, Lutherische Kirchenkonvente; Ehmer, Schulwesen. 29 Norden, Alphabetisierung in der oldenburgischen Küstenmarsch, 110–112. 30 Johansson, Literacy in Sweden 161 ff.; Lindmark, Reading, Writing, and Schooling, 236. 31 Zum Begriff vgl. Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens und Pietismus. 32 Listen zur religiösen Unterweisung (Kinderbericht) werden, wie Breitinger in der eingangs zitierten Synodalrede behauptete, tatsächlich schon 1601 in den Kirchenordnungen verlangt. 1628 wird die Forderung in der Pfarr- und Synodenordnung erweitert: Hier steht, ebenfalls im Kontext des Kinderberichts, die Pfarrer sollten ein Verzeichnis führen mit den „namen aller hussvätteren/ kinden unnd diensten/ damit er wüsse die zahl aller vertrauwten seelen. [...] Er soll aber verzeichnen nit allein der Kinden tauffnamen/ sonder auch jhre jahr wie alt sy seyen/ item was ein jedes könne. Er soll wüssen welches kind in die Schul gange / oder gegangen seye / oder auch nicht.“ (Campi/ Wälchli, Kirchenordnungen, 677), vgl. auch Egger, Pisa-Studie?, 14 und 21. Ob solche Verzeichnisse bereits vorher geführt, aber in den Kirchgemeinden geblieben sind, lässt sich kaum eruieren.
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wird die Durchsetzung der Seelenbeschreibungen ebenfalls von entsprechenden Reformen begleitet. Zwei Jahre nach Breitingers eingangs zitierter Rede erscheint mit der Schulordnung von 1637 die „erste gesetzliche Grundlage“ für das Zürcher Landschulwesen.33 Für die Einführung der Hausvisitationspraxis in Zürich konnten bislang nur wenige Belege gefunden werden. Die Pfarrer verfügten grundsätzlich über ein gewisses Repertoire, um den religiösen Wissensstand ihrer Gemeindemitglieder zu erfragen. Sie prüften die katechetischen Kenntnisse der Kinder im Umfeld der sonntäglichen Kinderlehre; die Schulordnung verlangte von den Lehrern dasselbe bei den Schulkindern. Breitinger argumentiert pädagogisch: mit der Notwendigkeit, Lernfortschritte zu messen und zu beurteilen, aber auch mit der Motivation und Erfolgserlebnissen der Kinder.34 So zeugen zwar bereits die frühesten Seelenbeschreibungen davon, dass allgemeine Hausbesuche zumindest mancherorts gängige Praxis waren, gleichzeitig wird bei anderen das sonntägliche Examinieren geschildert.35 Im Gegensatz zur prominenten Forderung des Besuches von Kranken und Armen36 stammt die erste gefundene Vorgabe für allgemeine Hausvisitationen von 1640. Breitinger inszeniert sie als Mittel der Erbauung, der Förderung religiöser Bildung und der unmittelbaren Evaluation vor Ort. Er mahnt die Pfarrer, bei den Hausbesuchen ,eifrig und freundlich‘ zu sein, ,Jungen und Alten christlichen Unterricht‘ zu geben, damit niemand in Unwissenheit sterbe. Auch widerspreche es der ,natürlichen Schamhaftigkeit‘, die Hauseltern vor Kindern und Gesinde zu examinieren, dies soll separat geschehen.37 Die später datierenden Vorgaben, die bisher gefunden werden konnten, sind dann konkreter: Seelsorglicher Beistand und Erbauung, katechetische Prüfungen, Nachforschungen zu ,geistlichen Hausübungen‘ gehören nun explizit zum pfarrherrlichen Pflichtenheft. Demnach dienen Hausbesuche unter anderem der Ermahnung zu Buße und Besserung des Lebens, Lesen der Bibel und zur Intensivierung der Glaubenspraxis durch Gebete, Gesang, Predigtbesuch usw.38 Auch wenn ein Vergleich angesichts bestehender Forschungslücken gewagt ist, sind die Gemeinsamkeiten mit den europäischen Referenzpunkten, den Bildungsreformen, Hausvisitationen und Seelenbeschreibungen in anderen Ländern, zunächst 33 Berner, Vernunft und Christentum, 23. 34 Breitinger, 20. Synodalrede 1626, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 537. 35 Explizit beschreibt z. B. der Pfarrer 1633/34 in Oerlikon/Schwamendingen, wie er von Haus zu Haus ging und alle Hausgenossen geprüft habe. Zahlreiche Pfarrer halten außerdem den Bestand religiöser Bücher in den Haushalten fest. Beispielsweise sind aus Fehraltorf 1637 oder Küsnacht 1634 hingegen Beschriebe von sonntäglichen Examinationen in den Seelenbeschreibungen überliefert (vgl. STAZH E II.700). 36 Vgl. z. B. bereits die 14. Synodalrede 1622 (Breitinger, Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 99 ff.). 37 37. Synodalrede 1640 in ebd., Bd. 3, 715 f., hier 716. 38 ,Rats-Erkanntnus‘ 1658 bei Wirz, Historische Darstellung, 356 f.; die ,Prädikanten-Ordnung‘ 1707 bei ebd., 356.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
frappant. Doch im wesentlichen Unterschied zum lutherischen Gotha oder Württemberg blieb Zürich vom Kriegsgeschehen zumindest unmittelbar verschont. Für das Verständnis der hier relevanten Reformen in Zürich scheint es daher unabdingbar, ihren Urheber und dessen Motive, die ihn prägenden Diskurse näher zu beleuchten. Antistes Breitinger, für ältere wie neuere Forschung einflussreichster Zürcher Kirchenvorsteher nach Zwingli und Bullinger,39 ist vor allem als Teilnehmer an der Dordrechter Synode 1618/19, orthodoxer Verfechter der Prädestinationslehre und Befürworter einer Stadtbefestigung bekannt – wie auch für seine aktive Einmischung in die Außenpolitik Zürichs. Gerade die Rollen als ,Schwedenfreund‘ und Kriegsbefürworter sowie seine Theaterfeindlichkeit räumten ihm einen zweifelhaften Platz in der Historiografie ein.40 Doch verweisen alle vorhandenen Beiträge auf Umfang und Breite der in seiner Amtszeit umgesetzten Kirchenreformen.41 Es scheint daher naheliegend, die ihm zugeschriebenen Attribute zusammenzudenken: Um Breitinger als eine Schlüsselfigur für die hier relevanten Bildungsreformen zu fassen, müssen die konfessionellen Konflikte, die seine Amtszeit prägten, genauer untersucht werden. Die im Folgenden dargestellten Erkenntnisse stellen ein erstes Zwischenergebnis in der Erarbeitung des Kontextes der Seelenbeschreibungen dar.
5.
Breitingers Amtsantritt im Zeichen der Täuferverfolgung
Ein für die historische Einordnung Breitingers verbreitetes Narrativ ist die Bewunderung für seinen indirekten Vorgänger Heinrich Bullinger (1504–1575), den er zeitlebens nachgeahmt und wie einen Heiligen verehrt habe.42 Zumindest in Bezug auf den Umgang mit dem konfessionellen Gegenüber ist diese Interpre-
39 Ernst, Schulwesen, 107; Henny, Selbstzeugnisse, 74. Obwohl das bereits in den 1950er Jahren bedauerte Fehlen einer „modernen Biografie“ (Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 4) bis heute andauert, haben sich diverse Beiträge intensiver mit Breitinger befasst, u. a. auch Mörikofer, Breitinger; von Grebel, Breitinger; Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit (diese Dissertation wurde leider nie publiziert). Herzlichen Dank an Sarah Rindlisbacher und das Berner Team von Prof. Dr. André Holenstein, die mir die in der UB Freiburg überlieferte Dissertation zur Verfügung gestellt haben. 40 Vgl. Henny, Selbstzeugnisse, 74. 41 Vgl. den Artikel von Helmut Meyer, Johann Jakob Breitinger, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010449/2002-12-18/. 42 Henny, Selbstzeugnisse, 73 f. und 99 f., 102: Breitinger verschenkte Silberpfennige mit dem Porträt Bullingers, band ihre Aufzeichnungen über Badenfahrten zusammen und war bestrebt, den Nachlass von Bullinger-Handschriften aufzubewahren wie die Reliquien eines ,Heiligen Mannes‘; vgl. auch Leu, Letzte Verfolgungswelle, 213, Fn. 33.
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tation fragwürdig. Das zeigt sich in der für beide Kirchenvorsteher prägenden Auseinandersetzung mit den Täufern. Wie im Sammelband Sebastian Castellio – Dissidenz und Toleranz zusammengefasst wurde,43 war Bullinger ein ,Hardliner‘, wenn es um die Täufer ging: Er etablierte sich während seiner Amtszeit „als größte internationale Autorität in Täuferfragen“44 und sprach sich bis zum Lebensende für die Todesstrafe bei hartnäckigen ‚Häretikern‘ aus. Deren Bestrafung fiel in Zürich in den Zuständigkeitsbereich des Staates. Bullinger erweiterte die Kompetenzen der politischen Obrigkeit in Kirchen- und Glaubensfragen und drohte, die Regierung unter ,kirchliche Kuratell‘ zu stellen.45 Auch Breitingers Amtszeit ist mit der Verfolgung der ehemaligen ideellen Weggefährten Zwinglis verknüpft: 1614, ein Jahr nach seinem Amtsantritt, wurde Hans Landis hingerichtet – dies war die letzte offizielle Todesstrafe, die in der Schweiz über einen Täufer verhängt wurde. Der Landis-Prozess steht aber für einen Paradigmenwechsel in der Bestrafung von Täuferführern in Zürich: Der Vorsteher einer Gemeinde mit ungefähr vierzig Anhängern wurde nicht als Ketzer für seinen Glauben, sondern als Rebell wegen Gehorsamsverweigerung verurteilt – und folglich mit dem Schwert gerichtet und nicht, wie vorher mit perfider Anspielung auf die Taufe üblich, in der Limmat ertränkt.46 Bereits 1585, zehn Jahre nach Bullingers Tod, beschlossen die reformierten eidgenössischen Orte eine Praxisänderung im Umgang mit der nach wie vor stark verbreiteten Täuferbewegung. Die Obrigkeit reizte den Spielraum der Mandate zudem weit aus und tat sich trotz der Renitenz der sechs verhafteten und bereits lange aktenkundigen Täuferführer47 äußerst schwer bei ihrer Bestrafung. Mit einer knappen Mehrheit von 59% entschied der Große Rat auf Tod durch das Schwert für den geflüchteten, anhaltend predigenden, taufenden und trauenden Landis. Die knappe Abstimmung, die lange Urteilsbegründung und die folgenden Ratsprotokolle zeigen eine gewisse Vielfalt
43 Vgl. Egger, reformierte Täuferverfolgung, 408, 414–417. 44 Scheidegger, Täufer, 89. 45 Mahlmann-Bauer, Häresie aus juristischer Sicht, 69; 77–86. Bei Breitinger finden sich hingegen „manche Anzeichen“ für die Befürwortung einer größeren Befreiung der Kirche vom Staat: Er habe gar gedroht, dass die Kirche den Bann wieder einführe (vgl. Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 38) 46 Vgl. Botschi-Mauz, Täufer, 168–171. 47 Die Obrigkeit ließ Landis jahrzehntelang gewähren, den Verhafteten bot sie entgegen den Vorschriften mehrfach an, sie dürften beim Auswandern ihr Gut mitnehmen. Als Landis und zwei weitere, die das Land nicht verlassen wollten, der grauenhaften Galeerenstrafe im Dienst des französischen Königs entfliehen konnten, inszenierten sie dies als Wunderbefreiung, worauf auch die drei ausgewanderten Täufer zurückkehrten und Landis wieder zu predigen, taufen und trauen begann, woraufhin er erneut verhaftet wurde (vgl. ebd., 184–188).
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der Meinungen, wie mit Andersgläubigen auf Zürcher Gebiet zu verfahren sei; sie zeugen von Verunsicherung, Wut und Angst vor öffentlichen Reaktionen.48 Breitinger selbst hat die Hinrichtung von Landis dezidiert als Fehler eingestuft. Er warnte vor den Folgen harter Strafen für die Täufer und betonte die Übereinstimmung in den grundsätzlichen theologischen Fragen. 1615 antwortete er auf die vom Rat geäußerte Absicht, die Täufer zur Galeerenstrafe zu verurteilen, dies brächte den ,Täufern Sympathien und Zulauf, der Kirche aber Kritik und Feindschaft‘ ein.49 Die Täufer hätten ,nur ihre besondere Weise‘, lehrten aber keine Irrtümer, um derentwillen ein Mensch verdammt werden könne, sondern solche, womit die alten Väter zum Teil ebenfalls behaftet gewesen seien.50 In einem Brief an die evangelischen Städte der Eidgenossenschaft bekräftigte er 1616 seine Haltung: durch harte Strafen würden nur die „Schwachgläubigen geärgert“ und den Katholiken Argumente zu hartem Durchgreifen geliefert. Damit steht er Bullinger auch in Bezug auf die Außenwirkung diametral gegenüber: Während dieser die Täuferverfolgung als Möglichkeit angesehen hatte, die eigene Kirche vor dem gegnerischen Vorwurf der Häresie zu befreien, befürchtete Breitinger, „by den ußlenderen, unnd der sachen berichteten bald des verfolgenns halben verschryt“ zu werden.51 Seine künftige Position lässt sich am Verlauf der Disputation mit fünfzehn Täufern im Schloss Wädenswil, in seinem ersten Amtsjahr 1613, ableiten. Auf die Frage des zuständigen Pfarrers der Täuferhochburg Horgen: „Sag an, waß weist du unehrlichs von mir und minen brüderen?“, antwortete ein Täufer: „Es ist äben kein vorbild nienen“. Man werde schon sehen, wer von ihnen beiden den größeren Zulauf habe. Ein konfessioneller Wettbewerb zwischen Vertretern der Amtskirche und Täufern wurde damit ausgerufen, in dem es um die Frömmigkeit der Gläubigen und ihrer Prediger ging: Breitinger behauptete derweil, man wolle ihr Gewissen nicht beschweren und sie schon gar nicht zum Glauben zwingen, weil „wie ihn niemand geben, also in niemand nemmen khan.“ Die Aufforderung des anwesenden Bürgermeisters, wenigstens die Predigt zu besuchen, nahm dabei eine für die Täufer kaum akzeptable Bedingung vorweg: die Verknüpfung ihrer Duldung mit dem Kirchenbesuch, ansonsten müssten sie das Land verlassen.52 Im Abschied der vier evangelischen Städte 1616 sollte die Galeerenstrafe für die Täufer abgeschafft und die Todesstrafe auf politische ,Aufwiegler‘ beschränkt werden, wobei hartnäckigen Täufern lebenslängliche Strafen drohten.53 Das obrig-
48 Ebd., 192 f. 49 Das ,Bedenken‘ zitieren Leu, letzte Verfolgungswelle, 203 f. und von Grebel, Breitinger, 43. 50 Die Kindertaufe sei zu Beginn der Reformation zudem noch für frei gehalten worden, auch habe Christus kein gewisses Alter für die Taufe empfohlen. vgl. von Grebel, Breitinger, 43. 51 Zit. nach Botschi-Mauz, Täufer, 196. 52 Das Disputationsprotokoll nach Botschi-Mauz, Täufer, 179–183. 53 Leu, letzte Verfolgungswelle, 204.
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keitliche Mandat Zürichs enthielt nun als einzige explizite Strafe die Güterkonfiskation, mit Vorbehalten im Einzelfall. Damit war die Bestrafung vom Ermessen, d. h. vom Gewissen der zuständigen Autoritätsperson abhängig. Der Umgang mit den Täufern war nun von Vogtei zu Vogtei unterschiedlich. Sie wurden in der Regel geduldet, solange sie sich unauffällig und ruhig verhielten und eine jährliche ,Täuferbuße‘ bezahlten.54 Da diese Politik alleine keine Abnahme ihrer Präsenz mit sich bringen konnte, forderte Breitinger Mittel gegen die Täufer, „daruß an der frömbde khein ergernuß entstande, sonder [...] der kilchen zuo Zürich lob und ehr by heimbschen unnd frömbden wyter erhalten möge“.55
6.
Die Zürcher Kirche im Umfeld der Rekatholisierung und des Dreißigjährigen Kriegs
Zürich sah sich gleichzeitig mit einem deutlich machtvolleren konfessionellen Gegenüber konfrontiert: In der Wahrnehmung Breitingers schien die gesamte reformierte Kirche von Maßnahmen der Gegenreformation bedroht zu sein. Außenpolitisch erschien ihm die reformierte Pfalz näher als die benachbarten katholischen Orte: Er engagierte sich 1613 auch gegen das militärische Bündnis Zürichs mit Frankreich, obwohl gerade Frankreich die bikonfessionelle Eidgenossenschaft vor endgültiger Spaltung zu bewahren half.56 Und Zürich war bereits in den frühen Verlauf des Dreißigjährigen Kriegs involviert: Zürcher Truppen waren 1621 im bündnerischen Veltin einmarschiert, das bis 1639 unter spanischer Kontrolle blieb. Die Limmatstadt pflegte traditionell enge Kontakte zur reformierten Kirche in den Drei Bünden, bildete auch einige ihrer prominenten Theologen aus.57 1620, inmitten der Hochphase der sogenannten Bündner Wirren, veröffentlichte Breitinger einen Grundtlichen Bericht ob ein Sect lenger oder minder wäre als hundert jahr, der sich mit dem katholischen Vorwurf auseinandersetzt, die Reformierte Kirche sei eine Sekte und keine solche existiere länger als hundert Jahre. Breitinger nahm darin eine massive Bedrohung der Existenz seiner Konfession wahr – betonte gleichzeitig aber, dass es grundsätzlich schon immer Sekten gab und weiter geben
54 Botschi-Mauz, Täufer, 179–183. 55 Brief an die evangelischen Stände 1616 zit. nach Botschi-Mauz, Täufer, 197. 56 Sigg, 17. Jahrhundert, 335 ff.; Henny, Selbstzeugnisse, 57; Die Rom-feindlichen und republikanischen Niederlande und Venedig galten als „natürliche Alliierte“, das Verhältnis zu Frankreich war komplexer. Zur Konfessionalisierung der Bündnispolitik vgl. z. B. Rindlisbacher, Protestant Cause. 57 Liniger, Heiliger Krieg, 139; Bernhard, Drei Bünden, 346 f.; u. a. auch den bekannten Bündner Pfarrer Stefan Gabriel (1570–1638); vgl. über ihn den Artikel von Lucia Walther in: Historisches Lexikon der Schweiz online.
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werde, sie seien notwendig zur ,Bewährung‘ der Seelen.58 Der Zürcher Antistes war weit davon entfernt, die naheliegenden Schlüsse daraus zu ziehen, dass alle Parteien die jeweils andere als eine Sekte bzw. als Häretiker bezeichneten – für ihn waren Papsttum und Islam nur der Beweis, dass ‚Sekten‘ eben durchaus Hunderte von Jahren existieren könnten.59 Der Status, verfolgt zu sein, galt Breitinger vielmehr als Ausweis, der wahren Kirche anzugehören – sie, die verfolgten Reformierten, würden dadurch nur gestärkt.60 Die jetzige reformierte Kirche, also die ,wahrhaften Glaubensgenossen‘, sei schon vor der Reformation im Papsttum verborgen gelegen; es habe immer Menschen gegeben, die an die ,richtige‘ Lehre geglaubt hätten: Die Bibel bezeuge, dass ein einzelner Mensch imstande sei, alleine in der Wüste zu überleben und die evangelische Kirche in sich zu tragen – dass die Kirche für Hunderte von Jahren von den Menschen missachtet werden könne und doch gleichzeitig, gewissermaßen ‚im Untergrund‘, von Gott erhalten werde.61 Angesichts der Erfolge der Rekatholisierung im Reich und des frühen Kriegsverlaufs musste sich Breitingers Überzeugung erhärten, nun stehe eine Zeit der Verfolgung bevor.62 Entscheidend geprägt wurde diese Sichtweise durch die Kirchenpolitik in den angrenzenden gemischtkonfessionellen Gebieten: Zürich, das keine direkte geografische Verbindung zu den anderen reformierten Orten besaß, musste sich in den Gemeinen Herrschaften (der Grafschaft Baden, Thurgau, Sargans und dem Rheintal) mit den Bedingungen des Friedensvertrags von 1531 arrangieren, der nach dem Zweiten Kappelerkrieg, in dem Zwingli starb, geschlossen wurde.63 Als kollektiv regierte Untertanengebiete wurden die Gemeinen Herrschaften infolge der Glaubensspaltung zu „religionspolitischen Kampfzonen um die religionspolitische Vorherrschaft in der Eidgenossenschaft“.64 Zürich betrachtete sich dabei selbst als „Mutterkirche für die ganze Ostschweiz“,65 war aber z. B. im Thurgau und Rheintal nur einer von sieben bzw. acht regierenden Orten und stand politisch jeweils einer klaren Mehrheit katholischer Orte gegenüber – trotz umgekehrt zusammengesetzter Bevölkerung. Bis um 1540 kamen auf die 30’000–40’000 Thurgauer/-innen nur 2000–3000 Katholik/-innen.66 Gemäß dem geltenden Zweiten Landfrieden durfte sich in den Gemeinen Herrschaften nur das katholische Bekenntnis weiter ausbreiten: Weder Gemeinden noch einzelne Personen durften dagegen zum
58 59 60 61 62 63 64 65 66
Breitinger, Grundtlicher Bericht, 6 f. Ebd. Ebd. S.19 f. und 47 f. Ebd., S. 52–60. Ebd., 55 f.; vgl. auch Neuhaus Matrimonial- und Kollaturstreit, 33. Hacke, Konfession und Kommunikation, 149–210. Holenstein, Konfessionalismus, 194. Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 49. Straub, Rechtsgeschichte, 90.
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Reformiertentum konvertieren, dessen Kultus und kirchliche Gebräuche auf die Praktiken festgeschrieben wurden, wie sie vor 1531 gültig gewesen waren.67 Zürich konnte die Erfolge der Gegenreformation quasi vor der eigenen Haustür mitverfolgen. Die Maßnahmen zur Rekatholisierung, die im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert etabliert wurden, entfalteten durchaus ihre Wirkung: Um 1630 betrug der Anteil an Katholikinnen und Katholiken im Thurgau bereits 15%, bis 1712 stieg diese Zahl bis zu einem Viertel an, während im Rheintal schon im 16. Jahrhundert ein großer Teil zum alten Glauben zurückgekehrt war. Auch die Verbreitung des katholischen Kultus nahm zu: Um 1627 waren nur noch 30 Kirchen evangelisch, bereits 17 Kirchen und 13 Klöster rein katholisch, und in 29 Kirchen herrschte ein Simultanverhältnis.68 Die Zürcher versuchten, die „strukturelle Benachteiligung in der politischen Praxis“ zu kompensieren, indem der Landfrieden zu den eigenen Gunsten ausgelegt und damit gleiche Rechte für die Glaubensgenossen beansprucht wurden.69 Rat und Kirche mussten ihre beschränkten Möglichkeiten nutzen, um für die dortigen Reformierten dennoch Kirchenreformen vorantreiben zu können, wobei den Dorfpfarrern, die größtenteils aus der Zürcher Geistlichkeit stammten, eine noch gewichtigere Rolle zukommen musste.70 Das Zusammenleben von Katholiken und Reformierten in den Gemeinen Herrschaften führte – wie Daniela Hacke eindrücklich beschrieben hat – zu einem „erhöhten Wettbewerb der Kirchen und zu einem größeren Wettstreit der regierenden Orte um die Seelen der Untertanen.“71
7.
Andersgläubige als Herausforderung: Die frühen Synodalreden Breitingers im Zeichen einer inneren und äußeren ,Gefährdung‘
Der konfessionelle Wettbewerb um die christlichen Gläubigen, den der zitierte Täufer in der Disputation 1613 ausrief, war für Breitinger also durchaus eine Realität. Seine kirchenpolitische Ausgangslage war eine doppelte, eine ,Gefährdung‘ konfessioneller Einheit von innen und eine von außen. Will man verstehen, wie 67 Volkland, Mehrheiten und Minderheiten, 255. 68 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 49, 55 ff. Genannt wird eine Vielzahl von Massnahmen: Drei katholische Haushalte genügten für das Recht auf die Ausübung des Kultus, weshalb z. B. die Ansiedlung von Katholik/-innen, die Verleihung von Lehen, Stellen und Ämtern oder Verdingen dazugehörten (vgl. auch Hacke, Konfession und Kommunikation, 297–396; oder Volkland, Mehrheiten und Minderheiten, 258). 69 Hacke, Konfession und Kommunikation, 167 und 184. 70 Ebd., 132–147; die Zürcher Kirchen- und Prädikantenordnung war zumindest in einigen Gemeinen Herrschaften verbindlich (genannt werden hier die Grafschaft Baden und der Thurgau), die meisten Geistlichen kamen aus Zürich: ebd., 138. Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 49. 71 Hacke, Konfession und Kommunikation, 392.
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der Kirchenvorsteher die Situation wahrnahm, sind seine halbjährlich gehaltenen, erst postum gedruckten Synodalreden72 eine besonders geeignete Quelle: Sie waren nicht für die Öffentlichkeit gedacht und greifen dort an, wo die Kirche direkten Einfluss ausüben kann – nicht nur bei der Handvoll der an der Synode anwesenden Räten, sondern vor allem bei den lokalen kirchlichen Vertretern vor Ort, den Diakonen und Pfarrern. Die über 40 Ansprachen 1613–1643, die im Folgenden erstmals umfassend ausgewertet werden, dokumentieren Breitingers Kirchenpolitik in der Praxis. Und der Umgang mit Andersgläubigen ist darin das omnipräsente Thema. In seiner ersten Synodalrede, noch vor der Hinrichtung von Landis, erläuterte Breitinger den Pfarrern ihre Aufgabe zur Sittenzucht und hielt sie an, lieber diese zu nutzen, statt immer direkt zum Vogt zu rennen. Und als hätte er die Worte im Täuferverhör, bei den Reformierten seien keine Vorbilder zu sehen, noch im Ohr, monierte er, viele Menschen würden kritisieren, dass weltliche Haushalte mittlerweile oft frommer seien als geistliche. Wenn sich das nicht ändere, „trieben mit uns ihr Gespött allerley Sectierische Menschen/ Täuffer/ Schwenkfelder/ und Libertiner/ welche keine anderen Waaffen wider uns brauchen können/ dann nur allein unseren Wandel und Leben.“73 Daraus leitete Breitinger die nun ständig wiederkehrende Forderung ab, die Pfarrer sollten ihr Amt besser ausüben, ihre Vorbildfunktion wahrnehmen. Die Konversionen in den Gemeinen Herrschaften bereiteten Breitinger größere Sorgen als die Dissidenten in der Zürcher Kirche, zu denen die Täufer zu rechnen waren. Für ihre Existenz sah er aber dieselben Ursachen. Immer wieder bekräftigte er, es habe zu allen Zeiten, bereits im Alten Testaments und bei den Aposteln ,Sectische Leuth‘ gegeben und müsse sie auch heute geben – sogar dann, wenn „wir gleich lebten wie lautere Engel“.74 Aufgabe der Kirche sei zu verhindern, dass ältere Sekten fortlebten und neue Sekten entstünden.75 Hierin liegt die Crux: Die Zürcherinnen und Zürcher waren einer quasi gottgewollten konfessionellen Konkurrenz ausgesetzt. Zum einen durch die „Secten/ die
72 Die Reden wurden in den Miscellanea Tigurina 1722–1724 von Johann Jakob Ulrich, einem dem Pietismus nahestehenden Chorherrn und Professor für Ethik und Naturrecht am Carolinum, veröffentlicht. Über die jeweils 10- bis 15-seitigen Reden Breitingers hinaus enthalten die Miscellanea Tigurina zahlreiche Schriften Breitingers und auch Bullingers – Briefe, Testamente usw. Ulrichs gut 2000 Seiten umfassende, dreibändige Edition enthält zudem eine Biografie Bullingers, außerdem die Biografien von dessen Schwiegervater Ludwig Lavater (1527–1586), des Genfer Professors Théodore Tronchin (1582–1657) und von Breitinger selbst wie auch dessen Frau Regula Thomann (1573–1634). Zentral sind also Breitingeriana und Bullingeriana, thematische Schwerpunkte aller Texte bilden „die reformierte Konfession und Kirchengeschichte, protestantische, interkonfessionelle Irenik sowie das 16. und 17. Jahrhundert“ (vgl. Henny, Selbstzeugnisse, 77, 103–106, hier: 105). 73 Breitinger, Erste Synodalrede 1613, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 1, 207 (eig. 107). 74 Breitinger, Zweite Synodalrede 1614, ebd. 216 (eig. 116). 75 Ebd., 218 (eig. 118).
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wir in der Schos haben [...] wir sehen/ daß wir ihren nicht können/ wie gern wir wolten/ abkommen: Sonder wir haben sie von Gott empfangen/ zur Uebung u. Offenbarung der bewärthen.“76 Zum anderen durch die Katholiken und zwar „sind es mehr/ als wir wol meinen.“77 Nun weiß gemäß der Prädestinationslehre niemand außer Gott, wer zu den ,Auserwählten‘ gehört – auch die Pfarrer nicht. Alle Seelen zählen zur Schafherde des Herrn, und Ziel der Kirche sei, diese in den Himmel zu führen: Des HErren Schaff sind nicht alle in deiner und meiner Gemeind/ sie sind auch aussert denselben/ unter den Papisten/ Lutheraneren/ Täufferen/ Schwenckfelderen/ Juden/ Türcken und Heiden [...] Gleich wie der HErr unter seinen Schaffen duldet viel Böck/ also hat er auch aussert der Herd unter den Böcken viel Schaff [vgl. Mt 25,33].78
Breitinger zeigte sich sichtlich beeindruckt von der Frömmigkeit dieser ,Böcke‘. Der eigene Mangel an Vorbildern und Frömmigkeit erzeuge selbst bei den „eiferigen Schäfflenen“ Hunger: „Diesen Hunger unserer vertrauten Herd wüssen aus der Saat zubrauchen [...] Widertäuffer und Päpstler: Jene mit äusserlicher Einfalt und Schein der Unschuld: Diese mit ihren strengen Örden und ansehenlichen Gottesdiensten“.79 Was die Täufer äußerlich vorlebten, sei, was die Kirchgenossen gerne bei sich selbst sähen.80 Viele fromme, verständige Leute würden den Reformierten erwidern, sie wollten den Täufern nicht recht geben, sie wüssten, dass diese ,Ketzköpfe‘ irrten, doch möchten sie gleichwohl, dass sie ,tun‘, sprich: leben könnten wie die Täufer. Die Katholiken hätten dafür die Jesuiter und Kapuziner, die für ihre Gelehrtheit und ihren strengen Wandel so geachtet seien, dass sie damit noch ihre versoffensten und ärgerlichsten Pfaffen kompensieren könnten: „Was aber wir die Leut ärgeren auf unserer Seiten/ wer ersetzt/ wer heilet dasselbig?“81
8.
Die Erfolge der Gegenreformation als Anlass zu Kirchenreformen
Immer wieder zog der Antistes in seinen Reden Vergleiche zur Reformationszeit, als die katholischen Geistlichen überall verhasst gewesen seien: „Was ihrer waren für gelehrte Leut/ die traten auf unsere Seyten“. Mittlerweile hätten diese aber selbst viele Gelehrte, die „in Sprachen/ in Philosophia/ in Historien und alten Vätteren 76 77 78 79 80 81
Breitinger, Sechste Synodalrede 1616, ebd., 139. Ebd. Breitinger, Siebte Synodalrede 1617, ebd., 134. Breitinger, Dritte Synodalrede 1615, in ebd., 110. Ebd., 111. Breitinger, Neunte Synodalrede 1618, 136.
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excelliren“. In „alten Irrthumen und greuelicher Abgötterey nicht eines Hars besser“, wüssten sie ihrem Glauben eine ,Farbe‘ zu geben, dass „Leut/ die für verständig gehalten werden/ sich nicht scheuen zubekennen/ es nehme sie wunder/ wann jetziger Zeit widerkäme Zwinglius/ Calvinus/ und andere/ und hörten wie man auf ihre Gründ antwort/ ob sie ächt noch gesinnet wären zu reformiren.“82 Auch die Katholiken würden mittlerweile einsehen, dass ein ,ärgerliches Leben der Lehrer‘ ein Anzeichen falscher Lehre sei. Seine eigenen Synodalakten bezeugten, dass kaum eine Konversion in den Gemeinen Herrschaften nicht mit dem „Predicanten vertrunken ärgerlichs Leben“ und der „strenge[n] Disciplin der Geistlichen im Papstthum“ begründet werde.83 So lobte er zwar den „Aufwachs“, die Ausbildung der eigenen Seelsorger im Zürcher Collegium Carolinum, doch der Erfolg lasse bisweilen zu wünschen übrig; sie müssten noch immer unfähige Leute zum Kirchendienst zulassen, die ihre Konfession ein Leben lang nur „einfältig verstehen werden können/ geschweige dieselbige verthädigen.“84 Hieraus resultiert die Befürchtung, dass die Gegenreformation im wahrsten Sinne des Wortes stattfände. So pedantisch Breitingers theologische Auffassungen retrospektiv erscheinen mögen, so pragmatisch wirkt die Analyse innerhalb seines Weltbildes. In den vergangenen hundert Jahren seien die strittigen „Religions-Puncten zwischen uns und den Päpstischen/ wie auch anderen Sectischen Partheyen/ so überflüssig erörteret/ durch offnen Druck alle Welt mit allerhand Bücheren überführt“ worden, dass kein Mensch so alt werden könne, all diese Werke nur zu lesen, geschweige denn, die Argumente zu behalten.85 Auch Menschen mit großem Religionswissen hätten ihre Zweifel, so dass sie von Herzen wünschen zuwüssen/ welche Parthey doch recht habe oder nicht [...]. Disere Leut werden zu ihrer Schwachheit mächtig gefürderet/ durch unserer Kirchen grosse Freyheit. Man darff bey uns feil haben/ kauffen und lesen Bücher von allerley Religionen/ wir können es nicht wehren. Unsere frommen Forderen hand sich dessen in offnem Truck gerümt und es an unser Widerpart geschulten/ als ein Tyrannei/ und als ein Zeichen/ daß sie ihrer Sach nicht trauen: Da hergegen unsere Gründ so vest/ daß man sich vor ihren Bücheren nicht zubesorgen/ und da wir unserem Volk eins und ander Buch wehren wolten/ so war ihnen erst angehullfen.86
82 83 84 85 86
Breitinger, Sechste Synodalrede 1616, in ebd., 140. Breitinger, Dritte Synodalrede 1615, in ebd., 111. Breitinger, Neunte Synodalrede 1618, in ebd., 137. Breitinger, sechste Synodalrede 1616, in ebd., 133. Ebd., 138 f.
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Würde ein Pfarrer auf der Kanzel davor warnen, ein fremdes Buch zu kaufen, würde „ehe die Predig auß wäre [...] ein jeder eins haben wollen.“87 Breitinger anerkannte also, dass die Verbreitung von anderen Glaubensmeinungen nicht wirklich aufgehalten werden konnte. Die Kirche musste in ihrer gefestigten Überzeugung, selbst im Recht zu sein, anderweitig gewährleisten, die Menschen an das in ihren Augen Richtige glauben zu lassen und dabei der gleichzeitigen Ausbreitung von Andersgläubigen unter dem eigenen Kirchenvolk sowie den Erfolgen der Gegenreformation beikommen. Die Lösung lag für Breitinger nicht in der Lehre: Ihre Konfession sei so rein und wohl gegründet, da sei der „Secten Schein/ und des Bapstthumbs-Macht/ so groß als sie wollen/ die Warheit bleibt unüberwindlich.“ Es war die Kirche selbst: „Begegne dem gemeinen Volk für anreytens was es wolle/ wann sie nur geschickte und fromme Lehrer haben/ welche mit dem Wandel der Lehr Zeugnuß geben/ so mögen sie alles überstehen.“88 Auch die gelehrtesten Konvertiten wie der Markgraf von Baden würden das ungebührliche Leben und nicht die unrechte Lehre der Reformierten als Anlass für ihre Konversion nennen. Und wenn die Frömmigkeit der Pfarrer auf die Bevölkerung übergehe, wirke sie wie ein Schild: Beispiele von Kaiser Trajan bis zu Ludwig XII. zeigten, dass Christen verschont würden, wenn sie ein ordentliches Leben geführt und gebetet, sich besonders fromm gezeigt hätten.89
9.
Die Schlüsselfunktion der Pfarrer im Kontext der konfessionellen Bedrohungslage
Breitingers weitreichende Kirchenreformen müssen auf der Folie dieser Analyse verstanden werden: Die für die Konfessionalisierung typische Zentralisierung der Kirchenbehörden, die Vereinheitlichung der Glaubenspraxis, die Kontrolle der kirchlichen Institutionen und ihrer Repräsentanten90 wurden von ihm mit einer konfessionellen Bedrohungslage begründet. Der kirchliche Einflussbereich, von der Kirchenordnung bis zum Gesang oder zur Leichenpredigt, sollte auf dem von der Zürcher Kirche beanspruchten Gebiet für alle Seelen wirksam sein.91 Ein Fokus bildete die Qualitätssicherung des Personals: Der selbst als begnadeter Prediger geltende Antistes verordnete z. B., dass die Landpfarrer während ihrer Anwesenheit an den Synodalsitzungen in den vier Zürcher Stadtkirchen ihr Können zeigten, er förderte die Ausbildung und bessere Entlohnung der Pfarrer, er 87 88 89 90 91
Ebd., 139. Breitinger, sechste Synodalrede 1616, in 141. Breitinger, neunte Synodalrede 1618, ebd., 133 ff. Vgl. Schmidt, Konfessionalisierung; Pfister, Konfessionalisierung und populäre Glaubenspraxis. Vgl. Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 100 f.
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verlangte die Evaluation ihrer Tätigkeiten durch Kirchenvisitationen, die allmählich routinemäßig formalisiert wurden und deren Protokolle ab 1639 an den Examinatorenkonvent in Zürich geschickt wurden.92 Selbst übernahm er auf Wunsch von Bürgermeister Rahn die Nachtpredigt, da am Markttag frühmorgens auch Besucherinnen und Besucher aus katholischen Orten in die Kirche kämen.93 Wie die Synodalakten und die Korrespondenz gemäß Leo Neuhaus‘ Analyse zeigten, ging die Kirchenleitung streng gegen fehlbare Pfarrer vor.94 Und sie erhöhte ihren Einfluss auf die Pfarrerwahl – auch dort, wo der Zürcher Rat das Patronatsrecht (Kollatur), das Recht zur Besetzung der Pfarrerstellen, nicht selbst besaß.95 Mit den erweiterten Befugnissen des Examinatoriums, das die Kandidaten vorschlagen konnte, habe Breitinger de facto die Ausschaltung des Rats „im wohl wichtigsten Punkt der staatlichen Vormundschaft der Kirche“ erreicht, auch wurden die Dekane nicht mehr von den Kapiteln, sondern von der Synode gewählt.96 Eine besonders wichtige Rolle spielte diese angestrebte „Gleichförmigkeit“ wie auch die Einflussnahme auf die Pfarrer in den Gemeinen Herrschaften. Da der Zweite Kappeler Landfrieden der fünf Orte mit Zürich vom 20. November 1531 theoretisch keine Neuerung des Kultus zuließ, waren die Landpfarrer umso essentieller, um auf das Seelenheil der Glaubensgenossen einwirken zu können.97 Zwar wurde erreicht, dass die dortigen Seelsorger zunehmend in Zürich ausgebildet wurden, fast alle waren auch Mitglieder der Synode.98 Doch offenbar war die Gewährleistung von geeignetem Personal genau in diesen konfessionell umkämpften Gebieten besonders schwierig. Auf die unbeliebten Stellen wurden gewöhnlich die
92 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 100 f.; Von Grebel, Breitinger, 16 ff., 25, 29 ff. Die Forderung nach Kirchenvisitationen reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück, doch „fehlen bis 1610 nähere Angaben über den Umfang und die Form der Visitationen.“ Hacke, Konfession und Kommunikation, 139. Die Visitationsprotokolle in STAZH E II 112–209. 93 Von Grebel, Breitinger 26. 94 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 42. 95 Infolge der Reformation sicherte sich der Zürcher Rat zahlreiche Kollaturen, musste die Stellenbesetzungskompetenz Dritter, zum Teil auch katholischer Patronatsinhaber, aber respektieren (vgl. Patronatsrecht, Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009623/ 2009-11-24/). 96 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 108. Der Rat sollte in geheimer Abstimmung von denen, welche das Examinatorium vorgeschlagen hatte, zwei bis drei Kandidaten auswählen. Um zu unterbinden, dass andere Pfarrer mit dem offiziellen Kandidaten in Konkurrenz traten, mussten diese unter Eidesstatt geloben, das „Pfrundlaufen“ zu unterlassen. Weiter wurde das Verleihen von Empfehlungsbriefen an Pfarrer untersagt. Der Kollator hatte die Wahl folglich nur noch zu ratifizieren. 97 Die Rolle der Pfarrer im „Wettstreit um die Gläubigen“ in den Gemeinen Herrschaften ausführlich bei Hacke, Konfession und Kommunikation, u. a. 270–275. 98 Volkland, Reformiert sein ,unter‘ Katholiken 173; Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 49 und 97; Hacke, Konfession und Kommunikation, 138 f.
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frisch ordinierten Pfarrer geschickt, die meist nur kurz blieben, weil der Dienst strenger und das Einkommen kleiner gewesen sei als in Zürich.99 Da in der Regel ein Überangebot an Pfarrern herrschte, nahmen die Inhaber des Rechts, eine geistliche Stelle zu besetzen, oftmals den billigsten Kandidaten.100 Kompliziert war eine eigenständige evangelische Kirchenpraxis besonders in Gemeinden mit einem katholischen Kollator oder Landesherrn.101 Durch das Pfarrwahlrecht konnten z. B. der Abt von St. Gallen oder der Fürstabt von Einsiedeln in ihren Gerichten nicht nur den Kandidaten bestimmen, dieser musste dem katholischen Prälaten auch den Amtseid schwören. Die Kollatoren brauchten die Pfarrer theoretisch weder in Zürich zu präsentieren noch solche zu wählen, die dort examiniert worden waren.102 So setzte Breitinger bei den Pfarrern an: In den Reden warf er ihnen Mal für Mal vor, zu viele von ihnen würden zu oft im Wirtshaus sitzen, fluchen, die Haushalte schlecht führen, ihre Predigten seien zu wenig mitreißend, sie würden dem Volk zu wenig Respekt erweisen, es fehle an Tugenden wie Nächstenliebe, Sittlichkeit, Lauterkeit, vor allem aber an der Übereinstimmung ihres Lebens mit dem biblischen Wort, der Lehre. Über den rhetorischen Zweck solcher Aussagen hinaus103 gab er ihnen auch praktische Instrumente an die Hand, beispielsweise einen argumentativen Leitfaden, wie sie ihre Legitimität in Diskussionen mit Kritikern im Volk begründen können – etwa wenn argumentiert würde, an anderen Orten würden Pfarrer von der Gemeinde selbst gewählt oder wenn ihnen vorgeworfen wurde, ihre Wahl sei illegitim oder nur durch Begünstigung erreicht worden.104 Zudem sollten sie sich homiletisch weiterbilden, ihre Predigt solle verständlich und angenehm, rhetorisch geschickt verpackt und nicht zu lange sein. Ein guter Pfarrer habe bereits auf der Kanzel den nächsten Entwurf erdacht, könne diesen dann im Verlauf der Woche anpassen, ändern und verbessern; so, wie dies auch gute Maler täten. Sie würden das Publikum ermüden, wenn sie immer dasselbe erzählten. Und sie sollen nicht nur die Bibel, Historien oder auch antike Philosophen lesen, sondern die Bücher der anderen Religionen, der Jesuiten, Lutheraner, Täufer, Juden, Muslime: „Und aus diesen allen ist allwegen etwas zufinden/ das mit Nutz kan anzogen werden in unseren Predigen.“ Ohne die weiterbildende Lektüre müsse „in
99 100 101 102
Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 83. Ebd., 87. Volkland, Konfessionelle Grenzen, 374; Hacke, Konfession und Kommunikation, 125–132. Die Gemeinde hatte ein Beschwerderecht beim Landvogt (Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 75 ff.). 103 Natürlich wird Breitinger – der jeweils einräumt, seine Kritik würde nicht alle betreffen – übertrieben haben, auch wenn die Synodalakten zum Teil spektakuläre Missstände (Prügeleien, Trinkexzesse usw.) darlegen (Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 86–88). 104 Vgl. Breitinger, Fünfte Synodalrede 1616, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 1.
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täglichen Gesprächen [...] offt ein Lehrer schamroth werden vor den Weltlichen/ die es ihm an Erfahrenheit und Wissenheit vorthun; die Widerpart überkommt den Preiß/ und er die Verachtung. [...] Hätten wir etwann auch gelesen/ so freuete uns zu antworten.“105 Die Pfarrer, die sich fast an jeder Synode über Täufer, deren Zunahme und Verhalten sowie das fehlende Eintreten der Obrigkeit beklagten,106 wurden also in der Debatte mit Andersgläubigen geschult. Wie Urs Leu errechnet hat, sind alleine zwischen 1613 und 1629 dreizehn Dissertationen zu Täuferthemen erschienen: Im Anschluss an die Synode fanden Disputationen dazu statt, wobei gelegentlich auch Opponenten auftraten, die die Gegenseite vertreten mussten. Breitinger ermahnte in den Reden, nach außen Einigkeit zu demonstrieren, statt sich gegenseitig schlechtzumachen: „Wo ist jemalen erhört/ daß ein Capuciner/ ein Jesuiter den anderen bey ihrem gemeinen Volck verkleineret habe?“107 Auch appellierte er mehrmals eindringlich, Katholiken und Täufer nicht öffentlich zu beleidigen. Fromme Gemüter hörten nicht gerne, dass man sie zornig sehe – sie bräuchten nichts weiter als „die einfalte Wahrheit und rechtschaffene Gründ“.108 Nebst dem „Wandel“ oder einer „klaren Ordnung in der Lehre“ brauche es „auserlesene und dienstliche Worte“ und „Bescheidenheit“: es seye zuthun/ daß wir widerfechtind das Pabstthum/ oder die Lutheraner/ oder die Widertäuffer/ oder [...] andere Sect. Enthaltet euch vor schänden und lästeren/ auf daß fürgetragen werde die lautere Wahrheit recht urchen [rein, lauter, Anm. d. Verf.] / und wir uns versehen könnind/ durch förmlich unseren Dienst werde ihm zuwürcken gefallen lassen der Heil. Geist.109
Über den Kirchenbesuch hinaus forderte Breitinger also den direkten ,Zugang‘ zur Seele, um diese überzeugen zu können – auch wenn er im Falle seines eigenen Wundarztes Johann Jakob Ammann die eigene Minimalforderung torpedierte. In einem milden Gutachten zu dem seit 1624 aktenkundigen Spiritualisten akzeptierte er nämlich dessen Verweigerung des Kirchenbesuchs: Ammann übe ja keine priesterlichen Tätigkeiten aus; wenn man die Kirche reinhalten wolle, entstehe noch viel Böseres.110 Die Alternative zur Verfolgungspolitik seiner Vorgänger im
105 Breitinger, Achte Synodalrede 1618 (Ihr Motto lautet: „Halt an mit Lesen!“ (d. h., fahre fort mit Lesen!), in: Miscellanea Tigurina, Bd. 1, 142, 147 f. 106 Leu, Letzte Verfolgungswelle, 204–212. 107 Breitinger, 17. Synodalrede 1624, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 500. 108 Breitinger, 18. Synodalrede 1625, ebd., 512. 109 Breitinger, 21. Synodalrede 1628, ebd., 638. 110 Johann Jakob Ammann (1586–1685) fand, dass die Bibel keiner Auslegung bedürfe – er habe ja Jesus im Herzen. Breitinger schrieb, Ammann halte ja keine Zusammenkünfte, predige und taufe
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Reformationsjahrhundert beschränkte sich gerade nicht nur auf den ,Wandel‘ der Pfarrer, darauf, selbst nur den Schein von Frömmigkeit zu wahren – also das zu tun, was er den konfessionellen Kontrahenten vorwarf. Es ging ihm um einen verinnerlichten Glauben.
10.
Religiöse Volksbildung und Sozialreformen als Abwehrmaßnahme
Ab 1618 wurden der Kriegsverlauf und die Bedrohung der Reformierten ein zentrales Thema der Synodalreden; dazu kamen die Gewissheit und Angst, dass die „allgemeine Heimsuchung und Verfolgung“ sie selbst treffen werde.111 Als „Mutterkirche“ sei Zürich noch gefährdeter als die Glaubensgenossen in den Niederlanden, Frankreich oder England,112 als besonders traumatisch galt ihm die als ,vorbildlich‘ eingeschätzte Kurpfalz, die für Deutschland das gewesen sei, was „Zürich im Schweizerland“.113 Der Krieg wurde nun als ständige Drohkulisse aufgezogen, z. B. wenn Breitinger berichtete, besonders Pfarrer würden im Ausland vom Feind geschlagen und gefoltert, um gleich auf diejenigen Zürcher Seelsorger überzuleiten, denen man am Sonntag noch den Wein anspüre: „Das und dergleichen sind kundbare Ursachen/ daß im Land wiederum sich so frech herfür laßt die Täufferen/ der Atheismus/ und die Neigung zum Pabstthum.“114 Breitinger sah sich von konfessionellen Gegnern umzingelt, denn auch bei den Lutheranern sei die Meinung verbreitet, lieber würden sie „Päpstisch dann Calvinisch“. Rhetorisch fragte er die Synodenteilnehmer: „Wann es aber um die Lutheraner geschehen/ an wen werden die Papisten wenden ihr Macht alsdann weiter?“115 Sei der Krieg erst ,universal‘, würden der Kirche alle Gnadenmittel entzogen, „durch welche die liebe Wahrheit/ und anders/ nicht mag und muß gelehrt/ verthädiget und fortgepflanzt werden“: Bibliotheken, Universitäten und Schulen, Gelehrte. Dann werde Gott die Welt für eine gewisse Zeit bestrafen „mit so dicker und grausamer Finsternus/ als vor den Zeiten der Reformation je gewesen.“116 Wie viele Glaubensgenossen seien gestorben in den Drei Bünden, der Pfalz, in England usw., wie viele geflüchtet oder würden „geistlich sterben“? Hier im eigenen Kirchengebiet
111 112 113 114 115 116
nicht, schließe keine Ehen, lasse aber seine Angehörigen zur Predigt gehen. vgl. Leu, Täufermanifest, 29 f. Breitinger, 17. Synodalrede 1624, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 496. Breitinger, 9. Synodalrede 1618, ebd., Bd. 1, 132. „ein allgemeines Flucht-Haus und Muter der Teutschen/ der Franzosen/ der Niederländeren und anderer Nationen.“ (15. Synodalrede 1621, ebd., Bd. 2, 95). Breitinger, 20. Synodalrede 1626 in ebd., 543. Breitinger, 9. Synodalrede 1618, ebd., Bd. 1, 128. Breitinger, 15. Synodalrede 1623, ebd., Bd. 2, 254.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
hätten sich viele Reformierte bereits widerstandslos den Katholiken angeschlossen: „Solte erst unter solche Leuth/ und ihres gleichen/ wehen der Wind der Trübsalen und Verfolgungen? Sie fielen leichter/ als dieser jetzigen Herbstzeit von Bäumen das dürre Laub.“117 In diesem Kontext wurden Maßnahmen gefordert, die auf die direkte Stärkung des einzelnen abzielten. Darunter die „Besuchung der Krancken“ und „Versorgung der Armen“.118 Armut galt Breitinger als Ursache für mangelhafte Frömmigkeit und fehlenden Gehorsam, daher seien Arme besonders anfällig für die Konversion: „Liebe Brüder! Ich weiß die jetzige schwere Zeit/ ich kan erkennen den beschwehrlichen Ueberlauff der Soldaten/ Land-Streicheren/ und unserer eigenen Armen.“119 Die Pfarrer sollten Verzeichnisse anlegen, um zu wissen, wer Armut leide und wer Almosen empfange, dieselben trösten und mit den Obervögten und Pflegern die Versorgung sicherstellen.120 Anlässlich eines neuen Mandats zum Bettel-, Armenund Almosenwesen 1630 gab er auch hier ein Argumentarium gegen allfälligen Widerstand der Bevölkerung an die Hand: „Wie viel Seelen durch das gemeine Almosen hätten mögen gefristet werden/ da sonst viel junge verlassene Leuth kommen vom Land/ gerathen in bose Gesellschaft/ zun Täufferen/ ins Papstum/ zun Türcken.“121 Umgekehrt müsse er mitansehen, wie Familien aus Armut wegziehen, „den Hunger anderstwo zuwenden durch Verläugnung der erkanten Evangelischen Wahrheit“.122 Als entscheidende Maßnahme zur Abwehr von Konversionen und Krieg propagierte der Antistes nun die Volksbildung, die Stärkung von Glaubenswissen und -praxis. Bereits im Text von 1620, der vom Sektenvorwurf der Katholiken handelt, betonte er die Bedeutung des inneren Glaubens jedes einzelnen, von Katechisation, Lesen, Gebet. Um „Land und Leut“ zu schirmen, solle man sich mit Waffen versorgen aus Stahl und Eisen, aber um Seelen zu retten und die ,feurigen Pfeile des Bösewichts‘ zu löschen, müsse man die ,Ritterrüstung Gottes‘ (Eph 6,10–17) ergreifen: Buße tun, auf dass sich jeder „gefasset [macht] mit grundtlicher Wissenschaft wahrer Religion.“123 Und schon 1623 behauptete er, die Obrigkeit sei
117 118 119 120
Breitinger, 16. Synodalrede 1623, ebd., 262 f. Breitinger, 14. Synodalrede 1622, ebd., 106. Breitinger; 19. Synodalrede 1626, in ebd., 527; vgl. 18. Synodalrede 1625, ebd., 513–520., hier: 519. Ebd., 526 vgl. auch Von Grebel, Breitinger, 50. Die Gemeinden sollten die Almosen vermehren und Benachteiligten Arbeit an gemeinen Werken verschaffen oder sie in der Protoindustrie beschäftigen. 121 Breitinger, 23. Synodalede 1630, in ebd., 760. Zu möglichen Einwänden, es seien schon immer Bettler dagewesen, Alte hätten gesagt, wenn man Bettler verjage, sei danach kein Glück im Land gewesen, es gäbe zu viele Steuern etc., gibt er die passende Antwort vor – z. B., dass die Armensteuer durch Gott reich belohnt würde. 122 Breitinger, 21. Synodalrede 1628, in ebd., 630. 123 Breitinger, Grundtlicher Bericht, u. a. 42, 71–77, hier: 73.
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verwundert über die große Unwissenheit des Volks, forderte „der Jugend angemessener füglicher Uebung des Catechismi“.124 Zur Besänftigung Gottes wurde ein allgemeiner Dank-, Buß- Bettags eingeführt, der Kirchengesang nach Vorbild Calvins gefördert.125 Breitinger sprach von Kampfbereitschaft: Dass in der Stadt „unter fürnehmen/ wie auch gemeinen und schlechten Leuthen“ viele „unserer heiligen Christenlichen Religion rechtschaffene Geheimnussen ergreiffen fein fundamentaliter mit grosser meiner Freud und Verwunderung“, sei ein Anzeichen, dass „der gnädig Gott im Fahl der Verfolgung unsere Kirchen ehren werde mit Martyreren und Blutzeugen.“126 In diesen Kontext gehören die bisher nur partiell erforschten Volksbildungsreformen während Breitingers Amtszeit. Der in der Urversion auf Leo Jud (1482–1542) zurückgehende, mehrfach und 1609 grundlegend überarbeitete Zürcher Katechismus wurde 1634 und 1639 neu herausgegeben: Die zum Kleinen und Großen Zürcher Katechismus gehörenden Belegstellen der Bibel erschienen nun separat als „Zeugnisbuch“, das sich als populäres Lehrmittel etablierte.127 Der bereits auf die Reformationszeit zurückgehende, um 1600 herum dann offenbar stärker regulierte „Kinderbericht“, die Unterweisung von Jungen und Mädchen in Katechismus und Gebeten durch die Pfarrer, wurde nun mit Nachdruck gefordert.128 Und die mehrfache Aufforderung an die Seelsorger, sich der Landschulen anzunehmen – und diese dort, wo sie nicht selbst Schule halten, zu visitieren und taugliche Lehrpersonen sicherzustellen –, gipfelten in der Landschulordnung von 1637,129 die auch für die reformierten Gläubigen in den Gemeinen Herrschaften verbindlich war.130 Die Forschung betont eine starke Zunahme an Gründungen von Hauptund Nebenschulen auf der Zürcher Landschaft seit dem frühen 17. Jahrhundert:
124 Breitinger, 16. Synodalrede 1623 in Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 263. 125 Henny, Selbstzeugnisse, 143; Von Grebel, Breitinger, 47 f.; Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 40. 126 Breitinger, 17. Synodalrede 1624, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 499. 127 De Vincenti, Schule der Gesellschaft, 89; Strehler, Kirche und Schule, 110: In der Version von 1639 wurden die Zeugnisse in 48 Sonntagspensen eingeteilt, zudem wurde denselben einige Strophen aus Ambrosius Lobwassers Psalmen Davids vorangestellt, die den Inhalt des gelernten Pensums zusammenfassten (vgl. zu den Katechismen auch die Fußnote 9 des vorliegenden Beitrags). 128 Lose Vorgaben in der Pfarr- und Synodenordnung von 1532 und im Großen Mandat von 1550 (vgl. Campi/ Wälchli, Kirchenordnungen, 138 f., 261 f., 287 f.), klare Direktiven zu Inhalten und Durchführung dann im Mandat zum Katechismus und dem Ehe-Examen 1598 sowie im Großen Mandat 1601 (vgl. ebd. 445 ff., 460 ff.). 129 Vgl. die zusammengefassten Forschungsbeiträge bei Egger, Pisa-Studie, 23 ff. und 80 ff. Breitinger fordert die Pfarrer z. B. 1632 auf, sich der Schule anzunehmen, man werde sonst aus ihren Pfründen taugliche Schulmeister anstellen (Stauber, Landschulen, 2 f.). Die Forderung wird u. a. auch in der Pfarr- und Synodenordnung 1628 erhoben (vgl. Campi/ Wälchli, Kirchenordnungen, 677). 130 Hacke, Konfession und Kommunikation, 142 ff.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
Während die Deutschen Schulen der Stadt Zürich bereits im 16. Jahrhundert ausgebaut und reguliert wurden, beschränkten sich die Landschulen vorher auf größere Orte und Landstädte wie Winterthur, Elgg oder Kappel.131 Ein zentrales Element der Landschulen ist ebenfalls der Katechismusunterricht, doch ist sie als Ort des Lesens von Druck- und Handschrift, Schreiben und Rechnen konzipiert – und wurde vor allem auch zum Erlernen von Druckschriften genutzt.132 Die Lektüre der Bibel war Teil des religiösen Bildungsprogramms: Unter Breitinger wurde 1618 die teure Zürcher Gesamtbibel obrigkeitlich subventioniert, seine Revision des nun ebenfalls verbilligten Neuen Testaments wurde mit der besseren Lesbarkeit für das Volk begründet. 1638 erschien eine ebenfalls von der Obrigkeit finanziell unterstützte und damit erschwinglichere, von ihm überarbeitete Foliobibel in einer Auflage von rund 3000 Stück – mit Zürcher Wappen auf dem Titelblatt.133 In den Synodalreden wurde die Volksbildung auch als praktisches Mittel gegen Konversionen empfohlen. Breitinger erläuterte die Geschichte des katholischen Katechismus und bewunderte die bildungspolitischen Erfolge der Gegenreformation, deren Vertreter nichts unterlassen hätten, um „ihre Abgötterey in ihre Leuth von Jugend aufzupflanzen.“ Durch pädagogisch gut aufbereitete, mit zierlichen Figuren gestaltete und gratis verteilte Katechismen hätten die Katholiken „uns hiemit das Handwerk nicht allein abgelehrnet/ sonder thun es uns leyder! eben weit bevor.“ Während sich ein katholischer Priester nach der Reformation nicht mehr gewagt hätte, mit einem „gemeinen Handwercksmann/ der unseren Catechismum erlehrnet und begriffen hatte“, ein Religionsgespräch zu führen, sei das gemeine Volk im „Papsttum“ mittlerweile derart gut ausgebildet, „daß ihnen nicht mehr grauset/ sich mit einem aus unsern glehrtisten einzulassen/ [...] bisweilen mit eines und des anderen Predicanten geringer Ehr.“134 Die Bildungsmaßnahmen galten damit auch als eine Reaktion, sozusagen als Gegen-Gegen-Reformation. Breitinger glaubte die Kirche für den bald eintretenden Angriff zu wappnen: Was vermöge ihr „Beruff in Politischen Geschäften?“: Gute Lehre und Wandel, Predigen, Katechismusunterricht, Besuch der Schulen.135 Es raube ihm den Schlaf, wenn er sich vorstelle, was Hausväter und Kinder für „Anfechtungen werden ausstahn müssen“, so viele „ehrliche Leuth/ Weib und Mann/ edel und unedel/ junge und alte/ reiche und arme/ welche unseren heiligen Glauben mit dem Verstand ergriffen
131 Strehler, Kirche und Schule, 85; Stauber, Landschulen, 3 f. 132 Zur Schule als Ort des Lesen-Lernens wie auch der Unterscheidung von Druck- und Handschrift vgl. z. B. Messerli, Lesen und Schreiben, 290 ff., De Vincenti, Schule der Gesellschaft, 71–82; Egger, Pisa-Studie, 80–87. 133 Von Grebel, Breitinger, 34. Zu Bibelpreis und -subvention vgl. Leu, Zürcher Bibel, 161. 134 Breitinger, 20. Synodalrede 1626, in Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 534. 135 Breitinger, 21 Synodalrede 1628, ebd., 636 f.
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recht säuberlich/ und denselben von Herzten lieben.“136 Als zwischen 1625 und 1631 der Versuch misslang, den Kinderbericht auch in den umkämpften Gemeinen Herrschaften überall einzuführen und der Katechismus stattdessen in Stube und Schule gelehrt wurde, sei rasch der Vorwurf der Winkelpredigt aufgekommen.137 Breitinger forderte nun die hier zentralen Verzeichnisse mit Bildungsangaben, wie sie in der Pfarr- und Synoden-Ordnung 1628 erscheinen.138 Denn viele Pfarrer würden die Kinder demotivieren, indem sie sie zu harsch kritisierten oder nicht ankündigten, wen sie am kommenden Sonntag öffentlich examinieren wollten. Sie würden ,erschrocken, scheu, unlustig‘ reagieren und kämen mit ,Angst und Sorgen‘ in die Kirche – dabei sollten sie sich freuen und vorher üben können: „Was die Kinder also leisten/ wie wenig es auch seye/ wann nur der Will sich erzeigt/ sol man [...] sie mehr mit freundlichem Loben anreitzen/ als mit feindseligem Beschelten schamroth machen.“ Die Pfarrer sollten festhalten, was er am Sonntag gefragt habe, Hausaufgaben für nächste Wochen geben und ihre Fortschritte messen. Es gäbe „in Ansehung [...] dieser gegenwärtigen sorglichen Zeit nichts nothwendigers.“139
11.
Zuspitzung und Eskalation: Der Matrimonial- und Kollaturstreit
1629 begann mit dem kaiserlichen Restitutionsedikt eine zweijährige Phase des Kriegs, die „einem ,Heiligen Krieg‘ gegen die Protestanten nahekam“ und einen Höhepunkt der gewaltsamen Rekatholisierungspolitik im Reich bedeutete.140 Mit der Befürchtung, der Kaiser und die katholischen Orte wollten die Restitution in der Eidgenossenschaft durchsetzen, kam eine Endzeiterwartung auf, das Symptom einer reformierten Kirche in Notwehr, wie sie Breitinger in Briefen an seine Amtskollegen schilderte.141 Der darauffolgende Kriegseintritt des protestantischen Schweden 1630 hatte den Überlauf schwedischer Truppen 1633 an den Zürcher
136 Ebd., 630. 137 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 70 f. Demnach habe der Katechismusunterricht selbst Konflikte provoziert: Die Überarbeitung von 1609 habe auch Fragen zur Messe enthalten, weshalb der Kinderbericht als Ursache für Streit in den Gemeinen Herrschaften gewesen sei und bald wieder verboten wurde. Die späteren Auflagen hätten diese Fragen dann nicht mehr enthalten. 138 „Es soll ein jeder Pfarrer [...] / in ein ordenliche verzeichnuss bringen/ die namen aller hussvätteren/ kinden unnd diensten/ damit er wüsse die zahl aller vertrauwten seelen. [...] Er soll aber verzeichnen nit allein der Kinden tauffnamen/ sonder auch jhre jahr wie alt sy seyen/ item was ein jedes könne. Er soll wüssen welches kind in die Schul gange / oder gegangen seye / oder auch nicht“ (Campi/ Wälchli, Kirchenordnungen, 677). 139 Breitinger, 20. Synodalrede 1626, in Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 535–538. 140 Medick, Dreißigjähriger Krieg, 71–72 (mit Verweis auf Bireley, The Thirty Years War, 85 f.). 141 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit. 34, 47.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
Außengrenzen, durch Stein am Rhein und dem Thurgau unter Verletzung der Neutralität, und die Belagerung des kaisertreuen Konstanz zur Folge.142 Die Frage, ob Breitinger ein Bündnis Zürichs mit Schweden befürwortete, ist umstritten.143 Doch gleicht Breitingers bisheriger Aktivismus einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Denn gleichzeitig weitete sich ein lokaler Konflikt zwischen Zürich und dem St. Gallischen Fürstabt Pius Reher (1597–1654) um die Besetzung von Pfarrstellen und die Zuständigkeiten des Ehegerichts in den Gemeinen Herrschaften „zu einem sehr gefährlichen Streit“ mit den katholischen Orten der Eigenossenschaft aus.144 Im Matrimonial- und Kollaturstreit 1630–1637 kam es mehrmals fast zum Bürgerkrieg: Zürich drohte z. B. an Ostern 1631, eine vom Abt versperrte Kirche mit Gewalt zu öffnen. Beide Seiten führten Musterungen und Übungen der Miliz durch und sicherten sich bei ihren militärischen Bündnispartnern in der Eidgenossenschaft und Europa ab.145 Breitinger nutzte die Synodalreden jener Zeit gezielt, um sowohl die Pfarrer als auch die Bevölkerung in Bezug auf den Matrimonial- und Kollaturstreit zu beeinflussen. Er gab den Pfarrern noch 1629 ein hochpolitisches Argumentarium vor, wie in lokalen Diskussionen der katholischen Propaganda zur drohenden Restitution begegnet werden könne: „wann wir auf dise oder bessere Form unseren biderbe Leuth berichten/ es werde männiglich den Sachen nachdenken/ und desto williger seiner Oberkeit in disen gefährlichen Läuffen leisten den schuldigen Gehorsam.“146 1631 beklagte er, die „vorstehende Kriegs-Gefahr“, Verlust der Pfrund, Leib und Leben, die Klagen über das freche Verhalten des Volks, der Ungehorsam der Jugend, der schlechte Ernst der Obervögte, und ja, die „angehnde Verfolgung so viler biderber Leuthen im Toggenburg/ Rhynthal/ Turgäu/ brechen und wenden mir manchen Schlaaf.“ Würde die Obrigkeit an nur einem Tag acht oder vierzehn Jesuiter, Kapuziner oder Pfaffen „frey offentlich im Land wandlen/ die Leuth anreden/ geschweige auch predigen“ lassen, würden ganze Gemeinden ihre Pfarrer
142 Vgl. z. B. auch Leu, Täufermanifest, 34. 143 Vgl. Helmut Meyer: Art. „Breitinger, Johann Jakob“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS): https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010449/2002-12-18/, aufgerufen am 14. 03. 2020. 144 Ebd., 1; vgl. auch Hacke, Konfession und Kommunikation, 117. 145 Ein vom Abt eigenmächtig eingesetzter Pfarrer Altstättens wurde in Zürich festgehalten, die Gemeinde widersetzte sich dem Predigtverbot (vgl., auch zu den Bündnissen, Neuhaus, Matrimonialund Kollaturstreit, u. a. 241–257, 280–305); zu Bündnispolitik und Konfessionalisierung z. B. Holenstein, Konfessionalismus. 146 Breitinger, 22. Synodalrede 1629, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 655–658. Wenn ein Bürger von einem Landmann z. B. gefragt werde, wo das Klostergut hingekommen sei, müsse u. a. betont werden, wie viel Geld die Obrigkeit in die Ausbildung der Prädikanten, auch für zahlreiche reformierte Orte außerhalb Zürichs, oder für den Schutz ihrer Glaubensgenossen in Frankreich investiert habe, Breitinger nennt konkrete Summen für Brot, Kleider für Geflüchtete, zur Errichtung von Türmen, Mauern, Gräben etc.
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wegschicken, nur „allein der Prädicanten ärgerlich Leben/ oder ungesaltzener Predigten“ wegen, oder aus Verdruss darüber „daß sie in ihrem ganzen Dienst indiscret, freindselig und heilloß“ seien.147 Breitinger informierte die Seelsorger jeweils über die politischen Geschehnisse in den benachbarten Orten,148 doch wurden an der Synode anhaltend die eigenen Defizite als Ursachen benannt und Lösungen für die konfessionelle Bedrohungssituation erörtert. Während Breitinger bei den Landpfarrern um Unterstützung für die Obrigkeit und deren Schutz warb, ließ er umgekehrt keine Gelegenheit aus, die Räte für ihren angeblich weichen Kurs im Streit um die Gemeinen Herrschaften zu kritisieren. Für die katholische wie auch die reformierte Seite waren nicht nur die Pfarrerwahl, sondern auch das Ehegericht ein wichtiges Instrument für die Durchsetzung ihrer Interessen.149 In einem von Leo Neuhaus ausgewerteten, „demagogischen“ Vortrag vor beiden Zürcher Räten 1630 interpretierte Breitinger das Vorgehen der fünf katholischen Orte als Teil eines größeren konfessionspolitischen Plans gegen die Reformierten: Zürich müsse die Konflikte in den Gemeinen Herrschaften wie eine „vollkommene Verfolgung“ in den eigenen Landen verstehen.150 Der drohende Verlust des Einflusses auf die Pfarrerwahl und ihren Synodenbesuch, die Verbote des Unterrichts der Zürcher Katechismen, der Sittengerichte oder des reformierten Kirchengesangs in den dortigen Gemeinden liefen Breitingers eigener Politik diametral zuwider. Er berief sich auf das Beispiel Toggenburgs, wo seit Beginn des 16. Jahrhunderts Basler statt Zürcher Pfarrer von den Gemeinden bestellt wurden, wobei der Abt St. Gallens jeweils „die elendesten Lumpen aufgelesen“ habe: St. Gallen würde auch jetzt nicht nur den Besuch an der Synode in Zürich verhindern wollen, sondern dafür sorgen, dass kein fähiger Pfarrer mehr ins Rheintal käme und im Gegenzug auch kein schlechter von der Gemeinde mehr fortgeschickt werden könne.151 Breitinger drängte darauf, die Pfarrer einfach einzusetzen und die Glaubensgenossen in den Gemeinen Herrschaften weiterhin ans eigene Ehegericht
147 24. Synodalrede 1631, ebd., 769, 773. 148 Ebd., vgl. u. a. auch 23. Synodalrede 1630. 149 Vordergründig ging es um die unterschiedlichen Bestimmungen bezüglich Scheidung und Ehehindernissen (u. a. nähere Verwandtschaftsgrade) sowie um die Zuständigkeit der Gerichte. Die katholischen Orte unterstützten das Begehren eines Abgeordneten des Bischofs von Konstanz von 1630, dass auch die Matrimonial- und Ehesachen der Reformierten im Thurgau und Rheintal an das bischöfliche Chorgericht in Konstanz gehören würden (vgl. Hacke, Konfession und Kommunikation, 133 f.). Offenbar nutzte das katholische Konsistorium das Chorgericht z. T. gezielt, um Reformierte zur Konversion zu bewegen (Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 66–68). Viele Pfarrer nahmen sich zudem selbst der Ehesachen an, bezogen dafür Sitzungsgelder und behaupteten vor dem Zürcher Ehegericht ihr Unwissen über zu nahe Verwandtschaftsgrade. 150 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 306–311, hier: 306. (zit. nach: STAZH E II 102, Propositiones Publicae, 1134). 151 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, S. 308.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
zu holen. Im Januar 1632 warnte er die Räte: Die einfachen Leute befürchteten, die Obrigkeit handle nur widerwillig und jegliche Kompromisse seien gefährlich. Würde die Pfarrerwahl z. B. auf andere Städte ausgedehnt, brächten Berner und Basler eigene Kirchenordnungen oder Katechismusbücher mit, was die Katholiken nur darin bestärke, bei den Reformierten sei nichts beständig und gewiss, wie es in Graubünden auch der Fall gewesen sei.152 In seinen Versuchen, Vertreter der anderen reformierten Orte der Eidgenossenschaft wie den Berner Schultheißen Franz Ludwig von Erlach (1575–1651) für sich zu gewinnen, nahm Breitinger den Bürgerkrieg bewusst in Kauf.153 Wohl nicht zuletzt beflügelt von außenpolitischen Erfolgen der schwedischen Armee, drängte Breitinger die Ratsherrn, mischte er sich in die Verhandlungen auf höchster politischer Ebene ein, beriet Rat und Bürgermeister, stellte den Zürcher Gesandten Instruktionen oder Übersichten ihrer Beweismittel für Tagsatzungen und Aussprachen zusammen, hielt Reden und nutzte seine Predigten.154 Den Antistites der anderen drei reformierten Städte warf er vor, sie würden das Ausmaß der Bedrohung nicht erkennen und sich zu wenig für den Konflikt interessieren, dem Rat wiederum, er würde Glaubensgenossen im Stich lassen – es handle sich um eine Sache Gottes, nicht eine Sache Zürichs.155 Offenbar mit einer gewissen Unterstützung der Bevölkerung begann er die ,geheimen Feinde‘ in den politischen Reihen anzuprangern.156 Als eine hochrangige Zürcher Delegation eine Aussprache wegen seiner Vorwürfe und scharfen Predigten suchte, antwortete Breitinger, er habe sich, wenn schon, dann eher zu milde ausgedrückt: In der Geschichte habe das Christentum immer am meisten unter Saboteuren gelitten, und die Untreue der Obrigkeit sei nie größer gewesen als jetzt, schaue man nach Graubünden, Ansbach, Württemberg oder Magdeburg. Teile der Obrigkeit hätten nicht verstanden, worauf sie im Münster schwörten, weshalb sie überhaupt das Schwert erhielten – dieser Konflikt betreffe die Hauptpunkte ihrer Religion.157 Der in den Verhandlungen errungene Spruch von Baden 1632 wie auch der Friedensvertrag von Elgg 1637 waren Kompromisslösungen: Die von den reformierten Orten geforderte Parität in konfessionellen Angelegenheiten war damit
152 153 154 155
Ebd., 423 f. Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 287 f. Vgl. ebd., z. B. 311 f., 335–338, 369–373, 403–410, 455 f., 520 f. Er sei sich der Stärke der Innerschweizer durchaus bewusst, auch dass gerade die Armen nicht für die Reichen kämpfen möchten, dass sie, die Geistlichen, selbst am meisten darunter leiden würden und Leo Jud den Kappelerkrieg am Totenbett bereut und seine Mitbrüder ermahnt habe, nie zum Krieg zu raten. Ebd., 306–311. 156 Vgl. ebd., 288–292, 453 ff. 157 u. a. beide Bürger- und der Seckelmeister, der Statthalter und der Oberst (ebd., 402 ff., vgl. auch 335 ff.).
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also noch längst nicht erreicht.158 Bezüglich der Pfarrerwahl ließ der Spruch von Baden z. B. die Herkunftsstadt der Kandidaten offen und verlieh dem Abt von St. Gallen die Kollatur.159 Ein Artikel bestimmte u. a. die geforderten Fähigkeiten der Pfarrer genauer und erließ den Gläubigen den Pfarrzwang, wodurch sie frei in die nächstgelegene Kirche zur Predigt gehen und die Sakramente empfangen konnten. Dies erkaufte sich die Limmatstadt mit dem Verzicht darauf, unter Umgehung der regierenden Orte direkt mit den Kollatoren Verträge schließen zu können und mit der Anerkennung des Landvogts als erster Instanz in Religionssachen.160 Der Vertrag von Elgg verwies wiederum auf ein gewisses Recht Zürichs, im Namen der reformierten Untertanen mit Prälaten und Gerichtsherrn verhandeln zu können.161 Der Rat und die Kirche Zürichs gingen davon aus, die Vereinbarungen in ihrem Sinne anwenden zu können, und sie hofften bei der Besetzung der Pfarrstellen auf die Vermittlung der Kollatoren,162 auch versuchten sie kirchliche Angelegenheiten direkt mit der kirchlichen katholischen Vertretung zu lösen.163 Daniela Hacke beschreibt die aus den verschiedenen Verträgen und ihren unterschiedlichen Auslegungen resultierende „ religiöse Koexistenz in der Praxis“ – samt ihren Konflikten: Zürich gelang es mittels einer geschickt eingesetzten „horizontalen politischen Kommunikation“ (mit den katholischen Orten) und „vertikaler Kommunikation“ (u. a. mit den Landvögten und Pfarrern), eigene Interessen in Umgehung des Mehrheitsprinzips durchzusetzen.164 Breitinger hat die Räte noch 1640 daran erinnert, wie ihre Standhaftigkeit zu mehr Einfluss auf die Glaubensgenossen in den Gemeinen Herrschaften geführt habe als Zürich seit der Reformation besessen habe.165 Gleichzeitig zeugt eine Schrift desselben Jahres über das Verhältnis zwischen Reformierten und Katholiken davon, dass die Lage nachhaltig als bedrohlich interpretiert wurde.166
158 Das Mehrheitsprinzip fand im Dritten Landfrieden 1656 Bestätigung, blieb auch da „ein verbindlicher rhetorischer Referenzpunkt für katholische Eidgenossen,“ bis der Vierte Landfrieden 1712 den „Grundsatz der Parität in die Gemeinen Herrschaften ein(führte).“ (Hacke, Konfession und Kommunikation, 118 f.) 159 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 12 f. (hier werden die Seitenzahlen der Dissertation neu nummeriert, eig. 583), vgl. zum Spruch von Baden und dem Vertrag von Elgg auch Volkland, Konfessionelle Grenzen, 374. 160 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 17 (eigentlich 588). 161 Ebd., 148 (eig. 718). 162 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 565. 163 Hacke, Konfession und Kommunikation, 99–118, 285–290. 164 Hacke, Konfession und Kommunikation, u. a. 167–194, 487–492. 165 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit Ebd., 566. 166 Vgl. Breitinger, reformiert-catholische Glaub.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
12.
Selbstverständnis der Verteidigung: Die Sorge um Außenwirkung
Die Durchsetzung der Seelenbeschreibungen, Hausvisitationen und Bildungsreformen fällt nicht zufällig just in diese Zeit der politischen Eskalation konfessioneller Konflikte: Wo der Rat die Seelen mit Waffen schützen sollte, setzte die Kirche auf Vertiefung der Frömmigkeit und des konfessionellen Wissens. Als der Abt von St. Gallen einen Berner Pfarrer in Altstätten einsetzte, mahnte Breitinger diesen, regelmäßig Bericht zu geben und die Kinderlehre entgegen dem Verbot weiterzuhalten.167 Die Kirche sah sich in ihrem Selbstverständnis in der Defensive. Vor diesem Hintergrund sind auch die kirchlichen Bemühungen zu verstehen, reformatorisches Wissen zu festigen. Breitinger hinterließ als Gründer des Antistialarchivs einen Denkzettel an die Adresse seiner Amtsnachfolger, in dem er sie ermahnte, Schriftgut zu bewahren und zu vermehren.168 Und infolge des Abtransports der Heidelberger Bibliotheca Palatina durch die katholische Liga nach Rom 1622 setzte er sich für die Einrichtung der ersten Stadtbibliothek Zürichs von 1629 ein.169 Heinrich Ulrich (1575–1630), Mitbegründer der Bürgerbibliothek, beschrieb sie als „Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln“: Ihr Wappen zierte die Devise ,Arte et Marte‘ und zeigte ein geöffnetes Buch vor gekreuzten Schwertern.170 Die paradox wirkende Kombination von Bildungsmaßnahmen und Kriegsrhetorik wurde von einer fast schon obsessiven Sorge um die Außenwirkung der eigenen Kirche begleitet. Denn die Reformierten waren tatsächlich dem Vorwurf der Unbeständigkeit ausgesetzt: Der St. Gallische Abt Pius meinte im Umfeld der Verhandlungen in Baden exemplarisch, es sei gefährlich, die reformierte Religion als das Glaubensbekenntnis der Stadt Zürich zu definieren. Denn Zürich sei vor hundert Jahren katholisch gewesen, dann zwinglianisch, jetzt calvinistisch, habe gleichzeitig bereits so viele Täufer in- und außerhalb der Stadt, dass die Gemeinen Herrschaften alle Schwankungen mitmachen müssten.171 Breitinger, der sich der Präsenz von Andersgläubigen auf dem eigenen Gebiet bewusst war und vor dem Versuch warnte, diese Situation gewaltsam zu ändern, argumentierte immer damit, der konfessionellen Gegenseite ja keine Argumente liefern zu wollen. Im Konflikt um das Eherecht äußerte er selbst Bedenken über die reformierte Dispensationspraxis im Dritten Grad der Blutverwandtschaft und sorgte sich, die Ungleichheit in dieser Frage könnte Anstoß bei den Katholiken erregen.172 Als 1634 die neue Bürgerbibliothek in die infolge der Reformation sä-
167 168 169 170 171 172
Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 460. Henny, Selbstzeugnisse, 102 f. Scheidegger, Buchgeschenke, 470. Henny, Selbstzeugnisse, 68 f.; vgl. Scheidegger, Buchgeschenke, 467. Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 542. Ebd., 102 ff., 64.
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kularisierte und als Kaufhaus genutzte Wasserkirche umzog, freute er sich über die „Abschaffung der Ergernuß der Papisten“.173 Damit erklärt er auch sein Eintreten gegen deren Inneneinrichtung, eine ausgestellte Orgel und Porträts an den ehemaligen Kirchenwänden. Die Katholiken meinten, bald werde „eine gänzliche Umwendung zu ihrer Abgötterey erfolgen,“ was wiederum den Untergang des Protestantismus nach sich ziehen könne.174 Dasselbe befürchtete er bei der Einführung des Kirchengesangs: Zur Beschränkung auf das Psalmensingen ohne Orgel nach dem Vorbild Calvins meinte Breitinger, die Innerschweizer würden sonst erzählen, in Zürich werde der alte Glaube wieder eingeführt.175 Das Bedürfnis nach Schärfung des eigenen konfessionellen Profils und nach Distinktion erklärt sich nicht nur durch den Wunsch, sich von den Katholiken abzugrenzen, sondern ist gleichzeitig auch Bestandteil der geforderten Vorbildfunktion gegenüber den Täufern. Als Breitinger den Pfarrern in den Synodalreden z. B. riet, auch Texte der Antike zu lesen, fügte er einschränkend hinzu, es sei aber ,ungereimt‘, wenn von einer reformierten Kanzel „so viel gehört sol werden von Aristoteles/ als vom Mose/ vom Homero so viel/ als vom H. Propheten und Poeten David [...] von Alexander dem Grossen so viel wie von Josia, von Seneca so viel wie von Paulo“. Gerade katholische Predigten würden mehr nach philosophischer Schule denn nach der Bibel schmecken. So habe ein Täufer Breitingers eigene Predigen deswegen kritisiert, „er habe mithin gehört ein Heidnisch Mährlein“.176
13.
Die Leitlinien Breitingers in der Praxis: Die Täuferverfolgung ab 1635
In den Verhandlungen mit den katholischen Orten forderte Zürich Religionsfreiheit für die Glaubensgenossen und argumentierte auch dementsprechend: Juden in Rheineck und sogar in Rom seien freier als die reformierten Untertanen in den Gemeinen Herrschaften.177 Diese Forderung nach religiöser Toleranz als ein Bemühen, auf die eigenen Gläubigen auch dort einzuwirken, wo die Konfession nicht staatlich geschützt war, kennen wir aus dem Reformationsjahrhundert: Und wie im 16. Jahrhundert, als die Reformierten non-konforme Dissidenten wie Michel Servet oder Valentino Gentile selbst verfolgten und damit Glaubensflüchtlinge zu
173 Vgl. Henny, Selbstzeugnisse, 87. Breitinger, Schrift an den Rat 1643, zit. nach Rütsche, Kunstkammer, 162, Fn. 166. 174 Zit. nach Rütsche, Kunstkammer, 142. Ihre Häuser könnten sie aber mit „Kunststücken Eures Gefallens [zieren]. Dulden wir doch die Bildnisse des Mahomets, des Pabsts, der Türken.“ 175 Von Grebel, Breitinger, 26. 176 Breitinger, Achte Synodalrede 1618, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 151. 177 Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 94 f.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
Protesten provozierten,178 wurden auch Breitingers Leitlinien innenpolitisch auf die Probe gestellt. Denn mit der Inhaftierung einiger Anführer wurde 1635 die ,letzte Welle‘ der Zürcher Täuferverfolgung initiiert.179 Das Sittenmandat von 1628 widmete den Täufern ein paar Zeilen, worin die bisherige Politik bekräftigt wurde: Sie seien eine irrige Sekte, und man wolle nicht, dass die „unsrigen“ andere Kirchen und Versammlungen besuchten.180 1630 schrieb Breitinger ein Bedenken über die Täufer und andere ,in Glaubenssachen Irrende‘: Er führte aus, weshalb er von Bullinger abweiche, argumentierte mit anderen reformierten Kirchen und Gelehrten, die ihrerseits für Gewissensfreiheit plädieren, lehnte selbst aber ab, dass „jedermann woellend in Glaubens-Sachen machen [...] was einem jeden gefallt“.181 Die täuferische Lehre sei dennoch „nit eine Lehr, vmb deren willen sy Gottslasterer genennt, oder verdammt werden moegend: vnd habend die Lutheraner wol vngerymtere Opinionen, die wir doch jemerdar woellen fuer Brueder halten.“182 Das vorgeschlagene Verfahren: Weil die Verführer Strafe und Prüfung Gottes seien, müsse die Kirche Buße tun über ihren Zustand. Obrigkeit und Pfarrer müssten einen vorbildlichen Wandel führen, dazu bedürfe es der Widerlegung täuferischer Lehren auf der Kanzel und im direkten Gespräch. Dabei gilt: „Zum Hoeren des [heiligen] goettlichen Worts vnd gemeinem Gebaet ist ein oberer Gewalt sine Angehoerigen zuhalten befuegt und schuldig, doch mit Fryheit des Gwuessens zu vrtheilen.“ Falls die „Irrenden nit mehr still und ruewig syn, sonder vmb sich gryffen, die Gemeind, oder einzige Personen anfaechten, abwendig vnd ihnen selbs anhaengig machen“, damit die christliche Ordnung zerrütten würden, sei die Obrigkeit für beide Gesetzestafeln verantwortlich. Mit dem Hinweis, niemanden zum Glauben zu zwingen, aber die Untertanen schützen zu wollen, schlug er Geldbußen, Haft, Ausweisung und Konfiskation der Güter vor.183 Das Vorgehen deckt sich mit Klagen der Pfarrer und Dekane über die Renitenz der Täufer. Disputationsschriften jener Zeit heißen z. B. „Gespräch zwüschen einem Vater und seinem Sohn, welcher nit mehr zu Kirchen gehen will.“184 Auch wenn die konkreten Auslöser der Täuferverfolgung nicht lückenlos aufgearbeitet sind, hängt das Einschreiten der Obrigkeit mit den anderen konfessionellen Konflikten zusammen: 1634 wurde an der Synode berichtet, die Täufer Elggs würden die gemeinen Wachten nicht wahrnehmen, 1635 verweigerte ein zu den Täufern
178 Vgl. dazu die Beiträge im Sammelband Sebastian Castellio – Dissidenz und Toleranz, hg. von Barbara Mahlmann-Bauer. 179 Scheidegger, Reformierte und Täufer, 341; Leu, Täufermandat, 34–42. 180 Vgl. Pfister, Auswanderung, 248. 181 Breitinger, Bedenken 1630, zit. nach Leu, Letzte Verfolgungswelle, 213 f. 182 Ebd. 213 f. 183 Ebd.; vgl. auch Scheidegger 2015, 348. 184 Leu, Letzte Verfolgungswelle, 212.
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konvertierter Amtsfähnrich in Knonau den Kriegsdienst.185 Dabei liegt die Kirchgemeinde um die Kleinstadt Elgg an der Grenze zum Thurgau – sie verlor noch Ende des 16. Jahrhunderts mehrere rekatholisierte Dörfer und fungierte durch die 1622 errichtete Hochwacht auf dem Schauenberg als wichtiger militärischer Außenposten186 – Knonau grenzt an das katholische Zug. Die Kriegsdienstverweigerung der pazifistischen Täufer hatte einen realen Hintergrund: Nach den erwähnten Grenzübertritten erlitten die Schweden im süddeutschen Nördlingen 1634 eine aus protestantischer Sicht verheerende Niederlage. Die Argumente der folgenden Täufergespräche wie auch der Verlauf der Eskalation können hier nur verkürzt behandelt werden. Die Fälle der Kriegsdienstverweigerung wurden an den Rat delegiert, doch kümmerten sich weltliche und kirchliche Vertreter einer Täuferkommission um die ,Sekte‘. Dass in den theologischen Punkten keine Lösung gefunden wurde, war naheliegend. Für die Analyse Breitingers ist aber auffallend, dass er im direkten Gespräch 1636 erneut die Frömmigkeit der Täufer lobte und Gemeinsamkeiten betonte: Wenn er außerhalb Zürichs, in einem anderen Land, ein Volk anträfe, das eine „solche Lehre und Glauben hätte, er möchte wohl zu ihnen stehen, er hoffete auch selig zu werden.“187 Und, wenn sie Zürich schon nicht mit Waffen verteidigen wollten, sollten sie doch wenigstens mit Gebeten Schutz für sie erbitten, zumal sie selbst fänden, „ein Land könne nur durch gottgefällige Lebensführung und Frömmigkeit wirklich beschützt werden.“188 Breitinger machte den Täufern daraufhin das Angebot, sie vom Militärdienst und Eid zu entbinden, wenn sie denn nur die Kirche besuchten.189 Natürlich ist fraglich, ob der Zürcher Rat diese Politik in der Praxis unterstützt hätte.190 Auch hatten die Täufer die Widersprüchlichkeit dieses Angebots, das höchstens auf Zeit angelegt sein konnte, selbst erkannt und warfen ihm vor, sie nach dem Gespräch ,gescholten‘ zu haben, man würde ihnen ihre Güter nehmen und sie aus dem Land schicken, sie „sollen ein Obrigkeit suchen, die uns den Glauben frey lassen“.191 So begannen die Vögte 1636, die Güter der Täufer zu inventarisieren, der
185 Vgl. Leu, Täufermandat, 33 f. 186 Vgl. z.B. Elgg, Historisches Lexikon der Schweiz (HLS): https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/000144/ 2019-11-15/. 187 Täuferschrift von 1645, zit. nach Leu, Letztere Verfolgungswelle, 218. 188 Wälchli, Einleitung, 6. 189 Leu, Täufermanifest, 35; von Grebel, Breitinger, 43. 190 War bereits Kriegsdienstverweigerung Landesverrat, galt der Eid gerade in Zürich, der Hochburg der Bundestheologie, als der Garant für den Zusammenhalt des Gemeinwesens und „wurde gewissermassen auf die Verfassung geleistet“ (Blickle, Das Alte Europa, 74). Für Bullinger wäre ein solcher Kompromiss undenkbar, quasi das Gegenteil von dessen antitäuferischer Politik gewesen. 191 Der Kirchenvorsteher habe auf die Frage, wie lange das Angebot halte, geantwortet, auf eine ,gewisse Zeit‘, in der sie entweder ihre Lehre widerlegen oder ihnen zufallen müssten. vgl. Leu, Letzte Verfolgungswelle, 203.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
Rat ließ die ,Täuferstube‘ in Ottenbach einrichten und begann ab 1639 seine „ganze Macht auszuspielen“: Die Losung ‚Kirchgang oder Auswanderung‘192 mit Entzug der Lebensgrundlage führte zu Güterkonfiskationen, Inhaftierungen, Flucht, Auswanderung, Erklärung der Ungültigkeit nicht kirchlicher Ehen, Erbunfähigkeit der Kinder. Die Haftbedingungen waren desolat, mindestens 14 Täufer sind im Gefängnis gestorben.193 In der Auffassung vieler Täufer bedeutete diese Politik also die Wahl zwischen Kirchgang oder Tod.194 Die Angst vor dem nahenden Strafgericht Gottes teilten beide, Reformierte und Täufer, und der Besuch einer falschen Kirche musste auch für die Täufer zur Befürchtung führen, sie könnten aus der Gnade fallen.195 Es zeigt sich eine Polarisierung auf beiden Seiten: Täuferaussagen bekunden die Haltung, wonach die Obrigkeit keine Kinder Gottes seien oder der Kirchgang für das Seelenheil so viel einbringe wie ein Grashalm. Eine Täuferin meinte, wenn sie vor einer Kirche vorbeiginge, werde ihr so, als müsse sie sich übergeben. Auch existierte eine Art Treuegelübde – wenn einer die Täufer verlasse, gehöre er dem Teufel.196
14.
Die öffentliche Debatte als fortwährende Sorge um Außenwirkung
Es ist anhand der gesichteten Quellen nicht ganz eindeutig zu klären, bis zu welchem Grad Breitinger das Vorgehen der Obrigkeit gutgeheißen hat. Doch stellte die Verfolgung seine eigene Politik einer Einigkeit in Bezug auf die Frömmigkeitspraxis auf die Probe. Denn die Täufer genossen Unterstützung und Sympathie in der Bevölkerung, welche die obrigkeitliche Politik mitunter spektakulär sabotierte.197 Entsprechend bemühte sich die Kirche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und um Verständnis zu werben. 1639 erschien das sogenannte Manifest, vom Geistlichen
192 Der Grundsatz war bereits in der Disputation von 1613 durch den Bürgermeister formuliert worden (vgl. Fussnote 49 in diesem Beitrag) und deckt sich mit dem von Breitinger vorgeschlagenen Vorgehen. 193 Leu, Letzte Verfolgungswelle, 221 ff., Pfister, Auswanderung, 250 f. 194 Leu, Letzte Verfolgungswelle, zit. aus der Täuferschrift 1645. 195 Leu, Täufermanifest, 36, Scheidegger, Reformierte und Täufer, 248. Dies deutet auf eine Abwendung vom Nikodemismus hin, der im 16. Jahrhundert bei Täufern noch gängige Praxis war (vgl. Egger, reformierte Täuferverfolgung). 196 Leu, Letzte Verfolgungswelle, 222; Leu, Täufermanifest, 37; Pfister, Auswanderung, 251. 197 Teile der lokalen Dorfbevölkerung versteckten die Täufer und versuchten die Gefangennahme zu verhindern. Bei einem zwangsversteigerten Hof eines Täufers im Knonauer Amt wurde kein Gebot abgegeben. Als das Gut dann von Auswärtigen gekauft wurde, randalierten Unbekannte auf dem Hof. Leu verweist auf eine „dörfliche Solidarität und Sympathie, [die] offenbar sogar städtische Kreise miteinbezog“ (vgl. Leu, Täufermanifest, 51 f.).
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Johann Kaspar Suter geschrieben und von Breitinger stark korrigiert, als obrigkeitliches Mandat (Wahrhaffter Bericht unsers des Burgermeisters, des Kleinen und Großen Raths), das auf der Landschaft verteilt wurde. Der Text, der in gedruckter Version 44 Seiten umfasst, ist eine akribische Rechtfertigungsschrift, in der die Geschehnisse minutiös geschildert und die theologischen Unterschiede erst am Schluss aufgelistet werden. Zentral ist die Betonung der Milde, der Diskussionsbereitschaft, der Gewährung langer Fristen, des Entgegenkommens, der Klage des Fernbleibens der Täufer bei ihren Treffen trotz freien Geleits, der Gesprächsverweigerung. Bei aller Polemik und trotz Drohungen verweist die öffentliche Schrift auf das Angebot, sie vom Eid zu entbinden und erkennt an, dass man „in den hauptpunckten/ daran die seligkeit gelägen deß einen sey“.198 Die Ablehnung des Kriegsdiensts und des Gehorsams rechtfertige das Vorgehen der Obrigkeit, ebenso auch die Weigerung, sich wenigstens zum „anhören des Göttlichen worts in unseren Christenlichen versammlungen [zu] begeben“ – die Täufer könnten sich jederzeit mit dem Pfarrer oder mit wem immer sie Lust hätten, über zweifelhafte Aussagen unterhalten.199 Niemand sei an die Predigt respektive deren Auslegung gebunden, sondern „wie dem frommen im hertzen bedunckt daß es gemäß seye der H[eiligen] Schrifft“: Wer wolle, der könne unter der Obrigkeit „ein stilles und rüwigs leben“ führen, wer aber die Ordnung ablehne, Trennung und Spaltung anrichte und dadurch „einfalte fromme hertzen beunruewiget“, habe keinen Platz.200 In der Folge wurde eine Debatte über religiöse Toleranz eingeleitet, die insbesondere zwischen Holland und Zürich intensiv geführt wurde. Dass sich die Niederlande in die Politik Zürichs einschalteten, hat nicht nur mit deren eigener Täufertradition zu tun: Zwar galt auch dort keine Religionsfreiheit ohne Strafsteuer und Einschränkung der Bürgerrechte, doch genossen die Holländer den Ruf, in Bezug auf Täufer vergleichsweise tolerant zu sein.201 Die reformierte Konfession wurde als einzige öffentliche Kirche anerkannt, den anderen Strömungen aber allgemeine Duldung zugestanden: Mennoniten durften nicht in Politik, Verwaltung oder Universität arbeiten, brauchten gegen eine Buße aber den Militärdienst nicht
198 Wahrhaffter Bericht, 100. 199 Die Täufer könnten darüber, „was jhnen um etwas noch dunckel/ unverständig/ zwyffelhafftig/ oder jhrer meinung zewider fürgfallen [...] ferneren bescheid zeforderen“. Auch wird eingeräumt, „daß by einem so großen volck nit müglich sey alles durchuß eben und grad zuomachen“ (Wahrhaffter Bericht, 95). 200 Wahrhaffter Bericht, 122. Der Text schließt aber mit der Drohung: Würden sie zu den Untertanen stoßen, sich vergleichen mit den Christen, die von den Heiden verfolgt wurden, nicht nur „jrrige optionen und meinungen“ verbreiten, sondern auch „eigentliche unlydenliche Gotteslästerungen/ wir wurdind auch dennmahlen dem Göttlichen Gsatz/ und den Gotteslästerern bestimmten straaffen den freyen gang laßsen.“ (ebd., 127 f.). 201 Offenbar lehnten viele Täufer die Auswanderung selbst ab (vgl. Scheidegger, Reformierte und Täufer, 346).
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
zu leisten und auch nicht zu schwören.202 Niederländische Mennoniten versuchten nun Geld nach Oetenbach zu schicken und kämpften für die Auswanderung ihrer Glaubensgenossen.203 Der Amsterdamer Rat bat die Zürcher Amtskollegen 1642, die Haftbedingungen zu lindern und sie ausreisen zu lassen, worauf der Rat antwortete, die Täufer würden immer wortbrüchig und kehrten immer wieder zurück: Sollten sie in Amsterdam bleiben und keine ,Ungelegenheiten‘ mehr machen, gäben sie ihnen auch einen Teil ihres Guts zurück.204 Die Schriften zeigen die Geschehnisse aus unterschiedlicher Perspektive und offenbaren die Unvereinbarkeit der Positionen: Ab 1643 wurden täuferische Gegendarstellungen publiziert, die Polemik überlebte Breitinger.205 In einem Brief an Godofroy Hotton 1642 – Pfarrer der wallonischen Kirche in Amsterdam, der die Zürcher für ihr Vorgehen kritisierte – sorgte sich Breitinger um Gerüchte, die sich in den Niederlanden und Belgien verbreiteten. Hier steht die Verweigerung bei der ,gewohnten Waffenmusterung‘ klar im Zentrum der Argumentation: Die Täufer hätten zudem während den Kriegsvorbereitungen gegen die Aushebung mobilisiert, inmitten der akuten Gefahr. Sofort sei die Todes- und Galeerenstrafe gefordert worden, was er bekämpft habe. Das kritisierte Vorgehen betreffe nur die „Planer der Abspaltung, Unruhestifter und nach Umsturz Begierigen“; die „einfachen Leute, die von jenen Schwätzern auf verwegene Weise umgarnt wurden“, seien anders zu behandeln.206 Möglicherweise konnte Breitinger die Kritik Hottons auch deshalb schwer nachvollziehen, weil sich seine Politik an den Holländern selbst orientiert haben könnte: nicht zuletzt dank seinen Erfahrungen als Teilnehmer der Dordrechter Synode, die nicht nur die Einheit der Reformierten Europas sicherstellen sollte, sondern eine Reaktion auf interne Gegner, die Ariminianer, war.207 Breitinger, der auf der Hinreise 1618 unter anderem Köln und das von Spanien besetzte Wesel besuchte, bezog sich in einigen Synodalreden auf die Erfahrung mit den Arminianern, auch die Einführung der Buß- und Bettage ging auf die in den Niederlanden erlebte Praxis zurück.208 Die Briefe, die er von dort an den Rat schickte, beschreiben ein Vorgehen, das demjenigen Zürichs zumindest vordergründig ähnelte: streng mit 202 Leu, Letzte Verfolgungswelle, 231 f.; Pietsch, Die junge Republik, 255. 203 Leu, Letzte Verfolgungswelle, 234 ff. 204 Der Zürcher Rat argumentierte fortan damit, man könne die niederländischen Mennoniten nicht mit ihren Täufern vergleichen, weil letztere loyal gegenüber dem Staat seien. (vgl. Leu, Letzte Verfolgungswelle, 234 ff.) 205 Vgl. die Schriften in Wälchli, Leu et al. (Hg.) Täufer und Reformierte im Disput (2010). 206 Breitinger, Brief an Godofroy Hotton, 137 ff., hier 138. Darauf schildert es das bekannte Vorgehen. 207 Pietsch, Die junge Republik, 255 ff. 208 Breitinger, Tagebuch, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 443 ff.; 9. Synodalrede 1618, Bd. 1, 122–139; 15. Synodalrede 1623, Bd. 2, 250–259; für die Bet- und Fasttage vgl. den fünften Brief von der Synode (5. März 1619), Bd. 2, 398 f.
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den Anführern, geduldig mit den Anhängern zu verfahren. Die Remonstranten, die nur für vier Wochen vorgeladen waren, um Stellung zu beziehen, dabei die Synode nicht verlassen durften, wurden in einem langwierigen Verfahren zu widerlegen versucht.209 Stellenweise klingen die Schilderungen der Dordrechter Synode aus Breitingers Optik wie später die eigenen Empfehlungen zur Täuferpolitik. So berichtete er, dass die Arminianer gefährliche Unruhen verursachten, dass weltliche Schutzherrn und geistliche Führer bestraft würden, die Reformierten aber große Geduld und Sanftmut zeigten und die gegnerische Anhängerschaft abnehme, weil die besten reformierten Prediger die Menschen überzeugten und die arminianischen Irrtümer erfolgreich widerrufen würden.210 Ca. 2000 remonstrantisch gesinnte Pfarrer wurden damals des Amts enthoben und vor die Wahl gestellt, ihre Absetzung zu unterzeichnen oder das Land zu verlassen, worauf viele das Exil wählten.211
15.
Eine ,erkaltete Kirche‘: Breitingers Reformpolitik als Kontinuum
Breitingers Sorge um die Kirchenhoheit galt nicht nur im Falle der Täufer: Als der Landgraf von Stühlingen, Maximilian von Pappenheim, 1633 das Osterfest nach lutherischer Ordnung feierte, mit Beiziehung eines Hofpredigers, und um künftige Bewilligung bat, antwortete der Antistes, der Herr genieße volle Gewissensfreiheit, so wie alle Vertriebenen auf dem Gebiete Zürichs, aber es werde kein fremder Gottesdienst gestattet.212 Gerade seine späten Aussagen zeugen von der Wahrnehmung einer konfessionellen Isolierung. In einem Briefwechsel mit dem schottischen Amtskollegen Johann Duraeus (1598–1680) beklagte sich Breitinger 1635, die Zürcher hätten sich mit den Lutheranern im Krieg solidarisiert, unzählige Schutzsuchende aufgenommen und würden von deren Theologen dennoch permanent angegriffen.213 König Gustav Adolf, den er anfangs als ,Retter des Protestantismus‘ angesehen hatte, fand 1643 Erwähnung in seinem Testament: Er wünsche die Entfernung der Porträts des Königs in der Bibliothek, weil dieser vorgehabt habe „sein angeboren Luthertum in die ganze [...] Pfalz, ja auch gar ins Schweizerland vortzusetzen.“214 Nach innen, an der Synode, verbreitete Breitinger Endzeitstim-
209 Vgl. Pietsch, Die junge Republik, 255 ff.; Breitinger, Zweiter Brief von der Synode (letzter November 1618), in: Miscellanea Tigurina, Bd. 2, 380 ff., hier 382. 210 Ebd., 381 f. Als Mittel nennt er die Einsetzung besonders guter Pfarrer (v. a. im fünften Brief, ebd., 399 f.). 211 Pietsch, Die junge Republik; Daugirdas, Kommunikationsstrategien, 78. 212 Mörikofer, Breitinger, 148 f. 213 Mörikofer, Breitinger, 145 f. 214 Zit. nach von Grebel, Breitinger, 56 f.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
mung: „Der Papst und sein Anhang [sind] nit gesinnet Friden zumachen/ ehe sie die Warheit/ die sie Häresie, ein Kätzerey namsen/ von Grund werden ausgereutet haben“, schrieb er beispielsweise 1640.215 Das jüngste Gericht nahe: Wenn alle Ungerechtigkeit Überhand genommen habe, werde Christus zurückkehren. Wenn er sich nun vor Augen führe, welch grossen hizigen und freudigen Eifers zu seinem Mahometanischen Glauben trage der Türck: Was zu seinem Papst und Päpstlichen Ceremonien für Eifer erzeige der RömischeCatholische Mann: Was ebenmässig der Widertäuffer/ der Schwenckfelder/ der Lutheraner/ [...] zu ihrem Irrthum contribuiere Gut und Blut/ und durchaus alles was in all ihrem Vermögen; So verwundere ich mich nicht ohne Betrübnus/ was doch wol die Ursach seyn möge/ daß in der Reformierten [Kirche] [...] da wir all von Kinds-Wesen auf in den Schulen/ in der Catechissierung/ in den Predigen/ im Lesen der Heil. Schrift/ unter einer Reformirten [...] Oberkeit/ den einzigen wahren Gott [...] so gar grundlich erkennen und ehren lehrnen/ dennoch bey dem grösseren Theil alles so kalt/ träg/ verdrüssig erlegen ist.216
Breitinger sah sich angesichts der Eskalation konfessioneller Konflikte in seiner eigenen Kirchenpolitik bestätigt. 1639, als die obrigkeitliche Rechtfertigungsschrift für die Täuferverfolgung erschien, fragte er die Pfarrer in Bezug auf deren Defizite: „Massen bey uns sehr gemeine Wort sind: Wil man aber an den Widertäufferen z’Ritter werden? Warum schaffet man nit ab diejenigen/ die Widertäufferey machen?“217 Er erweiterte seine Kritik an der Amtsführung der Pfarrkollegen und sein pedantisches Bemühen um Außenwirkung; tadelte u. a. ihre Leichenpredigten für Reiche,218 ihre öffentlichen Auftritte zu Pferd, das Duzen von Obrigkeiten (was sie als Diener der Menschen unterlassen sollten), fand das Einfordern eines Schreiberlohns (etwa wenn sie für Mittellose Briefe verfassten) unsittlich und nahm sogar Anstoß an ihren neumodischen Frisuren: „solche Soldaten- und Buben-Köpf; gekräußte Löcken; entwärts über die Stirnen Schlängen; Scheitlen wie ein Weib; so langs Stirnen-Haar/ daß man die Augen bedecken mag“, hätten in ihrem Heiligen Beruf nichts verloren und würden überall Ärger verursachen. Sogar der Haarschnitt galt ihm als konfessionelles Distinktionsmerkmal: er wisse „auch wohl/ daß die underschornen Bändel-Härer/ wie wir dieselbigen ererbt haben von unseren hochgelehrten gottseligen Vor-Elteren/ jetziger Zeit bey niemandem mehr in Uebung
215 216 217 218
Breitinger, 37. Rede 1640, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 3, 720. Breitinger, 34. Synodalrede 1639, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 3, 651. Breitinger, 36. Synodalrede 1639, ebd., 702. Ebd., 715.
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sind/ als allein bey den Meßmacheren und Lutheraneren.“219 Infolge des Vertrags von Elgg verwies Breitinger auf schriftliche Instruktionen an die Dekane, um dort die reformierten Interessen durchzusetzen, gab den Pfarrer selbst Anleitung, wie sie sich in den Gemeinen Herrschaften zu verhalten hätten, und kritisierte Unhöflichkeiten gegenüber katholischen Gerichtsherren, Prälaten und Gläubigen: Als studierte Leute aus der Stadt würden sie die obrigkeitlichen Verhandlungen torpedieren. Sie sollten sich ein Vorbild an den Stadtpfarrern nehmen, die sich vor jeglichen Beleidigungen von Katholiken, Täufern, Schwenckfeldern und Lutheranern hüteten und den Glauben nur mit Argumenten verteidigten.220 Käme ein Täufer auf bessere Gedanken, sei die Meinung, „daß ihn daheim in der Gmeind niemand spizle und traze“, die Pfarrer sie sanftmütig aufnähmen und in den Predigten nicht, „wann ein widerkehrter komt/ wider die Widertäuffer debacchieren/ grad als wann sie ein solches zart fundenes Schäfflein wider scheuh machen/ und aus der Herd sprengen woltind.“221 Der Antistes baute seine Reformen weiter aus. Er kündigte ein Büchlein und eine neue Kirchenordnung an, um die Vereinheitlichung der Glaubens- und Seelsorgepraxis zu gewährleisten, forderte die Pfarrer auf, selbst Collegia nach dem Vorbild der Jesuiten zu gründen, um u. a. das Disputieren zu üben und ihre Predigten gegenseitig bewerten zu lassen. Besonders von der Arbeitsteilung der Orden, dass jeder nach der eigenen Stärke gefördert würde, zeigte er sich beeindruckt.222 Wie bei den Bildungs- und Armenreformen setzte Breitinger auch in Bezug auf die erweiterten Aufgaben der Pfarrer auf Evaluation. Dass die Kirchenvisitationsprotokolle just ab 1639 an den Examinatorenkonvent geschickt wurden,223 ist kaum ein Zufall. In den Synodalreden nahm Breitinger Bezug auf diese Protokolle: Ein von den Pfarrern abgegebenes Verzeichnis ihrer Kirchenbräuche (Taufe, Abendmahl, Gottesdienst) zeige so eine große Ungleichheit, „als wann einer daheim wäre in Ost/ ein andere Gemeind aber in West-Indien.“224 Als er in einer Rede von 1641 erneut umfassend erörterte, es sei unmöglich, Sektierern „das Maul zu stopfen“, ergänzte er seine
219 Vgl. die neun Punkte Breitingers in der 35. (eig. 33.) Synodalrede 1638, ebd., 675 ff., hier: 682 f. Auch wolle er in diesen äußerlichen Dingen keine Satzungen machen. 220 Ebd., 675 f. 221 Breitinger, 36. Synodalrede 1639, in ebd., 715 (bei der 35. Rede ein Zählfehler, es folgt eine von 1638). 222 Breitinger, 38. Synodalrede 1640, in ebd., 727 f. Sie sollten sich in Gruppen von fünf bis sieben Personen zusammentun, einander vergleichen, prüfen und voneinander lernen. Die Bereiche (u. a. Sprachen, Philosophie, Astronomie, Streitigkeiten in Glaubenssachen, Geschichte usw.) werden nach Stärken und Motivation aufgeteilt (,wer ein gutes Gedächnis habe, wozu einer Lust und Eifer habe‘ usw.) (ebd., 728). 223 Hacke, Konfession und Kommunikation, 139 f. 224 Breitinger, 37. Synodalrede 1640, ebd. 719.
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übliche Argumentation anlässlich innerer Missstände mit der Bedeutung der Kirchenvisitation, dass die Dekane nun auch überprüften und verzeichneten, ob die von ihm geforderten Collegia, das Üben der Predigten und Disputieren, gehalten würden.225 Es sei unmöglich, dass andere ihre Konfession liebten, wenn sie nicht auch die Person respektierten, die sie vortrage: So könne man die fehlbaren Pfarrer an die Hand nehmen, bevor außer ihrer Entlassung nichts anderes mehr übrig bleibe.226 Weiter tauchen seit den 1630er Jahren die Protokolle der Sittengerichte – die Zürcher „Stillstandsprotokolle“ – auf, die ihrerseits aber großmehrheitlich in den Kirchgemeinden verblieben. Dass das als Ehe- und Sittengericht, aber auch als Kirchen-, Schul-, Armen- und Vormundschaftsbehörde fungierende Gemeindegreminum der „Stillständer“ – bestehend aus dem Pfarrer, Inhabern weltlicher Gemeindeämter sowie den von der Gemeinde gewählten Ehegaumern, die nach der Predigt „stillstanden“ – vielerorts nicht oder nur schlecht gehalten werde, beklagte Breitinger noch in einer Synodalrede von 1631 mit Nachdruck.227 Wie das laufende Editionsprojekt des Staatsarchivs Zürich aufzeigt, setzen die frühesten Zürcher Stillstandsprotokolle 1631 in Brütten und 1634 in Laufen ein, dann auf breiter Basis 1636/1637, was mit einem Synodalbeschluss vom Mai 1636 zusammenhänge.228 Ähnlich wie beim kirchlichen Unterricht (Kinderbericht), wurden auch die Stillstände entgegen dem Verbot in einigen Gemeinden der Gemeinen Herrschaften gehalten, was wiederum in den nach Zürich geschickten Kirchenvisitationsprotokollen rapportiert wurde.229 Als wichtigstes Evaluationsmittel seiner kriegsverhindernden Maßnahmen gelten Breitinger aber die Seelenbeschreibungen. Denn sie prüften die religiöse Bildung vor allem der Jugend, der „unschuldigst/ unbeflecktist [...] Theil/ um deren willen etwann Gott verschonet einem ganzen Land“.230 Die Festigung in den religiösen Grundsätzen werde am jüngsten Tag die Anerkennung bringen, „daß wir wahrhaftig gewesen Menschen Gottes.“231 Je größer die konfessionelle Konkurrenz und wahrgenommene Bedrohung, desto wirksamer erschienen ihm Glaubenswissen und Glaubenspraxis der Laien – und nicht nur das Können und ein vorbildlicher
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Breitinger, 39. Synodalrede 1641, ebd., 747 f. Ebd., 748 ff. Breitinger, 24. Synodalrede 1631, 770. Elektronische Edition der Zürcher Stillstandsprotokolle des 17. Jahrhunderts (Projekt eStPZH). Vgl. die Projektbeschreibung sowie die Digitalisate unter www.archives-quickaccess.ch/search/ stazh/stpzh. 229 Hacke, Konfession und Kommunikation, 135 ff. 230 Breitinger, 29. Synodalrede 1635, ebd., 481. 231 Breitinger, 27. Synodalrede 1633, ebd., 445.
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Lebenswandel der Pfarrer. Im Kalkül Breitingers wird damit nicht nur das Seelenheil der Auserwählten gesichert; die bedrohte Institution Kirche wird unabhängiger, die Disputation quasi auf Personenebene verlegt. Denn die Jungen gingen „an die Fassnachen und Kilben“, wo ihnen eingebildet werde, „man lasse der Jugent auf unser Seiten kein Freud,“ dazu geselle sich „das gottlose vertriebne Schwaben-Volk/ welches in unsere Jugent pflanzet allerley Unrahts“. Die Lutheraner würden die reformierte Jugend von der Katechisation abziehen in die Wälder und zu allerlei „Muthwillen“ anstacheln, während die ,alten unverständigen Köpfe‘ meinten: „Unsere Alten seyen auch selig worden/ und habin doch nicht so vil müssen wüssen/ wie die Jungen diser jezigen Zeit.“232 Daher erteilte Breitinger an anderer Stelle konkrete Ratschläge zum Katechismusunterricht, speziell zu den Fragen der guten Werke, die vom Volk missverstanden und von der Gegenseite erfolgreich ausgenutzt würden: Hier müssten die Pfarrer deshalb ,mit Gebühr und Diskretion‘ vorgehen. Alleine zu sagen, dass gute Werke für das Seelenheil nichts nützten, sei heutzutage gefährlich.233 Als er nach Abgabe weiterer Seelenbeschreibungen 1640 die verzeichneten Seelen grob zusammenzählte – zigtausende, die den reformierten Pfarrern anvertraut seien, jede mehr wert „dann die gantze Welt“, „darunter so vil auserwehlte“234 –, ging Breitinger zudem ausführlich auf die belastenden Alltagsprobleme wegen der Prädestinationslehre ein (gerade die Lasterhaftesten seien sich ihrer Erwählung sicher: „Was? Solt ich zweiflen? Freylich bin ich erwehlt!“). Daher riet er den Pfarrern, sie sollten „gewahrsam fahren“ bei diesen Artikeln.235
16.
Religiöse Bildung als Umerziehungsmaßnahme?
Noch Breitingers letzte Reden waren von der Wahrnehmung einer drohenden Kriegsgefahr geprägt. Der Antistes versuchte, seine Reformen zu sichern. Auch die Gnädigen Herren erkannten, dass Gott „Ursach hette/ uns heimzusuchen mit dem leidigen Krieg/ wie wir Beiyspiel hand von anderen Ländern“, weshalb sie „den Ehe-Richtern befohlen/ was sie schreiben sollind an die Decanos und ganze Capitel/ daß man eifrig seye im Catechisieren und Hausbsuchen/ jungen und alten gebind Christlichen Unterricht.“ Das sei vielerorts löblich verrichtet worden.236 Die letzte politische Intervention in seinen Ansprachen war passenderweise ein Plädoyer
232 Breitinger, 42. Synodalrede 1642, ebd., 789. 233 Breitinger, 34. Synodalrede 1639, ebd., 653. Die Fragen 24 und 57 aus dem Zürcher Katechismus: „Kann der Mensch dise Gebott alle follkommenlich halten? Nein; Verdienen aber die guten Werck auch etwas um Gott? Nein.“ (ebd.) 234 Breitinger, 37. Synodalrede 1640, ebd., 705. 235 Ebd., 706 ff., hier: 711. 236 Breitinger, 37. Synodalrede 1640, ebd., 716 f., hier: 716.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
für die Stadtbefestigung, die das Volk vor den katholischen Nachbarn und deren ,Hetze‘ wappne – samt argumentativem Leitfaden für allfällige Einwände aus der Bevölkerung.237 Überzeugt, dass sich die wahre Kirche auch in Verfolgungszeiten immer habe erhalten können, bilanzierte Breitinger: Der Unwüssenheit des gemeinen Volcks ist zu unserer zeit durch [...] wolbestelter Schulen/ Catechisierens und Kirchen-Gesangs/ [...] und andere heilsame Ordnungen/ gar merklich begegnet. Das Allmosen ist aller Dingen gebracht in ein ganz neue wesentliche Form. Es ist verbesseret/ oder abgeschaffet vil anderes und anderes noch mehr.238
Die Reformen haben den Kirchenvorsteher lange überlebt – samt all den ihnen inhärenten Widersprüchen. Denn seine Massnahmen konnten die konfessionellen Konflikte alleine deshalb nicht lösen, weil sie selbst laufend neue schufen. Während Breitinger z. B. zur Mäßigung der Polemik gegenüber Andersgläubigen aufgerufen hat, stellte u. a. das neu eingeführte reformierte Psalmensingen in den Gemeinen Herrschaften „einen ständigen Stein des Anstosses dar.“239 Die fehlende Bereitschaft, „Sektierern Kultusfreiheit innerhalb des Zürcher Territoriums einzuräumen“ und von ihnen stattdessen „eine zumindest äussere Konformität mit der offiziellen Kirche“ zu fordern,240 konnte keine nachhaltige Lösung sein. Der Besuch des Katechismusunterrichts wurde von inhaftierten Täufern bereits 1641 verweigert: sie würden lieber sterben – und wurden dann gegen ihren Willen dorthin getragen.241 Als praktizierende Anführer einer Glaubensgemeinschaft und Kriegsverweigerer wurden sie als Aufrührer verfolgt – doch was galt für den großen Rest? Die praktischen Grenzen und Widersprüche einer solchen Toleranzkonzeption zeigen sich in den Verzeichnissen, die vor den Seelenbeschreibungen im Kontext der Täuferverfolgung angelegt wurden. So wurden 1633 und 1636 aus einigen Vogteien Täuferverzeichnisse abgegeben.242 Die 1633 von den Pfarrern ermittelten
237 Breitinger, 41. Syondalrede 1642, ebd., 771 ff. Die Pfarrer sollen nicht nur von der Kanzel herab und im direkten Gespräch überzeugen, sondern vorab drei bis vier einflussreiche Gemeindebewohner für den Bau gewinnen. 238 Breitinger, 40. Synodalrede 1641, in ebd., 757. Noch in seiner letzten Rede äußert er die Hoffnung, die Bildungsmassnahmen könnten einen Teil der „fremden Jugend [...] bekehren und selig machen/ unsere aber zu folgender Verfolgung vorbereiten und bewaffnen“ (43. Synodalrede 1643, ebd., 799 f.). 239 Volkland, Reformiert sein ,unter‘ Katholiken, 159; vgl. auch Neuhaus, Matrimonial- und Kollaturstreit, 70. 240 Scheidegger, Reformierte und Täufer, 348. 241 Leu, Letzte Verfolgungswelle, 222, vgl. auch eine von 22 Täufern unterzeichnete Bittschrift, die Kinderlehre nicht besuchen zu müssen (ebd., 223 f.). 242 Ob diese als Bestandsaufnahme auf Anregung Breitingers zu erklären ist, der ja allgemein Listen einforderte, oder z. B. auf die Konflikte bei den Aushebungen zurückgeht, ist derzeit unklar. Im
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und verzeichneten 182 Täufer verweisen zunächst auf eine hohe Dunkelziffer: Wie Urs Leu konstatiert, ist z. B. für das im 16. Jahrhundert äußerst aktive Zürcher Unterland kein einziger Täufer vermerkt. Bei den aufgelisteten Täufern handelt es sich also bestenfalls um einen harten Kern bzw. um solche, die sich aktiv dazu bekannten. Wie die Forschung festhält, hatten sich viele längst an abgelegenen Orten niedergelassen und Strategien entwickelt, nicht besonders aufzufallen.243 Die Pfarrer verzeichneten in den Täuferverzeichnissen 1633 nicht nur Wohnort, Name, Alter sowie meist auch den Kirchenbesuch der in ihren Kirchgemeinden lebenden Täufer, sondern – wie kurz darauf die Seelenbeschreibungen für die ganze Gemeinde – z. T. auch die katechetischen Fähigkeiten ihrer Kinder. Gemäß der engen Verzahnung von Staat und Kirche waren 1636 dann die Vögte der betroffenen Gebiete für die Befragung der Täufer in den Verhören verantwortlich –, obwohl theologische Punkte im Zentrum stehen mussten, die Vögte dann z. B. meldeten, man werde sich bezüglich Taufe, Abendmahl und Bann „nit verstahn und sy unserer Gelehrten meinung nit faßen könnind“. Die Vögte hatten nun das ,zeitliche Hab und Gut‘ der Täufer zu inventarisieren und nach Zürich zu schicken – tatsächlich aber enthalten diese Verzeichnisse ab 1636 z. T. ebenfalls Aussagen zum Kirchenbesuch und zur Verweigerung von Examinationen und Katechisation.244 Beides legt nahe, dass der Umgang mit den Täufern immer noch eng von der Zusammenarbeit zwischen Pfarrern und Vögten abhing.245 Was wiederum zur Frage führt, wer von wem nicht nur als Täuferin oder als Täufer, sondern auch als heterodox und damit als ‚Problem‘ angesehen wurde: Ab wann gilt ein Täufer denn als Täufer – und wird als solcher gemeldet?
Gegensatz zu den anderen geforderten Verzeichnissen spielen die Täuferlisten in den Synodalreden keine Rolle. 243 Scheidegger, Reformierte und Täufer, 348; Leu, Letzte Verfolgungswelle, 215; Pfister, Auswanderung, 248. 244 Manifest, 103 f., Beschreibung der Täufer und ihres Hab und Guts (STAZH E I 7.5, Nr. 153) und Vermögens- und Namensverzeichnisse (STAZH F I 190). 245 Unter den Geistlichen herrschte keine einheitliche Meinung zu den Täufern (Scheidegger, Reformierte und Täufer, 348). Diese wiederum warfen der Obrigkeit die Verfolgung, den Pfarrern aber Anstiftung vor (Antimanifest, 200 f.). Dass die vorher notorischen Klagen der Pfarrer über die Täufer an den Synoden 1635–1642 verstummten (Leu, Letzte Verfolgungswelle, 217), kann als Anzeichen gewertet werden, dass diejenigen, sich nicht mit ihnen arrangieren konnten, durch das Durchgreifen der Obrigkeit vorerst ruhiggestellt waren.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
Abb. 2 Täuferverzeichnis aus der Kirchgemeinde Hirzel von 1633 (StaZH E II 211a: 1633).
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In den Verzeichnissen selbst wird diese Frage ungleich beantwortet. Diejenigen Pfarrer, die dem Auftrag nachkamen, verzeichneten 1633 über die 182 Erwachsenen hinaus Dutzende von Kindern und Jugendlichen, die zum Täufertum erzogen würden, wie auch Personen, die nur im Verdacht stünden, welche zu sein (Abb. 2). In der Täuferhochburg Hirzel verzeichnete der Pfarrer nur diejenigen als Täufer, die die Kirche nicht mehr besuchten. Gemäß dieser Logik gehören die täuferischen Kinder und Ehepartner, zu denen die kirchlichen Institutionen noch Zugang haben, und diejenigen, die versprechen, die Kirche wieder zu besuchen, nicht dazu. So heißt es über Rudolf Landis – Täufer von Jugend auf –, er habe „unserem Gnad. Herren angelobet“, die Kirche zu besuchen, dies sei bisher aber „schlächtlich beschähen“. Beim Besuch des anschließend verzeichneten Haushalts von Hans Landis, der „für ihren Prediger gehalten“ werde,246 notierte der Pfarrer bei allen Kindern die katechetischen Fähigkeiten – nur nicht beim neunzehnjährigen Caspar: „als ich in wöllen Examinieren, hat gseit, er heigs nit im Sinn, dass er mir antworten wölle uff myner fragen“.247 Eine alleinstehende Frau, Täuferin ,von Jugend auf ‘, hatte vier Kinder zwischen 11 und 24: Die ältesten Töchter seien nicht täuferisch, der 22-jährige Sohn Felix gehe in die Kirche.248 Bei einer anderen Familie steht, die Kinder würden nur manchmal in die Kirche geschickt, und wenn, dann nur an die Nachpredigten, es sei daher ,zu besorgen, dass auch sie der Sekte anhängig würden‘.249 Kirchenbesuch der Alten, Unterweisung der Jungen: Entscheidend ist der Zugriff auf die Seelen, nicht der Glaube nach dem Buchstaben des Bekenntnisses an sich. Der Pfarrer von Pfäffikon meinte, es gebe nur drei Täufer in seiner Gemeinde; Jacob Rogg und seine Frau, eine ehemalige Gefangene, hielten sich still und machten keine ,Ungelegenheiten‘, ihre Kinder gingen in die Kirche. Der Täufer Hans Ustenwerker sei ,gar ungeschickt‘, könne weder schreiben noch lesen, habe keine „wüssenschafft beider H. Sakramente“, wisse weder, wer die Menschen erschaffen, erlöst und geheiligt habe, noch könne er die Zehn Gebote aufsagen.250 Dasselbe Bild vermittelt das Verzeichnis aller Personen, die ,zurzeit den Täufern
246 In der Güterbeschreibung der Vogtei Horgen 1640 steht sieben Jahre später zur gleichen Familie: Sie hätten gelobt, die Kirche zu besuchen, der Vater komme nun hin und wieder, habe aber noch nie am Abendmahl teilnehmen wollen, die Mutter besuche trotz Gesprächen mit dem Obervogt die Kirche nicht. Die drei erwachsenen Kinder seien ungehorsam, verweigerten Examination und Katechisation. Die jüngeren kämen in die Schule, aber kaum in die Kirche und sollten täuferisch erzogen werden (vgl. STAZH F I 190). 247 Verzeichnus aller Widertöufferen, die in der Pfarr Hirtzel gefunden werdend, in: Verzeichnisse der Täufer 1633, Sammelband STAZH E II 211a, 675 f. (Seiten oben und unten nummeriert, hier die Seitenzahl unten). 248 Ebd., 680. 249 Ebd., 683. 250 In der Pfarr Pfäffikon sind nachfolgende Widertöuffer, in: Verzeichnisse der Täufer 1633, Sammelband STAZH E II 211a, 699.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
anhingen‘ aus Richterswil. Die Kinder von Hans Theiler und Barbel Bachman, selbst eines „Teüffers Tochter“, gingen „zu Kilchen, und machen die Alten kein unglegen heitt“. Oder Anna Lüthold, deren Mann „mit allen seinen Kinden flyßig zur Kilchen [geht]: sy die Teüfferin ist im Geschworenen [d. h., sie bekleidet ein Gemeindeamt], und iederman ein wol befohlne Hebamme“. Rudolf Bachman hingegen mache viele ,Ungelegenheiten‘, „so man zu syner Schmidten kompt. [Wäre] vil gewert, wen[n] allein dem ufwigler ein Zigel gestoßen würde.“251 Äußere Konformität und Umerziehung waren schlecht zu vereinbaren. Wenn einer nur dann als täuferisch galt, wenn er sich täuferisch verhielt, wird die Unmöglichkeit, einen standardisierten Glauben durchzusetzen, offensichtlich. Während der harte Kern der Täufer im Exil, in der Kurpfalz, im Elsass oder in Württemberg unter spezifischen Auflagen, aber ohne Kirchenzwang geduldet wurde und diese Ausgewanderten mithilfe internationaler Unterstützung ihre Güter zurückforderten,252 blieben Verwandte und Bekannte im Land. Der Rat versuchte noch 1652, die Auswanderung an katholische oder den Täufern „zugethanen orthen“253 ohne Bewilligung zu unterbinden und forderte von den Pfarrern 1651, 1657 und 1661 Verzeichnisse aller abwesenden Gemeindemitglieder. In jeder einzelnen Gemeinde wird darin zusammengezählt, wie viele Personen weggezogen sind und ob sie einen anderen Glauben angenommen hätten.254 Während viele Pfarrer oft einfach angaben, über die Religion würde ,nichts berichtet‘, geht der in diesen Auswanderungsverzeichnissen bezifferte ,Abfall‘ der Seelen zu Katholiken, Lutheranern und Täufern insgesamt schnell in die Hunderte. Ulrich Pfister erzählt vom pfälzischen Hof Ibersheim, der noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts als „Täufersiedlung bekannt“ war. Als eine dort tätige Magd 1706 in ihrer Heimat Affoltern das Abendmahl zu Weihnachten besuchte, war sie dem Pfarrer verdächtig, weil sie ihren Glauben gar eifrig bekannt und eine sonderbare Andacht gezeigt hätte. Seinem Rat zur Rückkehr leistete sie keinen Gehorsam – und lebte bis zum Tod 1724 in der Täuferhochburg.255 Was geschah mit Kindern, Verwandten, Sympathisanten der Täufer? Was mit solchen, die sich ,still‘ hielten? Oder mit solchen, die sich mit der Auslegung der Bibel befassten, vielleicht eine täuferische Schrift besaßen, zweifelten, was der Pfarrer in der Predigt erzählte? Wie lässt sich die Einheit der Glaubensgrundlagen, die reformierte Theologen an Synoden und via Schriftverkehr diskutierten und festlegten, in den Köpfen und ,Herzen‘ der Menschen überhaupt gewährleisten?
251 Verzeichnuß aller und jeder Personen, so der Zytt in der Gemeind Richtischwyl der Teüfferey anhengig, in: Verzeichnisse der Täufer 1633, Sammelband STAZH E II 211a, 685. 252 Pfister, Auswanderung, 256–272. 253 Vgl. entsprechendes Mandat zur Auswanderung vom 2. August 1652, ebd., 256–259. 254 STAZH E II 270, 131–148. 255 Pfister, Auswanderung, 273.
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Zumal in entlegenen Höfen, weit weg von der Stadt? Genau an dem Punkt setzen die Reformen des 17. Jahrhunderts an. Hier offenbaren sich die Schnittstellen zwischen Bildung und Konfessionalisierung, der Kern der Reformpolitik, die Breitinger in Zürich umsetzte. Wohl keine Quelle zeigt die Schwierigkeit einer Kontrolle des Glaubenswissens von über 100 000 Menschen, die Ende des 17. Jahrhunderts auf der Landschaft lebten, deutlicher auf als die Seelenbeschreibungen.
17.
Seelenbeschreibungen als Zeugnisse anhaltender konfessioneller Konflikte?
Das religiöse Wissen der Einzelnen war das Bollwerk der „Eigenen“ gegen die Gefahr der „Anderen“, d. h., der Katholiken, Täufer, Lutheraner – dabei dachte man nicht zwingend territorial, sondern konfessionell. Die Rechnung könnte lauten: Täufer- und Auswanderungslisten erfassen die Anderen, die Seelenbeschreibungen die Eigenen. Doch viel mehr spiegelt sich in diesen Verzeichnissen der aus der Heilslehre abgeleitete Gedanke, dass die Seelen im Zuständigkeitsgebiet der eigenen Kirche seien. Seelenbeschreibungen unterscheiden im Grundsatz nicht zwischen Untervögten und protoindustriell Beschäftigten, zwischen Bauern und Almosenempfängern, auch wenn die lokalen Würdenträger als solche genannt werden, oft prominent aufgelistet auf der zweiten Seite. Meist sind die religiösen Fähigkeiten, die auswendig beherrschten Katechismusfragestücke und Gebete, oder auch Lesen und Gesang, bei allen Gemeindemitgliedern verzeichnet, also auch bei Pfarreroder Vogtkindern, denn diese Fähigkeiten galten als relevant für das Seelenheil. Deshalb erfassten die Pfarrer später teilweise auch Arbeitsamkeit, Trunkenheit oder Sittlichkeit und vermischten diese Attribute mit Angaben zur religiösen Bildung.256 Andersgläubige spielen, bei aller Vielfalt der Angaben in den Seelenbeschreibungen, nur in der ersten ‚Welle‘ des Bestandes zur Zürcher Landschaft, den 1630er und 40er Jahren und damit der Ära Breitingers, eine einigermaßen prominente Rolle. In dieser Zeitspanne werden mehrfach Täufer, Lutheraner und Katholiken als solche gekennzeichnet – seltener mit Angaben zum Kirchenbesuch.257 256 Vgl. z. B. Hedingen 1708, Birmensdorf 1749, Dübendorf 1764 (Bevölkerungsverzeichnisse, STAZH E II. 700). 257 Mindestens in Affoltern, Bäretswil, Brunnen, Dürnten, Fischenthal, Hirzel, Kappel, Küsnacht, Knonau, Maschwanden, Mettmenstetten, Ottenbach, Schlatt, Stallikon, Wädenswil (Bevölkerungsverzeichnisse, STAZH EII. 700) werden meistens noch in den 1640er-Jahren Täufer genannt oder/ und z. T. zusammengezählt, in Dürnten 1640 auch Lutheraner, in Stammheim zählte der Pfarrer 1640 die „Papisten“ zusammen (107 auf 1557 Seelen), u. a. in Marthalen 1640 und Rümlang 1643 gab es katholische Mägde. Im Vergleich zu mitgelieferten Armen- oder Abwesendenverzeichnissen sind Täuferlisten deutlich in der Minderzahl. Die gemeinsame Abgabe könnte darauf zurückzuführen sein, dass Breitinger sie ja fast gleichzeitig einforderte. Da der Fokus bei der Durchsicht
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
In den Seelenbeschreibungen sind so gesehen alle Kirchgemeindemitglieder die Seelen der ‚eigenen‘ Religionsgemeinschaft.258 Die Quellen sind damit Zeugnisse von Breitingers Toleranzkonzeption: Wenn nur der eigene Glauben selig mache, müssten die Irrenden überzeugt werden – dieser alte Grundsatz erlangte im 17. Jahrhundert eine neue Qualität. Denn die Medaille der religiösen Volksbildung hatte zwei Seiten: Für Breitinger stand zwar der Katechismus im Zentrum; in Zeiten der Verfolgung wie der gegenwärtigen könne man nämlich weder Bibel, Testament, noch andere Bücher mit sich tragen. Den Schatz aber, den die Kinder in ihrem „Herzlein behalten zum Vorrath,“ könne von keinem Soldaten geraubt und von keinem „Tyrannen hinterhalten werden.“259 Die aufbereiteten reformierten Glaubenssätze sollten von der ganzen Bevölkerung auswendiggelernt und verinnerlicht werden – auch sollte u. a. das ,Zerschneiden‘ der Fragen bei den pfarrherrlichen Glaubensprüfungen ein tatsächliches Verständnis der vermittelten Inhalte über das Nachsprechen hinaus gewährleisten.260 Doch wie sich zeigt, ist nicht nur die Förderung der Katechisation, sondern auch die Bibellektüre ein wesentlicher Teil von Breitingers Volksbildungsreformen, sie gehört zu seinem Narrativ der eigenen konfessionellen Identität. Dies veranschaulichen nicht nur die Subventionen zur Verbilligung von Drucken der Bibel und des Neuen Testaments oder die Landschulordnung, die über die Druckschrift hinaus das Lesen von Handschrift, Schreiben und Rechnen einzuüben verlangt:261 Das alte reformatorische Versprechen der Bibellektüre der Laien ist viel mehr selbst ein Mittel der konfessionellen Abwehr, zugunsten des eigenen Profils. Breitinger kritisierte z. B. einen Pfarrer, der bei einer gemischtkonfessionellen Hochzeit katholische Familienangehörige, Freunde und Nachbarn entrüstete habe, indem er predigte, ihre Lehre sei des Teufels. Die Pfarrer sollten lieber den Ehestand mit der Bibel begründen und anfügen, „wir köntind einführen ernstliche Wort Heil. Schrift/ [...] jedoch zuverschonen denen/ welchen die Heil. Schrift zulesen verbotten/ lassind wir es dißmahlen bewenden.“ Dadurch hätten die Katholiken Anlass, selbst „nachzuforschen/ was dann die Heil. Schrift
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nicht auf dem Aufspüren Andersgläubiger lag, sind die Beispiele unvollständig, auch stehen die Gemeinen Herrschaften noch aus; Stichproben lassen dort auf keine grundsätzlichen Unterschiede schließen. Auffallend ist z. B., dass bei Ehebrecher/-innen oder beim Verweis Meretrix („Hure“) die Bildung in der Regel gar nicht erst geprüft wurde, weil sie in den Augen des Pfarrers wohl bereits aus der Gnade gefallen waren. Breitinger 1643 zit. nach Mörikofer, Breitinger, 64 f. Vgl. Egger, Pisa-Studie?, 30 f.; Zum Verhältnis von Lesen- und Auswendiglernen vgl. de Vincenti, Schule der Gesellschaft, 71–82; Messerli, Lesen und Schreiben, 238–269, Egger, Pisa-Studie?, 218. Die umstrittene Rolle der verschiedenen Kulturtechniken in der religiösen Volksbildung ist wesentlicher Teil der laufenden Studie. Eine Zusammenfassung bisheriger Forschung ist in Egger, Pisa-Studie?, 72–92 zu finden.
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bezeuge.“262 In dieser Logik wurde den Täufern die Bibel ins Gefängnis gegeben263 und in der Schrift zur Täuferverfolgung von 1639 betont, „alle fromme hertzen by uns/ mögend frey haben und lesen die H[eilige] Schrifft“: Es werde „jede Christenliche Gmeind erinneret/ vermahnet und gebätten“, die Bibel mit allem Fleiß „und stähtem anrueffen Göttliches liechts“ zu durchforschen, Predigten und Bibel abzugleichen „und das guot zuo behalten.“264 Die Vorstellung, dass die Menschen die Wahrheit in der Bibel selbst erkennen würden, wie auch die mögliche Folge, dass sie deswegen auch andere Bücher lesen könnten als nur die Katechismen, ist idealistisch. Breitinger behauptete 1641, es seien nun fast alle Menschen Theologen, „kein Hauß/ darinnen nit Bücher zufinden von allerhand Sorten; Lehr-Bücher/ Trost-Bücher/ Bätt-Bücher/ Streit-Bücher/ und was der Mann nur wil.“ Insbesondere „die Jugend“ sei seit der Reformation „mit fleissigem Schulhalten/ mit Schreiben und Lesen/ mit Catechisieren/ mit Psalmen singen/ [...] die zu reicher Erkanntnuß Gottes und seines Worts erforderet werden“ nie besser versorgt gewesen als jetzt.265 So hätten die „Schulen für Knaben und Mägtlein“ wie auch „allerhand schöner getruckten Bücheren/ deren unser Volck ganz begierig“, dazu geführt, dass „unsere liebe Zuhörer bey weitem nienen mehr so einfalt und unberichtet/ als sie gleich auf die Reformation etwann gewesen sind,“ ganz besonders Frauen und Mädchen.266 Eine Widersprüchlichkeit in dieser Vorstellung konfessioneller Volksbildung zeigt sich exemplarisch darin, dass Breitinger es sich trotzdem nicht nehmen ließ, entscheidende Teile seiner verbilligten Biblia (1638) resp. des Neuen Testaments (1622) so zu ändern, dass sie sich negativ auf die täuferische Interpretation – u. a. die Frage des Banns – auswirkte: Wie Urs Leu weiter festhält, hielten sich die Täufer fortan an die alte Zürcher Froschauer Bibel und organisierten entsprechende Nachdrucke.267
262 Ein Messpriester habe bei der Heirat eines Katholiken mit einer reformierten Braut daraufhin gepredigt, eine Seele sei „dem Teufel aus dem Rachen gerissen“ und dies als Reaktion auf den Pfarrer begründet. Vgl. Breitinger, 35. (eig. 33.) Synodalrede 1638, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 3, hier 680. 263 Leu, Täufermanifest, 40. 264 Wahrhaffter Bericht, 122. 265 Breitinger, 40. Synodalrede 1641, in: Miscellanea Tigurina, Bd. 3, 762 f. 266 Breitinger, 36. Synodalrede 1939, ebd., 699. Damit schließt er u. a. an das frühere Lob der öffentlichen Bibliothek an, dass auch Frauen mittlerweile beurteilen würden, ob eine Predigt gut oder schlecht sei, woher der Inhalt stamme, ob ein Text ausgelegt oder nur paraphrasiert sei etc. (27. Synodalrede 1633, ebd., 449). 267 Leu, Täufermanifest, 55 f.; Leu, Zürcher Bibel, 164 ff. Zu der von Breitinger überarbeiteten NTAusgabe von 1622 und seiner Biblia von 1638 vgl. Leu, Zürcher Bibel, 161 f. Das originale Korrekturexemplar des Neuen Testaments von Breitinger wird in der ZB Zürich, Handschriftenabteilung, Ms Car I 201, aufbewahrt.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
Lesefähigkeit und Buchbesitz sind im Konzept hinter den Seelenbeschreibungen selbst angelegt, die Kirche förderte und die Pfarrer prüften nebst der Kenntnis des Katechismus diejenige Fähigkeit, die ein vereinheitlichtes Glaubenswissen de facto verunmöglichte. In den über 100 für meine Alphabetisierungsstudie verwertbaren Seelenbeschreibungen, die bisher in Datenbanken erfasst wurden und mehrheitlich aus dem Zeitraum von den 1670er Jahren bis zur Mitte des 18. Jahrhundert stammen, werden Andersgläubige fast nie als solche bezeichnet. Dies darf aber kaum als Hinweis gewertet werden, dass es keine mehr gab. Denn sobald Glaubensgruppen als ,Sekten‘ und für das Staatswesen als gefährlich angesehen wurden, kam es anhaltend zur Verfolgung, wie das Beispiel der ,Pietisten‘ seit Ende des 17. Jahrhunderts zeigt.268 Als eine von Obrigkeit und Kirche definierte Gruppe, als „heterogene Bewegung ohne definierte Glaubensgrundsätze“,269 wirft ihre Präsenz später genauso die Frage auf, ab wann denn ein Pietist als Pietist gilt.270
18.
Lektüre und Frömmigkeit auf der Landschaft
Was die Seelenbeschreibungen belegen: Die Menschen lernten nicht nur Gebete und Katechismen auswendig, sondern größtenteils auch die Fähigkeit, religiöse Druckschriften zu lesen.271 Wie die ersten Ergebnisse meiner Studie zeigen, waren die lesefähigen Erwachsenen in ihren Kirchgemeinden um 1700 bereits in der Mehrheit, bald war die Lesefähigkeit die Regel. Die Haushalte besaßen Bücher, leisteten sich die anhaltend subventionierte, teure Bibel oder wichen auf das billigere Neue Testament aus, das immer wieder auch – mit anderen günstigen Büchern wie den ,Zeugnissen‘ oder Psalmbüchern – an arme Haushalte verteilt wurde: Bereits vor 1650 besitzt, in den Kirchgemeinden mit entsprechenden Angaben, mehr als ein Viertel der ländlichen Zürcher Haushalte eine Bibel oder ein Neues
268 Sie begann in Zürich Ende der 1680-er Jahre und erreichte mit den ersten Pietistenprozessen 1698 einen Höhepunkt, weitere Prozesse folgten um 1720 herum (Bütikofer, Zürcher Pietismus, 11–22, 504). 269 Bütikofer, Zürcher Pietismus, 25; vgl. auch Hanimann, Zürcher Nonkonformisten, 5). 270 Vereinzelt Pietisten in Feuerthalen 1729, Lufingen 1726/1760 (Bevölkerungsverzeichnisse, STAZH E II.700). 271 Die im Vergleich mit ‚Lesen‘ seltenere Angabe ‚Schreiben‘ kann nicht spezifiziert werden und beispielsweise nur ,Zierschreiben‘ bezeichnen, schließt aber eine über die Druckschrift hinausgehende Kompetenz ein. Beides war in der Frühen Neuzeit getrennt und wurde auch so unterrichtet (vgl. z. B. De Vincenti, Schule der Gesellschaft, 106; Berner, Vernunft und Christentum, 152 f.).
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Testament, nicht zuletzt fördern die Pfarrer den Kauf aktiv.272 Die Arbeit von Wartburgs hat den beachtlichen religiösen Buchbesitz der einfachen Bevölkerung längst nachgewiesen.273 Obwohl als unerwünscht geltende Literatur auf der Landschaft fleißig gehandelt wurde,274 fanden sich in den Seelenbeschreibungen bisher nur spärliche Hinweise darauf. In Hirzel 1678 wohnte Margreth Hitz (67 Jahre), angeblich Täuferin und Baumwollspinnerin, die im Gegensatz zu ihrem Mann, einem Bauern, nicht lesen könne (Abb. 3). Die Familie besaß u. a. eine Froschauer-Bibel wie auch ein „täufferisches Handbüchlin“, erst 1660 in Berlin gedruckt. Der Pfarrer vermerkt, er habe es ausgetauscht.275 In Wiesendangen sei 1709 ein Traktat von Schwenckfeld gefunden worden, „das aber voller Staub gelegen“. Zu Russikon schreibt ein Pfarrer 1710, er habe zwar viele, aber keine „Papistische, Anabaptistische, bös-Lutherische, und andere irrige verführische [...] und Zauberische Bücher gar“ entdeckt. In Sternerberg hat ein anderer keine sektiererische oder täuferische Bücher angetroffen, wohl aber Bullingers Widerlegung derselben.276
272 Vgl. Leu, Zürcher Bibel, 168 f.; Bücherverteilungslisten 1646–1650 und 1714–1719 (STAZH: E I 21.1, F I 353). Weitere vorläufige Ergebnisse meiner Studie werden im Band Gelebte Reformation (Arbeitstitel) erscheinen, der von Francisca Loetz herausgegeben wird (voraussichtlich 2021). 273 1700–1724 weisen nur vier von 14 untersuchten Gemeinden Werte von über 18% an buchlosen Haushalten (auch: keine Angaben zu Büchern) auf, in zwei Gemeinden erreichen die Haushalte mit zwei oder mehr Büchern bereits 97% und 94%. Der (religiöse) Buchbesitz pro Haushalt nimmt im Verlauf der Zeit zu. Von Wartburg-Ambühl, Alphabetisierung und Lektüre, 133. 274 Die heimlich gehandelten Hauptwerke des Pietismus wurden auf Büchermärkten und mit Hilfe von Hausierern fleißig gehandelt (vgl. Bütikofer, Zürcher Pietismus, 21 f., 92–101). 275 Vgl. Bevölkerungsverzeichnisse, STAZH E II.700, Hirzel 1678, 459. 276 Vgl. die Vorreden der Pfarrer auf der jeweils ersten Seite, Bevölkerungsverzeichnisse, STAZH E II.700.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
Abb. 3 Seelenbeschreibung aus Hirzel 1678 mit Angabe des religiösen Buchbesitzes (STAZH E II 700.50).
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Dagegen fällt dort, wo die Pfarrer die Ausgabe der Bibeln notieren, eine nicht geringe Verbreitung der Lutherbibel, aber auch lutherischer Postillen und Predigten auf.277 Besonders präsent sind zudem Autoren und Werke der Erbauungs- und Frömmigkeitsliteratur, die als „bedeutende Vorläufer“ oder „Begründer“ des Pietismus gelten.278 Analysen auf Gemeindeebene zeigen, dass z. B. in Herrliberg 1701 über die Hälfte der Bevölkerung in Haushalten mit entsprechenden Titeln wohnte; auch zeigt sich die ebenfalls andernorts bezeugte Verbindung von Protoindustrie und Erbauungsliteratur.279 Diese Art von Erbauungslektüre konnte alleine angesichts ihrer Popularität nicht als problematisch gelten.280 Ihre Verbreitung legt nahe, wie subjektiv, selektiv und schwer durchsetzbar eine Kontrolle von Glaubenswissen sein musste – über die Möglichkeit hinaus, Bücher zu verstecken sowie den naheliegenden Strategien und Anreizen der Pfarrer, keine Dissidenten zu melden und dadurch selbst Handlungsbedarf anzuzeigen. Auch wenn meine Analyse der Hausvisitationspraxis als Mittel zur Erbauung und Förderung des Glaubenswissens keineswegs abgeschlossen ist, finden sich in den Seelenbeschreibungen noch 1764 Hinweise auf theologische Anfechtungen, auf selbstgerechte, ,eingebildete Schriftgelehrte‘, hochmütige ,Klause‘ und Leute, die sich auf ihr Bücherwissen nicht wenig einbilden würden oder aber die Kirche nicht ertragen könnten.281 Und die fast durchgehende Angabe von erwachsenen Kindern, die zwischen 1630 und 1770 zu Tausenden im Ausland dienten, die unzähligen Söldner in fremden Heeren, in Frankreich, Mailand, Holland, Venedig – sie alle nahmen vielleicht den auswendiggelernten ,Schatz im Herzen‘ mit, wie es Breitinger nannte, ob sie ihn aber zurück nach Hause brachten, scheint fraglich.
19.
Ausblick
Heinrich R. Schmidt hat in seiner Studie Dorf und Religion zur Berner Sittenzucht die kollektive Verantwortung der Obrigkeit für die Sünden Einzelner dargestellt,
277 So u. a. in Ossingen 1725, Pfungen 1640, Rafz 1701, Regensdorf 1643 und 1670, Steinmaur 1710 (Bevölkerungsverzeichnisse, STAZH E II.700). 278 u. a. Johann Arndt oder Johann Habermann; vgl. Wartburg, Alphabetisierung und Lektüre, 137; Wallmann, Pietismus, 29 ff. 279 In Herrliberg 1701 wohnten z. B. nur 8% (54) aller Personen in Haushalten ohne Bücherangaben, 70% (438) aller Personen hatten Zugang zu zwei bis vier Büchern, 17% (106) zu 5 oder mehr. Mindestens 56% hatten Zugang zu Erbauungsliteratur (Praxis Pietatis, Manuale Molleri, Johann Arndts Paradisgärtlein usw.). (Egger, Pisa-Studie?, 181 ff.). Die Zusammenhänge von häuslicher ,Industrie‘ und Lektüre u. a. bei Medick, Weben und Überleben, 468–504. 280 Vgl. die Auflistungen von ,bös genannten‘, ,mittelmäßigen‘ bis „halbguten“ und „guten“ Büchern infolge der Konfiszierung ,pietistischer‘ Bibliotheken (Bütikofer, Zürcher Pietismus, 523–531). 281 Vgl. Dübendorf 1764 (Bevölkerungsverzeichnisse, STAZH E II.700).
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
ebenso den Druck, auch für ihre Untertanen vor Gott Rechenschaft ablegen zu müssen.282 Die Studie geht davon aus, dass die großen Theorien zur europäischen Kulturentwicklung der Frühen Neuzeit normative Prozesse beschreiben und auf der Analyse von Schriften von Kirchenvertretern und Staatstheoretikern basieren. Daraus entwickelt Schmidt seine Fragestellung, inwiefern die „Impulse“ die Menschen tatsächlich geprägt haben und wie sie „,unten‘ angekommen“ sind.283 Was Schmidt für die Sittenzucht festgehalten hat, gilt auch für die Volksbildung, für die Lektüre, und damit nicht zuletzt für die Freiheit des Glaubens: Auf die Frage nach den normativen Vorgaben Top-down folgt, was die Menschen in den Dörfern damit gemacht haben. Meine von ihm betreute Studie zählt die Angaben zur Alphabetisierung deshalb nicht nur, sondern befasst sich mit den Beschreibungen der Seelen vor Ort, also mit der alltäglichen Glaubens- und Lektürepraxis der Bevölkerung. Alleine die Bereitschaft zum Büchererwerb oder die vielen Schulgründungen, die von den Gemeinden und Haushalten bezahlt wurden, demonstrieren die Nachfrage nach religiöser Bildung bei der Bevölkerung.284 Wie Alfred Messerli beschrieben hat, wurden die Bücher nicht nur besessen, sondern rege benutzt.285 Die Verbreitung von Glaubenspraktiken und religiösem Wissen, die Möglichkeit, dieses zu überprüfen, Buchbesitz und Lektüre als Bestandteile des konfessionellen Profils: Die Zürcher Seelenbeschreibungen verweisen auf die Konsequenzen von Breitingers Reformen in einer Zeit, die weiterhin von Glaubenskämpfen geprägt war. Viele Rezepte, die den reformierten Diskurs Zürichs über den Umgang mit Andersgläubigen im 16. Jahrhundert dominierten, hatten ausgedient. Und spätestens die Lesefähigkeit der Massen erforderte neue Ansätze für den Umgang mit abweichenden Glaubensmeinungen. Die von den Pfarrern angelegten Verzeichnisse jener Zeit legen nahe, dass die Neigung zu religiöser Toleranz nicht nur bei Politikern und hohen Geistlichen, sondern auch bei Pfarrern und Vögten unterschiedlich war. Indem sie über die zunehmende Alphabetisierung und den Buchbesitz in Verzeichnissen Buch führen, sind Seelenbeschreibungen ein Zeugnis dafür, dass Gewissenszwang und Kontrolle der Rechtgläubigkeit (also Praktiken der Intoleranz) sich immer weniger durchsetzen ließen. Die Förderung der Alphabetisierung gehört damit zu einem Bündel kirchlicher Maßnahmen im Umfeld der Konfessionalisierung, einem Denken, das auf der eng gefassten Auslegung der reformierten Theologie basiert. Die Kombination von progressiven kirchenpolitischen Instrumenten und dogmatischer Motivation
282 Schmidt, Dorf und Religion, 5. 283 Ebd., 1. Schmidt nennt „drei große Theorien“, welche die „europäische Kulturentwicklung der Frühen Neuzeit auf den Begriff gebracht“ hätten, nämlich Webers Rationalisierung, Norbert Elias’ Prozess der Zivilisierung und Gerhard Oestreichs ,Sozialdisziplinierung’. 284 Vgl. zur Nachfrage nach Schulen z. B. Strehler, Kirche und Schule 85; Stauber, Landschulen, 3 f. 285 Messerli, Lesen und Schreiben, 371.
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macht Breitingers Reformpolitik und ihre Auswirkungen zunächst schwer fassbar. Seine Vorstellung von Kirche war eine, die ihre Institutionen stärkte, gleichzeitig Institutionelles auf die Personenebene verschob, die eine gelebte Reformation und damit auch eine ,Reformation des Lebens‘ förderte – wie das Programm in SachsenGotha genannt wurde. Die offensichtliche Nähe von Breitingers Forderungen nach Glaubenswissen, Frömmigkeit, Wandel und Nächstenliebe zu den pietistischen Grundidealen bestätigt sich in seiner Förderung der allgemeinen Bibellektüre: War es doch „eine aus dem orthodoxen Katechismuschristentum zu erklärende fehlende Nachfrage nach der Bibel“, die der „Pietismus vorfand und was er zu überwinden suchte“.286 Hierin manifestiert sich die Vorreiterrolle des Reformprotestantismus für den Pietismus: Breitingers Kirchenpolitik legt nahe, dass, wie in Sachsen-Gotha, die Differenz zwischen „Pietisten und orthodoxen Befürwortern einer Reformation des Lebens“ auch in Zürich überbrückt werden kann.287 Die obsessive Auseinandersetzung mit dem konfessionellen Gegner und mit der Außenwirkung der eigenen Kirche, die Bewunderung sichtbarer Zeichen der Frömmigkeit und die Vorbildlichkeit von Praktiken katholischer Orden sind durch Wahrnehmungen einer Bedrohungslage motiviert: Breitinger fand sich einem Wettbewerb um den – für alle Konfessionen jeweils – einzig richtigen Glauben ausgesetzt und wollte daher wissen, welche Ziele die Reformierte Kirche effektiv umgesetzt und erreicht habe. Breitingers Wunsch einer ‚reformatio continua‘, einer gelebten Volksfrömmigkeit, spiegelte den ständigen Wettstreit mit den Lutheranerinnen und Jesuiten, den Täuferinnen und Schwärmern. Der von der Konfessionalisierungsforschung benutzte Begriff der ‚Zweiten Reformation‘288 wäre in Breitingers Sicht wohl auszuweiten: Er forderte eine p e r mane nte R efor mat ion und fand, die wahre Kirche habe sich in der Geschichte laufend verändert, und angesichts des europäischen Glaubenskriegs stehe eine weitere Veränderung an.289 Um Andersgläubige von der Überlegenheit der eigenen Religion überzeugen zu können, mussten vorab ihre kirchlichen Vertreter in ihrem Lebenswandel vorbildlich sein. Dies war für Breitinger die Voraussetzung dafür, wieder eine einheitlich reformierte Kirche herzustellen, die sich nach außen behaupten konnte. Nur ein moralisch vorbildlicher Lebenswandel der Pfarrer könne die Gläubigen von Konversionen abhalten und gegen Verführungen ‚von außen‘ immun machen. Breitinger
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Wallmann, Katechismuschristentum. Albrecht-Birkner; „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“; bes. 134 und 139. Der Begriff bei Schilling, Zweite Reformation. „ecclesia reformata semper reformanda“ (vgl. von Grebel, Breitinger, 27). Vgl. auch Breitinger, 40. Synodalrede 1641, in Miscellanea Tigurina, Bd. 3, 759 f.: Wie der Mond mal voll, mal leer sei, ständig wiederkomme, aber bis zum Weltende bestehen bleibe, verändere sich auch die Kirche laufend; angesichts der Kriegsgefahr prophezeit er eine grosse Veränderung in der reformierten Kirche nach 120-jährigem Bestehen.
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befürchtete, gerade die frommen Gläubigen würden sich ansonsten entrüstet und angeekelt der Gegenseite zuwenden. In seinem pädagogischen Reformansatz spiegelt sich die Vorstellung wider, dass sich die wahre, rechtmäßige Religion erst im wahren, rechtmäßigen, frommen Lebenswandel erweise. Seine Vorstellungen von religiöser Toleranz sind damit nicht leicht zu charakterisieren. Er erkannte an, dass die Täufer friedlich und fromm waren und somit den lauen Gläubigen der reformierten Kirche und den Pfarrern überlegen seien. Genau deswegen bewunderte er auch die Disziplin in den katholischen Ordensgemeinschaften. Breitinger teilte und schätzte die Inhalte ihres Glaubens nicht, trotzdem respektierte er ihre Art zu leben, in der Lebensführung die christliche Grundüberzeugung zum Ausdruck zu bringen. Ein Teilergebnis oder Nebenprodukt dieser konfessionellen Auseinandersetzung ist die Volksbildung bzw. ihre Dokumentation. Dabei verbinden sich zwei grundlegende gesellschaftliche Fragen: wie mit Andersdenkenden umzugehen ist und wer abweichende religiöse Meinungen selbst rezipieren darf und soll. Da die Dokumentationen in den Seelenbeschreibungen bis in die 1760er Jahre fortgesetzt wurden, führen auch diese Fragen in die Zeit der Aufklärung.290 Bereits Reformation und Buchdruck hatten neue Probleme im Umgang mit abweichenden Glaubensmeinungen aufgeworfen, schon im 17. Jahrhundert wurden neue, unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen. Ziel der laufenden Forschung ist es, die fast zeitgleichen Phänomene der Bildungsreformen und Seelenbeschreibungen Europas genauer einzuordnen.
Literatur Quellen Antimanifest, Christenliche und kurtze verantwortung der brüdern [Täuferschrift 1645] in: Täufer und Reformierte im Disput, hg. von Philipp Wälchli, Urs Leu und Christian Scheidegger, Zürich 2010, 77–212. Beschreibungen der Täufer und ihres Hab und Gutes in der Herrschaft Knonau 1636, STAZH E I 7.5, Nr. 153. Bevölkerungsverzeichnisse (1633–1767) [hier ‚Seelenbeschreibungen‘ genannt], Sonderkatalog STAZH E II 700.
290 Das Ende der Abgabe von Seelenbeschreibungen 1767 fällt zeitlich fast mit der aufklärerischen Zürcher Schulumfrage 1770/71 zusammen, lanciert von der Moralischen Gesellschaft, als der bekannte Namensvetter des hier relevanten Antistes, Johann Jakob Breitinger (1701–1776), im Examinatorenkonvent war. (vgl. Berner, Vernunft und Christentum, 41 ff.). Die Zusammenhänge beider Evaluationsinstrumente müssen noch analysiert werden.
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Breitinger, Johann Jakob, Synodalreden 1613–1643, in: Ulrich, Johann J. (Hg.): Miscellanea Tigurina, Bd. 1–3, Zürich 1721–1724. — , Sechs Briefe von der Dordrechter Synode an den Rat zwischen dem 30. Oktober 1618 und dem 26. April 1619, in: Ulrich, Johann J. (Hg.): Miscellanea Tigurina, Bd. 2, S. 377–403. — , Grundtlicher Bericht ob ein Sect lenger oder minder wäre als hundert jahr, Zürich 1620. —, Der reformiert-catholische Glaub, Zürich 1640. — , Brief an Godofroy Hotton (1642), in: Täufer und Reformierte im Disput, hg. von Philipp Wälchli, Urs Leu und Christian Scheidegger, Zürich 2010, 137–145. Catechismus: das ist christlicher und kurtzer Underricht in Glaubens Sachen. Zürich 1639. Notwendige Untersuchung (Täuferschrift 1643), in: Täufer und Reformierte im Disput, 167–178. Zürcher Kirchenordnungen 1520–1675, hg. von Emidio Campi und Philipp Wälchli, Zürich 2011. Wahrhaffter Bericht unsers des Burgermeisters, des Kleinen und Großen Raths (Rechtfertigungsschrift 1639), in: Täufer und Reformierte im Disput, 85–128. Vermögens- und Namensverzeichnisse der Täufer (1636–1700), STAZH F I 190-F I 191. Verzeichnisse der Täufer 1633: STAZH Sammelband E II 211a. Verzeichnisse von Ausgewanderten (1657, 1663): E II 270. Wirz, Johann Jacob, Historische Darstellung der urkundlichen Verordnungen, Zürich 1794.
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Bildung als Waffe im Glaubenskrieg
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II. Toleranzideen und -praktiken im Südosten und Nordwesten Europas
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Mihály Balázs
Adam Neuser in Klausenburg
Die aufgrund kürzlich erschlossener Dokumente gewonnenen Ergebnisse von Martin Mulsow und seinen Mitarbeitern zwingen die Forscher der siebenbürgischen Reformation, ihre bisherigen Ergebnisse zu überdenken. Zur Erinnerung: Es geht darum, dass Daniel Gehrt, ein Mitarbeiter der Gothaer Bibliothek das Material von jenem Stefan Gerlach (1546–1612) erneut untersucht hat, der Mitte der 1570er Jahre evangelischer Pfarrer der kaiserlichen Gesandtschaft in Konstantinopel war. Während der Untersuchung sind Autographen von d e m Adam Neuser (um 1530–1576) zum Vorschein gekommen, der zum ersten Mal in Heidelberg wegen seiner antitrinitarischen Ansichten zur Verantwortung gezogen wurde und später, nachdem er entflohen war, nach mehreren erfolglosen Versuchen durch Siebenbürgen in die Gebiete unter osmanischer Herrschaft gelangte, wo er mit riesigem Widerhall zum muslimischen Glauben konvertierte und sein Leben 1576 in Konstantinopel beendet hat. Martin Mulsow veröffentlichte noch nicht alle, teils in Geheimschrift verfassten und nicht einfach zu entschlüsselnden Texte, wichtige Teile sind aber schon zugänglich, darunter auch solche, die über Neusers Aufenthalt in Klausenburg reflektieren.1 In meinem Vortrag geht es darum, was für ein Ergebnis der Vergleich dieser Texte mit den teils lateinischen, teils ungarischen siebenbürgischen Quellen haben kann, die mit dem Klausenburger Auftritt des Denkers in Beziehung gebracht werden können, der ein ziemlich abenteuerliches Leben geführt hat. Unser Ausgangspunkt kann nur das Moment sein, das auch die heutigen Interpretationen beeinflusst, nämlich, dass die sich gegen 1566/67 meldenden Antitrinitarier – ähnlich wie zuvor Michel Servet als Autor von De trinitatis erroribus (1531) – schon von Anfang an mit der Anklage konfrontiert wurden, ihre Religion breche mit dem Christentum und nähere sich dem muslimischen Glauben. „Euer Christus ist ein türkischer Christus“ – wurde ihnen von den siebenbürgischen und ungarischen Anhängern von Beza und Bullinger vorgeworfen. Dies ist ein fester Bestandteil der Streitschriften gegen sie im 17./18. Jahrhundert, und er taucht auch in der modernen kirchengeschichtlichen Fachliteratur auf. Sogar der in vieler Hinsicht ausgewogene Mihály Bucsay (1912–1988) behauptet an einer Stelle in
1 Mulsow, Socinianism, Islam and the radical Uses of Arabic Scholaship, 549–586; ders., Adam Neusers Brief an Sultan II., 293–316; ders., Adam Neuser – Christian Muslims Relations, 420–450; ders., Antitrinitarians and conversion to Islam, 181–193.
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Mihály Balázs
seiner deutschsprachigen Kirchengeschichte, „dass man in Gebieten unter Türkenherrschaft nicht selten auch noch den Halbmond an der Spitze des unitarischen Kirchenturms neben dem Kreuz als Symbol und Einladung zu einer Versöhnung mit dem Islam“ gesehen habe.2 Wir wissen von keiner zeitgenössischen Quelle, die dies behaupten würde, und die aktualisierenden Feststellungen sind auch äußerst unbegründet, laut welcher die Antitrinitarier und ihr Anführer Ferenc Dávid (1510–1579) ihre Sympathie für die Türken zum organischen Teil ihres antitrinitarischen Glaubens gemacht haben und gleichzeitig Verräter des Ungarntums und des Christentums gewesen sein sollen, die „bereit waren, den Gott der Dreieinigkeit gegen Allah zu vertauschen und so auch die zwei Welten zu verschmelzen“.3 Diese hart verurteilenden Stimmen sind auch heutzutage nicht selten; es gehört aber zur Wahrheit, dass andere Vertreter der neueren internationalen Fachliteratur noch auf den Vorurteilen des 16./17. Jahrhunderts bauen, wenn auch unter anderem Vorzeichen: Sie sprechen positiv von diesem Phänomen und feiern die radikalen Antitrinitarier als Vorläufer der Multikulturalität. So erörtern der amerikanische Peter Hughes und der Deutsche Martin Mulsow, dass bei den siebenbürgischen Vertretern des Antitrinitarismus neue Momente im Verhältnis zu den Türken bzw. zum Islam aufgewiesen werden können. Während sich der große italienische Antitrinitarier Fausto Sozzini (1539–1604) und seine Anhänger dem ausdrücklich verschlossen haben, etwas Positives vom Islam zu behaupten, können wir bei den Siebenbürgern andere Erfahrungen sammeln. Es ist also nachweisbar, dass der Aufbau eines guten Verhältnisses zum mächtigen Nachbarn „die ungarischen Antitrinitarier dazu angespornt hat, die Nähe ihrer Religion zum Islam herauszuarbeiten“.4 Für eine detaillierte Widerlegung fehlt hier Gelegenheit, so viel soll jedoch festgehalten werden, dass sich diese Vorstellung durch Quellen überhaupt nicht untermauern lässt. Ich erwähne hier lediglich ein einziges entscheidendes Moment: Peter Hughes meint die erwähnte markante siebenbürgische Eigentümlichkeit anhand eines Werkes feststellen zu können, dessen Titelblatt einem sofort klar macht, dass es ein gemeinsames Werk der siebenbürgischen und der polnischen Kirchen ist und den Standpunkt der einträchtigen Gemeinschaften der zwei Länder enthält.5 Es ist leicht einzusehen, dass es angebracht wäre, nach den ausgesprochen lokalen Spezialitäten in den polnisch- oder ungarischsprachigen Ausgaben zu suchen. In diesen frühesten Werken können wir
2 3 4 5
Bucsay, Der Protestantismus in Ungarn, Bd. 1, 32. Unghváry, The Hungarian Protestant Reformation in the Sixteenth Century, 62. Mulsow, Islam und Sozinianismus. Eine Parallelwahrnehmung, 30–35. Hughes, Servetus and the Quran, 55–70; ders., In the Footsteps of Servetus, 57–63.
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jedoch diese in Bezug auf das Verhältnis zum Islam und zu der Religion der Türken gar nicht auffinden.6 Dies war auch in der sozinianischen Tradition kein Geheimnis und es kann am spektakulärsten mit einem Brief des vielleicht bedeutendsten Sozinianers aus dem 18. Jahrhundert, Samuel Crell (1660–1747), bewiesen werden. Er verteidigt seine Gemeinschaft in den folgenden, trotz ihrer Befangenheit sehr informativen Zeilen gegenüber der Anklage der Türkisierung: Das Dogma von Mohammed wird nicht nur von mir abgelehnt, sondern von allen abgelehnt und verachtet, die sich an Socinus gebunden fühlen. Ich sehe nicht ein, wie die, für die Christus nicht nur der höchste unter den Propheten ist, sondern die glauben, dass er Herr des Himmels und der Erde ist, der mit dem Gottvater die Herrschaft teilt, dem Mohammedanismus verfallen sein könnten. Ich gebe zu, dass die Missgeburten des Unitarismus, die es ablehnen, Christus um Hilfe zu rufen, und verkünden, dass er über die Erde bloß als Prophet ein Tausend Jahre lang herrschen wird, leicht zu Gefangenen dieses Unsinns werden können. Wie es vom Vater dieses Dogmas, Adam Neuser heißt. Von ihm wird es berichtet, dass er zu der Zeit, als Ferenc Dávid mit Blandrata [1516–1588] eine Widerlegung Georg Maiors [1502–1574], des Wittenberger Professors, geschrieben hat, noch vertreten hat, dass wir Jesus um Hilfe rufen müssen, wie es auch mehreren Teilen des Werkes klar zu entnehmen ist. Neuser gibt offen zu, dass er der Erfinder dieses Dogmas ist, und er scheint Ferenc Dávid irregeführt zu haben.[...]7
Samuel Crell fand also bis zur Publikation des Werks wider Georg Maior, d. h. bis 1569, an der Lehre der Siebenbürger nichts auszusetzen, die Tendenzen, die von ihm für Unsinn gehalten werden, wurden erst darauf folgend entfaltet. Die äußerst voreingenommenen Zeilen enthalten auch ein Quäntchen Wahrheit. Sie stellen nämlich dar, dass seit der Mitte der 1570er Jahre zwei Varianten des Antitrinitarismus in Ostmitteleuropa entstanden sind. Die eine hat sich in Polen entfaltet, wo in den 1580er – 1590er Jahren Fausto Sozzini an der Vereinheitlichung der 6 Für eine vergleichende Darstellung dieser polnischen und ungarischen Werke s. Balázs, Early Transylvanian Antitrinitrianism 1567–1571, 27–78. 7 „Non video, quomodo ii, qui Christum non profetam solum modo aliis excellentiorem, sed dominum coeli et terrae, Deo Patri, quantum fieri potest, coniunctum, imperiique eius reapse participem credunt, magis quam alii christiani Mahometismo obnoxi fieri possint. Fateror illa Unitariorum monstra, quae Christum invocandum esse inficiantur, aut tantum pro propheta fere in regno demum millenario regnaturo habent, facilius eo insaniae delabi posse. Ut de Neusero dogmatis ipsius parente refertur. Parente, inquam, Franciscus enim David eo adhuc tempore, quo cum Georgio Blandrata Georgium Maiorem professorem Wittebergensem refutabat, dominum Jesum invocandum esse statuebat. Neuserus vero non obscure sibi dogmatis huius inventionem adscribit, adeoque etiam Franciscum illum seduxisse videtur“, vgl. Johann Ludwig Uhlius, Thesauri epistolici Lacoroziani ex bibliotheca Iordaniana Tomus I (1742), 110–114.
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verschiedenen Varianten erfolgreich gearbeitet hat. Ende des Jahrhunderts konnte er die für ihn unakzeptablen Phänomene marginalisieren, und so hat sich seine Auffassung auch im Bereich der Christologie durchgesetzt. Die andere Variante ist in Siebenbürgen entstanden, deren wichtigster Charakterzug ist, dass sich hier bis zum Ende des 17. Jahrhunderts keine derartige Vereinheitlichung vollzogen hat, die in Polen zu beobachten ist. Wir können also die Anwesenheit eines bunteren, vielfarbigeren Antitrinitarismus registrieren, dessen Variante mit den meisten Anhängern sich gerade während der heftigen Streite mit Fausto Sozzini entfaltet hat.8 Die Frage ist jetzt, ob Samuel Crell recht hat, wenn er behauptet, dass diese non-adorantistische Variante des Antitrinitarismus unter der Wirkung von Neuser entstanden sei, und ob sich das Verhältnis der Antitrinitarier zum muslimischen Glauben in der Tat verändert hat, als die leitenden Gruppen zumindest in Siebenbürgen immer mehr unter den Einfluss des Nonadorantismus geraten sind. Die erste Frage zu beantworten wird durch die in jüngster Vergangenheit erschlossenen Dokumenten erleichtert. Es sind nämlich zwei lateinische Varianten des Briefes an Sultan Selim II. aufgetaucht, verfasst im Sommer 1570 vom Heidelberger Theologen Neuser, aber nie an den Adressaten versandt. Am Anfang dieses Briefes können wir lesen, dass er, nachdem er sich in der Untersuchung der prophetischen und apostolischen Schriften vertieft hatte, zum Schluss kam, dass das gesamte Christentum auf Götzenanbetung beruhe, und falsch über die Glaubensätze seiner Religion, sogar über die Religion selbst dachte. Er stellte fest, dass die Dreieinigkeit, die auf dem Glaubensbekenntnis von Nicäa aufgebaut ist, das wichtigste Symptom und die wichtigste Quelle der Götzenanbetung sei. Demgegenüber preist er den muslimischen Glauben an, der als den einen Gott einzig Gottvater anerkennt und deshalb wahr, rein, lauter und gottgefällig sei. Es ist wichtig hier zu betonen, dass die aus seiner These logisch folgenden weiteren Fragen bezüglich der Christologie oder der Rolle des Heiligen Geistes weder in den Briefen noch anderswo in seinen Ausführungen behandelt werden. Er schweigt sich also gerade über Details aus, die zu dieser Zeit die Anführer der siebenbürgischen Antitrinitarier, die während der Glaubensstreitigkeiten mit den Reformierten zur Konfrontation gezwungen waren, am meisten beschäftigt haben, obwohl ihm diese bekannt waren, da seine Zweifel bezüglich der Richtigkeit der traditionellen Dreieinigkeit in Heidelberg gerade durch die Veröffentlichungen der Siebenbürger erweckt wurden. Wir müssen auch in Betracht ziehen, dass im Fall eines anderen Flüchtlings, Jacobus Palaeologus (1520–1585), der beinahe zu derselben Zeit wie Neuser im Februar 1572 in Siebenbürgen angekommen ist, gerade das Gegenteil erfolgt ist. Er hatte vielleicht detaillierter ausgearbeitete Vorstellungen, er verfasste ab
8 Balázs/ Keserű, Der siebenbürgische Unitarismus, 11–36.
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dem Herbst 1572 aber auf jeden Fall eine Reihe solcher theologischer Aufsätze, die nicht nur eine spannende Vision von den gemeinsamen Momenten der drei großen Religionen, der jüdischen, der muslimischen und der christlichen, skizziert haben, sondern auch eine bestimmte Antwort auf die Frage gegeben haben, die die Siebenbürger sehr beschäftigte, nämlich warum die Bibel Jesus Gott nennt.9 Es scheint dem über die Unterschiede in der Anpassung an die neue Umgebung Gesagten jedoch zu widersprechen, dass wir in einigen Teilen von Neusers Aufzeichnungen lesen können, dass der siebenbürgische Landtag Ende Mai 1572 ein Gesetz direkt wider ihn verabschiedet hat. Darin wurde streng verboten, dass die Konfessionen weitere Religionsneuerungen einführten. Dies ist offenbar übertrieben, obwohl das Konzil der siebenbürgischen Sachsen davor, am 1. Mai 1572 zweifellos gerade gegen den Mohammedanismus und den Atheismus einen Beschluss gefasst hatte.10 Am 22. Mai war der Klausenburger Stadtrat gezwungen, sich mit dem fürstlichen Dekret auseinanderzusetzen, das befahl, die Person, die neulich zu ihnen gekommen und als Prediger angestellt worden sei, nämlich Neuser, wegzuschicken. Neuser hatte also einen größeren Widerhall als Palaeologus, der zwischen Februar und Juni 1572 ebenfalls in Klausenburg war. Gleichzeitig trifft auch zu, dass der griechische Häretiker unter den sächsischen Lutheranern, die eine große Wirkung auf den Fürsten hatten, zu dieser Zeit noch bei weitem nicht so bekannt war wie j ene r Neuser, über dessen Heidelberger Angelegenheiten mehrere in Siebenbürgen studierende Peregrinanten die Siebenbürger informiert haben. Es lohnt sich mit Sicherheit, den Beschluss des Stadtrats wortwörtlich zu zitieren: Ihre Gnaden haben aus der Rede des Herrn Richters verstanden […] dass seine Hoheit, der Fürst empfiehlt, den zu ihnen gekommenen Menschen [Neuser] wegzuschicken. […] Darauf sagen vor allem Ihre Gnaden, der Herr Richter gehe zu viert zum Fürsten, flehe um den neuen Prediger, meldend, dass er [Neuser] kein solcher Mensch sei, über den das Bedenken, dass er dem Lande schaden wollte, aufkommen könnte, sondern ein frommer, gelehrter Mensch, den die Stadt benötige.11
Da wir nicht die Stimme der Prediger, sondern die der weltlichen Leiter gehört haben, die in Fragen der Reputation der Stadt sehr empfindlich waren, können wir uns sicher sein, dass der Heidelberger Flüchtling seine Ansichten in Bezug auf den Nonadorantismus hier noch nicht veröffentlicht hat. Er zählt lediglich als Erstes unter den Neuerungen auf, dass er die Unsterblichkeit der Seele leugnete, was er für die Erfindung der Dichter, der Philosophen und des Papstes gehalten hat. Außerdem
9 Zu Palaeologus nach wie vor grundlegend: Szczucki, W kręgu myślicieli heretyckich. 10 Teutsch, Urkundenbuch der evangelischen Landeskunde A.B. in Siebenbürgen, Bd. 1, 203. 11 Zitiert von Pirnát, Die Ideologie der Siebenbürger Antitrinitarier in den 1570er Jahren, 120.
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beweise der Fall seines Predigerkollegen namens Nicolaus, dass es im Fall dieser These nicht auf die Formulierung (‚forma loquendi‘) ankam, denn wenn dieser die These verwerfen würde, würde auch er wieder eingestellt. Daraus folge, dass er also auch nicht wegen der Art der Formulierung zur Verantwortung gezogen worden sei. Angesichts dessen, dass die radikal denkenden Persönlichkeiten zu dieser Zeit auf verschiedenen Wegen zu dieser Sicht gelangt sind, wäre die schlichte Aussage der These nicht genug, um seine Auffassung näher zu bestimmen. Zum Glück hilft uns der Autor und verrät zumindest den Vornamen eines siebenbürgischen Predigers, der ähnlich wie er denkt. Obwohl wir von mehreren unitarischen Predigern namens Nicolaus (ungarisch Miklós) aus diesen Jahren wissen, gilt es als beinahe sicher, dass es hier um den Unitarier Miklós Tóth geht, mit dem sich ein reformierter Prediger in einem der Kapitel seines Werkes Az halálról, feltámadásról és az örök életről [Über den Tod, die Auferstehung und das ewige Leben] von 1574 leidenschaftlich streitet.12 Davon ausgehend wird uns möglich, seine Ansichten zu rekonstruieren. Der reformierte Gegner bestritt den Standpunkt von Miklós Tóth unter Heranziehung einer langen biblischen Argumentation, laut welcher die Seele des Menschen kein seelisches Wesen sei, und dass sie mit dem Körper bis zum Jüngsten Gericht sterbe. Bei ihm bedeutet also die Leugnung der Unsterblichkeit der Seele nicht die Leugnung der Auferstehung und des ewigen Lebens, sondern er glaubte an die Lehre des Seelenschlafs, die im 16. Jahrhundert in den anabaptistischen Gemeinschaften sehr verbreitet war. In den 1560er Jahren wurde dies auch von der Mehrheit der polnischen Antitrinitarier vertreten, die unter starker anabaptistischer Wirkung standen, und einer ihrer bedeutendsten Prediger, Grzegorz Paweł (ca. 1525–1591), verfasste ein ganzes Buch zur Verteidigung dieser Auffassung.13 Anhand der Äußerungen Neusers ist doch anzunehmen, dass die Vorstellung des unitarischen Predigers, die vielleicht nur mündlich oder eventuell in einem schon verlorenen handschriftlichen Text formuliert wurde, ähnlich gewesen sein könnte. Miklós Tóth hat also – wie Gregorz Paweł – eine streng biblische Argumentation verwendet, in ihren Werken würden wir vergebens nach philosophischen Überlegungen oder Bezügen suchen, sie lehnen deren Implementierung sogar ausdrücklich ab. Ähnliches lässt auch die oben zitierte ausdrucksstarke Äußerung Neusers ahnen, dass die Lehre über die Unsterblichkeit der Seele eine Erfindung der Dichter, der Philosophen und des Papstes sei („figmentum poetarum, philosophorum et papae“). Es scheint mit der Lehre des Seelenschlafes im Einklang zu sein, dass Neuser in jeder Variante des
12 Zu seinem Lebenslauf vgl. Szabó, Egy unitárius hitvitázó [Ein unitarischer Polemiker], 286–289. Die Beschreibung der gegen Bischof Tóth verfassten Schrift: Régi magyaroszági nyomtarványok 1473–1635, Bd. 2, 358. Die gründlichste Wiedergabe des Inhalts liefern Nagy Kálozi und Károlyi, Studia et acta ecclesiastica. Tanulmányok és okmányok a magyarországi hitújítás történetéből [Studien und Urkunden aus der Geschichte der Glaubenserneuerung in Ungarn], Bd. 2, 509–512. 13 Górski, Grzegorz Paweł z Brzezin.
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Briefes an den Sultan – wie in der frühen Zeit der Reformation – die miteinander streitenden weltlichen und kirchlichen Anführer von der Position des gemeinen Mannes aus kritisiert und ihre endlosen Streitigkeiten als Zeichen des Verfalls betrachtet, bei dem die Ideale des Urchristentums aufgegeben würden. Natürlich haben auch die Unitarier bestimmte Elemente dieses Systems in ihrer Kritik an den reformierten Institutionen angewandt; nach dem Ausbau ihrer eigenen Kirchenorganisation haben sie aber die Vorstellungen eines anderen Klausenburger Flüchtlings aus Deutschland, Johannes Sommer (1542–1574),14 bereits abgelehnt. Sommer hat nach der Überarbeitung des Werkes Satanae Stratagemata von Jacopo Aconcio (1492–1566) die Wiederherstellung der Institution der ‚communis prophetia‘ vorgeschlagen. Seine Forderung war, dass auch den einfachen Gläubigen (idiotae) möglich sein sollte, Vorschläge zu machen, die später von der Gemeinde erwogen würden. In der Überarbeitung plädiert er auch entschieden dafür, dass, ähnlich wie in den Zeiten vor Konstantin dem Großen, die Ordination abgeschafft werde sollte, die den Priestern eine besondere Rolle zusichert.15 Aus Neusers Zeilen, die die bestehenden kirchlichen Strukturen leidenschaftlich kritisieren, geht klar hervor, dass er auch ähnlich fundamentalistisch gedacht haben wird, und es ist auch offensichtlich, dass die Anführer der unitarischen Kirchen, die gerade am Ausbau ihrer Kirchenorganisation gearbeitet haben, seine Meinung in dieser Form nicht geteilt haben. Wir können in den Texten von Ferenc Dávid, Biandrata oder anderen Unitariern keine Spuren der eschatologischen Vision sehen, die von Mulsow in den Schriften von Neuser nachgewiesen wurde. Der deutsche Forscher meint nämlich, Neuser habe behauptet, dass Daniel, der in den Kapiteln 2 und 7 seines Buches die Träume von Nebukadnezar ausdeutet, mit dem vierten Reich nicht das römische, sondern das osmanische gemeint habe. Neuser beziehe sich also auf diese biblischen Stellen, wenn er im Brief an Sultan Selim II. formuliert, dass die Christen nicht zögern würden, sich seiner Herrschaft zu unterwerfen, wenn sie Folgendes verstehen, dass nämlich dieses Reich, das jeden Herrscher unter seine Herrschaft treibt, mit dem seinigen gleich sei. Diese eschatologische Ansicht, die sich von der Wittenberger stark unterscheidet, ist in der Tat als sehr bedeutend anzusehen, auch wenn es nicht vollkommen sicher ist, dass die Gleichsetzung des vierten Reiches mit dem osmanischen auf das berühmte Werk Jean Bodins Methodus ad faciliorem historiarum cognitionem von 1566 zurückgeführt werden kann.16
14 Vgl. Pirnát, Siebenbürgener Antitrinitarier, 17–53. 15 Balázs, Einflüsse des Basler Humanismus auf den Siebenbürger Antitrinitarismus, 149–152. 16 Ähnliche Ideen wurden auch unter den Heidelberger Theologen formuliert (von Immanuel Tremellius [1510–1580] und Franciscus Junius [1545–1602]). Dazu eine gründliche Bearbeitung, leider vorläufig auf Ungarisch: Bene, Ratio temporum. Dániel próféta és a magyar történetírás [Ratio temporum. Der Prophet Daniel und die ungarische Geschichtsschreibung], 87–166.
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Dem bisher Gesagten könnte entnommen werden, dass die Rolle Neusers in der Geschichte des siebenbürgischen Antitrinitarismus unbedeutend ist. Dies wäre aber falsch, denn wir wissen auch von einer späteren, überaus interessanten Episode. Es ist aus dem bereits von Gotthold Ephraim Lessing veröffentlichten Brief bekannt, dass Neuser schon 1572 Siebenbürgen verlassen musste und auf den Vorschlag von Ferenc Dávid versuchte, in den Gebieten unter osmanischer Herrschaft eine seiner apologetischen Schriften herauszugeben. Dies ist ihm zwar nicht gelungen, er hat sich aber nach dem Vorschlag des Temeschwarer Paschas zum muslimischen Glauben bekehrt und bis zum Ende seines Lebens in Konstantinopel gelebt. Dass eine bisher unbekannte Ausgabe der Schrift Epistola Jacobi Palaeologi de rebus Constantinapoli et Chii cum eo actis nun zum Vorschein gekommen ist, ist aber ein neues Ergebnis.17 In dieser Ausgabe erwähnt Palaeologus seinen Gesprächspartner von der früheren Edition abweichend nicht unter einem Pseudonym, sondern als ‚Dominus Adam‘, der früher christlicher Pfarrer gewesen sei, sich aber zum muslimischen Glauben bekehrt habe und in Konstantinopel lebe. Das Hauptthema des Dialogs war das Verhältnis des christlichen und des muslimischen Glaubens; als Ausgangspunkt diente eine Handschrift, die als Liber Turcicus erwähnt wird. Dieses Werk, das heute in London aufbewahrt wird, war das Werk von Murad ibn Abdullah mit dem Titel Kitab tesvigetü-t-teveccüh ila-l-hall [Erbauungsbuch des Menschen, der sich an Gott wendet], also das Werk des ungarischen Jungen aus Siebenbürgen, der mit dem Namen Balázs Somlyai geboren wurde und als Kind in türkische Gefangenschaft geraten ist, und dessen spannendes Lebenswerk, unter anderem seine türkischsprachige Ungarn-Chronik, auch in der Fachliteratur große Aufmerksamkeit gefunden hat.18 Adamus, der mit Neuser identifiziert werden kann, hält sich während des Gesprächs daran, dass der muslimische Glaube höheren Ranges sei, während für Palaeologus der zu verbessernde christliche Glaube als Ausgangspunkt dient, und er hielte die Fortsetzung des Gesprächs nur in dem Fall für sinnvoll, wenn sein Gesprächspartner mit der seit langem versprochenen neuen Übersetzung des Korans und mit seinen Kommentaren dazu endlich fertig würde. Der griechische Häretiker hat hier offenbar auf die Parallelität ihrer Tätigkeit verwiesen, da er sich – wie wir dies auch aus anderen Quellen kennen – intensiv mit dem Gedanken trug, eine
17 Martin Mulsow, Adam Neuser. Christian-Muslim Relations, S. 435. 18 Von den neuesten Publikationen zu seiner Person siehe Ács, Bécsi és magyar renegátok mint szultáni tolmácsok: Mahmud és Murád [Wiener und ungarische Renegate als Dolmetscher des Sultans], 249–257; auf englisch Ács, Tarjumans Mahmud and Murad. Austrian and Hungarian Renegades as Sultan’s Interpreters, 307–316; Ács/ Petneházi, Késre menő hitvita 1571-ben Murád Dragomán (Somlyai Balázs) és Arnoldus Manlius között [Ein Glaubensstreit im Jahre 1571 auf Leben und Tod zwischen Murád Dragomán (Balázs Somlyai) und Arnoldus Manlius], 39–45. Über das erwähnte Werk vgl. Krstić, Illuminated by the Light of Islam and the Glory of the Ottoman Sultanate, 35–63.
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lateinsprachige Bibelschrift herauszugeben, die frei von den verdächtigen Stellen ist, die die Dreieinigkeit zu untermauern scheinen. Die Meinungsverschiedenheit bedeutete kein Hindernis für ihre Zusammenarbeit, da der spektakuläre Auftritt des Palaeologus auf dem Konzil der siebenbürgischen Unitarier nach seiner Heimkehr kaum mit etwas anderem erklärt werden kann. Hier kündigte er an, dass er von einer alten griechischen biblischen Handschrift wisse, in der im ersten Vers aus dem Evangelium nach Johannes und im dritten Vers des 19. Kapitels der Offenbarung der Ausdruck Das Wort war Gottes anstatt Das Wort war Gott nach der Vulgata vorkomme.19 Auch Neuser sprach mit großer Wahrscheinlichkeit in seinem schon früher bekannten Brief davon, dass er eine sehr alte griechische Ausgabe des Neuen Testaments an die Siebenbürger übermittelt habe. Da wir heute keinen einschlägigen Codex in der Hand haben, ist in der Fachliteratur auch die geistreiche Interpretation erschienen, dass es hier in Wirklichkeit um eine „literarische, beinahe künstliche Performance-Lüge“ gehe. Anhand der Aufzeichnungen, die jetzt zum ersten Mal von Mulsow untersucht wurden, können wir dies als ausgeschlossen betrachten. Diesen ist zu entnehmen, dass er zusammen mit dem Heidelberger Flüchtling Stefan Gerlach und in Zusammenarbeit mit ihm mehrere Klöster in Konstantinopel und seiner Umgebung auf der Suche nach alten Codices aufgesucht habe; einige Kopien dieser Codices sind auch erhalten geblieben. In den Aufzeichnungen über das Gerlach-Erbe aus dem 16. Jahrhundert gab es sogar welche mit dem Kommentar „Neuseri manum“, und das heißt, diese hat Neuser kopiert. Diese Handschriften sind leider weit verstreut und unter denen, die derzeit in Tübingen zu finden sind, gibt es keine von Neuser. Um zum Anfang unserer Ausführungen zurückzukehren: Wir können sehen, dass nicht einmal Palaeologus und Neuser, die von vielen Zeitgenossen in dasselbe Lager gerechnet wurden, auf einem gemeinsamen Standpunkt waren, geschweige denn die Italiener Giorgio Biandrata (1516–1588) oder Niccolo Paruta (gest. 1581), die aus einer ganz anderen Welt kamen und die viele Jahrzehnte lang in Siebenbürgen gelebt haben. Wollen wir aber das Bild um einige Farben bereichern, so lohnt es sich, mit der Feststellung zu beginnen, die die Forschungen der letzten Jahre offensichtlich gemacht haben: Die Politik der türkischen Behörden wurde auf keinem der Gebiete, die aus dem mittelalterlichen ungarischen Königreich direkt oder indirekt unter osmanische Herrschaft geraten sind, von religiösen Aspekten geleitet. Man kümmerte sich nicht um die konfessionelle Zugehörigkeit der christlichen Untertanen in den Gebieten, die unmittelbar unter ihrer Herrschaft standen, und so haben weder die frühen Reformatoren noch die späteren jesuitischen Missionare
19 Auch György Válaszúti bezieht sich darauf in Pécsi disputa. Válaszúti, Pécsi disputa, 368 und 777.
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ihre Erfolge ihnen zu verdanken. Es sagt uns am meisten, dass die Mitglieder der jesuitischen Missionen ähnliche Berichte am Ende des 16. Jahrhunderts verfassten wie die frühen Reformatoren, und sie sehen sogar die Motivation der osmanischen Behörden ähnlich: Es liege keineswegs im Interesse der Eroberer, über unbewohnte, verödete Gebiete zu herrschen, die regelmäßige Eintreibung der Steuern sei für sie am wichtigsten. Empfindlich reagierten sie bei den konfessionellen Streitigkeiten lediglich, wenn der Kalenderstreit zu eventueller Unordnung führe und die Organisation der Märkte und die Eintreibung der Steuern hindere.20 Diese vom politischen Interesse diktierte Rationalität offenbart sich auch in der Behandlung des Fürstentums Siebenbürgen, des neuen Vasallenstaates, der eine Zeitlang vom mittelalterlichen ungarischen Staat als sein einziger rechtmäßiger Erbe anerkannt wurde. Dies wurde später aufgegeben und der Einfluss auf die Bewilligung der Person des Herrschers, die Bestimmung der Außenpolitik und die Eintreibung der riesigen jährlichen Steuern beschränkt. Von Mitte des 16. bis Ende des 17. Jahrhunderts hatten sich die politischen Anführer des Fürstentums in diesem Rahmen zu bewegen, und wenn diese spektakulär und dauerhaft außer Acht gelassen wurden, wurden sie durch Heereszüge mit dramatischen Konsequenzen bestraft, wie es auch Ende des 16. Jahrhunderts, in der Zeit des sogenannten Langen Türkenkrieges erfolgt ist. Aus der Sicht von Rom oder dem Heiligen Römischen Reich – besonders zu der Zeit, als die Austreibung der Türken auf der Tagesordnung stand – wurde Siebenbürgen oft als Türkenfreund oder türkisierend betrachtet. In der politischen Propaganda erhielt diese Bezeichnung gegen 1570 auch Johann Sigismund Szapolyai (1540–1571), der sich gegen Ende seines Lebens zum Unitarismus bekehrt hat, sowie in den 1620er Jahren der inbrünstige Reformierte Gábor Bethlen (1580–1629), der die Unitarier in seinem Land mit strengen Maßnahmen zurückdrängen wollte. Dieses politisch motivierte Türkisieren hat sich also nicht gesetzmäßig mit der Zuneigung zum muslimischen Glauben oder mit den Programmen, die die Grenzen zwischen den christlichen, jüdischen und muslimischen Glauben lockern wollten, verknüpft. In diesem Rahmen ist die sich herausbildende siebenbürgische unitarische Kirche zu platzieren, für deren Anführer die muslimische Religion der Glaube der erobernden Macht war, die das Fürstentum Siebenbürgen aus dem Leib des mittelalterlichen Ungarns herausreißen wollte, und dies hat verständlicherweise ihre Begeisterung für die synkretischen Vorstellungen stark eingeschränkt, um von einem Anschluss gar nicht erst zu sprechen. Dies ist der Rezeption des Palaeologus zu entnehmen, der in Siebenbürgen bis Mitte des 17. Jahrhunderts – im Gegensatz
20 Szakály, Türkenherrschaft und Reformation in Ungarn, 438–459; Molnár, La Saint-Siege, raguze et les missions catholiques de la Hongrie.
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zu Polen – beinahe kultisch respektiert wurde. Unter seinen handschriftlichen religionssuchenden Werken, die früher an vielen Orten herumgekommen sind, sind nur jene erhalten geblieben, die in die Hände von Siebenbürgern geraten sind; die Codices, die diese enthalten, wurden von zwei unitarischen Bischöfen, György Enyedi (1555–1597) und Máté Toroczkai (1553–1616) zusammengestellt.21 Der erstere stützte sich in großem Maße in seinen ungarischsprachigen Predigten darauf, während der letztere sogar einen ungarischen Katechismus unter Verwendung eines der Hauptwerke von Palaeologus veröffentlichte. Es muss aber betont werden, dass die Adaptation dieser Werke gleichzeitig eine Uminterpretation bedeutet hat. Sehr vereinfacht könnte man sagen, dass sie die non-adorantistische Christologie übernommen haben, die Jesus Christus im Wesentlichen auf die Ebene der Propheten und der Könige des Alten Testaments setzt. Sie haben aber die Vorstellung über die synkretische Einheit der großen Religionen beinahe gänzlich außer Acht gelassen. Ihre Argumente haben sie in den Dienst der kleineren Einheit unter den christlichen Konfessionen gestellt, die sie verwirklichen wollten.22 Diese konnte natürlich auch nicht verwirklicht werden, da ein Programm, in dem Enyedi mit einem geschickten und einfallsreichen Verfahren für die Einführung solcher Formulierungen Vorschläge machte, die – seiner Meinung nach zumindest – sowohl für die die Dreieinigkeit akzeptierenden als auch leugnenden Strömungen akzeptabel seien, kaum Chancen hatten, umgesetzt zu werden. Nach der Herausbildung der Konfessionen gab es dazu keine Möglichkeit mehr, denn wenn einige ihrer protestantischen Landsleute die Vorschläge vielleicht in Erwägung gezogen hätten, wäre dies für ihre europäischen Glaubensgenossen unakzeptabel gewesen. Es reicht hier daran zu erinnern, dass den Siebenbürgener Antitrinitariern von Theologen aus Wittenberg, Genf und Leipzig immer wieder Vorhaltungen gemacht wurden, mit der Absicht, der Erscheinung und Ausfaltung des Antitrinitarismus in Ostmitteleuropa Einhalt zu gebieten. Obwohl ich für die klare Unterscheidung zwischen der oben erwähnten politischen Türkisierung und der Empfänglichkeit für den muslimischen Glauben (oder dessen Duldung) argumentiert habe, möchte ich zum Schluss ein Beispiel dafür nennen, dass diese Haltungen ausnahmsweise jedoch auch aufeinandertreffen konnten. Wie bekannt, setzten die päpstliche Kurie und ihre Verbündeten, die den langen Türkenkrieg als einen Kreuzzug definierten, der die endgültige Freiheit
21 Ein Zusammenfassung von beiden in der Reihe Bibliotheca Dissidentium: Répertoire des non- conformistes religieux des seizième et dix-septième siècles, édité par André Séguenny, en collaboration avec Irena Backus, et Jean Rott: Bd. XV. Ungarländische Antitrinitarier, II. (György Enyedi ), Baden-Baden 1993; Bd. XXIII. Ungarländische Antitrinitarier, III. (Demeter Hunyadi, Pál Karádi, Máté Toroczkai, György Válaszúti, János Várfalvi Kósa), Baden-Baden 2006. 22 Balázs, György Enyedi zwischen Palaeologus und Faustus Sozzini. Anmerkungen zum unbekannten György Enyedi, 15–22.
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schaffen werde, alles daran, um auch Siebenbürgen auf ihre Seite zu ziehen. Dies führte zu großen politischen Konflikten innerhalb des Fürstentums, zumal die Gegner dieser Idee sehr starke Positionen innehatten. Sie hielten es für lebensgefährlich, die bisherige Politik, die über Jahrzehnte die Existenz Siebenbürgens gesichert hatte, aufzugeben. Der verbitterte Streit endete mit der Niederlage dieses Lagers, was auch bedeutete, dass die Anführer, vierzehn hochgebildete Aristokraten, physisch vernichtet wurden. Zehn von ihnen wurden am 28. August 1594 auf dem Marktplatz von Klausenburg spektakulär enthauptet.23 Die zeitgenössischen Historiker verewigten Vieles von diesem dramatischen Ereignis, so wissen wir aus ihren Schilderungen, dass die weltlichen Ankläger die Beschuldigten „Türkenherren, türkische, turkisierende Herren” oder Philosophen nannten, während die bei dem Ereignis eine Schlüsselrolle spielenden Jesuiten deren Gottlosigkeit und Glaubenslosigkeit hervorhoben.24 Unter den Enthaupteten gab es gleichermaßen Katholiken, Reformierte und Unitarier; es ist aber vielleicht kein Zufall, dass ihre Politik von einer einzigen kirchlichen Persönlichkeit verteidigt wurde. Der oben mehrmals erwähnte Bischof György Enyedi hielt eine Predigt auf der Grundlage des 21. Kapitels des Buches des Propheten Jeremia, in der er den türkischen Kaiser mit Nebukadnezar, die siebenbürgischen Herrscher mit Zedekia identifizierte. Er sagte, die letzteren hätten jedes Mal dann korrekt gehandelt, wenn sie sich an den Treueschwur gegenüber dem türkischen Kaiser gehalten hätten, auch wenn er große Steuern als Gegenleistung gefordert habe.25 Als Gábor Báthory sich jedoch dem Feldzug zur Vertreibung der Türken anschloss, nachdem er seine politischen Gegner ausgeschaltet hatte, begab er sich auf einen sehr riskanten Weg.26 Der Papst und die Habsburger sahen darin einen neuen Kreuzzug und förderten ihn mit gewaltiger Propaganda. Trotz der anfänglichen Erfolge endete er jedoch mit einem völligen Misserfolg und in Siebenbürgen wurden die katastrophalen Folgen schnell deutlich. Der Sultan entsandte auch hierhin Truppen, infolge dessen das zuvor friedliche Fürstentum sich in einen Schauplatz heftiger Kämpfe verwandelte und schwere Verwüstungen erleiden musste. Laut zeitgenössischen Berichten über diese Ereignisse sind viele Historiker der Ansicht, 23 Balázs, Máté Toroczkai, in: ders., Ungarländische Antitrinitarier III, 93. 24 Über die Ereignisse informiert ein in Handschrift gebliebenes lateinisches Werk von einem zeitgenössischen Historiker , der auch die Reden auf den Landtagen dokumentierte: Stephanus Zamoscius, Rerum Transylvanorum Pentades. ediert in: Monumenta Hungariae Historica, II, Scriptores, XXX, Budapest 1880, 40–48. Ein Geschichtsschreiber aus dem 18. Jahrhundert, der sich auf später aufgetauchte handschriftliche Quellen stützte, teilt weitere wichtige Ergänzungen mit: Wolfgang de Bethlen, Historia de rebus Transsylvanicis, T. III., Liber septimus, Cibini [Hermannstadt] 1784, 2–325. Eine moderne Zusammenfassung in deutscher Sprache: Kurze Geschichte Siebenbürgens, hg. von Béla Köpeczi, Red. der deutschen Ausgabe von Zoltán Szász, Budapest 1990, 231–234. 25 Káldos/ Balázs, Ungarländische Antitrinitarier II: György Enyedi, S. 117–130, hier 124. 26 Kruppa, Die Religionspolitik der Bathorys, 135–151.
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dass dies für Siebenbürgen ebenso verheerend war wie die Niederlage bei Mohács im Jahr 1526, die zum Zerfall des mittelalterlichen Ungarn führte.
Literatur Ács, Pál, Bécsi és magyar renegátok mint szultáni tolmácsok: Mahmud és Murád [Wiener und ungarische Renegaten als Dolmetscher des Sultans], in: ders.: „Az idő ósága“. Történetiség és történetszemlélet a régi magyar irodalomban [Die Altertümlichkeit der Zeit. Historizität und Geschichtsauffassung in der älteren ungarischen Literatur], Budapest 2001, 249–257. –, Tarjumans Mahmud and Murad. Austrian and Hungarian Renegades as Sultan’s Interpreters, in: Bodo Guthmüller/ Wilhelm Kühlmann (Hg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 54), 307–316. – / Petneházi, Gábor, Késre menő hitvita 1571-ben Murád Dragomán (Somlyai Balázs) és Arnoldus Manlius között, [Ein Glaubensstreit im Jahre 1571 auf Leben und Tod zwischen Murád Dragomán (Balázs Somlyai) und Arnoldus Manlius], in: MONOKgrafia. Tanulmányok Monok István 60. születésnapjára, hg. von Judit Nyerges, Attila Verók und Edina Zvara, Budapest 2016, 39–45. Balázs, Mihály, Early Transylvanian Antitrinitarianism 1566–1571. From Servet to Palaeologus, Baden-Baden, 1996 (Bibliotheca Dissidentium. Scripta et Studia 7). –, György Enyedi zwischen Palaeologus und Faustus Sozzini. Anmerkungen zum unbekannten György Enyedi, in: Mihály Balázs und Gizella Keserű (Hg.), György Enyedi and Central European Unitarianism in the 16–17th centuries, Budapest 2000 (Studia Humanitatis 11), 15–22. –, Einflüsse des Baseler Humanismus auf den Siebenbürger Antitrinitarismus, in: Volker Leppin/ Ulrich A. Wien (Hg.), Konfessionsbildung und Konfessionskultur in Siebenbürgen der frühen Neuzeit, Stuttgart 2005 (Quellen zur Geschichte des östlichen Europa 66), 149–152. – / Káldos, Janos, Ungarländische Antitrinitarier, Bd. II: György Enyedi, Baden-Baden 1993 (Bibliotheca Dissidentium. Répertoire des non-conformistes religieux des seizième et dix-septième siècles, édité par André Séguenny, en collaboration avec Irena Backus, et Jean Rott, Bd. 15). –, Ungarländische Antitrinitarier, Bd. III: Demeter Hunyadi, Pál Karádi, Máté Toroczkai, György Válaszúti, János Várfalvi Kósa, Baden-Baden 2006 (Bibliotheca Dissidentium, Bd. 23). Balázs, Mihály/ Keserű, Gizella, Der siebenbürgische Unitarismus. Zum Forschungsstand, in: Radikale Reformation. Die Unitarier in Siebenbürgen, hg. von Ulrich A. Wien, Juliane Brandt und András F. Balogh, Köln/Weimar/Wien 2013 (Studia Transylvania 44, 11–36.
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Formen gelebter Toleranz in Ungarn: Péter Perényi, Péter Pázmány, Ferenc Rákóczi II.
In meinem Beitrag gehe ich von drei Thesen der Monographie Jean Bérengers mit dem Titel Tolérance ou paix de religion en Europe centrale (1415–1792) aus dem Jahre 2000 aus. Die Lage der Religion in Ungarn und Siebenbürgen untersucht Bérenger in drei Kapiteln, in einem Gesamtumfang von ca. fünfzig Seiten. Ich zitiere drei Schlussthesen: 1. „Dans l’Europe moderne, la tolérance au sens où nous l’entendons n’existe pas encore […]“; 2. „Le seul État en Europe où existe la tolérance est paradoxalement l’Empire ottoman […]”; 3. „La seule exception dans l’Europe chrétienne est finalement un petit pays marginal, […] la principauté de Transylvanie.”1 Im Folgenden möchte ich diese Thesen anhand von drei Fallbeispielen nuancieren und auf der Mikroebene weiter differenzieren. Die Erforschung der interkonfessionellen und interreligiösen Verbindungen im frühneuzeitlichen Ungarn unter Einbezug bisher nicht untersuchter Quellen brachte in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren mehrere neue Ergebnisse.2 Die Berichte der ersten Prediger um die Mitte des 16. Jahrhunderts über die frühen Erfolge der Reformation erwiesen sich nach diesen Untersuchungen meistens als unzuverlässig.3 Die Bibelübersetzungen sämtlicher Konfessionen wurden nicht durch die Entwicklung der Philologie, sondern vor allem durch theologische Gesichtspunkte bestimmt.4 Vorurteile und Topoi waren viel stärker als das Bedürfnis nach dem Erkennen des Anderen, die unbefangene Analyse wurde meistens durch ideologische Deutungen ersetzt. Im Interesse der Rechtfertigung der eigenen Konfession oder der Stärkung ihrer Positionen galt fast nichts als unerlaubt oder als unwürdig. Die Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts übernahmen die Argumente für die eigene Konfession oder für andere Konfessionen mehr als einmal vom Gegner selbst, kehrten diese um und gaben sie in die andere Richtung weiter. Die frühe Neuzeit war nicht eine Zeit des interreligiösen und interkonfessionellen Dialogs
1 Bérenger, Tolérance, 253, 258, 259. 2 Beispiele aus einer umfangreichen Fachliteratur: Bahlcke/ Strohmeyer (Hg.), Konfessionalisierung; Brandt/ Balogh (Hg.), Radikale Reformation; Bernhard, Konsolidierung; Ittzés (Hg.), Viszály és együttélés; Száraz/ Fazakas/ Imre (Hg.), A reformáció emlékezete. 3 Őze, Reformation und Grenzgebiete. 4 Ács/ Louthan, Bibles and Books, 390–411.
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und der Toleranz, sondern viel mehr eine Epoche der Polemik und der Intoleranz, des mehr oder wenig offenen Streits. Die vieldiskutierte Frage, ob sich zwischen der Verbreitung der Reformation und der Eroberung des Landes durch die Osmanen ein direkter Zusammenhang nachweisen lässt, ist bis heute offen.5 Die Osmanen unterstützten die Reformation, anders als bisher angenommen, kaum bzw. gar nicht. Am Anfang haben die Osmanen versucht, sich den Protestanten zu nähern, diese Versuche wurden jedoch zumeist zurückgewiesen. Später machten die Osmanen keinen Unterschied zwischen den Konfessionen.6 Die Gegenwart der osmanischen Macht mag ebenfalls zur duldsamen Haltung der weltlichen Behörden im 16. Jahrhundert beigetragen haben. Die pragmatische Religionspolitik der Osmanen zielte auf die Ortsgebundenheit der Bevölkerung und auf die Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse, um die Bedingungen der Steuererhebung zu sichern. Die Islamisierung der ungarischen Bevölkerung blieb eher sporadisch. Die Kenntnisse der Theologen und anderer Autoren über den Islam waren eher punktuell und wurden oft aus indirekten Quellen geschöpft; diese Kenntnisse verwendete man nicht zum besseren Verständnis der Andersgläubigen, sondern man stellte sie in den Dienst des Sieges über sie. In den polemischen Schriften des 16. Jahrhunderts wurde der Islam häufig als rhetorisches Mittel gebraucht, um eine andere christliche Konfession unglaubwürdig zu machen. Das Islambild der katholischen und protestantischen Autoren bildete sich im Zeichen der Abschreckung, der Verteidigung und der konfessionellen Auseinandersetzungen heraus. Die Mehrheit der in Ungarn vernichteten Sakralbauten wurde nicht durch die osmanische Eroberung, sondern erst durch die Wiedereroberung zerstört. Die Vorgeschichte der osmanischen Gebetshäuser, die in christliche Kirchen umgebaut wurden, wurde aus der kulturellen Erinnerung völlig eliminiert; manche Motive der islamischen Kunst gelangten häufig nicht aus direkten osmanischen Quellen, sondern durch italienische oder deutsche Vermittlung nach Ungarn. Ein wesentlicher Faktor der interreligiösen und interkonfessionellen Verbindungen war ein gewisser Pragmatismus, der sich aus dem gezwungenen Zusammenleben von verschiedenen Konfessionen, Religionen und Ethnien ergab. Die Wechselwirkungen und die gegenseitige Annahme des Anderen funktionierten innerhalb des Christentums insgesamt besser, kamen aber manchmal auch zwischen Christentum und Islam zur Geltung. Die neuen Untersuchungen machen auch darauf aufmerksam, dass die Reformation heute für keine Seite ein Mittel der Selbstrechtfertigung sein kann und die Verantwortung für die konfessionellen Spaltungen und für das Leid, das aus den religiösen und konfessionellen Streitigkeiten
5 Dobrovits/ Őze, Wandel des Türkenbildes, 42–47; Fodor, The Ottomans and their Christians, 137–147. 6 Szakály, Türkenherrschaft und Reformation, 437–459.
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hervorging, nicht ausschließlich der einen oder der anderen Seite zugeschrieben werden kann. Sogar inmitten der schärfsten religiösen und konfessionellen Konflikte konnte man den Rahmen des Zusammenlebens finden und manche Werte der anderen Seite anerkennen und annehmen. Toleranz und Intoleranz hatten im Ungarn der Reformationszeit, aber auch noch lange danach kaum mit Theorien zu tun. Eine gewisse Duldsamkeit wurde sowohl von den katholischen als auch von den protestantischen weltlichen Obrigkeiten praktiziert, unabhängig von der konfessionellen Überzeugung; dieses Verhalten wurde überwiegend durch politische und pragmatische Überlegungen mitbestimmt. Vor allem politische Überlegungen waren auch für die massive Gewaltanwendung der Gegenreformation in den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts verantwortlich. Das Ungarische Königreich wurde nach der Eroberung Budas durch die Osmanen im Jahre 1541 zu einer Grenzregion in der östlichen Mitte Europas zwischen dem Osmanischen Reich und dem Habsburgerreich, die durch innere Grenzen in drei Teile weiter unterteilt war: türkisch-Ungarn, das von den Osmanen nicht besetzte habsburgische Oberungarn und das Fürstentum Siebenbürgen. Die politischen Demarkationslinien waren in dieser Pufferzone mobil, ein ideeller Transfer war zwischen dem Eigenen und dem Fremden immer wieder möglich. Das Land wies ein breites Spektrum von religiösen, konfessionellen und kulturellen Differenzierungen auf engem Raum auf, ihm kam in dieser Hinsicht, ebenso wie z. B. Schlesien,7 eine Sonderstellung zu. Als religiöse Brückenlandschaft zeigt es den Austausch vor allem zwischen Ost und West, aber auch zwischen Süd und Nord. Große Gruppen der geistigen Elite empfingen wichtige Anregungen in Wittenberg, in der Kurpfalz, der Schweiz, den Niederlanden und in England, aber auch in Böhmen und Schlesien. In der Zips in Oberungarn und bei den Sachsen in Siebenbürgen breitete sich eine mächtige lutherische Bewegung aus, im östlichen Teil türkisch-Ungarns und bei den Ungarn in Siebenbürgen vollzog sich die Evangelisierung im Zeichen Calvins. Darüber hinaus kamen mit dem Eindringen reformatorischen Gedankenguts in Siebenbürgen Weiterbildungen zum Tragen, die sich beispielsweise mit dem Namen Ferenc Dávids (ca. 1520–1579), György Enyedis (1555–1597) und den Unitariern verbinden. Affinitäten zu mystisch-spiritualistischen Formierungen, wie z. B. den Sabbatariern, waren nur sporadisch prägend. Das Zusammenleben der Konfessionen in Siebenbürgen war nicht ganz so harmonisch, wie dies in der früheren Forschung angenommen wurde. Nicht zu unterschätzen sind die Einflüsse der Brüderbewegungen in Böhmen, Mähren und Schlesien sowie der Einfluss der Glaubensflüchtlinge aus Italien, wie Giorgio Biandrata (1516–1588) und Fausto Sozzini (1539–1604), weiterhin aus
7 Garber, Religionsfrieden und praktizierte Toleranz, 87–131.
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Böhmen und Mähren nach der Schlacht am Weißen Berg (1620).8 Die konfessionelle Diversität der Territorien, beschränkt auf die „vier rezipierten Konfessionen”, war seit 1568 nur in Siebenbürgen rechtlich abgesichert. Wenn man noch die griechisch Orthodoxen, die Katholiken und die Muslime dazunimmt, hat man einen Eindruck von der besonders komplexen religiös-konfessionellen, ethnischen und juristischen Konfiguration.9 Die Reformierten und die Unitarier waren in der Regel Ungarn, die römisch Katholischen waren Ungarn, Deutsche, Kroaten und Slowaken. Die griechisch Katholischen (Union von Ungvár, 1646) waren in der Regel Ruthenen, Rumänen, Ungarn und Slowaken, die griechisch Orthodoxen waren Rumänen und Serben, die Lutheraner Ungarn, Deutsche und Slowaken.10 Ungarn war also eine ideale Landschaft für eine von Gewalt begleitete Diversifikation des Christentums, für heftige Kämpfe innerhalb der reformatorischen Bewegungen sowie zwischen Christentum und Islam, für theologische Lehrstreitigkeiten und für konfessionelle Bürgerkriege, aber auch für ein ständiges Geben und Nehmen, für interkonfessionelle und interreligiöse Verbindungen, für eine konfessionell bestimmte Vielfalt der Literatur und für Bestrebungen nach einer Überwindung des Konfessionalismus. Es gibt mehrere Bespiele dafür, dass sich weitsichtige Intellektuelle, aber auch Institutionen von den Kämpfen abgewandt und, aus welchen Überlegungen auch immer, Versöhnung und Toleranz praktiziert und dadurch Wege zur Aufklärung geebnet haben. Die zeitgleiche Gegenwart der verschiedenen ethnischen, konfessionellen und sozialen Gruppen ergab mannigfaltige Formationen des konfessionellen Zusammenlebens, die von den offiziellen kirchlichen Erwartungen häufig bedeutend abwichen.
1.
Péter Perényi und die Haltung der Patronatsherren im 16. Jahrhundert
Im Jahre 1537 kam Johannes von Weeze (um 1490–1548), nominierter Erzbischof von Lund, Bischof von Konstanz, persönlicher Gesandter Karls V. bei den Friedensbesprechungen von Großwardein, nach Ungarn, um zwischen den zwei Königen des Landes, Ferdinand I. und János I., zu vermitteln. Der Hochadlige Péter Perényi (1502–1548), erster königlicher Wächter der ungarischen Reichskrone zwischen 1514 und 1539, war seit Jahrzehnten eine Schlüsselfigur der ungarischen Politik. Er wechselte mehrmals seine Parteistellung; seine Gegner gaben ihm den Spottnamen
8 Papp, Biblikus cseh nyelvű gyászbeszédek. 9 Varga, Ethnic Groups, 13–27; Bácsfainé Dr. Hévizi, Etnikai és vallási megoszlás. 10 Vgl. Tamás, A Rákóczi kor, 87.
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„Ischariot“. Im genannten Jahr war er Führer der Gruppe um König János I. Spätestens seit 1542 korrespondierte er mit Melanchthon. Perényi war nicht bereit, an den Friedensverhandlungen der beiden Könige persönlich teilzunehmen, so musste der kaiserliche Gesandte zu Perényi nach Sárospatak reisen. Weeze wurde dort, nach eigenen Aufzeichnungen, nicht besonders freundlich aufgenommen; Perényi begleitete ihn beim Besuch der Pfarrkirche nicht, und auch zu Weihnachten war er abwesend. Das zeigt, dass in der Pfarrkirche von Sárospatak, deren Patronatsherr aufgeschlossen für die Reformation war, die katholische Liturgie beibehalten wurde. Perényi war Patron auch zahlreicher weiterer Pfarrkirchen, in denen man den Gottesdienst nach katholischem Ritus abhielt.11 Perényi wird in der Fachliteratur meistens als Lutheraner qualifiziert, so einfach ist die Lage aber nicht. Er wollte keine neue Konfession; eher wollte er die Kirche erneuern und bewahrte dabei durchaus auch manche „katholischen“ Relikte. Ab 1539 unterhielt er einen Hofprediger, Mátyás Dévai Bíró (um 1500–1545), der in Wittenberg studiert hatte; auf seinem Gut Siklós war Mihály Sztárai (gest. 1575), ebenfalls Lutheraner, der Schulmeister. Nachdem sich Perényi mit Dévai Bíró in einem theologischen Disput überworfen hatte, in dem er seinen, im wesentlichen katholischen, Standpunkt in der Frage des Abendmahls vertrat, ließ er den Prediger vertreiben.12 Perényi war der Auffassung, dass Christus im Abendmahl nicht nur symbolisch, sondern auch real präsent sei. In dieser Hinsicht verknüpfte er Traditionsverbundenheit mit dem Radikalismus der katholischen Reform, verbunden vor allem mit dem Namen Gasparo Contarinis (1483–1542). Dass er seinen Sohn nicht nach Wittenberg, sondern nach Padua, zusammen mit seinem Schulmeister Sztárai, schickte, zeigt seine Zuneigung zu den traditionellen Formen der Peregrination.13 Im Iahre 1540, vermutlich ebenfalls in Sárospatak, verhandelte Perényi mit Palatin Elek Thurzó (ca. 1490–1543), seinem persönlichen und politischen Freund, ebenfalls aufgeschlossen für die Reformation, darüber, unter welchen Bedingungen er sich an die Partei Ferdinands I., nunmehr bereits zum dritten Mal, anschließen könnte. Am Anfang der Verhandlungen stand, nach den Aufzeichnungen Thurzós und nach zwei weiteren Schriften, die Frage der Religion. Perényi bat den König um eine Garantie, dass er seinen Glauben beibehalten dürfe. In seiner Antwort bestätigte Ferdinand, dass Perényi ein guter Christ sei, der sich benimmt, wie dies von jedermann zu erwarten ist, „in Gottesfurcht und nach unserem wahren katholischen Glauben“. Ferdinand gab also eine typisch vortridentinische Antwort, da die Nachfolge des katholischen Glaubens um 1540, als sich noch sämtliche Konfessionen als katholisch betrachteten, nicht ausschließlichen Charakters war.
11 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Péter, Tolerance and intolerance, 249–260. 12 Téglásy, „Deine Arbeit ist gottgefällig”, 110. 13 Briefliche Mitteilung von Imre Téglásy an G. Tüskés, 28. 08. 2018.
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Perényi war mit der Antwort Ferdinands zufrieden, die Verhandlungen wurden erfolgreich abgeschlossen. In diesem Fall ist nicht die Tatsache des wiederholten Parteienwechsels merkwürdig, sondern dass die Sicherung der eigenen Religionsfreiheit eine wichtige Bedingung Perényis war. Ferdinand sicherte die Religionsfreiheit Perényis im Falle seines Übertritts eindeutig aus politischen Überlegungen. Im Umkreis des Königs fanden sich mehrere ungarische Aristokraten lutherischer Prägung, wie z. B. Ferenc Révay (1489–1553), Tamás Nádasdy (1498–1562) und Ferenc Frangepán (ca. 1490–1543); es gibt kein Zeichen dafür, dass Ferdinand die konfessionelle Überzeugung seiner Verbündeten beinflussen oder die Protestanten von seinem innneren Kreis fernhalten wollte. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts verursachte die Religion im Verhältnis zwischen Herrscher und Ständen keine größere Spannung und die Verfolgung der Religion erschien überhaupt nicht unter den Gravamina der Stände. Ferdinand, seine Nachfolger im 16. Jahrhundert und Perényi betrachteten die Religionsausübung in gleicher Weise als Privatsache. Ganz anders als in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts, als 1523 ein Gesetz das Auftreten gegen die Lutheraner und ihre Verteidiger zur Pflicht des Königs deklarierte. 1548 wurde dieses Gesetz jedoch widerrufen. Perényi wurde von seinen Leibeigenen nie wegen Intoleranz angeklagt. Das geht aus einer Untersuchung hervor, die nach seinem Tode königliche Beamte auf seinen Gütern durchführten. Zahlreiche Beschwerden im Bereich der Steuererhebung und der Arbeitsleistungen wurden registriert, in Religionssachen wurde aber keine Klage erhoben. Perényi wollte seinen Glauben den Untertanen nicht aufzwingen. Die meisten Patronatsherren im 16. Jahrhundert waren von der gleichen Haltung geprägt. Die Reformation verbreitete sich in Ungarn überwiegend ohne Gewalt, Zeichen eines spontanen Antiklerikalismus und physische Konfrontationen waren eher selten. Die relativ friedliche Lage hing vor allem mit der Zurückhaltung der Patronatsherren in Religionssachen zusammen, die ihre Rechte unabhängig von der eigenen konfessionellen Überzeugung ausübten. Diese elastische Struktur bildete sich in Ungarn ab dem 13. Jahrhundert heraus, als Rumänen griechisch-orthodoxen Glaubens in Siebenbürgen in großer Zahl angesiedelt wurden und ihren Glauben frei ausüben konnten. Der konfessionelle Unterschied zwischen Patronatsherr und Gemeinde ist in der Zeit der Reformation zu einer gut bewährten Praxis geworden. Die weltlichen Patronatsherren haben die alten und neuen Formen der Frömmigkeit meistens toleriert. Als der ungarische Landtag von 1548 das Predigen für Laienpriester verbat, wurden „viele Herren und Adlige“ wegen der Duldung dieser Prediger angeklagt. Eine Folge dieser Haltung war, dass zahlreiche städtische Magistrate die Religionsausübung unterschiedlicher Konfessionen duldeten; in den Dörfern wurde dasselbe Kirchengebäude oft von verschiedenen Konfessionen gebraucht. In Siebenbürgen regierten von 1541 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, bis auf sieben
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Jahre, katholische Fürsten, die von den Protestanten ohne weiteres als höchste weltliche Macht akzeptiert wurden. Isabella vom Jagellonenhaus, Witwe von König János I., bestätigte 1543, trotz des Einspruchs des katholischen Klerus, das neue Glaubensbekenntnis der Sachsen; auf dem Landtag von 1557 nahm sie für die Verteidigung sämtlicher Religionen Stellung. Fürst István Báthory (1533–1586), Katholik, bestätigte 1571 den ersten gewählten Superintendenten der Antitrinitarier in seinem Amt. Siebenbürgen wurde unter den katholischen Fürsten zu einem Refugium von Freidenkern und radikalen Reformatoren aus Europa. Es war Rudolf II., der für manche Turbulenz um die Religionssache sorgte. 1604 wurden in den königlichen Freistädten den Protestanten mehrere Kirchen weggenommen, katholische Priester wurden eingesetzt. Dieses Verfahren war eine der Hauptursachen des Aufstandes von Fürst István Bocskai (1557–1606). Die Argumentation Rudolfs und seiner Ratgeber, wonach die königlichen Freistädte Eigentum des Königs seien, wurde von den Ständen nicht akzeptiert. Diese meinten, diese Städte seien Eigentum der Krone, die den Ständen gehört, so könne der König das Patronatsrecht in diesen Städten nicht ausüben. Dieser Streit stellte die Religionssache ins Zentrum des politischen Lebens; dem König wurde sogar vorgeworfen, er habe die Religionsfreiheit des Landes verletzt. Die Figur Perényis ermöglicht auch einen weiteren Aspekt der Toleranzfrage in Ungarn anzudeuten. Im Jahre 1532 wurde Perényi trotz eines Schutzbriefes Sultan Suleimans von den Osmanen gefangengenomen. Um sich aus der Gefangenschaft zu befreien, ließ er seinen erstgeborenen Sohn, den achtjährigen Ferenc, als Geisel zurück. Zehn Jahre später, im Jahre 1542 ließ dann Ferdinand I. Perényi wegen Freundschaftsverdacht mit den Osmanen gefangennehmen. Der König hielt ihn ohne Urteil sechs Jahre lang, fast bis zum Tode, in Gefangenschaft. In der Gefangenschaft in Wien und Wiener Neustadt konzipierte Perényi eine Bibelkonkordanz in Versen, die mit Kupferstichen Augustin Hirschvogels illustriert und 1550 in Wien in vier verschiedenen Fassungen posthum veröffentlich wurde.14 Der Band enthält 88+18, d. h. insgesamt 106 typologische Parallelen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, von denen sich nur bei einigen eine ausgesprochen lutherische Inspiration nachweisen lässt. Das Werk nimmt sich nach den Untersuchungen Imre Téglásys insgesamt eher „überkonfessionell“ aus.15
14 Perényi/ Hirschvogel, Vorredt unnd eingang der Concordantzen Alt und News Testaments. 15 Téglásy, „Deine Arbeit ist gottgefällig”, 109–111.
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2.
Péter Pázmány und seine Stellungnahme zur Religionsfreiheit
Im Sommer 1608 stand Erzherzog Matthias vor einer schwierigen kirchenpolitischen Entscheidung. Im Juni ließ er seinen Bruder, Rudolf II. , zum eigenen Besten auf den Thron verzichten; um die protestantischen Stände für sich zu gewinnen, war er bereit, Konzessionen in Religionssachen zu machen.16 Für die Stände war die Kodifizierung der Punkte des Friedens von Wien (1606), inbesonders die der Deklarierung der Religionsfreiheit, das wichtigste. Da Rom und der ungarische Klerus unter der Leitung von Erzbischof Ferenc Forgách (1560–1615) dies verhindern und die entsprechenden Resolutionen für nichtig erklären wollten, trübte sich das Verhältnis zwischen Matthias und Forgách. Um die Entscheidung zu erleichtern und die politische Spannung zu lösen, bat der designierte ungarische König vor seiner Krönung fünf namhafte katholische Theologen um eine Stellungnahme zur Frage der Religionsfreiheit für die Protestanten. Die Stellungnahme von vier Erzpriestern, darunter Melchior Klesl (1552–1630), Bischof von Wien, Johannes Grosthoman, Doktor der Theologie, Giovanni Garzia Mellini (1562–1629), Kardinal und päpstlicher Legat sowie ein Erzpriester, der seinen Namen verschwieg, war eindeutig negativ, allein die Antwort des ungarischen Jesuiten Péter Pázmány (1570–1637) fiel anders aus.17 Pázmány konvertierte 1583 mit dreizehn Jahren vom Calvinismus zum Katholizismus. Er studierte als Jesuitennovize in Krakau, Jaroslaw, Wien und Rom, unterrichtete Philosophie und Theologie in Graz, missionierte in Oberungarn, arbeitete als Sekretär am Hof von Erzbischof Forgách und trat allmählich als führende Persönlichkeit der Gegenreformation hervor. Im ersten Teil der Gedenkschrift zählt Pázmány einundzwanzig Argumente (rationes) für und im zweiten Teil acht Argumente gegen die Gewährung der Religionsfreiheit für die beiden großen protestantischen Konfessionen auf. Im ersten Punkt weist er darauf hin, dass „die Ungarn mit den Osmanen und den Tataren eng verbündet sind; sie würden sich eher diesen unterwerfen als auf die Religionsfreiheit verzichten.“ Dies bezieht sich eindeutig auf Siebenbürgen und auf den von István Bocskai geleiteten und kurz zuvor beendeten Aufstand gegen die Habsburger. Im folgenden argumentiert Pázmány auf biblischer Grundlage: Obwohl die Hl. Schrift die Duldung von falschen Religionen verbietet, beziehe sich dies seiner Meinung nach nur auf die neuen und noch nicht etablierten Religionen, aber nicht auf jene, die durch manche Fürsten bereits früher gebilligt wurden. Es gäbe keinen Grund, diese nachträglich zu verbieten. Im Punkt sechs bemerkt Pázmány, dass für jene, die weit weg vom Land wohnen, es leicht sei, einen negativen 16 Perényi/ Hirschvogel, Vorredt. 17 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Bitskey, Der ungarische Jesuit Péter Pázmány, 453–472. Im Anhang mit dem Text des Memorandums. Die Erstveröffentlichung des Textes: Pázmány, Összegyűjtött levelei, 26–29.
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Standpunkt in der Frage der Religionsfreiheit zu vertreten; würden sie jedoch am Ort leben, würden auch sie andere Ansichten vertreten. Pázmány kannte die religiöskonfessionelle Lage des Königtums aus eigener Erfahrung besonders gut, seine Stellungnahme beruht auf einer nüchternen Sicht der Realität. Es sei unmöglich, die bereits verbreiteten neuen Lehren mit einem Verbot aufzuhalten, argumentiert Pázmány weiter. Man müsse nicht nur das berücksichtigen, was Recht ist, sondern auch das, was de facto vorliegt und was zu erwarten ist. Die zitierten Beispiele aus dem Alten Testament – Aaron, David, Rehabeam und die Bewahrung des heiligen Feuers in der Gefangenschaft durch die Israeliten – in den Punkten acht bis zwölf beweisen die Notwendigkeit der Anpassung an die bestehenden Verhältnisse. Weder das 1. Konzil von Nikaia noch das Konzil von Trient konnten die Verbreitung der Häresien verhindern, meint Pázmány. In den Punkten fünfzehn bis neunzehn18 folgen Beispiele aus der europäischen Geschichte und aus der Gegenwart, die alle die Notwendigkeit der Religionsfreiheit und die Unangemessenheit der Gewaltanwendung beweisen: Er nennt insbesondere Kaiser Karl V.,19 die böhmischen Könige, den spanischen König und jene mittelund nordeuropäischen Länder und Städte, in denen der Katholizismus neben dem Protestantismus weiterlebt und sogar aufblüht. Im Falle der Religionsfreiheit, so das letzte Argument, sei zu hoffen, dass auch die katholischen Stände eifriger die Religion ausüben und alles tun werden, sie zu unterstützen. Die Gegenargumente sind eher kurz ausgeführt und enthalten vor allem theoretische Überlegungen. Die falsche Religion sei die schlimmste Sache auf der Welt, sagt Pázmány. Selbst wenn man ein gutes Ziel erreichen will, darf man nicht schlecht handeln oder eine falsche Sache unterstützen; Häresie sei eine geistliche Sklaverei, was schlechter sei als die körperliche in türkischer Gefangenschaft. Die christlichen Fürsten haben die Pflicht, das Volk zum wahren Glauben zu führen. Als Beispiele werden Karl der Große, Ludwig (der Große), Matthias Corvinus und Stephan der Heilige erwähnt, die die Häresie bekämpft und das Volk „ad rectam fidem“ geführt haben. Ein Vergleich der Argumente und Gegenargumente zeigt, dass die eher allgemein gehaltenen theologischen Gegenargumente die ausführliche Darstellung der bestehenden konfessionell-politischen Situation keineswegs abschwächen und dass Pázmány eindeutig für die Gewährung der Religionsfreiheit Stellung nahm. Sein Memorandum war ein wesentlicher Beitrag zur Regelung der Religionssache. Nun ergibt sich die Frage, ob man dabei von religiöser Toleranz sprechen kann?
18 Pázmány, Összegyűjtött levelei, 26–29. 19 In Punkt 15 des Memorandums schreibt dazu Pázmány folgendes: ”[…] Carolus V. […] Lutheri novam sectam [sic!], quam facillime opprimere et extinguere potuisset, nihilominus Religionis libertatem concessit, sine dubio gravius adductus causis, ne videlicet ex subitanea ejus extirpatione attentata, majora damna nascerentur.”
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Religiöse Toleranz und Religionsfreiheit (libertas religionis) sind zwei verschiedene Begriffe, von denen der erste in der Zeit der Konfessionalisierung ein Anachronismus wäre.20 Pázmány selbst verwendet immer wieder den zweiten und meint damit vor allem eine politisch-juristische Kategorie. Im Bereich der Dogmatik macht er keine Zugeständnisse, in der gegebenen sozialen und kirchenpolitischen Lage strebt er jedoch einen Kompromiss an. Sein Standpunkt ist elastisch und perspektivisch, da er die Anwendung der Gewalt ausschließt und nur die Überzeugung durch die Kraft des Wortes und der Rhetorik allein für möglich hält. Pázmánys Standpunkt mit der Duldung weiterer Konfessionen neben dem dominanten Katholizismus aus politischen Gründen stellt einen wichtigen Schritt auf dem Wege zur Toleranz dar, eine Art „Toleranz im Übergang zur Aufklärung“. Der Landtag von 1608 entschied sich für den von Pázmány vorgeschlagenen Weg und sicherte die Freiheit der lutherischen und calvinistischen Konfessionen. Der Erzherzog war beruhigt, die Protestanten waren erleichtert, in Rom rief jedoch die Entscheidung Unzufriedenheit, Protest und Gegenmaßnahmen hervor. Im nächsten Jahr wurde Matthias II. insgeheim für kurze Zeit exkommuniziert und der König musste in mehreren Punkten nachgeben. Die Positionen der katholischen Kirche blieben erhalten und – besonders nach der Ernennung Pázmánys zum Erzbischof von Gran/Esztergom im Jahre 1616 – begann er mit einer intensiven Neustrukturierung und Modernisierung seiner Kirchenpolitik. Pázmánys Auffassung gilt auch im europäischen Vergleich als „modern“, da er einen Kompromiss anstrebte, der die Tätigkeit von zwei protestantischen Konfessionen legalisierte. In seinem umfangreichen literarischen und theologischen Werk, das er vollständig in den Dienst der katholischen Reform und der Gegenreformation stellte, suchte Pázmány immer wieder jene Punkte, die mit der Auffassung der Reformatoren konform gingen; den protestantischen Bibelübersetzungen widmete er besondere Aufmerksamkeit.21 Er ist auch Verfasser der ersten Schrift der anti-osmanischen Literatur in ungarischer Sprache, die in mehreren Auflagen erschien.22 Sein Memorandum gehört zweifellos zur Vorgeschichte der Toleranzidee in Mitteleuropa: Es bereitete im wesentlichen den Linzer Frieden von 1645 zwischen Kaiser Ferdinand III. und Fürst György Rákóczi I. (1593–1648) vor, in dem die Religionsfreiheit der Protestanten garantiert und ihre Gültigkeit auch auf die Marktflecken und Dörfer ausgebreitet wurde. Die hier festgelegten Artikel wurden jedoch infolge der zunehmenden Rekatholisierungsbestrebungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nur zum Teil verwirklicht.
20 Vgl. Forst, Toleranz im Konflikt. 21 Hargittay, „nincs oly rosz könyv, melyben semmi jó nem találtatnék”, 67–73. 22 Pázmány, A Mahomet vallasa, 273–295; Ders., Tíz bizonyság (1605), 364–442.
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3.
Ferenc Rákóczi II. zwischen Religionsfrieden und Toleranz
Fast hundert Jahre nach Pázmánys Schrift, in einer völlig veränderten religionspolitisch-konfessionellen und historischen Lage, zwei Jahre nach dem Beginn des von Ferenc Rákóczi II. (1676–1735), Fürst von Siebenbürgen, geleiteten Freiheitskampfes gegen die Habsburger, trafen die katholischen und protestantischen Stände durch die Vermittlung Rákóczis auf dem Landtag von Szécsény, der vom 12. September bis zum 3. Oktober 1705 tagte, eine Vereinbarung, die das Recht der Gutsherren, die Konfession der Untertanen zu bestimmen, aufhob, und die freie Religionsausübung der Bevölkerung auf dem Gebiet der Konföderation kodifizierte. Die Umsetzung der Verordnungen verlief nicht überall reibungslos; manche Fälle zogen sich jahrelang hin. In Erinnerung an den Landtag ließ Rákóczi eine Gedenkmedaille prägen, auf deren Revers drei Frauenfiguren, Symbole der drei Konfessionen, das Feuer des Amor patriae auf einem Altar gemeinsam schüren. Das Motto oben: „Concurrunt, ut alant“, das Motto unten: „Concordia religionum animata libertate“. Die Komposition drückt nicht die historische Realität aus, sondern spiegelt Rákóczis Hoffnung auf die Eliminierung der konfessionellen Gegensätze wider. Die Beweggründe des Freiheitskampfes, der fast acht Jahre lang dauerte, waren sehr komplex. Einer der Gründe war die durch die Habsburger forcierte Aufhebung der Religionsfreiheit auf dem Landtag von Sopron/Ödenburg von 1681. Ein weiterer Grund war eine Verordnung Kaiser Leopolds I. vom 9. April 1701, die die Rückgabe sämtlicher kirchlicher Güter und Zehnten an die urrechtlichen Eigentümer im von den Türken zurückeroberten Landesteil befahl, die Beerbung protestantischer Güter durch nichtkatholische Verwandte verbot und die freie Religionsausübung der Protestanten einschränkte.23 Am 19. September 1705 legte Rákóczi als Fürst einen Eid vor dem Landtag ab, der beinhaltete, dass er die drei Konfessionen (katholisch, reformiert, lutherisch) in ihren Gesetzen und Freiheiten bewahren werde. Es gab keine dominante Konfession mehr, in Streitfragen waren die lokalen Verhältnisse entscheidend. Es wurden dreiköpfige Kommissionen eingesetzt, deren Mitglieder die drei genannten Konfessionen vertraten. Aufgabe dieser Kommissionen war, die Kirchengebäude und Schulen nach dem Mehrheitsprinzip neu zu verteilen und den konfessionellen Minderheiten ein Grundstück zu sichern, wo eine Kirche und eine Schule errichtet werden konnten. In jeder Siedlung durfte jede Religionsgemeinschaft eine Schule oder ein Kolleg gründen und dort frei unterrichten. Es kam auch vor, dass Rákóczi selbst einer konfessionellen Minderheit zu Hilfe kam. Bei seiner Inthronisation als Fürst von Siebenbürgen am 5. April 1707 in Marosvásárhely/Neumarkt/Târgu Mureş bestätigte er schriftlich die Rechte der dort rezipierten vier Konfessionen.
23 Frey, The Confessional Issue, 432–441.
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Die Überlegungen Rákóczis, der Katholik war, zu den Konfessionen wurden durch mehrere Faktoren beeinflusst.24 Vor allem durch die familiäre Tradition: Die väterlichen Ahnen führten als Fürsten von Siebenbürgen eine duldsame Religionspolitik. Als kleines Kind und als junger Mann lebte er längere Zeit in Wien. Als Schüler und Student der böhmischen Jesuiten erhielt er in Neuhaus und Prag eine vielseitige Bildung, die ihm ermöglichte, sich von den Vorurteilen und Rechtsvorstellungen des ungarischen Adels zu distanzieren. Eine mehrmonatige Italienreise erweiterte seinen Horizont erheblich. Seine Frau wählte er aus dem Fürstenhaus Hessen-Rheinfels, mit der die Hochzeit in Köln gefeiert wurde. Politische Einsicht und militärische Interessen kamen später hinzu. In seiner Bibliothek fand sich im Jahre 1701 eine ökumenisch-theologische Schrift Jacob Masens SJ (1606–1681) zur Frage der Wiedervereinigung von Protestanten und Katholiken;25 er besaß auch Bücher von Fénelon und Bossuet, die sich ebenfalls mit der Möglichkeit einer Union der Konfessionen beschäftigten.26 Christoph de Rojas y Spinola (1626–1695), Bischof von Wiener Neustadt und zentrale Figur der Unionsbewegung, verhandelte auch mit ungarischen Protestanten. Um die Jahrhundertwende schlief die Bewegung durch die Einmischung des Papstes fast völlig ein, ihre Nachwirkungen sind aber in Ungarn,27 so auch bei Rákóczi, greifbar. Als Anführer des Aufstandes und als Fürst vertrat er die Auffassung des Friedens von Linz, und stellte seine Religionspolitik in den Dienst des Freiheitskrieges. Er wollte vor allem die Kräfte bündeln und eine Einheit schaffen, wozu die Aussöhnung der verschiedenen Konfessionen eine unerlässliche Bedingung war. Die Religionspolitik des Freiheitskampfes war im Wesentlichen ein Konzept Rákóczis; ihre Verwirklichung war aus politischen, diplomatischen, sozialen und militärischen Gründen in gleicher Weise notwendig.28 Er versuchte, seine Vorstellungen gegenüber sämtlichen Konfessionen durchzusetzen und er wollte verhindern, dass die Sache der Religion, auf welcher Seite auch immer, vor die Interessen der Patria gestellt werde. Die Gewaltanwendung der Katholiken und der Protestanten verurteilte er in gleicher Weise, die Besetzung der Kirchengebäude mit Gewalt betrachtete er als Vergehen gegen die Religionsfreiheit. Seine Entscheidungen bei den konfessionellen Beschwerden dienten dem Schutz der freien religiösen Überzeugung und der freien Religionsausübung. Er versuchte, die Seelsorge des Militärs, in dem die Soldaten überwiegend Lutheraner und Calvinisten waren, konfessionsspezifisch zu sichern. Wegen der Verteidigung der Protestanten sah er sich oft mit dem Vorwurf der Häresie und der Dissimulation konfrontiert. 24 25 26 27 28
Ladányi, A vallási türelem eszméje, 311–316. Masen, Meditata concordia. Knapp/ Tüskés, La bibliothèque de Rodostó, 185–208, Nr. 7, 8, 9, 24, 83. Vgl. z. B. Nigrini, Consilia Henotica. Esze, Rákóczi valláspolitikája, 285–296; Misóczki, Vallás- és egyházügy.
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Mit der Konfessionsfrage beschäftigte sich Rákóczi bereits vor dem Landtag von Szécsény. Das Manifest von Brezán vom Mai 1703, das den Freiheitskampf in Gang setzte, legte die konfessionelle Neutralität der Bewegung fest, und formulierte das Verbot der Behelligung sämtlicher Konfessionen.29 Die lateinische Fassung des unter dem Namen Rákóczis im gleichen Jahr in mehreren Sprachen veröffentlichten Demüthigen Gebeths (Precatio supplex) wurde von Charles Whitworth (1675–1725), englischer Botschafter in Frankfurt und stellvertretend interimistisch in Wien, ein Vorgänger George Stepneys (1663–1707), seiner Meldung an Staatssekretär Charles Hedges vom 6. Februar 1704 mit der Bemerkung beigefügt, „which Rakotzi has order’d to be used indifferently by his adherents of all Religions.“30 In den Jahren 1703/1704 gab Rákóczi weitere Manifeste und Verordnungen heraus, mit denen er versuchte, die konfessionellen Probleme im Sinne des Friedens von Linz zu regeln und die Gewaltanwendung in diesem Bereich zu beheben.31 Der Wiener Hof jedoch versuchte ständig aufs Neue, die Religionssache als Mittel zur Teilung der Gegner zu verwenden.32 Die Konfessionsfrage spielte in der politischen Publizistik des Freiheitskampfes und in der Diplomatie Rákóczis eine vorrangige Rolle. In seiner Korrespondenz betonte er immer wieder die religiösen Ursachen und Dimensionen des Kampfes. In einem Brief vom 15. Juni 1704 an Ludwig XIV. schrieb er dazu folgendes: […] j’ay esté obligé d’observer a l’egard des trois Religions que les loix ont etablies dans ce Royaume par l’ancien consentement mesme du Clergé; et comme la maison d’Autriche s’est servie dans toutes les soulevemens precedentes de leurs Jalousie pour dissiper les desseins le mieu [!] concertées, il faloit [!] une delicatesse toute particuliere pour ne pas choquer quelq’un de set [!] partis, ils avoient des pretensions tres justes sur des Eglises que les loix ont etablies pour leur usage, et que la maison d’Autriche a repris sur eux. Mais l’egard et l’attachement que j’ay pour la Religion Catholique, m’ayant porte a chercher les moyens de les retenir le plus long temps que je pourois [!], […].33
Der Brief zeigt, dass Rákóczi vor allem durch pragmatische Überlegungen zu seinem „toleranten“ Standpunkt motiviert wurde. Der Rückblick auf die Entscheidungen des Landtags von Szécsény in seinen Mémoires bestätigt diesen Eindruck:
29 30 31 32 33
Moderne Teilausgabe des Textes: R. Várkonyi/ Kiss (Hg.), A Rákóczi-szabadságharc, 34–35. Simonyi, Angol diplomatiai iratok, 125–126. Misóczki, Vallás- és egyházügy, 24–28, 42, 72–74. Misóczki, Vallás- és egyházügy, 55–72. Fiedler (Hg.), Actenstücke, 440. Die fehlerhafte Transkription der Ausgabe wurde im Zitat beibehalten.
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Rien ne me fut plus pénible que d’accomoder les prétentions des Protestants. Ils prétendoient l’exécution des Loix établies en leur faveur, et la restitution de 90 Temples spécifiés dans le Traité de Paix de Tirnau, […]. Les violences que notre Clergé avoit exercées sous les Allemands, le rendoient odieux aux autres. En effet, ils y étoient accoutumés et vouloient y dominer. Il me falloit ménager ce premier Etat du Royaume par devoir de Religion, par justice et par politique; mais il falloit aussi rendre justice aux autres, en vertu des Loix et du serment que je venois de prêter. Enfin il y avoit de l’aigreur entre les deux partis, ce qui rendoit l’accomodement beaucoup plus difficile. […] Mon système étoit de fair désister les Protestants du droit de leurs prétentions, pour venir à un accord amiable, fondé uniquement sur la liberté des consciences et sur l’exercice du culte convenable à chaque Religion. Je réussis dans ce dessein par la voie de longs raisonnemens et de la persuasion. […] Mais cette affaire délicate, et la plus dangereuse pour notre Confédération, fut terminée en trois jours, avec une satisfaction et un acquiescement intérieur des parties.34
Die militärische, finanzielle und diplomatische Unterstützung ausländischer Mächte war für Rákóczi lebensnotwendig, und er verstand es, die konfessionelle Karte auch bei den protestantischen Großmächten ins Spiel zu bringen. England und die Niederlanden spielten von 1704 bis 1707 eine führende Rolle in den Friedenshandlungen zwischen Rákóczi und dem Wiener Hof. In seiner Korrespondenz u. a. mit Friedrich I., Johann Kasimir Kolbe, Graf von Wartenberg (1643–1712) und Karl XII. beschrieb sich Rákóczi als Verteidiger der Rechte der ungarischen Protestanten und versuchte immer wieder, den ungarischen Aufstand zu einer europäischen Sache hochzuspielen. Er kaschierte die multikonfessionelle Lage Ungarns, in dessen Folge England und die Niederlande häufig die Tatsache ignorierten, dass Rákóczi und manche seiner Nachfolger Katholiken waren. In der politischen Publizistik des Auslandes spielte die Religionsfrage und die Toleranz in Ungarn ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle.35 Daniel Defoe (1660‒1731) beschäftigte sich z. B. in der Weekly Review of Affairs of France von September bis Dezember 1704 immer wieder mit Ungarn. Er schlägt vor, dass den Ungarn in persönlichen und religiösen Fragen Genugtuung zukommen sollte. Aus staatsrechtlicher Sicht verurteilt er jedoch ihre Forderungen, da diese den Interessen Frankreichs dienen und dadurch die protestantischen Mächte schwächen würden. In einer 1705 in Köln veröffentlichten anonymen Propagandaschrift werden die Aufstände in Frankreich und in Ungarn parallelisiert, wobei die Jesuiten als Verantwortliche hier wie dort genannt werden, die die Protestanten um ihre Rechte bringen wollten.36 Eine 1708 publizierte, in Dialogform verfasste,
34 Rákóczi, Mémoires, 117–118. 35 Köpeczi, A bujdosó Rákóczi, 43–47. Vgl. Kincses (Hg.), Theatrum Europaeum. 36 Ungarische und sevenische Unruhen.
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französische Propagandaschrift von Jean de la Chapelle (1651–1723) verneint die Aussage, wonach der Aufstand ein Religionskrieg sei: Dort gehe es nicht nur um religiöse Ziele, sondern die gemeinsame Freiheit der Katholiken und Protestanten stehe auf dem Spiel.37 Mit Hilfe Englands und den Niederlanden versuchte Rákóczi, Druck auf Leopold I. und Joseph I. auszuüben. 1709 versandte er Botschafter an mehrere protestantische Höfe, um die Notlage und Diskriminierung der Calvinisten und Lutheraner in Ungarn und Siebenbürgen aufzuzeigen und um Hilfe zu bitten. Im selben Jahr schrieb er an John Churchill, Duke of Marlborough (1650–1722), Heerführer der Alliierten, dass die protestantische Religion in Ungarn ausgerottet werde, wenn keine Vereinbarung mit dem Kaiser vor dem allgemeinen Friedensabschluss getroffen werde.38 Rákóczi hat versucht, auch nach dem Frieden von Szatmár am 1. Mai 1711 die Bedrohung für den Protestantismus hervorzuheben und betonte die Untrennbarkeit der Interessen des Protestantismus und der eigenen Ziele. Er hoffte aber nicht nur auf die Unterstützung der protestantischen Verbündeten der Habsburger, sondern auch auf die ihrer katholischen und muslimischen Gegner, namentlich Frankreichs, Bayerns und des Osmanischen Reichs; mit Peter I. schloss er 1707 sogar einen eigenen Vertrag ab. Doch zum Schluss siegten die Überlegungen der Realpolitik. Wie Daniel Defoe treffend formulierte: „It is not enough that a Nation be Protestant, and the People our Friends; if they will joyn with our enemies, they are Papists, Turks, and Heathens, as to us.“39 Das Hauptziel der inländischen Religionspolitik Rákóczis war, die Glaubensstreitigkeiten zu beenden und die Kirchen mit all ihren Kräften für das Bildungswesen zu engagieren und zu mobilisieren. Die Bildung der nichtungarischen Völker unterstützte er mit einer toleranten Religionspolitik. Wo protestantische Schulen durch kaiserliche Verordnung geschlossen wurden, ließ er den Unterricht neu organisieren. Er vertrat die Ansicht, die Religionsfrage sei vor allem durch den Wiener Hof auf den falschen Weg geleitet worden. Am 7. Januar 1704 erließ Rákóczi, geltend für alle Konfessionen, ein Verbot über die Rücknahme der Kirchen- und Schulgebäude mittels Gewalt. Da die ungarischen Jesuiten nicht auf die Konföderation schwörten und sich von der österreichischen Ordensprovinz nicht trennten, sollten sie, nach einer Verordnung des Landtags von Szécsény, das Land verlassen. Doch Rákóczi sorgte für Aufschub und später dafür, dass sie als Weltpriester am Ort bleiben und weiter unterrichten durften. Schließlich blieben von den 323 Ordensmitgliedern nach der Ausweisung von 1707 nur noch 55 Patres im Lande.40
37 38 39 40
La Chapelle, XLIVeme Lettre d’un Suisse. Zitiert von Frey, The Confessional Issue, 439. Zitiert von Köpeczi, The Hungarian War of Independence, 452. Esze, Rákóczi „Responsio”-ja, 93.
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Die persönliche Einstellung Rákóczis in der Unionsfrage geht aus zwei weiteren Angaben hervor. Um Weihnachten 1707 regte er am Tisch einen Diskurs über die Wiedervereinigung der Religionen (d. h. der Konfessionen) an. Dabei meinte er, „die Union könnte man bald zustandebringen, wenn die Priester ausgeschlossen wären“.41 In einem Brief vom 18. Oktober 1708 an Daniel Ernst Jablonski (1660–1741), Prediger von Königsberg und Vertreter der protestantischen Unionsbestrebungen, schrieb er folgendes: „Seitdem ich […] die Sache dieses […] freien Volkes auf mich nahm, lag nichts mehr an meinem Herz, als den Streit der Religionen zu beenden […] und jene zur gegenseitigen Liebe zu bewegen, die sich, das Christentum vergessend, gegenseitig unendlich hassen.“42 Seine Religionspolitik gab Rákóczi auch trotz der militärischen Niederlagen und der diplomatischen Misserfolge nicht auf; um die konfessionellen Angelegenheiten kümmerte er sich auch weiterhin. In Bezug auf die direkte Kenntnis der Werke Pufendorfs und Lockes zur Toleranz finden wir bei Rákóczi keine Spur; sein Konzept weicht von den Ideen der beiden Klassiker an mehreren Punkten ab. Für Rákóczi ist Religionsfreiheit mit der Freiheit der Kirchen und der Freiheit der Kirchenorganisierung identisch; sein Ziel ist die friedliche Union aufgrund der Freiheit des Gewissens und der freien Religionsausübung. Er hat die Sache der Religion der Sache der Patria untergeordnet und die Kodifizierung des Prinzips der freien Religionsausübung erreicht. Sein Standpunkt berücksichtigt die Traditionen der siebenbürgischen Politik im 16./17. Jahrhundert und die politisch-militärisch-diplomatischen Forderungen des Interessenausgleichs im Freiheitskampf. Er integriert Elemente der europäischen Unionsbestrebungen, umfasst Bestandteile der Toleranzideen der Frühaufklärung sowie manche Züge seiner persönlichen Überzeugung und passt all diese den aktuellen sozialen und anderen Bedingungen an. Wie bereits angedeutet, spielt die Religionsfrage und die Toleranz auch im literarischen Œuvre Rákóczis eine wichtige Rolle. Im Widmungsbrief seiner Mémoires an die „ewige Wahrheit“ schreibt er dazu folgendes: Quelques-unes pourront peut-être paroître désavantageuses à la Religion orthodoxe, mais non à la Patrie, dont la délivrance d’un joug étranger a été mon premier et principal but : persuadé qu’après avoir obtenu la possession paisible de ma Principauté de Transsilvanie, j’aurois une influence si nécessaire dans les Conseils du futur Roi de Hongrie que je pourrois rendre inutiles les conseils contraires à la Religion orthodoxe, et que dans la suite
41 Ladányi, A vallási türelem, 313. 42 Zitiert in ungarischer Sprache von Szalay, Klement János Mihály, II. Rákóczi Ferencz követe Berlinben, Hágában, Londonban, 84.
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des tems, aiant établi l’union des esprits, je pourrois par les voies douces et pacifiques ramener les Religions séparées à la véritable Unité catholique.43
Hier stilisiert sich Rákóczi, rückbesinnend auf den Freiheitskampf und mit Blick auf den französischen Leser, zum überzeugten Katholiken, dem eine Union der Religionen im Zeichen des Katholizismus vorschwebte. In einem anderen autobiographischen Werk, in der augustinisch-jansenistisch inspirierten Confessio peccatoris, entstanden zwischen 1716 und 1720, finden sich mehrere Stellen zur Religionsfrage, die ein widersprüchliches Bild ergeben. Den mehrmaligen Konfessionswechsel des Barons István Szirmay (? – 1711?), der 1701 zusammen mit Rákóczi in Wiener Neustadt im Gefängnis war, verurteilt er rückblickend scharf,44 während der unerwartete Übertritt eines Calvinisten an seinem Hof zum Katholizismus in Frankreich (Grosbois) ausführlich erzählt und mit großer Freude quittiert wird.45 Als Grund der „Häresien“ in der Kirche nennt Rákóczi das Verstehen-Wollen der Mysterien des Glaubens um jeden Preis.46 Die Osmanen sind in seinen Augen einerseits Pagane und Barbaren, andererseits vergleicht er sie mit dem barmherzigen Samariter der Bibel, da sie ihn aufgenommen haben. Am Anfang von Buch zwei erörtert Rákóczi die Gründe der Intoleranz ausführlich. Die Hauptverantwortung liege nach ihm bei den Theologen, die die Fürsten irreführten und schädlich beeinflussten, wodurch die Andersgläubigen verfolgt und grausam behandelt, die Scheinchristen und Hypokriten aber beachtet würden.47 Im Schlussteil des dritten Buches verteidigt Rákóczi sein Werk gegenüber den potentiellen Kritikern und nimmt entschlossen Stellung für das Prinzip und für die eigene Praxis der Toleranz, unterstüzt mit historischen Beispielen, jene der Toleranz gegenüber Juden mit einbegriffen: Enfin je crois que plusieurs blâmeront ce que j’ai avancé touchant la tolérance civile des differentes religions, et se porteront à m’accuser d’avoir voulu établir un tolérantisme universel. Ceux qui jugeront ainsi ignorent sans doute que les loix à l’observation desquels je me suis obligé par serment comme prince de Transylvanie me faisoient un devoir de cette tolérance legale qui est bien différente de la tolérance d’innovation. La premiere semble dictée par l’amour de la paix du repos de la tranquillité publique, par la charité la benignité la patience. Au contraire la seconde est opposée à ces motifs. Dans ce dernier cas, il ne s’agit pour retrancher le mal que de proscrire ou de punir un petit nombre d’hommes.
43 Rákóczi, Mémoires, 14. 44 Rákóczi, L’autobiographie d’un prince rebelle, 193. Vgl. Tüskés, Psychomachie d’un prince chrétien, 400–423, 323–341. 45 Rákóczi, Francisci II. Rákóczi Confessiones et Aspirationes Principis Christiani, 252–253. 46 Rákóczi, Confession d’un pécheur, vol. II, fol, 223b, éd. sous la direction de Gábor Tüskés, 583. 47 Rákóczi, Francisci II. Rákóczi Confessiones et Aspirationes Principis Christiani, 160–161.
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Dans le premier cas le massacre ou la persécution de plusieurs milliers d’innocens souvent ne remedie à rien. Au contraire l’hérésie prend de nouveaux accroissemens. Enfin Seigneur puisque ni la langue ni la plume ne peuvent vous en imposer sur ce qui est dans le cœur, je vous dirai que je ne conçois pas l’opinion de ceux qui tolerent, les Juifs, les pecheresses publiques, les chanteuses les comediens, les theatres, et qui veulent que l’on persécute les héterodoxes qui vivent bien. Si les doctes s’obstinent à me reprocher ce sentiment, je leur repondrai ce qu’ils scavent mieux que moi, qu’on trouve des exemples de la tolerance civile à l’égard des Juifs sous le pontificat du Pape S. Gregoire et même à l’égard des hérétiques sous d’autres SS. Pontifes de votre Eglise. Ces faits sont aisés à connoitre.48
In diesem Kontext darf der 1725 im türkischen Exil verfasste fiktive Dialog Rákóczis mit dem Titel „Entretien de Mustapha, surnommé le Sage avec un Franc, appelé Pélerin“ nicht unerwähnt bleiben. Das Manuskript des Dialogs entstand im Zusammenhang mit der Verfolgung und partiellen Vertreibung von römischkatholischen Ordensleuten in Damaskus, Smyrna, Aleppo und insbesonders in Diabekir wegen ihrer aktiven Missionstätigkeit im Umkreis der griechisch Orthodoxen und der Armenier. Mit dem Dialog wollte Rákóczi den französischen Botschafter in Konstantinopel (seit 1724), Jean-Baptiste Louis Picon Vicomte d’Andrezel (1663–1727), in seiner Intervention für die Mönche bei der Pforte unterstützen. Während Mustapha den Standpunkt und die Interessen der Pforte im Dialog erörtert, argumentiert Pélerin, der die Auffassung Rákóczis vertritt, dafür, dass auch die römisch-katholischen Christen das Recht auf die freie Ausübung ihrer Religion im Osmanischen Reich haben sollen und dass die katholischen Priester und Ordensleute ihre Missionsarbeit unter den griechisch Orthodoxen und den Armeniern frei ausüben dürfen. Pélerin beruft sich u. a. auf die alten Vereinbarungen (capitulations) und überlieferten Bräuche des Osmanischen Reichs, auf die Trennung der kirchlichen und der weltlichen Gesetze, auf die Religionsfreiheit in Polen, Ungarn und Siebenbürgen, weiterhin auf die Geschichte der Institution des Patriarchats und auf die zwei „allgemeingültigen“ Naturgesetze. D’Andrezel ließ den Text ins Türkische übertragen und leitete die Übersetzung an Houssein Zade Bey weiter, der sie aber mit dem Hinweis zurückschickte, dass er eine Weitergabe an höhere Funktionäre der Pforte nicht für richtig halte. Der Dialog, ein Dauerthema in der Korrespondenz D’Andrezels mit Rákóczi vom Januar bis April 1726, zeigt, dass Rákóczi die Lage der christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich gut kannte und die Duldung des römisch-katholischen Glaubens und der Missions-
48 Rákóczi, Confession d’un pécheur, vol. II, fol. 260b–261a.
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tätigkeit der römischen Kirche sogar in einer politisch nicht ganz ungefährlichen Konfliktsituation befürwortete.49 Fazit: Zwischen Rechtslage und realer Situation bestand in Ungarn lange Zeit ein Widerspruch. Während die Gesetzgebung im Jahre 1525 die Todesstrafe für ’Häretiker’ bestätigte, schloss sich die Mehrheit des Adels allmählich der Reformation an. Obwohl bis zum Ende des 16. Jahrhunderts etwa 80% der Bevölkerung reformiert wurde, erkannte die Legislatur bis 1608 nur die katholische Konfession an. Nach der Austreibung der Osmanen wagten zwar die Habsburger die Beschlüsse des Landtags von Torda in Siebenbürgen nicht aufzuheben, doch trieben sie die Union der griechisch Orthodoxen mit den römisch Katholiken voran. Die Ideeen des Religionsfriedens und der Duldsamkeit tauchten im 16. und 17. Jahrhundert und am Anfang des 18. Jahrhunderts immer wieder auf, über eine allgemeine Verbreitung kann jedoch nicht gesprochen werden; zu einer theoretischen Reflexion kam es nur selten. Ein pragmatischer Zug und eine Tendenz der Kompromisssuche sind in den aufgeführten Beispielen unverkennbar. Ebenso ist eine gewisse Ambiguität in der Auffassung der drei Persönlichkeiten über die Konfessionsfrage zu beobachten, eine Ambiguität, die vor allem aus dem Bedürfnis der Anpassung an die sich ständig verändernden politischen und religionspolitischen Bedingungen ergab.
Literatur Quellen Fiedler, Joseph (Hg.), Actenstücke zur Geschichte Franz Rákóczy’s und seiner Verbindungen mit dem Auslande. Aus den Papieren Johann Michael Klement’s, seines Agenten in Preussen, England, Holland und bei dem Utrechter Congresse. 1708–1715. Nebst einem Nachtrage zum ersten Bande (1703–1726), Bd. 2, Wien, Kais.-königl. Hof- und Staatsdruckerei 1858. Kincses, Katalin Mária (Hg.), Theatrum Europaeum. Die Kronik [!] des RákócziFreiheitskampfes im Kulturkreis Europas, übers. von Csilla Tuza, Budapest, Nap 2013. La Chapelle, Jean, XLIVeme Lettre d’un Suisse à un François sur les affaires de Hongrie, [o. O.] 1708. Masen SJ, Jacob, Meditata concordia protestantium cum catholicis in una confessione fidei, Köln 1662.
49 Köpeczi (Hg.), Correspondance diplomatique, 296‒304; Köpeczi (Hg.), D’Andrezel vicomte, 86‒142; Köpeczi, A bujdosó, 382‒387.
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Nigrini, Samuel, Consilia Henotica circa unionem Ecclesiasticam catholico-evangelicoreformatorum ex mente Irenicorum […] respondente Johanne Fabricio […], Solna 1707. Pázmány, Péter, A Mahomet vallasa hamissagarvl [Über die Falschheit der Religion Mohammeds] (1605), in: Ders., Az mostan támadt új tudományok hamisságának tíz nyilvánvaló bizonysága és rövid intés a Török Birodalomrul és vallásrul, hg. von Alinka Ajkay und Emil Hargittay, Budapest, Universitas 2001, 273–295. Pázmány, Péter, Összegyűjtött levelei [Gesammelte Briefe], Bd. 1., hg. von Ferenc Hanuy, Budapest 1910. Pázmány, Péter, Tíz bizonyság (1605). Jegyzetek a szövegkiadáshoz [Zehn Argumente (1605). Anmerkungen zur Textausgabe], hg. von Alinka Ajkay, unter Mitarbeit von Orsolya Báthory und Orsolya Varsányi, Budapest, Universitas–Editio Princeps 2012. Perényi, Péter/ Hirschvogel, Augustin, Vorredt unnd eingang der Concordantzen Alt und News Testaments Durch Pereny Petri eins thails Und nachuolgents durch Augustin Hirschvogel sampt mehr Figuren vnd Schrifften erweitert vnd in druck pracht. Gedruckt zu Wienn in Osterreych durch Egidium Adler, 1550. Rákóczi, François II, Confession d’un pécheur qui, prosterné devant la crèche du Saveur nouvellement né, deplore, dans l’amertume de son coeur, sa vie passée et se rappelled les graces qu’il a reçues et la conduite de la Providence sur lui. Cette confession, en forme de soliloque, a été commencée quelques jours avant la solennité de la naissance de J. C. l’an MDCCXVI, (2 vol.) Médiathèque de Troyes, série Ms. 2144, vol. II. –, Confession d’un pécheur, traduite du latin par Chrysostome Jourdain. Ed. critique avec introductions et notes établies sous la direction de Gábor Tüskés, avant-propos de Jean Garapon. Avec la collaboration de Csenge E. Aradi, Ildikó Gausz, Zsuzsanna HámoriNagy, Réka Lengyel, Zsolt Szebelédi, Ferenc Tóth et Anna Tüskés. Ed. revue et préparée par Michel Marty, Paris 2020. –, Francisci II. Rákóczi Confessiones et Aspirationes Principis Christiani, e codice Bibliothecae Nationalis Parisiensis edidit Commissio fontium historiae patriae Academiae Scientiarum Hungaricae, Budapestini, Bibliopolium Academiae Hungaricae 1876. –, L’autobiographie d’un prince rebelle. Confession et Mémoires de François II Rákóczi, choix des textes, préface et commentaires par Béla Köpeczi, établissement du texte d’après l’édition de 1739 des Mémoires et le manuscrit de la traduction française de la Confession par Ilona Kovács, Budapest 1977. –, Mémoires du prince François II Rákóczi sur la guerre de Hongrie depuis 1703 jusqu’a sa fin, avec une postface et des commentaires de Béla Köpeczi, texte établi et apparat critique par Ilona Kovács, Budapest 1978. Simonyi, Ernő (Hg.), Angol diplomatiai iratok II. Rákóczi Ferencz korára. Angol levéltárakból [Englische diplomatische Schriften für die Zeit Ferenc Rákóczis II. Aus englischen Archiven]. Bd. 1, Pest 1871. Ungarische und sevenische Unruhen, Köln 1705.
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Formen gelebter Toleranz in Ungarn
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Christian Maurer
Religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und Einheit der Kirk Schottland auf dem Weg zur Aufklärung1
1.
Einleitung: Die schottische Aufklärung
Der Höhepunkt des Scottish Enlightenment, der schottischen Aufklärung, ist unbestritten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anzusetzen und wird üblicherweise mit großen Namen wie David Hume (1711–1776) und Adam Smith (1728–1790), Adam Ferguson (1723–1816) und Thomas Reid (1710–1796) in Verbindung gebracht. Zahlreiche weitere an dieser breiten intellektuellen Bewegung beteiligte, im deutschsprachigen Raum aber weitaus weniger bekannte Denker sollten ebenfalls genannt werden, so zum Beispiel Francis Hutcheson (1694–1746), der bisweilen auch als „Vater“ der schottischen Aufklärung bezeichnet wird, William Leechman (1706–1785), Hugh Blair (1718–1800), William Robertson (1721–1793), John Millar (1735–1801) und weitere mehr.2 Diese Autoren veröffentlichten zahlreiche Traktate zu Themenbereichen wie Ethik, Psychologie, Politik, Soziologie, Rechtswissenschaften, Geschichte, Kunst, Architektur, Literatur, Rhetorik, Naturwissenschaften, Religion und Theologie. Gemeinhin wird für die schottische Aufklärung geltend gemacht, was auch für andere europäische Spielformen der Aufklärung gilt: Themen wie Fortschritt, Vernunft und Toleranz stehen als große Leitideen im Zentrum eines gemeinsamen Projektes, welches sich der Verbesserung der Situation der Menschheit in materieller und moralischer Hinsicht verschrieben hat. So argumentiert Alexander Broadie in seiner Darstellung der schottischen Aufklärung, dass diese Bewegung, welche das Land während Jahrzehnten tief prägte, zwei zentrale Merkmale der Idee der Aufklärung exemplarisch verkörperte: Erstens das Gebot, für sich selbst zu denken
1 Dieser Beitrag ist teilweise angelehnt an zwei in englischer Sprache verfasste Beiträge, nämlich: Maurer, Early Enlightenment Shifts: Simson, Campbell, and Leechman; sowie Maurer, The Grievances from Toleration. 2 Der Begriff des ‚Scottish Enlightenment‘ stammt aus dem 19. Jahrhundert, vom Edinburgher Philosophen Dugald Stewart. Ich werde mich an dieser Stelle nicht zu den umstrittenen Fragen der spezifischeren Definition und Periodisierung der schottischen Aufklärung äußern, verweise aber insbesondere auf Garrett und Harris (Hg.), Scottish Philosophy in the Eighteenth Century, einer neueren englischsprachigen Publikation, in welcher diese Fragen kontrovers diskutiert werden. Auch das französischsprachige Bändchen von Waszek, L’Écosse des Lumières, gibt interessante Einblicke.
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und keine Autoritäten unhinterfragt zu akzeptieren, und zweitens die Idee der Toleranz: Enlightenment is characterised by the social virtue of tolerance, in that, in an enlightened society, people are able to put their ideas into the public domain without fear of retribution from political, religious or other such authorities that have the power to punish those whose ideas they disapprove of.3
Toleranz wird hier als soziale Tugend charakterisiert, welche an die Möglichkeit beziehungsweise die Erlaubnis gebunden ist, auch den staatlichen und religiösen Autoritäten nicht gefällige Ideen in eine öffentliche Debatte einzubringen und zu diskutieren. Man denke beispielsweise an David Hume, der mit seinen bisweilen sehr kritischen Thesen zur Religion einiges Ungemach provozierte, sich aber in Schottland dennoch heimisch fühlen konnte. Im Falle der schottischen Aufklärung finden wir aber im Vergleich mit anderen europäischen Spielformen der Aufklärung gerade bei den Themen Toleranz und Religion einige Auffälligkeiten: So existieren wohl kurze Diskussionen zum Thema Toleranz und Gewissensfreiheit, es gibt aber keine wirklich substantiellen Traktate dazu.4 Wenn die Idee der Toleranz in dieser Phase der Geschichte Schottlands wirklich so tief prägend war, wie oftmals behauptet wird, so mag uns dieses Ausbleiben tiefer gehender theoretischer Reflexionen zum Thema Toleranz bei der sonst gewaltigen thematischen Breite der publizierten Traktate überraschen. Das schottische Schweigen erstaunt ebenfalls vor dem Hintergrund der gewichtigen Beiträge des 17. Jahrhunderts zum Thema Toleranz (man denke an Spinoza, Locke und Bayle), sowie vor dem Hintergrund der Debatten der Aufklärung in Frankreich und Deutschland, in welchen Toleranz und Gewissensfreiheit zentrale Themen intellektueller Auseinandersetzung waren.5 Besonders bemerkenswert ist weiterhin, dass in Schottland nennenswerte Debatten zur sogenannten ‚subscription‘, nämlich der spezifischen Praxis der öffentlichen Signatur unter das Glaubensbekenntnis
3 Vgl. Broadie, The Scottish Enlightenment, 2. 4 Solche Diskussionen, welche thematisch aber eher am Rande platziert sind, finden sich beispielsweise in den moral– und religionsphilosophischen Schriften von David Hume, Francis Hutcheson und George Turnbull. Ich diskutiere dieselben etwas ausführlicher in Maurer, The Grievances from Toleration. 5 Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass sich Rainer Forst in seiner umfassenden Studie zur Geschichte und Gegenwart von Debatten zur Toleranz auf England im 17. Jahrhundert sowie Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert konzentriert. Schottland im 18. Jahrhundert wird aber nicht betrachtet, was nicht nur auf die blinden Flecke der Forschung hinweist, sondern eben auch von der Abwesenheit größerer und öffentliche Aufmerksamkeit heischender Traktate zum Thema zeugt.
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Religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und Einheit der Kirk
der schottischen Staatskirche, fast gänzlich ausblieben.6 Solche Debatten prägten viele protestantische Regionen Europas insbesondere im frühen 18. Jahrhundert, und sie waren immer eng verknüpft mit Diskussionen zu Gewissensfreiheit und Toleranz. Bei etwas generellerer Betrachtung drängt sich einem der Eindruck auf, dass die schottische Aufklärung – in deutlichem Kontrast insbesondere zur französischen Aufklärung – einen vergleichsweise entspannten Umgang mit religiösen und staatlichen Institutionen pflegte. Im Unterschied zu den französischen philosophes lehrte die überwiegende Mehrzahl der Repräsentanten der schottischen Aufklärung an ihren heimischen Universitäten. Ebenso waren sie Teil der presbyterianischen schottischen Staatskirche, der Kirk, und hielten in ihrer Funktion als Universitätslehrer jeden Sonntag eine Predigt – die bekannteste Ausnahme in diesem Punkt war David Hume. Gemessen am vergleichsweise harmonischen Verhältnis zwischen den Denkern der Aufklärung und den Institutionen Staat und Kirche war die schottische Aufklärung somit wohl nicht eine der „radikalen“ Spielformen im Sinne Jonathan Israels.7 Und dennoch ist dieses Bild nicht gänzlich korrekt: Insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert lagen die Verhältnisse in Schottland noch ziemlich anders, was uns deutlich vor Augen führt, dass die Errungenschaften der Aufklärung, was Toleranz angeht, eben Errungenschaften waren. Im zweiten Teil dieses Kapitels werde ich mich zwei kaum bekannten Figuren widmen, welche in der Frühphase der Aufklärung als Theologen und Philosophen wirkten, und welche in einer Kartographie der schottischen Aufklärung zumindest in deren Peripherie einen Platz erhalten sollten: John Simson (c. 1668–1740) und Archibald Campbell (1691–1756). Simson war Theologe in Glasgow und unterrichtete sowohl Campbell als auch Hutcheson – die beiden studierten fast zeitgleich. Simson und Campbell mussten sich jeweils gegen Häresievorwürfe seitens der Kirk verteidigen, Hutcheson konnte sich diesen gerade noch entziehen. Ein Blick auf Simson und Campbell in ihrem theologischen und philosophischen Kontext wird uns erlauben, das Thema der religiösen Toleranz im Schottland des frühen 18. Jahrhunderts genauer zu beleuchten. Dabei wird sich zeigen, dass es in Schottland zumindest ansatzweise Debatten um Toleranz gab, und dass diese teilweise auch als Ansätze zu Debatten um die öffentliche Signatur zu verstehen sind. Doch vorerst sind einige Anmerkungen zum Thema Toleranz vor der Aufklärung angebracht.
6 Zu dieser Thematik vgl. die viel zitierte Studie von Kidd, Scotland’s Invisible Enlightenment. 7 Zu dieser Thematik vgl. die einflussreichen Studien von Israel – insbesondere Israel, Radical Enlightenment.
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2.
Toleranz – ein Problem, nicht eine Tugend
Der Weg zur verhältnismäßig friedfertigen und toleranten Mitte des 18. Jahrhunderts in Schottland war keineswegs geradlinig. Das 17. Jahrhundert war in Schottland – wie auch in anderen Regionen Europas – zutiefst geprägt von konfessionellen Spannungen und Spaltungen, von religiösen Unruhen und Kriegen. Die Reformation hatte sich in Schottland zwar bereits im 16. Jahrhundert sehr rasch und überaus deutlich durchgesetzt, aber die beiden in Schottland am stärksten vertretenen reformierten Untergruppen – die am anglikanischen Bischofssystem der englischen Staatskirche sich orientierenden schottischen Episkopalen und die diese Form der Kirchenorganisation als versteckte Form des Papismus ablehnenden schottischen Presbyterianer – rangen während des 17. Jahrhunderts um religiöse und politische Macht.8 Besonders in der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde dieses (sub–)konfessionelle Ringen zunehmend aggressiver und, im Zusammenspiel mit komplexen politischen Entwicklungen, kriegerischer. In der Hoffnung auf zwischen– und innerstaatliche Einigung fanden sich zwischen 1643 und 1647 englische und schottische Theologen in Westminster bei London zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses sowie eines längeren und kürzeren Katechismus zusammen – der sogenannten Westminster Confession of Faith mit ihren Longer and Shorter Catechisms. Diese wurden anschließend sogleich vom schottischen, nicht aber vom englischen Parlament als Glaubensbekenntnis und Katechismen der schottischen Staatskirche – der Kirk – ratifiziert. Somit war zumindest vorerst eine presbyterianische Staatskirchenstruktur parlamentarisch zementiert. 1660 bis 1689 war Schottland jedoch wieder episkopal geprägt, doch dann ab 1690 bis ins 20. Jahrhundert wiederum presbyterianisch. Die kirchenpolitischen und doktrinären Wechsel wurden jeweils von weitreichenden politischen Maßnahmen begleitet: In den 1690er Jahren wurden zum Beispiel die Universitäten durch sogenannte University Visitation Commissions von doktrinär nicht genehmen Universitätslehrern sowie problematischen Bibliotheksbüchern „gereinigt“.9 Zahlreiche Erlasse der Generalversammlungen der nun wieder presbyterianischen schottischen Staatskirche, die Acts of the General Assembly of the Church of Scotland, zeugen von ähnlichen Aktionen im Bereich der einzelnen Kirchgemeinden. Hier ist zu erwähnen, dass nicht nur die Presbyterianer, sondern auch die Episkopalen vor ihnen solche Aktionen durchführten. Seit den 1690-er Jahren häuften sich allerdings Erlasse der Generalversammlung zur Aufrechterhaltung der Orthodoxie der Kirk. Begründet
8 Siehe hierzu insbesondere Raffe, The Culture of Controversy. 9 Zu den Vorkommnissen in Edinburgh vgl. insbesondere Mijers, The Netherlands, William Carstares, and the Reform of Edinburgh University.
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Religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und Einheit der Kirk
wurden solche Erlasse jeweils insbesondere mit der Sorge um die Einheit der Kirche und mit der Angst vor dem Aufkommen von Häresien, Deismus, Atheismus und Papismus. Als Beispiel sei hier der Act against Innovations in the Worship of God vom 21. April 1707 zitiert. Dieser Erlass der Generalversammlung zum Thema Neuerungen im Gottesdienst schließt wie folgt: Therefore, the General Assembly being moved with zeal for the glory of God, and the purity and uniformity of his worship, doth hereby discharge the practice of all such innovations in divine worship within this Church, and does require and obtest all the ministers of this Church, especially those in whose bounds any such innovations are or may happen to be, to represent to their people the evil thereof, and seriously to exhort them to beware of them, and to deal with all such as do practise the same, in order to their recovery and reformation; and to instruct and enjoin the Commission of this Assembly to use all proper means, by applying to the Government or otherwise, for suppressing and removing all such innovations, and preventing the evils and dangers that may ensue thereupon to this Church.10
Dieser Erlass – nur einer von zahlreichen ähnlichen Erlassen – suggeriert bereits, dass in einem solchen Kontext Toleranz gegenüber doktrinären Neuerungen beziehungsweise deren stillschweigende Duldung keinen guten Ruf haben konnte. Der Aufruf, Neuerungen wenn immer möglich zu unterdrücken, falls nötig mithilfe der staatlichen Gewalt, spricht eine deutliche Sprache. Ebenfalls findet man in den Jahren nach 1690 zahlreiche Erlasse, welche Geistliche und Universitätsgelehrte zunehmend enger an die bereits erwähnte Westminster Confession of Faith binden, und sie wiederholt dazu anhalten, sich immer wieder öffentlich zu derselben zu bekennen. Ein Blick in die Confession selbst zeigt, dass Appelle an die Gewissensfreiheit durch die Kirk sehr suspekt beäugt wurden. Das Glaubensbekenntnis, welches nach 1690 wieder den Status einer der zentralen doktrinären Säulen der schottischen Staatskirche erlangte, verfolgt mit Blick auf das Thema der Gewissensfreiheit gewissermaßen eine doppelte Strategie: Auf der einen Seite wird in Kontexten, welche als anti–katholisch einzustufen sind, auf Gewissensfreiheit gepocht. So wird Gewissensfreiheit als eine der Grundfreiheiten des Christenmenschen dargestellt, gegen welche der Papismus sich vergehe. Wir finden zum Beispiel in Kapitel XX (Of Christian Liberty, and Liberty of Conscience), Abschnitt 2 der Westminster Confession (XX, 2) folgende Aussage zu Gunsten der Gewissensfreiheit:
10 Vgl. (Anon.), Acts of the General Assembly of the Church of Scotland, 418 f.
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God alone is Lord of the conscience, and hath left it free from the doctrines and commandments of men, which are, in anything, contrary to his Word; or beside it, in matters of faith, or worship. So that, to believe such doctrines, or to obey such commands, out of conscience, is to betray true liberty of conscience: and the requiring of an implicit faith, and an absolute and blind obedience, is to destroy liberty of conscience, and reason also.11
Nicht nur eine Kirche, welche ihre Gläubigen zwinge, an Dinge zu glauben, welche nicht in der Schrift begründet seien, sondern auch die einzelnen Gläubigen selbst vergingen sich an ihrem Gewissen und zerstörten damit Gewissensfreiheit und Vernunft. Ganz zu Beginn des Glaubensbekenntnisses wird zudem in der spezifischeren Frage nach der Autorität in der Bibelauslegung nachdrücklich auf das Prinzip der ‚sola scriptura‘ verwiesen (vgl. Kapitel I, Of the Holy Scripture, Abschnitte 9 & 10): „The infallible Rule of Interpretation of Scripture, is the Scripture it self “ sowie „The supreme Judge, by which all Controversies of Religion are to be determined [...] can be no other but the Holy Spirit speaking in the Scripture.“ Zweitens wird aber gleich anschließend an das Argument f ü r Gewissensfreiheit in Kapitel XX, Abschnitt 2, derselben enge Grenzen gesetzt mit Verweisen auf die Gefährlichkeit von lediglich vorgeschobener Gewissensfreiheit („pretended liberty of conscience“): 3. They who, upon pretense of Christian liberty, do practice any sin, or cherish any lust, do thereby destroy the end of Christian liberty, which is, that being delivered out of the hands of our enemies, we might serve the Lord without fear, in holiness and righteousness before him, all the days of our life. 4. And because the powers which God hath ordained, and the liberty which Christ hath purchased, are not intended by God to destroy, but mutually to uphold and preserve one another, they who, upon pretense of Christian liberty, shall oppose any lawful power, or the lawful exercise of it, whether it be civil or ecclesiastical, resist the ordinance of God. And, for their publishing of such opinions, or maintaining of such practices, as are contrary to the light of nature, or to the known principles of Christianity (whether concerning faith, worship, or conversation), or to the power of godliness; or, such erroneous opinions or practices, as either in their own nature, or in the manner of publishing or maintaining them, are destructive to the external peace and order which Christ hath established in the church, they may lawfully be called to account, and proceeded against, by the censures of the church.12
11 Vgl. (Anon.), Confession of Faith, 114 f. 12 Ebd., 115–117.
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Religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und Einheit der Kirk
Gewissensfreiheit darf, so das Glaubensbekenntnis, nicht vorgeschoben werden, um das Praktizieren von sündhaftem Verhalten zu rechtfertigen. Ebenso darf sie nicht zur versuchten Rechtfertigung von Widerstand gegen rechtmäßige staatliche und kirchliche Autoritäten dienen. Selbst das bloße Publizieren von Meinungen, welche der natürlichen Vernunft und den Prinzipien des Christentums widersprechen und den Frieden stören (so zum Beispiel häretische und atheistische Lehren) ist verboten. Der Kirche wird zudem die Macht zugesprochen, selbst oder unter Einbezug der staatlichen Autoritäten gegen solch verbotene Aktivitäten und falsche Meinungen vorzugehen, welche unter Vorschub von Gewissensfreiheit ausgeführt werden. Dass solche Paragraphen bitter ernst gemeint waren, musste der unglückliche Student Thomas Aikenhead (1676–1697) erfahren, der in betrunkenem Zustand Christi göttliche Natur leugnete und nach einem viel kritisierten Prozess in Edinburgh gehängt wurde. Der in den obigen Abschnitten mehrfach benutzte Ausdruck „upon pretense of Christian liberty“ erinnert uns daran, dass Samuel Rutherford (c. 1600–1661) einer der schottischen Theologen war, welche an der Ausarbeitung der Westminster Confession maßgeblich beteiligt waren. Rutherford publizierte 1649 in London, also kurz nach Abschluss der Arbeiten an der Westminster Confession of Faith, ein ausführliches Traktat gegen allzu breit verstandene Gewissensfreiheit und Toleranz mit dem Titel A Free Disputation against Pretended Liberty of Conscience. Bereits ein kurzer Blick auf einige Kapitelüberschriften zeugt von Rutherfords kritischem Blick auf Toleranz: „Toleration hath no Warrant in the word“ / „Toleration inferreth Scepticisme“ / „Want of infallibility in the new Testament, no reason for the toleration in the new Testament“ / „Toleration is against faith, hope, comfort in the Scriptures“ / „Toleration is against the Ministery of the Word“ / „Rulers by the fourth Commandment are to see all under them worship God“.13 Dass diese betont kritische Haltung gegenüber Gewissensfreiheit und Toleranz nicht nur in der Westminster Confession of Faith, sondern auch in der Politik der Kirche bis ins 18. Jahrhundert nachhallte, erstaunt nicht wirklich – sie findet sich wieder in zahlreichen weiteren Kontexten. Üblicherweise wird die grundlegende Sorge um die Einheit der Kirche als die Begründung der geforderten restriktiven Maßnahmen angeführt. Blicken wir noch einmal in die Acts of the General Assembly of the Church of Scotland. Diese sind wohlgemerkt nur eines von zahlreichen weiteren Zeugnissen für eine generell kritische Haltung gegenüber Toleranz, aber da sie gewissermaßen demokratisch abgesegnet sind, sind sie auch besonders aufschlussreich für unser Verständnis der vorherrschenden politischen Haltung. Insbesondere ab 1690 wurde in zahlreichen Erlassen wiederholt und mit immer strikteren Formulierungen auf Einhaltung der in der Westminster Confession of
13 Vgl. Rutherford, A Free Disputation Against pretended Liberty of Conscience, The Contents.
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Faith ausgearbeiteten doktrinären Standards gepocht, immer wieder mit Verweis auf die zentrale Wichtigkeit der Einheit der Kirche. Im Act concerning the Grievances of this Church from Toleration, Patronages, &c. vom 14. Mai 1715 finden wir folgende Reaktion auf die sich im Anschluss an die Un i on von 1707 verhärtenden Spannungen zwischen England und Schottland: The zeal of the Established Church of Scotland for, and their steady adherence to, the Protestant succession, did expose them to the resentments of a disaffected party; and likewise, they account themselves aggrieved by some acts passed in the Parliament of Great Britain; as, 1mo, By the act granting such a large, and almost boundless, toleration to those of the Episcopal persuasion in Scotland, while the liberty allowed to Protestant Dissenters in England, who had always given the most satisfying proofs of their undoubted zeal and good affection to the Protestant succession, was retrenched: And though the Church of Scotland hath an equal security in a legal establishment with that of England, yet there is a vast inequality as to the toleration of the respective Dissenters. In Scotland, the toleration doth not restrain the disseminating the most dangerous errors, by requiring a Confession of Faith, or subscription to the doctrinal articles of the Established Church, as is required of Dissenters in England; it also weakeneth the discipline of the Church against the scandalous and profane, by withdrawing the concurrence of the civil magistrate. It is also an inequality and hardship upon the Established Church of Scotland, that those of her communion who are employed in his Majesty’s service in England or Ireland, should be obliged to join in communion and conformity with the Church of England; whereas conformity to this Church is not required (nor do we plead that it should be) of members of the Church of England, when called to serve his Majesty in Scotland, who here enjoy the full liberty of Dissenters without molestation; and the common and equal privileges of the subjects of the United Kingdom, stipulated by the Union, claim the same liberty to the members of the Church of Scotland, when employed in his Majesty’s service in England or Ireland.14
In diesem Erlass beklagt sich die Generalversammlung über die fast grenzenlose Toleranz, welche die schottische Staatskirche gezwungen sei, den dem episkopalen Glauben anhängenden Bürgern gegenüber zu gewähren, während in England die Toleranz gegenüber den Presbyterianern viel kleiner sei. Nebst der Frage der Reziprozität wird deutlich, dass religiöse Toleranz nicht als St ärke einer Kirche oder einer Gesellschaft gesehen wird, sondern als Schwäche, und insbesondere als Risiko für die doktrinäre Reinheit und Einheit derselben. Dies betrifft nicht nur die sogenannten ‚Dissenters‘, sondern auch die zu setzenden Grenzen gegenüber Gotteslästerungen – in Schottland blickte man während dieser Zeit mit größter
14 Vgl. (Anon.), Acts of the General Assembly of the Church of Scotland, 502.
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Religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und Einheit der Kirk
Besorgnis auf die deistischen Bewegungen in England. Toleranz wird somit als eine Bürde dargestellt, welche der Ki rk durch die politische Un ion zwischen Schottland und England von 1707 aufgezwungen wird. Die Kirche wird damit verletzlich gemacht für Irrlehren. Erklärungen wie diese verdeutlichen, wie sehr Toleranz auch zwischen sich aus heutiger Perspektive nahe stehenden reformierten (Sub-)Konfessionen in vielen Zusammenhängen als Gefahr, und nicht als Chance bewertet wurde.
3.
John Simson und Archibald Campbell: Argumente für Toleranz und Gewissensfreiheit15
Einen Tag vor dem oben zitierten Erlass vom 14. Mai 1715 wurde von der selben Generalversammlung der schottischen Kirk ein sogenanntes Committee for the Purity of Doctrine, ein Komitee für Reinheit der Doktrin, ins Leben gerufen. Dieses hatte über eine Anklage wegen Häresie gegen den Glasgower Theologieprofessor John Simson (c. 1668–1740) zu entscheiden. Simson wurde in den Jahren 1717 und 1727 für zahlreiche Häresien verurteilt und schließlich 1728 von der Universität suspendiert. Gegen seinen ehemaligen Schüler Archibald Campbell (1691–1756), der ab 1731 an der Universität St. Andrews Kirchengeschichte lehrte, wurde in den Jahren 1735–1736 ein Prozess angestrebt, dann aber per Dekret von der General Assembly gestoppt. Im Jahre darauf musste sich die Generalversammlung dann selbst für ihren Entscheid, die Fortführung dieses Prozesses nicht zuzulassen, rechtfertigen. Im Folgenden werde ich die Spannungen um Simson und Campbell beschreiben. Dabei werde ich mich weniger auf die spezifischen Anklagepunkte konzentrieren, sondern mehr auf die Art und Weise, in welcher die Themen Toleranz und Gewissensfreiheit im Kontext der Attacken gegen Simson und Campbell von denselben zur Verteidigung gegen die vorgebrachten Häresievorwürfe verwendet werden.16 Die Verteidigungslinien von Simson und Campbell gegen den Vorwurf potentiell häretischer Positionen gleichen sich bisweilen frappant. Da Simson und Campbell bis zu Simsons Tod in regelmäßigem Kontakt standen, ist diese Tatsache nicht weiter verwunderlich – doch wie wir sehen werden, konnten ihre Argumente in verschiedenen Kontexten verschieden verfangen, was wiederum aufschlussreich für unser Verständnis der Entwicklungen im frühen 18. Jahrhundert ist.
15 Weitere Beispiele diskutiere ich in meinem Artikel Maurer, The Grievances from Toleration. 16 Zum generelleren Kontext vgl. insbesondere die vertiefte Studie zu Simson von Anne Skoczylas, Mr Simson’s Knotty Case, sowie meine Artikel Maurer, Doctrinal Issues Concerning Human Nature and Self-love und Maurer, Archibald Campbell and the Committee for Purity of Doctrine.
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Argumente, welche Forderungen nach Toleranz beziehungsweise Duldung ihrer Positionen durch die Kirche und ihre Organe gleichkommen, finden sich bei Simson und Campbell hauptsächlich in drei Bereichen: in der Frage nach der Autorität in der Bibelauslegung, in der Frage nach dem Geltungsbereich von theologischen Konzepten wie Orthodoxie, Heterodoxie und Häresie, und beim Thema des Nutzens einer offenen und toleranten Debattenkultur für den religiösen und moralischen Fortschritt der Menschheit. Spannenderweise berufen sich Simson und Campbell oftmals direkt auf die Westminster Confession of Faith, welche vormalig von den jeweiligen Ausschüssen für Reinheit der Doktrin als Beweis für ihre Unorthodoxie beziehungsweise potentielle Häresie angeführt wurde. Simson und Campbell verwenden aber das Glaubensbekenntnis für ihre eigenen Zwecke und spielen damit mit der oben bereits angedeuteten Bandbreite an möglichen Interpretationen insbesondere im Thema Gewissensfreiheit. Im Folgenden werde ich auf die drei genannten Bereiche genauer eingehen und die damit verknüpften theologisch–philosophischen Argumente kurz vorstellen. 3.1
Wer hat die Autorität in der Bibelauslegung inne?
Mit einem generellen Argument kontern Simson wie auch Campbell die Attacke des Committee for Purity of Doctrine auf ihre Positionen: Die Anwendung der Westminster Confession of Faith in Streitigkeiten zur Interpretation spezifischer Bibelstellen sei eine Form des Papismus. Simson schreibt gegen die sogenannten „orthodox Divines“: „[...] if Their Current Exposition Must be Followed, Then We have got a fine Rule of Interpreting Scripture, which is more Absurd than the Popish, unless They can be Consecrated Infallible.“17 Sich in der Bibelauslegung ausschließlich auf die Deutungen von als orthodox eingestuften Geistlichen zu berufen, statt die Schrift selbst zu Rate zu ziehen, wie in der Westminster Confession of Faith I, 9 & 10 gefordert wird, bedeutete, in die Kirche die schlimmsten papistischen Irrtümer einzuführen: „such as, making the Authority of Men, whether Good or Bad, Orthodox or Heterodox, the Rule of Interpreting Scripture, and of Truth and Error in Matters of Religion.“18 Die Heilige Schrift, und nicht die von Menschen als orthodox oder heterodox eingestuften Religionsvertreter, bleibt die letzte Instanz in Interpretationsfragen – doch diese bleibt in vielen Fragen vage und muss durch gemeinsame Diskussion immer weiter erforscht werden. Ganz ähnlich tönt es bei Campbell ziemlich genau zwei Jahrzehnte später. Campbell stellt folgende rhetorische Frage:
17 Vgl. Simson, The Case of Mr John Simson, 107. 18 Ebd., 107 f.
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Religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und Einheit der Kirk
I would only beg to be informed, Whether is it the Doctrine of this Protestant Church of Scotland, that we must interprete and understand the Scriptures of God, as their Meaning is fix’d by the Authority and the publick Compositions of Men? If this be the Case, the Church of Rome may well justify all her Principles, and with good Reason condemn the Reformation.19
Wie auch Simson verweist Campbell explizit auf die Westminster Confession of Faith, welche in I, 9 & 10 das Prinzip der ‚sola scriptura‘ festhalte. Das Vorgehen der beiden Committees for Purity of Doctrine, die von Menschen verfasste Confession of Faith als Standard der Orthodoxie und als Waffe gegen unliebsame Theologen zu verwenden, wird bei Simson wie auch bei Campbell unter Berufung auf die Confession selbst als Verstoß gegen das Prinzip der ‚sola scriptura‘ attackiert, und als Versuch, eine menschliche Autorität über die Heilige Schrift zu stellen. 3.2
Welchen Geltungsbereich haben die Konzepte der Orthodoxie, der Heterodoxie und der Häresie?
Mit obiger Kritik an der Verwendungsweise des Glaubensbekenntnisses durch das Komitee für Reinheit der Doktrin verbunden ist eine philosophische und theologische Kritik an der Geltung von Konzepten wie Orthodoxie, Heterodoxie und Häresie. Ähnliche Kritiken finden sich auch in Schottland bereits früher – sogenannt irenistische und latitudinarische Ideen fanden sich beispielsweise bei Theologen wie den Aberdeen Doctors im frühen 17. Jahrhundert, und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert schrieb George Mackenzie (1636/38–1691), der spätere Gründer der Advocates Library in Edinburgh, in seinen moralischen Essays Religio Stoici (1663) folgendes – offensichtlich mit Blick auf die während der episkopalen Periode der schottischen Staatskirche außer Kraft gesetzte Westminster Confession of Faith: Thus a great many Confessions of Faith, become, like Noah’s Ark, a Receptacle of clean and unclean; and which is also deplorable, they do, like ordinary Dyals, serve only for use in that Meridian for which they are calculated, and by riding twenty Miles ye make them Heterodox.20
19 Vgl. Campbell, The Report of the Committee for Purity of Doctrine, 43 f. 20 Vgl. Mackenzie, Essays Upon Several Moral Subjects, 85. (Ich zitiere aus einem späteren Nachdruck von Religio Stoici.)
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Glaubensbekenntnisse seien immer Mischungen aus Wahrheit und Irrtum, und ihre präzisen Formulierungen hingen von den präzisen Gegebenheiten ab, in welchen sie ausgearbeitet wurden. Daher sollten sie auch keinesfalls überbewertet werden.21 Im Vergleich mit dem jungen episkopalen Edelmann Mackenzie, der während der episkopalen Phase seine kritischen Bemerkungen relativ problemlos veröffentlichen konnte, befinden sich Simson und Campbell natürlich in einer ungleich heikleren Situation – sie werden der Häresie verdächtigt und müssen sich öffentlich gegen den Vorwurf wehren. Simson, welcher wegen bestimmten Aussagen des Arminianismus verdächtigt wird, bestreitet, dass er eine solche Lehre vertrete, und begegnet weiterhin diesem spezifischen Vorwurf mit einem generelleren Hinweis: „I will not grant, that a proposition is erroneous, because Arminius taught it.“22 Theologische Behauptungen müssen auf ihre Wahrheit und Falschheit geprüft werden und nicht einfach verboten werden mit Verweis darauf, dass die Person, die sie geäußert hat, Häretiker sei. Dies bedeutet, dass auch potenziell als gefährlich eingestufte Lehren einer offenen Diskussion unterzogen werden müssen – was natürlich auch eine der Grundforderungen der Toleranz ist. Campbell seinerseits wird unter anderem des Sozinianismus verdächtigt und verwendet dasselbe Argument wie Simson. Folgendes lesen wir in seiner Verteidigungsschrift: But is not the Opinion of Socinus in this Article universally condemned by all Orthodox Divines? Very true; nay, he is therein likewise condemned by most of his own Followers. But does it necessarily follow from hence, that therein without Doubt Socinus is erroneous? I am apt to think, that the Judgment of Orthodox Divines is not in all Instances infallibly right: and as little can I think, that the Judgment of Hereticks is in all Instances infallibly wrong. ‘Tis [it is] pretty common for one to meet with a Mixture of Truth and Error, more or less, in all human Compositions whatsoever. And I suppose that Socinus himself sometimes professes Truth as well as Error. But, when Orthodox Divines condemn his Opinion here pointed at, Do they condemn it, merely because Socinus professes it, as if this heretick had been capable of conceiving and publishing nothing but mere Falshood, and were therefore to be held, as it were, the infallible Standard of Error? Or, Do they not rather examine into the Nature of the Opinion itself, without regarding the Person who professes it; and, from their Apprehensions of its inward Falshood, come to reject it?23
Campbells Verteidigungslinie ist etwas ausgebauter als diejenige von Simson, geht aber auf denselben grundlegenden Punkt zurück: Die Etiketten „orthodox“ und
21 Zu Mackenzies Toleranzargumenten, vgl. Jackson, Latitudinarianism. 22 Vgl. Simson, The Case of Mr. John Simson, 200. 23 Vgl. Campbell, Professor Campbell’s Further Explications, 22 f.
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Religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und Einheit der Kirk
„heterodox“ dürfen uns nicht davon entbinden, die dahinterstehenden Aussagen selbst kritisch zu prüfen – ansonsten verfallen wir der Gefahr, den als orthodox eingestuften Theologen den Status der Unfehlbarkeit zu verleihen. Doch dagegen spricht die Westminster Confession of Faith bekanntlich eine deutliche Sprache. Dieses Argument ist umso wichtiger, als Simson und Campbell beide der Überzeugung sind, dass wir uns in einem fortschreitenden Prozess der Wissensgewinnung in Bezug auf religiöse und moralische Dinge befinden – ein Fortschritt, bei dem insbesondere die im Aufstieg begriffenen Naturwissenschaften ihren Beitrag leisten. Und dies bringt uns zum dritten Punkt in Simsons und Campbells Argumentation. 3.3
Welchen Nutzen hat eine offene Debattenkultur für den moralischen und religiösen Fortschritt der Menschheit?
Simson und Campbell betrachten „free debate“, also eine offene Debattenkultur, als zentralen Bestandteil zur Beförderung des moralischen und religiösen Fortschritts der Menschheit. Dies wird deutlich einerseits aus ihren generellen theologisch–philosophischen Überlegungen, und andererseits aus direkt das Thema betreffenden Textstellen. Hier ist allerdings etwas mehr Kontext vonnöten, um die Argumente von Simson und Campbell einordnen zu können. Campbell argumentierte in mehreren seiner publizierten Traktate, dass „the light of nature“, die natürliche Vernunft, durch den Sündenfall so stark beschädigt sei, dass sie ohne die Hilfe der göttlichen Offenbarung nichts für unsere Erlösung Relevantes in Erfahrung bringen könne. Zentral für Campbells Argumentation war hier seine Interpretation der theologischen Irrtümer der polytheistischen alten Griechen und anderer Heiden. Diese Irrtümer interpretierte Campbell nämlich nicht wie sonst üblich als Beweis dafür, dass die natürliche Vernunft zwar beschädigt war, aber immer noch genügend funktionstüchtig, um uns zumindest einige limitierte Erkenntnisse zu religiösen Sachverhalten zu verschaffen. Campbell schlug stattdessen vor, die theologischen Irrtümer der Heiden als die tradierten und durch die Jahrhunderte verfälschten Relikte früherer Offenbarungen zu verstehen. Er gab vor, mit dieser Interpretation die Deisten attackieren zu wollen, welche der natürlichen Vernunft einen viel zu wichtigen Status beimessen würden und damit die zentrale Stellung der göttlichen Offenbarung gefährdeten. Während der orthodoxen Seite das Betonen der Grenzen der natürlichen Vernunft willkommen war, wurde aber Campbells Position als Angriff auf die ‚inexcusability‘, also auf die Unentschuldbarkeit der Menschheit nach der Ursünde wahrgenommen, und nicht als eine Attacke auf die Deisten. Wie könnte ein gerechter Gott seine Kreaturen bestrafen wollen, wenn sie gänzlich ohne Möglichkeit dastünden, durch eine zwar verdorbene, aber immer noch minimal funktionierende natürliche Vernunft die notwendigen Kenntnisse über ihren Schöpfer und sein moralisches Gesetz zu erlangen? Und diese allge-
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meine Bestrafung der Menschheit durch Gott, gründend in der inexcusability, war wiederum zentral für die calvinistische Prädestinationslehre. Simson, Campbells früherer Lehrer, widerspricht Campbell in einem Brief aus dem Jahre 1736 und verteidigt die natürliche Vernunft. Simsons Erklärung der theologischen Irrtümer der alten Griechen ist besonders interessant: all the heathens who were trained up with with fals [!] notions lay under almost uncurable prejudices against acquiring right Ideas especially considering their Ignorance of natural philosophy & the danger of thinking, or at least writing freely on the subject.24
Den Heiden fehlte, so Simson, eine offene Debattenkultur sowie wichtige Kenntnisse in den sich nun endlich entwickelnden Naturwissenschaften, und daher blieben sie in ihren theologischen Irrtümern stecken. Mit anderen Worten: eine offene Debattenkultur wäre essentiell für den Fortschritt der Menschheit in religiösen Belangen, und schließlich auch in moralischen Belangen. Nun liegt aber das Interesse von Simson im Unterschied zu den orthodoxen Theologen keineswegs in der Aufrechterhaltung der postlapsären Unentschuldbarkeit, sondern in der Verteidigung der Idee der Möglichkeit eines moralischen und religiösen Fortschritts, unter anderem mithilfe der neuen Erkenntnisse in den Naturwissenschaften. Unser Verständnis der natürlichen Welt komme einem Verständnis der göttlichen Schöpfung gleich, wodurch wir auch Gottes Willen besser verstehen könnten.25 Campbell weicht zwar nicht von seiner These der Schwäche der natürlichen Vernunft ab, nimmt aber Simsons Punkt, dass eine offene Debattenkultur zentral für den Fortschritt der Menschheit sei, seinerseits auf, wenn er sich gegen die Attacken des Committees for Purity of Doctrine gegen seine Interpretation von Rom. 1:19–20 zur Wehr setzt. Er schreibt: But for a Society of Men and Protestants, without any Evidence arising from a free and open Debate, or from a careful Enquiry into an Argument that deserves the utmost Attention, to submit to acknowledge that for a Truth, which, it is affirm’d, universal Experience declares to be a Falshood, is not to be reconcil’d to the Principles of common Sense and Honesty.26
24 Vgl. Simson, Letter to Archibald Campbell, 3. 25 Die These, wonach wir aus empirischen bzw. naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Schlüsse auf Gottes Existenz, sein moralisches Gesetz und seine Absichten der Menschheit gegenüber ziehen können, war im 18. Jahrhundert bei den schottischen Philosophen sehr weit verbreitet, wurde dann aber insbesondere von David Hume in seinen Dialogen über natürliche Religion (1779) vernichtend kritisiert. 26 Vgl. Campbell, The Report of the Committee for Purity of Doctrine, 41.
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Religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und Einheit der Kirk
Eine offene Debatte mit dem Ziel der Wahrheitsfindung ist für Campbell nicht nur generell für den Fortschritt der Menschheit wichtig, sondern insbesondere für eine protestantische Gesellschaft, welche sich gegen die unreflektierte Unterordnung unter menschliche Autoritäten wehrt. Toleranz im Sinne eines Zulassens dieser Debatten ist also ein zentrales Mittel der Wahrheitsfindung und somit der Möglichkeit der moralischen Verbesserung der Menschheit.
4.
Schlussfolgerungen: Toleranz, subscription und die Moderates
Die bisweilen identischen Argumente von Simson und Campbell zeigen, dass im frühen 18. Jahrhundert sehr wohl Toleranzforderungen formuliert wurden, und dass diese zudem von Theologen mit zentraler Stellung in der Kirk vorgebracht wurden. Wie bereits erwähnt, wurde Simson von der General Assembly in zwei verschiedenen Häresieprozeßen 1717 und 1727 verurteilt. Campbell konnte diesem Schicksal entgehen, obwohl sich ihre Fälle in vielen Aspekten sehr nahekommen. Machtpolitische Verschiebungen waren hierbei vermutlich ausschlaggebender als eine erfolgreiche Verteidigung mit überzeugenden Argumenten. Wenige Jahre später übernahmen in einer Weiterentwicklung die sogenannten ‚Moderates‘ die Vormachtstellung in der Kirk – eine Gruppe von gemäßigten Mitgliedern der Kirche, zu welcher die meisten Vertreter der schottischen Aufklärung gehörten.27 Diese setzten eine aufklärerische Agenda definitiv in Schottland durch – im Falle der Toleranz wie bereits erwähnt mehr durch eine tatkräftige Prägung des politischen Klimas denn durch theoretische Argumente. Bereits erwähnt wurde die Tatsache, dass die Praktik des öffentlichen Signierens des Glaubensbekenntnisses in Schottland unangetastet beibehalten wurde, und zwar bis ins 19. Jahrhundert. Dieses stillschweigende Beibehalten wird bisweilen als Zeichen gewertet, dass die gemäßigten Parteien in der Kirche nicht Öl ins Feuer gießen wollten – 1733, also zwei Jahre vor dem Beginn der Untersuchungen gegen Campbell, sah sich die Kirk nämlich bereits einer Abspaltung von evangelikalen Mitgliedern gegenüber, und die Gefahr weiterer Schismen blieb konstant vorhanden. Die diskutierten Punkte zeigen aber auch, dass insbesondere im frühen 18. Jahrhundert die Verwendung der Westminster Confession of Faith als politisches Instrument zur Zementierung einer spezifischen Konzeption von Orthodoxie keineswegs unbestritten war – die Argumente bei Simson und Campbell können zumindest ansatzweise als Beginne einer Debatte zur ‚subscription‘ gewertet werden, und sie sind mit dem Ringen um das Thema der Toleranz eng verknüpft.
27 Vgl. hierzu Richard Shers einflussreiche Studie zu den ‚Moderati‘ in Edinburgh, welche 1985 erstmals bei Edinburgh University Press erschienen ist.
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Literatur Quellen Anon., Acts of the General Assembly of the Church of Scotland, 1638–1842, Edinburgh 1843. Anon., The Confession of Faith, the Larger and Shorter Catechisms, with the Scripture Proofs at large, Edinburgh 1728. Campbell, Archibald, Remarks upon some Passages in Books publish’d by Mr. Archibald Campbell [...], with his Explications on them, Edinburgh 1735. Campbell, Archibald, Professor Campbell’s Further Explications, Edinburgh 1736a. Campbell, Archibald, The Report of the Committee for Purity of Doctrine, with Professor Campbell’s Remarks upon it, Edinburgh 1736b. Mackenzie, George, Essays Upon Several Moral Subjects, London 1713. Rutherford, Samuel, A Free Disputation Against pretended Liberty of Conscience, London 1649. Simson, John, The Case of Mr. John Simson, Professor of Divinity in the University of Glasgow, Glasgow 1715. Simson, John [Briefmanuskript], Letter to Archibald Campbell, National Records of Scotland [= NRS], Lawrie Papers, GD 461/15/7, 1736.
Forschung Broadie, Alexander, The Scottish Enlightenment: The Historical Age of the Historical Nation, Edinburgh 2011. Forst, Rainer, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M. 2003. (Ebenfalls erschienen als: Toleration in Conflict. Past and Present, Cambridge 2013) Garrett, Aaron, Harris, James (Hg.), Scottish Philosophy in the Eighteenth Century, Bd. 1: Morals, Politics, Art, Religion, Oxford 2015. Israel, Jonathan, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750, Oxford 2001. Jackson, Clare, Latitudinarianism, Secular Theology and Sir Thomas Browne’s Influence in George Mackenzie’s Religio Stoici (1663), in: The Seventeenth Century 29 (2014), 73–94. Kidd, Colin, Scotland’s Invisible Enlightenment: Subscription and Heterodoxy in the Eighteenth–Century Kirk, in: Records of the Scottish Church History Society 30 (2000), 28–59. Maurer, Christian, Archibald Campbell and the Committee for Purity of Doctrine on Natural Reason, Natural Religion, and Revelation, in: History of European Ideas 42 (2016a), 256–275. –, Doctrinal Issues Concerning Human Nature and Self–love, and the Case of Archibald Campbell, in: Intellectual History Review 26 (2016b), 355–369.
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Religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und Einheit der Kirk
–, Early Enlightenment Shifts: Simson, Campbell, and Leechman, in: Mark Elliot und David Fergusson (Hg.) Oxford History of Scottish Theology, Bd. 2: From the Early Enlightenment to the Late Victorian Era, Oxford 2019, 42–55. –, ‘The Grievances from Toleration’: Scotland Heading Towards the Enlightenment, in: Christian Maurer/ Giovanni Gellera (Hg.), Contexts of Religious Tolerance: New Perspectives from Early Modern Britain and Beyond. Special issue of Global Intellectual History 5/2 (2020), 247–263. –,On the power of natural reason: a transcript and commentary of two letters from John Simson to Archibald Campbell in 1736, History of European Ideas, 47:4 (2021), 561–572, DOI: 10.1080/01916599.2020.1809005. Mijers, Esther, The Netherlands, William Carstares, and the Reform of Edinburgh University, 1690–1715, in: History of the Universities 29 (2011), 111–142. Raffe, Alasdair, The Culture of Controversy. Religious Arguments in Scotland, 1660–1714, Woodbridge 2012. Sher, Richard B., Church and University in the Scottish Enlightenment. The Moderate Literati of Edinburgh, Edinburgh 2 2015. Skoczylas, Anne, Archibald Campbell’s Enquiry into the Original of Moral Virtue, Presbyterian Orthodoxy, and the Scottish Enlightenment, in: The Scottish Historical Review 87 (2008), 68–100. –, Mr. Simson’s Knotty Case. Divinity, Politics, and Due Process in Eighteenth–Century Scotland, Montreal 2001. Waszeck, Norbert, L’Écosse des Lumières. Hume, Smith, Ferguson, Paris 2003.
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Ralph Häfner
Toleranz und ihre Geschichte: Isaac Disraeli im Blick auf Pierre Bayle
Isaac Disraelis Vater, der jüdische Kaufmann Benjamin Disraeli sen., wanderte 1748 von dem damals zur Republik Venedig gehörigen Cento bei Ferrara nach England aus. In Enfield (Middlesex im heutigen Greater London) wurde Isaac 1766 geboren. Dessen Sohn Benjamin jun. wiederum, später Premierminister und Autor von populären Romanen, ist der vielleicht berühmteste Spross einer Familie, die als vorzügliches Beispiel kulturellen Transfers noch immer einer umfassenden Erschließung harrt. Trotz seiner Zurückgezogenheit war Isaac einer der populärsten und umtriebigsten Gelehrten seiner Zeit. Nach seinen Studien in Leiden frequentierte er den Intellektuellenzirkel um den Verleger John Murray (1737–1793),1 der mit dem berühmten Lexikographen Samuel Johnson (1709–1784) in Beziehung stand. Nach seiner Heirat im Jahr 1802 siedelte er in den Herrensitz Bradenham House (Buckinghamshire) über. Als Privatgelehrter trat Disraeli bereits 1791 mit dem ersten, im Verlag von Murray2 erschienenen Band vermischter Beobachtungen zu unterschiedlichsten Gegenständen des Wissens, Curiosities of Literature, hervor, ein Werk, das bis 1823 auf insgesamt fünf Bände anwuchs und neun Jahre vor seinem 1848 erfolgten Tod in elfter Auflage (1839) erschien. Disraeli knüpft mit der Präsentation scheinbar disparatester Wissenssplitter an die antike und frühneuzeitliche Buntschriftstellerei an. Den weit verzweigten Curiosities setzte er die topisch geordneten Sammlungen Miscellanies, or Literary Recreations (1796), Calamities of Authors (1812–1813), Quarrels of Authors (1814) und weitere Werke vergleichbaren Inhalts an die Seite. Im Alter erblindet, redigierte er mit seiner Tochter die 1841 erschienenen Amenities of Literature. Aufgrund eines oft verengten modernen Literaturbegriffs wird diese Art von Literatur unter Einschluss des Œuvres von Disraeli3 bis heute von der literaturwissenschaftlichen Forschung kaum wahrgenommen. Mit seinem Werk indes ist
1 Vgl. Zachs, The First John Murray and the Late Eighteenth-Century Book Trade. 2 Vgl. ebd., 239: “The public soon bought all the copies, and a second edition was issued, after which a continuation and several further editions appeared. A warm friendship developed between the two men and plans were made for future projects.” 3 Vgl. jedoch Spevack, Curiosities revisited. The works of Isaac D’Israeli; Shane, Isaac D’Israeli and his quarrel with the Synagogue, 165–175.
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Ralph Häfner
eine fruchtbare, äußerst facettenreiche und noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts blühende Wissenslandschaft erst noch wieder zu entdecken und in ihren traditionsgeschichtlichen Filiationen zu rekonstruieren. Die folgenden Darlegungen verstehen sich als Beitrag zur Erschließung dieser Landschaft auf der Grundlage eines singulären und doch zugleich zentralen Themenbereichs. Ohne Zweifel ist Pierre Bayle als Person und Autor des Dictionnaire historique et critique (zuerst 1696/97 in zwei Bänden) der wichtigste Referenzrahmen für den von Disraeli intendierten Typus des Intellektuellen. Disraeli hat sich mit kaum einem Autor so intensiv beschäftigt wie mit Bayle. Im Rahmen der Curiosities of Literature widmete er ihm zwei Essays, Modern Literature – Bayle’s Critical Dictionary, und die Skizze Characteristics of Bayle, die ich als Modell für Disraelis eigene Denkform kurz vorstellen möchte; sie bilden die Grundlage für Überlegungen zum Essay Toleration, dem ich mich dann abschließend zuwenden werde. Elisabeth Labrousse, die wohl kenntnisreichste Erforscherin des Werks von Bayle, schrieb 1993: „Sehr wahrscheinlich war Bayles Einfluss auf die Autoren des 19. Jahrhunderts stärker als bisher angenommen (was durch systematische Untersuchungen noch zu belegen wäre).“4 Neben Hinweisen auf Bayles Rezeption in Deutschland (Ludwig Feuerbach) und den USA (Herman Melville; Ralph Waldo Emerson) konstatiert sie dennoch einen „merklichen Niedergang seines Einflusses“.5 Das Werk von Isaac Disraeli gibt indes Anlass, dieses Bild am Beispiel eines der wirkungsmächtigsten Autoren des 19. Jahrhunderts zu korrigieren. Im Essay Characteristics of Bayle setzte sich Disraeli das Ziel, Aspekte eines exemplarischen Gelehrtenlebens anhand eines Puzzles einzelner Charakterzüge zu einem Lebensbild zusammenzusetzen. Der Text steht damit in der Tradition der prosopographischen Anekdotensammlungen und weckt in einem damit die imaginative Kraft des Lesers, dessen inneres Auge ein detailreiches Porträt spiegelt. Disraeli stützt sich dabei ausdrücklich weniger auf die den späteren Auflagen des Dictionnaire vorangestellte Biographie des Hugenotten Pierre des Maizeaux,6 dessen Stil er in anderem Kontext als „geist- und geschmacklos, ohne Lebhaftigkeit und Kraft“, charakterisiert,7 als vielmehr auf Bayles Selbstcharakterisierung in der 4 Vgl. Labrousse, „Pierre Bayle”, 1025–1043 und 1046–1050, hier: 1042. 5 Ebd. 6 Vgl. Pierre des Maizeaux, „La vie de Monsieur Bayle, revue, corrigée, & considérablement augmentée dans cette cinquième édition“, in: Pierre Bayle, Dictionnaire historique et critique, cinquième édition, Tome I, S. XVII–CXX. Disraeli hat die umfangreiche Biographie dennoch ausgebeutet; u. a. zitiert er Bayles Tagebucheinträge über seinen Religionswechsel nach den bei Des Maizeaux präsentierten Dokumenten, hier S. CXII–CXIII. 7 Vgl. Isaac Disraeli, “Of Des Maizeaux, and the secret history of Anthony Collins’s manuscripts”, in: ders., The Works, hier: Bd. III: Curiosities of Literature, 13–23, besonders: 14. – Ich zitiere im Folgenden nach dieser (nicht vollständigen!) Werkausgabe, die Benjamin Disraeli in sechs Bänden 1881 publiziert hat. Übersetzung von R.H.
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Toleranz und ihre Geschichte: Isaac Disraeli im Blick auf Pierre Bayle
Einleitung zu seinem Wörterbuch. Für Disraeli ist Bayle der Typus des „gelehrten Philosophen“ (literary philosopher).8 Das Attribut „literary“ begegnet in dieser Kombination eher selten; die Modernität von Bayles Denken erblickt Disraeli aber gerade in der Einsicht, dass Logik und Argumentationskunst nur im situativen – historischen oder anekdotischen – Gebrauch Gültigkeit für sich beanspruchen können. Bayle gehe es also nicht um den Anspruch auf absolute Wahrheit, sondern um das Verständnis dessen, worin logische Argumente Wahrheit für sich beanspruchen können. Die „neue Art des Studiums, die Bayle begründete“,9 unterscheide sich darin von der Arbeit des klassischen Philologen, wonach das Wissen nach dem Verständnis Bayles „in ständigem Wachstum begriffen“ sei und infolgedessen „unendliche Forderungen“ an den „gelehrten Philosophen“ stelle.10 Mit einer an Francis Bacon gemahnenden (ebenso wie auf Nietzsche vorausdeutenden!) Metaphorik rief er aus: „Wissen navigiert auf dem Ozean und ist beständig auf Entdeckungsreisen“.11 Vergleichbar mit Plutarch und Plinius dem Älteren, so Disraeli, entfalte Bayles Denken eine subversive Sprengkraft, die alte Denkgewohnheiten aufbreche. Der anekdotenreiche Stil und das scheinbar fortgesetzte Abschweifen vom Gegenstand sind Verfahren, neue, ungewohnte und herausfordernde Perspektiven auf scheinbar bekannte Tatsachen zu gewinnen, wie Disraeli am Beispiel von Bayles Pensées sur la comète deutlich macht: Das Werk ist in der Tat voll von Merkwürdigkeiten und Anekdoten, darunter vielen kritischen, die Geschichte betreffenden. Anfangs wurde es problemlos in Frankreich aufgenommen, als ein einfacher Bericht über Kometen; als man aber entdeckte, dass Bayles Komet eine Reihe von feurigen Geschichten (fiery tales), die Franzosen und die Österreicher betreffend, enthielt, wurde es rasch so fürchterlich wie der Komet selbst, und man verbot es.12
Das Zitat zeigt zugleich Disraelis rhetorische „pun“-Technik, die Technik des durch Klangähnlichkeiten ausgelösten Wortwitzes im Sinne des Calambours („fiery tales“ zu „fairy tales“), der vor allem in England zu einer eigenen, bis heute lebendigen,
8 Isaac Disraeli, “Characteristics of Bayle”, in: ders., The Works, Bd. II: Curiosities of Literature, 388–396, hier: 389. 9 Ebd., 392. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd., 393: “The work is indeed full of curiosities and anecdotes, with many critical ones concerning history. At first it found an easy entrance into France, as a simple account of comets; but when it was discovered that Bayle’s comet had a number of fiery tales concerning the French and the Austrians, it soon became as terrific as the comet itself, and was prohibited!”
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Konversationskunst ausgebaut wurde. Disraelis Essays sind in diesem Sinne Konversationsstücke, die den Leser in die oft sprunghaft-assoziative Argumentation involvieren. Dem um Bayles Biographie zentrierten Essay korrespondiert der dem Wörterbuch gewidmete Aufsatz, in dem Disraeli die Stellung Bayles in der Geschichte des Denkens analysiert: Jedes epochemachende Werk in der Literatur ist ein großartiges Denkmal des menschlichen Geistes; und in Bayle mag man den Vater der gelehrten Wissbegierde (literary curiosity) und der modernen Literatur (modern literature) sehen.13
Die argumentative Kraft in der Präsentation der Fakten und die „reichen Erläuterungen, die uns im vielschichtigen Kommentar bezaubern“,14 begründeten eine „Bücherwissenschaft“ (philosophy of Books), die das Werk der spätantiken Buntschriftsteller Aulus Gellius und Athenaios „in hohem Geist“ (with a high spirit) fortführe. Mit dem Aufkommen der Volkssprachen sei die klassische Gelehrsamkeit durch die Entdeckung einer neuen Art des Wissens ersetzt worden, das tiefer das Fühlen und die Zeitinteressen beschäftigte, das fortan „nicht das Bild der Griechen und Lateiner, sondern das eigene Bild reflektierte“.15 Der Begriff der Gelehrsamkeit (scholarship) habe sich zu einer neuen, durch empirische Daten begründeten Wissensform („the New Learning“) im Sinne Francis Bacons verwandelt. Zwar habe es in Europa bereits eine Prädisposition für die vielfältigen, aber vernachlässigten Formen der Gelehrsamkeit und das des Merkens würdige, aber verstreute Wissen der Modernen gegeben; aber erst Bayle habe die Sache mit Namen und Leben versehen.16 Mit Edward Gibbon bemerkte Disraeli, dass die Idee eines Wörterbuchs eine „doppelte Freiheit“ eröffnete: Bayle konnte ohne Rücksicht auf intellektuelle, politische oder soziale Belange jeden beliebigen Artikel aufnehmen und seinen Inhalt in jeder beliebigen Form kommentieren.17 Der bloße Stoff, den Bayle präsentiere, biete in der Regel nichts Neues, da er all sein Wissen aus alten Büchern zog; aber die im Kommentar geleistete argumentative Belebung dieses Stoffs öffnete eine exzentrische Bahn, die keine Parallele hatte.18 Disraeli erblickt in Bayles Zugang zum Wissen ein völlig neues Erkenntnisinteresse. Worin besteht Bayles neuer Ansatz? Sein Verfahren der „cross-examination“
13 Isaac Disraeli, “Modern Literature – Bayle’s Critical Dictionary”, in: ders., The Works, Bd. II (wie Anm. 7), 382–388, hier: 382. 14 Ebd. 15 Ebd., 383. 16 Vgl. ebd., 385. 17 Ebd. 18 Ebd., 386.
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Toleranz und ihre Geschichte: Isaac Disraeli im Blick auf Pierre Bayle
verschiedenster Zeugnisse richte sich nicht auf die Feststellung von Wahrheiten mathematischer Evidenz; es sei vielmehr von einem tiefen Interesse an der Geschichte der Menschen und ihrer im Laufe der Jahrhunderte sich wandelnden Meinungen bestimmt. Bücher seien für Bayle Bilder von Erfindungen der Menschen und der Geschichten ihres Denkens. Jedes Buch müsse als ein Experiment des menschlichen Verstandes betrachtet werden.19 Bayle, so resümierte Disraeli, „könnte man den Shakespeare der Wörterbuchmacher nennen, eine Art von chimärischem Wesen, von dem man sich vor der Zeit Bayles nicht vorstellen konnte, dass sein Dasein möglich wäre.“20 Der Vorwurf des Skeptizismus,21 der ihm gemacht wurde, greife nicht. Wenn Bayle lange geglaubte Fakten in Zweifel ziehe, so zeige sich darin nur eine Zurückhaltung im Urteil, die man auch bei Aristoteles und Cicero finde.22 Statt zu dogmatisieren, stelle er eine „Liebe zur varia eruditio“ aus, die Leibniz an ihm geschätzt habe.23 Unter den Characteristics of Bayle richtete Disraeli den Blick des Lesers auch auf dessen zweimaligen Konfessionswechsel, der ihn vom reformierten Bekenntnis seines Elternhauses zum Katholizismus und von dort wieder zurück führte.24 Disraeli begleitete seine Ausführungen mit einem lakonischen Auszug aus Bayles Tagebuch. Der konfessionelle Konflikt mit Pierre Jurieu, einem „Mann erhitzter Hirngespinste“, der die Entlassung Bayles aus dem Professorenamt zur Folge hatte, ist ein weiterer Aspekt dieses Lebensbildes.25 Für Bayle sei der Abschied aus dem akademischen Leben indes nur der willkommene Anlass für den endgültigen Rückzug in die Gelehrtenstube gewesen, eine „Emanzipation“, die ihm die „Süße“ und „Ruhe“ des fortgesetzten Studiums wieder ermöglicht habe.26 Am Ende des Essays Toleration nimmt Disraeli die Spur dieser Emanzipation unter dem Topos der „Indifferenz“ wieder auf.27 An derartigen Querbezügen wird das Kompositionsprinzip der Curiosities of Literature besonders deutlich. Das Werk ist geradezu auf eine diskontinuierliche Lektüre im Sinne der „cross examination“ angelegt, die dem Leser die Freiheit lässt, den Teppich aus Wissensfäden, die die Essays in lockerer Folge auslegen, selbst zu weben. Disraeli schloss:
19 Vgl. ebd. 20 Ebd., 387. 21 Zum Zusammenhang von Skepsis und Toleranz vgl. die Aufsätze in dem Sammelband Early Modern Skepticism and the Origins of Toleration, hg. v. Alan Levine. 22 Zur Tradition vgl. Schmitt, Cicero scepticus. 23 Vgl. Disraeli, “Modern Literature – Bayle’s Critical Dictionary”, 388. 24 Vgl. Disraeli, “Characteristics of Bayle”, 390. 25 Disraeli übernimmt die Polemik von Des Maizeaux. Vgl. jedoch die differenzierte Einschätzung von Elisabeth Labrousse, „Pierre Bayle“, 1040. 26 Vgl. Disraeli, “Characteristics of Bayle” (wie. Anm. 8), 391. 27 Vgl. Isaac Disraeli, „Toleration“, in: ders., The Works, Bd. III, 245–255, hier S. 255.
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Man hat unterstellt, dass Toleranz religiöse Indifferenz sei; aber bei Menschen, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, handelt es sich lediglich um Indifferenz gegenüber den theologischen Logomachien – Angelegenheiten, die ‚nicht von Gott, sondern vom Menschen gemacht‘ sind, die untergingen und die um uns herum untergehen!28
Disraelis Darlegungen zum Begriff des Indifferentismus können als Schlüssel zum Artikel Toleration gelesen werden. Wie stets versammelt auch dieser Essay eine Reihe von Anekdoten und Beobachtungen zu historischen Sachverhalten, die im Wechselspiel von oftmals kuriosen Fakten und scharfsinnigen Kommentaren wie ein Bayle’scher Wörterbuchartikel en miniature aufgefasst werden können. Ebenso wie Bayle leitet Disraeli seine Überlegungen mit Beobachtungen allgemeiner Art ein. Die Vielzahl möglicher Kommentare, Assoziationen und Illustrationen, die Bayle in den Anmerkungsapparat gesetzt hätte, sind im Falle Disraelis selbst Teil des Artikels. In seinem topischen Aufbau weckt er zugleich Reminiszenzen an das von Montaigne bekannte essayistische Schreibverfahren der assoziativen Wissensakkumulation. Dass im Problem der Toleranz stets eine Spannung zwischen Religion und Politik impliziert ist, machte Disraeli bereits im ersten Absatz deutlich: Eine aufgeklärte Toleranz (enlightened toleration) ist ein Segen des letzten Jahrhunderts – es möchte scheinen, dass sie von den Römern ausgeübt wurde, als sie die ersten Christen nicht als umstürzlerische Glieder der Gesellschaft missverstanden; selbst von Mohammed wurde sie in einem Abschnitt des Koran eingeschärft, aber selten von seinen Anhängern praktiziert. In der neueren Geschichte wurde sie verurteilt, als die Religion in einen politischen Kampf unter dem aufstrebenden Haus Österreich – und in Spanien – und in Frankreich verkehrt wurde. Es erforderte eine lange Zeit, bevor ihr Wesen verstanden wurde – und man ist bis auf diesen Augenblick weit davon entfernt, dass es den Tolerierenden und den Tolerierten klar wäre.29
Den ersten Ansatz für eine unparteiische Auseinandersetzung mit dem Problem der religiösen Toleranz erblickt Disraeli in Pierre Bayles Diskussion von Jesu Gleichnis
28 Ebd.: „Toleration has been suspected of indifference to religion itself; but with sound minds, it is only an indifference to the logomachies of theology—things ‘not of God, but of man,’ that have perished, and that are perishing around us!“ 29 Ebd., 245: 5: „An enlightened toleration is a blessing of the last age—it would seem to have been practiced by the Romans, when they did not mistake the primitive Christians for seditious members of society; and was inculcated even by Mohamet, in a passage in the Koran, but scarcely practiced by his followers. In modern history it was condemned when religion was turned into a political contest under the aspiring house of Austria—and in Spain—and in France. It required a long time before its nature was comprehended—and to this moment it is far from being clear, either to the tolerators or the tolerated.“
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Toleranz und ihre Geschichte: Isaac Disraeli im Blick auf Pierre Bayle
vom Festmahl (Lukas 14,23). Bayle hatte 1686 anonym und unter der Fiktion einer Übersetzung aus dem Englischen einen umfangreichen „Commentaire philosophique sur ces paroles de Jesus-Christ – Contrain-les d’entrer“, veröffentlicht.30 Im Untertitel nahm er die Zielsetzung der Untersuchung vorweg: „worin man auf der Grundlage vieler demonstrativer Beweisgründe beweist, dass es nichts Abscheulicheres gibt als Konversionen durch Zwang herbeizuführen, und man widerlegt alle Sophismen der Zwangskonvertierer und Augustins Rechtfertigung der Verfolgungen“.31 John Locke, so Disraeli, habe sich von Bayles Schrift inspirieren lassen, als er – ebenfalls anonym – die Epistola de tolerantia (Gouda 1689) veröffentlichte, die ihrerseits, im Artikel „Sancterius“ des Dictionnaire historique et critique, auf Bayles lebhafte Zustimmung gestoßen sei.32 Der philosophischen Bestimmung von Toleranz sei indes eine Diskussion unter den Kontroverstheologen vorausgegangen. Die „ersten Anwälte der Toleranz“ seien unter Religionsflüchtlingen aufgetreten, die in Holland ein Asyl gefunden hätten. Die „Revolution unter Karl I.“ habe mit den „Independents“ (also Oliver Cromwell an deren Spitze) tatkräftige Befürworter der „Lehre religiöser Freiheit“ gefunden.33 Damals seien Jeremy Taylor (1613–1667) mit dem Discourse on the Liberty of Prophesying (1647) und Bischof Joseph Hall (1574–1656), der für „Mäßigung“ (moderation) in religiösen Angelegenheiten plädiert habe, hervorgetreten. Wenn Pierre Bayle seine Auslegung von Lukas 14,23 unter der Fiktion eines englischen Autors publiziert habe, so sei es wahrscheinlich, dass ihm die „Merkwürdigkeiten der Theologie“ (curiosities of theology) der englischen Kontroverstheologen, die durch die Publikation ihrer umstrittenen Schriften „ihr Glück und ihr Gut“ aufs Spiel setzten, bestens vertraut waren.34 Innerhalb einer derart akzentuierten Rekonstruktion erscheint Toleranz niemals als absoluter Wert; ihr Umfang und ihre Funktion ermisst sich nach Disraeli vielmehr im Wechselspiel mit der politischen Praxis. Holland wurde deshalb zum „Asyl für Leute mit beunruhigtem Gewissen“ („asylum for disturbed consciences“),
30 Das 1686 bis 1888 erschienene Werk umfasst drei Bände und einen Supplement-Band mit fingiertem Druckort „Canterbury“ und „Hamburg“ (Supplement-Band), in Wirklichkeit Amsterdam). – Vgl. Labrousse, „Pierre Bayle“, 1026, Nr. 88. 31 In mehreren Briefen nach 411 rechtfertigte Augustinus gegenüber Donatisten Zwangsmaßnahmen, zu denen die kaiserlichen Gesetze ermächtigten, mit seiner Interpretation von „compelle intrare“ (Lk 14,23) (v. a. Aug. Ep. 73 an Bischof Vincentius und Ep. 185 an den Comes Africae Bonifatius). Eno, Art. „Epistulae [St. Augustine]“, 309. 32 Aus der Fülle der Literatur zum Problem der Toleranz bei Locke und Bayle (die hier nicht zu diskutieren ist) verweise ich auf den guten Überblick von Zagorin, How the Idea of Religious Toleration Came to the West, bes. Kapitel 7. 33 Vgl. Isaac Disraeli, „Toleration“, 246. 34 Ist das evtl. eine Anspielung auf den Thronwechsel nach dem Tod Edwards VI. und dem Regierungsantritt von Mary Tudor?
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weil die Politiker Toleranz als „gewaltigen Motor“ der Gesellschaft entdeckt hatten. In Amsterdam existierten die Vertreter aller Bekenntnisse „ohne gegenseitige Verfolgung und zusammengemischt als gute Niederländer“.35 Disraeli ist indessen weit entfernt, in der religiösen und konfessionellen Pluralität ein Gut per se zu sehen. Die beobachtete Spannung zwischen Politik und Religion steht nämlich ihrerseits in einem komplexen Verhältnis zum aufgeklärten Bewusstsein, an dem Denker wie Locke, Clarke, Newton und Leibniz, teilnahmen, nicht aber diejenigen, die von ihren – exklusiven und exkludierenden – Glaubensüberzeugungen durchdrungen waren. Zu Ehren von Hugo Grotius, dem „ersten philosophischen Reformer“ und Autor der Abhandlung De imperio summarum potestatum circa sacra (1647, entst. 1614–1617), sei zu erinnern, dass er im konfessionellen Dissens der Zeit beiden Parteien missfallen habe.36 „Der exkommunizierte Teil Europas schien damals der aufgeklärteste.“37 Disraeli schloss: Es ist gleichwohl nicht sicher, dass, wenn eine einzelne Sekte in Amsterdam die Vorherrschaft errungen hätte (was manchmal versucht wurde), diese den anderen die Toleranz zugestanden hätte, an der sie gemeinsam teilhatten. Die Anfangsphase einer Partei wird von politischer Schwäche begleitet, welche sie daran hindert, andere zu schwächen.38
Abermals also ein intrinsischer Zusammenhang zwischen Politik und Toleranz. Die Katholiken in England forderten Toleranz, die sie in katholischen Ländern anderen zuzugestehen sich weigerten. „Der Presbyterianer, der über Verfolgung klagte, bekämpfte die Unabhängigkeit anderer, sobald er die politische Macht errungen hatte.“39 Die Hinrichtung Michel Servets habe gezeigt, dass Bezas Rechtfertigung der Verfolgung Andersgläubiger sehr rasch auf die Reformierten selbst zurückschlagen konnte. „Wo immer die Protestanten die erlittene Verfolgung beklagten, verwiesen die Katholiken zur Rechtfertigung auf das Buch ihres eigenen Beza.“40 Umgekehrt belegte Disraeli anhand einer langen Reihe von Anekdoten, dass das Zugeständnis religiöser Gewissensfreiheit niemals in der Idee der Toleranz, sondern stets durch politische – näherhin machiavellistische – Erwägungen motiviert gewesen sei. Jacob II. habe trotz der – von William Penn 1687/1688 verfassten –
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Ebd., 246 f. Ebd., 246, Anmerkung. Ebd., 247. Ebd.: „It is not, however, clear that had any one of these sects at Amsterdam obtained predominance, which was sometimes attempted, they would have granted to others the toleration they participated in common. The infancy of a party is accompanied by a political weakness which disables it from weakening others.“ 39 Ebd. 40 Ebd.
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Toleranz und ihre Geschichte: Isaac Disraeli im Blick auf Pierre Bayle
„Deklaration der Gewissensfreiheit“ und der geradezu „rationalen Sprache“ seiner Denkwürdigkeiten (Memoirs) nie von den „wildesten Projekten“ einer Rekatholisierung Englands abgelassen, wie seine privaten Papiere belegten.41 Er sei für Toleranz eingetreten, um sich einen Weg zu intolerantem Handeln zu bahnen. Sobald der Puritaner William Prynne (1600–1669) politische Macht errungen hatte, habe er dieselben Doktrinen durchgesetzt, unter denen er einst selbst so schwer leiden musste.42 Disraeli resümiert: „Im Kampf um die Vorherrschaft konnte vermutlich keine Partei die Idee der Toleranz begreifen.“43 Es entspricht dem Kompositionsprinzip der Curiosities of Literature, wenn Disraeli die Exempla seiner anekdotischen Geschichte der Toleranz zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Lebenserinnerungen oder Denkwürdigkeiten berühmter Persönlichkeiten schöpft: Geht es ihm doch weniger um eine Objektivierung und abschließende Bewertung der überlieferten Zeugnisse, als vielmehr um die Zusammenschau einer Vielzahl perspektivisch immer schon zugerichteter ‚Fakten‘. Michel de Castelnau (1517–1592) war während den Jahrzehnten der französischen Religionskriege als Staatsmann, Offizier und Botschafter eine zentrale und in vielfacher Weise vermittelnde Gestalt auf der politischen Bühne. Als Botschafter in England verfasste er seine erstmals 1621 postum erschienenen Mémoires, die als eine der Hauptquellen der Ereignisgeschichte zwischen 1559 und 1570 gelten. Castelnau, den Disraeli als einen „Staatsmann mit menschenfreundlichen Gesinnungen“ („a statesman and a humane man“) charakterisiert, dient ihm als Beispiel, dass moderatem politischen Handeln keineswegs die Idee der Toleranz zugrunde liegen müsse. Castelnau hatte vielmehr beobachtet, dass „Märtyrer Proselyten hervorbringen“. „Als ein Staatsmann überblickte er das weite Feld menschlicher Handlungen in der Geschichte der Vergangenheit; dort entdeckte er, dass die Römer aufgeklärter in ihren Handlungen waren als wir selbst.“44 Trajan habe angeordnet, die Christen nicht wegen ihrer Religion zu verfolgen, sondern ihre Versammlungen als illegal aufzuheben, sofern sie den Staat gefährdeten. Julian habe die Hinrichtung der Christen verboten, weil sie glaubten, dass sie als Märtyrer selig werden würden; aber er ordnete an, ihre Güter zu konfiszieren, „womit Julian“, so paraphrasierte Disraeli, „mehr verhinderte als er durch Verfolgung erreicht hätte.“ In diesem Sinne aufgeklärtes politisches Handeln sei weit entfernt von der Idee der Toleranz: „So dachte Castelnau im Jahr 1560. Inmitten der Verworrenheit staatlicher Notwendigkeit und unserer gemeinsamen Mitmenschlichkeit kam der Begriff der Toleranz nicht in den Blick des Staatsmanns.“45 Ein halbes Jahrhundert später, 1606, finde 41 42 43 44 45
Ebd., 248. Ebd., 249. Ebd. Ebd., 250. Ebd.
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sich bei Auguste de Thou (1553–1617), dem Autor der Historia sui temporis (1604), ein „annäherndes Verständnis von Toleranz“ (approximation to toleration), aber die Synode von Dordrecht habe das reformierte Lager sehr bald selbst gespalten.46 Disraelis Geschichte der Toleranz ist eine von Sarkasmus, Spott und Ironie geprägte Anekdotensammlung. Verfolge man die „geheime Geschichte der Toleranz“, so werde man, wie im Falle von John Knox (ca. 1514–1572), jenem „religiösen Machiavellisten“ und „calvinistischen Papst“, den Anschein von Toleranz nur im Zustand politischer Schwäche antreffen. Die wahren Motive scheinbar toleranten Verhaltens seien der Zuwachs und der Erhalt politischer Macht. Justus Lipsius belege, wie schwierig es sei, einen klaren Begriff von Toleranz zu bilden. Lipsius habe ohne Schwierigkeit dem Katholizismus abschwören können, als er nach Leiden berufen wurde, aber er sei dennoch davon überzeugt geblieben, dass jedem Volk nur eine einzige Religion zugestanden werde dürfe. Bayle habe daraus den Schluss gezogen, dass Lipsius davon überzeugt war, dass in den Niederlanden nur der Katholizismus zugelassen werden sollte und dass diejenigen Heiden, die die evangelischen Missionare henkten, taten, was sie tun sollten. Als Priscillian und seine Anhänger wegen ihrer häretischen Auffassung der Trinität zu Folter und Hinrichtung verurteilt wurden, verteidigten die Heiligen Ambrosius und Martin die Sache der beleidigten Mitmenschlichkeit. Der Kardinal Cesare Baronio (1538–1607), so Disraeli mit genüsslichem Sarkasmus, zog es daher vor, in seinen Annales Ecclesiastici „lieber auf die Heiligen zu verzichten, als Toleranz zuzugestehen.“47 Disraelis Geschichte der Toleranz ist ernüchternd. Vergleichbar mit Pierre Bayles Verfahren im Dictionnaire historique et critique konstruiert er mit seiner provokativen Exempelsammlung eine Gegengeschichte, die zeigen soll, dass die Aufklärung des menschlichen Verstandes im Sinne von Hugo Grotius, Bayle oder Locke innerhalb verschiedenster politischer Machtgefüge kaum je einen Entfaltungsspielraum hatte. Der auf den Artikel Toleration folgende Essay Apology of the Parisian Massacre48 hat das Blutbad der Bartholomäusnacht zum Inhalt; mit ihm setzte Disraeli das seine Überlegungen leitende Thema einer Interaktion von Politik und Religion mit aller kritischen Schärfe fort: „Ein vor mir liegendes Originaldokument, ein eigenhändiger Brief von Karl IX., wird beweisen, dass man das beispiellose Massaker, das üblicherweise religiös genannt wird, im französischen Kabinett nur als politisch betrachtete.“49 Wie im Artikel Toleration zu sehen war, dient die Multiplikation der Perspektivierungen auf scheinbar denselben Problemzusammenhang im Sinne der „cross46 47 48 49
Ebd., 251. Ebd., 255. Isaac Disraeli, „Apology for the Parisian Massacre“, in: ders., The Works, Bd. III, 255–260. Ebd., 255.
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Toleranz und ihre Geschichte: Isaac Disraeli im Blick auf Pierre Bayle
examination“ dazu, die ‚Tatsache‘ aus ihren unterschiedlichen ‚geheimen‘ Motivationslagen heraus zu verstehen. Disraeli ist selbst der „gelehrte Philosoph“, der sich in Bayles Œuvre spiegelt, weil er die verborgenen Gründe menschlichen Handelns aus einer Collage ‚merkwürdiger‘ Dokumente sichtbar macht. Subversiv ist dieses Verfahren insofern, als es herkömmliche Denkgewohnheiten aufbricht und zum Selbstdenken anregt. Wohl nicht zufällig setzen die Curiosities of Literature mit dem Artikel Libraries ein. Disraelis Artikel über Pierre Des Maizeaux (1666–1745) und Anthony Collins (1676–1729) stellt diesen Zusammenhang zwischen Buchgelehrsamkeit und Lebensglück ins Licht. Der Biograph Bayles, Des Maizeaux, war durch „politischen Irrsinn“ (political madness) in Frankreich und die „Verzweiflung an der Intoleranz“ (despair of intolerance) in seinem Vaterland nach England vertrieben worden, wo er rasch mit dem freidenkerischen Zirkel um Anthony Collins in Kontakt kam. Was ihm indes fehlte, war, nach dem von Disraeli zitierten Urteil Warburtons über Des Maizeaux’ Boileau-Biographie, der geistreiche Witz, den er seinen kompendiösen Büchern nicht einzuhauchen vermochte: „Der wortreiche, geschmacklose Franzose scheint es als einen Grundsatz festzusetzen, dass jeder Lebenslauf ein Buch sein müsse, – und, was noch schlimmer ist, es hat den Anschein eines Buchs ohne Leben.“50 Warburton und mit ihm Disraeli spielen offenbar auf die von Cicero geprägte Lebensmaxime, „vivas in litteris“, an.51 Der wahrhaft unabhängige Mensch ist derjenige, der das buchgelehrte Wissen der Bibliothek sich in Aphorismen und Anekdoten eines lebendigen Denkens jenseits der Extreme von apodiktischer Dogmatik, machiavellistischer Politik und bloßem Antiquarianismus zu übersetzen vermag.
Literatur Quellen Bayle, Pierre, Dictionnaire historique et critique, 4 Bände, erstmals 1694–1697, benutzte Ausgabe: Amsterdam/Leiden/Den Haag/ Utrecht 1740. Des Maizeaux, Pierre, „La vie de Monsieur Bayle, revue, corrigée, & considérablement augmentée dans cette cinquième édition“, in: Pierre Bayle, Dictionnaire historique et
50 William Warburtons (1698–1779) Urteil über Des Maizeaux’ Biographie Boileaus, zitiert bei Isaac Disraeli, “Of Des Maizeaux, and the secret history of Anthony Collins’s manuscripts”, 15: “[…] But the verbose, tasteless Frenchman seems to lay it down as a principle, that every life must be a book, – and, what is worse, it seems a book without a life”. 51 Cicero, Ep. ad fam. IX,22 (26).
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critique, cinquième edition, Tome premier, Amsterdam, Leiden, Den Haag/ Utrecht, 1740. Disraeli, Isaac, The Works, hg. v. Benjamin Disraeli, 6 Bde., London 1881, Neudruck: Hildesheim/New York 1969.
Forschung Eno, Robert B., Art. “Epistulae”, in. O.S.A. Fitzgerald/D. Allan (Hg.), Saint Augustine through the Ages, 298–310, hier 309. Kors, Alan Charles, Atheism in France, 1650–1729, Bd. 1: The orthodox sources of disbelief, Princeton 1990. Labrousse, Elisabeth, Pierre Bayle, 2 Bde., Den Haag 1963/64 (Archibes internationales d’histoire des idées I,6). Labrousse, Elisabeth, „Pierre Bayle“, in: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 2: Frankreich und Niederlande (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg, Bd. 2/2), hg. v. Jean-Pierre Schobinger, Basel 1993. Levine, Alan (Hg.), Early Modern Skepticism and the Origins of Toleration, Lanham, Boulder, New York, Oxford 1999. Schmitt, Charles B., Cicero scepticus. A Study of the Influence of the Academica in the Renaissance (Archives internationals d’histoire des idées. 52), Den Haag 1972. Shane, A.L., Isaac D’Israeli and his quarrel with the Synagogue—a reassessment (Jewish Historical Studies 29 [1982–1986]), 165–175. Spevack, Marvin, Curiosities revisited. The works of Isaac D’Israeli, Hildesheim/ New York 2007. Zachs, William, The First John Murray and the Late Eighteenth-Century Book Trade. With a Checklist of his Publications, Oxford 1998. Zagorin, Perez, How the Idea of Religious Toleration Came to the West, Princeton, Oxford 2003.
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III. Toleranz und Monarchie – Diskurse in den Reichsterritorien
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„allein, ohne allen Ernst“1 Islamkritik und Utopie in Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg
1.
Einleitung: Fortsetzung und Kontinuität
Der dritte Teil von Johann Gottfried Schnabels Wunderlichen Fata einiger See-Fahrer von 1736 ist ebenso wie der zweite und vierte Teil ein Stiefkind der Germanistik. Obgleich seit 1997 eine kommentierte Gesamtausgabe von Günter Dammann vorliegt,2 hält sich die Germanistik vor allem an den im Reclam Verlag erschienen ersten Teil,3 der durchaus vielgelesen und vielinterpretiert ist. Die Vernachlässigung der drei Fortsetzungen des Bestsellers wird dabei häufig mit dem Argument ihrer abnehmenden Qualität4 oder damit zu begründen versucht, den ersten Teil als integralen, d. h. in sich geschlossenen, Text zu bestimmen, den man unabhängig von den Teilen 2 bis 4 interpretieren kann, weil letztere erst im Nachhinein konzipiert wurden.5 Das erste, literaturkritische Argument als Ausschlusskriterium literaturwissenschaftlicher Beschäftigung kann ohnehin nicht verfangen.6 Das zweite Argument erforderte eine Auseinandersetzung mit dem Werkbegriff, die hier zu führen nicht der Platz ist: Sie müsste eine Diskussion darüber beinhalten, ob
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Schnabel, Insel Felsenburg, Buch III, 99, in der Ausgabe von Dammann Bd. 2, S. 113. Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann. Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Meid, Springer-Strand. Siehe die Forschungsdiskussion bei Nenoff, Religions- und Naturrechtsdiskurs, S. 23 f. Selbst Ludwig Stockinger, der eine der kenntnisreichsten Kontextanalysen der Insel Felsenburg durchführte, beschränkt sich „auf die exemplarische Analyse des 1. Bandes, weil dies genügt, um das System des ganzen Textes zu erfassen“: Stockinger, Ficta respublica, S. 404, Anm. 17. Vgl. demgegenüber den Herausgeber der Gesamtausgabe Günter Dammann, der von einer „Tetralogie“ spricht: Dammann, Über J. G. Schnabel, S. 226. 6 Vgl. die historischen Einwände, die im Wesentlichen auf die funktionale Ausdifferenzierung der normativen Literaturkritik und non-normativen Literaturwissenschaft hinweisen: Müller-Seidel, Wertung und Wissenschaft; Klein, Literaturkritik und Literaturwissenschaft; Anz, Literaturwissenschaft und Literaturkritik; Ross. Über die fiktive Grenzlinie. Der kulturpolitisch berechtigten Forderung Michael Kleins nach mehr Zusammenarbeit von Literaturkritik und Literaturwissenschaft ist ebenso wenig zu widersprechen wie den ebenso berechtigten Hinweisen von Anz und Ross auf die gemeinsamen Kompetenzen der beiden Disziplinen, um dennoch nicht von einer bloß „fiktiven Grenzlinie zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik“ (Ross) sprechen zu können und zu müssen. Siehe dazu Seibt, Literaturkritik.
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Fortsetzungen, zumal wenn sie nicht von vornherein beabsichtigt waren, dadurch schon auf gleichsam epitextuellen Rang herabsinken.7 Sowohl für den Fall, dass die Bücher 2 – 4 als „Fortsetzung einer unvollendet gebliebenen oder nur unvollständig überlieferten Geschichte“ zu gelten haben, als auch für den Fall, dass sie für „Anknüpfung einer Geschichte an ein bekanntes und beliebtes Figurenrepertoire“ angesehen werden,8 steht mit Blick auf die von Schnabel im Medium der literarischen Fiktion verhandelten Gegenstände m. E. fest, dass Schnabel Fragestellungen weiterverfolgt, Probleme vertieft und Konzepte schärft: Diese Operationen des Autors sind unabhängig davon möglich, ob er den ersten Teil ursprünglich als abgeschlossenes oder offenes Werk konzipiert hatte. Aus diesem Grund möchte ich im Folgenden Passagen des dritten Teils herausgreifen, die das utopische Profil von Insel Felsenburg weiter schärfen – schärfer, als das im ersten und zweiten Teil schon erfolgt war, und schärfer eben auch mit Blick auf das gemeinsame Thema des vorliegenden Bandes: das Thema der religiösen Toleranz im Allgemeinen und der religiösen Toleranz des Islam im Besonderen. Die erste zu betrachtende Passage entstammt der Binnenerzählung eines Herrn van Blac: Der Antwerpener Sprachgelehrte berichtet seine bisherige Lebensgeschichte nach Abschluss der Reformationsfeierlichkeiten auf Insel Felsenburg im Jahre 1730. Diese Binnenerzählung gleicht in zahlreichen Punkten den anderen Binnenerzählungen der Fata: Das schicksalhafte Auf und Ab des Lebens wird einmal mehr durch Schiffbruch und allerlei damit verbundene Anfechtungen der Tugend veranschaulicht.9 Dem literarischen Vorbild Schnabels, Daniel Defoes The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York von 1719, ist die van Blac-Episode aber besonders dadurch ähnlich, dass Herr van Blac ebenso wie Robinson in muslimische Gefangenschaft gerät.10 In dieser Gefangenschaft beim marokkanischen Sultan Mulay Ismael wird van Blac wegen seiner Gelehrsamkeit zwar privilegiert behandelt, wird aber dennoch gedrängt, den muslimischen Glauben anzunehmen: [U]m die Zeit der Sonnen Aufgang, fing unser Hofmeister in unserer Gegenwart an, das Morgen-Gebeth nach Art der Mahometaner zu thun, verlaß hierauf ein Stück aus dem
7 Siehe die Problemerläuterung von Kaminski/ Ramtke/ Zelle, Zeitschriftenliteratur – Fortsetzungsliteratur. 8 Siehe diese Differenzierung bei Schaffert, Der Amadisroman, S. 23. 9 Nenoff, Religions- und Naturrechtsdiskurs, 15 f. 10 Grohnert, Schnabels ‚Insel Felsenburg‘, S. 609 f. Daniel Defoes Robinson Crusoe gerät als Matrose eines Sklavenhändlerschiffes in Gefangenschaft von Piraten aus Salé: Defoe, Robinson Crusoe, S. 19–26. Salé galt seit 1619 als Zentrum einer gefürchteten nordafrikanischen Piraterie, die Muḥammad al-‘Ayyāši (1573–1641) als Akt des Dschihad, viele seiner Matrosen als Rache für die Reconquista ansahen.
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„allein, ohne allen Ernst“
Alcoran, erklärete die schweresten Punkte desselben, und gab sich viel Mühe, uns allen vieren die Haupt-Stücke der Mahometanischen Religion beyzubringen, allein, wie ich bald merckte, war keiner unter uns, der zu diesem Glauben inclinirte, wir höreten zwar alles mit an, fasseten seine Lehre, gaben auf seine Fragen richtige Antwort, allein, ohne allen Ernst […].11
Diese stillschweigende Ablehnung des Islam wandelt sich zu offener Ablehnung, als van Blac ein hohes Amt angeboten wird unter der Bedingung der Konversion, und mehr noch freilich, als er zwangsbeschnitten werden soll. Diese offene Ablehnung dient dabei ohne Zweifel der Eröffnung einer abenteuerlichen Handlung, folgt mithin auch einem erzählerischen Interesse. Ich möchte im Folgenden gleichwohl van Blacs religiöse Beständigkeit vor dem Konzept der politischen Utopie erläutern, welche die Insel Felsenburg repräsentiert und deren Bürger van Blac schließlich wird (der erste Teil der Wunderlichen Fata wird in diesem Beitrag mithin nicht als in sich geschlossenes Werk angesehen). Deshalb wird im z we ite n Punkt Schnabels traditionsgeschichtliche Selbstpositionierung umrissen. Hieraus resultieren wichtige Folgen für das Verhältnis geistlichen und weltlichen Regiments auf Insel Felsenburg, die es im d r itte n Punkt zu erläutern gilt. Dies macht in einem v i e r te n Punkt Analysen zum Verhältnis der Felsenburgutopie zur Reformation notwendig, das im dritten Band durch das Begehen des 200. Reformationsjubiläums kenntlich wird. Im abschließenden f ü n f te n Punkt werden Folgerungen für die Möglichkeit religiöser Toleranz in der Felsenburg-Utopie gezogen.
2.
Zwischen Genesis, Vergil und Defoe: Politische Theologie und Tradition
Eberhard Julius, der homodiegetische Rahmenerzähler, ist von einer Reise nach Europa zurück auf die Insel Felsenburg gekommen, deren Zweck es war, Fachleute unterschiedlichster Branchen zu gewinnen, um den Aufbau des Tugendstaates gezielt voranzutreiben.12 Darunter finden sich auch Musiker; einer von ihnen ist ein Monsieur Litzberg, der aus Anlass des Wiedersehens mit Albert Julius, dem Urururgroßonkel Eberhards und dem väterlichen Herrscher der Insel, eine Cantate singt, die mit den Versen beginnt: „WIllkommen, Hertz-geliebte Freunde! / Willkommen hier in Canaan!“,13 und die mit den folgenden Versen endet: „Es müsse das Glück nebst lauter Gedeyhen, / Uns, die wir in Felsenburg wohnen, erfreuen,
11 Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, 112 f. (III, 99). 12 Siehe van Laak, Cuius religio, eius regio, 46; Nenoff, Religions- und Naturrechtsdiskurs, 105. 13 Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, 65 (III, 51).
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/ Es lebe Albertus noch lange vergnügt.“14 Hier führt Schnabel endgültig die antikheidnischen Traditionen mit den biblischen Traditionen zusammen: Nachdem durch den Familiennamen ‚Julius‘ schon im ersten Teil die Anspielung auf die gens Iulia und deren Status als Stammväter Roms bei Vergil und Sueton deutlich war,15 wird die Insel Felsenburg nun auch mit Kanaan identifiziert, mithin als ‚gelobtes Land‘ ausgewiesen,16 in dem die Beziehung zwischen Gott und ausgewähltem Volk allererst angemessen verwirklicht würde17 und das darüber hinaus bereits paradiesische Züge aufweist.18 Dadurch wird nicht nur das politisch-theologische Profil von Schnabels Utopie deutlich, sondern darüber hinaus liefern seine Wunderliche Fata durch die entschieden lutheranische Ausrichtung der Felsenburgianer eine ganz eigene Interpretation der ‚Translatio Imperii‘. Dass auch Lutheraner – bei allen schon von Philipp Melanchthon im Chronicon Carionis 1558 vorgebrachten Bedenken19 – den Gedanken des Überganges des römischen Kaisertums auf die christlichen Kaiser des Heiligen römischen Reichs und damit deren doppelte Legitimation durch die gens Julia und die christliche Lehre vertraten und verteidigten, ist nicht neu und nicht überraschend: Daniel Casper von Lohenstein würdigt 1680 in seinem Trauerspiel Cleopatra den Habsburger Kaiser als rechtmäßigen Nachkommen des entschlossenen und legitimen Herrschers Augustus Octavian.20 Gleichwohl bleibt Lohenstein (auch aus politischen Klugheitsgründen, die ihm sein politisches Amt als Breslauer Syndikus diktierte) dem
14 Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, 66 (III, 53). 15 Zur ebenso genealogischen wie chiliastischen Anverwandlung des römischen Gründungsmythos in der Literaturgeschichte im Allgemeinen siehe Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters, 50–52 und 88–90. 16 Gen 12,5–7: „Also nam Abram sein weib Sarai / vnd Lot seines Bruders son / mit aller jrer Habe / die sie gewonnen hatten / vnd Seelen die sie gezeuget hatten in Haran / vnd zogen aus zu reisen in das land Canaan. Vnd als sie komen waren in dasselbige Land / zog Abram durch / bis an die stet Sichem / vnd an den hayn More / Denn es woneten zu der zeit die Cananiter im Lande. DA erschein der HERR Abram / vnd sprach / Deinem Samen wil ich dis Land geben.“ (Bibelzitate hier immer nach Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch) 17 Lev 25,38: „Denn ich bin der HERR ewr Gott / der euch aus Egyptenland gefüret hat / das ich euch das land Canaan gebe vnd ewr Gott were.“ Siehe Stolz: Art. „Kanaan“, in TRE Bd. 17, 554. 18 Num 13,27: „Wir sind ins Land komen / da hin jr vns sandtet / da milch vnd honig innen fleusst / vnd dis ist jre Frucht.“ Siehe den Überblick bei Duesberg, Idylle und Freiheit, 116–120. 19 Goez, Translatio Imperii, 274 f. 20 Lohenstein, Cleopatra – Zweitfassung (1680), Teilbd. 1, 391–841, V, v. 835–841: „[Die Donau und der Rhein] Wir sehen schon die Sonnen unsrer Flutt / Den Helden-Stamm in Oester-Reich entspringen / Dem nicht nur Rom und Tiber Opffer bringen / Den Leopold der dem August es gleiche thut. / Die itz’ge Welt ist ihm zu klein / Es wird noch eine Welt entstehen / Ihm wird die Sonn nicht untergehen.“ Zur Pflege des ‚Translatio‘-Narrativs seitens der durchaus absolutismuskritischen Jesuiten siehe Mahlmann-Bauer, Gryphius und die Jesuiten.
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Narrativ verpflichtet, dass die ‚Translatio Imperii‘ eben die katholischen Habsburger in ihr Recht setze.21 Schnabels geschichtstheologisches Angebot im Jahr 1736 ist folglich deshalb eigentümlich, weil es im Medium literarischer Fiktion die Geschichte einer zugleich genealogischen und theologischen Legitimation einer Staatsgründung und -lenkung neu erzählt – eine Neuerzählung, die nicht zuletzt deshalb pikant erscheint, weil vier Jahre später mit dem Tod Karls VI. der Österreichische Erbfolgekrieg ausbrechen, das Haus Habsburg die Kaiserkrone zeitweise an den Wittelsbacher Karl VII. (1742–1745) verlieren und das Narrativ der ‚Translatio Imperii‘ brüchig werden sollte.22 Diese Erzählung aber entwirft er bekanntlich, indem er darüber hinaus einen dritten Anschluss vornimmt, nämlich an die von Daniel Defoe begründete Tradition der Robinsonaden, in denen die genuinen Herausforderungen der Vergemeinschaftung im Naturzustand erprobt werden. Die Insel Felsenburg als Robinsonade zu bestimmen, ist gleichwohl in der Forschung umstritten, so selbstverständlich dies mit Blick auf die Einordnung von Schnabels Werk als Robinsonade durch die Zeitgenossen auch erscheinen mag. Heidi Nenoff gab zu Recht zu bedenken, dass dieses rezeptionsgeschichtliche Moment wohl ein Indiz, aber keineswegs schon ein hinreichendes Argument dafür darstellt, dass Schnabels Wunderliche Fata auch werkästhetisch als Robinsonade gelten dürfen.23 Dieser Problematik wurde unterschiedlich begegnet: Ludwig Stockinger arbeitete die besonderen Parallelen zwischen Defoes und Schnabels Werk heraus,24 während Jürgen Fohrmann einen allgemeinen Kriterienkatalog bzw. „ein thematisches Netz“ für das Genre Robinsonade festlegte,25 der kurz zusammengefasst in den folgenden Themen besteht: Subjektzentriertheit, Autobiographie dieses Subjekts, Exempelcharakter des Inhalts, Schicksalhaftigkeit bzw. Vorhersehung, Moralität, vernünftige Vergemeinschaftungsstrategien.26 Während das Kriterium der Exemplarität ohnehin den Dichtungsbegriff der Frühen Neuzeit im Allgemeinen auszeichnet und damit als differenzbildende Eigenschaft eines oder einer Gruppe von literarischen Genres wenig tauglich erscheint,27 liegen mit der Subjektzentriertheit und dem fiktiv-autobiographischen Charakter zwei starke, weil ebenso notwendige wie spezifische Eigenschaften des Genres Robinsonade vor, wohingegen Schicksalshaftigkeit bzw. Providenz sowie Existenz moralischer Binnenräume und Vergemeinschaf-
21 Vosskamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung, 17 und 161 ff.; Borgstedt, Scharfsinnige Figuration, 212–214. 22 Greipl, Karl Albrecht,. 255–258. 23 Nenoff, Religions- und Naturrechtsdiskurs, 32 f. 24 Stockinger, Ficta respublica, 409–416 und 445–447. 25 Fohrmann, Abenteuer und Bürgertum, 59 (Zitat), sodann bis S. 140 (Kriterienkatalog). 26 Siehe diese Zusammenfassung bei Nenoff, Religions- und Naturrechtsdiskurs, 33, Anm. 137. 27 Wels, Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit, 9–175.
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tungsstrategien a ls fe ste E i ge ns chaf te n nur mögliche, aber nicht notwendige Elemente von Robinsonaden zu sein scheinen – man denke beispielsweise nur an Johann Karl Wezels Bearbeitung des Stoffes Robinson Krusoe (1779/80), der vor dem Hintergrund einer materialistischen Anthropologie nurmehr psychomechanische Verhaltensmuster und Habitualisierungen für möglich erachtet und damit Entscheidungsfreiheit als notwendige Voraussetzung von Moralität beseitigt;28 dadurch sind auch Erfolg und Misserfolg von Vergemeinschaftung bei Wezel von äußeren wie inneren Bedingungsfaktoren abhängig, die der Mensch nicht vernünftig zu generieren, kalkulieren und dirigieren imstande ist.29 Gleichwohl machen diese Einwände den Fohrmannschen Kritierienkatalog keineswegs hinfällig: Denn mag es sich bei letztgenannten Elementen auch nicht um fe ste E ige ns chaf te n jedweder Robinsonade handeln, so befinden auch sie sich im Blickfeld einer solchen Robinsonade wie derjenigen Wezels, insofern er Moralität, Vorsehung und Vergemeinschaftung allemal problematisiert. Die von Fohrmann aufgeführten Momente des robinsonadischen Genres mögen mithin zwar weniger als gattungsgeschichtliche Eigenschaften, sehr wohl aber als problemgeschichtliche Perspektiven überzeugen: Zu ihnen müssen sich Inselerzählungen verhalten, um als Robinsonaden gelten zu können, sei es mit positivem, sei es mit negativem Ergebnis. Für das Vergemeinschaftungsproblem gilt dabei, dass die Robinsonade sich desselben eben durch ein von Wilhelm Voßkamp sogenanntes „genetisches Prinzip“ annimmt: „Ordnung wird nicht mehr – wie in den klassischen Raumutopien der Renaissance – vorausgesetzt, sie muß sich vielmehr erst in der ‚Selbstorganisation des menschlichen Lebens in einer im Grunde als beliebig gedachten Welt‘ entwickeln.“30 Die Robinsonade nähert sich dem Problem von Vergemeinschaftung im Allgemeinen und vollkommener Gemeinschaft im Besonderen an, indem sie vom juridischen Naturzustand ihren Ausgang nimmt. Darin ähnelt sie methodisch den Naturrechtstheorien seit Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf, mit dem entscheidenden Unterschied, dass diese sich einen B e g r i f f des Naturzustands zu bilden versuchen, während die Robinsonade eine Vorstel lu ng desselben imaginiert.31 28 Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch, 251–280. 29 Bach, „Am drollichsten war seine Nachahmungssucht“. 30 Voßkamp, Die Macht der Tugend, 177. Das Zitat im Zitat stammt aus Voßkamp, ,Fortschreitende Vollkommenheit‘, 87. 31 Diese Differenzierung bedeutet indessen nicht, dass es den Autoren von Robinsonaden unmöglich wäre, ihre Figuren auf Diskursebene über Begriffe des Naturzustandes verhandeln zu lassen: Bernhard Fischer hat beispielsweise präzise herausgearbeitet, dass Schnabel seine Figur Lemelie auf Diskursebene einen hobbesschen Naturzustandsbegriff vertreten lässt, demgemäß jedwede Normbildung eine rein dezisionistische, positivistische Angelegenheit sei; Lemelies Scheitern auf Handlungsebene folgt indessen einer normativen Naturzustandsvorstellung, dergemäß ein ebenso hitziger wie verkommener Charakter wie Lemelie den moralisch Überlegenen letztlich auch faktisch
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Insofern unternimmt Schnabel das nicht unambitionierte Projekt, sich in die drei Großnarrative seiner Zeit einzuschreiben zwischen Kanaan, Rom und Naturzustand – zwischen Genesis, Vergil und Defoe eben.
3.
Mit Pauken und Trompeten: vanitas und Säkularisierung
Nachdem die Bedeutung der politischen Theologie für die Grundlegung des felsenburgischen Staates dergestalt gestärkt wurde, beeilt sich die Handlung, die theologischen Konturen auch der politischen Praxis zu veranschaulichen: Als nämlich Eberhard Julius dem Alt-Vater unter den aus Europa und Brasilien eingeführten Waren auch Musikinstrumente zeigt, darunter „ein paar Pauken, 6. Trompeten“, kann Albert Julius diese nur unter der Bedingung billigen, dass sie ausschließlich in der Kirche und zum Gotteslob eingesetzt werden. Darüber hinaus aber gilt für den Gründer und Kopf von Schnabels Utopie: „[D]iese Eitelkeiten hätten wir missen können.“32 Weltliche Musik ist in diesem Staate also verboten; vanitas erfährt in ihm nicht nur eine erstaunliche Renaissance, nachdem Andreas Gryphius diesen Topos schon hundert Jahre vor Schnabel literarisch erschöpft zu haben schien;33 nein, sondern ‚vanitas‘ wird selbst zur politischen Kategorie erhoben, was sie bei den Barockdichtern niemals war: Dort fungierte der Eitelkeitstopos als Mittel der Entlastung von jedweden irdischen, d. h. auch von politischen Rücksichtnahmen. Politik als Selbstzweck war irdisch und eitel, sie war eine Bürde, und eben deshalb zeigten sich Gryphius’ sterbende Souveräne im Angesicht ihres Todes auch erleichtert – erleichtert nämlich von dieser Bürde ihres hohen weltlichen Amtes.34 Die Aufgabe dieses Amtes war es nämlich gewesen, dem lutherischen Begriff von weltlicher Obrigkeit gemäß sich vom geistlichen Amte fernzuhalten: Beider Zusammenhang bestand lediglich darin, dass die weltliche Herrschaft die äußeren notwendigen Bedingungen friedlichen Gottesdienstes gewährleistete und schützte. Diese Bestimmungen der lutherischen Trennung von Staat und Kirche lagen auch noch dem Staatskirchenrecht Samuel Pufendorfs von 1687 und demjenigen unterliegen muss; vgl. Fischer, Der moralische Naturzustand, 75 f. Schnabels offensichtlich gute Kenntnis der (früh)aufklärerischen Naturzustandstheorien verhindert eben auch nicht, dass sein politischer Ordnungsentwurf eben alles andere als aufklärerisch gerät; vgl. Vanhelleputte, Engagement, Formgefühl, Humanität, 98. 32 Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, 74 (III, 60). 33 Meid, Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock, 297, 432. 34 Siehe z. B. Gryphius, Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus, Abh. IV, v. 215–220: „GOtt ist mein Fels und Schild! was geht uns weiter an/ Was ein verstockter Mensch auff mich beschlissen kan? / Du vorhin mein Palast! itzt deines Königs Kercker! / Mit Seufftzen itzt / vorhin mit Wonn’ erfüllter Aercker! / Ihr / die ihr vil zu klein zu Carols höchster Pracht / Weil uns der Himmel rufft. Ich scheide! gutte Nacht!“
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von Christian Thomasius 1705 zugrunde. Die einzige Einschränkung politischer Toleranz gestatteten und forderten Pufendorf und Thomasius im Falle solcher Religionen, denen die politische Insurrektion wesentlich zu eigen ist (in der Bewertung, welche Religion wesentlich unfähig sei, eine politische Obrigkeit anzuerkennen, unterscheiden Pufendorf und Thomasius sich).35 Religion ist privat und Kirchen haben deshalb privatrechtliche Einrichtungen zu sein und zu bleiben. Nicht so auf Insel Felsenburg: Denn diese vermeintlich erz-lutherische Trennung von Staat und Kirche muss ein politischer Theologe aufheben, wenn er wie der Lutheraner Albert Julius annimmt, dass weltliche Kunst dem Seelenheil nicht nur nicht förderlich, sondern hinderlich ist.36 Es ist diese Annahme, welche e rste ns die Gewährleistung äußerer notwendiger Bedingungen des Heils in die Besorgung innerer hinreichender Bedingungen umschlagen lässt, z we ite ns den Unterschied von Kirche und Staat nivelliert und d r itte ns die Utopie Felsenburg zu einem Gottesstaat werden lässt.37 Das Problem einer so konzipierten Trennung zwischen Kirche und Staat ist letztlich dasselbe wie beim Synkretismusstreit im frühen 17. Jahrhundert: Wenn dort die eine Konfession wohlmeinend konstatierte, dass sie sich mit dem konfessionellen Gegner doch in den Dogmen einig sei und sich nur in den unwesentlichen Lehrinhalten, den Adiaphora, unterscheide, dann konnte der Gegner einwenden, dass für ihn mancher dieser Lehrinhalte durchaus nicht unwesentlich sei, und damit die wohlmeinende Annäherung als Anmaßung zurückweisen.38 Strukturell findet sich dieses Problem bei der lutherisch-pufendorfischen Trennung von Kirche und Staat wieder: Wenn vermeintliche Säkularisten nämlich meinten, den Staat nur auf die Herstellung der notwendigen Bedingungen für die Staatsreligion verpflichten zu können, so verkannten sie, dass s i e gar nicht diejenigen waren, die den Unterschied notwendiger und hinreichender Bedingungen des Heils festzulegen berufen waren: Diese Unterscheidung ist an sich selbst eine theologische. Das geistliche Regiment hat mit Blick auf seine Grenze zum weltlichen Regiment ein Definitionsprivileg. Und wo eine Staatsreligion nicht nur überzeugt ist, dass geistliche Musik eine hinreichende Bedingung des Seelenheils ist, sondern wo sie auch überzeugt ist, dass das Verbot weltlicher Musik eine notwendige Bedingung des Seelenheils darstellt, d or t ist das weltliche Regiment zur Herstellung dieser notwendigen Bedingung
35 Schmidt-Biggemann, Staatskirchenrecht. 36 Vgl. Christian G. Schnabel, Die 200-Jahr-Feier, 80. 37 Dabei geht dieses Theologoumenon einem möglichen Charakter der Insel Felsenburg als Postfiguration des Paradieses oder als Präfiguration des himmlischen Jerusalem weder voraus noch folgt es aus demselben, sondern folgt aus einer heilsökonomischen Bedarfskalkulation. Zur Post- bzw. Präfigurationsthese siehe Wimmer, Ins Paradies verschlagen. 38 Bach, Andreas Gryphius als Glogauer Syndikus, 264; Bach, Naturrecht im Konflikt, 134–41.
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angehalten. Dem Definitionsprivileg der Staatsreligion ist eine Tendenz zum Religionsstaat inhärent. Diese Tendenz findet sich veranschaulicht in der Figur des Albert Julius, der – weltliches und geistliches Oberhaupt Felsenburgs zugleich – weltliche Handlungen nur unter der Voraussetzung ihrer eschatologischen Zweckmäßigkeit gestattet. Dies findet auch Eingang in das Testament des Albert Julius; dessen sechster Paragraph nämlich lautet: Weiln auch zu befürchten, daß in künfftigen Zeiten etwa der Satan, auf GOttes Zulassung, wie im Paradiese, also auch auf dieser Insul die Menschen zu groben Sünden, Schanden und Lastern zu reitzen und zu verführen trachten werde, als zweiffele zwar nicht, es werden die Herren Geistlichen alle Kräffte anwenden, demselben zu widerstehen, allein, es wird auch nöthig seyn, daß die Aeltesten mit Zuziehung der Herren Geistlichen nach und nach, wie es nehmlich die Zeiten mit sich bringen werden, heilsame Gesetze und Ordnungen stifften, wornach sich ein jeder richten könne und solle.39
Mit der Rede von „Gottes Zulassung“ lehnt sich Schnabel an das von Philipp Melanchthon in die evangelische Theologie eingeführte Theorem eines göttlichen Freiheitsgeschehens an, mit dem dieser den Radikalismus von Luthers De servo arbitrio entscheidend einschränkte, um Gott nicht als Ursache des Bösen dastehen zu lassen: Gott wirkt das Böse, mithin „Sünden, Schanden und Laster“ nicht, sondern lässt es lediglich zu: „[Z]wischen selbs wircken, vnd andere lassen wircken“, so Melanchthon, besteht ein „grosser vnterschied“.40 Dieses Freiheitsgeschehen bedingt eben eine uneingeschränkte Wirkmacht des Teufels, der nur mit einer ebenso uneingeschränkten Bekämpfung des Lasters angemessen begegnet werden kann.41 Dies macht die Kooperation politischer Repräsentanten, der „Aeltesten“, mit Theologen im Rahmen einer gemeinsamen Legislation erforderlich. Die Frucht dieser Legislation heißt nicht zufällig „heilsame Gesetze“.
39 Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, 260 (III, 245). 40 Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere, Sp. 139: „Das grosse vnterschied ist, zwischen selbs wircken, vnd andere lassen wircken, vnd nicht verhindern, Was Gott selbs wircket vnd schaffet, das ist gut, Daneben wenn die Teuffel oder Menschen wider Gott thuen, das wircket Gott nicht, ob gleich Gott solches geschehen lesset, vnd verhindert es nicht thetlich, bis zu seiner zeit.“ Siehe zum Zusammenhang von Freiheitsgeschehen und Theodizee bei Melanchthon Günter Frank, Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, 298. 41 Naumann, Politik und Moral, 107.
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4.
Utopie, Reformation und Cicero
Die Darstellung der evangelisch-lutherischen Konfession der Felsenburger findet im dritten Teil der Wunderlichen Fata ihren Höhepunkt darin, dass auch auf der Insel im Juni 1730 das 200. Jubiläum der Confessio Augustana gefeiert wird. Nicht nur, aber besonders in dem Falle, dass man die Bücher 2–4 wie Heidi Nenoff als Fortsetzungen im oben zitierten Sinne und nicht als bloße Anknüpfungen an einen in sich geschlossenen ersten Teil ansieht, drängt sich mit Blick auf den politischtheologischen Charakter der Felsenburg-Utopie und mit Blick auf religiöse Toleranz dortselbst die Frage danach auf, welchen Status insbesondere die Reformation für den utopischen Gesellschaftsentwurf Schnabels hat:42 Ist das Reformationsfest 1730 auf Felsenburg nicht nur ein religiöses, sondern auch ein politisches Fest? In der Tat wird das Reformationsfest weniger als Dankesfest a l l e r Lutheraner, sondern vielmehr als Dankesfest der Felsenburg im Besonderen gestaltet. Dies geht abermals aus einem kirchlichen Gesang hervor, wieder einer Kantate, die am Reformationsfest zur Aufführung kommt. In deren erstem Rezitativ heißt es: Aus meines Hertzens-Grunde Sag’ ich dir Lob und Danck, Dir, der du in dem Himmel sitzest, Jedoch allgegenwärtig bist, Und vor des Satans Trug und List Die dir ergeb’nen Seelen schützest. Es sagt die Felsenburger Schaar, Die sonst ein kleines Häuflein war, Aus einem Munde Und mit vereinten Hertzen Jetzt und ihr Lebenlang Dir, grosser Gott, Und starcker Zebaoth, Vor deine Güte Lob und Danck.43
Die Bezüge dieser Stelle sind vielfältig. Die ersten beiden Verse stellen ein wörtliches Zitat eines Liedes desselben Titels von Georg Niege dar (dort als dreizehnsilbiger Vers mit Binnenreim zusammengefasst). Georg Nieges (1525–1589)44 um 1586 42 Nenoff nämlich sieht die Reformationsfeierlichkeiten als „das ‚theoretische Herzstück‘ des Romans“ an; vgl. Nenoff, Religions- und Naturrechtsdiskurs, S. 115. 43 Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, 90 f. (III, 77). 44 Evangelisches Gesangbuch (EG) Nr. 443. Zur Werkbiographie Nieges siehe Bei der Wieden, Leben im 16. Jahrhundert. Bei der Wieden geht auf das ansonsten angegebene Sterbejahr 1588 ein: Tatsächlich
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gedichtetes und von Johann Sebastian Bach nach einer Melodie David Wolders von 1598 als vierstimmiger Choral vertontes Lied wird von Schnabel jedoch in wesentlichen Punkten verändert. Lediglich in der Danksagung für den Schutz „vor des Satans Trug und List“ klingt noch ein wörtlicher Bezug zu Nieges Text an, der für Gottes Schutz vor dem Teufel indessen nicht warnt, sondern um ein solches „[B]ehüten […] vors Teufels List und Wüten“ bittet.45 Darüber hinaus besteht Nieges Text in Bitten um das persönliche Wohl des einzelnen Gläubigen; Schnabels Fokusverschiebung auf das gemeinschaftliche Wohl geht mit der wichtigsten Variation einher, und zwar mit dem vollständigen Wechsel von der ersten Person Singular bei Niege zur dritten Person Plural in seiner Fassung. Dadurch bestimmt er die gemeinschaftsstiftende Wirkung des Mensch-Gott-Verhältnisses: Es sind allererst die „Allgegenwart“ eines theistischen Gottes und sein Schutz, welche die „Felsenburger Schaar“ möglich machten; „sonst“ nämlich wäre diese Schaar „ein kleines Häuflein“ geblieben. Dadurch ist der Unterschied zwischen besagten „kleinen Häuflein“ und der „Felsenburger Schaar“ nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ bestimmt, nämlich durch die Wirkung einer sowohl heils- als auch ordnungsstiftenden Gottesinstanz. Die Unterscheidung zwischen jedweder Art von Zusammenkunft einer Menschenmenge und einer ordentlichen Zusammenkunft nun stammt aus Ciceros De re publica: Darin wird der Staat als nicht wie eine Herde konfus zusammengelaufenes Volk, sondern als ein durch eine Rechtsordnung und Zweckgemeinschaft verbündetes Volk bestimmt.46 Wie schon gesehen, wäre es nicht das
hat noch Niege selbst die ersten Bände seines Nachlasses mit seinem eigenhändigen Supralibros „GNVAH 1589“ gezeichnet (ebd. S. 156, Anm. 266). 45 Gerade weil Schnabels Veränderungen ebenso umfassend wie gezielt sind, sei hier der gesamte Liedtext Nieges wiedergegeben: Niege, Aus meines Herzens Grunde: „(1) Aus meines Herzens Grunde / sag ich dir Lob und Dank / in dieser Morgenstunde, / dazu mein Leben lang, / dir, Gott, in deinem Thron, / zu Lob und Preis und Ehren / durch Christus, unsern Herren, / dein eingebornen Sohn, / (2) dass du mich hast aus Gnaden / in der vergangnen Nacht / vor G’fahr und allem Schaden / behütet und bewacht. / Demütig bitt ich dich, / wollst mir mein Sünd vergeben, / womit in diesem Leben / ich hab erzürnet dich./ (3) Du wollest auch behüten / mich gnädig diesen Tag / vors Teufels List und Wüten, / vor Sünden und vor Schmach, / vor Feur und Wassersnot, / vor Armut und vor Schanden, / vor Ketten und vor Banden, / vor bösem schnellem Tod. (4) Gott will ich lassen raten, / denn er all Ding vermag. / Er segne meine Taten / an diesem neuen Tag; / ihm hab ich heimgestellt / mein Leib, mein Seel, mein Leben / und was er sonst gegeben; / er machs, wies ihm gefällt. 5) Darauf so sprech ich Amen / und zweifle nicht daran. / Gott wird es alls zusammen / in Gnaden sehen an; / und streck nun aus mein Hand, / greif an das Werk mit Freuden, / dazu mich Gott beschieden / in mein Beruf und Stand.“ (Im Evangelischen Gesangbuch Nr. 443, dort hat das Lied aber sieben Strophen) 46 Cicero, Der Staat. De re publica, S. 104 (lib. 1, XXV): „Est igitur […] res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus.“
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erste und einzige Mal, dass Schnabel in seiner Felsenburgutopie antike Traditionen mit christlichen Lehrstücken amalgamiert. Zwar sollte Ciceros bekanntlich seit dem fünften Jahrhundert verschollene Staatstheorie erst 1819 durch Angelo Mai im Bobbioner Palimpsest wiederentdeckt und 1822 ediert werden;47 gleichwohl waren schon zuvor zentrale Aussagen des Textes vor allem durch Augustinus zum Teil wörtlich kolportiert worden und somit dem Staatsdenken des 17. und 18. Jahrhunderts wohlbekannt.48 Die genannte Unterscheidung des Staates als geordneter Gemeinschaft von einer ordnungslosen Versammlung referiert und bespricht Augustinus im zweiten Buch seines De civitate Dei: Ihn genauso wie Cicero beschäftigt die Bestimmung des Staates als einer ordnungsgeleiteten und allererst dadurch gerechten Gemeinschaft. Gegen die „weit verbreitete Behauptung, ohne Unrecht lasse sich kein Staat regieren“, wird nicht nur deren Widerlegung, sondern auch der Beweis „des Gegenteils, nämlich ohne höchste Gerechtigkeit lasse sich kein Staat regieren“,49 gesucht und im Staatsbegriff gefunden. Augustinus widerspricht Cicero gleichwohl auf den ersten Blick in dem empirischen Urteil, dass es sich bei der römischen Republik vor dem Bürgerkrieg um einen solchen (gerechten) Staat gehandelt habe;50 auf den zweiten Blick widerspricht er vor allem Ciceros impliziter systematischer Annahme, dass vor Christi Geburt ein solcher gerechter Staat überhaupt möglich gewesen sei. Da nämlich wahre Gerechtigkeit nur von Gott gestiftet, nur von seinem Sohn Jesus Christus politisch verwirklicht und nur durch göttlichen Konkurs erhalten werden kann, sei die Existenz eines Staates im Sinne des definierten Begriffes vor Christi Geburt schlechterdings unmöglich gewesen.51 Da Gerechtigkeit somit weniger eine Frage
47 Nickel, Einleitung, S. 12 f. 48 Beispielsweise Francisco Suárez übernimmt 1612 die zentralen Passagen des ciceronischen Staatsbegriffs aus Augustinus’ De civitate Dei: Suárez, De lege positiva humana, Bd. 1, 214 (lib. III, cap. 12, § 3): „[S]umi potest ex Augustino (lib. II De civitate, cap. 21) ubi ex Cicerone refert ‚concordiam esse arctissimum atque optimum in omni republica vinculum incolumitatis eamque sine iustitia nullo pacto esse posse’, significans cum illa esse posse et illam solam sufficere ad illum finem. Quod etiam colligitur ex definitione populi, quam ex eodem refert, scilicet, ‚populum esse coetum iuris consensu et utilitatis communione sociatum’.“ 49 Augustinus, Vom Gottesstaat, 131 (lib. II, cap. 21); Augustinus, De civitate Dei, S. 80 (lib. II, cap. 21): „[V]ulgo ferebatur rem publicam regi sine iniuria non posse. […] confirmatum non modo falsum esse illud, sine iniuria non posse, sed hoc verissimum esse, sine summa iustitia rem publicam regi non posse.“ Vgl. den Wortlaut bei Cicero, Der Staat. De re publica, 214 (lib. 2, XLIV): „[E]rit confirmatum, non modo falsum illud esse, sine iniuria non posse, sed hoc verissimum esse, sine summa iustitia rem publicam gerì nullo modo posse.“ 50 Cicero, Der Staat. De re publica, 272–275 (lib. 5, [I]). 51 Augustinus, Vom Gottesstaat. Buch 1–10, 134 f. (lib. II, cap. 21): „Aber warum haben ihre Götter nicht dafür gesorgt, daß der Staat damals nicht zugrunde und verloren ging, über den Cicero, längst ehe Christus im Fleisch erschien, so jammervoll klagt, er sei verlorengegangen? […] Ich werde mich nämlich […] zu zeigen bemühen, daß nach den Begriffsbestimmungen, in denen Cicero selbst durch
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natürlicher Rationalität als vielmehr positiver Setzung durch Gott ist, ist folglich ihre angemessene Erkenntnis durch den Menschen weniger eine Frage rationaler Einsicht als vielmehr eine Frage der Offenbarung. Insofern verwundert es nicht, dass Augustinus’ Kapitel über Ciceros Staatsbegriff mit Worten weder zur Struktur noch zur Umsetzung solcher wahrer Gerechtigkeit endet, sondern mit Worten zu ihrem geoffenbarten Charakter: „In dem Staate herrscht sicherlich wahre Gerechtigkeit, von dem die Heilige Schrift spricht: ‚Herrliche Dinge werden in dir gepredigt, du Stadt Gottes.“52 Darauf wird zurückzukommen sein. Johann Gottfried Schnabel übernimmt nämlich die ciceronische Differenzierung zwischen einem ‚omnis coetus multitudinis‘ und einem ‚coetus iuris consensu et utilitatis communione‘ eben mit denjenigen augustinischen Korrekturen, die den consensus iuris auf Gott als Gesetzgeber zurückbinden und die communio utilitatis durch den Glückseligkeitszweck bestimmen. Die Aufwertung vom „kleinen Häuflein“ zur „Schaar“ verdanken die Felsenburger eben zunächst und zumeist Gottes allgegenwärtigem Schutz vor und Konkurs gegen „des Satans Trug und List“.53 Schnabels Bezug auf Cicero und Augustinus reicht jedoch noch weiter. Denn sowohl Cicero als auch Augustinus hatten an den Anfang ihrer Überlegungen zum Staatsbegriff einen Vergleich zwischen musikalischer Harmonie und politischer Eintracht gestellt: „Was die Musiker beim Gesang die Harmonie nennen [harmonia], ist im Staate die Eintracht [concordia], das festeste und beste Band der Erhaltung, und ohne Gerechtigkeit kann sie durch keinerlei Vertrag existieren.“54 Und Augustinus ebenso wie Cicero bestimmen diese politische Eintracht sodann durch das erläuterte rechtliche und interessenmäßige Übereinstimmen des Volkes.
den Mund Scipios kurz darlegt, was Staat und Volk sind […], der römische Staat niemals ein Staat gewesen ist, weil es in ihm niemals wahre Gerechtigkeit gegeben hat. […] [W]ahre Gerechtigkeit gibt es nur in dem Gemeinwesen, dessen Gründer und Herrscher Christus ist.“; Augustinus: De civitate Dei. Lib. I–XIII, S. 82 f. (lib. II, cap. 21): „Quam ob rem cur non curarunt dii eorum, ne tunc periret atque amitteretur illa res publica, quam Cicero longe, antequam Christus in carne venisset, tam lugubriter deplorat amissam? […] [O]stendam secundum definitiones ipsius Ciceronis, quibus sit res publica et quid sit populus loquente Scipione breviter posuit […], nunquam illam fuisse rem publicam, quia numquam in ea fuerit vera iustitia.. […] [V]era autem iustitia non est nisi in ea re publica, cuius conditor rectorque Christus est.“ 52 Augustinus, Vom Gottesstaat. Buch 1–10, S. 135 (lib. II, cap. 21); Augustinus: De civitate Dei. Lib. I–XIII, 83 (lib. II, cap. 21): „[I]n ea certe civitate est vera iustitia, de qua scriptura sancta dicit: Gloriosa dicta sunt de te, civitas Dei.‹“ Zitat aus Psalm 87,3. 53 Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, 90 f. (III, 77). 54 Cicero, Der Staat. De re publica, S. 214 (lib. II, XLII): „[Q]uae harmonía a musicis dicitur in cantu, ea est in civitate concordia, artissimum atque optimum omni in re publica vinculum incolumitatis, eaque sine iustitia nullo pacto potest esse.“. Augustinus, Vom Gottesstaat, 131 (lib. II, cap. 21); Augustinus, De civitate Dei, 83 (lib. II, cap. 21): „[Q]uae harmonia a musicis dicitur in canto, eam esse in civitate concordiam, artissimum atque optimum omni in re publica vinculum incolumitatis, eamque sine iustitia nullo pacto esse posse.“
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Diese Analogie wurde im Übrigen nicht nur in der politischen, sondern auch in der musikalischen Theorie zitiert und verwendet, um umgekehrt den Begriff der Harmonie durch den Begriff der politischen Eintracht zu bestimmen.55 Dieses Beispiel einer zirkulären Verweispraxis zeigt, dass Analogien einen fraglichen Begriff eher verunklaren als erhellen, solange nicht bestimmt wird, in welche Richtung die Analogisierung funktioniert und in welche nicht. Bei Schnabel findet sich eine andere Verweispraxis: Er versteht schon den Begriff der concordia wörtlicher, übersetzt ihn daher mit „vereintes Hertz“ und bekommt damit eine Verinnerlichung politischer Gemeinschaft in den Blick, wie sie bei Cicero und Augustinus nachrangig war, denen es vor allem um die Rechts- und Interessengemeinschaft ging. Durch diese Eigentlichkeit von Schnabels Übersetzung von concordia erhält diese eine Semantik, die über ein diskursives Übereinstimmen („consensus“) bzw. Übereinkommen („communio“) hinausgeht: Wer „mit vereintem Hertzen“ agiert, stimmt nicht nur überein, sondern er stimmt auch zusammen. Durch diese semantische Tendenz zu Zusammenstimmen erhält Schnabels politischer concordia-Begriff eine Nähe zum musikalischen harmonia-Begriff, die von einer bloßen Analogie, wie sie noch bei Cicero und Augustinus vorlag, nicht mehr zu sprechen erlaubt. Die eigentliche Pointe des Felsenburger Reformationsfestes besteht allerdings allererst darin, dass Schnabels Felsenburger musikalische Harmonie und politische Eintracht nicht nur begrifflich identifizieren, sondern diese Identifikation auch performativ realisieren: erstens, insofern sie ihr politisches Glaubensbekenntnis eben als Gesang statt nur als Gebet vortragen und damit Harmonie und Melodie diesem Bekenntnis seine Form geben; zweitens, insofern aufeinander folgende Soli des Soprans, des Alt und des Bass sich in den Rezitativen zu einem finalen Tutti steigern56 und damit den Vergemeinschaftungsprozess auch musikalisch nachbilden; drittens war Georg Nieges Lied „Aus meines Hertzens-Grunde“ bereits vor Schnabel zu einem der bekanntesten protestantischen Kirchenliedern avanciert57 – Schnabel konnte mithin rezeptionsästhetisch auf einen hohen Wiedererkennungswert seiner Niege-Variation setzen, sodass der zeitgenössische Leser seines Romans selbst die gemeinschaftsstiftende Wirkung selbst nach- und mitvollziehen konnte. Auf Felsenburg führt der Weg zur wahrhaft politischen Gemeinschaft nur durch die Herzen ihrer Bürger:58 Diese sind in der Tat harmonisiert; sie stimmen zusammen, statt nur überein. Das Felsenburger Reformationsjubiläum ist ein ebenso politisches wie religiöses Fest. Inwiefern aber hat diese Formulierung einer bestimmten politischen Theologie im Reformationsfest nicht nur ihren äußeren Anlass, sondern auch in Luthers Reformation ihren inhaltlichen Grund? Dieser Bezug wird 55 56 57 58
Fraguier, Untersuchung einer Stelle aus dem Plato, von der Musik, 150. Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, S. 90–93 (III, 77–80). Schmidt, 443. Aus meines Herzens Grunde, S. 70. Vgl. Bersier, Wunschbild und Wirklichkeit, S. 96.
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im zweiten Rezitativ der Kantate hergestellt: Denn das jenseitige Heil ist zwar von Gottes „Gütigkeit abhängig“, die weder qualitativ noch quantitativ zu fassen ist. Für das diesseitige Interim, das „Inzwischen“, gibt es gleichwohl eine Richtschnur menschlichen Verhaltens; dieselbe aber ist offenbar erst mit Luther angemessen zu erschließen: Inzwischen müssen wir bekennen: Wie daß die größte Wohlthat sey: Daß wir sein heilig Wort Und Luthers reine Lehren Von nun an fort und fort Auf dieser Insul können hören; Und uns dabey Auch GOttes Kinder dürffen nennen.59
Es ist dieses Bekenntnis zu Luthers Rechtfertigungslehre, die Schnabel in einem ersten Schritt mit dem Ort seiner Utopie, der Insel, verknüpft. Damit ist freilich noch nicht mehr ausgesagt, als dass bekennende Lutheraner auf einer Insel leben. Deshalb folgt in einem zweiten Schritt noch die stilisiert theologische Aufladung dieser Beziehung von Glaube und Ort. Mit den Versen, „Drum wollen wir / Nur für und für / Den Höchsten lassen walten, / Und uns allstets an diese Felsen halten“, leitet das dritte Rezitativ der Kantate über zu Psalm 31, Vers 3: „Sey mir ein starcker Felß und eine Burg, daß du mir helffest: denn du bist mein Felß und meine Burg.“60 Die im Psalm selbst vollzogene Identifikation Gottes als Felsenburg wird im Rezitativ auf die konkrete Insel dieses Namens übertragen. Ob das wie bereits angedeutet nur eine Stilisierung ist oder ob die Kantate tatsächlich die systematische Überzeugung artikuliert, dass die Insel Felsenburg der irdische Ausdruck von Gottes Status’ als Fels und Burg sei, muss man wohl dahingestellt sein lassen.61 Überhaupt zeichnen literarische Utopien sich häufig dadurch aus, den Unterschied zwischen poetischer Metaphorik und ideologischer Systematik verschwimmen zu lassen: In Utopien werden Ideale eben realisiert, und zwar ohne Abstriche. Das ist ihr Reiz und gattungsstiftendes Proprium. Anders als in realpolitischer Gelegenheitsdichtung gibt es in utopischer Rede keinen Überschuss, keinen Überhang der politologischen Ideale gegenüber den politischen Zuständen – einen Überschuss, 59 Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, S. 98 (IIII, 78 f.). 60 Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, S. 93 (III, 79 f.). 61 Dietrich Naumann interpretiert diesen Zusammenhang – allerdings in Auseinandersetzung mit dem ersten Band – genau andersherum, dass nämlich „die Insel Gott quasi zu ersetzen vermag“, was wiederum voraussetze, „daß sie selbst aus der Welt topographisch ausgegliedert und diese Ausgliederung zusätzlich künstlich gesichert wird“: Naumann, Politik und Moral, 104.
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der in nicht-utopischer Dichtung als Übertreibung, Hyperbolisierung, mithin als bloßes Stilmittel, angesehen werden müsste.62 Während Literaturwissenschaft es meist mit uneigentlicher Rede zu tun hat und das Eigentliche dahinter zu rekonstruieren beauftragt ist, ist sie bei Utopien mit dem Gegenteil konfrontiert: Sie vereigentlichen das Uneigentliche. Ob aber nun metaphorische oder systematische Überhöhung: Eine Überhöhung erfährt die Insel am Reformationsfest 1730 auf jeden Fall. Die Insel Felsenburg wird theologisch aufgeladen, indem sie zum bevorzugten Ort der Justifikation stilisiert wird. Sie wird lutherisch aufgeladen, indem diese Justifikation eben diejenige nach dem Begriff Luthers sei. Die Insel wird politisch aufgeladen, indem auf der ‚tabula rasa‘ einer verlassenen Insel eine Gemeinschaft von Grund auf so gegründet werden konnte, dass sie alle eitlen Hindernisse auf dem Wege der Rechtfertigung beseitigt. Dem Urteil Thomas Schölderles, „[d]ie abgebildeten Ideale, allen voran die protestantische Religion, haben ihren Ort in der familiären Privatheit und nicht in den staatspolitischen Institutionen“,63 kann also durchaus widersprochen werden, weil Privatheit auf Felsenburg gar nicht existiert.64 Die Felsenburger bekennen sich in ihrem Gesang erstens zu einem Staatsbegriff, der von einem theonomen Gerechtigkeitsbegriff zehrt. Sie erfüllen zweitens Augustinus’ offenbarungstheologische Bestimmung von Gerechtigkeit und Staat, dergemäß „[i]n dem Staate […] sicherlich wahre Gerechtigkeit [herrscht], von dem die Heilige Schrift spricht: ‚Herrliche Dinge werden in dir gepredigt, du Stadt Gottes‘“:65 Die Felsenburger realisieren eine Gerechtigkeit, die eben nur als gepredigte Offenbarung angemessen erkannt werden kann und besungen werden muss. Sollte es Schnabel daher im ersten Teil noch nicht angelegt haben: Im dritten Teil wird die Insel Felsenburg endgültig zum Gottesstaat.
5.
Fazit: Utopie und Toleranz
Mit dieser Überlegung von der Insel Felsenburg als Gottesstaat schließt sich der Kreis, und es ist auf Herrn van Blac zurückzukommen. Indem dieser am Hofe eines muslimischen Sultans in Sklaverei gerät, knüpft Schnabel mit dieser Figur nicht nur an die Irrfahrten Robinson Crusoes an. Indem Herr van Blac speziell am Hofe des marokkanischen Sultans Mulay Ismail in Gefangenschaft gerät, bedient
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Vgl. etwa Steinhoff, Hyperbel. Schölderle, Utopia und Utopie, 228. Stockinger, Ficta respublica, 432. Augustinus, Vom Gottesstaat, 135 (lib. II, cap. 21); Augustinus, De civitate Dei, 83 (lib. II, cap. 21): „[I]n ea certe civitate est vera iustitia, de qua scriptura sancta dicit: ‘Gloriosa dicta sunt de te, civitas Dei.’“ Zitat aus Psalm 87,3.
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Schnabel unübersehbar auch ein anderes Interesse seiner Gegenwart, und zwar das Interesse an Berichten christlicher Gefangener in marokkanischen Diensten. Dieser Trend sollte nur drei Jahre nach dem dritten Teil der Wunderlichen Fata in der Autobiographie Thomas Pellows (1704–1747) gipfeln: Der Neffe eines englischen Seemanns wurde 1716 mit elf Jahren Opfer von Piraten, die ihn an Mulay Ismail nach Meknéz verkaufen, woraufhin er 23 Jahre in dessen Diensten lebte. Diese Autobiographie erschien 1739 in London unter dem Titel The History of the Long Captivity and Adventures of Thomas Pellow in South-Barbary. Wie van Blac auch benutzte der Sultan Thomas Pellow wegen seiner Sprachkenntnisse als Dolmetscher. Ganz anders jedoch als Thomas Pellow konvertiert van Blac eben nicht zum Islam, wie eingangs zu sehen war. Pellows Konversion war zum einen – seiner eigenen Auskunft nach – durch Folter erzwungen,66 zum anderen Bedingung der Möglichkeit, 23 Jahre lang in hohe marokkanische Ämter aufzusteigen. Auch van Blac wird eine Karriere bei Ismail zunächst unter der Bedingung in Aussicht gestellt, dass er zum Islam konvertiere. Sein Hofmeister nämlich sagt ihm: „Blac! ihr könnet in wenig Jahren an unsers Kaysers Hofe einer der grösten Ministers werden, wenn ihr euch zu unserer Religion bekennet und beschneiden lasset!“67 Zunächst also scheint die muslimische Religion Bedingung politischer Teilhabe in Ismails Marokko zu sein. Schnabels Fiktion ist allerdings komplexer als die Wirklichkeit Thomas Pellows. Denn van Blac kann den Sultan schließlich dazu bewegen, ihm den christlichen Glauben zu belassen und gleichwohl mit verantwortungsvollen Ämtern zu betrauen und eine weitreichende Bewegungsfreiheit in Meknéz zu gewähren. Anders aber als Thomas Pellow ist es van Blac nicht um ein Überleben im muslimischen Staate zu tun, ein Überleben also unter allen Umständen. ‚Nikodemismus‘ gegenüber dem Islam war für Thomas Pellow ein probates Mittel,68 nicht aber für van Blac.69 Deshalb ist seine Lage durch den kaiserlichen Dispens von der Konversionspflicht nur bedingt erleichtert worden. Van Blac versucht und schafft
66 Pellow, The Adventures of Thomas Pellow, 54 f. 67 Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, 114 f. (III, 101). 68 Pellow, The Adventures of Thomas Pellow, S. 55: „My tortures were now exceedingly increased, burning my flesh off my bones by fire; which the tyrant did, by frequent repetitions, after a most cruel manner; insomuch, that through my so very acute pains, I was at last constrained to submit, calling upon God to forgive me, who knows that I never gave consent of the heart, though I seemingly yielded, by holding up my finger; and that I always abominated them, and their accursed principle of Mahometism, my only trust and confidence being firmly fixed on Him, and in the all-sufficient merits of His only Son Jesus Christ, my Saviour.“ 69 Insofern schreibt Schnabel dem zu diesem Zeitpunkt noch reformierten van Blac bereits eine lutherische Position ein: 1533 nämlich erteilt Martin Luther in seiner Schrift Verantwortung der aufgelegten aufrur der Anfrage des Leipziger Lutheraners Dominikus Holtz, ob die sächsischen Evangelischen um des bürgerlichen Friedens willen ein katholisches Bekenntnis vortäuschen dürften, und damit dem Nikodemismus (ähnlich wie Calvin) eine klare Absage: Dies würde nur das kurzfristige Leiden
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die Flucht zurück nach Europa. Nach zahlreichen anderen Rückschlägen begegnet er in Hamburg Eberhard Julius und wird von diesem als Sprachen-Präzeptor mit nach Felsenburg genommen. Statt eine hohe Funktion im Marokko übernimmt van Blac also schließlich eine wichtige Funktion im felsenburgischen Idealstaat. Aber nicht nur das: Van Blac spielt auch eine gewisse Rolle rund um das Reformationsjubiläum auf Felsenburg. Er ist nämlich kein Lutheraner, sondern Reformierter. Schon unmittelbar nach seinem ersten Besuch eines Gottesdienstes auf Felsenburg verkündet van Blac jedoch: „Von nun an will ich die Herrn Geistlichen bitten, daß sie mich Lutherisch machen.“70 Gewiss: Herr van Blac wechselt zum Luthertum aus freien Stücken, während ihm in Marokko die Konversion zum Islam zuweilen unter Androhung körperlicher Gewalt abverlangt wurde. Glaube kann nicht erzwungen werden. Die innere Überzeugung bleibt sowohl von äußerem Zwang unberührt als auch von der nur informativen Aneignung heterodoxer Lehrstücke: Als van Blac in Meknéz „die Haupt-Stücke der Mahometanischen Religion“ memorieren muss, tut er dies eben „ohne allen Ernst“. Während aber Mulay Ismails Reich auf diesen konfessionellen Ernst politisch letztlich verzichten kann, verzichtet die Felsenburgutopie keineswegs auf diesen Ernst, und zwar auch und gerade politisch nicht. Dass sie nämlich niemanden zum lutherischen Glauben zwingt, sondern jeden von demselben überzeugt, ändert nichts daran, dass auf Felsenburg die lutherische Konfession durchaus Bedingung der gesellschaftlichen Teilhabe ist. An nichts wird das so deutlich wie anhand der neun heidnischen Sklaven des Kapitän Horn, die am Ende des Reformationsfestes getauft werden und erst dadurch ihre politische Freiheit erlangen.71 Denn die in Punkt 2 erläuterte politische Theologie der Felsenburg hebt, wie im Punkt 3 gezeigt wurde, die Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Regiment zu Gunsten des geistlichen auf: Sie richtet den felsenburgischen Staat, wie in Punkt 4 gezeigt wurde, auf Seligkeitszwecke aus, und dieser Primat des Heilszwecks resultiert auch in der politischen und juristischen Verdizierung eitler Handlungen.72 Unter diesen Bedingungen ist politische Tolerierung anderer Konfessionen und Religionen kaum mehr möglich. Insofern ist letztlich auch fraglich, inwiefern noch wirklich die Rede davon sein kann, Schnabels Felsenburgutopie sei von einem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus getragen:73 Wenn gesellschaftlich-politischer Fortschritt nur unter solch eng umschränkten Bedingungen für möglich gilt, ist die
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unter Herzog Georg von Sachsen schmälern, die langfristige Qual des Gewissens und der göttlichen Strafe aber nur verstärken. (vgl. Brenner, Verantwortung der aufgelegten Aufruhr, 88) Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, 71 (III, 58). Schnabel, Insel Felsenburg, hg. von Dammann, Bd. 2, 59 f. und 97 (III, 46 f., 83 f.). Aus diesem Grunde ist die Insel Felsenburg durchaus ein totalitärer Staat und hat durchaus eine Heilsfunktion: Vgl. demgegenüber Christian G. Schnabel, Die 200-Jahr-Feier, 76. Löwe, Idealstaat und Anthropologie, 77.
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Zuversicht in einen möglichen Fortschritt unter weiteren Bedingungen sichtlich gemindert und darum wenig optimistisch. Das entscheidende Moment von Schnabels Islamkritik besteht darin, dass der Islam zur Konversion zwingen will, statt von sich zu überzeugen. Die konkreten Inhalte muslimischen Glaubens bleiben dabei vollkommen unerwähnt. Noch nicht einmal die Frage, ob Glaubenszwang Gegenstand islamischer Theologie sei, wird berührt. Die Darstellung des Islam in den Wunderlichen Fata als Zwangsreligion ist also ein rein empirisches Urteil. Die Vermutung liegt nahe, dass Schnabel durch seine monothematische Darstellung islamischen Glaubenszwangs insinuieren möchte, dass die Muslime noch nicht einmal begriffen haben, was Glauben eigentlich ist – nämlich die ausschließlich freiwillige Internalisierung von Glaubensinhalten. Trotzdem oder gerade deswegen ist es der Autokrat Mulay Ismail, der Andersgläubige bedingt in seinem Staatsapparat duldet. Auf Insel Felsenburg müssen und wollen aber alle Lutheraner werden. Denn nur dieser internalisierte Glauben, die Glaubensüberzeugung macht sie für das felsenburgische System tauglich. – „Ohne allen Ernst“: Das mag vielleicht in Marokko funktionieren, aber nicht auf der Insel Felsenburg.
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Grażyna Jurewicz
Herrschaft, Zwang, Toleranz Die Kultur der Wertschätzung nach Moses Mendelssohn Für viele zeitgenössische Christen war Moses Mendelssohn (1729–1786) ein Widerspruch in sich. Seine Gesamterscheinung widersprach der sozialen Ontologie, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einem Juden im friderizianischen Preußen denkbar andere gesellschaftliche und symbolische Räume zuwies als diejenigen, die der jüdische Philosoph für sich beanspruchte. Mendelssohns intellektuelle und kulturelle Leistungen, die er in einer Fremdsprache und ihm ursprünglich kaum vertrauten Kultur erbrachte, wurden von Christen hoch gewürdigt. Gepaart war diese Anerkennung jedoch mit einer Verwunderung darüber, wie ein Jude eines solchen Grades an Kultiviertheit habe fähig sein können. Die Kehrseite des Respekts bildete nämlich der Zweifel an der Authentizität einer Lebensform, die sich in Verbindung von Judentum und Aufklärung realisiert sah. In den 1780er Jahren richtete sich Mendelssohn öffentlich gegen diesen Zweifel. In seinen Beiträgen zur Debatte um die sogenannte ‚bürgerliche Verbesserung der Juden‘ prangerte er die zeitgenössische Praxis der Toleranz aufgrund ihrer Verquickung mit der Herrschaft an. Sie erfüllte sich in der Erlaubnis der herrschenden Seite, neben der christlichen Mehrheit zu existieren, und stellte damit bloß das Produkt der bestehenden Machtverhältnisse und zugleich das Instrument ihrer immerwährenden Legitimierung dar. Eine solche Toleranzform – „eine höfliche Form der Verachtung“1 – war mit den Idealen des Aufklärungszeitalters nicht zu vereinbaren und konnte nur temporär akzeptiert werden. Dementsprechend wurde sie auch von Goethe als eine „vorübergehende Gesinnung“ charakterisiert, die überwunden werden sollte.2 Das realpolitische Verständnis der Toleranz, dessen Opfer Mendelssohn und andere Juden waren, galt es für den jüdischen Philosophen in Richtung auf eine übergreifende kulturelle Praxis gegenseitiger Wertschätzung hin zu transzendieren. Mendelssohn imaginierte die staatliche Obrigkeit als moralisches Subjekt im „Spannungsverhältnis zwischen passiver Geduld und aktiver Duldung, zwischen
1 Schlüter, Französische Toleranzdebatte, 23. 2 Goethe, Maximen und Reflexionen, 385: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Ein verwandter Begriffsgebrauch findet sich bei Kant, der von einem „hochmütigen Namen der Toleranz“ spricht und damit die Toleranz, wie sie im preußischen Staat praktiziert wurde, als herablassend charakterisiert. Kant, Was ist Aufklärung?, 60 (Hervorhebung im Original).
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der Fähigkeit, Leiden zu ertragen, und der Anerkennung anderer in ihrem jeweiligen Anderssein“.3 Die regierende Partei habe sich ihrer Überlegenheit zu entledigen und ihre Hand als erste auszustrecken, um die Machtlosen in das ihnen verwehrte Recht zu setzen und sie Respekt und Liebe der Mitmenschen genießen zu lassen. Dieses „ethisch ‚dichte[…]‘“4 Verständnis des gesellschaftlichen Miteinanders hatte nichts mit Toleranz als Korrelat von Herrschaft und Zwang zu tun. Mendelssohn wandte sich in der Sprache der Mehrheitsbevölkerung an die Machtausübenden gegen den repressiven Charakter der bloßen Duldung als temporäres Ertragen des Anderen. Solange die Politik des Entzugs der primären Rechte mit Vorurteilen begründet werde, sei keine Emanzipation der Juden möglich. Nur eine von der Wertschätzung des Anderen herrührende Toleranz, die sich in der bedingungslosen Zuerkennung aller bürgerlichen Rechte äußere, könne den „fatale[n] Zirkel vorgeblich sozio-kultureller Inferiorität der Juden und damit legitimierter Entrechtung“5 durchbrechen.6
1.
Pervertiertes Wissen
Im zeitgenössischen Diskurs galt Mendelssohn als Personifizierung des Gebildeten. Er selbst konzipierte eine die Bildung realisierende Lebensführung als Synthese einer universellen und einer partikularen Komponente: des Denkens und des sich kulturell definierenden Handelns.7 Ein gebildetes jüdisches Leben sollte demnach die Wissenschaft und die Halacha – die religiöse Gesetzespraxis – verbinden. Unter letzterer begriff Mendelssohn ein den Juden offenbartes Korrektiv des Denkens, weswegen ihm die Bildung und damit die Emanzipation der Juden ohne die Halacha unmöglich erschien. Dieses Verständnis der jüdischen Lebensweise als einer notwendigerweise halachischen hinterfragte das Fundament der protestantisch geprägten Subjektkultur der preußischen Mehrheitsbevölkerung. Das christliche Selbstverständnis enthielt ein jeder individuellen Erfahrung vorgreifendes Reservoir assertorischer Sätze über das Judentum – ein Artefakt der höchst polemischen
3 4 5 6
Schreiner/Besier, Toleranz, 446. Forst, Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, 130. Heinrich, Mendelssohn als Initiator und Mentor, 46. Zu Mendelssohns Verständnis der Toleranz siehe – neben der Forschungsliteratur, auf die im Folgenden ausdrücklich Bezug genommen wird – auch Belke, Religion und Toleranz, 127–134; Bohn, Mendelssohn und die Toleranz; Erlewine, Monotheism and Tolerance, 43–81 und 192–201; Mautner, Mendelssohn and the Right of Toleration; Patterson, Mendelssohn’s Concept of Tolerance; Pecina, Mendelssohns diskrete Religion, 264–280; Pollok, Facetten des Menschen, 469–498; Zurbuchen, Von der Toleranz zur Religionsfreiheit. 7 Vgl. Mendelssohn, Ueber die Frage: was heißt aufklären?, in: JubA, Bd. 6.1, 115 f.
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Herrschaft, Zwang, Toleranz
Diskurskonstellation am geschichtlichen Ursprung des Christentums und das Ergebnis ihrer theologischen Aneignung. ‚Das Jüdische‘, wie es von Christen konstruiert wurde, erfüllte im Prozess christlicher Identitätsbildung die Funktion eines „Anti-Subjekts“.8 Dieses Konstrukt wurde durch die bloße Duldung, wie sie der absolutistische Staat Friedrichs des Großen gegenüber Juden als einer Abweichung von der christlich definierten gesellschaftlichen ‚Norm‘ praktizierte, fortwährend hergestellt. Die epistemische Ordnung, gegen die Mendelssohn seine Zugehörigkeit zum Judentum zu behaupten gezwungen war, lässt sich anhand der Beiträge des Grossen vollständigen Universal-Lexicons Aller Wissenschafften und Künste instruktiv nachzeichnen. Das von 1732 bis 1754 publizierte Nachschlagewerk, kurz mit dem Nachnamen seines ersten Herausgebers ‚Zedler‘ genannt, war ein „Unternehmen, das zum erstenmal die in Jahrhunderten angesammelten Kenntnisse auf allen Gebieten zusammenfaßte“.9 Beinahe siebzig Bände umfassend, bereitete es enormes Wissen in einer Nationalsprache auf und stellte damit einen Meilenstein auf dem Weg zu seiner Demokratisierung und Popularisierung dar. Der Umfang des Lexikons, der das auf dem Feld der Lexikographie bisher Geleistete weit überstieg, die Methode, die darin bestand, alle zugänglichen Wissensquellen zu berücksichtigen und sie miteinander zu kombinieren,10 sowie die Erweiterung der Beiträge um bibliographische Hinweise weisen den Zedler als ein ausgezeichnetes Zeugnis der Wissensordnung um 1750 aus. Die Leistung seiner Autoren und Bearbeiter bestand nicht in einer bloß summarischen Zusammenführung von Informationen. Wie Ulrich Johannes Schneider betont, handelte es sich bei dieser Gipfelleistung der deutschsprachigen Lexikographie des 18. Jahrhunderts um eine „Konstruktion des
8 Reckwitz, Das hybride Subjekt, 43–50, hier 45 (Hervorhebungen im Original): „Die Produktion und Reproduktion von Subjektformen bildet eine spezifische Form der ‚Identität‘ des Subjekts heraus. Diese entsteht jedoch nicht unmittelbar, sondern über den Weg einer Markierung von ‚Differenzen‘ gegenüber Modellen eines Anti-Subjekts, wie sie die Subjektkultur enthalten. […] Positive Subjektmodelle hängen von einer Differenzmarkierung, einer ‚Distinktion‘ gegenüber einem negativen Subjektmodell, einem Anti-Subjekt und entsprechenden Innen-Außen-Unterscheidungen ab. Das Subjekt positioniert und bildet sich über Ausschließungsverfahren gegenüber unerwünschten Eigenschaften. […] Es gibt keine selbstgenügsame Subjektform ohne ein solches Außen; das Außen der abgelehnten Eigenschaften eines Anti-Subjekts stellt sich als Bedingung der Konstitution des Innen einer kulturell etablierten Subjektform dar.“ Vgl. auch ders., Subjekt, 139 f. Zur theologischen Konstruktion des Judentums als Antithese der christlichen Identität siehe Hoffmann, Judentum als Antithese; Kampling, Christentum; Ruether, Nächstenliebe und Brudermord. 9 Raabe, Gelehrte Nachschlagewerke, 109. 10 Vgl. Schneider, Universal-Lexicon, 210; ders., Konstruktion des allgemeinen Wissens, 88 f. und 98 ff.
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allgemeinen Wissens“, bei der ein „spezialisiertes Fachwissen“ in ein „konzentriertes Sachwissen“ überführt wurde.11 Der Artikel „Juden, oder Jüden“ aus dem Universal-Lexicon12 – ein Sammelsurium klassischer antijüdischer Verleumdungen der übelsten Sorte – erlaubt, die zwischen Hochachtung, Verwunderung und Bekehrungswut schwankende christliche Rezeption Mendelssohns wissensgeschichtlich zu kontextualisieren. Der Text, in dem den zeitgenössischen Diskurs beherrschende theologische, sozial- und wirtschaftspolitische Bilder des Judentums zitiert werden, „mutet an wie die Hetzpredigt eines zu einem Kreuzzug aufrufenden […] religiösen Eiferers“.13 Der anonyme Autor des Beitrags führt das herkömmliche christliche Bild der Juden als eines Volkes von Gottesmördern an: Sie seien in alle Ewigkeit „verworffen und verstossen“,14 denn sie hätten den Messias nicht erkannt und den Sohn Gottes getötet. Die Wirkung der Schuld, wegen der ihr Bund mit Gott seine Geltung verloren habe, könne nie verbüßt werden, so dass sie als Kollektiv erlösungsunfähig seien. Jeden Tag aufs Neue bestätige ein Jude, der Jude bleibe, diese kollektive Schuld durch den eigenen Unwillen zur Konversion. Die Bekehrten wiederum seien so schwankend, dass auf sie kein Verlass sei und die christliche Welt keineswegs auf eine Massenbekehrung der Juden hoffen könne. Der vermeintlichen heilsgeschichtlichen Verworfenheit des jüdischen Volkes soll im weltlichen Raum die politische Unfreiheit entsprechen: „Sie müssen ihren Hals unter das Joch fremder Obrigkeit beugen, und ihre Schultern neigen zu aller Bürde, die ihnen harte Herren auflegen wollen.“15 Ihre sittliche Verdorbenheit – denn sie hielten sich an keine moralischen Prinzipien, lästerten über Christen und vergingen sich an deren Hab und Gut – stehe in Wechselbeziehung zur Absurdität ihrer Religion, durch welche sie mit Heiden gleichgesetzt zu werden verdienten. Der jüdische Ritus sei „lauter falscher Gottes-Dienst, Irrsal und Abgötterey“.16 Zwar sei das jüdische Volk im Besitz der Bibel; der Zugang zu ihr bleibe ihm aber verwehrt, da es der Lehre vom mehrfachen Sinn der Schrift anhänge und die Vielfalt der Meinungen in religiösen Fragen zulasse. Nicht aufgrund des affektgeladenen Inventars des traditionellen Judenhasses ist der Artikel aus dem Universal-Lexicon denkwürdig. Seine Motivik ist schließlich so alt wie die Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen. Der Text sticht erst durch seinen wissenschaftlichen Anspruch hervor. Aufbereitet in Gestalt eines
11 Schneider, Konstruktion des allgemeinen Wissens, 97; vgl. ders., Erfindung des allgemeinen Wissens, insbes. 91–160. 12 Art. Juden, oder Jüden, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 14, 1497–1503. 13 Suchy, Lexikographie und Juden, 239. 14 Art. Juden, oder Jüden, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 14, 1500. 15 Ebd. 16 Ebd., 1499.
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Herrschaft, Zwang, Toleranz
modernen Genres und mit zahlreichen bibliographischen Hinweisen versehen, beansprucht hier der pervertierte Wissensbestand den Status einer Wissenschaft. Damit behauptet sich das alte Vorurteil in modernisierter Fassung aufs Neue, um nun als wissenschaftlich verbürgte ‚Wahrheit‘ der sogenannten ‚Aufklärung‘ zu dienen. Es ist diese Persistenz des Judenhasses bei seiner gleichzeitigen rhetorischen Wandelbarkeit, die Mendelssohn meint, wenn er von einem „graugewordene[n] Vorurtheil“ spricht, das „die Gestalten aller Jahrhunderte annimmt, uns [Juden] zu unterdrücken, und unserer bürgerlichen Aufnahme Schwierigkeiten entgegen zu setzen.“17 Das Ressentiment behalte bei seinem Gang durch die Geschichte den eigentlichen Kern bei, während es seine äußere Gestalt immer wieder modifiziere. Umsonst spreche die Vernunft, denn „[m]an kan einem verjährten Vorurteile alle Wurzeln durchschneiden, ohne ihm die Nahrung gänzlich zu entziehen. Es saugt solche allenfalls aus der Luft.“18
2.
Die Gewalt der ‚Liebe‘
Der Artikel im Zedler’schen Lexikon endet mit dem Hinweis, Juden würden in einigen Ländern „geduldet“.19 Der Autor nennt keine Gründe dafür, warum den angeblichen „Kinder[n] des Teuffels […] und des Satans Schule“20 die Toleranz angediehen und damit dem Objekt der allgemeinen Abscheu das Recht zugesprochen wird, unter Christen zu leben. Aufschlussreich ist an dieser Stelle ein Blick in den Beitrag „Tolerantz“ innerhalb derselben Quelle.21 Der – ebenfalls ungenannte – Verfasser definiert dort die Toleranz als Beziehung der staatlichen Obrigkeit zu den Vertretern von Minderheitenreligionen, die eine Form des Einverständnisses mit den minoritären religiösen Praktiken annimmt.22 Die Mehrheit legitimiert die Anwesenheit des Anderen neben sich und unterlässt es, ihn beim Ausleben seiner Andersartigkeit zu stören. Diese Art von Toleranz steht nach der Meinung des Autors im Einklang mit der christlichen Mission:
17 18 19 20 21 22
Mendelssohn, Vorrede zu Manasseh Ben Israel Rettung der Juden, in: JubA, Bd. 8, 6 und 10. Ebd., 10. Art. Juden, oder Jüden, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 14, 1502. Ebd., 1499. Art. Tolerantz, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 44, 1115 ff. Vgl. ebd., 1115: „[D]ieses Wort wird insgemein von einer Obrigkeit gebrauchet, welche in einer Provintz oder Stadt geschehen lässet, daß auch andere Religions-Verwandten ausser der daselbst eingeführten Religion, und welcher sie selbst zugethan ist, die freye Uebung ihres Gottesdienstes darinnen haben mögen.“
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Wir verstehen […] durch die Tolerantz nichts anders, als daß man äusserlich im gemeinen Leben friedlich mit einander umzugehen suchet, einander die Pflichten des Rechts der Natur nicht versaget, und auf den Cantzeln und in denen Schrifften die vorgegebene irrige Meynung mit aller Sanfftmuth widerleget, und also einander mit Vernunfft und Bescheidenheit eines bessern zu belehren bemühet ist.23
Der „Zweck“ der Toleranz bestehe „bloß“ darin, „den irrenden Nächsten von dem Irrthum seines Weges nach und nach unter dem Seegen Gottes zu überzeugen […], wozu sie theils alle Evangelische Mittel, doch ohne Zwang anwendet, theils die Hindernisse aus dem Wege räumet, und der Wahrheit Platz machet“.24 Toleranz wird hier also schlussendlich als Instrument zur Verbreitung des Christentums definiert. Die „Irr-Gläubigen“, die dem Anonymus nach aus „allgemeine[r] Liebe und Erbarmung“ bekehrt würden, müssten die „Billigkeit und Gerechtigkeit in diesem Stück erkennen und bekennen“.25 Kann ein Jude gemäß der verleumderischen ‚jüdischen Anthropologie‘, wie sie im Universal-Lexicon ausgebreitet wird, die angebliche Liebestat als solche anerkennen? Müssen Juden, die für verstockt und irrational erklärt werden, diese ‚Liebe‘ erwidern? Die Darstellung des jüdischen Volkes im Zedler, die in derart widersprüchlichen Forderungen mündet, verdeutlicht den äußerst ambivalenten Charakter der zeitgenössischen Selbstdefinition des Christentums als einer „Religion der besseren Ethik“,26 die als solche anerkannt werden wollte, die aber gleichzeitig Juden als unfähig dachte, ihr diese Anerkennung entgegenzubringen.27 Die jüdische Religion, wie sie von Christen konstruiert wurde, konnte nicht die Quelle der vom Christentum gewünschten identifikatorischen Bestätigung sein. Diese Bestätigung 23 24 25 26 27
Ebd., 1116. Ebd. Ebd. Kampling, Christentum, 52–68, hier 52. Mendelssohn selbst äußert sich ausdrucksstark in einer zu Lebzeiten unveröffentlichten Notiz über die Aporien der christlichen Identität (Was ihn zu diesem Schritte bewogen?, in: JubA, Bd. 7, 64): „Wozu die Menge Widerlegungen des Judenthums, da wir doch, wie jeder Schüler weiß, gänzlich zu Boden sind? – Sollen wir uns bekehren! Wir sind ja verstockte, muthwillig verstockte Bösewichter, die die Warheit sehen und nicht erkenen wollen. Dieses wird ja in allen Lehrbüchern bewiesen. Zwar kan ein vernünftiger Man ˂nicht˃ begreiffen, wie es möglich sey, muthwillig eine Warheit nicht erkenen zu wollen, die mich von Schmach und Unterdrückung befreyen würde. Allein was braucht es ein Vernünftiger zu begreifen? Freylich, daß dieses verachtete, verstoßene Häuflein noch imer existiret – Gesegnet sey die Asche des menschenfreundl. Theologen, der zuerst gesagt, Gott erhielt uns als einen sichtbaren ˂Beweis˃ von der W. [Wahrheit] der N. [Nazarenischen] Religion. Ohne diesen schönen Einfall wären wir, menschlicher Weise zu reden, längstens aufgerieben. Es ist freylich sonderbar, daß dieser sichtbare Beweis sich selber für keinen Beweis hält. Es läßt sich freylich nicht begreiffen, warum uns die N. [Nazarener] bekehren, und also den sichtbaren Beweis ihres Glaubens vernichten wollen.“
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wäre nur vonseiten eines Juden möglich gewesen, der kein Jude mehr war. Einen solchen sahen christliche Zeitgenossen in dem Philosophen Mendelssohn, der – um ein Christ zu werden – vermeintlich nur noch eines äußerlichen Aktes des Übertritts bedurfte. Es sollte sich lediglich um eine Formalie handeln, die eine im Inneren bereits vollzogene Hinwendung zum Glauben an den menschgewordenen Sohn Gottes sichtbar zu machen und sakramental zu besiegeln hatte: „[N]ur noch ein Schritt, so sind Sie einer der unsrigen geworden!“28 Mendelssohn entsprach in keiner Weise dem im Universal-Lexicon gezeichneten Judenbild. Diese Diskrepanz von Realität und Erwartung bedeutete die Infragestellung der fundamentalen kulturellen Chiffre der preußischen Gesellschaft. Wie tief die epistemische Verstörung reichte, wird aus der Gegenüberstellung zweier zeitgenössischer Aussagen ersichtlich. Im hier bereits mehrfach zitierten Beitrag aus dem Universal-Lexicon charakterisiert der Verfasser das vermeintliche jüdische Äußere: „Gewiß, ein Juda hat etwas an sich, daran man ihn bald erkennen, und von andern Menschen unterscheiden kan. Sie sind einem ein Eckel und Grauen, und Stanck und Unflat machet sie abscheulich, wie ihnen gedrohet worden.“29 Diese hasserfüllte Rhetorik des anonymen Autors hat mit dem Mendelssohn-Portrait, das einer der bekanntesten Opponenten des jüdischen Philosophen, der reformierte Zürcher Pfarrer und Begründer der Physiognomik Johann Caspar Lavater (1741–1801), zeichnete, nichts gemein. Im ersten Band der Schrift Physiognomische Fragmente (1775), in der die Lehre von der Übereinstimmung der äußeren Gestalt des Menschen mit seinen inneren Eigenschaften vertreten wird, beschreibt Lavater folgendermaßen Mendelssohns Gesicht: Vermuthlich kennst du diese Silhouette? Ich kann dir’s kaum verhelen! Sie ist mir gar zu lieb! gar zu sprechend! […] Ich weide mich an diesem Umrisse! Mein Blick wälzt sich von diesem herrlichen Bogen der Stirne auf den scharfen Knochen des Auges herab […]. In dieser Tiefe des Auges sitzt eine Sokratische Seele! Die Bestimmtheit der Nase; – der herrliche Uebergang von der Nase zur Oberlippe – die Höhe beyder Lippen, ohne daß eine über die andere hervorragt, o wie alles dieß zusammenstimmt, mir die göttliche Wahrheit der Physiognomie fühlbar und anschaulich zu machen. Ja, ich seh ihn, den Sohn Abrahams, der einst noch mit Plato und Moses – erkennen und anbeten wird, – den gekreuzigten Herrn der Herrlichkeit!30
Diese Passage, in der die Bewunderung für die Wohlgeformtheit der äußeren Gestalt mit der Hoffnung auf die Konversion des Portraitierten verknüpft wird,
28 [Cranz,] Forschen nach Licht und Recht, 41. 29 Art. Juden, oder Jüden, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 14, 1500. 30 Lavater, Physiognomische Fragmente, 243 f. (Hervorhebungen im Original).
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erschien sechs Jahre, nachdem Lavater Mendelssohn zu bekehren versucht und damit einen die Öffentlichkeit scharf polarisierenden Streit ausgelöst hatte. 1769 hatte er die selbst angefertigte Teilübersetzung der Palingénésie philosophique des Genfer Naturwissenschaftlers und philosophischen Schriftstellers Charles Bonnet (1720–1793) mit einer Widmung an den jüdischen Philosophen veröffentlicht. In dem beigefügten Zueignungsschreiben stellte er Mendelssohn ein Ultimatum, mit dem die im Zedler’schen Lexikon zum Ausdruck kommende epistemische Ordnung wiederhergestellt und die Aporien der christlichen Identität befriedet werden sollten. Er dürfe es wagen, Mendelssohn zu „bitten“: diese Schrift […] öffentlich zu widerlegen, wofern Sie die wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christenthums unterstützt sind, nicht richtig finden: Dafern Sie aber dieselben richtig finden, zu thun, was Klugheit, Wahrheitsliebe, Redlichkeit Sie thun heissen; – was Socrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte.31
Die meisten Zeitgenossen, einschließlich des Betroffenen, verstanden unter dieser Formulierung einen Bekehrungsversuch, von dem Lavater sich nie distanzierte: Entweder sei Mendelssohn imstande, Bonnets Argumente zu widerlegen oder er möge sich, von ihnen überzeugt, zum Christentum bekennen. Der blinde Eifer, mit dem Lavater einen Juden herausforderte, traf auf viel Unverständnis aufseiten des aufgeklärten Publikums, denn Mendelssohn konnte das ihm gestellte Ultimatum nicht beantworten, ohne die Ausweisung aus Preußen in Kauf zu nehmen. Der Christ wandte sich an einen bloß Geduldeten, dem die Hände gebunden waren und der eine Antwort, wie er sie hätte geben wollen, nicht geben konnte. Andererseits wünschten sich viele Zeitgenossen, dass Mendelssohn sein Verbleiben im Judentum begründet.32 Diese Aufforderung, mit der ihm die Pflicht zur Selbstlegitimation auferlegt wurde, war innerhalb einer epistemischen
31 Vgl. Zueignungsschreiben Johann Caspar Lavaters an Moses Mendelssohn, in: JubA, Bd. 7, 3 (Hervorhebungen im Original). Zu Mendelssohns Auseinandersetzung mit Lavater siehe Simon Rawidowicz’ Einleitung, in: JubA, Bd. 7, XI–LXXX sowie Altmann, Mendelssohn, 194–263; Bourel, Mendelssohn, 279–318; Feiner, Mendelssohn, 85–106; Jurewicz, Mendelssohn über die Bestimmung des Menschen, 99–120; Meyer, Von Mendelssohn zu Zunz, 33–46. 32 Vgl. bspw. Johann Gottfried Herder an Mendelssohn am 1. Dezember 1769, in: JubA, Bd. 12.1, 201 (Hervorhebungen im Original): „Aber, mein Herr, wenn ein Dritter […] Sie bei Ihrer Antwort um Etwas bitten dürfte: so wäre es, nicht blos auf Bonneten zu antworten […], sondern die Sache überhaupt zu nehmen und ja nicht blos zu sagen, wozu Sie kein Christ werden, sondern warum Sie ein Jude bleiben. Eine philosophische Widerlegung eines Beweises für die christliche Religion, den ich übrigens nicht kenne, ist nur ein halbes Werk: ein philosophischer Beweis von der Wahrheit der jüdischen Religion wäre was mehr, und ich wünschte, diesen nicht als Axiom vorausgesetzt zu sehen, sondern zuerst oder zuletzt bewiesen zu lesen.“
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Ordnung, in die sich ein Jude als Jude nur wider diese Ordnung einschreiben konnte, ein Akt massiver Gewalt. Mendelssohn weigerte sich, ein von ihm verlangtes religiöses Bekenntnis abzulegen. In den Stellungnahmen aus dieser Zeit erklärt er die Religion zur Privatsache und verteidigt sein Recht, über die eigenen religiösen Überzeugungen zu schweigen: Die verächtliche Meinung, die man von einem Juden hat, wünschte ich durch Tugend, und nicht durch Streitschriften widerlegen zu können. Meine Religion, meine Philosophie und mein Stand im bürgerlichen Leben geben mir die wichtigsten Gründe an die Hand, alle Religionsstreitigkeiten zu vermeiden, und in öffentlichen Schriften nur von denen Warheiten zu sprechen, die allen Religionen gleich wichtig seyn müssen.33
Die existentielle Verunsicherung und emotionale Erschütterung im Zuge des Streits mit Lavater führten bei Mendelssohn einen psychosomatischen Krankheitsschub herbei, der ihn für längere Zeit arbeitsunfähig machte. Die Ereignisse der Jahre 1769/1770, auch wenn sie in der individuell-biographischen Perspektive eine Krise bedeuteten, gingen jedoch mit einer Politisierung des Philosophen einher, die sich geistesgeschichtlich als relevant erweisen sollte. Die Antwort „qua Verweigerung“,34 die er seinem Herausforderer gab, blieb nicht sein letztes Wort.
3.
Das Wagnis der Freundschaft
Die Begeisterung des 18. Jahrhunderts für die Freundschaft ist kaum verwunderlich, schließlich schienen manche der aufklärerischen Ideale durch sie umsetzbar zu sein. Wenn nicht im Verhältnis der Freunde zueinander, wo sonst sollte es wahrscheinlicher sein, Humanität und Vorurteilslosigkeit zu erleben? Der ideologische Kontext, in den das Phänomen der Freundschaft im Zeitalter der Aufklärung eingebettet war, begünstigte die Praxis einer interreligiösen amikalen Beziehung. In einem durch die Freundschaft gestifteten Kommunikationsraum gingen die Freunde über die Grenzen der jeweils eigenen sozialen Welt hinaus. Für deutsche Juden tat sich mit der Möglichkeit einer solchen Freundschaft mit Christen eine Sphäre auf, in der sie Zugang zur mehrheitlichen Kultur erlangen und die ihnen in der Öffentlichkeit verweigerte Anerkennung erfahren konnten. Weder für Juden noch für Christen war es zuvor üblich, mit dem jeweils Anderen freundschaftlich verbunden zu sein. Auch wenn es kein jüdisches Verbot interreligiöser Freundschaften gab, war diese Idee innerhalb des traditionellen Judentums
33 Mendelssohn, Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich, in: JubA, Bd. 7, 10. 34 Jurewicz, Mendelssohn über die Bestimmung des Menschen, 112–116, hier 112.
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„novel, perhaps even radical“.35 Beinahe unmöglich musste dem jüdischen Paria ein auf Vertrauen und Gleichheit beruhendes Freundschaftsverhältnis mit einem Christen erscheinen: „One cannot think of cultivating friendship under conditions of persecution, forced conversion, repeated expulsion, abuse, and fear that characterized many, though surely not all, moments in Jewish life.“36 Trotzdem gab es in der Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen immer wieder Persönlichkeiten, die das konventionelle Beziehungsparadigma sprengten. Zweifelsohne gehörte Mendelssohn zu diesen Persönlichkeiten, deren „extraordinary friendships were to provide a model for generations of Jews and Christians to come“.37 Mendelssohns umfassender Briefwechsel bietet ein eindrückliches Zeugnis von der geistig-intellektuellen, emotionalen und emanzipativen Bedeutung einer sich im Medium der Schrift realisierenden interkulturellen Freundschaft. Eine der Freundschaften des Philosophen – seine Beziehung zu Gotthold Ephraim Lessing – wurde kraft der mythenbildenden Eigenschaft kollektiven Erinnerns gar zu einem deutschjüdischen Erinnerungsort.38 In dieser Freundschaft schien sich das Versprechen einer vom Fluch des Antisemitismus befreiten jüdischen Geschichte mikrohistorisch erfüllt zu haben. Ein Erlebnismuster von vergleichbarer existentieller Tragweite, in dem sich die Erfahrung freundschaftlicher Verbundenheit zu einem Beleg für die Möglichkeit einer deutsch-jüdischen Symbiose verdichtete, fand sich in Mendelssohns Verhältnis zu dem Philosophen und Mathematiker Thomas Abbt – mit der Ausnahme, dass diese Freundschaft zu keinem kollektiven Erinnerungsinhalt wurde und damit eine überindividuell-historische Wirksamkeit nicht entfalten konnte. In beiden Fällen handelte es sich um langjährige Beziehungen, in denen im Horizont geteilter Werte und Ideale das private Glück und Unglück, existentielle Fragen und gemeinsame wissenschaftliche Projekte Gegenstand einer kontinuierlichen, die räumliche Distanz überwindenden Verbindung waren. Mendelssohn erlebte seine Freundschaftsbeziehungen – insbesondere die beiden hier genannten interreligiösen Freundschaften – als ‚Bildungsinstitutionen‘, welche die gegenseitige Vervollkommnung der Involvierten ermöglichten. Diese Art des Empfindens war bei ihm kulturell nach zwei Richtungen hin verwurzelt. Sie deckte sich einerseits mit dem der Antike verpflichteten aufklärerischen Ideal der Bildung durch Freundschaft, hatte jedoch ihren Ursprung ebenfalls im innerjü-
35 36 37 38
Goshen-Gottstein, Jewish Friendship, 17. Ebd. Berghahn, On Friendship, 14. Vgl. Ehrenfreund, Mendelssohn, 265–269.
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dischen amikalen Ethos, das dem rabbinischen Verständnis der Freundschaft als Lerngenossenschaft zwecks des Studiums der Thora entstammte.39 Die traditionelle jüdische Definition des Freundes als „an instrument for the study of Torah“40 wurde in Mendelssohns Praxis interreligiösen Gesprächs im Namen der Freundschaft zu einer außerkonfessionellen, wenngleich nicht säkularen Lerngenossenschaft kulturell umkodiert. Während die positiven Religionen nicht ihr Gegenstand waren, setzte sie einen ideellen Minimalkonsens im Geiste der natürlichen Religion voraus. Das Einverständnis hinsichtlich „jene[r] Hauptgrundsätze […], in welchen alle Religionen übereinkommen, und ohne welche die Glückseligkeit ein Traum, und die Tugend selbst keine Tugend mehr ist“,41 womit die Lehrsätze von der Existenz Gottes, Vorsehung und Unsterblichkeit der Seele gemeint waren, machte aus interreligiöser Freundschaft eine Verbindung von Theisten. Sie sollten gemeinsam fähig sein, sich dem „Polytheismus, Anthropomorphismus und religiöse[r] Usurpation“ entgegenzusetzen.42 Freundschaft war diesem Verständnis nach nicht nur ein Schauplatz individueller Bildung, sondern auch jener Ort, von dem die Gesellschaft zivilisierende Impulse empfangen konnte. Nach dem Selbstverständnis der Involvierten diente sie also nicht nur der Sorge des Einzelnen um sich selbst, sondern auch der Sorge um das übergreifende Ganze.
39 Zur Freundschaft in der jüdischen Geistesgeschichte siehe Borowitz, Friendship; Grünewald, Freundschaft im Judentum; Hezser, Rabbis and Other Friends; Michaelis-König, Versprechen der Freundschaft; Lenhard, Wahlverwandtschaften. 40 Goshen-Gottstein, Jewish Friendship, 5. 41 Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: JubA, Bd. 8, 131. 42 Mendelssohn an Herz Homberg am 22. September 1783, in: JubA, Bd. 13, 134. Von einer Verbindung „ächthe[r] Theisten“ spricht Mendelssohn im Zusammenhang mit der von ihm postulierten absoluten Gültigkeit der jüdischen Offenbarung. Diese Verbindung soll am besten durch die Sprache des Handelns herstellbar sein, so dass das am Sinai offenbarte Gesetz, auch wenn es von Gott im Zuge einer wiederholten Offenbarung annulliert werden würde, seine Funktion als eine solche nonverbale Sprache, die die Kommunikation über die individuellen Differenzen der Kommunikationspartner hinweg zu ermöglichen imstande sei, behielte. Diese Rolle der Halacha begründet Mendelssohn mit dem Argument, dass jede verbale Kommunikation aufgrund der Unüberprüfbarkeit der subjektiven Verstehensprozesse, des geschichtlichen Charakters begrifflicher Apparate und der fundamentalen Unterschiedlichkeit der Menschen zu Missverständnissen führe. Alle Versuche, diese natürliche Ausdifferenzierung von Lebens- und Ausdrucksformen und die damit zusammenhängende Mehrdeutigkeit der sprachlichen Kommunikation aufzuheben, indem individuelle Interpretationsakte auf konkrete Bedeutungen verpflichtet würden, lehnt Mendelssohn als autoritär ab. Aus denselben Gründen weist er die zeitgenössisch populäre Idee einer Einheitsreligion zurück, in welcher er nur eine weitere Bemühung sieht, Juden ihre religiöse und kulturelle Partikularität zu nehmen (vgl. Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: JubA, Bd. 8, 200–204). Im Brief an Homberg spricht Mendelssohn einer über die verbale Kommunikation hinausgehenden, der Ambiguität und Andersartigkeit von Zeichen gegenüber aufgeschlossenen zwischenmenschlichen Verbindung eine heilsgeschichtliche Bedeutung zu. Seine interreligiösen Freundschaften, wie er sie begriff, lassen sich als solche Beziehungen interpretieren.
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Die interreligiösen Freundschaften, in denen Mendelssohn als er selbst sprach, sich durch Menschen affizieren ließ und sie selbst affizierte, bildeten für ihn Räume der Resonanz.43 Er konnte darin mit einem stellvertretenden Anderen eine „Antwortbeziehung“44 eingehen und sich in dieser Beziehung als selbstwirksam erfahren. Das schloss das Moment mangelnder Übereinstimmung nicht aus. Schließlich scheint gerade dem interreligiösen Kontext der Dissens im Sinne eines Widerstreits existentieller und epistemischer Perspektiven konstitutiv eingeschrieben zu sein.45 In der Öffentlichkeit war es Juden aufgrund der politisch angeordneten Unterdrückung und Fremdbestimmung unmöglich, „sich Resonanzräume zu erschließen“.46 Die Demütigung durch die autoritäre Politik, die den Zugang zu den dafür notwendigen Ressourcen an die Bedingung knüpfte, dass Juden ihre kulturelle Differenz aufgäben, konterkarierte Mendelssohn mit entgegengesetzten Erfahrungen der authentischen Affirmation durch Andere. Den interreligiösen Freundschaften als sozialen Räumen, in denen diese Erfahrungen ermöglicht wurden, kam dabei die Bedeutung einer Gegenöffentlichkeit zu, in welcher die von Juden in der öffentli-
43 Die Resonanz-Metapher benutzt Hartmut Rosa in seiner „Soziologie der Weltbeziehung“, so der Untertitel seiner Studie, als heuristisches Instrument zur Analyse sozialer Phänomene. Zur Definition der Resonanz siehe Rosa, Resonanz, 281–298, hier 298 (Hervorhebung im Original): „Resonanz ist eine durch Affizierung und Emotion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren. Resonanz ist keine Echo-, sondern eine Antwortbeziehung; sie setzt voraus, dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen, und dies ist nur dort möglich, wo starke Wertungen berührt werden. Resonanz impliziert ein Moment konstitutiver Unverfügbarkeit.“ Bzgl. der resonanztheoretischen Deutung der Freundschaft siehe ebd., 353–362. Zu einer Verwendung des Resonanzbegriffs zwecks theoretischer Fundierung interreligiöser Freundschaft siehe Goshen-Gottstein/Murray, Introduction. Die Autoren bezeichnen mit dem Begriff „resonance of being“ eines der Merkmale der Freundschaft: „Such resonance may point to a similar psychological, spiritual, or metaphysical chord that both parties to the relationship strike. It may also point to complementarity, based upon their differences“ (ebd., XXXIV f). 44 Rosa, Resonanz, 359. 45 Vgl. Mendelssohn, Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich, in: JubA, Bd. 7, 13 (Hervorhebung im Original): „Ich habe das Glück, so manchen vortreflichen Mann, der nicht meines Glaubens ist, zum Freunde zu haben. Wir lieben uns aufrichtig, ob wir gleich vermuthen, und voraussetzen, daß wir in Glaubenssachen ganz verschiedener Meinungen sind. Ich genieße die Wollust ihres Umganges, der mich bessert und ergötzt. Niemals hat mir mein Herz heimlich zugerufen: Schade für die schöne Seele!“ Vgl. auch ders., Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: JubA, Bd. 8, 134 f. 46 Rosa, Resonanz, 313.
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chen Sphäre erfahrene Entfremdung47 – zumindest partiell – aufgewogen werden konnte. Die Beziehung zwischen Mendelssohn und Lessing konstituierte ein Exemplum, dessen Strahlkraft über ihre Generation hinaus Wirkung entfaltete. Wider alle Macht der Tatsachen behielt dieses Beispiel einer deutsch-jüdischen Freundschaft bis in die 1920er Jahre hinein seine Bedeutung als Gegenpol zur antisemitisch kodierten Öffentlichkeit.48 Bereits zu Beginn ihrer Geschichte wurde jedoch die Verbindung zwischen dem Juden und dem Pfarrerssohn zur Zielscheibe der Judenhasser. 1785 geriet Mendelssohn in eine öffentliche Auseinandersetzung mit Friedrich Jacobi, der Lessing des Atheismus beschuldigt hatte. Mendelssohn stellte sich auf die Seite seines einige Jahre zuvor verstorbenen Freundes im Wissen darum, dass das christliche Publikum hier nicht nur über die Ehre eines Menschen, sondern auch über das Schicksal der Idee einer authentischen Gemeinschaft zwischen Juden und Christen zu Gericht saß. Das Drama Nathan der Weise (1779), in dem Lessing zur Freundschaft über die religiösen Differenzen hinweg aufruft, galt Mendelssohn als der schlagende Beweis für dessen Theismus. „Wir müssen, müssen Freunde sein!“49 Gottlos kann nur eine Welt sein, in der dieser Satz, den Nathan an den Tempelherrn richtet, auf Widerstand stößt.
4.
Herrschaft und Toleranz
Die Erfahrungen von Resonanz und Entfremdung, die Mendelssohn mit seinen christlichen Freunden und Feinden machte, übten in ihrer Gleichzeitigkeit einen politisierenden Einfluss auf ihn aus. In den 1780er Jahren engagierte er sich intensiv als „Initiator und Mentor“ der Debatte um die ‚bürgerliche Verbesserung der Juden‘.50 Diese Praxis der öffentlichen Einflussnahme – „der mutige Schritt von der literarischen zur politischen Aufklärung“51 – stellte im Vergleich zu seinen früheren Aktivitäten als Fürsprecher jüdischer Gemeinden, von denen er mit diplomatischem Geschick manches Unglück abwenden konnte, eine Radikalisierung 47 Zur Entfremdung vgl. ebd., 299–316, hier 306 (Hervorhebung im Original): „Entfremdung bezeichnet […] eine Form der Welterfahrung, in der das Subjekt den eigenen Körper, die eigenen Gefühle, die dingliche und natürliche Umwelt oder aber die sozialen Interaktionskontexte als äußerlich, unverbunden und nichtresponsiv beziehungsweise als stumm erfährt.“ Sie kann „immer dann und dort überwunden [werden], wo Subjekte in der Interaktion die Erfahrung machen, dass sie von anderen oder anderem berührt werden, dass sie aber auch selbst die Fähigkeit haben, andere(s) zu berühren […].“ 48 Vgl. Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. 49 Lessing, Nathan der Weise, II 5, v. 533. 50 Heinrich, Mendelssohn als Initiator und Mentor. 51 Berghahn, Von der Last, 152.
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seiner politischen Tätigkeit dar. Der Philosoph, dem die Zeitgenossen enorme Harmoniebedürftigkeit und Konfliktscheu nachsagten, kämpfte für die Belange des Judentums in seinen letzten Lebensjahren nicht nur als Intellektueller, der mit dem „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“52 gegen die repressive politische Praxis vorging; er ergriff auch als Jude das Wort und setzte sich damit konsequent der antijüdischen Polemik aus.53 1782 veröffentlichte Mendelssohn seine erste explizite Intervention zur Emanzipationsdebatte: die Vorrede zu einer Übersetzung der Schrift des Amsterdamer Rabbiners Menasseh ben Israel Vindiciae judaeorum (1656). Den Text markierte er auf dem Titelblatt als „Anhang“ zu Christian Wilhelm von Dohms Abhandlung Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781), in der der preußische Beamte für die jüdische Minderheit „vollkommen gleiche Rechte mit allen übrigen Unterthanen“ forderte.54 Mendelssohn stimmt in seiner Vorrede in den meisten Punkten mit Dohm überein. Die zeitgenössische Misere des Judentums gehe auf Verfehlungen derjenigen Völker zurück, unter denen Juden lebten. Sie wurzele in Unterdrückung und Verweigerung der bürgerlichen Rechte, denen das Gift des nie versiegenden Vorurteils zugrunde liege. Die mittelalterlichen Legenden über Brunnenvergiftungen, Schändungen von Heiligtümern und rituellen Gebrauch christlichen Blutes würden zwar nicht mehr offen gepredigt; ihr affektiver Kern – der Hass auf Juden – bleibe jedoch unangetastet und werde in einer modernisierten, ‚aufklärungskonformen‘ Gestalt präsentiert: Itzt ist es gerade Aberglaube und Dumheit, die uns vorgerückt werden; Mangel an moralischem Gefühle, Geschmack und feinen Sitten; Unfähigkeit zu Künsten, Wissenschaften und nützlichem Gewerbe, hauptsächlich zu Diensten des Krieges und des Staates; unüberwindliche Neigung zu Betrug, Wucher und Gesetzlosigkeit, die an die Stelle jener gröbern Beschuldigungen getreten sind, uns von der Anzahl nützlicher Bürger auszuschließen, und aus dem mütterlichen Schoße des Staats zu verstoßen.55
Zwar treffe die Bekehrungswut die Juden heute nicht mehr mit demselben Impetus; zu verstockt und missionsresistent seien sie gewesen. Dafür vernachlässige man sie nun komplett – aus dem Glauben heraus, nichts Gutes mehr für sie tun zu können. Mit verbundenen Händen könne sich aber kein Jude selbst helfen:
52 53 54 55
Habermas, Wahrheitstheorien, 161. Vgl. Heinrich, Mendelssohn als Initiator und Mentor, 41. Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, 60. Mendelssohn, Vorrede zu Manasseh Ben Israel Rettung der Juden, in: JubA, Bd. 8, 6.
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Man fährt fort, uns von allen Künsten, Wissenschaften und andern nützlichen Gewerben und Beschäftigungen der Menschen zu entfernen; versperret uns alle Wege zur nützlichen Verbesserung, und macht den Mangel an Cultur zum Grunde unserer fernern Unterdrückung. Man bindet uns die Hände, und macht uns zum Vorwurfe, daß wir sie nicht gebrauchen.56
Zum Ende der Vorrede kritisiert Mendelssohn – und widerspricht damit Dohm – das Recht religiöser Gemeinschaften, die mangelnde Konformität eigener Mitglieder mit dem Ausschluss aus ihren Reihen zu bestrafen.57 Der Text schließt mit einer Ansprache an die synagogale Elite: Ach! meine Brüder! ihr habt das drückende Joch der Intoleranz bisher allzuhart gefühlt, und vielleicht eine Art von Genugthuung darinn zu finden geglaubt, wenn euch die Macht eingeräumet würde, euern Untergebenen ein gleichhartes Joch aufzudrücken. Die Rache suchet ihren Gegenstand, und wenn sie andern nichts anhaben kan; so nagt sie ihr eigenes Fleisch. Vielleicht auch ließet ihr euch durch das allgemeine Beispiel verführen. Alle Völker der Erde schienen bisher von dem Wahne bethört zu seyn, daß sich Religion nur durch eiserne Macht erhalten; Lehren der Seeligkeit nur durch unseeliges Verfolgen ausbreiten, und wahre Begriffe von Gott, der nach unser aller Geständniß, die Liebe ist, nur durch die Wirkung des Hasses mittheilen lassen. Ihr ließet euch vielleicht verleiten eben dasselbe zu glauben, und die Macht zu verfolgen war das euch wichtigste Vorrecht, das eure Verfolger euch einräumen konten.58
In seinem Aufruf an die jüdischen Obrigkeiten weist Mendelssohn auf die demoralisierende Macht der Herrschaft hin. Vor der Perversion der Macht sei nicht einmal der Paria sicher, denn der Missbrauch der Gewalt mache Unterdrückte zu Unterdrückern. Die eigene Ohnmacht verführe zur Gewalt, rufe das Bedürfnis nach Rache wach und lasse das Gewohnte kritiklos nachahmen. Mendelssohns Kritik am Bannrecht verdeutlicht eine gleichsam historische wie systematisch bedingte Diskurskonstellation, in der die Forderung nach Toleranz im Kontext von Macht und Herrschaft auftrat. Die Verbindung der Toleranzpraxis mit Gewalt, die der Willkürlichkeit des Einverständnisses mit der Präsenz des Anderen entsprang, spiegelte sich im zeitgenössischen Sprachgebrauch wider. Die Toleranz wurde als „zeitlich befristetes Sonderrecht“59 verstanden, das sich auf eine „weder als wertvoll noch als gleichberechtigt angesehene […] Überzeugung oder
56 57 58 59
Ebd. Vgl. ebd., 21–24. Ebd., 25. Schreiner/Besier, Toleranz, 574.
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Praxis“ bezog.60 Diese Art von Toleranz diente der Beherrschung von Minderheiten. Konsequenterweise argumentiert Mendelssohn, dass die Allianz von Herrschaft und Toleranz auseinandergerissen werden müsse. So wie er gegen das Bann-Recht „eine ahierarchische Solidarität“61 als das Fundament aller Religionen geltend macht, verlangt er von der regierenden Partei, dass sie ihrer Macht entsage. Der Zirkel des mangelnden Bürgersinns und der damit begründeten Unterdrückung könne nur von dem Stärkeren durchbrochen werden: Wenn bisher von Duldung und Vertragsamkeit unter den Menschen gesprochen ward; so war es immer die schwächere, bedrückte Partey, die sich unter dem Schutze der Vernunft und der Menschlichkeit zu retten suchte. Der herrschende Theil hatte entweder für beyde keinen Sinn, oder stützte sich auf die leider! allzu gemeine Erfahrung, daß der schwächere Theil, an allen Orten, wo er Macht und Gelegenheit dazu hat, es nicht besser machen würde, und gründete hierauf den Argwohn, daß man ihm nur das Heft aus den Händen zu winden suche, um die Spitze wider ihn selbst zu kehren. Man schien nicht zu überlegen, daß dieser Argwohn nothwendig Haß und Zwiespalt unter den Menschen verewigen müsse, und daß der Geist der Versöhnung, so wohl als die Liebe, vom starken Theile die ersten Schritte fordert. Dieser muß sich seiner Überlegenheit entäussern, und anbieten, wenn der schwächere Theil Zutrauen gewinnen, und erwidern soll. Ist es Zweck der Vorsehung, daß der Bruder den Bruder lieben soll, so ist es offenbar die Pflicht des Stärkeren, den ersten Antrag zu thun, die Arme auszustrecken, und, wie August zu rufen: Laß uns Freunde seyn!62
Wahrhaftig zu dulden bedeutet demnach, sich der gesellschaftlichen Verantwortung aufgrund der eigenen Überlegenheit bewusst zu werden und die Inferiorisierung der Teile der Gesellschaft zurückzunehmen. Sobald Juden „an allen Rechten und Pflichten der Menschheit Theil nehmen“ würden, werde auch ihre ‚bürgerliche Verbesserung‘ nicht lange auf sich warten lassen.63
60 Forst, Toleranz im Konflikt, 42 ff., hier 44; auch ders., Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, 124 f., hier 125. Forst charakterisiert dieses Verständnis der Toleranz als „Erlaubnis-Konzeption“. Zur Geschichte des Toleranzbegriffs siehe Schlüter, Französische Toleranzdebatte, 10–29; Schlüter/ Grötker, Toleranz; Schreiner/Besier, Toleranz. 61 Heinrich, Mendelssohn als Initiator und Mentor, 52. 62 Mendelssohn, Vorrede zu Manasseh Ben Israel Rettung der Juden, in: JubA, Bd. 8, 3. 63 Ebd.
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5.
Die Freiheit, der eigenen Bestimmung folgen zu können
In der Vorrede zu Vindiciae judaeorum bringt Mendelssohn ein im Kontext der Toleranzdebatte zentrales Argument für die innere Freiheit des Menschen vor, mit dem er die Forderung nach der politischen Befreiung der Juden zur vollständigen bürgerlichen Teilhabe stützt. „[U]nser Urtheil“, so Mendelssohn, ist „ein untrennbares, unbewegliches, und also unveräusserliches Eigenthum“, worin es sich in nichts vom Recht des Menschen unterscheidet, den eigenen „Hunger zu stillen, oder freyen Odem zu ziehen“.64 So erscheint die liberale Politik, die das alleinige Verfügungsrecht des Menschen über seine Gedanken und Gesinnungen respektiert, als die notwendige Voraussetzung für das gesellschaftliche Wachstum. Diese Überlegungen entwickelt Mendelssohn in Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) zu einer umfassenden naturrechtlichen Argumentation, die auf die Klärung der Zuständigkeitsbereiche von Staat und Religion zielt; und zwar in der Weise, „daß sie sich die Wage halten, daß sie nicht vielmehr Lasten des gesellschaftlichen Lebens werden, und den Grund desselben stärker drücken, als was sie tragen helfen“.65 Die Freiheit weist er dabei als das Signum der menschlichen Natur aus.66 Weder staatliche noch kirchliche Institutionen, deren „Pflicht“ Mendelssohn darin sieht, „die menschliche Glückseligkeit in diesem und jenem Leben, durch öffentliche Vorkehrungen, zu befördern“,67 dürften dem Menschen sein Recht, über die eigenen Gedanken, Gesinnungen und Überzeugungen zu verfügen, streitig machen. Die Macht des Staates habe an der Grenze haltzumachen, an der die Konformität des Handelns mit dem Gesetz gewährleistet sei. Um diese äußere Übereistimmung von Tun und Vorschrift durchzusetzen – und nur zu diesem Zweck –, setze die staatliche Obrigkeit Gewaltmittel ein. Der Religion wiederum stehe es in keiner Weise zu, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen und damit die äußere oder innere Freiheit einzuschränken. Ihre einzigen Mittel, mit denen sie Einfluss auf den Menschen nehmen könne, seien die Kraft der Überredung und die Macht der Liebe. Der Staat gebietet und zwinget; die Religion belehrt und überredet; der Staat ertheilt Gesetze, die Religion Gebote. Der Staat hat physische Gewalt und bedient sich derselben, wo es nöthig ist; die Macht der Religion ist Liebe und Wohlthun. […] Mit einem Worte: die bürgerliche Gesellschaft kann, als moralische Person, Zwangsrechte haben, und hat diese auch durch den gesellschaftlichen Vertrag würklich erhalten. Die religiöse Gesellschaft
64 Ebd., 20. 65 Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: JubA, Bd. 8, 103. 66 Vgl. ebd., 137: „Grundsätze sind frey. Gesinnungen leiden ihrer Natur nach keinen Zwang, keine Bestechung.“ 67 Ebd.
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macht keinen Anspruch auf Zwangsrecht und kann durch alle Verträge in der Welt kein Zwangsrecht erhalten.68
Auch wenn staatliche und kirchliche Institutionen Mendelssohn zufolge über unterschiedliche Werkzeuge verfügen, verfolgen sie das gleiche Ziel: Sie wirkten erziehend darauf hin, dass der Bürger moralische Kompetenz erlange und das Gesetz nicht aus Angst vor Konsequenzen, sondern aus Überzeugung befolge.69 In einer solchen Übereinstimmung von Handlung und Gesinnung sieht Mendelssohn den Zweck der menschlichen Existenz: Der Mensch sei „einzig und allein berufen und gewidmet […], rechtschaffen und in der Rechtschaffenheit glückseelig zu seyn, berufen und gewidmet […], nach Wahrheit zu forschen, Schönheit zu lieben, Gutes zu wollen, und das Beste zu thun“.70 Die Sittlichkeit – der Wille zum Guten und ein ihm entsprechendes Verhalten – wird hier als eine der Dimensionen der existentiellen Norm genannt, zu der auch die intellektuelle und ästhetische Bildung gehören sollen – und zwar derart, dass „eine wohlproportionirte Erweiterung“ aller menschlichen Kräfte und Anlagen,71 darunter auch des Körpers, dessen Gesundheit und Standhaftigkeit die Voraussetzung jeder anderen Entwicklung sei, stattfinde. „[D]ieses Fortstreben zur Vollkommenheit, dieses Zunehmen, dieser [sic] Wachsthum an innerer Vortrefflichkeit“72 macht nach Mendelssohn die Bestimmung des Menschen aus. Die Vervollkommnung des Einzelnen höre nie auf, er setze sie über das diesseitige Leben hinaus im Jenseits fort. Das Geschöpf Gottes nähere sich im Laufe seiner individuellen Existenz unaufhörlich der Vollkommenheit seines Schöpfers, auch wenn es ihm nie vergönnt sein werde, diese zu erreichen: Das Ziel dieses Bestrebens bestehet, wie das Wesen der Zeit, in der Fortschreitung. Durch die Nachahmung Gottes kann man sich allmählig seinen Vollkommenheiten nähern, und in dieser Näherung bestehet die Glückseligkeit der Geister; aber der Weg zu denselben ist unendlich, kann in Ewigkeit nicht ganz zurück geleget werden.73
Die umfassende Freiheit bestimmt Mendelssohn als die notwendige Voraussetzung dafür, dass der Mensch der eigenen Bestimmung zur Verbesserung aller seiner
68 69 70 71 72
Ebd., 114 (Hervorhebungen im Original). Vgl. ebd., 109–113. Mendelssohn, Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Correspondenz, in: JubA, Bd. 6.1, 48. Mendelssohn an Johann Gottfried Herder am 2. Mai 1769, in: JubA, Bd. 12.1, 186. Mendelssohn, Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele, in: JubA, Bd. 3.1, 114. Der Begriff der ‚Bestimmung des Menschen‘ kann als systematisches Zentrum von Mendelssohns Philosophie ausgewiesen werden. Zur monographischen Behandlung dieser These siehe Pollok, Facetten des Menschen und Jurewicz, Mendelssohn über die Bestimmung des Menschen. 73 Mendelssohn, Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele, in: JubA, Bd. 3.1, 113.
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Kräfte und Anlagen folgen und damit seine dem Willen Gottes entsprechende Wesenheit entwickeln kann. Die Anstalten des Gemeinwohls, die ihre Aufgabe, die Vervollkommnung des Einzelnen zu befördern, erfüllen wollen, müssen folglich diese Freiheit sichern und damit zuallererst die rechtliche Unterdrückung delegitimieren.
6.
Von der Universalität des Partikularen
Jedes Postulat von Verallgemeinerbarkeit eines bestimmten Lebensvollzugs wird autoritär, falls es sich mit Herrschaft verbindet, weil es die Partikularität als die universelle Norm auszugeben sucht. Mit einem entsprechenden Selbstverständnis wurde Mendelssohn seitens des zeitgenössischen Christentums jeden Tag aufs Schärfste konfrontiert. Gegen dieses Konzept wendet er sich in seiner Philosophie der menschlichen Bestimmung. Die konkrete Existenz ist Mendelssohn zufolge eine Summe universeller und besonderer Zwecke, die sich aus der bloßen Tatsache, ein Mensch zu sein, der gesellschaftlichen Stellung des Einzelnen und seiner religiösen und kulturellen Zugehörigkeit ergeben.74 Der Lebensvollzug eines Juden muss folglich eine besondere Dimension haben, ohne die seine Existenz als eine ausdrücklich jüdische, doch auch als eine ausdrücklich menschliche – der allgemeinen Definition der Bestimmung des Menschen entsprechende – nicht gedacht werden könnte. Demnach bestimmt Mendelssohn im zweiten Teil von Jerusalem, der eine der elaboriertesten Schilderungen des jüdischen Selbstverständnisses in der Moderne enthält, die Bestimmung des Juden als Jude in der Ausübung der Halacha: [I]ch glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigen Glükseligkeit zu gelangen; dergleichen Sätze und Vorschriften sind ihnen durch Mosen auf eine wunderbare und übernatürliche Weise geoffenbaret worden; aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeine Vernunftsätze.75
74 Dementsprechend unterscheidet Mendelssohn zwischen der Bestimmung des Menschen als Mensch und als Bürger; vgl. Ueber die Frage: was heißt aufklären?, in: JubA, Bd. 6.1, 116 ff. 75 Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: JubA, Bd. 8, 157 (Hervorhebung im Original). Zu Mendelssohns Verständnis des Judentums als Verbindung einer übernatürlichen Gesetzesoffenbarung mit der natürlichen Religion und der jüdischen Geschichte siehe ebd., 156–161, 164–169, 183 ff. und 191 ff.
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Die jüdischen religiösen Vorschriften definiert Mendelssohn als Signifikanten, die auf Wahrheiten der Vernunft bzw. der geschichtlichen Überlieferung hinwiesen. Im zeremoniellen Handeln, das an intersubjektive Akte gebunden sei, materialisiere sich unter dem Einsatz des Körpers die Bedeutung der einzelnen rituellen Gebote. Die Handlung höre auf, als Bezeichnendes zu existieren, nachdem sie ausgeführt worden und damit ihre sichtbare Komponente verschwunden sei. Dieses System „‚[i]nkarnierte[r] Zeichen‘ […], die körperlich erzeugt werden und in der Regel nur so lange präsent sind, wie sie von einem Zeichengeber vollzogen werden“,76 erfüllt Mendelssohn zufolge eine zweifache Funktion. Es stelle zum einen eine Erinnerungsstütze dar, mit der den Juden die Wahrheiten der natürlichen Religion und der jüdischen Geschichte sinnlich wahrnehmbar vorgeführt würden. Es bilde zum anderen einen wiederholten Anlass, sich in der religiösen Gemeinschaft der Gleichhandelnden über den Sinn der offenbarten Zeichen zu verständigen und ihre Bedeutung immer wieder neu zu ergründen. Die Suche nach ihrem Sinn solle nie aufhören, so wie die Praxis ihrer Reproduktion durch den Vollzug der gebotenen Handlungen nie aufhören dürfe. Diese ‚behaviorale Sprache‘ des Judentums – „das Band, welches Handlung und Betrachtung, Leben mit Lehre verbinden sollte“77 – macht Mendelssohn zufolge den Kern der jüdischen Lebensweise aus, die Juden die Erfüllung der eigenen partikularen und der allgemeinen menschlichen Ziele ermögliche und die damit die notwendige Bedingung ihrer Menschwerdung sei. Die jüdische Gesetzespraxis geht in Mendelssohns Deutung keineswegs in einer nur äußerlichen Übereinstimmung der Handlung mit der Vorschrift auf. Ein Judentum, das bloß in der Befolgung der Halacha bestünde, wäre eine verstümmelte Religion. Seine Besonderheit soll gerade in einer Verbindung von Ethik und Erkenntnis bestehen, die durch kulturelle Praktiken der kollektiven Verständigung über die Bedeutung der Offenbarung hergestellt würde. Als eine solche Synthese von Geist und Sinnlichkeit wird das Judentum in Mendelssohns Verständnis zu einer Religion der Vernunft. Die ‚Schrift des Gesetzes‘, die aufgrund ihrer Immaterialität vor der Gefahr der götzendienerischen Verwechslung des Zeichens mit seiner Bedeutung schütze, bereinige die menschliche Erkenntnis. Zudem sei das Judentum mit der inneren Freiheit des Menschen kompatibel, weil es die Offenbarung im christlichen Sinne einer göttlichen Weitergabe heilsnotwendiger, dem Glauben aufgegebener Wahrheiten nicht kenne. Die jüdische Religion fordere keinen Glauben an Dogmen, sondern eine bestimmte Lebenspraxis. Die vernünftige Religiosität, wie sie laut Mendelssohn vom Judentum verkörpert wird, darf von Juden um keinen Preis aufgegeben werden – nicht nur, weil sie dazu befähige, einer ganzheitlichen Vervollkommnung Folge zu leisten, sondern auch
76 Assmann, Zeichenkonzeptionen im Abendland, 710. 77 Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: JubA, Bd. 8, 193.
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aufgrund ihrer universellen Bedeutung. Das Schicksal der Menschheit sei von dem Schicksal des jüdischen Volkes abhängig, sofern es „eine priesterliche Nation“78 sei, die die Wahrheit des Monotheismus bezeuge und die anderen Nationen an den wahren Gottesbegriff erinnere. Die jüdische Präsenz in der Geschichte der Menschheit bewahre die Völker vor der „Barbarey“79 der Verabsolutierung der Zeichen aufgrund ihrer Verwechslung mit den Sachen selbst. Als ein System behavioraler Signifikanten, das mnemonische und die Erkenntnis fördernde Funktionen erfülle, als eine nicht reduktive hermeneutische Praxis und schließlich als lebendige, die Gemeinschaft stiftende Kommunikation korrigiere das Judentum kulturelle und zivilisatorische Missstände, die der Bestimmung des Menschen widersprächen. Andere Kulturen seien auf das Lernen vom Judentum angewiesen. Die universalgeschichtliche Dimension der eigenen Bestimmung könne jedoch das jüdische Volk nur in einem Gemeinwesen erfüllen, in welches die jüdische Kultur ohne Einbuße ihrer Partikularität, d. h. ohne ihre halachische Dimension aufzugeben, eingegangen sei. Eine von der Anerkennung der Andersartigkeit ausgehende Toleranz, die die Differenz bewahre, bilde die dafür notwendige Voraussetzung.
7.
Nicht Toleranz, sondern Wertschätzung
Mendelssohn verwarf Toleranz im Sinne eines mit Beherrschung und Stigmatisierung verbundenen Ertragens des Anderen. Die jüdische Geschichte lieferte ihm schließlich zahlreiche Belege für das soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Elend, das aus dieser Praxis einer „bloße[n] Erduldung und Vergleichgültigung“80 folgte. Die Toleranz sollte ihm zufolge auf eine aktive Anerkennung der Differenz aufgrund ihres irreduziblen Wertes zielen. In Übereinstimmung mit dieser Forderung bestimmte er alle Religionen als gleichwertig: Sie seien Erziehungsanstalten und damit Instrumente der menschlichen Vervollkommnung. Diese Rolle erfülle jede Religion in Entsprechung zum Entwicklungsstand des einzelnen Menschen und seinen besonderen Zwecken. Die Toleranz dürfe also nicht ein von Launen diktierter Gnadenakt der Obrigkeit sein. Sie sei „eine Pflicht der Regierung“.81
78 79 80 81
Ebd., 183 (Hervorhebung im Original). Ebd., 201. Hartung, Ende der Toleranz?, 355. Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: JubA, Bd. 8, 146. Sofern es sich bei Mendelssohn um die Anerkennung der Andersartigkeit handelt und diese als funktional gleichwertig verstanden wird, entspricht sein Verständnis der Toleranz in Forsts Schema der „Wertschätzungs-Konzeption“, die Forst als ethisch am anspruchsvollsten charakterisiert. Sie bedeutet nicht nur, „die Mitglieder anderer kultureller oder religiöser Gemeinschaften als rechtlichpolitisch Gleiche zu respektieren, sondern auch, ihre Überzeugungen und Praktiken als ethisch
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In dieser Argumentation verliert die Toleranz ihre Bedeutung als konventionelle Rechtsfigur und wird zu einem moralischen Imperativ, dessen Nicht-Erfüllung gegen das Sittengesetz verstößt. Die Anerkennung, die Mendelssohn mit einer funktionalistischen Begründung allen Religionen entgegenbrachte, blieb jedoch eine „reservierte“82 – sie schloss die Ablehnung bestimmter Differenzen nicht aus. In den zu Lebzeiten unveröffentlichten Stellungnahmen, die im Zuge der Auseinandersetzung mit Lavater entstanden, kritisierte Mendelssohn mit scharfen Worten eine Reihe christlicher Dogmen.83 Seine Darstellung des Judentums lässt außerdem keinen Zweifel daran, welche der beiden Religionen er für die vernünftigere erachtete. Mendelssohn zitiert in seiner Schilderung der jüdischen Religion in Jerusalem die Differenzunterscheidung zwischen Glaube und Gesetz, die dem christlichen Selbstverständnis entsprach, und fügt ihr eine weitere – von Glauben und Vertrauen – hinzu.84 Während die Religion des Glaubens dem Menschen Überzeugungen aufoktroyiere und ihn damit fremdbestimme, entspreche die Religion des Gesetzes der inneren Freiheit des Menschen, weil sie sein Denken nicht limitiere. Sie erlaube ihm, sich der Gegenwart im Vertrauen auf die Zukunft zuzuwenden und das Hier und Jetzt selbstbestimmt zu gestalten. Der christliche Identitätsdiskurs wird in dieser Deutung mit den eigenen Waffen geschlagen: Das Judentum sei sehr wohl die Antithese des Christentums, nur bedeute das für den Christen, dass er einer Religion der Unvernunft anhänge. Als Antithese des Christentums wird die jüdische Religion in Mendelssohns Verständnis auch zu einer Religion der Toleranz, denn das Judentum spreche jedem Menschen, der die ethischen Mindeststandards erfülle, die Fähigkeit zu, das eigene Heil zu erlangen.85
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wertvoll zu schätzen.“ Vgl. Forst, Toleranz im Konflikt, 47 f.; auch ders., Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, 129 f. Forst, Toleranz im Konflikt, 48. Vgl. Mendelssohn an den Erbprinzen von Braunschweig-Wolfenbüttel (undatiert), in: JubA, Bd. 7, 300–305; ders., Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenesie, in: JubA, Bd. 7, insbes. 91–95. Vgl. Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: JubA, Bd. 8, 166 f., hier 166 (Hervorhebungen im Original): „Unter allen Vorschriften und Verordnungen des Mosaischen Gesetzes, lautet kein Einziges: Du sollst glauben! oder nicht glauben; sondern alle heissen: du sollst thun, oder nicht thun! Dem Glauben wird nicht befohlen; denn der nimmt keine andere Befehle an, als die den Weg der Ueberzeugung zu ihm kommen. Alle Befehle des göttlichen Gesetzes sind an den Willen, an die Thatkraft der Menschen gerichtet. Ja, das Wort in der Grundsprache, das man durch Glauben zu übersetzen pflegt, heißt an den mehresten Stellen eigentlich Vertrauen, Zuversicht, getroste Versicherung auf Zusage und Verheissung.“ Vgl. auch ders., An die Freunde Lessings, in: JubA, Bd. 3.2, 218. Vgl. Mendelssohn, Was ihn zu diesem Schritte bewogen?, in: JubA, Bd. 7, 63 f.: „Die Beobachtung der Ceremonialgesetze wird nur von uns, die wir in dem Mosaischen Gesetze gebohren sind, gefordert. Alle übrige Völker der Erde könen nach unsern Grundsätzen seelig werden, wen sie das Naturgesetz beobachten. Wir sind zu allen Pflichten der Liebe gegen ihnen verbunden; so bald sie dieses thun.
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Herrschaft, Zwang, Toleranz
Mendelssohn definiert die auf die Offenbarung bezogenen Deutungsvorgänge innerhalb des Judentums als unaufhörliche Kommunikationsprozesse, deren Ergebnisse immer wieder von neuen Interpretationen überschrieben werden. Diese Kulturtechnik, mit der der Sinn der göttlichen Botschaft an den jüdischen Menschen ununterbrochen ans Licht gebracht werden soll, halte die Bedeutung der Zeichen offen. Das angestrebte Verstehen ziele weder auf die Aufdeckung des absoluten Sinns noch auf die Übereinstimmung einzelner Interpretationen. Eine derartige Hermeneutik, die sich der Idee einer kategorischen Wahrheit zu verweigern scheint und auf ein breites Spektrum von Signifikanten, sowohl sprachlichen als auch nonverbalen, zurückgreift, ist für das Aufdecken von Sinn innerhalb interkultureller Zusammenhänge besonders instruktiv: Mit der Differenz des Anderen tut sich ein unerschöpfliches Reservoir an irreduziblem Sinn auf, dem man sich immer wieder von Neuem nähern muss und dessen restloses Begreifen unmöglich ist. Mendelssohn imaginiert in Jerusalem ein Gemeinwesen, in dem kulturell differente Zeichen als Ressource verstanden und interkulturelle Bildungsprozesse ermöglicht werden. Die Zukunft der Menschheit scheint von ihrer Fähigkeit abzuhängen, diese Zeichen zu bewahren und sie lebendig zu halten, damit sie ihren Sinn unaufhörlich entfalten können. Der unleugbaren Realität zwischenmenschlicher Differenzen muss daher das Recht auf ihre Sichtbarkeit im öffentlichen Raum entsprechen, soll das aufklärerische Postulat der Universalität der menschlichen Natur nicht in der Barbarei einer Gleichmacherei enden. Erst aus der Verbindung universeller Ansprüche und partikularer Interessenbekundungen entsteht eine wahrhaftig emanzipatorische, von fremdem Zwang befreiende Politik, die die Kultur allgemeiner Wertschätzung als einen übergreifenden kulturellen Code etablieren und „ein Anderssein ohne Angst und eine Integration ohne Zwang“86 ermöglichen kann.
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So gar befiehlt uns das Gesetz, wen[n] sie das Judenthum annehmen wollen, sie Anfangs durch Gegenvorstellungen davon abzuhalten.“ Vgl. auch ders., Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich, in: JubA, Bd. 7, 10 ff. 86 Berghahn, Von der Last, 182.
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Herrschaft, Zwang, Toleranz
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Mehr als die Ringparabel Lessings Kultur der Toleranz in ihren historischen Bezügen1 Es gibt Lebensthemen im Werk Lessings. Bestimmte Problemstellungen finden sich in den frühen Stücken und noch spät in den Schriften der Wolfenbütteler Jahre. Dazu gehört das Samaritergleichnis. Der edle Reisende aus der Komödie Die Juden gleicht der Hauptfigur aus der biblischen Parabel (Lk 10,30–37). Mit der Erzählung vom frommen Samariter hat sich Lessing auch später immer wieder befasst; im Anschluss an den Nathan wollte er diese sogar zu einem Trauerspiel ausarbeiten. Ähnliches gilt für die Erzählungen vom Schicksal der heroischen Römerinnen Virginia und Lucretia, mit denen sich Lessing bereits in den 1750er Jahren befasst, eine modernisierte Version des Stoffes jedoch erst zwanzig Jahre später ausgearbeitet hat. Gilt das auch für das Thema der religiösen Toleranz? Diese Frage ist nicht ganz so leicht wie bei den eben genannten Beispielen zu beantworten. Sicher, mit dem Nebeneinander der christlichen Konfessionen und dem bestehenden Friedensgebot ist Lessing bereits in seinem Elternhaus konfrontiert worden. Zu der abgeschiedenen Welt in Kamenz gehörte auch der Großvater Theophil Lessing – er lebte von 1647 bis 1735 −, an den sich der Enkel noch erinnert haben dürfte. Als Student der Jurisprudenz hat dieser 1669 in Leipzig eine Disputation drucken lassen, in der er der Frage nachging, inwieweit die Obrigkeit verschiedene Religionen dulden könne: De Religionum Tolerantia. Über die Wirkung dieser akademischen Qualifikationsschrift, von der sich nur wenige Exemplare erhalten haben, lässt sich kaum etwas sagen. Wie auch immer: Bemerkenswert bleibt, dass sich trotz des großen zeitlichen Abstands zwischen dem Autor der Ringparabel und seinem Großvater eine Verbindung über den Gedanken der Toleranz und der Gleichstellung von Religionen ergibt, der bei dem Älteren mit den noch lebendigen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges und der neuen Natur- und Völkerrechtslehre zu tun hat, bei dem Jüngeren mit der radikalen Religionskritik der folgenden Jahrzehnte und einer geschichtlichen Perspektivierung.
1 Der vorliegende Beitrag entspricht dem Text des Abendvortrags, den ich am 20. Oktober 2018 auf der Tagung zur Religiösen Toleranz an der Universität Bern gehalten habe. Da die Vortragsform beibehalten wurde, konnte auf Einzelnachweise verzichtet werden; diese finden sich in meiner Monographie zu Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk, die 2018 im Wallstein-Verlag erschienen ist.
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Doch hier sind gleich Einschränkungen zu machen. Denn bis weit in das 18. Jahrhundert wurde Toleranz vor allem als staatstheoretisches Problem behandelt und im Rechtsdenken verankert; der Begriff reduziert sich hier weitgehend auf den negativen Aspekt der bloßen Duldung. Toleranz gilt als eine Pflicht des Souveräns und als ein Gebot der Staatsräson. Solche aus der Pluralität der Konfessionen erwachsenen Grundsatzfragen behandelt Theophil Lessing, selbstverständlich beschränkt auf das Verhältnis zwischen den christlichen Konfessionen, unter Ausschluss der Juden, Muslime und Freigeister. Bei seinem Enkel verlagert sich einhundert Jahre später die Problemstellung von der Religionspolitik in den Bereich gesellschaftlicher Praxis. Gotthold Ephraim geht es (und im Nathan wird das vielleicht erstmals prägnant gefasst) um etwas, das sich dem taktischen Machtinteresse des Herrschers anzubieten scheint − und gleichwohl entzieht. Auf die erstaunliche Aktualität dieses Entwurfs werde ich zurückkommen. Doch zunächst sei noch einmal danach gefragt, wie er sich im Denken Lessings entwickelt hat. Welche Anstöße hat es gegeben, welche Voraussetzungen dienen der Erklärung? In der Sache gibt sich Lessing wenig auskunftsfreudig (der später so geläufige Begriff der Toleranz kommt in seinem Œuvre noch kaum vor), sieht man von einigen seiner Rettungen einmal ab. Toleranz ist hier jedoch weniger Gegenstand der Reflexion als der Anteilnahme, wie exemplarisch an den Authentischen Nachrichten von Adam Neuser gezeigt werden könnte. Bei der Lektüre der theologischen Gutachten im Prozess gegen den Antitrinitarier Johannes Sylvanus, der 1572 in Heidelberg hingerichtet wurde, lässt Lessing die Leser an seiner Entrüstung teilhaben: „Die Theologen verlangten Blut, durchaus Blut: die politischen Räte hingegen stimmten größtenteils auf eine gelindere Bestrafung. […] Nein, so lange als Ketzergerichte in der Welt sind, ist nie aus einem eine sophistischere grausamere Schrift ergangen!“2 Bemerkenswert ist, dass Lessing kaum auf ältere Entwürfe zum Problem der interreligiösen Verständigung hinweist. Selbst die großen Namen und Texte des europäischen Humanismus fehlen; weder der Friedenstraktat von Nikolaus von Kues noch das Jean Bodin zugeschriebene Colloquium Heptaplomeres finden Erwähnung. Ähnliches gilt auch für die Abhandlungen von Locke, Voltaire − und selbst Bayle, die Lessing gekannt haben dürfte. Hier gibt es gewisse Berührungspunkte. Denn auch in den beiden prominentesten Toleranz-Schriften des Jahrhunderts tritt das Interesse am Begründungszusammenhang zwischen souveräner Herrschaft und individueller Gewissensfreiheit zurück, doch zeigen sich auch signifikante Unterschiede zu dem Lessingschen Lehrgedicht: Während John Lockes Letter concerning
2 Lessing, Von Adam Neusern, einige authentische Nachrichten, in: ders., Theologiekritische Schriften I, 57–114, hier 97 f.; Vollhardt, Lessing, 369.
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Mehr als die Ringparabel
Toleration (1689) durch einen kompromissbereiten Pragmatismus gekennzeichnet ist (die Katholiken bleiben ausgeschlossen, weil der Papst sie vom Gehorsam gegen den König von England entbunden hatte), argumentiert Voltaires Traité sur la tolérance (1763) in einer betont säkularen Weise für den religiösen Indifferentismus. Die Geschichte des europäischen Toleranzdenkens bleibt − ungeachtet der angesprochenen Differenzen − eng mit den Namen von Locke, Voltaire und Lessing verknüpft. Es ist die Erzählung vom Aufstieg einer Idee und vom Erbe der Aufklärung, an der diese als Akteure mitgewirkt haben. Doch wie bei anderen ‚Großen Erzählungen‘ handelt es sich auch hier um eine Konstruktion, die nicht genug Material bietet, um die Komplexität des zur Moderne führenden Prozesses adäquat zu verstehen, da die randständigen oder gegenläufigen Bewegungen, denen eine öffentliche Wirkung versagt blieb, nicht wahrgenommen werden. Doch wie lässt sich die Geschichte der Toleranz rekonzeptualisieren, ohne dass man aus einer Perspektive ex post nur die Genealogie der Leitgedanken (die bekannten Namen) oder deren politische Funktionalisierung (die obrigkeitliche Regelung) verfolgt? In der Frühneuzeitforschung hat sich hier − wie in anderen Bereichen − die Einsicht durchgesetzt, dass genauer als bisher auf diskursive Phänomene und Ordnungen, aber auch gesellschaftliche Divergenzen und Gepflogenheiten zu achten ist, die zur Vorgeschichte der im 18. Jahrhundert etablierten Denkmodelle gehören. Toleranz war lange Zeit kein theoretisches Konzept, sondern eine Form des praktischen Verhaltens, keine Tugend, sondern die Akzeptanz ungeliebter Lebensbedingungen. Unangefochten blieb dabei der eigene Wahrheitsanspruch, den nicht nur die miteinander rivalisierenden christlichen Konfessionen, sondern auch die nonkonformen religiösen Strömungen zu verteidigen suchten. Vor allem mit den seit der Reformation auftretenden Schwärmern (so übersetzt Luther ‚Enthusiasten‘), neutraler: den verbreiteten spiritualistischen und pietistischen Zirkeln, entwickelte sich eine Laientheologie, die dem kirchlichen Lehramt mit dem Anspruch auf Duldung gegenübertrat. Einige der Voraussetzungen des Lessingschen Toleranzdenkens sind im Geltungsbereich dieser freien Religiosität zu finden. Bestimmte Denkmotive und Argumentationsmuster konnte Lessing bereits in seinem Elternhaus kennenlernen; noch in den Schriften seiner Wolfenbütteler Zeit haben diese eine problemstrukturierende Bedeutung erhalten. Meist handelt es sich um indirekte Verweise, etwa auf die Verfolgung von Häretikern, die sich in den Schriften der Wolfenbütteler Jahre auffallend häufen. Fragt man nach den gemeinsamen Anliegen der von Lessing so geschätzten nonkonformen Autoren, wird man sie − hierin ist sich die Forschung einig − als frühe Vertreter eines neuzeitlichen, individuellen christlichen Denkens zu betrachten haben, das für den säkularisierten Individualismus des 18. Jahrhunderts anschlussfähig war. Da mir dieser Aspekt wichtig erscheint, werde ich ihn im ersten Teil meines Vortrags etwas genauer verfolgen, bevor ich dann zu Lessings eigentlichem Beitrag
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zur Toleranzdebatte übergehe – der Ringparabel in seinem Drama Nathan der Weise. * „Das Ding, was man Ketzer nennt, hat eine sehr gute Seite“, schreibt Lessing in seinem Berengarius Turonensis (1770) und fährt fort: „Es ist ein Mensch, der mit seinen eigenen Augen wen i g ste ns sehen wol l e n. Die Frage ist nur, ob es gute Augen gewesen, mit welchen er selbst sehen wollen. Ja, in gewissen Jahrhunderten ist der Name Ketzer die größte Empfehlung, die von einem Gelehrten auf die Nachwelt gebracht werden können.“3 Diese Sätze hätte der greise Vater Lessings sicher mit Unbehagen gelesen – er starb kurz vor der Drucklegung der kirchenhistorischen Abhandlung. Mit Unbehagen deshalb, weil ihn das Lob der Ketzerei zwangsläufig an seinen – wie sich nun zeigte – verlorenen Kampf mit Gottfried Arnold (1666–1714) und dessen zum Bestseller gewordener Unpartheyischen Kirchen= und Ketzer=Historie erinnern musste; der Sohn kannte diese am Beginn des Jahrhunderts erbittert geführte Auseinandersetzung, sie gehörte zur Familiengeschichte. Das zuerst im Jahr 1699 publizierte Werk Arnolds war kein rasch vergessener Beitrag zur Kontroverstheologie, sondern ein Historiengemälde eigener Art, eine Christentumsgeschichte von unten, die neue Maßstäbe („unparteiisch“!) in die Historiographie einführte: Quellentreue und Verzicht auf dogmatisch normierte Urteile rückten − jedenfalls in der Theorie – an die Stelle von Wahrheitskriterien. Für die Spätorthodoxie wurde Arnold zum Repräsentanten aller Dissidenten − gleichgültig ob Schwärmer oder Aufklärer −, gegen die man die Obrigkeit zu mobilisieren versuchte. Auch der Gothaer Theologe Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) hat sich in Streitschriften gegen die Kirchen= und Ketzer=Historie gewandt und dabei unmissverständliche Warnungen ausgesprochen: Denn ausgerechnet die staatlich gewährte Toleranz („Verträglichkeit“) wird als Ursache für den Konflikt angeführt, der auf tieferliegende Ursachen verweist, von denen Arnold in opportunistischer Weise profitiert habe. Der Hauptgrund wird von Cyprian mit einem Wort benannt: „Geisttreiberey“, die zur „Regul des Glaubens und Lebens gemacht“ werden soll. Der mit der Reformation entstandene Spiritualismus hat die seither ständig gewachsene Bedrohung der wahren Glaubenslehre zu verantworten. Die naturalistischen Philosophen der Aufklärung haben die Arnoldsche Kirchengeschichte dagegen aus anderen Gründen, nämlich als „süsse[s] Futter der atheistischen Spötterey“ zu nutzen gewusst; Cyprians Fazit: „Arnold ist tod, aber sein Buch ist gar nicht tod“.4 Die fatale Koalition der Kirchengegner begründete die Notwendigkeit, den Streit auch nach einem halben Jahrhundert fortzuführen. Arnolds Werk kam
3 Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 7, 15; Vollhardt, Lessing, 270. 4 Grosch, Nothwendige Verthaidigung, XVIII.
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Mehr als die Ringparabel
demnach – so lässt sich zusammenfassen − eine Schlüsselstellung zwischen prämoderner Religiosität und einer mit dem aufklärerischen Rationalismus verbundenen Infragestellung kirchlicher Lehrmeinungen zu, woraus zugleich die Forderung nach Toleranz erwuchs. Die nur auf den ersten Blick irritierende Nachbarschaft von spiritualistischer und aufgeklärt-rationaler Toleranzforderung lässt danach fragen, ob dieser faktischen Gemeinsamkeit auch eine tiefere Beziehung in der theologischen Grundhaltung entspricht. Auch wenn es gewagt erscheint – man kann bei Lessing verfolgen, wie er die aus den frühneuzeitlichen Diskursen entlehnten Begriffe transformiert und durch die spielerisch anmutende Kombination verschiedenartiger Traditionselemente einen sowohl hermeneutischen (Buchstabe und Geist / Schrift und Tradition) als auch geschichtstheologischen Geistbegriff (in der Erziehung des Menschengeschlechts) entwickelt, in dem Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) zentrale Motiv seiner Philosophie zu erkennen glaubte. Im Dezember 1780 berichtet Lessing in einem Brief an Elise Reimarus, dass er für den Herzog von Braunschweig an einem Gutachten über die aktuellen Religionsbewegungen in der Evangelischen Kirche arbeite. Offenbar wollte er die Gelegenheit nutzen, um nochmals seinen Standpunkt im aktuellen Streit um den Fragmentisten zu erklären und, das ist sein Hauptanliegen, gegenüber der Neologie abzugrenzen. Es ist bei einem Entwurf geblieben, in dem Lessing bei der Beobachtung ansetzt, dass die jetzigen „Bewegungen in Religionssachen“ stets „auch ehmalige“ sind, die seit langem als „Fermentationen“ in den „Sekten der christlichen Religion“ wirken, das heißt „zur Aufklärung und zum Wachstum“ derselben beitragen sollen. Dieser notwendige Geschichtsverlauf wird (wie Lessing im 5. Anti-Goeze polemisch andeutet) durch gewisse Prediger behindert, deren „Grundgesetz“ es ist, „auf dem nemlichen Punkte der Moral und Religion immer und ewig stehen zu bleiben, auf welchem ihre Vorfahren vor vielen hundert Jahren standen“.5 Gefährdet wird diese Ruhe allerdings durch kirchenkritische Außenseiter, wie ein Blick auf die realen Bewegungen seit der Reformation lehrt, wobei hier − aus der Sicht der Orthodoxie − an ‚Gärungen‘ verschiedener Art, vom latenten Unglauben bis zur Schwärmerei, zu denken ist. Die Beobachtung dieser Bewegungen steht in Lessings späten, oft Fragment gebliebenen religionsphilosophischen Skizzen in einem engen Zusammenhang mit Fragen der Schriftkritik und der Tradition, auf die sich das (eigene) religiöse Bekenntnis berufen kann. Zu beantworten sind diese nur auf dem Weg der Kritik; es geht um die Zurückweisung einer nur angemaßten theologischen Autorität, besonders auf der Seite der „neuen Reformatoren“, der Neologen, mit denen er keinesfalls „verwechsel[t]“ werden möchte, wie er in einem Brief an Elise Reimarus
5 Lessing, 5. Anti-Goeze, in: ders., Theologiekritische Schriften II, 207.
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schreibt. Diese Abneigung hatte er zuvor bereits in einem Schreiben an seinen Bruder Karl vom 20. März 1777 mit der erklärungsbedürftigen Unterscheidung gerechtfertigt, dass er „nur darum die alte orthodoxe (im Grunde tolerante) Theologie, der neuern (im Grunde intoleranten) vorziehe, weil jene mit dem gesunden Menschenverstande offenbar streitet, und diese ihn lieber bestechen möchte. Ich vertrage mich mit meinen offenbaren Feinden, um gegen meine heimlichen desto besser auf meiner Hut sein zu können.“6 Worin besteht die Intoleranz der Neologie? In den Augen Lessings ging der Versuch, die Theologie nach rationalen Grundsätzen einzurichten − also dem Zeitgeist anzupassen −, mit der Beseitigung einer älteren Tradition einher, bei der sich die Reformpartei in einer überlegenen und unangreifbaren („intoleranten“) Position zu wissen glaubte, ohne die Vorläufigkeit des eigenen Standpunktes (als einer Tradition unter anderen) zu reflektieren. Die Vernunft kann in diesem Verdrängungswettbewerb jedoch nicht das ausschlaggebende Kriterium bilden, da sie selbst − anders als der Rationalismus des 17. und frühen 18. Jahrhunderts bis hin zu Reimarus annahm − einer Dynamisierung und Temporalisierung unterworfen ist. Die Veröffentlichung der Fragmente sollte die ‚neuen Reformatoren’ zu einer Antwort auf diese ins Grundsätzliche führende Frage herausfordern. Da die Antwort der Neologen weitgehend ausblieb, hat er das Streitgespräch in seinen Spätschriften vielfach simuliert, wie an drei Beispielen kurz anzudeuten ist. Laientheologie und innere Erfahrung. − Seine Antworten formuliert Lessing gern im Namen des ungebildeten, aber frommen Christen, dem die Unmittelbarkeit der Glaubenserfahrung zur religiösen Selbstsorge ausreicht. Dabei nimmt er ein im Humanismus beliebtes literarisches Muster auf, um in einem Kanzeldialog dem begriffsstutzigen Hauptpastor Goeze die Grundsätze des ‚gemeinen Mannes‘ (von dem auch Reimarus wenig hielt) und einfältigen Gläubigen zu erläutern: der Theolog soll uns Christen sein gelehrtes Bibelstudium nur nicht für Religion aufdringen wollen. Er soll nur nicht gleich über Unchristen schreien, wenn er auf einen ehrlichen Laien stößt, der […] diesen Lehrbegriff nicht sowohl deswegen für wahr hält, weil er aus der Bibel gezogen, sondern weil er […] f ü h lt, daß ihn dieser christliche Lehrbegriff beruhiget.7
Hier fällt auch das Stichwort Hermeneutik („Jeder hat seine eigene Hermenevtik“), die an dieser Stelle jedoch der „Probe der innern Wahrheit“, eben dem Gefühl, nachgeordnet wird.
6 Lessing, Werke und Briefe, Bd. 12, 51. 7 Lessing, Axiomata, in: Werke und Briefe Bd. 9, 83.
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Schriftkritik und Erkenntnis des Ursprungs. − Anders verhält es sich in den 1779/80 entstandenen, ebenfalls Fragment gebliebenen Briefen an verschiedene Gottesgelehrte, in denen es um Hypothesen zur Entstehung des Neuen Testaments, um die symbolischen Bücher, spätantike Konzilsbeschlüsse und, nicht zu vergessen, Ketzerverfolgungen geht. Lessing wechselt hier die Ebene der Beweisführung und argumentiert als gelehrter Nicht-Theologe, wobei er − ganz auf der Linie von Arnold − auch institutionenkritische Gründe anführt, wenn etwa der rasche Wandel von Lehrauffassungen zu erklären ist, der am ehesten auf die bei einem Konzil getroffenen dogmatischen Entscheidungen zurückgeführt werden müsse. Geistmetaphorik. − Unter Lessings wohl in das Jahr 1777/78 zu datierenden Selbstbetrachtungen und Einfällen findet sich ein Fragment, das als sein – wie Hugh B. Nisbet urteilt8 − persönliches Bekenntnis zu betrachten ist. Es handelt sich um eine der wenigen direkten Aussagen des Autors über sein Verhältnis zur christlichen Religion. Im Zentrum stehen wiederum johanneische Motive: Ich glaube sie und halte sie für wahr, so gut und so sehr man nur irgend etwas historisches glauben und für wahr halten kann. [...] Mit dieser Erklärung, sollte ich meynen, könnten doch wenigstens diejenigen Theologen zufrieden seyn, die […] von keiner übernatürlichen Einwirkung des heiligen Geistes wissen wollen. Zur Beruhigung der andern aber, die eine solche Einwirkung noch annehmen, setze ich hinzu, daß ich diese ihre Meinung allerdings für die in dem christlichen Lehrbegriffe geg r ü nd ete re […] halte, die durch ein bloßes philosophisches Raisonnement schwerlich zu widerlegen steht. […] Freilich muß ich gestehen – 9
Ob die Rede bewusst abbricht, lässt sich an dieser Stelle nicht mit Sicherheit sagen. Handelt es sich um eine bewusst eingesetzte rhetorische Figur, wäre auf einen skeptischen Kommentar zu schließen. Unzweifelhaft erscheint dagegen Lessings Eintreten für einen Möglichkeitssinn, was den Geist und seine Wirkung betrifft. Laienpriestertum, vorkonziliare Religion und Geistbegriff: Lessing hat diese Denkfiguren nicht ohne Grund gewählt. Mit der Entscheidung für diese umstrittenen Theologumena werden, wie unter Laborbedingungen, Orientierungspunkte im theologischen Streit gesetzt, die Redegewohnheiten und Argumentationsroutinen aufbrechen sollten − darin ist der Forschung Recht zu geben. Wenn dann jedoch der von Lessing eingesetzte Begriff der inneren Wahrheit als „Drehpunkt eines Säkularisierungsprozesses“ gedeutet wird, „der das Gesetz einer neuen Epoche beschreibt“ (so Klaus Bohnen10 ), verstellt der in die Zukunft gerichtete Blick auf
8 Nisbet, Lessing, 19. 9 Lessing, Selbstbetrachtungen und Einfälle, in: ders. Werke und Briefe, Bd. 10, 241. 10 Bohnen, Geist und Buchstabe, 176.
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die Weimarer Klassik und deren Humanitätsverständnis den Sinn des von Lessing gewählten Verfahrens, das seine Innovation aus einer Tradition bezieht, die in mehrfacher Hinsicht von Vorurteilen belastet war, gleichwohl aber eine Integration des Wissens aus verschiedenen Bereichen ermöglichen sollte, bei der die Vernunft nicht den alleinigen Maßstab bildete; was Lessing einzuführen versuchte, sollte wenig später als ‚höhere Aufklärung‘ bezeichnet werden. * Seitdem Friedrich Schlegel den Nathan als eine „Fortsetzung vom Anti-Götze, Numero Zwölf “ bezeichnet hat, ist nach dem Zusammenhang zwischen der „didaktischen Dichtart“ (so Schlegel) und dem Fragmentenstreit gefragt worden, auch mit Vorbehalten gegenüber der von Schlegel mit Nachdruck betonten Wechselwirkung. Kurz vor der Veröffentlichung des Dramas schreibt Lessing an Herder: „Ich will hoffen, daß Sie weder den Prophet Nathan, noch eine Satyre auf Goezen erwarten.“11 Die Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor scheint an Brisanz verloren zu haben. Ganz in den Hintergrund getreten ist sie gleichwohl nicht, weist doch die Figur des Patriarchen einige Züge des orthodoxen Theologen auf, mit dem sich Lessing in ein polemisches Gefecht eingelassen hat, das zu dem bedeutendsten nicht-poetischen Lehrstück der Aufklärung in Deutschland geworden ist – und das auf Toleranz zielte. Auf dem Höhepunkt des Fragmentenstreits schreibt Lessing im August 1778 an seinen Bruder Karl, dass er noch nicht wisse, welches Ende seine Kontroverse mit dem Hauptpastor Goeze nehmen werde; er sei auf alles gefasst, auch darauf, dass man ihm – wie von der orthodoxen Geistlichkeit gefordert – ein Publikationsverbot erteile. In dieser Lage habe er sich an ein vor vielen Jahren entworfenes Schauspiel erinnert (‚närrischer Einfall‘), dessen Inhalt eine Art von „Analogie mit meinen gegenwärtigen Streitigkeiten“ habe: Ich möchte zwar nicht gern, daß der eigentliche Inhalt meines anzukündigenden Stücks allzufrüh bekannt würde; aber doch, wenn Ihr, Du oder Moses [sc. Mendelssohn], ihn wissen wollt, so schlagt das Decamerone des Bocaccio [sic] auf: Giornata I. Nov. III. Melchisedech Giudeo. Ich glaube, eine sehr interessante Episode dazu erfunden zu haben, daß sich alles sehr gut soll lesen lassen, und ich gewiß den Theologen einen ärgern Possen damit spielen will, als noch mit zehn Fragmenten. 12
Eine Woche später erhält Lessing die erwartete „Resolutio“ des Braunschweiger Herzogs, die ihm verbietet, dass er „in Religions-Sachen […] ferner etwas drucken“ lässt. Die Arbeit an dem dramatischen Gedicht beginnt also situationsabhängig und
11 Lessing, Brief vom 10. Januar 1779 an J.G. Herder, in: Lessing, Werke und Briefe, Bd. 12, 225. 12 Lessing, Brief vom 11. August 1778 an Carl Lessing, ebd., 186.
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dient einem aktuellen Interesse, auch wenn die Idee einer Boccaccio-Adaptation vorhanden war. Doch war es nicht allein die Melchisedech-Novelle, die Lessing zu dem Parabelspiel inspiriert hat. Bereits am Beginn der Hamburgischen Dramaturgie hat er am Beispiel von Johann Friedrich von Cronegks (1731–1758) Tragödie Olint und Sophronia deutlich gemacht, welche Fehler bei einem Drama, das in der Zeit der Kreuzzüge spielt, unbedingt zu vermeiden sind. So wie es bei der Adaptation des Stoffes im Einzelnen zu falschen Aussagen über den Islam kommt, wird generell die Schwierigkeit unterschätzt, den Konflikt zwischen Religionsparteien ins Zentrum einer Handlung zu stellen, die historische Wahrheiten beschädigt und damit Erkenntnis verhindert; die Stelle lautet: Es war […] von dem Hrn. von Cronegk ein wenig unüberlegt, in einem Stücke, dessen Stoff aus den unglücklichen Zeiten der Kreuzzüge genommen ist, die Toleranz predigen, und die Abscheulichkeiten des Geistes der Verfolgung an den Bekennern der mahomedanischen Religion zeigen zu wollen. Denn diese Kreuzzüge selbst, die in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der Päbste waren, wurden in ihrer Ausführung die unmenschlichsten Verfolgungen, deren sich der christliche Aberglaube jemals schuldig gemacht hat; […] und einzelne Personen, die eine Moschee beraubet haben, zur Strafe ziehen, kömmt das wohl gegen die unselige Raserei, welche das rechtgläubige Europa entvölkerte, um das ungläubige Asien zu verwüsten? […] Menschlichkeit und Sanftmut verdienen bei jeder Gelegenheit empfohlen zu werden, und kein Anlaß dazu kann so entfernt sein, den wenigstens unser Herz nicht sehr natürlich und dringend finden sollte.13
Man sieht, dass die Stücke am Beginn der Dramaturgie nicht nur Hinweise zur Theorie der Tragödie enthalten, sondern auch zu eigenen Plänen: In Nathan der Weise wird Lessing vorführen, wie die Zeit der Kreuzzüge angemessen auf die eigene Gegenwart zu beziehen ist. * Die Parabel lässt sich in vier Abschnitte gliedern, eingeleitet durch einen Monolog der Hauptfigur. Dieses Vorspiel ist für den Autor offenbar von großer Bedeutung, da er sich kaum Mühe gibt, es schlüssig in den Zusammenhang zu integrieren. Genau in der Mitte seines Stücks setzt er eine Zäsur, welche die Parabel ankündigt, die mit dem Lehrgedicht in wechselseitige Auslegung treten soll. Szene III 6 Nathan allein: Der Kaufmann zeigt sich informiert, er weiß um die Nöte des Sultans: „Ich bin / Auf Geld gefaßt; und er will − Wahrheit. Wahrheit!“14 Noch bevor er die Gesprächsstrategie Saladins durchschaut („Ich muß / Behutsam gehn!“), reflektiert
13 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 7. Stück, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 6, 218. 14 Lessing, Nathan, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 9, 554.
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Nathan in einem durch das Stichwort Geld hervorgerufenen Bildbereich über den Begriff der Wahrheit, was ihn zu einem ersten Religionsvergleich führt: […] als ob Die Wahrheit Münze wäre! − Ja, wenn noch Uralte Münze, die gewogen ward! − Das ginge noch! Allein so neue Münze, Die nur der Stempel macht, die man aufs Brett Nur zählen darf, das ist sie doch nun nicht! (III,6, v. 352–357)
Mit der alten Münze ist die authentische religiöse Erfahrung gemeint, die innere Wahrheit der Religion. Die späteren Prägungen dagegen, die diesen Wert verloren haben, stehen für die verfestigten Dogmen und Lehrmeinungen der positiven Religionen, die miteinander konkurrieren. Die ursprüngliche Münze ist alt, ja sogar uralt, was an mythische Ursprünge oder eine ‚prisca theologia‘ denken lässt. In dem von Nathan angestellten Vergleich überwiegen deutlich die kritischen Töne, womit Lessing zugleich auf das Thema der Ringparabel, die Gleichheit der Offenbarungsreligionen und deren gegenseitige Anerkennung, vorausweist. Dabei erinnert er mit dem Münz-Exempel an einen ebenso berühmten wie bei den Amtskirchen berüchtigten Vorgänger in der Toleranzdebatte, Sebastian Castellio, der in seiner Schrift De haereticis an sint persequendi (1554) den Bildbereich ganz ähnlich ausgedeutet hatte.15 Die Metapher der uralten Münze steht bei Lessing allerdings − anders als bei Castellio − für die wahre Religion, die allen drei Glaubenslehren zu Grunde liegt und ihrem Streit über Äußerlichkeiten, bei denen auch Castellio einen Konsens anmahnt, enthoben bleibt. In Abschnitt (1) der Ringparabel hält sich Lessing zwar eng an seine Vorlage, signifikante Abweichungen von der Novelle Boccaccios zeichnen jedoch bereits die eigenen Argumentationslinien vor. So berichtet Melchisedech von einem großen und reichen Mann, der unter den Preziosen in seinem Schatz einen besonders schönen und wertvollen Ring besaß. In Nathans Version wird hieraus ein „Ring von unschätzbarem Wert’ / […] Der Stein war ein / Opal, der hundert schöne Farben spielte, / Und hatte die geheime Kraft, vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen, wer / In dieser Zuversicht ihn trug“ (III,7, v. 397–401). Quelle der Kraft ist die ethische Gesinnung des Trägers, die lebenspraktische Wirkung hervorbringen soll: „Ich versteh dich“, wirft Saladin hier ein (v. 412), „Weiter!“ In Abschnitt (2) kommt das Gespräch dann auf den Vater, der sich nicht entscheiden kann, welchem seiner Söhne er den Ring vererben soll, da „alle drei ihm gleich gehorsam waren“, wie es bei Lessing lakonisch heißt (v. 415). Boccaccio ist
15 Castellio, De haereticis an sint persequendi, 19 f.
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bei der Charakterisierung der Söhne etwas überschwänglicher: „tre figliuoli belli e virtuosi e molto al padre loro obedienti […].“ In der italienischen Novelle lässt der Vater daraufhin zwei weitere Ringe anfertigen, die dem ersten so sehr gleichen, dass selbst er kaum einen Unterschied erkennen kann („appena [!] conosceva qual si fosse il vero“).16 Gleichwohl kann der echte Ring, wenn auch mit Mühe, noch identifiziert werden. Anders Lessing. Bei ihm sendet der Vater „geheim zu einem Künstler, / Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes, / Zwei andere bestellt […]“ (v. 430 f.). Der Künstler erweist sich als Meister seines Faches und als „er ihm die Ringe bringt, / Kann selbst der Vater seinen Musterring/ Nicht unterscheiden“ (v. 435 f.). Saladin zeigt sich von dieser Wendung der Geschichte betroffen und verlangt zu hören, was nach dem Tod des Vaters geschieht, woraufhin Nathan ihm die Boccaccio-Lösung präsentiert (v. 445–447): „Man untersucht, man zankt, / Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht / Erweislich; − [nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet:], die er dann selbst gibt: „Fast so unerweislich, als/ Uns itzt − der rechte Glaube.“ Es handelt sich um eine vorläufige Antwort, denn nun beginnt mit Saladins Ausruf: „Spiele nicht mit mir! − Ich dächte, / Daß die Religionen […] doch wohl zu unterscheiden wären“ (v. 454–457) der dritte Abschnitt (3) der Parabel. Es handelt sich eigentlich nur um ein Intermezzo, in dem Nathan die konkrete Ausgangsfrage, auf der Saladin besteht, ins Abstrakte wendet und damit die von Lessing im Fragmentenstreit entwickelten Argumente aufnimmt. Während der Sultan − wir kehren auf die Figurenebene des Stücks zurück − bei der Eröffnung des Gesprächs sein Gegenüber gleich drei Mal nach den „Gründen“ für die „Wahl des Besseren“ (aus „Einsicht“!) verlangt, verändert Nathan den Begriff konzeptuell: „Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? / […] Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu / und Glauben angenommen werden? − Nicht ? − / Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn / Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? […] Wie kann ich meinen Vätern weniger, / Als du den deinen glauben?“ (v. 459–470) Zufällige Geschichtswahrheiten und ewige Vernunftwahrheiten sind getrennt zu halten: Es ist Lessings zentrales Argument im Fragmentenstreit, das Nathan hier referiert; der Sultan ist davon so begeistert, dass er „verstummen“ muss. Die mythischen Erzählungen über die Gründer der abrahamitischen Religionen und die überlieferten Berichte von deren Leben und Taten können nur geglaubt, nicht demonstriert werden. Doch daraus erwächst weder ein Fatalismus noch, wie bei Reimarus, der Rückschluss auf Fälschung und Betrug, sondern im Gegenteil ein Vertrauen in die von den Offenbarungsreligionen gestifteten Sinnformen und die
16 Boccaccio, Decamerone, hg. v. Branca, 81.
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das Handeln bestimmenden religiösen Konventionen. Religion bietet dem Menschen − ich verwende einen Begriff Niklas Luhmanns − „Hintergrundsicherheit“, als solche ist sie eine Errungenschaft der Kultur, die zu bewahren ist, ungeachtet der verschiedenen Gründungsurkunden und Zeremonien. Insofern kann Lessing für „eine gewisse Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens“ plädieren17 − womit er der gegen „blinden Glauben“ gerichteten rationalistischen Religionspädagogik des Fragmentisten widerspricht −, wenn diese sich nicht auf „Schriftstellen“ gründet. Von dem „in gewissen symbolischen Büchern vorgetragene[n] System des Christentums“ ist das „eigentliche Christentum“ zu unterscheiden, wie Lessing nach der Veröffentlichung des Fünften Fragments in seinen Gegensätzen genauer ausführt, wobei die Handlung des Nathan-Dramas bereits im Grundriss erkennbar wird: Ich will es den Gottesgelehrten gern zugeben, daß aber doch das S el i g mache nd e in den verschiednen Religionen immer das Ne m l iche müsse gewesen sein: wenn sie mir nur hinwiederum zugeben, daß darum nicht immer die Menschen den ne m l iche n B eg r i f f damit müssen verbunden haben. Gott könnte ja wohl in allen Religionen die guten Menschen in der ne m l iche n B et r a chtu ng, aus den ne m l iche n Gr ü nd e n selig machen wollen: ohne darum allen Menschen von dieser Betrachtung, von diesen Gründen die nem l i che O f fe nb ar u ng erteilt zu haben.
Lessing besteht auf der Grenzziehung zwischen einer als Offenbarung angenommenen „schriftlichen Erzählung“ und den „anderweitigen“ Überlieferungen, auf welche sich die innere Wahrheit der Religion gründet und die − wie es im 5. AntiGoeze heißt18 − „jeder gute Katholik ohne Anstoß glauben und behaupten kann […].“ Der Hinweis auf die ›regula fidei‹ sollte den Hamburger Hauptpastor provozieren, doch ihn nicht allein; gleich im Anschluss findet sich eine Formulierung, die im Wechsel von der Religion zur Ethik eine analoge Grenzziehung gegenüber einem Vernunftbegriff (und Geschichtsverständnis) vornimmt, wie man ihn bei dem Fragmentisten findet: Denn wenn es schon wahr ist, daß moralische Handlungen, sie mögen zu noch so verschiednen Zeiten, bei noch so verschiednen Völkern vorkommen, in sich betrachtet immer die nemlichen bleiben: so haben doch darum die nemlichen Handlungen nicht immer die nemlichen Benennungen, und es ist ungerecht, irgend einer eine andere Be-
17 Lessing, Zur Geschichte und Litteratur. Vierter Beitrag. Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten die Offenbarung betreffend, in: ders. Werke und Briefe, Bd. 8, 177. 18 Lessing, Anti-Goetze. Fünfter, ebd., 204.
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nennung zu geben, als die, welche sie zu ihren Zeiten, und bei ihrem Volk zu haben pflegte.19
Zu beachten ist der kulturelle Zusammenhang, aus dem heraus eine Handlung in der Eigenperspektive der jeweiligen Epoche und der Selbstbeschreibung des Handelnden zu verstehen ist. Dieses komplexe Geflecht von Bedingungen ist zu berücksichtigen, will man verstehen (und vergleichen), was eine Tat ‚in sich‘ bedeutet. Auf diese Pointe führt die Argumentation Lessings zu: erst im Handeln bestätigt sich der Glaube an eine Offenbarung, ganz wie im dramatischen Spiel. Damit sind wir beim letzten Abschnitt (4) der Parabel angelangt. Nathan ergreift noch einmal das Wort (v. 477–478): „Laß auf unsre Ring’ / Uns wieder kommen.“ Was nun folgt, ist der auslegungsbedürftige Teil der Erzählung, der keine Vorlage in der Tradition hat. Ist der echte Ring verloren? Die drei zerstrittenen Söhne, die ihre Klage vor einen neutralen Richter bringen, sind „Betrogene Betrieger“ – zu Lessings Anspielung auf den Traktat De tribus impostoribus20 wäre ein eigener Vortrag zu halten −, da die vermeintliche Macht der gefälschten Ringe nicht nach außen wirkt, sondern nur die Selbstsucht ihrer Träger steigert: „Eure Ringe / Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring / Vermutlich ging verloren“ (v. 508–510). Später (v. 519–521) wird noch die Vermutung geäußert, „daß der Vater […] Die Tyrannei [!] des Einen Rings nicht länger / In seinem Hause [habe] dulden wollen!“ Damit ist das Zentrum der Parabel erreicht. Was nun folgt, ist wider Erwarten kein Urteil, sondern eine Empfehlung: Mein Rat ist aber der: ihr nehmt Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring Den echten. − […] […] Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
19 Ebd., 205. 20 [Anonymus = Johannes Müller,] De tribus impostoribus – Von den Betrügereyen der Religion, dazu Vollhardt, Lessing, 328 und 359.
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Mit innigster Ergebenheit in Gott, Zu Hülf ’! […]. (v. 515–532)
Hier kommt nun eine Fiktion ins Spiel, da der Richter ausschließt, dass einer der Söhne im Besitz des wahren Erbes sein könnte: „Eure Ringe / Sind alle drei nicht echt“ (v. 508–509). Gehandelt werden soll also unter der Annahme eines Wahrscheinlichkeitsmoments oder, drastischer formuliert, einer bewusst falschen Annahme zur Erreichung eines praktischen Zwecks. Dieses Als-Ob bildet − anders als Nathans Münzvergleich − so etwas wie eine Arbeitshypothese und ein Versprechen auf die Zukunft, in der sich auch nach außen die erfreulichen Folgen eines ethischen Handelns zeigen, das sich an einfachen Regeln ausrichtet. Doch genau besehen handelt es sich bei dem Rat des Richters um eine Zumutung, eine paradoxe Empfehlung: Die Betrugshypothese könnte ja etwas ganz anderes bewirken als die Ergebenheit in Gott, bestenfalls eine skeptische Indifferenz mit moralisch unwägbaren Folgen. Dem steht jedoch eine Reihe zusätzlicher Annahmen entgegen. Zunächst: eine Gewissheit teilen die Söhne, dass nämlich − wie der Richter zu verstehen gibt − der Vater „euch alle drei geliebt, und gleich / Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, / Um einen zu begünstigen“ (v. 522–524). Die drei Religionen partizipieren an diesem gemeinsamen Ursprung, der zugleich ein moralisches Vermächtnis ist. Obwohl die positiven Religionen unecht und in ihren Lehrmeinungen falsch sein mögen, sind sie doch imstande, etwas für die Lebenspraxis ihrer jeweiligen Anhänger zu leisten. Das ist der Grund, weshalb Nathan den Glauben seiner Väter achtet und dies auch den Muslimen und Christen empfiehlt, wobei erneut die Liebe zu einem Leitbegriff wird: „Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn / Am wenigsten in Zweifel? Doch […] deren, die / Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe / Gegeben?“ (v. 463–467) Es handelt sich um ein Denken, das sich nicht, wie bei Reimarus, zur ‚natürlichen‘ Religion bekehrt (die ganz verschieden aufgefasst werden kann), sondern das die Kontingenz von Lebenswelten akzeptiert − aus Gründen der Vernunft. Am Ende steht nicht die Botschaft von der Gleichgültigkeit gegenüber allen Religionen − wie sich der Schluss der Novelle bei Boccaccio deuten lässt −, sondern die Aufforderung zu einem Wettbewerb, aus dem sich die Lösung der keineswegs verabschiedeten Wahrheitsfrage ergeben wird; nicht argumentativ, sondern ermahnend. Der Spruch des Richters fordert von den Söhnen, eine Wendung in mehreren Schritten zu vollziehen, die sich mit Helmut Fuhrmann stichwortartig wie folgt benennen lassen: Vom Objekt zum Subjekt, vom Inhalt zur Form der Aneignung, von der Theorie zur Praxis, vom Besitz zum Streben, vom Streit zum Wettstreit der Religionen und vom Ausschließlichkeitsanspruch zur Toleranz. Vorausgesetzt ist dabei stets − erinnert sei an das Als-Ob der Fiktion −, dass der Wunsch nach theoretischer Einsicht durch Glauben ersetzt wird: die gesuchte Wahrheit lässt sich
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nun einmal nicht historisch, „sondern nur eschatologisch erweisen“. Wenn der Richter auf den „weisre[n] Mann“ verweist, der in „tausend tausend Jahre[n]“ das endgültige Urteil sprechen wird (v. 534–535), dann öffnet sich die Parabel hin zu jenem dritten Zeitalter, das in der Erziehung des Menschengeschlechts als dasjenige der Vernunft beschrieben wird. Doch die zweite Hälfte des Dramas führt zurück in eine Lebenswelt, in der sich diese Vernunft noch nicht hat durchsetzen können, wie der Patriarch in der ihm gewidmeten Szene IV 2 zu verstehen gibt: „Ei freilich / Muß niemand die Vernunft, die Gott ihm gab, / Zu brauchen unterlassen, − wo sie hin / Gehört. – Gehört sie aber überall / Denn hin? – O nein!“ (IV,2, v. 98–102) Nachdem Nathan die Werbung des Tempelherrn um Recha mit Vorsicht abgewiesen hat, sucht jener bei der kirchlichen Obrigkeit um Rat, wie einem Juden zu begegnen sei, der „ein armes Christenkind“ als Tochter aufzieht. Der Vorschlag des Kirchenfürsten ist eindeutig (ebd., v. 181 ff.): „Der Jude wird verbrannt … Ja, wär‘ allein / Schon dieser wegen wert, dreimal verbrannt / Zu werden!“ Damit nicht genug, will er Anzeige beim Sultan erstatten, der ihm Zusicherungen gemacht habe: Die er beschworen, [er] muß uns, muß uns schützen; Bei allen Rechten, allen Lehren [!] schützen, Die wir zu unsrer allerheiligsten Religion nur immer rechnen dürfen! (v. 194–197)
In den beiden letzten Versen zitiert der Patriarch eine von Goeze gegen Lessing gerichtete Schrift (Etwas Vorläufiges gegen des Herrn Hofrat Lessing mittelbare und unmittelbare Angriffe auf unsere allerheiligste Religion, 1778), womit Lessing die Erwartung seines Publikums auf eine Fortsetzung des Fragmentenstreits einlöst. * Ergebenheit in Gott − das ist eine im Dramentext von Recha und Nathan zwar nur an wenigen Stellen gebrauchte Wendung, die jedoch unmittelbar zum Verständnis der lehrhaften Erzählung führt. Die dazugehörige Szene ist der 7. Auftritt im 4. Akt, das Gespräch zwischen Nathan und dem Klosterbruder, in dem der Kaufmann von dem Pogrom als einer von Gott auferlegten Prüfung berichtet, die ihm fast den Verstand geraubt habe. Hier wird das Schlüsselwort des Dramas dialogisch in Szene gesetzt: […] Als Ihr kamt, hatt’ ich drei Tag’ und Nächt’ in Asch’ Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. – Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet, Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht;
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Der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen […]. Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. Sie sprach mit sanfter Stimm’: „und doch ist Gott! Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan! Komm! übe, was du längst begriffen hast; Was sicherlich zu üben schwerer nicht, Als zu begreifen ist, wenn du nur willst. Steh auf!“ − Ich stand! und rief zu Gott: ich will! Willst du nur, daß ich will! (IV,7, v. 667–681)
Das komplexe Zusammenspiel zwischen dem ewigen Willen Gottes und dem uneigentlichen Willen des Menschen wird nicht spekulativ beschrieben, obwohl hier Vorstellungen berührt werden, die in der neuplatonischen Tradition sowie der christlichen Spiritualitätsgeschichte weit zurückzuverfolgen sind. Aus der Willensvereinigung erwächst das Vertrauen in die Vorsehung, von der im selben Zusammenhang dann im Blick auf das Schicksal Rechas die Rede ist: „wenn sie von meinen Händen / Die Vorsicht wieder fodert, − ich gehorche!“ Diese Einsicht kennzeichnet Nathans Einstellung, in deren Nähe man auch die Position des Autors vermuten darf. Sie ergibt sich aus einer „Verschiebung vom Gott der Offenbarungsreligionen zu einem Gottesbegriff “, der, auf den Intellekt gegründet, dennoch, wie Monika Fick schreibt,21 „die Option auf einen Akt des Glaubens offenlässt“. Es handelt sich um Korrelationen im Zeichen einer personalen religio-Erfahrung. Nathans Rede gewinnt so an Überzeugungskraft auch für die ‚vernünftigen Verehrer‘ Gottes, obwohl das angesprochene Erfahrungsmoment nur in entrationalisierter Weise gefasst werden kann, da „Ergebenheit / In Gott von unserm Wähnen über Gott / So ganz und gar nicht abhängt“, wie Recha gegenüber Daja erinnert II/1, v. 75–76). Die Gebote der Neutralität und wechselseitigen Toleranz, wie sie mit der Konfessionsspaltung im Europa der Frühen Neuzeit entstanden sind, dienen noch immer der historischen Vergewisserung, wenn es um eine Vermittlung zwischen konkurrierenden religiösen Bekenntnissen geht. Diese ist nicht gegen, sondern aus den religiösen Selbstdeutungen und Traditionen zu begründen, deren Geltungsansprüche bestehen bleiben. Dass die perspektivenbildenden Standpunkte bei einem Plädoyer für Toleranz zu berücksichtigen sind, hat wohl als erster Gotthold Ephraim Lessing erkannt. Die Hauptfigur seines Nathan-Dramas bedient sich eben dieses Arguments, um der Frage des Sultans nach den Gründen für die Wahl einer bestimmten Religion
21 Fick, Lessing und La Volupté, 2016, 466.
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Mehr als die Ringparabel
(die doch „wohl zu unterscheiden wären“) die Grundlage zu entziehen: „Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?“ (III/ 7, v. 459) Eine nachvollziehbare Einsicht, aus der sich nicht nur die Forderung nach einem toleranten Umgang, sondern – wie der Soziologe Rainer Forst im Blick auf Lessing festhält − „ein Weg der kompetitiven Einheit“ ergeben kann und soll, ein Wettstreit um humane, gleichwohl auf Religion gegründete Lebensformen. Das macht Lessings Nathan der Weise nicht nur zu einem Stück Weltliteratur, sondern zu einem aktuellen Beitrag zu unserem Toleranzdenken: Seine Konzeption zeigt in einer für das 18. Jahrhundert ungewöhnlichen, äußerst prägnanten und dabei modern anmutenden Form, wie die religiösen Selbstbeschreibungen des Menschen als historisch kontingent und zugleich als ein in kulturelle Traditionen eingebundener, handlungsorientierender Deutungsakt zu betrachten sind. Erst durch diese Reflexionsleistung wird das Theaterstück zu einem ingeniösen Gedankenexperiment, das die Frage nach den Glaubensdifferenzen (und deren destruktiven Folgen) in einer visionären, dazu noch poetischen Weise zu beantworten versucht.
Literatur Quellen [Anonymus = Johannes Müller,] De tribus impostoribus – Von den Betrügereyen der Religion, hg. und kommentiert von Winfried Schroeder, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999. [Anonymus = Sebastian Castellio (Hg.),] De haereticis an sint persequendi, Réproduction en fac-similé de l’édition de 1554, avec une introduction de Sape van der Woude, Genève 1954. Boccaccio, Giovanni, Decamerone, hg. von Vittore Branca, Turin 1980. Grosch, Georg, Nothwendige Verthaidigung der evangelischen Kirche wider die Arnoldische Ketzerhistorie [...] Nebst vielen Original-Uhrkunden, und einer ausführlichen Vorrede von Ern.[st] Sal.[omon] Cypriani, Frankfurt/Leipzig 1745. Lessing, Gotthold Ephraim, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt a. M. 1985–2003. –, Theologiekritische Schriften I: Werke 1774–1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt a. M. 1989 (= G. E. Lessing Werke und Briefe in 12 Bänden, Bd. 8) –, Theologiekritische Schriften I: Nathan. Werke 1778–1780, hg. von Arno Schilson, Frankfurt a. M. 1993 (= G. E. Lessing Werke und Briefe in 12 Bänden, Bd. 9) Lessing, Theophil, De Religionum Tolerantia. Über die Duldung der Religionen, hg. und eingeleitet von Günter Gawlick und Wolfgang Milde, Göttingen 1991.
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Friedrich Vollhardt
Forschung Bohnen, Klaus, Geist und Buchstabe. Zum Prinzip des kritischen Verfahrens in Lessings literarästhetischen und theologischen Schriften, Köln/ Wien 1974. Fick, Monika, Lessing und La Volupté, in: Košenina, Alexander/ Stockhorst, Stefanie (Hg.), Lessing und die Sinne, Hannover 2016, 123–139. Nisbet, Hugh Barr, Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Karl S. Guthke, München 2008. Vollhardt, Friedrich, Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk, Göttingen 2018.
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Daniela Kohler
Religionskritik und ihre Folgen David Friedrich Strauß in der Nachfolge von Lessing und Voltaire 1858 fragt Rudolf Haym (1821–1901) in der Rezension zu Strauß’ Monographie über Ulrich von Hutten: Warum doch mußte der Zufall einen Geist von so Lessing’scher Anlage, von so reinem Verstande, von so feinem Sinn für die Form, von so richtigem Blick für alles Individuelle mit nichts so früh und so ernstlich in Verbindung bringen wie mit den am meisten scholastischen Theilen der Wissenschaft!1
Unabhängig davon, ob Haym mit den scholastischen Teilen der Wissenschaft neben der Theologie auch die (Hegelsche) Philosophie meint, mit der er selbst in Hegel und seine Zeit (1857)2 abrechnet, ist hier der Vergleich mit Lessing von Bedeutung: Er dürfte sich auf Strauß’ Kompromisslosigkeit in der Religionskritik ebenso wie auf sein rhetorisches und argumentatives Geschick im Umgang mit den gegnerischen Angriffen beziehen. Einen ähnlichen Vergleich macht Friedrich Nietzsche in seiner ersten „Unzeitgemäßen Betrachtung“. Er meint, Strauß habe sich nie entscheiden können, ob er lieber ein französischer Lessing oder ein deutscher Voltaire habe sein wollen.3 Obschon Nietzsches Aussage polemisch gemeint ist und er Strauß jegliche Eigenschaften abspricht, die er an den beiden bedeutenden Aufklärern lobt, ist davon auszugehen, dass Nietzsche ein prominentes Bild aufnimmt: Strauß mit Lessing und Voltaire zu vergleichen scheint intuitiv gerechtfertigt, der Vergleich ist präsent im zeitgenössischen gesellschaftlichen Bewusstsein. Dies hängt nicht nur mit Strauß’ im Leben Jesu geübter Religionskritik, sondern auch mit seinen späteren literaturgeschichtlichen Arbeiten zusammen. Nach seinem Rausschmiss aus der akademischen Theologie hat Strauß eine Arbeit über Lessings Drama Nathan der Weise und eine umfangreiche Biographie über Voltaire verfasst. Es soll hier aber nicht zur Debatte stehen, ob diese Vergleiche, unabhängig davon, ob positiv oder negativ gemeint, gerechtfertigt sind. Vielmehr geht es im Folgenden
1 Haym, [Rez.] Ulrich von Hutten, 489. 2 Haym, Hegel und seine Zeit. 3 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauß der Bekenner und Schriftsteller, 212.
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um die Frage, inwiefern Strauß selbst Anknüpfungspunkte zu den großen Aufklärern des 18. Jahrhunderts setzt, sein religionskritisches Werk und die Wirkungen in Verbindung stellt zu den Fehden, die Voltaire und Lessing bestritten haben, und er sich als ihr Verbündeter im Kampf um religiöse Toleranz versteht. Dazu werde ich in den ersten beiden Teilen auf das Leben Jesu und die Streitschriften eingehen und in einem dritten Teil die spätere Beschäftigung mit Lessing und Voltaire erörtern, um schließlich in einem kurzen Fazit zu erläutern, welche Beziehung Strauß zwischen sich und den beiden bedeutenden Aufklärern sieht.
1.
Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835/36)
Die Absicht, sich kritisch auf der Grundlage der spekulativen Philosophie mit der Lebensgeschichte Jesu auseinanderzusetzen, reifte bei Strauß zu Beginn der 1830er Jahre, als er sich nach seinem Studium am Tübinger Stift intensiv mit der Philosophie Hegels beschäftigte. Obschon er während seines Aufenthalts in Berlin nur einige wenige Vorlesungen Hegels hören konnte, bevor dieser 1832 an Cholera starb, erwarb er durch die übrigen Berliner Hegelianer,4 aber auch sein in Tübingen weitergeführtes Selbststudium das nötige Rüstzeug für sein Vorhaben. Strauß ahnte bereits früh die Tragweite und die Konsequenzen dieses Vorhabens. 1831 schrieb er an seinen Studienfreund Christian Märklin, er sei „oft recht traurig, daß Alles, was ich in der Theologie thun möchte, nur solche halsbrechende Arbeit ist.“5 Trotzdem müsse „dieser Stoff aus mir herausgestaltet werden.“6 In der Vorrede zum Leben Jesu beschreibt Strauß seine Kompromisslosigkeit als Voraussetzungslosigkeit: Doch glaubt er [der Verfasser, i. e. Strauß] andrerseits wenigstens Eine Eigenschaft zu besitzen, welche ihn zur Übernahme dieses Geschäftes vor Andern befähigte. Den gelehrtesten und scharfsinnigsten Theologen fehlt in unsrer Zeit meistens noch das Grunderforderniß einer solchen Arbeit, ohne welches mit aller Gelehrsamkeit auf kritischem Gebiete nichts auszurichten ist: die innere Befreiung des Gemüths und Denkens von gewissen religiösen und dogmatischen Voraussetzungen, und diese ist dem Verfasser durch philosophische Studien frühe zu Theil geworden. Mögen die Theologen diese Voraussetzungslosigkeit seines Werkes unchristlich finden, er findet die gläubigen Voraussetzungen der ihrigen unwissenschaftlich.7
4 5 6 7
Strauß an Christian Märklin, 15.11.1831, in: Zeller, Ausgewählte Briefe, 9 f. Strauß an Christian Märklin, 6. Febr. 1832, ebd., 15. Strauß an Christian Märklin, 6. Febr. 1832, ebd. Strauß, Das Leben Jesu, VI.
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Religionskritik und ihre Folgen
Das Leben Jesu will Leben und Werk Jesu Christi und damit die das Christentum konstituierenden Lehren der Gottessohnschaft, der Erlösung, Auferstehung und der letzten Dingen spekulativ erfassen.8 Dazu erläutert Strauß in einem ersten Schritt die neutestamentlichen Zeugnisse vom mythischen Standpunkt aus, d. h. er versucht nachweisbare historische Ereignisse von Elementen zu unterscheiden, die durch die jahrtausendelange mündliche und schriftliche Überlieferung dazugekommen und mythisch ausgestaltet worden sind. An die Stelle der dergestalt dekonstruierten Historizität des Neuen Testaments soll in einem zweiten Schritt die spekulativ erschlossene christliche Wahrheit treten. Die biblischen Erzählungen nach mythischen Elementen zu befragen war kein neues exegetisches Verfahren. Angeregt durch Robert Lowths (1710–1787) De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones (1753), das Johann David Michaelis (1717–1791) 1858/61 in einer erweiterten Ausgabe herausgab, wurde im Zuge der ästhetischen Neubewertung der antiken Mythologie und der ältesten Volksdichtung als unmittelbarste und ursprünglichste Poesie auch die alttestamentlichen Zeugnisse, insbesondere die Genesis, poetischen und poetologischen Untersuchungen unterzogen.9 Wegbereiter im deutschsprachigen Raum waren Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827), die sich in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774/76)10 resp. in der Urgeschichte (1779)11 ausführlich mit der Genesis als ältester Volksdichtung beschäftigt haben. Johann Philipp Gabler (1753–1826) in seiner Einleitung zu Eichhorns Urgeschichte,12 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) in Ueber Mythen, historische Sagen und Phänomene der ältesten Welt (1793)13 und Georg Lorenz Bauers (1755–1806) Hebräische Mythologie des alten und des neuen Testaments (1802)14 führten diese Untersuchungen fort. Strauß konnte also auf bedeutende Vorarbeiten zurückgreifen, auf die er in seinem umfangreichen ersten Teil auch immer wieder rekurriert. Sein eigenes Vorgehen ist aber um einiges radikaler und ausführlicher als das Werk der Wegbereiter, insbesondere bei Bauer kritisiert er immer wieder, dass dieser in seiner mythischen
8 Grundlegend zum Leben Jesu: Graf, Kritik und Pseudo-Spekulation; Zager, Liberale Exegese des Neuen Testaments; Strauß, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet. Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1835. Mit einer Einleitung von Werner Zager. 9 Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. 10 Herder, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. 11 Eichhorn, Urgeschichte. 12 Eichhorn, Urgeschichte, herausgegeben mit Einleitung und Anmerkungen von D. Johann Philipp Gabler. 13 Schelling, Ueber Mythen, historische Sagen und Philosophen der ältesten Welt. 14 Bauer, Hebräische Mythologie des alten und neuen Testaments, 2 Bde.
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Exegese nicht weit genug gegangen sei.15 Im Leben Jesu unterzieht Strauß jedes Ereignis aus der Lebensgeschichte Jesu einer ausführlichen Analyse, bei der er die bisherigen Exegesen der unterschiedlichen theologischen Richtungen erläutert und auch apokryphe und profanhistorische Quellen beizieht, um möglichst zweifelsfrei die Historizität oder aber den Mythos der Erzählung nachzuweisen.16 In Anbetracht dieser Untersuchung, die einen Großteil des jeweils über siebenhundert Seiten umfassenden zweibändigen Werks ausmachen, fällt die spekulative Wiederherstellung des Christentums verhältnismäßig kurz aus. Mit dem im Titel angefügten ‚kritisch bearbeitet‘ versucht Strauß, dieser während der Arbeit entstandenen neuen Gewichtung Rechnung zu tragen. Strauß geht bei seiner dogmatischen Wiederherstellung auch nicht auf alle christlichen Lehren ein, sondern gibt lediglich eine spekulative Erklärung der Zweinaturenlehre, die er als Kern des Christentums betrachtet und auf deren Grundlage er jedes weitere Dogma erklären zu können meint. Seiner Meinung nach ist in Christus die Idee des Göttlichen der Gattung Mensch ausgedrückt: Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, dass als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht Kantisch unwirkliche, gesezt wird. In einem Individuum, einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Eigenschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie zusammen. Die Menschheit ist die Vereinigung der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der zur Endlichkeit entäusserte unendliche, und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist.17
Für Strauß ist somit der Inhalt der „höchsten Religion, der christlichen,“18 in der „höchsten philosophischen Wahrheit“19 zu sich selbst gekommen. Diese spekulative Religionsphilosophie entspricht dem Geist der Kritik im 19. Jahrhundert und unterscheidet sich Strauß’ Meinung nach wesentlich von der Kritik des „Naturalisten
15 So würde Bauer beispielsweise bei Lk. 2, 6–20 nur die Engel vom mythischen Standpunkt her erklären (ebd., Bd. 2, 223), die Umstände der Geburt Jesu aber als historisches Faktum unhinterfragt lassen. Strauß hingegen belegt, dass die von Augustus veranlasste Volkszählung nicht historisch nachgewiesen werden kann und auch lediglich bei Lukas geschildert wird, so dass seiner Meinung nach sowohl der Geburtsort Bethlehem wie auch die Niederkunft in einem Stall ein Mythos sei (Strauß, Leben Jesu I, Bd. 1, 206–208; 215). 16 Eine Zusammenfassung der Ergebnisse von Strauß’ mythischer Exegese liefert Zager in der Einleitung zum Nachdruck des Leben Jesu: Strauß, Das Leben Jesu, 24–27. 17 Strauß, Leben Jesu I, Bd. 2, 734 f. 18 Ebd., 687. 19 Ebd.
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Religionskritik und ihre Folgen
und Freigeists“20 des vorangehenden Jahrhunderts, weil sie zu einer höheren Stufe gelangt sei. Strauß hat mit dem Leben Jesu den seiner Meinung nach Grundstein gelegt für die spekulative Theologie, die das akademische Fach Theologie von seinen gläubigen Voraussetzungen befreien und auf eine rein wissenschaftliche Grundlage führen soll. Es geht ihm in seiner radikalen Kritik nicht um die Auflösung des Christentums, sondern um das Aufsuchen einer jedem Zweifel enthobenen, vernünftig einsehbaren christlichen Wahrheit, die seiner Meinung nach nur mithilfe idealistischer Philosophie möglich ist. Er fühlt sich als Wissenschaftler und als der Wahrheit verpflichteter Christ. Strauß unterscheidet seine Religionskritik zwar explizit von derjenigen der Aufklärung. Er siedelt sie auf einem in seinen Augen höheren, weil wissenschaftlich erwiesenen Standpunkt an. In ihrer Radikalität ist sie aber mit der alles Übernatürliche, nicht mit dem Verstand Erklärbare ausmusternden deistischen Richtung, wie sie Lessing und Voltaire verbreiteten, vergleichbar. Auch die Kritik, die auf das Leben Jesu folgte, lässt sich mit derjenigen, die Voltaire Zeit seines Lebens und Lessing insbesondere in der Folge der Veröffentlichung der Reimarus-Fragmente entgegenschlug, vergleichen.
2.
Die Streitschriften (1837)
Bereits nach der Veröffentlichung des ersten Bandes des Leben Jesu waren die Reaktionen derart heftig, dass Strauß nahegelegt wurde, seine Repetentenstelle am Tübinger Stift zugunsten einer Gymnasiallehrerstelle in Ludwigsburg aufzugeben. Auch der nur wenige Monate, zu Beginn des Jahres 1836 erschienene zweite Band, in dem das Christentum, wie oben gezeigt, spekulativ wiederhergestellt wird, konnte den Aufruhr nicht besänftigen. Strauß wurde von allen Seiten mit Kritik konfrontiert, die sich oft kaum mit dem Inhalt seiner Schrift auseinandersetzte, sondern sich vor allem gegen seine Person richtete. Der Vorwurf, ein unmoralischer und pietätloser Religionslästerer zu sein, wurde ihm immer wieder in unterschiedlich heftigem Vokabular entgegengebracht. Strauß reagierte erst 1837 auf die Kritik. Er sei davon ausgegangen, „daß, wenn eine Sache in sich Kraft hat, ihr die einfachste wissenschaftliche Darstellung (wie in meiner Schrift über das Leben Jesu) genügt, um sich, wenn auch langsam, durchzukämpfen.“21 Auch sei er durch die „Leidenschaftlichkeit und Gehässigkeit der Gegner aus aller wissenschaftlichen Stimmung
20 Ebd. 21 Strauß, Streitschriften zur Verteidigung meiner Schrift über das Leben Jesu, VIII.
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herausgeworfen“,22 nicht nur die fehlende Zeit, sondern auch die Unlust habe ihn gehindert, Gegenschriften zu verfassen. Zudem habe er konstatieren müssen, dass auch die um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung und um Objektivität bemühten Gegenschriften kaum überzeugen: „So kann ich doch die wissenschaftliche Bedeutung im vollen Sinne, d. h. bleibendes Moment im Fortschritte der Wissenschaft zu sein, deßwegen keiner [Gegenschrift] zuerkennen, weil sie, um es mit Einem Worte zu sagen, sämmtlich rückwärts statt vorwärts ziehen.“23 Er habe sich lediglich deshalb zur Replik entschieden, damit sein Stillschweigen nicht als „Schwäche und Bewußtsein des Geschlagenseins“24 gedeutet werde. Diese Erläuterungen machen deutlich, dass Strauß zwar kaum mit einer dergestalt heftigen und durchwegs negativen Reaktion gerechnet hat, dass er aber trotzdem überzeugt war, sein Leben Jesu weise die Theologie in die einzig richtige Richtung: in diejenige einer Religionsphilosophie, die nicht mehr auf Glauben beruht, sonderm im idealistischen System Hegels ihre Wissenschaftlichkeit gefunden habe. Vor diesem Hintergrund ist die Ausführlichkeit und Differenziertheit seiner Streitschriften durchaus erstaunlich. Strauß verfasst insgesamt drei im Jahr 1837 erschienene Streitschriften. Jede beschäftigt sich mit einer spezifischen Art der Kritik, die zu charakterisieren und zu widerlegen Strauß zu seinen Hauptaufgaben zählt.25 Als erstes geht Strauß auf den Tübinger Theologen Johann Christian Friedrich Steudel (1779–1837) ein, dessen Standpunkt bereits im umständlich formulierten Titel seiner Gegenschrift enthalten ist: Vorläufig zu Beherzigendes bei Würdigung der Frage über die historische oder mythische Grundlage des Leben Jesu, wie die canonischen Evangelien dieses darstellen, vorgehalten aus dem Bewußtsein eines Glaubigen, der den Supranaturalisten beigezählt wird, zur Beruhigung der Gemüther. Strauß beginnt seine Erläuterung mit Gedanken über die Art und Weise von Bibelexegese. Ein wissenschaftlicher Ausleger von Texten oder ein gewissenhafter Exeget sei derjenige, der „bei der Auslegung, ohne rechts oder links zu sehen, gerade aus nur auf das losgeht, was der Autor wirklich gesagt hat.“26 Steudel versuche im Gegensatz dazu, den Bibeltext „zu drehen und zu mildern“, damit „nichts Unwahres, Unglaubliches, der jetzigen Verstandesbildung Widersprechendes“27 herauskomme. Wer so an die biblischen Bücher herangehe, sei „ein in wissenschaftlicher Hinsicht gewissenloser Exeget“28 und würde, wie dies nicht nur Steudel, sondern allen supranaturalisti-
22 23 24 25 26
Ebd., VII. Ebd., X. Ebd., VII. Ebd., VIII. Strauß, Herr Dr. Steudel oder die Selbsttäuschungen des verständigen Supranaturalismus unserer Tage, 176. 27 Ebd. 28 Ebd.
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schen Theologen eigen sei, stets ‚unwahr‘ interpretieren, d. h. die Wahrheit nach der Verträglichkeit mit dem Glauben modifizieren.29 Obschon Strauß in weiten Teilen versucht, Steudels Argumentation objektiv und sachlich zu entkräften, ist die Schrift von feiner Ironie und satirischen Untertönen durchzogen und zeigt eindeutig, dass er Steudels Einwände mehr humoristischen als wissenschaftlichen Wert beimisst. In demselben Stil, aber ungleich polemischer und schärfer ist die zweite Streitschrift gegen Carl August Eschenmayer (1768–1852) und Wolfang Menzel (1798–1873). Strauß beginnt mit dem Arzt und Philosophen Eschenmayer, den er als mythischen Fanatiker betitelt. Ausführlich zeigt er, dass Eschenmayers Ansichten auf Widersprüchen, unzulänglicher Argumentation und bloßen Behauptungen beruhen und in vielerlei Hinsicht nicht nur unbedarft und unwissenschaftlich, sondern gar lächerlich wirken. Strauß spart nicht mit ironischen Kommentaren und scharfer Kritik. Immer wieder komme „die Hohlheit und Schwäche“30 von Eschenmayers Gedankengängen zum Ausdruck, es reiche bei ihm zuweilen „nicht einmal mehr zum einfachen Denken, geschweige zum Philosophiren,“31 so dass fraglich sei, ob ein „in dem Grade verwahrlostes Denken“32 überhaupt das Leben Jesu verstehen und beurteilen könne. Strauß rechtfertigt seinen ausfälligen Ton mit dem Hinweis, dass er sich sprachlich seinem Kritiker anpasse33 und sich bei der Wortwahl an ihn anlehne.34 Strauß betont denn auch, dass die fehlende Wissenschaftlichkeit Eschenmayers eine Auseinandersetzung mit ihm eigentlich überflüssig mache, wenn er sich nicht ständig mit seinem „eingestandenermaßen unwissenschaftlichen Gerede in alle wissenschaftlichen Verhandlungen“35 einmische würde. Nach Steudels hat Strauß also auch Eschenmayers Einwänden jegliche wissenschaftliche Berechtigung abgesprochen. Zusätzlich zum mythischen bespricht Strauß den moralischen Fanatismus, den er bei Wolfgang Menzel in Bezug auf das Leben Jesu speziell und hinsichtlich dessen Literaturkritik im Allgemeinen zum Ausdruck gebracht sieht. Menzel war Redaktor des Literatur-Blattes. Dieses erschien als Beilage zum Morgenblatt für gebildete Stände, eine einflussreiche, von Cotta herausgegebene Tageszeitung. Diesen
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Ebd., 180. Strauß, Eschenmayer und Menzel, 13. Ebd., 11. Ebd., 15. Ebd., 16. So schreibt etwa Eschenmayer, er halte es für eine „Imbecillität“, nur an naturwissenschaftlich und physikalisch beweisbare Dinge zu glauben (Eschenmayer, Der Ischariotismus unserer Tage, 44), was Strauß mit einer bei Eschenmayer konstatierten „geistigen Imbecillität“ (Strauß, Eschenmayer und Menzel, 17) kontert. 35 Strauß, Eschenmayer und Menzel, 22.
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Einflussbereich Menzels hatte Strauß wohl im Auge, als es ihm darum ging, den „Unfug“36 zu illustrieren, den Menzel „auf dem kritischen Richterstuhle und dem literarischen Markte“37 treibe; mit seiner vernichtenden Kritik an Gutzkows Roman Wally die Zweiflerin löste Menzel ein Verbot der Schriften des Jungen Deutschland aus. Die in der Literatur und Kunst praktizierte „moralische Verdächtigung“38 würde Vorschub leisten für die in der Theologie anzutreffende „religiöse Verketzerung.“39 Um gegen letztere anzukämpfen, müsse also auch mit ersterer abgerechnet werden, so erklärt Strauß seine Streitschrift gegen Menzel.40 Er kritisiert vor allem Menzels tendenziöse Literaturkritik, die nach subjektiven Werturteilen urteilt. „Das Privatleben, der (vermeintliche moralische Charakter, vor Allem die politische Farbe, ist einer der ersten Punkte, nach welchem er bei einem Schriftsteller fragt, und nicht selten der Maßstab, nach welchem seine Werke gemessen werden.“41 Für Strauß sind Menzels Urteile nicht objektive Kritik, sondern boshafte Verleumdung und polemische Anschwärzung, wie er anhand vieler Beispiele differenziert erläutert. Geht es bei Eschenmayer noch am Rande um eine Kritik am Leben Jesu, erübrigt sich gemäß Strauß ein Eingehen auf Menzels Einwände, da diese allzu unzureichend sind. Bemerkenswert ist Strauß’ literarische Kenntnis, die ihm erlaubt, auch auf fachfremdem Gebiet differenziert zu argumentieren und seinem Gegner fachliche Mängel und Widersprüche aufzuzeigen. Strauß arbeitet also in den beiden ersten Heften der Streitschriften ausführlich verschiedene Aspekte einer tendenziösen, subjektiven und emotionalen Kritik heraus. Es geht ihm nicht primär um die Verteidigung seines Standpunktes, sondern darum zu illustrieren, wie unzulänglich diese Art der Auseinandersetzung mit seinem Werk sei. Ausführliche fachliche Erörterungen mit seinen Gegnern finden sich erst im dritten Heft der Streitschriften, in dem sich Strauß mit den Rezensionen in der Evangelischen Kirchenzeitung, den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik und Karl Christian Ullmanns (1796–1865) Rezension in den Theologischen Studien und Kritiken befasst. Damit deckt Strauß das Spektrum der theologischen Strömungen der Zeit ab, denn jede Zeitschrift repräsentiere eine der „in der jetzigen Theologie herrschenden Richtungen: die glaubige oder pietistische, die speculative, und die – man erlaube einstweilen den unbestimmten Ausdruck – vermittelnde.“42 Alle drei Zeitschriften hätten sich für die von ihnen vertretenen Ansichten charakteristisch
36 37 38 39 40 41 42
Ebd., 91. Ebd. Ebd., 93. Ebd. Ebd. Ebd., 96. Strauß, Die evangelische Kirchenzeitung, die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik und die theologischen Studien und Kritiken, 3.
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über sein Werk ausgesprochen: „die erste verdammend, aber klar und entschieden; die zweite vornehm und unklar; die dritte lichtvoll und gemäßigt, doch nicht ohne ein gewisses Schwanken.“43 Bemerkenswert erscheint Strauß die Tatsache, dass alle von einer gemeinsamen Grundannahme ausgehen, die darin besteht, dass das Leben Jesu „aus einer wesentlichen Richtung der Zeit mit Nothwendigkeit hervorgegangen“44 sei. Hier wird deutlich, dass Strauß die spekulative Theologie als Teil des mit Hegels Philosophie initiierten wissenschaftlichen Fortschritts versteht und überzeugt davon ist, dass sich diese Richtung in allen Zweigen der Wissenschaft durchsetzen werde. In der Auseinandersetzung mit der Evangelischen Kirchenzeitung fokussiert Strauß zwei Aspekte: Einerseits die Kritik am Leben Jesu, andererseits das Urteil über seine Person. Strauß betont, dass die Angriffe auf seine Ansichten vom Standpunkt des pietistisch angehauchten Supranaturalismus’, den das evangelische Kirchenblatt vertrete, völlig verständlich seien, da hier keine Trennung von Wissenschaft und Glauben vorliege. Für ihn sei das aus der Sicht der Kirchenzeitung negative Urteil zuweilen gar positiv, so etwa, wenn konstatiert wird, er habe die Hegelsche Philosophie konsequent auf die Religion angewendet und dadurch den gegenwärtigen Zeitgeist unversteckt zum Ausdruck gebracht.45 Mit vielen Zitaten erläutert und unterstreicht Strauß die konsequent eingenommene Haltung der Evangelischen Kirchenzeitung, der gemäß es entweder das kompromisslose Festhalten an den alten Ansichten oder aber die alles zerstörende neue philosophisch-theologische Spekulation gebe, so dass für sie nur das „Rückwärtsgehen“46 und kein Fortschritt möglich sei. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch das Urteil über seine angebliche Irreligiosität. Er sei sich keines Frevels gegen das Heilige der Bibel bewusst, weil er „Jesu blos solche Attribute abspreche, die für mich von keinem Werthe sind, nämlich alle diejenigen, welche über die Gränze des wahrhaft Menschlichen hinausgehen, und mir Jesum zu entfremden drohen.“47 Bemerkenswert an Strauß’ Ausführungen ist die Tatsache, dass es ihm, obschon er diese gläubige Richtung scheinbar akzeptiert, nicht eigentlich um Toleranz und das Bestreben, Glauben neben Wissenschaft zu stellen, geht. Seine Ausführungen sind eine Analyse der theologischen Richtungen mit dem Ziel, immer wieder implizit und explizit klar zu machen, dass sich im Zuge des Fortschritts die spekulative Theologie als einzig wahre durchsetzen werde. Strauß’ Verteidigung gegen die in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik veröffentlichten Repliken auf sein Werk gibt ein umfassendes Bild der verschiedenen 43 44 45 46 47
Ebd. Ebd., 4. Ebd., 8. Ebd., 16. Ebd., 29.
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Standpunkte innerhalb der Hegelschen Philosophie. Seine in diesem Zusammenhang gemachte Unterteilung in rechte, linke und der Mitte zugehörige Hegelianer wurde in die damalige Diskussion um die adäquate Deutung von Hegels Philosophie aufgenommen und bestimmte sie nachhaltig.48 Ausgangspunkt ist die von Hegel selbst in Bezug auf die Bibel nicht eindeutig geklärte Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Idee resp. Begriff.49 Die rechte Seite begnügt sich gemäß Strauß damit, in den jeweiligen evangelischen Erzählungen eine Idee festzumachen und die dazugehörigen historischen Ereignisse nicht weiter zu hinterfragen.50 Die Mitte gehe davon aus, dass lediglich ein Teil der Zeugnisse historisch sei. Die linke Seite erkläre das Evangelium vollumfänglich frei von Geschichte.51 Zu dieser letzten Richtung würde er selbst gehören, allerdings würden die Linkshegelianer es vorziehen, „mich aus ihrem Bereiche ganz auszuschließen und anderen Geistesrichtungen zuzuwerfen; – freilich nur, um mich von diesen, wie einen Ball, wieder zurückgeworfen zu bekommen.“52 Hier kommt erstmals Strauß’ Frustration zum Ausdruck, keine wissenschaftliche Unterstützung im Kampf gegen die Gegner zu haben. Strauß spricht den Kritikern aus den eigenen Reihen eine fundierte Auseinandersetzung mit seinem Werk ab. Gleichzeitig vermisst er die Loyalität, die sich trotz inhaltlicher Differenzen in Bezug auf das Grundanliegen, d. h. auf die Durchsetzung der spekulativen Theologie, seiner Meinung nach hätte zeigen sollen. So etwa bei seinem Lehrer Ferdinand Christian Baur (1792–1860), der sich in seiner Abgenöthigten Erklärung gegen einen Artikel der Evangelischen Kirchenzeitung 53 fachlich oberflächlich mit dem Leben Jesu auseinandersetzt, um sich auf problematische Art und Weise von Strauß zu distanzieren.54 Nichtsdestotrotz geht Strauß nochmals ausführlich auf die Kritik in den Jahrbüchern ein, indem er die Motivation für sein Leben Jesu, seinen Standpunkt und die dafür relevanten Argumente erläutert. Die Kontroverse mit den Gegnern in
48 Pepperle, Die Hegelsche Linke; Sandberger, David Friedrich Strauß als theologischer Hegelianer. 49 Es sei nicht eindeutig, „ob der historische Charakter zum Inhalt mitgehöre, welcher, für Vorstellung und Begriff derselbe, auch von dem letzteren Anerkennung fordere; oder ob er zur blosen Form zu schlagen, mithin das begreifende Denken an ihn nicht gebunden sei.“ (Strauß, Die evangelische Kirchenzeitung, die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik und die theologischen Studien und Kritiken, 57). 50 Damit verbunden ist die Annahme, dass die Idee der Einheit von Gott und Mensch sich in einem einzelnen wirklichen Individuum konkretisieren müsse (Zager, Führt Wahrhaftigkeit zum Unglauben, 22. 51 Strauß, Die evangelische Kirchenzeitung, die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik und die theologischen Studien und Kritiken, 95. 52 Ebd., 126. 53 Baur, Abgenöthigte Erklärung gegen einen Artikel der evangelischen Kirchenzeitung. 54 Melhausen, Spekulative Christologie, 126.
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den Jahrbüchern ist somit eine Auseinandersetzung mit der Hegelschen Religionsphilosophie, wie er sie seit den 1830er Jahren studiert und auf die Evangelien anzuwenden versucht hat. Eine Ausnahme in Bezug auf fachlich differenzierte Kritik bildet für Strauß die Rezension Ullmanns in den Theologischen Studien und Kritiken. Strauß beantwortet sie im Sendschreiben an Ullmann, welches das dritte Streitschriftenheft abschließt. Interessant ist hier Strauß’ Stellungnahme zum 18. Jahrhundert. Strauß betont hinsichtlich Ullmanns Einwand, das Leben Jesu sei nur für akademisch ausgebildete Theologen verständlich und hätte deshalb auf Latein verfasst werden sollen„ dass auch die nicht studierten Theologen von seinem Werk profitierten, und schreibt: : Von den gebildeten und besseren Nichttheologen, bei welchen meine Kritik des Lebens Jesu Anklang finden konnte, stehen manche auf dem Standpunkt Voltaire’s und des Wolfenbüttler Fragmentisten, und Euer Hochwürden räumen mir wohl ein, daß solchen meine Behandlung der Sache, statt etwas an ihnen zu verderben, vielmehr eine ungleich würdigere Ansicht bot.55
Strauß distanziert sich also erneut vom Rationalismus des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen und von Voltaire und Lessing im Besonderen und stellt die Resultate seines Leben Jesu über die lediglich auf die vernünftig einsehbaren biblischen Zeugnisse beharrende Aufklärungstheologie. Obschon Strauß sowohl im Leben Jesu als auch in den Streitschriften Lessing und Voltaire gelegentlich erwähnt, setzt er sich also in keinen direkten Bezug zu den Aufklärungstheologen. Das überrascht insofern, als er aufgrund der schonungslosen Radikalität, mit der er seinen Standpunkt vertritt, und den Anfeindungen, die ihm entgegengebracht wurden, mit ihnen vergleichbar wäre. Für Strauß steht aber die inhaltliche Differenz im Vordergrund, die er immer wieder hervorhebt, um zu betonen, dass die eigene Auffassung weit über die Rationalität des 18. Jahrhunderts hinausgehe.56 Abgesehen vom theologischen Standpunkt ist aber auch die Frage nach den religiös-gesellschaftlichen Errungenschaften, die Befreiung von der theologischen Unterjochung, nicht in Strauß’ Fokus und hat keinerlei Bedeutung für den Kontext seiner eigenen Kritik: Strauß kämpft nicht für Ansichten, die auf Duldung angewiesen sind. Er kämpft für den wissenschaftlichen Fortschritt, für die Theologie als wahre Wissenschaft. Diesbezüglich braucht es nicht Toleranz, sondern kritische Prüfung und neue wissenschaftliche Forschung. Erst als er sich
55 Ebd., 132. 56 Dabei darf nicht vergessen werden, dass es ein allgemeiner Topos der Theologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts war, sich von der als allzu einseitig und ausschließlich auf die Vernunft fokussierenden Aufklärungstheologie zu distanzieren.
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später, nach dem Zusammenbruch des Hegelschens Idealimus und infolge seiner literarhistorischen Arbeiten, stark von der Theologie distanziert hat, ändert sich sein Verhältnis zu den großen Aufklärern des 18. Jahrhunderts.
3.
Lessing und Voltaire im Spätwerk von Strauß
Nach dem Leben Jesu, das bis 1840 in vier Auflagen erschien, und der 1840/41 veröffentlichten Dogmatik57 wandte sich Strauß von der Theologie ab. Dies hängt vor allem auch damit zusammen, dass er sich nach der missglückten Berufung nach Zürich 1839 kaum mehr Chancen auf eine akademische Karriere einräumte. Strauß arbeitete fortan als freier Gelehrter, publizierte in angesehenen Zeitschriften und beschäftigte sich mit literarhistorischen Arbeiten.58 Im Zuge einer dieser Arbeiten, der Übersetzung der Dialoge Ulrich von Huttens,59 kam Strauß jedoch wieder auf das theologische Arbeitsgebiet zurück und reflektierte ausführlich über sein Leben Jesu. In der Vorrede macht Strauß einen literaturgeschichtlichen Exkurs, indem er analog zur Literaturgeschichtsschreibung der Zeit die literarisch-kulturellen Errungenschaften des deutschen Volks beschreibt. Die Reformation habe den Grundstein gelegt für die geistige und gesellschaftliche Freiheit, der das deutsche Volk seit dem 16. Jahrhundert zustrebe. Im 18. Jahrhundert sei es neben Schiller und Goethe vor allem Lessing, dem diesbezüglich besondere Verdienste zukommen, und zwar in Bezug auf die Christentumskritik. Er habe den Weg geebnet für die Auffassung der Weimarer Klassiker, die „keine Offenbarung als die im Gemüth, in Natur und Geschichte, kein Wunder als die Naturgesetze selbst, kein Heil und keine Versöhnung als die sich der menschliche Geist in sich durch Läuterung, durch Entsagung und Liebe schafft“,60 kennen. In diesem Sinne sei auch der Boden frei geworden für die theologischen Ansätze des 19. Jahrhunderts, die über Schleiermacher und Baur zu seiner eigenen Auffassung geführt hätten. Strauß beschreibt sein Werk als Meilenstein des im 18. Jahrhundert zu ersten Erfolgen gelangten und im 19. Jahrhundert dem Durchbruch nahen Fortschritts der religiösen Befreiung. In den fünfundzwanzig Jahren seit der Erstveröffentlichung des Leben Jesu sei „über die Gegenstände, von denen es handelt, keine Zeile von Bedeutung geschrieben wor-
57 Strauß, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 58 Zu den umfangreichsten gehören: Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nicodemus Frischlin (1856) und Ulrich von Hutten (1858). 59 Strauß, Gespräche von Ulrich von Hutten. 60 Ebd., XXIIf.
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den […], in der sein Einfluß nicht zu erkennen wäre“,61 und „gar mancher bessere Mensch in allen Landen, der von dem Studium dieses Buchs seine geistige Befreiung datirt“,62 sei ihm dankbar dafür. Im Zusammenhang mit der Wirkung, aber auch der Kritik kommt Strauß auf Lessing zurück und meint: „Es kommt ja nur auf uns an, ob wir ihnen [den Frommen] Gehör geben, oder es darauf wagen wollen, mit Lessing, Goethe und Schiller in die Hölle, statt mit Hengstenberg, Stahl und Vilmar in den Himmel zu kommen.“63 Die in der Vorrede zur Hutten-Biographie aufgezeigte kulturgeschichtliche Entwicklung, bei der die Werke hinsichtlich ihrer Wirkung auf den deutschen Volksgeist bemessen werden und somit nicht nur literarische, sondern auch theologischphilosophische ’Klassiker’ behandelt werden, läuft also auf eine Würdigung des eigenen Werks hinaus. Diese Würdigung ist aber keinesfalls als erneute Verteidigung des Inhalts, als Wiedereinstieg in den theologischen Kampf um die Durchsetzung der spekulativen Theologie zu verstehen. Strauß betrachtet sein Werk aus historischer Perspektive. Für ihn ist klar, dass insbesondere Baur und dessen Schüler die neutestamentliche Forschung weitergebracht und seine eigenen Resultate teilweise überholt haben.64 Dergestalt kann er sich nun vorbehaltslos mit seinen Vorgängern Lessing und Voltaire identifizieren; den bleibenden Wert des Leben Jesu sieht er darin, dass es wie die Werke der beiden Aufklärer unabhängig vom theologischen Standpunkt einen wesentlichen Beitrag zum geistigen Fortschritt geleistet hat. Diese historistische Betrachtung des eigenen Werks verdankt sich Strauß’ literaturgeschichtlicher Beschäftigung; auch er war dem in der Literaturgeschichte ab 1848 zu beobachtenden Paradigma verpflichtet, Literatur nicht mehr als Stellvertreterin für politische Mobilisierung, sondern als geschichtliches Ereignis aus seiner Zeit heraus zu betrachten. Seit der Edition der Dialoge Huttens setzte sich Strauß nicht mehr nur mit Literatur-, sondern auch mit Theologiegeschichte auseinander. Das erste diesbezügliche Projekt war die Beschäftigung mit Hermann Samuel Reimarus. Strauß hatte bereits in seinem Leben Jesu mehrfach auf die von Lessing herausgegebenen „Fragmente eines Ungenannten“ hingewiesen,65 ohne jedoch den Namen
61 Ebd., LVI. An seinen Freund Ernst Rapp schreibt er, dass das Leben Jesu „in alle Adern der Wissenschaft eingedrungen“ sei (Strauß an Ernst Rapp, 26. Feb. 1860, in: Zeller, Ausgewählte Briefe, 412). 62 Strauß, Gespräche von Ulrich von Hutten, LV. 63 Ebd., XXIIIf. 64 Vgl. diesbezüglich auch die Vorrede in der Volksausgabe: Strauß, Das Leben Jesu, für das deutsche Volk bearbeitet. 65 Strauß, Leben Jesu, Bd. 1, 326; 620.; ebd., Bd. 2, 576; 594; 611; 651.
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Reimarus zu nennen. Dies erstaunt insofern, als die Verfasserschaft des Reimarus seit 1814 unzweifelhaft feststand.66 In den 1840er Jahren hatte sich Strauß darum bemüht, die gesamte Apologie, oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, die sich im Besitz der Hamburger Stadtbibliothek befand, herauszugeben. Dies gelang nicht, da Karl Rudolf Wilhelm Klose (1804–1873), der Sekretär der Bibliothek, bereits mit einer solche Gesamtausgabe beschäftigt war.67 Da diese nicht über den Anfang hinauskam, bemühte sich Strauß in den 1860er Jahren erneut, dieses Mal erfolgreich, um das Manuskript. Er kam jedoch zum Schluss, dass an eine vollumfängliche Edition nicht mehr zu denken sei. Sie würde „schwerlich viele Leser finden“, weil das Werk „unserer Zeit fremd geworden“ sei.68 Der Text bedürfe, um seine Bedeutung der gegenwärtigen Zeit klar zu machen, „eines Dolmetschers, eines Mittelsmanns“,69 der das Werk im theologischen und geistesgeschichtlichen Kontext erläutere.70 „Ich habe“, schreibt er an den Verleger Engelmann, „seine Grundgedanken darzustellen und zu dem theol. Standpunkte der Gegenwart in Verhältniß zu stellen gesucht.“71 Strauß erarbeitete eine kommentierte Kurzform der Apologie, die sprachlich und inhaltlich leichter zugänglich ist als das Original und dank der vielen Zitate trotzdem dessen eigenen Ton widerspiegelt. Bemerkenswerterweise war Strauß’ zusammenfassende Ausgabe die erste und bis zur Gesamtedition, die erst 1972 durch Gerhard Alexander erfolgte, einzige Arbeit, die einen Einblick in den gesamten Inhalt der Schrift erlaubte.72 Unmittelbar an die Beschäftigung mit Reimarus schloss sich diejenige mit Lessing an. 1861 wurden auf Anregung von Strauß in Heilbronn, seinem damaligen Wohnort, Vorträge für die dort stationierte preußische Flotte gehalten.73 Strauß eröffnete
66 Der Sohn Johann Albrecht Heinrich Reimarus schenkte eine Reinschrift der endgültigen Fassung der Apologie der Hamburger Stadtbibliothek; zusätzlich schickte er eine Abschrift an die Universitätsbibliothek Göttingen mit einem Begleitbrief, in dem er seinen Vater als Verfasser angab (Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. von Gerhard Alexander, 17); vgl. auch Strauß, Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Vorrede, VII. 67 Strauß an Cotta, 19. Feb. 1847, DLA Marbach, Cotta Br., Nr. 2. 68 Strauß, Reimarus und seine Schutzschrift, Vorrede, VIII. 69 Ebd. 70 Strauß’ Vorarbeiten beinhalten Abschriften aus der Apologie, aber auch Notizen zu den englischen und französischen Deisten und zu Spinoza; vgl. Strauß, Hermann Samuel Reimarus. Vorarbeiten und Materialien, DLA Marbach, Nachlass Strauß, 6856/2. 71 Strauß an Wilhelm Engelmann, 20. Jul. 1861; DLA Marbach, A. Strauß 269. 72 Kempski, Spinoza, Reimarus, Bruno Bauer, 99. 73 Strauß an Friedrich Theodor Vischer, 29. Nov. 1861, in: Briefwechsel zwischen Strauß und Vischer. Bd. 2, 173.
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die Vortragsreihe mit einem Referat zu Lessings Nathan der Weise, das er 1864 in einer überarbeiteten Form als eigenständiges Werk herausgab. Bereits in der Einleitung macht Strauß seinen in der Reimarus-Vorrede geäußerten historistischen Standpunkt deutlich: Die großen Kunstwerke sind für alle Zeiten geschaffen, und nur dasjenige Kunstwerk ist mit Fug ein großes zu nennen, das den Menschen aller Jahrhunderte fasslich und genießbar bleibt. Aber auch das größte Kunstwerk ist in einer gewissen Zeit und aus ihr heraus gearbeitet: darum wird es ganz und vollständig nur von dem verstanden werden können, der sich mit jener Zeit und ihren Verhältnissen näher bekannt gemacht hat.
„Fasslich und genießbar“, die Attribute also, die Strauß großen Kunstwerken attestiert, erinnern an das ‚Prodesse et delectare‘ der Aufklärungsliteratur. Nathan der Weise ist gemäß Strauß denn auch ein „didaktisches Drama.“74 Der Verweis auf den jeweiligen geschichtlichen Kontext, in dem ein Kunstwerk trotz aller allgemeingültigen Belehrung und Ergötzung erklärt werden muss, ist dem Historismus der Zeit geschuldet und hilft Strauß, nicht nur Lessings Verdienste um die christentumsgeschichtlichen Fortschritte zu würdigen, sondern auch sein eigenes Werk in diese Entwicklung einordnen zu können. Den für Nathan wichtigen historischen Kontext identifiziert Strauß in Lessings Veröffentlichung der Reimarus-Fragmente. Lessing habe die Fragmente veröffentlicht, weil er die darin vorgefundene „Gelehrsamkeit und Denkschärfe“75 bewundert und sich dadurch „keine Beschädigung, sondern nur eine Sichtung und Läuterung des Christenthums“76 erhofft habe, so Strauß’ Urteil, das an die eigene Motivation zum Leben Jesu erinnert. Strauß betont jedoch nachdrücklich den Unterschied zwischen Lessings und Reimarus’ Religionsauffassung. Während Reimarus in den Fragmenten die Auferstehung Jesu als Betrug der Apostel bezeichne und dergestalt davon ausgehe, dass das Christentum auf einer Lüge basiere, sei Lessing um eine Religionsauffassung bemüht, die sich unabhängig von der Wahrheit der biblischen Zeugnisse erklären lasse. In Nathan der Weise verdeutliche er, dass ein wahrer Glaube auf Vernunft und Sittlichkeit beruhe: Diejenige Religion wird die wahre sein, nicht deren Stifter angeblich das übermenschlichste Wesen war, die meisten Wunder gethan und die unbegreiflichsten Geheimnisse
74 Strauß, Lessing‘s Nathan der Weise, 75, dort auch das Zitat. 75 Ebd., 7. 76 Ebd.
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gelehrt hat, sondern die, welche die besten Menschen und die meisten guten Menschen macht.77
Lessings Betonung der inneren Kraft der Religion, die unabhängig von „den äußeren, geschichtlichen Gründen“ zum Ausdruck komme, vermag Strauß durchaus Parallelen zu seiner eigenen Argumentation abzugewinnen. Während Lessing, seiner Zeit geschuldet, auf die Vernunft als den innersten Kern jeglicher Religion zusteuerte, war es bei Strauß die Idee oder das Absolute, die bzw. das losgelöst von sinnlichen, in Strauß’ Terminologie mythischen Religionsvorstellungen zu einer wissenschaftlich-spekulativen Religionsphilosophie führe. Strauß’ Interpretation des Nathan ist insofern bemerkenswert, als er sie in den Zusammenhang zu seiner Leben Jesu-Kritik setzt. So vergleicht er die seiner Meinung nach von Lessing inszenierte Quintessenz der Ringparabel, der gemäß die drei monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam allesamt auf ihrer Geschichte als Beweise ihrer Wahrheit gründen, mit dem mythologischen Narrativ, das die Bibel durchziehe.78 Gemäß Lessing würden auch das Judentum und der Islam auf solchen Narrativen beruhen. Strauß sieht in Lessings Nathan bestätigt oder vorweggenommen, was er mit seiner Mythenkritik gezeigt hat: Religiöse Narrative sind unabhängig von ihrer Faktenlage stark genug, um sich selbst zu beglaubigen.79 Strauß zeigt also anhand des Nathan, was er bereits in der Vorrede zur HuttenWerkausgabe angedeutet hat: Theologiegeschichtlich steht er in der Nachfolge der Religionskritik des 18. Jahrhunderts. Auch wenn sich weder Lessings noch seine eigene Position vollständig bewahrheitet hat, bilden sie doch wichtige Eckpfeiler in einem Kampf, in dem Strauß nicht mehr unmittelbar verwickelt ist, sondern den er nun aus der Distanz historisch objektiv betrachten kann. In der Arbeit zu Voltaire geht es Strauß nicht lediglich um die Theologiegeschichte, sondern um die allgemeinen Entwicklungen im 18. Jahrhundert. So bemerkt er während seiner ausführlichen, ihn zwei Jahre lang beschäftigenden Vorarbeiten: „V.[oltaire] ist in eminentem Sinne ein litterar- und culturhistorisches, aber kein eigentlich biographisches Subjekt.“80 Eine besondere Herausforderung war die Bewältigung des Quellenmaterials: „Voltaire studieren heißt ein Meer austrinken wollen. Auch wenn man nicht Alles lesen will. Auch nur Alles auszulesen, bis man sieht, ob man sich gerade damit einlassen will, kostet unendlich Zeit.“81 Strauß
77 78 79 80
Ebd., 67f. Zu Strauß’ Interpretation der Ringparabel: Endres, David Friedrich Strauß und Lessing. Ebd., 179. Strauß an Friedrich Theodor Vischer, 25. Jan. 1870, in: Rapp, Briefwechsel zwischen Strauss und Vischer II, 269 f. 81 Strauß an Ernst Rapp, 2. Jun. 1868, DLA Marbach, A. Strauß 54.121, Nr. 10.
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studierte neben der siebzig-bändigen französischen Gesamtausgabe82 die biographischen Aufzeichnungen der Sekretäre Voltaires83 und andere zeitgenössische Biographien84 sowie dessen umfangreichen Briefwechsel. Resultat dieser fundierten Quellenarbeit war eine in sechs Vorträge unterteilte Biographie, die abgesehen vom fünften, thematischen Vortrag (Voltaire als Philosoph, Theologe, Historiker) chronologisch Leben und Werk des französischen Aufklärers nacherzählt. Es gehe ihm darum, so formuliert er in der Vorrede, ein möglichst objektives Bild zu zeichnen und damit vorherrschende Vorurteile auszuräumen. Strauß rekurriert hier auf die seit dem 18. Jahrhundert kolportierte Ansicht, der gemäß Leistung und Lebenswandel im krassen Gegensatz stehen. Voltaires Verdienste um die Aufklärung wurden zwar gewürdigt, jedoch durch ein negatives Urteil über seine Person relativiert: er galt als unmoralischer Religionsspötter, dem es lediglich auf die Vermehrung seines Ruhmes und auf keinerlei moralische Werte angekommen sei.85 Demgegenüber will Strauß versuchen, das Zusammenspiel „gar verschiedener Kräfte, die in ihm durcheinandergingen, reiner und unreiner Triebfedern, die ihn gleichermaßen bewegten“,86 möglichst objektiv aufzuzeigen. Dies gelingt ihm auf weiten Strecken, indem er vor allem die Quellen auswertet und Anekdoten und Gerüchte immer als solche kennzeichnet. Auch in Bezug auf „die großen Fragen nach dem Dasein Gottes, der Natur und Bestimmung des Menschen, der Freiheit des menschlichen Willens und der Unsterblichkeit der menschlichen Seele,“87 die Voltaire lebenslang umgetrieben hätten, orientiert sich Strauß vor allem an den Quellen und ist darum bemüht, das gängige Vorurteil auszuräumen, dass es Voltaire nie um den Ernst der Sache, sondern lediglich „um das Spiel seines Geistes und Witzes zu thun“88 gewesen sei. Ausführlich analysiert Strauß Voltaires philosophische und theologische Schriften, um ihn schließlich vor dem Verdacht des Atheismus in Schutz zu nehmen und ihm einen physikotheologisch motivierten, auf die Nützlichkeit einer Gottesvorstellung zielenden Glauben zu unterstellen.89 In Strauß’ Erläuterungen
82 Strauß an Ernst Rapp, 12. Febr. 1868, in: Zeller, Ausgewählte Briefe, 497. Es handelt sich wohl um: Voltaire, Œuvres complètes. 83 Collini, Mon séjour auprès de Voltaire; Longchamp/Wagnière, Mémoires sur Voltaire et ses ouvrages. 84 Duvernet, La vie de Voltaire; Condorcet, La vie de Voltaire. 85 So etwa Herder, der nach der Würdigung Voltaires als großer Philosoph, Schriftsteller und Kämpfer für Toleranz dessen „elenden Leichtsinn, Schwäche, Ungewißheit und Kälte“ rügt (Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit). Im selben Ton schreibt noch Hermann Hettner, dessen Voltaire-Bild wie dasjenige von Strauß trotz der Differenziertheit nicht über die Antagonismen ‚aufklärerische Leistung versus unmoralischer Charakter‘ hinauskommt (Hettner, Geschichte der französischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert). 86 Strauß, Voltaire, 2. 87 Strauß, Voltaire, 218. 88 Ebd., 218. 89 Vgl. ebd., 225f.
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finden sich, anders als bei Lessing, keine Hinweise, aus denen sich schließen ließe, dass Strauß Voltaire als Wegbereiter für seine eigene Religionskritik betrachtete. In Bezug auf den Kampf für religiöse Toleranz mittels des Dramas findet sich aber ein Hinweis auf Lessing: In einem besonderen Falle hatte auch Lessing die Bretter seine Kanzel genannt: Voltaire betrachtete und gebrauchte dieselben immer so. Daß es unter anderen Tugenden ganz besonders religiöse Duldung und Abscheu gegen Aberglauben und Fanatismus war, was er von den Brettern herab predigte, versteht sich von selbst.90
Diese Stelle ist insofern aussagekräftig, als Strauß trotz des quantitativ wenig gerechtfertigten Vergleichs – Strauß schreibt vom Nathan als einzigem ‚Fall‘, in dem Lessing wie Voltaire seine Position der religiösen Toleranz auf der Bühne zum Ausdruck brachte – es nicht unterlassen wollte, von seinem Standpunkt aus den deutschen Dichter und Religionsphilosophen im Verhältnis zum französischen Aufklärer aufzuwerten. Lessing ist Strauß denn auch in vielerlei Hinsicht näher. Allem voran ist Lessing ein wichtiger Zeuge der deutschen Kirchen- und Kulturgeschichte, in die sich Strauß mit seinen religionskritischen Schriften selbst einordnet. Zudem vermag er Lessings Auslegung des Vernunftglaubens, in der historische Wahrheiten eine untergeordnete Bedeutung haben, mit seiner mythologischen Kritik an den evangelischen Zeugnissen in Einklang zu bringen. Im Gegensatz dazu steht Voltaire, dem Strauß auf Grund seiner Nationalität – es kommen immer wieder antifranzösische Ressentiments zum Ausdruck – und trotz der Gründlichkeit und Ernsthaftigkeit seiner religionsphilosophischen Schriften wiederholt übertriebenen Spott und Frivolität unterstellt. Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass Strauß’ Auseinandersetzung mit den großen Aufklärern des 18. Jahrhunderts in engem Zusammenhang stand mit Fragen nach religiöser Toleranz: Diese wertete er zwar am Beginn seines theologischen Schaffens als Relikt einer nicht-wissenschaftlichen Theologie ab, begann aber ihre Bedeutung im Verlaufe seiner Karriere, auf dem Hintergrund der Verabschiedung des Hegelschens Idealismus und der Hinwendung zu einer historistischeren Welterklärung und -auffassung, anzuerkennen.
4.
Fazit
Strauß’ anfängliche Beschäftigung mit Lessing und Voltaire findet auf einer Ebene statt, die nicht primär in Verbindung mit der eigenen Position und dem eigenen
90 Ebd., 76.
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Kampf steht. Als Strauß sein Leben Jesu und die Streitschriften publizierte, befand er sich zwar, was die Kritik und Anfeindungen betrifft, in einer ähnlichen Situation wie Lessing und Voltaire hinsichtlich ihrer religionskritischen Schriften. Für Strauß aber erübrigte sich eine allzu starke Bezugnahme auf die Vorgänger, da es einerseits inhaltlich keine Parallelen gab und da er andererseits davon überzeugt war, dass sich sein Standpunkt früher oder später auf Grund der Beweiskraft durchsetzen werde. Strauß’ Ansicht nach sind die Resultate seines Leben Jesu dergestalt objektiv und wissenschaftlich, dass sie nicht der Duldung oder Akzeptanz bedürfen, sondern lediglich Zeit brauchen, um zum Durchbruch zu gelangen. Strauß glaubte an den Fortschritt hin zur Vernunft, der sich in seinem eigenen Tempo unabhängig von Glaubenstoleranz durchsetze. Das Interesse an Lessing und Voltaire erwachte, als Strauß sich bereits ausgiebig mit historischen Arbeiten beschäftigt hatte. Er betrachtete das Leben Jesu aus der Distanz von über zwanzig Jahren und maß den darin vorgestellten Ergebnissen einen anderen Stellenwert bei. Die spekulative Theologie war der historisch-kritischen Methode der jüngeren Tübinger Schule gewichen, die parallel zu den Entwicklungen in den historischen Wissenschaften Theorien für einen kritischen und objektiven Umgang mit Quellen vorgelegt hatte. Vor diesem Hintergrund wurden Lessings und Voltaires Kampf um religiöse Freiheit mit seinem eigenen vergleichbar. So wie er selbst mit seiner Evangelienkritik der historisch-kritischen Methode vorgearbeitet hat, haben auch Lessing und Voltaire den Boden geebnet für die ihnen nachfolgende Forschung. Lessings und Voltaires Errungenschaften, Glaubenswahrheiten als diskutabel aufzufassen und im historischen Kontext zu verstehen und verschiedene Meinungen zu akzeptieren oder zu dulden, haben gemäß Strauß dazu geführt, dass er selbst und seine Nachfolger frei forschen konnten. Strauß historisierte sich selbst und stellte sich in die Reihe seiner Vorgänger. Der von ihnen geführte Kampf um Toleranz wurde in seinem Jahrhundert ein Kampf um Wissenschaftlichkeit innerhalb der Theologie.
Literatur Handschriften Strauß an Cotta, 19. Feb. 1847, DLA Marbach, Cotta Br., Nr. 2. Strauß an Ernst Rapp, 2. Jun. 1868, DLA Marbach, A. Strauß 54.121, Nr. 10. Strauß an Wilhelm Engelmann, 20. Jul. 1861, DLA Marbach, A. Strauß 269. Strauss, David Friedrich, Hermann Samuel Reimarus. Vorarbeiten und Materialien, DLA Marbach, Nachlass Strauß, 6856/2.
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Graf, Friedrich Wilhelm, Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982 (Münchener Monographien zur historischen und systematischen Theologie 7). Kempski, Jürgen von, Spinoza, Reimarus, Bruno Bauer - drei Paradigmen radikaler Bibelkritik, in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein ”bekannter Unbekannter” der Aufklärung in Hamburg, hg. von der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg, Hamburg 1973, 96–112. Klein, Dietrich, Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk, Tübingen 2012. Melhausen, Joachim, Spekulative Christologie. Ferdinand Christian Baur im Gespräch mit David Friedrich Strauß und Julius Schaller, in: Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler: 8. Blaubeurer Symposion, hg. von Ulrich Köpf, Sigmaringen 1994, 119–140. Pepperle, Heinz (Hg.), Die Hegelsche Linke. Dokumente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz, Leipzig 1985 (Reclams Universal-Bibliothek 1104). Sandberger, Jörg Franz, David Friedrich Strauß als theologischer Hegelianer, Göttingen, Tübingen 1972 (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts 5). Zager, Werner (Hg.), Führt Wahrhaftigkeit zum Unglauben? David Friedrich Strauß als Theologe und Philosoph, Neukirchen-Vluyn 2008. Zager, Werner, Liberale Exegese des Neuen Testaments. David Friedrich Strauß – William Wrede – Albert Schweitzer – Rudolf Bultmann, Neukirchen-Vluyn 2004.
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IV. Toleranzdiskurse aus muslimischer Perspektive
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Barbara Mahlmann-Bauer
Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer Tour d’horizon von Al-Afghānī bis Ayaan Hirsi Ali
1.
Die Reformation und der Königsweg zur Aufklärung in Europa1 „Die Reformation, in Hegels euphorischen Worten die ‚alles verklärende Sonne‘, die auf die humanistische ‚Morgenröte‘ am Ende der ’langen folgenreichen und furchtbaren Nacht des Mittelalters‘ folgte, [...] stellt in der neuzeitlichen Entwicklung hin zu einer Verselbständigung religiöser Individualität gegenüber kirchlich-doktrinärer Autorität und hin zu der Herausbildung einer säkularen Staatsauffassung, genauer der Trennung von weltlicher und geistlicher bzw. kirchlicher Autorität, einen entscheidenden Schritt dar.“2
Mit diesem Satz leitet Rainer Forst in seiner Geschichte der religiösen Toleranz das Kapitel über den Beitrag der Reformation auf dem Weg zur Glaubens- und Gewissensfreiheit bis zur Erklärung der Menschenrechte ein. Die Reformation versteht Forst als „Schritt hin zu einer Verselbständigung religiöser Subjektivität und der Herausbildung der Gewissensfreiheit“.3 Die Konfessionskriege in Frankreich hätten bei Jean Bodin und den Politiques (der prominenteste ist Michel de l’Hôpital) „die Entwicklung hin zu einer säkularen Staatsauffassung“ begünstigt, „der gleichzeitig eine Autonomisierung und Neubestimmung des Selbstverständnisses der Individuen korrespondiert.“4 In Joseph Leclers Geschichte der Religionsfreiheit nehmen Luthers frühe Schriften einen wichtigen Platz ein. Der „eynige glaub“ in einer rein geistlichen Gesellschaft mache die „christliche Freiheit“ aus.5 In De captivitate Babylonica (1520) habe Luther erstmals Gewissensfreiheit gefordert. Niemand dürfe Christen Gesetze auferlegen, „wenn sie nicht einverstanden sind, denn sie sind vor allen Dingen
1 Ich danke Reinhild Mellein (Römberberg bei Speyer) herzlich für ihre kritische Lektüre meiner Abhandlung. 2 Forst, Toleranz im Konflikt, S. 153. 3 Ebd., S. 154. 4 Ebd., 181. 5 Lecler SJ, Geschichte der Religionsfreiheit, Bd. 1, S. 232.
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frei“.6 In seiner Abhandlung Von weltlicher Obrigkeit (1523) stellte Luther den „übernatürlichen und freien Charakter des Glaubens“ heraus, zu dem niemand zwingen könne und daher auch keine Gewalt brauchen dürfe.7 Handbuch-Artikel über die „Reformation“ weisen gleichfalls auf die LangzeitFolgen der Innovationen hin, die durch Luthers Wirken ausgelöst wurden. Seit dem 18. Jahrhundert sahen Historiker in Luthers Reformation den Anstoß zu großen Veränderungen der Gesellschaft und integrierten die Epoche in einen Prozess fortlaufender Erneuerungen, die über Glaubensfragen und Kirche hinausgingen. Im Altertum hatte „reformatio“ die Bedeutung „Rückführung einer deformatio auf einen früheren besseren Zustand“ gehabt. Im Neuen Testament bedeutet „reformatio“ die Umwandlung des Menschen durch Gott zum Besseren.8 Luther zufolge müsse die Reformation beider Stände vom unverfälschten Text des Evangeliums ausgehen. Seine ursprüngliche Überzeugung, dass die Reformation „freye Gewissen“ auf „eine[m] festen Glaubens-Grund“ bewirkt habe, hat sich nach Herders Verständnis erweitert, ihr „principium“ sei „freie Überzeugung, Prüfung und Selbstbestimmung“, „Geist der Freiheit“.9 Erst die „Rückbildung“ der evangelischen Kirche, in „Übereinstimmung mit der ersten normalen Kirche“, ermöglichte Schleiermacher zufolge „immerwährendes Fortschreiten“.10 Dieser Prozess vollzog sich seit der Reformation nur langsam, und zu ihm gehört Schleiermacher zufolge ein Sinn für „alle Verschiedenheiten“, welche die Kirche „in Streit und Liebe zu verarbeiten“ trachtete.11 Was einmal hauptsächlich „Reformation“ der Kirche gewesen war, wurde in der Aufklärung „zur Befreiung“ aus „kirchlicher Sklaverei“.12 Die Befreiung vom Zwang auf religiösem Gebiet wurde im 19. Jahrhundert als „Vorstufe der politischen Freiheit des Bürgers“ verstanden.13 In der Folge des kirchlichen Schismas stand für die Obrigkeit in protestantischen Territorien und Städten erstmals die Frage auf der Tagesordnung, wie man mit Altgläubigen und religiösen Abweichlern, Täufern, Schwärmern, Spiritualisten, Libertins etc. umgehen solle. Die Kontroverse nach der Genfer Hinrichtung Michel Servets als Ketzer im Oktober 1553 setzte in den Kirchen einen Lernprozess in Gang. Ein Ergebnis davon war, dass „Häre-
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Ebd., S. 233. Ebd., S. 235 f. Mahlmann, Art. „Reformation“, Sp. 416. Ebd., Sp. 420. Ebd., Sp. 421 mit 424 f. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Sämtliche Werke, Abt. I: Theologie, hg. von Jacob Frerichs, Bd. 5, 674 f. 12 Seebaß, Art. „Reformation“, in Theologische Realenzyklopädie Bd. 28 (1997), 386–404, hier S. 394 (das Zitat nach Johann Salomo Semler. 13 Ebd.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
sie“ und „Häretiker“ in der protestantischen Kirche künftig keine strafrechtliche Bedeutung mehr hatten.14 Jürgen Habermas würdigt die Debatten über Rechtgläubigkeit und religiöse Dissidenz der Reformationszeit, die Religionskriege in Frankreich und den Niederlanden, den Friedensschluss nach dem Dreißigjährigen Krieg und die amerikanischen Bürgerkriege als „Schrittmacher“ auf dem Weg zur Toleranz in Europa. Religiöse Toleranz sei mehr als bloße Duldung, sie bedeute Anerkennung einer fremden Weltanschauungen und verlange Respekt ihr gegenüber.15 Toleranz erfordere, die „eigenen Glaubensüberzeugungen in ein [...] Verhältnis zur Tatsache des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus zu setzen“. Voraussetzung dafür sei die Anerkennung von Menschenrechten. Eine religiös plurale Gesellschaft habe allerdings die Aufgabe, die multiplen Glaubensüberzeugungen mit den nicht verhandelbaren Dogmen und den Grundwerten in Einklang zu bringen. In der post-säkularen Gesellschaft bedeute indes Toleranz für Gläubige und Ungläubige eine „Zumutung“. Sie verlange, „dass die von der eigenen Religion vorgeschriebene Lebensweise oder das dem eigenen Weltbild eingeschriebene Ethos einzig unter der Bedingung gleicher Rechte für jedermann realisiert werden dürfe.“16 Sind überhaupt Alternativen zum europäischen Prozess der Säkularisierung vorstellbar? Braucht es nicht in jeder Gesellschaft eine Reformation nach dem Vorbild der lutherischen, damit Neuerungen gesellschaftlich akzeptabel werden, die zur modernen demokratischen Grundordnung führen, in der der Glaube als schützenswerte Privatsache anerkannt wird? Ist die Reformation als Epoche zu würdigen, ohne die es keine Aufklärung, ebenso wenig Religionsfreiheit als Menschenrecht in einer modernen Demokratie gäbe? Aber anders gefragt: Mutet die Annahme, dass die Reformation ein notwendiger Schritt in Richtung auf die Moderne sei, nicht eurozentrisch an?17 Genau solche Fragen stellten sich aber muslimische Intellektuelle, die in den kolonial verwalteten Ländern Nordafrikas und des vorderen Orients über Wege gesellschaftlicher und politischer Reformen nachdachten, mit deren Hilfe ihre Gesellschaften auf allen Gebieten das in Europa herrschende Niveau erreichen 14 15 16 17
Mahlmann-Bauer, Häresie aus juristischer Sicht, 43–86. Mahlmann-Bauer (Hg.), Castellio (1515–1563), Einleitung, bes. S. 47. Habermas, Religiöse Toleranz als Schrittmacher kultureller Rechte, 258–279. Historische ‚Meistererzählungen‘ stehen unter dem Verdacht, teleologisch geordnete Konstruktionen in parteilich-konfessioneller Absicht zu sein und die Komplexität der Reformation, die Sammelbezeichnung für regional unterschiedliche religiöse Reformen ist, grob zu vereinfachen. Vgl. van den Brink, The Reformation, Rationality, 193–205. Stephan Kokew sucht in islamischen Kulturen nach ähnlichen Gedanken und Ideen, welche in Europa den Prozess der Aufklärung eingeleitet haben, und gelangt zum Urteil, dass es im Lauf der islamischen Geschichte keine tiefgreifenden „Umbruchsprozesse, wie etwa die Reformation und die sich aus ihr entwickelnden Glaubenskriege [...] gegeben hat“; Kokew, Toleranz im islamischen Kontext, 203 f. und 214).
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könnten. Der Islam war nach ihrer Überzeugung das einigende Band zwischen ethnisch und politisch verschiedenen Völkern. Auf gemeinsame Traditionen islamischer Denk- und Lebensweise müsste sich die Identität der Völker gründen, die momentan politisch zersplittert und von Kolonialmächten fremdbestimmt seien. Eine Reformation vom Ausmaß der lutherischen schien den Reformdenkern notwendig, damit ein Volk von Muslimen für die Errungenschaften der Moderne, mithin auch für die Anerkennung demokratischer Grundrechte, gewonnen werden könnte.18 Martin Luther und die Reformation dienten der ersten Generation von Islamreformern19 im Vorderen Orient und in Nordafrika seit 1870 zur Verständigung über die Bedeutung islamischer Theologie, Bräuche und Lebensweise in der Geschichte ihrer Länder, die danach trachteten, sich aus der kolonialen Abhängigkeit zu befreien und als souveräne Staaten gleichberechtigte Partner Europas zu werden. Um das Vorbild Luthers als Akteur und seine Reformation der Kirche im Urteil muslimischer Intellektueller, die in Islamreformen den Schlüssel für die Modernisierung ihrer Gesellschaften suchten, geht es in den folgenden Kapiteln.20 Zwar hielten sie Luthers Rebellion gegen veraltete, repressive Strukturen der römischen Kirche für vorbildlich, kein Verständnis hatten sie jedoch (wie gezeigt werden soll) für den Streit christlicher Theologen, der im 16. und 17. Jahrhundert zu Blutvergießen führte, ebensowenig für die kirchliche Inquisition und biblisch begründeten Denkverbote, welche die freie Natur- und Himmelsforschung einschränkten. Der vorherrschenden Intoleranz gegenüber Andersgläubigen im konfessionell gespaltenen Europa der Frühen Neuzeit hielten die muslimischen Intellektuellen vor und nach 1900 die tolerante Praxis im Osmanischen Reich und in islamischen Nachbarländern entgegen, christlichen und jüdischen Minderheiten gegen Bezahlung einen Schutzstatus zu gewähren, der mit der Wertschätzung der Buchreligionen im Koran begründet wurde.21 Akut stellt sich die Frage, woher die muslimischen Intellektuellen ihr Wissen über die Reformationszeit und die nachfolgende Epoche der Konfessionalisierung hatten, in der Luther als Lichtgestalt herausragte. Sie setzten sich mit den orientalistischen Vorurteilen westlicher Historiker, Religionsforscher und Soziologen ihrer Zeit auseinander. Deren Vorurteile gingen im späten 19. und noch im 20. Jahrhundert nicht selten mit der „Perspektive einer Whig history“ einher, „also einer von heutigen normativen Voraussetzungen
18 Zum Verständnis von „Moderne“ in der Sozialgeschichte der islamischen Länder s. Schulze, Geschichte der islamischen Welt, 29 f.; Schäbler, Moderne Muslime, 11–15. 19 Zum Begriff „Islamreform“ s. Amirpur, Den Islam neu denken, 13 f. 20 Der indische Kontext wird hier nicht berücksichtigt. Ich erwähne hier nur, dass auch Muhammad Iqbal sich in seiner „Presidential Address“ an die indische Muslim League am 29. Dezember 1930 auf Luthers Reformation bezog. Vgl. Sherwani, Speeches, Writings and Statements of Iqbal, 3–7. 21 Zum Schutzstatus der sogenannten Ḏhimmīs s. Krämer, Islam und Toleranz.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
ausgehenden Sicht auf die frühneuzeitlichen Debatten“, die bevorzugt auf erste Anzeichen religiöser Toleranz und vereinzelte Forderungen nach Religionsfreiheit und Gleichberechtigung in der Geschichte Europas gerichtet war.22 Die orientalistischen Ressentiments sind nicht verschwunden, beklagen heutige Islamwissenschaftler einmütig. Das verbreitete Bild eines Geschichtsverlaufs mit Reformation, Aufklärung und Liberalismus als Stationen auf dem Weg zu den Grundwerten und Grundrechten moderner Gesellschaften in Europa hat umgekehrt die Wahrnehmungen des ‚Orients‘ und des Islam als anti-modern nachhaltig geprägt. Da die Länder des Islam sich nicht analog zum abendländischen Säkularisierungsprozess entwickelt haben, erschienen sie aus europäischer Sicht rückständig. Die Ansicht, dass „der Islam irgendwo ‚zwischen Mittelalter und Moderne‘ steht, jedenfalls nicht ‚in der Moderne angekommen‘ sei, ist zu einem Topos geworden“, stellt Thomas Bauer fest.23 Der Islam sei „Inbegriff der Anti-Moderne oder zumindest der Vormoderne“, weil es „keine Reformation gegeben“ habe.24 Reinhard Schulze nimmt ebenfalls Anstoß an einem Geschichtsverständnis, welches „die islamische Welt aus der Geschichte der Neuzeit“ ausgliedert, „da sie von einer Religion determiniert sei, welche nicht dem ‚politisch-ideologischen Prozeß‘ unterworfen wurde, der Europa zu ‚einer geschichtlichen Idee‘ gemacht habe. Da der Islam weder ‚Aufklärung, Reformation, noch französische Revolution‘ erfahren habe, welche das ‚Reflexiv-Werden des religiösen Glaubens und die Entfesselung der subjektiven Freiheit‘ möglich gemacht hätten, sei er eine ‚vormoderne Kultur‘ und damit aus der Weltgemeinschaft der Neuzeit ausgeschlossen.“25 Reinhard Schulze beginnt seine Monographie über die Geschichte und Entstehung des Koran mit einer Beschreibung anti-islamischer Stereotypen des Orientalismus. Der Islam scheine aus eurozentrischer Sicht „eine Religion ohne Reformation und Aufklärung, die sich [...] nur in politischen Machtansprüchen Geltung verschaffen könne, eine Religion, aus der heraus Terroristen erwüchsen, in deren Tun sich die Urgewalt des Religiösen manifestiere.“ Der Islam repräsentiere im Kern also das Paradigma einer Antimoderne.26 Die Moderne – Demokratie und Toleranz eingeschlossen – erscheint in diesem holzschnitthaften Geschichtsbild als „europäische Errungenschaft, die überwiegend als positiv und erstrebenswert betrachtet wird und die sich andere Erdteile erst mühsam erarbeiten müssen – falls sie [...] nicht durch eine mit der Moderne
22 Salatowsky/ Schröder (Hg.), Duldung religiöser Vielfralt, Vorwort, 10 und oben, meine Einleitung. 23 Thomas Bauer nennt Buchtitel über die Geschichte islamischer Länder als Belege. Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab, 24. 24 Schäbler, Moderne Muslime, 11. 25 Schulze, Geschichte der islamischen Welt (1994), 12, zitiert von Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab, 24 f. 26 Schulze, Der Koran und die Genealogie des Islam, Zitate auf S. 11.
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nichtkompatible Religion daran gehindert werden.“27 „Der Islam war [ab 1870] zum (Leit-)Begriff der Scheidung zwischen Europa und dem Orient geworden.“28 Der Islam wurde im westlichen Selbstverständnis zu einem Sammelbegriff für den „Eigensinn des Orients“. Demnach gebe der Islam dank erfolgreicher Missionstätigkeit den Ländern und Gesellschaften in Westafrika und im vorderen Orient einen Zusammenhalt. Die politischen Herrschaften der Reiche in Nordafrika und im vorderen Orient entsprachen nicht dem Wunschbild des Okzidents, vielmehr schienen Sultane und Kalifen wie im Mittelalter despotisch, tyrannisch und ohne Rekurs auf Grundrechte und moralische Grundwerte zu regieren. Der Islam, eine fanatische Religion, sei für die Rückständigkeit mit verantwortlich. Entsprechend dieser Geschichtssicht bestritt Helmut Schmidt 2004, dass die Türkei jemals ein Teil Europas sein könne: „Im Islam fehlen die für die europäische Kultur entscheidenden Entwicklungen der Renaissance, der Aufklärung und der Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Autorität.“29 Birgit Schäbler hält dagegen: „Der Islam und seine Beziehungen zum Westen heute sind ein E rgebn is der Moderne,“30 seitdem sich nämlich Islamreformer mit diesem religiösen Traditionssystem beschäftigt haben. „Okzidentalismus“ wird als polemischer Begriff für die Ansichten von Muslimen, die sich in den Kolonien von Nordafrika bis zum indischen Subkontinent als Opfer der wirtschaftlichen Ausbeutung des westlichen Imperialismus sahen, dem „Orientalismus“ entgegengesetzt. „Okzidentalismus“ bezieht seinen Impetus seit dem 19. Jahrhundert aus der Besinnung auf den „Eigensinn des Orients“. Damit werden verstärkt seit der iranischen Revolution 1979 anti-westliche Ressentiments gegen Materialismus, Konsumismus und Dekadenz bezeichnet.31 „Die 1880er Jahre waren die Hochphase des Imperialismus, in denen sich die Welt gegen die europäische, auch geistige Vorherrschaft zu wehren begann.“32 Der Panislamismus entstand im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts „als Antwort auf das europäische Vordringen im Nahen Osten und auf dem Indischen Subkontinent [...] insbesondere in Kreisen osmanischer Intellektueller“.33 Muslimische Intellektuelle in den Ländern Nordafrikas und des vorderen Orients nahmen die Kolonialmächte ambivalent in ihrer Doppelrolle als Vorbilder und Bedrohung wahr.34 In den von Großbritannien
27 Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab, 25. 28 Schulze, Geschichte der islamischen Welt (1994), S. 31. 29 Helmut Schmidts Beitrag „Sind die Türken Europäer?“ (2004) wird von Thomas Bauer zitiert: Warum es kein islamisches Mittelalter gab, 25 f. 30 Schäbler, Moderne Muslime, 12. 31 Buruma/ Margalit, Okzidentalismus. 32 Schäbler, Religion, Rasse und Wissenschaft, 6. 33 Christian Sziska, Art. „Panislamismus“, in: Elger (Hg), Kleines Islam-Lexikon, 255. 34 Keddie, An Islamic Response to Imperialism, Introduction, XVII.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
verwalteten Kolonien und den französischen Protektoraten wurden die abendländische Zivilisation und der Fortschritt von Technik und Naturwissenschaft nicht nur bewundert. Sondern Muslime, die Gelegenheit hatten, westliche Kultur in Paris, London oder Berlin kennenzulernen, fragten skeptisch, ob es überhaupt ratsam sei, von dort wissenschaftliche Erkenntnisse und Technologie in Gesellschaften zu importieren, die vom Islam geprägt waren. Der Import westlicher Wissenschaften und Technologie in die Länder Nordafrikas und des vorderen Orients veranlasste islamische Intellektuelle, angeführt von Seyyed Djamāloddīn al-Afghānī, seinem Schüler Muḥammad ‘Abduh und dessen Schüler Rashīd Ridā, zum Nachdenken darüber, wie islamische Gesellschaften modernisiert und in ihnen liberale und demokratische Prinzipien verankert werden könnten und welche Rolle dabei die angestammte Religion spielte. Islam wird dabei als Traditionsgeflecht mit kulturell unterschiedlichen Praktiken und Erscheinungsformen und dem Koran als Zentrum verstanden, ein Traditionsgeflecht, welches die Länder von Nordafrika bis zum Fernen Osten, die von Muslimen missioniert worden waren, eint.35 Konfrontiert mit dem weltweit rezipierten Urteil Ernest Renans von 1883, dass der Islam unfähig zur Moderne sei,36 erörterten die drei Meinungsführer ihrer Zeit in Ägypten, wie der Islam so reformiert werden könnte, dass die Bevölkerung in den Genuss von Selbstbestimmung und politischer Mitwirkung käme.37 Seitdem Herrscher im Osmanischen Reich, in Ländern Nordafrikas und Indien Austausch mit europäischen und amerikanischen Wissenschaftlern, Politikern und Unternehmern pflegten und Studenten aus dem Orient in Paris, London, Basel und an deutschen Universitäten studierten, wurden Texte französischer, englischer und deutscher Philosophen und Historiker ins Arabische oder Türkische übersetzt und in Fachzeitschriften diskutiert. Der Wissenstransfer durch Übersetzungen, die Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse und das Studium der Geschichte abendländisch-christlicher Staaten regten islamische Intellektuelle zu Systemvergleichen an. Sie fragten, worin die islamische Kultur der des Abendlandes gleich wichtig oder gar überlegen sei und welche religiösen Praktiken und Wissenstraditionen den abendländischen Autoritäten auf dem Gebiet der Philosophie, der Naturwissenschaften und der Geschichte entgegengestellt werden könnten.38 Der wirtschaftliche Verkehr zwischen Kolonialmächten und den islamischen Ländern machte dortigen Meinungsführern einen ungeheuren Nachholbedarf bewusst. Gemessen am Stand der Infrastruktur, Technik und Wissenschaften in den Ländern
35 Schulze, Der Islam und die Genealogie, 27–37; ders., Geschichte der islamischen Welt, 35–45. 36 Ernest Renans Vortrag an der Sorbonne 1883 wurde zusammen mit den Reaktionen islamischer Intellektueller und Textanalysen publiziert von Birgit Schäbler, Moderne Muslime. Dazu s. Kapitel 5. 37 Von Kügelgen (Hg.), Wissenschaft, Philosophie und Religion, 32; Schulze: Der Koran und die Genealogie, 11. 38 Dazu vgl. von Kügelgen (Hg.), Wissenschaft, Philosophie und Religion.
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Europas schienen das Bildungssystem und das Nachrichten- und Zeitungswesen besonders rückständig. Zwei Leitmotive beherrschten die Texte der Islamreformer seit 1860: zum einen die Frage, was islamische Länder von den Institutionen, politischen und wirtschaftlichen Praktiken und westlicher Wissenschaft lernen könnten, um den Wissensvorsprung der Nationen des Abendlands aufzuholen, und zum anderen, wie dabei die eigene religiöse Kultur bewahrt und so reformiert werden sollte, dass die islamischen Gesellschaften ihren eigenen Weg zur Moderne erproben könnten. Anke von Kügelgen rekonstruiert die Stimmenvielfalt muslimischer Intellektueller vor und nach 1900 und sortiert sie danach, wie sie über das Verhältnis zwischen Religion, Philosophie und Wissenschaft dachten.39 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten sich islamische Intellektuelle Fragen, in denen sich ihr Unbehagen an der kolonial-hegemonialen Fremdsicht artikuliert und ihr Bemühen um eine auf die Kultur des Islam gegründete Identität zum Ausdruck kommt.40 Die folgenden Begriffsklärungen von ‚Protestantisierung‘ und ‚reformieren‘ sind hilfreich, um die Sicht der Islamreformer auf Luther und die Reformation verständlich zu machen und auf die Analyse ihrer Texte vorzubereiten.
2.
Die Protestantisierung des Islam
Mit Rücksicht auf die nachhaltige Erfolgsgeschichte islamischer Missionierung von Nordafrika bis in den Fernen Osten rät Reinhard Schulze, den Islam als Traditionsgeflecht und nicht als Lehrsystem infolge einer Dogmenbildung auf der Grundlage von Koran und Sunna zu betrachten. Dieses Traditionsgeflecht habe sich seit der Kolonialzeit als aufnahmefähig für einige ‚protestantische’ Elemente erwiesen. In den islamischen Reformdiskursen war ‚Protestantismus’ ein Neologismus, die Bezeichnung für einen Wandel oder eine Läuterung im religiösen Denken, der typisch sei für bestimmte Wendepunkte in der Geschichte einer Religion. Vergleicht man Religionen miteinander, kann man feststellen, dass beispielsweise das Judentum und der Islam eine der lutherischen Reformation vergleichbare Wende, verstanden als Läuterung durch die vermeintliche Rückkehr zum Glauben der Gründerzeit, zu verzeichnen hätten. Aus Luthers Reformation und ihren gesellschaftlichen Folgen könne man lernen, dass jede alte Religion ein Stadium der Protestantisierung
39 Von Kügelgen, Wissenschaft, Philosophie und Religion. 40 Napoleon okkupierte Ägypten 1798, Frankreich besetzte Algerien 1830 und okkupierte Tunesien 1881. Die Briten marschierten 1882 in Ägypten ein. Vgl. Gudrun Krämer, Die arabische Welt im 20. Jahrhundert, in: Albrecht Noth/ Jürgen Paul (Hg.), Der islamische Orient. Grundzüge seiner Geschichte, Würzburg 1998, 439–504; Hourani, Arabic Thought, 103.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
durchlaufen müsse, wenn sie sich für die Moderne als tauglich erweisen möchte.41 Die protestantischen Tugenden beziehen sich auf (1) die Verinnerlichung und Verabsolutierung des Glaubens (sola fide), der vor dem eigenen Gewissen Bestand haben müsse, (2) eine Vorbildfigur, die wie Jesus moralisch gutes Handeln vorlebe, und (3) die Verpflichtung auf einen heiligen, geoffenbarten Text, dessen Deutung Vorrang gegenüber kirchlichen Dogmen habe. ‚Protestantismus’ wurde als Paradigma im Hinblick auf die Selbstverständigung im Islam, seine Reformbedürftigkeit und Moderne-Tauglichkeit diskutiert. Die Richtung des sittenstrengen, rückwärtsgewandten Wahhabismus, der in Saudi-Arabien bis heute Staatsreligion ist, wurde von seinen Anhängern als ‚protestantisch’ etikettiert. Muḥammad ibn Abd al-Wahhab (1703/4–1792) stammt aus dem Norden der Arabischen Halbinsel. Der Vertreter eines strikten Monotheismus stieß sich an Heiligenverehrung und Volksfeiern zur Verehrung des Propheten. Er bekämpfte die Religion der Shiiten; seine Nachfolger verboten Tabak, Musik und seidene Kleidung als dekadent.42 Das Protestantische galt als ein Maßstab, an dem sich die kulturelle Emanzipation der eigenen Religion ermessen ließ. Mit ‚Protestantismus’ bezeichneten reformwillige Islamgelehrte ihrerseits einen historischen Verlauf, welcher die islamische Religionsgeschichte mit dem Geschehen der Reformation parallelisierte, wobei dieses Geschehen als Schrittfolge auf dem Weg zur Säkularisierung betrachtet wurde. Der deutsche Protestantismus schien einigen Islamreformern ein erfolgreicher Weg zu sein, um die Gesellschaft, das Bildungs- und Sozialwesen und das Regierungssystem für die Aufgaben der Moderne zu rüsten. Als gut und modernetauglich galt ihnen demnach eine Religion mit einem spirituell zu erlebenden Glauben, der sich nicht in ein kirchliches Dogma pressen ließ. Das Gewissen war für sie die innere Instanz, vor dem der Glaube Bestand haben müsse, ohne sich zwängen oder pressen zu lassen. Die geläuterte Religion enthielt einen Code von universell gültigen Moralmaximen. Den Maßstab für die anzustrebende Reform des Islam, welche die Religion zur Grundlage gesellschaftlicher Erneuerung machen sollte, lieferte die Erfolgsgeschichte der evangelischen Kirche in Deutschland. Max Webers These, dass der Protestantismus eine Wirtschaftsethik begünstigt habe, derzufolge Tüchtigkeit in der Welt durch asketische Arbeit als Bewährung vor Gott und Garantie auf das erwartbare Heil gelte, wurde unter Islamgelehrten angeregt diskutiert. Weber hat sich in der Zeit, als die Religionswissenschaft zur akademischen komparatistischen Disziplin avancierte, für den Vergleich von Religionen in Hochkulturen interessiert und seine Aufmerksamkeit auf Gesetz-
41 Schulze, Protestantisierung, S. 164. 42 Schäbler, Moderne Muslime, 29–32; Schulze, Geschichte der islamischen Welt, 50.
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mäßigkeiten im Verlauf ihrer Entwicklung gerichtet.43 Er beobachtete, dass jedem Religionssystem eine Tendenz zur ‚inneren Rationalisierung’ innewohne. Wer die Religionssoziologie in Wirtschaft und Gesellschaft studierte, konnte auf die Idee kommen nach „funktionalen Äquivalenten des Islam zum Protestantismus und westlichen Rationalismus“ zu suchen, im Bestreben, ihn für die Ansprüche der modernen Gesellschaft und den Kapitalismus zu rüsten.44 Nach Webers Ansicht zeichnete sich die „frühislamische Kriegerethik“ durch Disziplin aus, die ein solches funktionales Äquivalent darstellen könnte: „Disziplin und Glaubenskriege waren die Quelle der Unüberwindlichkeit der islamischen wie der Cromwellschen Kavallerie.“45 Weber stellt in Wirtschaft und Gesellschaft die Arbeitsethik, die ökonomische Lebensplanung und asketische Selbstdisziplin, Tugenden, in denen er die Wirkung der Reformation zu erkennen glaubt, als Merkmale des okzidentalen Rationalismus dem Fatalismus, der Jenseitsausrichtung und der ganz anderen Lebensplanung im nahen und fernen Orient gegenüber.46 Die kapitalistische Wirtschaftsweise, der Export der Industrialisierung in Länder außerhalb Europas und bahnbrechende Fortschritte in den Life sciences analysierte Weber als Resultate einer longue duréeEntwicklung seit Gründung der christlichen Kirche als Staatskirche im Imperium Romanum Konstantins. Den Islam betrachtete Weber als Beispiel einer Anti-These zur Moderne.47 Webers globale Sicht auf die erfolgreiche wirtschaftliche und politische Entwicklung der Gesellschaften im christlichen Abendland war faszinierend und provozierend zugleich. Aber schon vor Max Webers Thesen über die protestantische Wirtschaftsethik begannen Intellektuelle aus den Ländern des Islam, die sich für Reformen in ihrer Gesellschaft engagierten, auf die ‚Erfolgsgeschichte’ des Protestantismus aufmerksam zu werden. Sie wurde ihnen in Überblicksdarstellungen, die z. T. ins Arabische übersetzt wurden, vermittelt. François Guizots Histoire générale de la civiliation en Europe (1828) und John William Drapers History of the Conflict between Religion and Science (2 1875) – Werke, deren Inhalt und Wirkung im fünften und sechsten Kapitel vorgestellt werden – lenkten die Aufmerksamkeit islamischer Intellektueller 43 Kippenberg, Max Weber, 127–153, zur Weber-These besonders S. 134. 44 Stauth, „Protestantisierung des Islams“ 1–15, hier 2; ders.: Islam und moderne Gesellschaft. 45 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe. Tübingen 1972, 2. Teil, Kap. V zweiter Teil, Kap. V: Religionssoziologie, 347, zit. von Stauth, „Protestantisierung des Islam“, 3; ders., Islamische Kultur, 217–251. 46 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Kap. V, § 12, zum Islam 375 f.; dazu Wolfgang Schluchter, Max Webers Sicht des Islam. 47 Indizien zu einer Umwertung der stereotypen Opposition „Okzident“-„Orient“, „Moderne“„Antimoderne“ etc. , einer „islamischen Aneignung der Weber-These“ lassen sich indes im Hauptwerk von Muhammad Iqbal (1877–1938), des Soziologen und Dichters aus dem Punjab, finden. Vgl. Muhammad Iqbal, Reconstruction.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
vor 1900 auf Martin Luther und die langfristigen Wirkungen der Reformation in den protestantischen Ländern und Territorien. Guizots Histoire générale wurde aus dem Englischen 1846 von Hunayn Ni’amatualla Khuri ins Arabische übersetzt und erschien 1877 in Alexandria. Diese Übersetzung wurde in Zeitungen und Journalen von christlichen und muslimischen Journalisten als Einführung in die Geschichte der europäischen Zivilisation gerühmt.48 Draper’s History of the Conflict wurde von Ahmed Midhat Effendi ins Türkische übersetzt und mit zahlreichen Ergänzungen 1895–1900 publiziert.49 Guizot und Draper waren mehr an Prozessen des gesellschaftlichen und politischen Wandels und an der Wissenschaftsgeschichte interessiert denn an Luthers Theologie und ihren Wirkungen. Sie führten die freigeistigen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, laizistische Regierungen und die Fortschritte in den Naturwissenschaften und der Technik auf die Luther zu verdankende Ermächtigung der Laien zur Prüfung ihres Glaubens zurück. Auch eine ausführliche protestantische Kirchengeschichte, in der neben Luther auch Calvin und Zwingli gewürdigt wurden, stand seit 1878 in arabischer Übersetzung zur Verfügung. Die Histoire de la Réformation des Genfer Theologen und Kirchenhistorikers Jean-Henri Merle d’Aubigny (1794–1872), die 1835–1853 in fünf Bänden erschien, wurde in englischer Übersetzung weltweit rezipiert. Cornelius Van Alen Van Dyck hat das Werk des Genfers ins Arabische übersetzt. Es erschien 1878 in Beirut im Druck.50 Der gebürtige Amerikaner war über fünfzig Jahre als Arzt und Medizinprofessor in Libanon und anderen Ländern des vorderen Orients tätig. Er lehrte am Syrischen Protestantischen Kolleg und verfasste im Lauf seines Lebens nicht nur arabischsprachige Lehrbücher für die naturwissenschaftlichen Schulfächer, sondern auch eine arabische Bibelübersetzung. Van Dyck war als tüchtiger Arzt in der arabischsprachigen Welt bekannt, und seine Schulbücher waren beliebt; auch seine Übersetzung der Reformationsgeschichte wurde breit rezipiert.51 Der reformierte Theologe Merle d’Aubigny war von seinem Thema auf ganz andere Weise als der Vordenker des laicisme Guizot erfüllt. Aus Merles Sicht war Luthers Reformation eine gottgewollte Revolution in Europa. Ein unscheinbarer junger Mönch habe nicht nur die Christen in Europa, sondern in der ganzen Welt auf eine
48 Khayat, Historiography and Translation, 98 f. 49 Yalcinkaya, Science as an ally und unten, Kapitel 6.3. 50 Vgl. Gabriel Mützenberg, Art. “Jean-Henri Merle d’Aubigny”, in Historisches Lexikon der Schweiz online; Khaylat, Historiography and Translation, 97. Der arabische Titel lautet: ﻠح ﻓﻰ اﻟﻘﺮن ﻟﺻ ﺎ ﺗﺎرﻳﺦ ا ﺎ ژان اﻧﺮى، ﻣﻴﺮل دوﺑﻴﻨﻴﺎه,اﻟﺴﺎدس ﻋﺸﺮ. Ibrahim al-Ḥawrānī veröffentlichte hierzu in Beirut: matba’a amrikiya, 1913 eine Zusammenfassung. Ich verdanke diese Information meinem Berner Kollegen Reinhard Schulze, ebenso den Hinweis auf die Dissertation von Nicole Khaylat (Haifa 2016). Merles Reformationsgeschichte war im arabischen Sprachraum an Missionsschulen weit verbreitet. 51 Lutfi M. Sa’di/Sarton/Van Dyck, Al-Hakim Cornelius Van Alen Van Dyck, 20–45.
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höhere Stufe befördert. Luther habe der Welt „einen mächtigen Impuls“ gegeben, „dessen Einfluß sich noch jetzt überall bemerkbar macht. [...].“52 Die Reformation sei besser als Revolution zu bezeichnen, weil sie eine „Wiedergeburt der Menschheit“ bewirkt habe. „Ein Volk oder die ganze Gesellschaft“ sei „zu einer neuen Aera, zu neuem Leben“ erweckt worden.53 „Das Christenthum und die Reformation stellen das große Prinzip der Gleichheit der Seelen vor Gott fest, stürzen die Anmaßungen eines stolzen Priesterthums, das sich zwischen den Schöpfer und das Geschöpf drängen wollte“, „und ihre Wirkungen gehen bis an‘s Ende der Welt“.54 Merle d’Aubignys dramatische Darstellung der vorreformatorischen Kirche, der Leipziger Disputation 1519, des Auftretens Luthers vor dem Wormser Reichstag und des Augsburger Reichstags 1530 ebenso wie seine Erzählung von den Anfängen der Reformation in der Schweiz mochten muslimische Leser zum Nachdenken anregen, ob nicht eine neue, durch den Islam inspirierte Revolution eine ähnliche Erschütterung in den rückständigen Gesellschaften des Orients bewirken und die Kolonialherrschaft hinwegfegen könnte.55
3.
Drei Bedeutungen von „Reformieren“, „Reform“ und „Reformation“ in der vergleichenden Religionsgeschichte
Religiöse oder kirchliche Reformen erfolgten in der Geschichte der Länder und Völker als Reaktionen auf politische Krisen und soziale Konflikte. Fundamentale Kritik an religiösen Institutionen und Dogmen gab den Anstoß zu sozialen und politischen Veränderungen in Städten, Territorien und Reichen. Jacques Waardenburg unterscheidet drei Bedeutungen von ‚Reformation‘ aus komparatistischer religionswissenschaftlicher Sicht. Was reformbedürftig scheint bzw. reformiert wird, sind Auslegungen kanonischer Schriften sowie Systeme von Glaubenssätzen und religiöse Praktiken und Institutionen, die mit der Autorität eines heiligen Textes legitimiert werden. Im Christentum, Judentum und Islam gelten heilige, kanonische Texte als Quelle religiöser Wahrheit.56
52 53 54 55
Merle d’Aubigny, Geschichte der Reformation, übersetzt von Martin Runkel, Bd. 1, Vorwort, III. Ebd. Ebd., IV und V. Die Wirkungsgeschichte der arabischen Übersetzung der Reformationsgeschichte Merle d’Aubignys auf Islamreformer, die sich auch von Ernest Renans Pariser Vortrag 1883 provozieren ließen, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Zur Debatte mit Renan s. unten, Kapitel 5. 56 Waardenburg, Muslims as Actors, 378–385. Der niederländische Religionswissenschaftler bringt auf diesen Seiten Beispiele für die drei Bedeutungen von „reformieren“, „Reform“, „Reformation“ aus der Geschichte der drei monotheistischen Religionen.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
„Reformieren“ heißt erstens sich auf den Ursinn der Schrift zurückzubesinnen. Sie verheißt den Gläubigen ein besseres Leben, gestützt auf eine frische Lektüre alter Texte, in denen Wahrheiten, die vergessen worden waren, wiederentdeckt werden. Luther forderte in diesem Sinne eine Erneuerung der Kirche nach dem Vorbild der christlichen Urgemeinden und auf der Grundlage des Evangeliums und erkannte den biblischen Jesus Christus als alleiniges Oberhaupt der Kirche an. Das Leben an der heiligen Schrift und der christlichen Urgemeinde auszurichten, bedeutete für Täufer in radikalerer Weise als für Luther, in einer Gemeinschaft zu leben, aus der Unreine auszuschließen seien. Eine Reformation kann also durch eine Rückkehr zu den Glaubenssätzen begründet werden, beispielsweise zur wörtlichen Auslegung der Heiligen Schrift oder ihrem vermeintlich ursprünglichen Sinn. Dieses Verständnis geht mit der Abwertung der gegenwärtigen Glaubenspraxis einher, weil sie sich von den heilsamen Ursprüngen entfernt habe, Abergläubisches enthalte oder von weltlichen oder geistlichen Machthabern missbraucht worden worden sei. Zweitens bedeutet „Reformieren“, eine Religion, die auf ererbter Tradition gründet, an gegenwärtige Bedürfnisse der Gläubigen anzupassen. Reformer, die dies propagieren, erkennen die Fortschritte in den Naturwissenschaften, Technik und Handelsbeziehungen an und schlagen akkommodierte Lesarten der geoffenbarten Texte vor, welche die Aneignung neuen Wissens legitimieren. Reformation in dieser Bedeutung zielt auf eine Auslegung heiliger, kanonischer Schriften und religiöser Praktiken mit dem Ziel, sie den gewandelten Anschauungen der Gemeinde und Anforderungen einer modernen Gesellschaft anzupassen. Dabei gehen Reformer von der Annahme aus, dass im kanonischen Text aufgrund seines Offenbarungscharakters der Schlüssel zu umfassenden Erneuerungen nicht nur des Glaubens, sondern des Lebens stecke. In diesem Sinne verhieß Johannes XXIII. auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) ein „aggiornamento“ der römisch-katholischen Kirche an die Gegenwart, weil gewachsene Strukturen sich zum Teil überlebt hätten. Liberale Bewegungen in den drei monotheistischen Religionen veranschaulichen eine dritte Bedeutung von „Reformieren“. Sie erklären Religion als vernünftiges System von Glaubenssätzen, die mit Hilfe der Vernunft aus den heiligen Texten abstrahiert werden können und als Anleitung zum moralisch verantwortlichen Leben dienen. Theologen der Aufklärung glaubten, dass ein Religionssystem nach Maßgabe der universell gültigen Vernunft so reformiert werden kann, dass die Unterschiede zwischen christlichen Konfessionen schwänden und Streit zwischen ihnen gegenstandslos seien, weil sie alle gleichermaßen Anteil an der Wahrheit haben. Gotthold Ephraim Lessing formuliert die Vision vom zukünftigen Evangelium der Vernunft in Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780). Der savoyische Vikar im vierten Buch von Jean-Jacques Rousseaus Emile (1763) präsentierte sein Glaubensbekenntnis als Ausdruck einer natürlichen Theologie, die allen Menschen
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kraft vernünftiger Einsicht und Erfahrung einleuchten müsse. Ernest Renan steht, wie wir sehen werden, mit seiner Islamkritik in dieser Tradition. Die muslimischen Reformdenker, die sich auf Luthers Reformation bezogen, lassen sich hauptsächlich drei Richtungen zuordnen, entsprechend den drei Bedeutungen von „reformieren“ und „Reform“. Den Vertretern eines modernetauglichen Islam war eine religiöse Bewegung vom Ausmaß der Reformen, die Luther angestoßen hatte, recht auf dem Weg zur Anpassung der vermeintlich rückständigen muslimischen Gesellschaften an die Anforderungen der Moderne. Der Islam sei von abergläubischen Praktiken und politischer Instrumentalisierung zu reinigen. Der Koran sei von jeder Generation neu zu interpretieren als Quelle, die in den Prophetenworten selbst schon eine Legitimation für den Weg der Gläubigen in die Moderne berge. Glauben und Gebrauch der Vernunft schlössen einander nicht aus. Keine andere Religion sei offener für Philosophie und Wissenschaften als der Islam. Djamāloddīn al-Afghānī und Muḥammad ‘Abduh sind Vertreter von Ansichten, die der zweiten Bedeutung von „reformieren“ nahekommen. Sie beide waren der Ansicht, der Islam sei als rationale Religion ohnehin besser als andere Religionen den Anforderungen der Moderne gewachsen. Radikale Denker aus dem Umkreis beider waren zuversichtlich, der Islam als jüngste der drei monotheistischen Religionen werde in Zukunft durch eine Religion der Vernunft abgelöst werden. Dadurch könnte – in Analogie zu Visionen europäischer Deisten – in Zukunft der Streit zwischen den Religionen behoben werden. In seiner Antwort auf Renans Pariser Vortrag 1883 nähert sich Djamāloddīn al-Afghānī dieser Position an (gemäß der dritten Bedeutung von „reformieren“). Faraḥ Anṭūn, der griechisch-orthodoxer Christ in Tripolis war und einer Minderheit im osmanischen Reich angehörte, hoffte ebenfalls auf eine Annäherung zwischen den drei Glaubenssystemen und eine Säkularisierung politischer Herrschaft durch Einführung demokratischer Institutionen. Konservative Geistliche wie Rashīd Ridā, der einflussreiche Herausgeber von Al-manār, dem Organ der ägyptischen Salafiya (1898–1935), plädierten hingegen für eine Rückkehr zu den Praktiken, Bräuchen und Rechtslehren der Gründerjahre im 7. und 8. Jahrhundert (gemäß der ersten Bedeutung von „reformieren“).57 Unter dem Eindruck der Überlegenheit westlicher Wissenschaft und Technik und zunehmender wirtschaftlicher Abhängigkeit der arabischen Länder von den Kolonialmächten wurde die Forderung islamischer Reformer seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer lauter, man müsse zur grundlegenden Ethik und Werteordnung des Islam zurückkehren, welche die Araber im 7. Jahrhundert zu Weltherr-
57 Für eine Auseinandersetzung mit Rashīd Ridās Auslegung des Koran ist hier nicht der Ort; vgl. Schulze, Geschichte der islamischen Welt, 50 und 78 f.; Cuno, Egypt to 1919, 98 f.
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schern ermächtigt hätten.58 Muslimische Gesellschaften könnten den Anschluss an die Moderne (Industrialisierung, Welthandel, wissenschaftliche Entwicklung) schaffen, wenn sich ihre Regierungen und Glaubenswächter auf die Stärken der islamischen Tradition besännen und die religiösen Praktiken, die Rechtsprechung und das Gesellschaftssystem mit den vom Propheten vermittelten Werten in Einklang bringen würden. Moderne Neuerungen seien nicht durch den geoffenbarten Text des Propheten legitimiert, sondern politisch motiviert gewesen. Sie seien Phänomene der Dekadenz. Manche Bräuche seien auf schädliche Einflüsse westlicher Kultur zurückzuführen. Der Weg der abendländischen Zivilisation zur Aufklärung und Errichtung demokratischer Gesellschaften sollte daher in islamischen Gesellschaften nicht nachgeahmt werden. Die Besinnung auf den Korantext und die islamische Rechtstradition eröffne Alternativen, wie politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erreichen wären. Eine vierte Richtung sei nur erwähnt. Ein ägyptischer Theologe schrieb dem Islam eine führende Rolle in der Zivilisationsgeschichte zu und forschte in der Geschichte des Islam nach Impulsen, durch die angeblich Jan Hus, Luther und andere Reformatoren zu ihrer Fundamentalkritik an der Papstkirche angeregt worden seien. Amin Al-Huli (1895–1966) führt die Innovationen der protestantischen Kirche, welche auf Luthers Lösung von der Papstkirche und ihrer Hierarchie folgten, auf Anstöße aus der Geschichte der islamischen Länder seit 1456 zurück. Er begann mit westlichen Kulturhistorikern einen Wettstreit darüber, welcher kulturelle Einfluss älter sei und nachhaltiger gewirkt habe, der von Ost nach West oder der umgekehrte der Kolonisatoren.59 In islamischen Gesellschaften habe sich, so Al-Huli, keine Kirche mit einem weltlichen Herrschern gleichmächtigen Oberhaupt und mit einer differenzierten Ämterhierarchie neben der und in Konkurrenz zur politischen Herrschaft entwickelt wie im mittelalterlichen Europa. Luther habe sich in seinem Kampf gegen Rom und die dekadente Verweltlichung der kirchliche Herrschaft am alten Ideal der direkten Beziehung jedes Muslimen zum Propheten und am Recht jedes Gläubigen, den Koran zu lesen und auf dessen Grundlage das Leben zu planen, ein Vorbild nehmen können. Seine Reformation habe also islamische Wurzeln. Angesichts fundamentalistischer und reaktionärer Tendenzen im Selbstverständnis der Gesellschaften im Vorderen Orient und bei in Europa lebenden Muslimen, besonders nach dem 11. September 2001, drohen die positiven, liberalen Reaktionen auf die Konfrontation mit westlichem Gedankengut in Texten früherer muslimischer Denker, die einem bürgerlichen Konstitutionalismus anhingen, in 58 Ebd., 21. 59 Paulus (Hg.), Amin al-Huli. Hulis Rede wird auf S. 43 ff. übersetzt, die er in Brüssel, 16.–20. September 1935, vorgetragen hat. Sie wurde erstmals mit einem Vorwort von Muhammad Mustafa al-Maragi, Scheich der al-Azhar Moschee, publiziert.
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Vergessenheit zu geraten.60 Nasr Hamid Abu Zayd (1943–2009) stellte die Frage, aus welchem Anlass und wie stark sich ab 1860 liberale Reformdenker, die für den Import von Ideen aus Europa empfänglich waren, für die Erneuerung islamischer Traditionen und ihre Anpassung an die Anforderungen moderner Gesellschaften engagiert haben. Einige von ihnen wollten sehr wohl das negative Bild des kolonialen Westens, das Traditionalisten verbreiteten, korrigieren und Brücken zu den politischen Kulturen der christlich inspirierten Gesellschaften Europas bauen.61 Nasr Abu Zayd und jüngere im Exil lebende Intellektuelle bedauern, dass in der gegenwärtigen weltgeschichtlichen Lage im Nahen Osten und in Nordafrika Traditionalisten, Fundamentalisten und Extremisten den Ton angeben. Abu Zayd stellt dem westlichen Stereotyp vom ‚Orient‘ die kulturale Diversität gegenüber, die durch die Amalgamierung des Islam mit lokalen Religionskulturen überall, wo Missionare den Islam verbreitet hätten, entstanden sei.62 Besonders die liberale Position, derzufolge der Islam durch Lockerung der theologischen und juristischen Auslegungstradition modernetauglich gemacht werden könne, wird von Theologen, Kulturhistorikern und Politikern in der Gegenwart vertreten. Als Ayaan Hirsi Ali 2015 nach einem Luther für die Länder des Islam Ausschau hielt, der in der Lage wäre, die Autorität und Macht der Geistlichen in den Regierungen Nordafrikas zu beschneiden, bekräftigte sie den Wunsch liberaler Islamreformer nach einer Säkularisierung der Gesellschaft als Voraussetzung für die Einführung der Menschenrechte. Der Islamwissenschaftler und Religionspädagoge Abdel-Hakim Oughri setzt sich an der Pädagogischen Hochschule in Fribourg mit ähnlichem Impetus wie Hirsi Ali für eine Reform des Islams ein, der „die Macht des politischen Islams“ und die der konservativen Gelehrten brechen sollte. Nur als „Grundbuch einer humanistischen Ethik ist der Koran ewig und zeitlos“.63 Der Koran sei so auszulegen, dass das Glaubenssystem an das Leben in einer modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft angepasst werde. Dabei sei die Reform des Islam selbst schon im Korantext angelegt. Oughri macht die zweite Bedeutung von „reformieren“, „Reform“ stark: „Eine religiöse Reform formiert sich immer zu einem Zeitpunkt, an dem die Auslegung der Religion als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird. Oft wird sie durch eine politische oder soziale Krise in Gang gesetzt und beschleunigt“.64 Oughris Beobachtung bezieht sich zwar auf die Situation
60 Daran erinnert Sarhan Dhouib, wenn er die innerarabischen Diskussionen über Demokratie und Menschenrechte in transkultureller Perspektive unter dem Eindruck des arabischen Frühlings und der Erstarkung des Islamismus referiert. Dhouib, Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte. 61 Abu Zayd, Reformation of Islamic Thought, 11. 62 Ebd.,13–20. 63 Vgl. dazu die Thesen des algerischen Religionswissenschaftlers Abdel-Hakim Ourghi, Reform des Islam. 40 Thesen, München 2017, 5 (Kapitelüberschriften) und 10. 64 Ebd., 53.
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der islamischen Länder unter der Kolonialherrschaft, aber sie trifft auch auf die Reformation Luthers und ihre Folgen in Europa zu.
4.
Luthers Reformation – Blicke islamischer Intellektueller auf die Geschichte des christlichen Abendlandes und die Kirchenreform als Erfolgsmodell
Die Beschäftigung muslimischer Intellektueller mit Luther, der Reformation und ihren Folgen wurde durch Fragen angeregt, ob und in welchem Maße Luthers religiöse Reform die gesellschaftliche und wirtschaftliche Modernisierung der Gesellschaften in Europa angestoßen hat und ob Luthers grundstürzende Kritik an der Papstherrschaft ein Vorbild sein könnte für eine Neubesinnung auf die Ursprünge des Islam als Bedingung für einen eigenständigen Weg in die Moderne.65 Wie nahmen islamische Intellektuelle, die in Europa studiert und gelebt hatten, die Zugang zu den höfischen Zentralen der Macht und wichtige politische Ämter innehatten und die als Reaktion auf die Kolonisierung und die Importe westlicher Technologien und Ideen eine Rückkehr zum ursprünglichen Islam forderten, die Wirkung Luthers und der Reformation auf die Entwicklung in Europa wahr? Welche Gründe hatten islamische Intellektuelle, Luthers Abfall vom römischen Papsttum als vorbildlich zu bewerten? Wie sieht das Modell gesellschaftlicher Modernisierung aus, das sie aus der europäischen Reformationsgeschichte zu abstrahieren versuchten? Wie beurteilten sie den Umgang der Reformatoren mit Abweichlern, Täufern, Schwärmern und Altgläubigen? Äußern sie sich zu den Diskursen über Ketzerverfolgung und Ketzertötung? Vergleichen sie Praktiken der Toleranz in Europa und im Orient? Wie kommentierten sie beispielsweise die Hinrichtung Michel Servets und die nachfolgenden Kontroversen über religiöse Toleranz? Im folgenden steht nicht zur Debatte, das Verständnis muslimischer Intellektueller von Luther und seiner Reformation (nur am Rande: seiner Theologie) gemäß den historischen Quellen als richtig oder falsch zu bewerten.66 Ihre Reformideen orientierten sich klar am revolutionären Luther der Jahre 1520–1523. Ich vermag nicht zu klären, ob sie An den christlichen Adel deutscher Nation, Von der Freiheit eines Christenmenschen, De captivitate babylonica oder Von weltlicher Oberkeit tat-
65 Katalyn Amirpur hat auf historische Konnotationen des Begriffs ‚Reformislam‘ aufmerksam gemacht. Als Islamreformer bezeichnet man Denker, die eine Nationalisierung des Islam oder eine Rückleitung irriger religiöser und politischer Praktiken auf die Urgemeinde des 7. Jahrhunderts anstrebten. Amirpur, Den Islam neu denken, Einleitung. 66 Es ist nicht meine Absicht, in den folgenden Überlegungen eine Wirkungsgeschichte Luthers und der Reformation im Orient zu skizzieren.
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sächlich in Übersetzungen studiert haben könnten.67 Die funktionsgeschichtliche Betrachtung herrscht in den folgenden Analysen vor.
5.
Seyyed Djamāloddīn al-Afghānī
Seyyed Djamāloddīn al-Afghānī (1838–1897), Muḥammad ‘Abduh (1848–1905) und sein Schüler Rashīd Ridā (1865–1935) waren einflussreiche Begründer der Salafiya. Diese Gruppe trat den Einflüssen der Kolonialherren mit einem islamischen Klassizismus entgegen und forderte, die neue islamische Gesellschaft an den ‚frommen Altvorderen’ (salaf) auszurichten und die islamische Tradition lebendig zu bewahren.68 Djamāloddīn al-Afghānī verstand sich als Kosmopolit und Agitator im Kampf gegen westlichen Kolonialismus. Er wirkte durch seine Vorträge und publizistische Aktivität. In der arabischen Philosophiegeschichte kannte er sich aus, besonders interessierte er sich für den Ursprung der Religionen und ihre massenpsychologische Wirkung. Er wird von mehreren muslimischen Ländern als Gründer einer panislamischen Identität in Anspruch genommen. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts galt er in Ägypten als Galionsfigur für eine neue islamische Befreiungstheologie. Seit der Jahrtausendwende wird er dort als „Pionier der Aufklärung (tanvir)“ popularisiert.“69 Rejecting both unthinking traditionalism and blind imitation of the Christian West, he began what has been a continuing reinterpretation of Islam, emphasizing values vitally needed for life in the modern world, such as activism, the freer use of human reason, and political and military strength. By seeking these values within the Islamic tradition instead of openly borrowing from the heretical West, Afghani was able to attain an influence on believing Muslims which was not shared by those who simply appropriated Western ideas.70
67 Vgl. Luther, Studienausgabe Bd. 2 und 3; Brecht, Martin Luther, Bd. 1; Swanson, Luther in Arabic, 87–97. Ich danke meinem Berner Kollegen Reinhard Schulze für wertvolle bibliographische Hinweise auf die Wirkungsgeschichte von Luthers Schriften im arabischen Sprachraum. 68 Tworuschka, Islam im 19. Jahrhundert, 430–432; Elger, Art. „Salafyia“, in: Elger (Hg.), Kleines Islam-Lexikon, 284; Cuno, Egypt to 1919, 94 f.; Schulze, Geschichte der islamischen Welt, 30 f. und 402; Amirpur, Den Islam neu denken, 18–24. 69 Schulze, Geschichte der islamischen Welt (1994), 32 und 194; ders., Geschichte der islamischen Welt (2016), 40; Keddie, An Islamic Response, Introduction: „From Al-Afghani to Khomeini“; von Kügelgen, Al-Afgani (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 55; Schäbler, Moderne Muslime, 67–82. 70 Keddie, An Islamic Response, 3.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
Es ist nicht erwiesen, dass er sich selbst mit seinen Appellen, den Islam zu reformieren, als einen neuen Luther sah. Unumstritten aber ist, dass der Wittenberger Reformator für ihn ein Held und Vorbild war. Mit Anklängen an den durch das Wormser Edikt 1521 geächteten und zum Martyrium bereiten Luther stilisierte sich Djamāloddīn al-Afghānī als Opfer, das von Land zu Land gehetzt und von den Briten verfolgt worden sei.71 Entsprechend wurde Al-Afghānī als moderner Luther angesehen; ebenso wurden ‘Abduh und Rashīd Ridā anlässlich des zehnten Jahrestags der von ihnen herausgegebenen Zeitschrift Al-Manār al-Afghānī als neuer Luther und neuer Calvin gewürdigt.72 Djamāloddīn al-Afghānī machte aus seiner Herkunft aus Persien und einer Sozialisation im shiitischen Islam und der klassisch-arabischen Philosophie ein Geheimnis.73 Widersprüche in seinen Vorträgen und Aufsätzen sind damit erklärbar, dass er vor muslimischen Massen anders sprach als vor westlich gebildeten Eliten, Philosophen und Politikern. Er glaubte, dass die Masse für fortschrittliche Ideen nur auf dem Wege über die ihnen vertraute Religion zu begeistern sei.74 Sein Vater, ein Seyyed75 , lehrte ihn in Persien traditionelle arabische Philosophie, die ihm einen rationalen Zugang zum Islam vermittelte, und machte ihn mit den sozial-religiösen Pflichten im Islam bekannt.76 In der türkischen und arabischen Welt wurden, anders als in Persien, die von Griechenland inspirierten arabischen Philosophen jahrhundertelang als Häretiker unterdrückt und aus dem akademischen Curriculum entfernt.77 Westliche Ideen lernte er in Indien 1856/ 57 während des Aufstands gegen die Herrschaft der British East India Company kennen. Europäische Geschichte und Philosophie studierte er in arabischer Übersetzung 1882–1884 in London und Paris, wo er ‘Abduh begegnete. Bei Aufenthalten
71 Von Kügelgen, Al-Afgani (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 44; Keddie, An Islamic Response, 33, 42 und 45. 72 Khayat, Historiography and Translation, 122 f. Diese Bezeichnungen waren polemisch gegen die Lehrer an den Missionsschulen gerichtet, die Luther und Calvin ebenfalls als Vorbilder für ihre Ziele ansahen. 73 Keddie, An Islamic Response, 4. 74 Ebd., 38 f. 75 Titel für einen Gelehrten, der seine Abkunft auf den Prophetenenkel al-Husain ibn ’Ali zurückführt, den Begründer des shiitischen Islam (von Kügelgen, Al-Afgani [in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1], 34). 76 Gemäß der Biographie von Al-Afghānīs Neffen studierte er in den bei den Shiiten heiligen Städten Najaf und Karbala‘ (Hourani, Arabic Thought, 108). 77 Der folgende biographische Skizze stützt sich auf Keddie, An Islamic Response; Hourani, Arabic Thought, 103–129; von Kügelgen, Wissenschaft, Philosophie und Religion; dies., Al-Afgani (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 31–37 und Rudolph Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Ende/Steinbach (Hg), Der Islam in der Gegenwart, 113–118.
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in Indien, Istanbul, Afghanistan, Russland, Iran, Ägypten und in europäischen Hauptstädten suchte Djamāloddīn al-Afghānī die Nähe zu den Herrschenden, wurde aber von ihnen aufgrund von Zweifeln an seiner Loyalität und Glaubwürdigkeit wieder fortgeschickt. In Kairo (1870–1879) erwarb er sich Respekt und Wohlwollen seiner Schüler, weil er mit ihnen von gleich zu gleich diskutierte und sie zu eigenem Urteil ermunterte. Er trat seit 1870 mit Reden, in Zeitungsartikeln und als politischer Berater mit einem panislamischen Aktionsprogramm hervor. Er bemühte sich, in Indien, Kairo, später in Istanbul die heimischen Machthaber für eine antikoloniale Politik zu gewinnen und die Massen gegen den Imperialismus aufzuhetzen. Sein Programm richtete sich gegen die britische Kolonialherrschaft, deren Augenzeuge er erstmals in Indien geworden war. Eloquent warb er für eine Rückbesinnung auf die islamische Tradition.78 Der Koran sei der erste Philosophielehrer eines zuvor unzivilisierten Volkes gewesen, danach hätten sich die Muslime genügend Wissen erworben, um sich in der Philosophie der Perser, Altsyrer und Griechen fortzubilden.79 Die islamische Religion sei von allen Weltreligionen den Wissenschaften am nächsten und mit ihren Ergebnissen kompatibel. Da seine panislamischen Ideen politisch inspiriert waren, aber theologisch vage blieben, wurde Djamāloddīn al-Afghānī in der sunnitischen Welt des Unglaubens (kufr) verdächtigt. In seiner Auseinandersetzung mit dem Islam und der arabischen Philosophie gibt es einige Konstanten.80 Er äußerte sich nicht über seinen Glauben oder ein religiöses Erweckungserlebnis. Die Religion oder besser: Weltreligionen waren für Djamāloddīn al-Afghānī der Gegenstand historischer und vergleichender Studien. Er verstand den Islam als politische Religion, die alle Muslime verband. Religiosität interessierte ihn als massenpsychologisches Phänomen. Er kannte den Islam in seinen regionalen und theologischen Ausdifferenzierungen in Persien, Indien, Afghanistan, Ägypten und Istanbul. Allen monotheistischen Religionen attestierte er als gemeinsames Wesensmerkmal einen Anspruch, allein die Wahrheit zu besitzen und hielt sie deshalb für intolerant. Typisch sei die ablehnende Haltung der Gläubigen gegenüber der Philosophie und den Wissenschaften. Misstrauen herrsche gegenüber dem Verstand, weil er den Glauben hinterfrage und zersetze. Hierbei unterschied Djamāloddīn al-Afghānī mehrere Phasen in der Entwicklungsgeschichte eines Volks. In der Gründungsphase des Islam seien die Gläubigen einig und nach außen stark und wehrhaft gewesen. Die Gründer der monotheistischen Religionen richteten ein und dieselbe Botschaft an die Menschen, Gott als Schöpfer 78 Keddie, An Islamic Response, 35–45; Hourani, Arabic Thought, 113. 79 Von Kügelgen, Al-Afgani (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 39 f. 80 Vgl. Keddie, An Islamic Response; Hourani, Arabic Thought, 117–119; Kügelgen, Wissenschaft, Philosophie und Religion; dies., Al-Afgani (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 37–53 und Schäbler, Moderne Muslime, 78–86.
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anzuerkennen, tugendhaft zu handeln, „Praktizieren des Guten und Vermeidung des Bösen“, wie es in der Scharia heißt. Den Grund für die Rückständigkeit der vom Islam geprägten Länder sah Djamāloddīn al-Afghānī in der Instrumentalisierung der Botschaft des Propheten durch Despoten und in der Anstiftung zum Fanatismus. Dies begünstigte Sektenbildung, Uneinigkeit und Empfänglichkeit der irregeleiteten Gläubigen für konkurrierende Heilslehren, beispielsweise den Materialismus und Sozialismus. In Die despotische Herrschaft erörterte Djamāloddīn al-Afghānī 1879, wieso unter Orientalen weder eine republikanische noch eine konstitutionelle Regierung habe Fuß fassen können. Despotische Regime hätten die Anlagen ihrer gläubigen Untertanen für sich ausgenutzt, ihren Aberglauben genährt und sie gegen die Wissenschaften mit Misstrauen erfüllt.81 Die ungebildete Masse brauche indes religiös vermittelte Botschaften, welche durch die Offenbarung eines Propheten und leicht fassliche Gleichnisse und Bilder handlungsstimulierend wirkten. Philosophen besäßen seit altersher die Deutungsmacht über die Offenbarung eines Propheten, der ihr als Genie seiner Epoche nur eine zeitbedingte Fassung geben könne. Das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie, Glauben und Vernunft und Wissenschaft ändere sich im Prozess der Zivilisation. Die christlichen Völker seien aufgrund des Alters ihrer Religion aufgeklärter als die muslimischen Gläubigen. Bei jenen habe der Glaube an die Wissenchaft und die Vernunft als deren Handwerkszeug zu einer Säkularisierung der Gesellschaft geführt. Es sei in jedem Fall Aufgabe der Philosophie, ein Volk zu einem vernunftgemäßen Glauben zu erziehen. Nur ein solcher ermächtige zum Selbstdenken und zur eigenständigen Lektüre heiliger Texte. Darin sah Djamāloddīn al-Afghānī vorbildliche Leistungen Luthers und der protestantischen Herrscher. Luthers Maxime vom Laienpriestertum82 schwebte ihm als Ideal vor. In Analogie dazu würde ein zeitgemäßes Verständnis des Koran gebildete Muslime zu politischem Handeln befähigen und zur Übernahme von Verantwortung im Gemeinwesen ermächtigen. Ein im Islam geeintes Volk, das die Kolonialmächte vertreiben würde und mit Hilfe eines Parlaments Gleichheit und Gerechtigkeit herbeiführen könnte, – das war das Ziel seiner politischen Agitation. Die traditionelle umma wertete er zu einer großen, arabisch sprechenden Nation auf, die nach Souveränität und Unabhängigkeit strebte. Der Koran könne von jeder Generation gemäß ihrem Wissensstand neu ausgelegt werden und werde sich dennoch stets als Quelle neuer Weisheiten erweisen. Für Djamāloddīn al-Afghānī gab es nicht nur eine dogmatisch richtige Auslegungsweise, die literale oder die allegorische. In seinem Aufsatz Wohltaten der Philosophie 81 Von Kügelgen, Al-Afgani (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 49 f. 82 Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, in: ders., Studienausgabe Bd. 2, 100. Thomas Kaufmann bezeichnet die immense Wirkung dieser Schrift wegen der Maxime des Laienpriestertums als „Dammbruch“ mit „Durchbruchsdynamik“ (Kaufmann, Geschichte der Reformation, 270 f.).
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argumentiert Djamāloddīn al-Afghānī in Analogie zur biblischen Akkommodationstheorie: Philosophen und Wissenschaftler bräuchten für die Erforschung der Welt den Koran nicht, hingegen stehe „dieser aber, wenn er richtig gedeutet wird, mit ihren Erkenntnissen nicht im Widerspruch.“83 Der Koran stelle „das vollständige Abbild der Philosophie des Makrokosmos“ dar, denn in jedem Wort, jedem Buchstaben seien Andeutungen und Geheimnisse verborgen, die Weise niemals ausloten könnten.84 Luthers Loslösung von der Papstkirche bewunderte er.85 In Luthers Protest gegen die Unterwerfung unter die Autorität des Papstes sah Djamāloddīn al-Afghānī die „Ursache für die Entstehung vieler miteinander um Erfolg wetteifernder Völker (su ub) und für die daraus hervorgehende Zivilisation (tamaddun) Europas.“86 Luther habe kirchliche Lehren als falsch entlarvt, Glaubenstexte in der Volkssprache zugänglich gemacht und Glaubenspraktiken vereinfacht. Einer ebensolchen Vereinfachung und Präzisierung der Sprache bedürfe es auch, um „das Vaterland zu kultivieren, die Religion zu ehren und die islamische Nation (umma) zu stärken.“87 In seiner Widerlegung der Materialisten erklärte Djamāloddīn al-Afghānī, der Islam müsse, um den Anforderungen der Moderne zu genügen, so reformiert werden, wie Luther die christliche Religion reformiert habe. Die Massen könne man nur für neue Ideen und technisch-wissenschaftlichen Fortschritt begeistern, wenn diese in religiöse Begriffe gekleidet seien. Er appellierte an das religiöse Zusammengehörigkeitsgefühl, das er für stärker hielt als die nationale Identität. Am sichersten sei es, religiöse Gefühle zu stimulieren, wenn man Gläubige für den Kampf gegen christliche Unterdrücker und koloniale Abhängigkeit mobilisieren wolle. Djamāloddīn al-Afghānī unterstützte in Indien, Ägypten, Istanbul und Persien Bewegungen, die eine freiheitliche Verfassung forderten. Er griff muslimische Herrscher an, die sich den seiner Meinung nach nötigen Reformen widersetzten oder mit der Kolonialregierung zusammenarbeiteten. Ebenso diffamierte er westliche Politiker als aggressive Eroberer und Unterdrücker und verdächtigte die kolonialen Gouverneure, den traditionellen Glauben zu unterminieren. Seine Versuche, Regierungskreise für parlamentarische und verfassungsmäßige Reformen zu erwärmen und gegen veraltete monarchische Strukturen zu Stimmung machen, waren jedoch an keinem Ort seines Wirkens erfolgreich. Einzig in Persien gelang es dem Agitator, Massenunmut gegen die Veräußerung des Tabakmonopols an einen englischen Privatmann zu erregen und den Schah zur Rücknahme der Konzession
83 Von Kügelgen, Wissenschaft, Philosophie und Religion, 74. 84 Ebd.; Hourani, Arabic Thought, 127. 85 Kügelgen, Al-Afgani (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 43 f. Von Kügelgen zitiert aus Al-Afghanis Schreiben an den Sprachwissenschaftler Abdalqadir Al-Magribi von 1892/93. 86 Ebd., 44. 87 Ebd.
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zu bewegen. Bei denen, die in Istanbul, Kairo oder Teheran aus wirtschaftlichen Motiven mit westlichen Mächten zusammenarbeiteten, machte er sich mit seinem pan-islamischen Reformprogramm und Ressentiments gegen europäische Fremdbestimmung als Aufrührer verdächtig. 5.1
François Guizots Zivilisationsgeschichte als Quelle
Djamāloddīn al-Afghānīs Wissen über den Ursprung des Protestantismus und die Folgen von Luthers Reformation stammt, wie er selbst zugab, aus François Guizots Histoire générale de la civilisation en Europe.88 Der arabische Übersetzer Khurī gehörte zu Al-Afghānīs Hörerkreis. Dieser würdigt Guizots Werk in seiner Widerlegung der Materialisten, und sein Schüler ‘Abduh legte es 1877 seinen Lehrveranstaltungen an der Al-Azhar-Universität zugrunde. ‘Abduh pries Guizots vierzehn Vorlesungen als grundlegendes Geschichtswerk, das erstmals in arabischer Sprache über die Geschichte der europäischen Zivilisation informierte.89 Der Übersetzer Khurī teilte Guizots europäische Zivilisationsgeschichte in drei Epochen ein. Die erste setzte im 5. Jahrhundert mit dem Niedergang des Römischen Imperiums ein, die zweite begann im 12. Jahrhundert und die dritte verfolgt die Nachwirkungen von Humanismus und Reformation bis in die Gegenwart.90 Guizot skizziert im „XIIe cours“ eine große Linie, die von Luthers Reformation zu den Idealen der Französischen Revolution und zum Liberalismus des 19. Jahrhundert führt. Den Bildungsminister und Schulreformer unter König Louis Philippe interessierte die Reformation als religiöse Bewegung, die auf Befreiung von geistlicher Vorherrschaft abgezielt und später alle Lebensbereiche umgewandelt habe. Er richtete seinen Blick auf Ergebnisse langfristiger historischer Prozesse: die konstitutionelle Monarchie, eine breite bürgerliche Öffentlichkeit und die Trennung der Kompetenzen von Staatsbehörden und Kirche. Dogmatische Kontroversen, die Formulierung von Bekenntnissen und Gründung von Sekten und Sonderkirchen stellte Guizot nicht dar, auch nicht die theologische Karriere Luthers und seine Mission. Gewissensund Gedankenfreiheit assoziiert Guizot mit dem Auftreten des Wittenberger Reformators, aber auf 17 Seiten wird kein einziges Mal Luther zitiert. Luther habe die Laien zum selbständigen Urteilen in Glaubensfragen ermutigt, und fortan habe sich auch die weltliche Obrigkeit der Aufsicht der Kirche entzogen und die Gewissen freigegeben. In den französischen Religionskriegen sieht Guizot vor allem den
88 Ebd., 38; François Guizot, Histoire générale de la civilisation en Europe depuis la chute de l’empire romain jusqu‘à la Révolution française, XIIe cours: la réforme, 234–251; vgl. Hoeges, François Guizot (1787–1874), 89–111. 89 Khayat, Historiography and Translation, 98–101; Hourani, Arabic Thought, 114 f. und 132. 90 Khayat, Historiography and Translation, 105.
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Kampf adliger Parteien um die politische Vorherrschaft.91 Nach langem Ringen um Unabhängigkeit von der spanischen Fremdherrschaft habe in den Niederlanden die Freiheit der Republik triumphiert, während in Spanien und den Großmächten Europas sich die absolute Monarchie durchgesetzt habe.92 Guizot fragt nach der Bedeutung der Reformation für die europäische Zivilisation und für das „Schicksal der Menschheit“ überhaupt.93 Elle a été un grand élan de liberté de l’esprit humain, un besoin nouveau de penser, de juger librement, pour son compte, [...] C’est une grande tentative d’affranchissement de la pensée humaine; et [...] une insurrection de l’esprit humain contre le pouvoir absolu dans l’ordre spirituel. Tel est [...] le caractère général et dominant de la Réforme. [...] L’élan de la pensée, l’abolition du pouvoir absolu dans l’ordre spirituel, c’est donc [...] le fait dominant de sa destinée.94
Das Streben nach Gedanken- und Glaubensfreiheit lasse sich in Europa seit dem 11. Jahrhundert nachweisen. Die „große Erhebung des Geistes“ sei die Hauptursache für den Erfolg der Reformation gewesen.95 Die Gläubigen hätten sich mit einer nur dogmatischen Reform der römischen Kirche, einer bloßen Rückkehr zu ihren Ursprüngen im Urchristentum, nie zufrieden gegeben. Die Abschaffung geistlicher Herrschaft und Hierarchien sei ihr Ziel gewesen. In allen Ländern sollte „le pouvoir spirituel“ zugunsten der „emancipation de l’esprit humain“ zurückgedrängt werden.96 In den deutschsprachigen Territorien habe die Reformation zum Machtzuwachs der Fürsten geführt. In Frankreich sei die Reformation zwar politisch besiegt worden, aber das Streben nach religiöser Selbstbestimmung und Glaubensfreiheit habe sich in der Publizistik und Kontroversliteratur Platz geschaffen. Von ihm seien Impulse ausgegangen, welche die Naturwissenschaften von Vorurteilen und methodischen Schranken befreit und sich auf die Sitten und Geistesfreiheit ausgewirkt hätten.97 Der Protestantismus habe mit einer Vielzahl von Sekten zu kämpfen gehabt; anstelle einer universellen Kirche habe es viele Glaubensgemeinschaften gegeben. Den weltlichen Herrschern sei die Aufgabe erwachsen, eine stabile Grundlage für ihre friedliche Koexistenz zu schaffen. Die Resultate der Reformation sieht Guizot in der Selbstermächtigung der Laien, die sich früher der Autorität der römischen Kirche hätten beugen müssen, und in der strikten
91 92 93 94 95 96 97
Guizot, Histoire générale, XIIe cours, 237. Ebd., 238. Ebd., 241 und 240. Ebd., 241 und 246. Ebd., 243. Ebd., 244. Ebd., 245.
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Aufgabentrennung zwischen geistlicher und weltlicher Obrigkeit.98 Der liberale Bildungsminister fasste die bahnbrechende Wirkung der religiösen Reformation in einer Art Zauberformel zusammen: Gebt den Gläubigen Gedanken- und Glaubensfreiheit, lasst sie die heiligen Schriften lesen, brecht die Macht der geistlichen Eliten, die nicht dem Evangelium entspreche, dann könnten sich Wissenschaften und die Zivilgesellschaften unter weltlichen Gesetzen frei entfalten. Zum Schluss abstrahiert Guizot mit Blick auf die moderne laikale Zivilgesellschaft Frankreichs eine historische Gesetzmäßigkeit: Jeder Revolution der gesellschaftlichen und bürgerlichen Ordnung müsse eine Revolution auf geistigem Gebiet vorausgehen, die von der Religion, der Entmachtung der geistlichen Eliten, ihren Ausgang nehme.99 Eine solche geistige Revolution war für ihn Luthers Reformation. Dieser Zusammenhang hat Djamāloddīn al-Afghānī offenbar überzeugt. Er führte die Modernisierung von Staat, Justiz und Gesellschaft in Europa maßgeblich auf die Autorität Luthers im Kampf gegen die dekadente römische Kirche zurück. Luther habe die Macht der römischen Kirche gebrochen und die Autorität der Geistlichen als Vermittler von Glauben und Heil zugunsten des individuellen Gebrauchs der gesunden Vernunft bei der Bibellektüre bekämpft.100 Guizot erteilte dem Seyyed in seiner Zivilisationsgeschichte Europa eine Lektion, ohne in die theologischen Diskussionen der Reformatoren einzusteigen. Djamāloddīn al-Afghānī schöpfte aus der Histoire Ideen für ein panislamisches Programm, welches seine muslimischen Glaubensbrüder zur Sammlung gegen koloniale Fremdherrschaft, für eine Konstitution und politische Partizipation begeistern sollte. Das Volk müsste zuerst im Glauben und in der Frömmigkeit geeint werden, dann könnten die politischen Institutionen den modernen Bedürfnissen nach Mitsprache, Freiheit und Gleichheit entsprechend angepasst werden. Eine religiöse Reform als Massenbewegung sei nötig, um den Weg zu individueller Freiheit und Gleichheit zu ebnen und wissenschaftliche Forschung unabhängig von kirchlicher Kontrolle zuzulassen. 5.2
Die Debatte mit Ernest Renan
Ernest Renan (1823–1892) forderte mit seinem Pariser Vortrag „L’Islam et la science“, der im Journal des Débats im März 1883 veröffentlicht wurde, eine Reihe islamischer Gelehrter zu Entgegnungen heraus. Sie widersprachen Renans Thesen, dass der Islam mit wissenschaftlichem Denken unvereinbar und die christliche Kultur dem Islam überlegen sei. In ihren Widerlegungen argumentieren sie, dass der Islam kein Hindernis für gesellschaftlichen Fortschritt und politische Partizipation
98 Ebd., 249. 99 Ebd., 250. 100 Keddie, Islamic Response, 42, 45, 81 und 172.
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des Volkes sei. Überdies seien muslimische Sitten und Lebensweise mit wissenschaftlichem Denken durchaus vereinbar. Djamāloddīn al-Afghānī protestierte gegen Renans Behauptung, die christliche Zivilisation sei der arabischen überlegen und die Araber als Söhne der Wüste von Natur aus in wissenschaftlichem Denken unbelehrbar und im Schicksalsglauben befangen.101 Renans Vorurteilen gegen den Islam hielt Djamāloddīn al-Afghānī sein philosophiehistorisch begründetes Vertrauen auf die Reformierbarkeit und Modernisierbarkeit des muslimischen Glaubenssystems entgegen. Dabei arbeiteten beide, Renan und al-Afghānī, mit Jacques Waardenburgs zweiter und dritter Bedeutung von „reformieren“. Der frühere Priesterkandidat Renan musste nach Veröffentlichung von La vie de Jésus (1863) auf eine kirchliche Laufbahn verzichten und neigte zum Kulturprotestantismus, als dessen Vertreter er David Friedrich Strauß bewunderte. Als Professor für orientalische Sprachen und Kulturen machte er nach einer Orientreise 1861/2 am Collège de France Karriere.102 Renan interpretierte die Religionsgeschichte gemäß dem Paradigma des Evolutionismus „als Fortschritt zu moralischer Perfektibilität und immer edlerer Vergeistigung des Menschen“.103 Er glaubte, dass in der frühen Geschichte der Menschheit die Religion großen Einfluss auf das individuelle Leben und die Regierungsform gehabt habe. Die Religion habe zu allen Zeiten wissenschaftliches Streben behindert und unterdrückt. Seit der Aufklärung hätten sich in Europa die Wissenschaften aus der Supervision der Kirchen befreit, die sich in Fragen der Natur- und Himmelsforschung traditionell die Deutungshoheit angemaßt hätten. Renan erklärte die Ungleichheit der Zivilisationen damit, dass sich seit der Aufklärung Wissenschaft und Technik in Europa ungehindert durch religiöse Vorurteile und kirchliche Vorherrschaft entwickeln konnten, während in den Gesellschaften des Islam religiöser Fanatismus den wissenschaftlichen Aufschwung verhindert habe. Die „gegenwärtige Inferiorität der mohamedanischen Länder“ erklärte er mit der Herrschaft des wissenschaftsfeindlichen Islam und der Schick-
101 Ernest Renan, L’Islamisme et la science (18. Mai 1883). Der Vortrag wurde im Jahr seiner Entstehung in deutscher Übersetzung publiziert (Basel 1883). Vgl. Schäbler, Moderne Muslime, 24–57 und 133–149; dies., Religion, Rasse und Wissenschaft, 1–8. Schäbler und von Kügelgen resümieren die Antworten islamischer Gelehrter aus unterschiedlichen Weltregionen. Vgl. außerdem Keddie, An Islamic Response, 84–96 (Deutung) 181–189 (Übersetzung von Al-Afghanis Antwort); Hourani, Arabic Thought, 120–126 und von Kügelgen, Wissenschaft, Philosophie und Religion, 41–44. Von Kügelgen verweist auf die Tradition, in der Renans Urteil seit der Philosophiegeschichte Johann Jacob Bruckers steht (ebd., Anm. 35). 102 Graf, Art. „Renan, Ernest“, RGG 4 7 (2004), 446 f.; Binder, Art. „Renan, Ernest“, in BBKL 8, 23–27. 103 Renans evolutionäres Zivilisationsmodell und die Bedeutung, die er der Religion für die Frühphase der Menschheitsgeschichte zugestand, hat seine Wurzeln in Herders Philosophie der Geschichte der Menschheit und Johann Jacob Bruckers Philosophiegeschichte (von Kügelgen, Wissenschaft, Philosophie und Religion, 41, Anm. 35).
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salsergebenheit der muslimischen Wüstensöhne.104 Die „Geistes-Beschränktheit eines wahrhaft Gläubigen“ zeige sich in der Unfähigkeit, „irgend etwas zu lernen, irgend eine neue Idee in sich aufzunehmen.“105 Den negativen Einfluss des Islam auf die gesellschaftliche Entwicklung könne jeder Reisende in die von England und Frankreich kontrollierten Länder wahrnehmen. „Die abendländische Theologie hat nicht weniger Verfolgungen geübt als diejenige des Islam. Allein sie hat ihr Ziel nicht erreicht, sie hat den modernen Geist nicht erwürgt, wie der Islam den Geist der Länder, die er eroberte.“106 Djamāloddīn al-Afghānī wehrte sich gegen Renans essentialistisches Urteil über die Muslime und ihre Unfähigkeit zu wissenschaftlichem und sozialem Fortschritt. Wie Renan glaubte Djamāloddīn al-Afghānī aber an die Evolution von Zivilisationen, wozu die Emanzipation aus der primordialen Vormundschaft der Religion gehöre. „Alle Religionen sind intolerant“ und jedes Dogma sei wissenschaftsfeindlich und knechte die Gläubigen, dozierte er.107 Die Völker im christlichen Europa hätten gegenüber den islamischen Ländern allerdings einen zeitlichen Vorsprung, weil das Christentum älter als der Islam sei. Die Gesellschaft der Muslime habe sich noch nicht „von der Vormundschaft der Religion befreit.“ Wenn ich nun aber bedenke, dass die christliche Religion um mehrere Jahrhunderte früher in der Welt aufgetreten ist als die mahomedanische, dann kann ich mich der Hoffnung nicht entschlagen, dass auch die mahomedanische Gesellschaft eines Tages dazu gelangen wird, ihre Fesseln zu brechen und entschlossen auf der Bahn der Civilisation fortzuschreiten nach dem Beispiel der abendländischen Gesellschaft, für welche der christliche Glaube trotz seiner strengen Gesetze und seiner Intoleranz [!] kein unüberwindliches Hindernis gewesen ist.108
Renan und Djamāloddīn al-Afghānī ähneln sich in ihrem säkularistischen Fortschrittsglauben, wonach sich religiöser Glaube und wissenschaftlicher Forschergeist unversöhnlich gegenüberstehen. Beide waren sich im Urteil einig, dass der Islam eine „politische Religion“ sei.109 Djamāloddīn al-Afghānī wies jedoch das Vorurteil des französischen Religionswissenschaftlers zurück, der Islam habe „keinen eigenen
104 105 106 107
Renan, Der Islam und die Wissenschaft (1883), in Schäbler, Moderne Muslime, 134. Ebd. Ebd., 145. Al-Afghanis Antwort im Journal des Débats, 18. Mai 1883, zitiert nach Schäbler, Moderne Muslime, 154. Eine Zusammenfassung von Al-Afganis Antwort auf Renans Artikel gibt Anke von Kügelgen in ihrem Kapitel zu Al-Afghani in: Philosophie in der islamischen Welt, Bd. 4/1, 44–46. 108 Al-Afghanis Antwort im Journal des Débats, 154. 109 Ernst Troeltsch und Max Weber haben diese bis heute verbreitete Ansicht begründet. Vgl. Schulze, Der Koran und die Genealogie, 502.
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Fortschrittsbegriff “ entwickeln können und sei eine zurückgebliebene Kultur.110 Er stimmte Renan allerdings darin zu, dass eine Zivilisation nach europäischem Muster sich nur ausbreiten könne, wenn die „theokratische Gewalt des Islam“ als Staatsreligion vernichtet würde.111 Es ist klar, dass diese [mahomedanische] Religion überall, wo sie sich festgesetzt, die Wissenschaft zu ersticken gesucht, und sie ist in diesem ihrem Zweck wunderbar vom Despotismus unterstützt worden. [...] So lange die Menschheit lebt, wird der Kampf zwischen dem Dogma und der freien Forschung, zwischen Religion und Philosophie nicht aufhören, ein heftiger Kampf, in welchem, wie ich befürchte, der Triumph nicht auf Seiten des freien Gedankens sein wird, weil die Vernunft der Menge nicht zusagt und ihre Lehren nur von auserlesenen Intelligenzen begriffen werden [...].112
Djamāloddīn al-Afghānī schickte seine arabisch verfasste Antwort auf Renans Vortrag ebenfalls an die Redaktion des Journal des Débats, wo sie in französischer Übersetzung erschien. Dessen abfällige Beurteilung des Islam in der Geschichte und seine eigene Überzeugung, Vernunft und wissenschaftliches Denken würden sich ebenfalls in den arabischen Zivilsationen durchsetzen, nur entsprechend dem jüngeren Alter des Islam eben später, und schließlich den religiösen Aberglauben vertreiben, hat Djamāloddīn al-Afghānī wohlweislich nicht in arabischer Sprache veröffentlicht. Die französische Fassung erregte bei Muslimen in Paris verständlicherweise Missfallen und weckte Zweifel an Al-Afghānīs Rechtgläubigkeit.113 Muḥammad ‘Abduh hielt eine Verbreitung in arabischer Sprache für unverantwortlich.114
6.
Muḥammad ‘Abduh
Muḥammad ‘Abduh wirkte nach Abschluss seiner Studien in Kairo 1877 hauptsächlich dort als Lehrer und Bildungsreformer. Er folgte seinem Meister Djamāloddīn al-Afghānī nach Paris und entwarf mit ihm ein Programm zum Reformislam, nachdem er aus seiner Heimat Ägypten wegen mutmaßlicher Konspiration mit
110 Schulze, Geschichte (1994), 31; von Kügelgen (Hg.), Wissenschaft, Philosophie und Religion, 41–44 u. ö. 111 Zitiert nach Schulze, Der Koran und die Genealogie, 23 f. 112 Al-Afghanis Antwort im Journal des Débats, in: Schäbler, Moderne Muslime, 155; Renan, Der Islam und die Wissenschaft, 7. 113 Schäbler, Religion, Rasse und Wissenschaft und von Kügelgen, Wissenschaft, Philosophie und Religion, 41. 114 Keddie, An Islamic Response, 93 f.
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den Anführern des anti-britischen Aufstandes von Urabi Basa 1882 ausgewiesen worden war. Nach der Rückkehr aus dem sechsjährigen Exil in Beirut, Tunis und London arbeitete er in Kairo mit der britischen Kolonialregierung zusammen und wurde zum Richter, 1899 zum Mufti von Ägypten ernannt. Als Professor an der AlAzhar-Universität entwickelte er Gedanken Djamāloddīn al-Afghānīs weiter, dass der Islam eine rationale Religion sei und seine Lehren folglich auch zur Begründung einer modernen Gesellschaft taugten.115 Seine Gegner befürchteten noch 1905, ‘Abduh könnte Al-Azhar in eine Schule der Philosophie und literarischen Bildung umwandeln, in der die Religion bekämpft würde.116 Er übertrug Djamāloddīn al-Afghānīs Widerlegung der Materialisten aus dem Persischen ins Arabische. Eine von Herbert Spencers Pädagogischen Schriften übersetzte er aus dem Französischen ins Arabische.117 Als Mufti und Philosophieprofessor entwarf Muḥammad ‘Abduh ein Programm zur Reform der muslimischen höheren Bildung und der Rechtssprechung. Er arbeitete auf eine Reform des Islam hin, die seine Vereinbarkeit mit Prinzipien der Vernunft erweisen sollte. Die Rückständigkeit muslimischer Gesellschaften und ihrer politischen Herrschaftssysteme könne durch Besinnung auf den reinen, ursprünglichen Islam und seine Deutung seitens der arabischen Philosophie überwunden werden. In der frühen islamischen Tradition sah ‘Abduh ein Korrektiv für die Kritik an gesellschaftlicher Rückständigkeit, welche die Kolonisierung erleichtert habe. Neu interpretiert sei der Koran d i e Inspirationsquelle für eine moderne Gesellschaft und Regierung. Anders als Djamāloddīn al-Afghānī suchte er im Koran selbst nach Belegen für die Vereinbarkeit von Glaube und Wissenschaft. Gestützt auf eine Mehrheit muslimischer Theologen berief sich ‘Abduh auf den Grundsatz, dass im Falle des Widerstreits zwischen einer Erkenntnis des Verstandes und dem Wortsinn des Offenbarungstextes dieser im Einklang mit der Vernunft neu ausgelegt werden müsse. Der Verstand sei die Richtschnur, um strittige Stellen im Koran zu interpretieren.118 Die Unterschiede zwischen den drei Offenbarungsreligionen erklärte er, ähnlich wie Lessing in Die Erziehung des Menschengeschlechts, aber freilich mit einer Höherwertung des Islam, mit dem göttlichen Plan einer stufenweisen Entwicklung der Menschheit und der Nationen in Analogie zum individuellen Wachstumsprozess des Menschen. Die Gebote und Verbote im Gesetz des Judentums entsprächen der Kindheit, das Gebot der Nächstenliebe und Askese im Christentum dem Zustand
115 Tworuschka, Islam im 19. Jahrhundert, 431 f.; Hourani, Arabic Thought, 133; Peter Rudolph, ‘Abduh, in: Ende/Steinbach (Hg.), Der Islam in der Gegenwart, 118–123; von Kügelgen, Wissenschaft, Philosophe und Religion, 86–90; dies., ‘Abduh (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 82–94. 116 Von Kügelgen, Wissenschaft, Philosophie und Religion, 87; dies.,‘Abduh (2021), 84. 117 Ebd. 118 Von Kügelgen, Wissenschaft, Philosophie und Religion, 89.
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der Jugend und die Rationalität im Islam dem Alter der Reife.119 In sämtlichen Schriften begründete ‘Abduh sein Verständnis vom Islam als Religion der Vernunft.120 Seine Hauptthesen hinsichtlich der Grundlagen (usul) von Christentum und Islam durchziehen alle Artikel: Die Muslime haben sich gegenüber Philosophie und Wissenschaft sowie gegenüber Andersgläubigen wesentlich toleranter gezeigt als die Christen. Die Grundlagen des Christentums hindern am selbständigen und wissenschaftlichen Denken, wohingegen es durch jene des Islam gefördert wird.121
6.1
Die Kontroverse mit Faraḥ Anṭūn
In seiner Artikelserie Islam und Christentum im Verhältnis zu Wissenschaft und Zivilisation, die in sechs Folgen in der Zeitschrift al-Manar (Der Leuchtturm), nach Reinhard Schulze dem ‚Flaggschiff der Salafiya‘, in Kairo 1902/3 publiziert wurde, lenkte ‘Abduh den Blick auf die Geschichte des Islam von den ersten Kalifaten bis zum Osmanischen Reich. 1903 war ‘Abduh um eine apologetische Entgegnung auf die Averroes-Biographie des griechisch-orthodoxen Syrers Faraḥ Anṭūn (1874–1922) gebeten worden. Durch Ernest Renans Dissertation über Averroes (Ibn Ruschd) war Faraḥ Anṭūn auf den mittelalterlichen Denker aufmerksam geworden. Von Renan hatte Anṭūn La vie de Jésus gelesen und pries den französischen Religionswissenschaftler als „unermüdlichen, sich auf seine Verstandeskräfte und nicht auf die (Heiligen?) Schriften (al-kutub) und Menschen verlassenden Wahrheissucher“, überdies als „‚großen Gesandten‘ des ‚Geistes absoluter Toleranz‘“.122 Faraḥ Anṭūn gab von Alexandria und zeitweise von New York aus 1899–1910 die Zeitschrift Die [osmanische] Liga heraus, welche Lehren zeitgenössischer Philosophen, Soziologen und Theologen Europas einem arabisch sprechenden Publikum bekannt machte.123 Anṭūn arbeitete sich in die Kulturgeschichte Europas hauptsächlich durch die 119 Ebd., 90; Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts (1780), 333–350. 120 Abu Zayd, Reformation of Islamic Thought, 31–34; Hasselblatt (Hg.), Herkunft und Auswirkungen. Der erste Teil enthält die Übersetzung von Abduhs Programmschrift, der zweite Teil eine Analyse der Schrift und Tätigkeit ‘Abduhs. 121 Von Kügelgen, ‘Abduh (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 86; dies., Wissenschaft, Philosophie und Religion, 90. 122 Von Kügelgen, Faraḥ Anṭūn (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 95–101, hier 97, das Zitat Anṭūns in deutscher Übersetzung von Kügelgens. Vgl. Reid, The Odyssey of Faraḥ Anṭūn, 67 f. 123 Von Kügelgen, Faraḥ Anṭūn (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 95–101, zur Biographie 95 f.; Reid, The Odyssey of Farah Antun, 42–49. Reid übersetzt den Titel der Zeitschrift „The Ottoman Community“. Die Zeitschrift erschien anfänglich vierzehntägig, später in immer größeren
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
Lektüre französischer Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts ein.124 Mit seiner Abhandlung über Ibn Ruschds Philosophie125 ließ er sich auf eine Kontroverse mit dem berühmten Mufti ‘Abduh ein. Dieser protestierte gegen Anṭūns Behauptung, das Christentum habe in der Geschichte Europas größere Toleranz gegenüber der Philosophie bewiesen als der Islam, unter dessen Herrschaft Philosophie und Wissenschaft Verfolgung zu leiden gehabt hätten.126 Im Kapitel „Die Trennung der zivilen und religiösen Gewalten ist der wahre Grund für die wahre Toleranz“ vertritt Faraḥ Anṭūn die Ansicht, erst die Scheidung der Kompetenzen von Religion und Staat erlaube religiöse Diversität in der Gesellschaft und sei die Voraussetzung für religiöse Toleranz.127 Die Religion sei Privatangelegenheit zwischen jedem Individuum und einer überirdischen Instanz; der Staat habe nur die Freiheitsrechte der Bürger zu schützen. Hauptaufgabe der weltlichen Regierung sei es, ihren Bürgern die Freiheit des Denkens, Forschens und Handelns zu ermöglichen, ohne ihnen hinsichtlich der Religion Vorschriften zu machen.128 Religiöse Macht bzw. die Autorität von Theologen im Staat könnten ex officio keine Toleranz (tamasul) gewähren, weil sie von der alleinigen Wahrheit ihres Glaubens überzeugt seien und andere religiöse Überzeugungen für Irrtum oder Apostasie hielten; dafür kennt Faraḥ Anṭūn Beispiele im frühneuzeitlichen Europa ebenso wie in islamischen Gesellschaften.129 Eine Gesellschaft unter Herrschaft einer geistlichen Obrigkeit werde immer aus Klassen mit unterschiedlichen Rechten und Privilegien bestehen. Der rechtliche Schutzstatus einer religiösen Minderheit
124 125 126
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Abschnitten. Während des New Yorker Exils 1906–1909 publizierte Anṭūn eine Tages- und eine Wochenzeitung für arabische Leser (Reid, The Odyssey, 42). Reid, The Odyssey, 66. Vgl. Faraḥ Anṭūn, Ibn Rushd wa-falsafatuhru, Alexandria 1903; vgl. die englische Übersetzung des Kapitels über religiöse Toleranz von Zakia Portman in Journal of Levantine Studies 2013, 172. Von Kügelgen, Faraḥ Anṭūn (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 97; Reid, The Odyssey, 80–88. Faraḥ Anṭūns Text in italienischer Übersetzung auszugsweise bei Viviani, Faraḥ Anṭūn, 71–298. Von Kügelgen, Faraḥ Anṭūn (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 98; Reid, The Odyssey, 84 f.; Viviani, Faraḥ Anṭūn, 236–245; Anṭūn, The Meaning of ‘Tolerance’, which is the Basis of Modern Civilization, 159–172. Faraḥ Anṭūn stützt sich auf Francis Bacon, René Descartes, John Locke und die französischen Aufklärer, ohne auf die Zwei Reiche-Lehre Luthers einzugehen (Viviani, un maestro del novecento arabo, 260). Zum Toleranzbegriff Faraḥ Anṭūns s. Dhouib, Konkurrierende Auffassungen, 33–48, hier 37. Die Zusammenfassung von Faraḥ Anṭūns Verteidigung der Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Macht nach dem Auszug in italienischer Übersetzung bei Viviani, Un maestro Faraḥ Anṭūn, 234–245. Anṭūn, The Meaning of ‚Tolerance’, 160. Zu „tamasul“ und verwandten Begriffen für ‘Toleranz’ s. Kokew, Toleranz im islamischen Kontext, 216.
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(Ḏhimmī)130 im islamischen Staat gewähre ihr aufgrund eines Pakts aber nur vertikale Toleranz. Die Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Macht habe nach den Religionskriegen in Europa zum Aufschwung der Wissenchaften und der Zivilisation geführt. Die Wissenschaften bedürften der Forschungsfreiheit, um Wege und Mittel zur Verbesserung des menschlichen Lebens zu erkunden. Die Zwietracht der Religionen (der Religionsstreit) sei wie ein Holzwurm, der von innen die Stärke der Gemeinschaft aushöhlt. Religionsstreit könne nur durch eine von geistlicher Macht unabhängigen Regierung gestoppt bzw. verhindert werden. Voraussetzung sei, dass die Regierung alle Bürger für gleich achtet und eine unabhängige Justiz nach klaren Kriterien Recht von Unrecht unterscheidet. Es sei unmöglich, eine „religiöse Uniformität“ herzustellen, wie zahllose Bürgerund Religionskriege in Europa gezeigt hätten. Toleranz sei geboten gegenüber Gläubigen und Ungläubigen. Faraḥ Anṭūn zweifelte an dem von ‘Abduh und Djamāloddīn al-Afghānī propagierten Weg, gesellschaftliche Innovationen durch eine Reform des Islam herbeizuführen. Djamāloddīn al-Afghānīs politische Instrumentalisierung des Islam kritisierte Faraḥ Anṭūn als utilitaristisch. Nicht zuletzt machte sich Faraḥ Anṭūn Sorgen um die christliche Minderheit im Osmanischen Reich, welche Djamāloddīn al-Afghānī nicht eigens erwähnte.131 Im Hinblick auf ihre Offenheit gegenüber den Wissenschaften und politischen Ideen des Westens standen sich Faraḥ Anṭūn und ‘Abduh näher als den muslimischen Traditionalisten. Beide bekannten sich zu den modernen Methoden der Naturwissenschaften, Empirie und Mathematik, ohne an der Harmonisierbarkeit von Religion und Wissenschaft zu zweifeln. Beide hielten es für ein Gebot der Klugheit, gemeinsam mit der britischen Kolonialmacht nach Kompromissen zur Realisierung ihrer Reformideen zu suchen. Aber während Faraḥ Anṭūn Religion für Privatsache hielt, welche das Gefühl anspricht und als Freiheitsrecht schützenswert ist, war ‘Abduh daran interessiert, eine Reform des Islam als Bedingung für eine gesellschaftliche Erneuerung zu empfehlen, indem er den Islam als Religion im Einklang mit der Vernunft nobilitierte.132
130 Meskini, Toleranz und die Existenz als Dimmī, 171–188; Kokew, Toleranz im islamischen Kontext, 207–214, dort weitere Literatur zum islamischen Recht betreffend Ḏhimmīs; Krämer, Islam und Toleranz, 1119–1128. 131 Von Kügelgen, Faraḥ Anṭūn (in: Philosophie in der islamischen Welt 4/1), 98; Reid, The Odyssey, 83. 132 Ebd., 87 und 89.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
6.2
‘Abduh: Islam und Christentum im Verhältnis zu Wissenschaft und Zivilisation
‘Abduh beurteilte in dieser religionsvergleichenden Schrift von 1902 die christliche Religion und Gesellschaft im Vergleich mit dem Islam funktionsgeschichtlich, ohne sich mit den theologischen Inhalten auseinanderzusetzen.133 Er ließ die traditionellen muslimischen Vorwürfe gegen das Christentum auf sich beruhen (Trinitarische Vielgötterei, Unzuverlässigkeit des Bibeltextes, Verfälschung des Urchristentums durch Gründung einer Kirche mit Machtfunktionen) und konzentrierte sich auf die Leitfrage, in welchem Maße die beiden Religionskulturen zum Aufschwung der Naturforschung beigetragen bzw. diese behindert hätten. Beide Religionen werden mit Blick auf die Geschichte der Naturwissenschaften einander gegenübergestellt, mit vielen Zitaten westlicher Autoren aus Philosophie, Historiographie, Theologie und den Einzelwissenschaften sowie einer Fülle von Namen aus der Blütezeit islamischer Kultur unter den abbasidischen Kalifen und in Spanien. Faszination für die Leistungen westlicher Zivilisation paart sich bei ‘Abduh mit dem Stolz auf die Kulturleistungen des frühen Islam. ‘Abduh bewunderte die Französische Revolution als Auslöser politischer und gesellschaftlicher Innovationen und Ausgangspunkt für die Errichtung eines säkularen, laizistischen Staats. Für ihn war klar, dass Europa den Fortschritt auf dem Gebiet der Wissenschaften, Politik und Gesellschaft erstens dem Autoritätsverlust der Kirche seit der Reformation und zweitens der laikalen Indifferenz gegenüber der christlichen Lehre seit der Französischen Revolution verdanke. Die Reformation Luthers habe für den Aufschwung der Natur- und Himmelsforschung und ihre Befreiung von kirchlicher Bevormundung die Voraussetzungen geliefert. Dagegen habe der Islam die Gläubigen schon in seiner formativen Phase dazu ermächtigt, in Fragen der Moral und Politik mündig zu werden, wie der Aufstieg arabischer Länder zur Weltmacht seit dem 7. Jahrhundert bewiesen habe. „Nach ‘Abduh durfte Politik also keinesfalls ‚die Religion unterdrücken‘; sie mußte sich immer dem Ziel der Theologie, die Religiosität zu schützen, unterordnen.“134 Dieses Programm erwies sich unter dem Einfluss von ‘Abduhs konservativem Schüler Rashīd Ridā und seit Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten 1928 als zündend für den islamischen Nationalismus. Die christliche Kirche, die seit dem Imperium Romanum Konstantins zunehmend mit Kaisern und Königen auf Augenhöhe verhandelte und unter den Re-
133 Die folgende Zusammenfassung ist auf Gunnar Hasselblatts deutsche Übersetzung Islam und Christentum im Verhältnis zu Wissenschaft und Zivilisation bezogen. Hasselblatt, Herkunft und Auswirkungen der Apologetik, 7–164. 134 Schulze, Geschichte der islamischen Welt, 57. Das Zitat stammt von Rasid Rida (ebd. 595, Anm. 48).
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naissancepäpsten ihre größte Macht entfaltete, habe hingegen das Gewissen des Gläubigen unter Druck gesetzt und der Vernunft keinen Spielraum gelassen. Kirchenlehrer hätten sich in die Forschung der Astronomen, Geographen und Mediziner eingemischt und Praktiken, die nicht im Einklang mit der Heiligen Schrift standen, verboten.135 Seit der Zeit der Reformation mit der Rückkehr zu den ersten Grundlagen der Religion brach die Sonne der Wissenschaft in Europa hervor, und den Wissenschaften wurde ein breites Feld der Toleranz gewährt.136
Die Reformatoren hätten die Autorität der römischen Kirche untergraben, den Handel mit Ablässen gestoppt und die Anbetung von Bildern verurteilt. Ihre Absicht sei es gewesen, die Religion auf die Lehren der Bibel zurückzuführen. Sie hätten den Gläubigen gestattet, die Bibel selbständig zu lesen und zu interpretieren. Die unabhängige, methodisch gesicherte wissenschaftliche Forschung konnte sich dank religiöser Toleranz entwickeln. Allerdings habe die Todesstrafe für Ketzerei weiter Gesetzeskraft gehabt, wie das Beispiel der Anklage und Hinrichtung Michel Servets wegen Häresie auf Initiative Calvins zeige. Die muslimische ulama sei toleranter als Luther und Calvin. 137 Während die muslimischen Gelehrten Aristoteles stets als den ersten Lehrer würdigten, hätten Luther und Calvin ihn beschimpft und gering geschätzt. Luthers Reform des christlichen Glaubens habe allerdings vor der Heiligen Schrift Halt gemacht; sie galt weiterhin als einzige Quelle des Glaubenslichtes, in welches der Verstand nicht dringen könne.138 Biblische Aussagen über die Erde und den Lauf der Sonne gaben den Maßstab ab für die Verurteilung kosmologischer Lehren, welche im Widerspruch zum Literalsinn der Heiligen Schrift stünden. Religionsstreitigkeiten, Glaubenskriege und religiös bedingte Verfolgung durch die Kirche gehörten nach ‘Abduh bis zur Französischen Revolution zu Begleiterscheinungen des post-reformatorischen Christentums. Die christliche Religion war seiner Meinung nach dem Islam unterlegen, weil die Verstandeserkenntnis sich dem religiösen Dogma habe unterordnen müssen.139 Die Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Macht im Christentum habe notwendig zum Rangstreit zwischen beiden geführt, weil die Geistlichen der weltlichen Obrigkeit den Anspruch auf ihre Herrschaft streitig gemacht hätten und umgekehrt. Der geistlichen Macht widerstrebe es, weltlichen Herrschern freie Hand über die 135 136 137 138
‘Abduh, Islam und Christentum, in Hasselblatts Übersetzung, 42 f. Ebd., 45. Khayat, Historiography and Translation, 107. ‘Abduh, Islam und Christentum, in Hasselblatts Übersetzung, 45; Khayat, Historiography and Translation, 107. 139 Khayat, Historiography and Translation, 106 f.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
Mitglieder der Kirche zu geben. Daher hätten beide Obrigkeiten in der Geschichte Europas ständig um die absolute Macht über Körper und Seelen ihrer Gläubigen und Bürger gerungen. Das Verbot von Ordensschulen infolge der Französischen Revolution sei kein Akt der Unterdrückung gewesen, sondern signalisiere vielmehr die Befreiung von religiöser Bevormundung. Schon infolge der Reformation seien in den protestantischen Territorien anstelle der Klosterschulen landesherrliche Schulen und Hochschulen errichtet worden. Religiöse Toleranz sei erst in der Folge innerchristlicher Religionskriege gewährt worden als Bedingung für eine Friedensordnung. Aus der Einsicht, dass Glaubenskriege immer neuen Anlass zu Rachefeldzügen gegen die gegnerische Glaubensgemeinschaft gegeben hätten, sei die Vision eines Staates mit religiös überparteilicher Regierung entstanden, welche den Kirchen den nötigen Freiraum für ihren religiösen Kult gewähre.140 6.3
John William Drapers Konfliktgeschichte zwischen Religion und Naturwissenschaften
‘Abduhs Hauptquelle ist John William Drapers (1811–1882) Darstellung History of the Conflict between Religion and Science, die erstmals 1874 publiziert wurde.141 Ein Jahr später erschien bereits eine zweite Auflage mit einem neuen Prooemium, in dem der Autor die These des Buchs zusammenfasst und seine Motive darlegt, wieso er sich mit den Anfängen des Christentums und des Islam beschäftige. Nach seinem medizinischen Diplom an der Universität von Pennsylvania machte Draper an der Unversity of New York Karriere. Er war einer der Gründer der dort beheimateten School of Medicine und ihr langjähriger Präsident. Draper war ein Erfinder auf dem Gebiet der Chemie. Er testete die Möglichkeiten der Daguerreotypie für die wissenchaftliche Forschung und medizinische Diagnostik. Er erkannte sofort das theologische Konfliktpotential, als Darwins Origin of the Species 1860 an der Oxford University diskutiert wurde. Draper war Mitglied der Accademia dei Lincei in Rom, der Physical Society of London, der National Academy of Sciences der USA.142 Der Konflikt zwischen Kirche und den Naturwissenschaften ist das Leitmotiv seiner Geschichte. Draper bot ein vereinfachtes historisches Tableau von der kontinuierlichen Emanzipation der Philosophie und Naturwissenschaften aus kirchlicher Aufsicht und theologischer Bevormundung. Eine dramatische Bewegung führte
140 ‘Abduh, Islam und Christentum, in Hasselblatts Übersetzung, 94 und 136. 141 John William Draper, History of the Conflict between Religion and Science, New York 1874. Vgl. Hasselblatt, ‘Abduh, 184 und die Stellennachweise auf den Seiten 192–195 und 313. 142 Fleming, Draper, 181–183; Linda Hall Library, Scientist of the Day John William Draper, Mai 5, 2021 https://www.lindahall.org/about/news/scientist-of-the-day/john-william-draper, aufgerufen am 15. November 2022; Jaime Wisniak, John William Draper, Educación Quimica 24 (2013), 215–223, 216.
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in seiner Erzählung vom Autoritätsverlust des römischen Klerus im 16. Jahrhundert zum Selbstbewusstsein der Natur- und Himmelsforscher, welche seit Galilei und Kepler keine Rücksicht mehr auf den traditionellen Anspruch der Theologen nahmen, natürliche Phänomene nach Maßgabe des Bibeltextes zu deuten, sondern kraft ihrer empirischen und mathematischen Methoden die Deutungshoheit für sich angestrebt hätten. Kreationistische Einwände seitens hochrangiger Theologen gegen die Evolutionstheorie waren für Draper das jüngste Beispiel einer wissenschaftsfeindlichen Haltung der christlichen Kirchen. Aktuelle Anlässe für Drapers Weltgeschichte des Konflikts zwischen Religion und Naturwissenschaften waren die Enzykliken von Papst Pius IX. und die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils. 1864 habe das Oberhaupt der größten christlichen Kirche in der Bulle „Syllabus errorum“ Pantheismus, Naturalismus und Sozialismus verurteilt. Das erste Vatikanische Konzil (8. Dez. 1869 – 20. Oktober 1870) habe mit der Bulle „Dei Filius“ den Glauben über die Vernunft gestellt und der Kirche aufgetragen, darauf zu achten, dass die Wissenschaften nicht mit der göttlichen Lehre im Widerstreit lägen. Wissenschaftler hätten nach Meinung des Papstes mit ihrer Einmischung in die Glaubenslehre (etwa mit der Forderung nach Anpassung der Bibelinterpretation an die Ergebnisse der Naturforschung) ihre Grenzen überschritten. Der Papst habe sich mit dem Dogma der Unbefleckten Empfängnis und der Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit über alle theologischen und politischen Widerstände der Kardinäle, Bischöfe und Staaten Europas hinweggesetzt.143 Nach der Entmachtung des Papstes durch den römischen König kämpfe das Oberhaupt der römischen Kirche aber auf verlorenem Posten für die Suprematie über alle Gläubigen und die weltlichen Regierungen. So schildert Draper die Ereignisse der Jahre 1864–1870 als letzten Akt eines Dramas mit mächtigen Antagonisten, das mit der Etablierung des Christentums zur Staatsreligion begonnen habe. The antagonism we thus witness between Religion and Science is the continuation of a struggle that commenced when christianity began zu attain political power. A divine revelation must necessarily be intolerant of contradiction; it must repudiate all improvement in itself, and view with disdain that arising from the progressive intellectual development of man. […] The history of Science is not a mere record of isolated discoveries; it is a narrative of the conflict of two contending powers, the expansive force of the human intellect on one side, and the compression, arising from traditionary faith and human interests on the other.144
143 Von Kügelgen, Wissenschaft, Philosophie und Religion, 37; Draper, History, 328–338 und 443–351; Denzinger, Kompendium, zum Syllabus vom Dez. 1864 798–809, zu den Bullen „Dei Filius“ und „Pastor aeternus“ der 3. und 4. Sitzung des ersten Vatikanischen Konzil 811–833, die Verkündung der päpstlichen Unfehlbarkeit auf S. 830. 144 Draper, History of the Conflict, preface, VI.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
Draper war allerdings vom glücklichen Ausgang des dramatischen Rang- und Autoritätsstreits in Zukunft überzeugt. Er glaubte an den Sieg wissenschaftlichen Fortschritts über die rückwärtsgewandte Macht des christlichen Glaubens. Dem Protestantismus billigte er (trotz Luthers Lösung von Rom) keine aktive Rolle im Kampf der Philosophie und Naturwissenschaften um Emanzipation von der kirchlichen Deutungsmacht zu. Indem Luther den Gläubigen das Recht zugestanden habe, die Heilige Schrift selbständig zu lesen, habe er allerdings dem „individualism“ Auftrieb gegeben. Ohne Luthers Erlaubnis, sich selbst ein Urteil über Sinn und Bedeutung der Heiligen Schrift bilden zu dürfen,145 hätte sich die Forderung nach religiöser Toleranz innerhalb des Christentums nicht hätte durchsetzen lassen. Aber auch protestantische Kirchenführer hätten in der Frühen Neuzeit die Autorität der Heiligen Schrift über die Erkenntnisse der empirisch-mathematischen Wissenschaften gestellt und Naturforscher der Heterodoxie verdächtigt. Die protestantischen Kirchen der Gegenwart müssten endlich zugeben, wenn jeder Gläubige die Bibel selbständig deuten dürfe, dann dürften auch Naturforscher nicht mehr mit Rücksicht auf Glaubensgrundsätze oder kirchliche Dekrete in ihren Forschungen behindert werden. Die moderne Wissenschaft sei die Zwillingsschwester der Reformation und der moderne Protestantismus ihr Schutzpatron, denn er habe von Anfang an gegen die in alle Lebensbereiche und geographischen Regionen ausgreifenden weltlichen Machtansprüche der römischen Kirche rebelliert.146 Draper stimmt mit dem Urteil des laizistischen Erziehungsministers Guizot überein, dass die römische Kirche stets mit dem „Despotismus“ paktiert habe und gegenüber abweichenden Ansichten anderer Religionen und der Wissenschaften intolerant gewesen sei.147 Über den wissenschaftlichen Gehalt von Drapers „Conflict Thesis“ braucht im Lichte differenzierter wissenschaftshistorischer Forschung kein Wort verloren zu werden.148 Er vereinfacht, wenn er den Anschein erweckt, als hätten sich Copernicus, Galilei, Kepler und Newton mit ihren bahnbrechenden Forschungen gegen den Widerstand der Kirche durchsetzen müssen, obwohl sie gläubig waren und bestrebt, ihre wissenschaftliche Arbeit mit Prinzipien des Glaubens in Einklang zu bringen. Drapers Geschichtsdarstellung verzichtet auf Quellenzitate und bibliographische Nachweise.149 Draper beobachtete nach Mustern, die ihm Montesquieus De l’esprit des lois (1748) und Edward Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire
145 146 147 148
Anspielung auf Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, 100 f. Draper, History of the Conflict, 353. Ebd., 365. Biagioli, Galileo Courtier; Lattis, Between Copernicus and Galileo; Redondi, Galileo Heretic; Krafft, „... denn Gott schafft nichts umsonst“; Mahlmann-Bauer (Hg.), Artes et scientiae, Einleitung. 149 Dazu Yalcinikaya, Science as an ally, 161 und Anm. 1.
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(1776–1789) lieferten, wie hegemoniale politische Pläne zur Akkumulation von Macht, Ländern und Ressourcen stets dann scheiterten, wenn die Machthaber die Fliehkräfte an der Peripherie nicht mehr kontrollieren konnten. Gewalt und Terror seien in der Weltgeschichte die bewährten Mittel, um Opposition zu unterdrücken und eigenständiges Denken im Keim zu ersticken. Draper richtete seine Aufmerksamkeit auf Opfer derartiger Unterdrückung und Bevormundung. Kulturrevolutionen in der Weltgeschichte seien nach seiner Beobachtung meist von ethnischen oder religiösen Minoritäten ausgelöst worden, die sich gegen Fremdbestimmung und Unterjochung zu wehren verstanden. Auch unzivilisierte Stämme und Völker hätten durch militärische Tüchtigkeit und mutige Anführer einen Zivilisierungsschub auslösen und auf dem Tableau der Weltmächte unter den global players auftreten können. Drapers Konflikt-Geschichte war unter muslimischen Intellektuellen im Vorderen Orient um und nach 1900 deswegen populär, weil er den euro- und christozentrischen Blick zugunsten einer globalen Perspektive aufgab und die Beiträge arabischer Gelehrter nicht nur zur Überlieferung antiken Wissens, sondern auch auf dem Gebiet der Astronomie und Mathematik würdigte. Drapers historisches Narrativ stieß daher bei Intellektuellen im vorderen Orient und Nordafrika in ihrem Bemühen, sich vom kolonialen Einfluss loszusagen, ohne sich von der technologischen Entwicklung in Europa (Modernisierung) abzukoppeln, auf lebhaftes Echo. Er bezeichnete den Siegeszug des Islam über das Christentum in Afrika, Asien und Südeuropas im 7. Jahrhundert als „erste oder südliche Reformation“.150 Die Araber hätten die induktive Methode des Aristoteles übernommen. Die griechische Philosophie wurde ins Arabische übersetzt, in dieser Sprache wurden Arithmetik, Astronomie, Physik und Chemie gelehrt und eine philosophische Theologie begründet. Die Lehren des Averroes, die auf Prinzipien der Vernunft fußten, seien von der Kirche verboten worden. Sie hätten aber ihren Einfluss auf die Naturlehren der Schule von Padua im 15. Jahrhundert weiterhin ausgeübt.151 Erst in der Reformationszeit erreichte Draper zufolge die christliche Theologie das Niveau arabischer Philosophen des 10. und 11. Jahrhunderts.152 Luthers Reformation und seine Ablehnung der päpstlichen Autorität seien von der „ersten Reformation“, den Erfahrungen der Kreuzfahrer bei ihrer Begegnung mit dem Islam, inspiriert worden – ein Gedanke, der von ‘Abduh und Rashīd Ridā aufgegriffen wurde. 153 Zeitgenössische Rezensenten zeigten sich verwundert über Drapers „undiscriminated admiration for everything [...] that [had] ever worn the garb of Islam“ und
150 151 152 153
Draper, History, Preface, XIII und Kapitel IV. Ebd., 119–151. Ebd., XV. Khayat, Historiography and Translation, 118, zu Rashīd Ridās Urteil über Luther ebd.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
verdächtigten ihn, er würde die muslimische Zivilisation über die christliche stellen.154 The Catholic World erklärte Draper zum „new apostle of Islamism“. Draper habe die „Conflict Thesis“ mit seinen speziellen Ansichten über den Wettstreit zwischen Christentum und Islam gekreuzt. ‘Abduh verstand als einzige europäische Sprache Französisch. Drapers Buch las er höchstwahrscheinlich in der türkischen Übersetzung des Ahmed Midhat Effendi (1844–1912), die in vier Bänden 1895–1900 publiziert wurde.155 Ihre Zusätze zeigen, wie sich Midhat die Konfliktthese zu eigen machte und Drapers Argumentation zuspitzte. Midhat wollte demonstrieren, dass einzig im Islam der Glaube vernünftig begründet werde. Er ergänzte Drapers Darstellung in der Absicht zu zeigen, dass der Glaube im Islam im Gegensatz zum christlichen mit vernünftiger Erkenntnis harmoniere und wissenschaftlicher Forschung nicht im Weg stehe. Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft seien im Koran schon vorweggenommen. Beispielsweise erklärte der Koran die Sintflut zu einer Katastrophe lokalen Ausmaßes, im Einklang mit moderner Naturforschung.156 Im Koran werde Adam nicht als der erste Mensch charakterisiert, vielmehr impliziere der Text die Annahme von Präadamiten.157 Der Koran sei eine Quelle enzyklopädischen Wissens. Theologen hätten eine Hermeneutik entwickelt, um den heiligen Text in Übereinstimmung mit wissenschaftlicher Erkenntnis und nach Prinzipien der Vernunft zu interpretieren.158 Drapers Schilderung, wie Galileo Galilei und Giordano Bruno wegen ihrer wissenschaftlichen Ansichten von der Kirche verurteilt worden seien, war Wasser auf Midhats Mühlen: Eine Religion, die ihre Glaubensgenossen barbarisch verfolge und Bruno als Häretiker dem Scheiterhaufen überantworte, könne doch nicht wahr sein.159 Drapers Kritik an den Reformatoren, die ‘Abduh übernimmt,160 veranlasste Midhat zum Kommentar, dass der Protestantismus sich nicht weniger feindselig zu den Naturwissenschaften verhalte als der römische Katholizismus.161 „In Midhat’s hands, [Draper’s book] Conflict became a work that legitimized the rule of Sultan Abdülhamid II by proving the superiority of Islam over Christianity.“162 Im Mai 1876 war Midhat führend am Coup d’état beteiligt, der Abdülhamid
154 155 156 157 158 159 160
Belege bei Yalcinikaya, Science as an ally, 179. Yalcinikaya, Science as an ally, 162. Ebd., 174. Ebd., 175. Yalcinikaya, Science as an ally,168. Ebd., 173. Abduh zitierte Drapers Urteile über Luthers Abneigung gegen den Schularistotelismus und Servets Verurteilung und Hinrichtung. 161 Yalcinikaya, Science as an ally, 176. 162 Ebd., 163.
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II. zur Herrschaft verhalf.163 Seit 1878 stieg Midhat zum führenden Zeitungsredaktor auf. Er erhielt von Sultan Abdülhamid II. (1879–1909) regelmäßige finanzielle Unterstützung. Abdülhamid nahm unter dem Eindruck der Gebietsverluste im russisch-osmanischen Krieg 1877/78 den Titel „Kalif aller Muslime“ an und propagierte den Islam als einigendes Band aller Muslime angesichts der Feindschaft und militärischen Überlegenheit der Europäer. Das Studium des Islam und islamischer Tradition wurde unter Abdülhamids Regime neu ins Curriculum der Schulen aufgenommen, als Gegengewicht zu den Missionsschulen. Midhat warnte vor der bedingungslosen Nachahmung des ‚westlichen‘ Gesellschaftsmodells. Nur „If we [...] add European civilization to our own character, we shall not only preserve, perpetuate, and maintain our character, but also fortify and refine it.“164 Midhat wusste sich einig mit den politischen Ansichten Djamāloddīn al-Afghānīs, der seine letzten Lebensjahre am Hofe des türkischen Sultans verbrachte. Midhat machte mit seinen islam-freundlichen Zusätzen Drapers Conflict-Abhandlung zu einer Streitschrift für die Vorzüge des Islam gegenüber den christlichen Kirchen, die der empirischen Naturforschung Fesseln auferlegt hätten, wohingegen der Islam als Vernunftreligion die diversen Wissenschaften in der Geschichte gefördert habe. Er war daher mit der Schlussfolgerung des kirchenfeindlichen Amerikaners nicht einverstanden, dass Religion generell für freie Forschung ein Hindernis darstelle. Wenn Draper die Überlegenheit islamischer Wissenschaften im Mittelalter betonte, war es ihm darum zu tun, den Wettstreit zwischen Islam und Christentum zu veranschaulichen, die Wissenschaftsfeindlichkeit aller Religionen zu demonstrieren und seinen akademischen Kollegen Atheismus als einzig vernunftgemäße Haltung zu empfehlen.165
7.
Zwischenergebnis
Djamāloddīn al-Afghānī und ‘Abduh waren auf der Suche nach Konzepten, mit denen sie europäischen Diskussionspartnern und Meinungsführern ihre Kritik an der Kolonialherrschaft und ihre Vorbehalte gegenüber der Übernahme westlicher Gesellschaftsmodelle und politischer Herrschaftsformen verständlich machen konnten. Ein Äquivalent für „Gesellschaft“ gab es im Arabischen nicht. Um den Begriff „Nation“ zu verstehen, studierten sie die europäische Geschichte der Staatenbildung. Die Autoren der Pariser Zeitschrift Al Manār gebrauchten dafür „umma“, 163 Hourani, Arabic Thought, 104. 164 Yalcinikaya, Science as an ally, 164, zitiert nach Niyazi Berkes, The Development of Secularism in Turkey, Montreal 1974, 285. 165 Ahmed Midhat Effendi, John William Drapers “Konflikt”, übersetzt in Auszügen von Emur Imeri, in: Kügelgen (Hg.), Wissenschaft, Philosophie und Religion, 260 f.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
womit die Gemeinschaft aller Muslime in Absehung ihrer ethnischen Herkunft und nationalen Identität gemeint war, im doppelten Sinn von Gesellschaft und Nation. Sie bezeichneten damit aber eine von islamischer Tradition geprägte Gesellschaft, in der politische Herrschaft und gelebter Glaube eine andere Bedeutung hatten als in den staatstheoretischen Traktaten der Aufklärung, des Liberalismus und Sozialismus. Djamāloddīn al-Afghānī und ‘Abduh bezogen sich auf Luther und die Reformation, um eine Brücke zum Dialog mit europäischen Intellektuellen zu bauen und bei ihnen um Verständnis für ihr anti-koloniales Anliegen, in erster Linie die Reform des Islam als identitätsstiftendes Band zwischen unterdrückten, fremdbestimmten Völkern, zu werben. Sie wollten die orientalistische Vorstellung vom Islam als „Anti-Moderne“ widerlegen. In den Geschichtsdarstellungen Guizots und Drapers begegneten die Islamreformer der ersten Generation einem externalistischen Verständnis von Religion als einem System von Lehren, welches individuelles Verhalten steuerte, die Kultur prägte und Fragen der Ethik und des Rechts mit Vorstellungen von himmlischem Lohn und Erlösung im Jenseits verknüpfte. Guizot war Erziehungsminister in einer laizistischen Regierung. Draper wurde durch die wissenschaftsfeindlichen Dekrete des Ersten vatikanischen Konzils zu einer Bilanz des schädlichen Einflusses der christlichen Kirchen und ihrer Dogmenbildung motiviert. Hier fanden die Befürworter einer Anpassung des Islam an die Erfordernisse der Moderne das, was sie brauchten: ein positiv besetztes Verständnis von „Reformation“, für das die Opposition zur römischen Kirche ein Paradigma darstellte, da sie sich von den urchristlichen Gemeinden des Evangeliums entfernt und Christus als Oberhaupt einer universellen Geistkirche durch die weltliche Herrschaft des Papstes ersetzt habe. Religiöser Pluralismus und Toleranz als Haltung des Respekts gegenüber Andersgläubigen oder Ungläubigen, wurden zwar als Folge der protestantischen Staatenbildung im Reich gesehen, aber nicht mit den Gesetzen im Umgang mit Ḏhimmī und zur Bestrafung von Apostaten verglichen.166
8.
Ahmīda an-Naifars Vergleich der politischen Herrschaft des Islam mit einer umgestürzten Pyramide
Die Einigung der UNO auf unveräußerliche Menschenrechte im Dezember 1948 hat neue Diskussionen über die Vereinbarkeit islamischen Rechts mit den Konzepten von Gleichheit vor dem Gesetz veranlasst, wie sie in der Declaration of Independence 1776 und im Code Napoléon festgeschrieben worden waren. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam 1981 schränkt die Freiheit des
166 Motzki, Ḏimma und égalité.
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Menschen (Art. 1) sogleich ein durch die Formulierung „Recht eines jeden [...] Muslim“ (Art. 9).167 Bürgerrechte im islamischen Staat werden von universellen Menschenrechten unterschieden. 1994 verabschiedeten Repräsentanten islamischer Staaten eine Menschenrechtscharta. Sie waren sich uneinig, ob es besondere arabische Menschenrechte gebe, die in der Charta expliziert werden müssten. Arabische und islamische Menschenrechtserklärungen bestehen weiterhin auf „dem historischen Recht der Umma, zu bestimmen, was das Gute ist, und auf deren universeller Verantwortung zur Rettung der Menschheit“.168 Der politische Islam erhielt in der Zwischenkriegszeit durch die 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbrüder und ihr länderübergreifendes Netzwerk sowie eine Vielzahl von neuen Salafiya-Gruppen Auftrieb.169 Ziel der Muslimbrüder war es, die Souveränität Ägyptens auf der Grundlage islamischer Prinzipien durchzusetzen. Sie gewannen dafür das Interesse König Faruqs (reg. 1937–1952), der noch von einem Schüler ‘Abduhs, dem Rektor der Al-Azhar-Universität, religiös unterwiesen worden war.170 Die Muslimbrüder waren auch in anderen Ländern Afrikas auf dem Weg zu einer nationalistischen, neo-salafitischen Partei. Als Reaktion auf das Erstarken des Fundamentalismus, den Wahhabismus des saudischen Königshauses und die Machtübernahme Khomeinis 1979 im Iran sahen sich liberale Intellektuelle erneut veranlasst, nach einem modernen Luther zu rufen, dessen Reformation zum Maßstab für einen Weg zur Einführung demokratischer Strukturen in den Ländern des Islams taugen könnte. Zwei Stimmen werden zum Abschluss vorgestellt. Ein moderner Advokat einer Reform des Islam nach dem Vorbild Luthers ist der tunesische Gelehrte Ahmīda an-Naifar mit seinem Aufsatz Die Islamisten, Luther und die umgestürzte Pyramide von 1984.171 Er fragte „nach der religiösen, kulturgeschichtlichen und politischen Bedeutung der protestantischen Reformation in Europa.“172 An der Reformationsgeschichte nahm er Maß, um eine Modernisierung des Islam zu erwägen, wodurch ein Ausweg aus dem Dilemma zwischen Islamismus und Säkularismus eröffnet würde. Seit den Zwanziger Jahren regte sich Widerstand gegen die französische Herrschaft in Tunesien. Es formierte sich eine Reformbewegung, „die islamische Werte mit liberal-fortschrittlichen Ideen
167 Mongi Serbaji, Die Kultur der Menschenrechte, 216. 168 Ebd., 224. 169 Soumaya Mestiri unterscheidet in der Gegenwart drei Richtungen des Salafismus; s. Mestiri, Multikulturalismus, 79 f.; Schulze, Geschichte der islamischen Welt, Kapitel 5; zum politischen Islam s. Schulze, Der Koran und die Genealogie, 491–498. 170 Schulze, Geschichte der islamischen Welt (1994), 134 f.; von Kügelgen, Religion, Philosophie, Wissenschaft, 37–39. 171 An-Naifar, Die Islamisten, Luther und die umgestürzte Pyramide, in: Meier, Der politische Auftrag des Islam, 487–502. 172 Meier, 487.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
westlichen Ursprungs in Einklang zu bringen suchte.“173 Mahmoud Materi und Habib Bourguiba versuchten in den dreißiger Jahren ein unabhängiges, westlichliberales Tunesien zu verwirklichen, indem sie mit ihrer Partei, dem „Neo-Destour“, die Bevölkerung mobilisierten und Druck auf die öffentliche Meinung in Frankreich ausübten. Bourguiba wurde inhaftiert, und französische Soldaten erschossen mehr als hundert Demonstranten während eines Generalstreiks am 9. April 1938. Tunesien erlangte die Unabhängigkeit 1956.174 Ahmīda an-Naifar, 1942 geboren, gehörte in Tunesien bis zum Sturz Bourguibas 1987 der Gruppe „15–21“ an, in der sich 1984 reformorientierte Intellektuelle zusammenschlossen. Ihr Name deutet das Programm an, Tunesien für das 21. Jahrhundert zu modernisieren, das nach islamischer Zeitrechnung das 15. ist. Die Gruppe steuerte einen Kurs zwischen den Fronten und wollte in einer theologischen Neuorientierung Reformanliegen der islamistischen Opposition mit Forderungen nach Verwirklichung eines demokratischen Rechtstaates verbinden.175 Auf der Suche nach Vorbildern setzte sich An-Naifar mit der Geschichte der Reformation auseinander und leitete aus Luthers Kampf gegen die Suprematie des Papstes und der anschließenden Gründung protestantischer Landeskirchen Erfahrungsgrundsätze ab, die er für eine Kritik an der islamisch begründeten Theokratie nutzte.176 An-Naifars Methode des Vergleichs religiöser Reformbewegungen ähnelt dem Vorgehen von Djamāloddīn al-Afghānī und Muḥammad ‘Abduh, aber er verfolgt ein anderes Ziel als das panislamische Reformprogramm, nämlich die Grundlegung einer auf Gewaltenteilung und den Menschenrechten fußenden Regierungsform mithilfe des Koran, der Sunna (Erzählungen aus dem Leben des Propheten) und der Hadithe. Er sucht nach historischen Analogien zum Kalifat im Abendland und sieht in Luthers Konfrontation mit dem weltlichen Machtapparat der römischen Kirche und ihrem Oberhaupt ein Vorbild für ein Vorgehen gegen die islamisch begründete Theokratie. Von islamischen Apologeten wurden gewöhnlich die Unterschiede zwischen der Voraussetzung für die lutherische Reformation (weltliche Machtusurpation der römischen Kirche im Kontrast zum Auftrag des Evangeliums) und dem modernen Islam hervorgehoben: Luther habe die weltliche Macht der römischen Kirche seiner Zeit als unevangelisch zurückgewiesen. Der Islam kenne
173 Krämer, Die islamische Welt im 20. Jahrhundert, 464. 174 Ebd., 465. Die Nachkriegsjahre waren in Tunesien und in den Nachbarländern vom Palästinakonflikt überschattet. 175 Schulze, Geschichte der islamischen Welt (2016), 382. 176 Andreas Meier schreibt, An-Naifar halte „seinen muslimischen Zeitgenossen Person und Werk des christlichen Reformators Martin Luther als einen Spiegel vor Augen, um im kulturhistorischen Vergleich Bedingungen und Inhalte einer künftigen eigenständigen Reformation und Modernisierung des Islam zu analysieren, die unverzichtbar ist, um der Sackgasse des fruchtlosen Streits zwischen ‚Säkularismus und Islamismus‘ zu entkommen.“ (Meier, Der politische Auftrag, S. 487 f.)
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jedoch keine Kirche als internationale Institution, ebensowenig theologische Autoritäten in einer kirchlichen Ämterhierarchie, die sich zwischen Gott und Gläubige disziplinierend einschalten. Alle Muslime gehören zur Umma, deren Grenzen mit denen des Staats identisch seien. An-Naifar sieht in der Geschichte der islamischen Länder eine sehr wohl mit der christlichen Kirchengeschichte vergleichbare Fehlentwicklung, aber in umgekehrter Richtung. Im Mittelalter trat die christliche Kirche den weltlichen Herrschern als autonome, mächtige Instanz gegenüber. Der Papst hatte allein das Recht zur Investitur der Herrscher und konnte sie ihnen im Falle mangelnder Loyalität verweigern. In den muslimischen Gesellschaften habe eine der römischen Kirche und ihrer Ämterhierarchie verwandte Superinstitution neben und über den nationalen Zentren weltlicher Macht gefehlt. Folglich sei die Religion zum Spielball der Herrschenden geworden. Politische Machthaber hätten die Ulama (den theologischen Gelehrtenstand) für ihre Zwecke instrumentalisiert. Religion habe als Mittel zur Disziplinierung und Kontrolle der Umma gedient. Der Auftrag des Propheten, Sultane sollten als Bevollmächtigte des Kalifen die Religion schützen und für eine unabhängige Rechtsprechung auf der Grundlage der Scharia sorgen, sei von den Herrschern als Lizenz zur absoluten Herrschaft missverstanden worden. Politik und Religion seien in den Ländern des Islam in vergleichbarer Weise verquickt worden wie im Christentum des Mittelalters. Politische Interessen dominierten sämtliche Bereiche von Staat, Kultur, Gesellschaft und Religion. Damit wurde jedoch die Botschaft des Propheten in ihr Gegenteil verkehrt. Sein Auftrag sei es gewesen, eine Gemeinschaft gleicher, freier Individuen zu generieren, die im Kollektiv eine Ulama mit der Realisierung göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit beauftragen sollten. Der Kalif sollte idealiter die Justiz gegenüber der Umma nur stellvertretend ausüben.177 Um den dekadenten Zustand der islamischen Monarchien im Kontrast zur Vision im Koran und in der Sunna zu veranschaulichen, gebraucht An-Naifar das Bild der umgestürzten Pyramide, deren Basis in der Luft schwebt, statt Fundament des bürgerlichen Gemeinwesens zu sein. Die politische Spitze sei nicht durch die Basis der Gläubigen legitimiert, vielmehr seien diese von der politischen Spitze abhängig und würden in ihrer Glaubensausübung gegängelt; freies Denken oder gar Kritik am politischen Islam werde unterdrückt. Damit die Spitze vor dem Umkippen bewahrt werde, brauche sie Krücken: die Despotie und die Autorität der Hoftheologen (Ulama). Fehler der radikalen Islamisten sei, dass sie selbst die Macht erringen wollten, statt das Missverhältnis zwischen Basis und Elite zugunsten größerer Mitsprache des Volkes zu korrigieren. Sie seien fixiert darauf, die politische Macht zu erringen, um die Religionsgesetze als Mittel absoluter Herrschaft einzusetzen.
177 Meier (Hg.), Der politische Auftrag, 489.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
Diesen Missständen politischer Instrumentalisierung des Islam hält al-Naifar das Beispiel Luthers und seiner Forderung, Kirche und Gesellschaft auf der Grundlage des Evangeliums neu zu gestalten, entgegen. Die Lösung des Grundübels islamisch begründeter Herrschaft könne nur in einer religiösen Neuorientierung der Gläubigen bestehen. Djamāloddīn al-Afghānī habe Sure 13,11 zur Maxime islamischer Modernisten gemacht: „Gott verändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie selbst ihren eigenen Zustand verändern“.178 Was genau findet An-Naifar an Luther vorbildlich? Der Mönch griff die Frage jedes Gläubigen auf, wie seine Existenz unter den Anfechtungen der Gegenwart vor Gott, dem Richter, bestehen und mit Blick auf das eigene Heil sinnvoll sein könne. Luther habe die Grundstrukturen gelebter Religiosität seiner Zeit aufgedeckt und die Notwendigkeit der zeitgemäßen Anpassung erkannt. Er habe ein dreifaches Ziel verwirklicht: Erstens, den Christen durch seine persönliche Glaubensgewißheit im Vertrauen auf die göttliche Gnade zu befreien; zweitens, ihn im Rahmen seiner nationalen Identität zu befreien, und drittens dem Christen die Freiheit zu geben, den geschichtlichen Herausforderungen jener Epoche aktiv zu begegnen.179
Glaube sei eine subjektive persönliche Erfahrung. Er müsse daher von politischer Gängelung befreit werden. Die individuelle Sphäre des Glaubens müsse vor dem Geltungsbereich des Politischen geschützt werden. Religiöse Bevormundung durch kirchliche Autoritäten sei nicht länger zu dulden. Der Gläubige solle als Laie seine persönliche religiöse Überzeugung zugunsten des Gemeinwesens, der sozialen oder schulischen Einrichtungen einbringen. Eine laizistische Reform des Islam müsse nach An-Naifar ebenfalls von der Trennung des individuellen religiösen Bewusstseins (der persönlichen Frömmigkeit) von der Jurisdiktion und Exekutive des Staates ausgehen. Mit „organischer Unterscheidung und dynamischer Verbindung“ zwischen Gläubigen und Staat charakterisiert An-Naifar ein equilibräres Modell, wie im säkularen Staat Religion und Politik, individueller Glaube und Organisation des Gemeinwesens, bei strikter Trennung der Einflussbereiche einander ergänzen und miteinander kooperieren sollten. Nach diesem Modell könnte die religiöse Fehlentwicklung islamischer Staaten, in denen alle Institutionen allein der Erhaltung monarchischer Herrschaft dienten und Religionsgelehrte und Rechtsgelehrte vom Herrscher kontrolliert würden, gestoppt werden. Offizielle Organe und islamistische Opposition müssten sich aufeinander zubewegen und auf ihren jeweiligen Anspruch auf „Selbst-Verabsolutierung“
178 Ebd., 491; Hourani, Arabic Thought, 128. 179 Ebd., 495.
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verzichten. Nicht der islamische Staat sei mit Hilfe der Scharia zu errichten, sondern die Religions- und Rechtsgelehrten müssten sich an der Errichtung eines demokratischen Staats mit beteiligen. An-Naifar schildert Luthers Lösung vom Mönchtum und von der Papstkirche externalistisch, d. h. ohne Bezugnahme auf theologische Erwägungen. Luther habe sich gefragt, wie sein Glaube in einer Zeit der Krise und Unsicherheit gelebt werden könne. Er habe keinen anderen Weg gesehen als die Bindung an die kirchliche Autorität zu lösen, weswegen er der Apostasie beschuldigt und mit der Todesstrafe bedroht worden sei. Luther wollte, so An-Naifars Analyse, dem christlichen Glauben einen „nationalen Charakter“ geben und ihn aufgrund authentischer subjektiver Erfahrung festigen. Indem er dem Gläubigen die Freiheit zusprach, im Vertrauen auf die Wirkung der Erlösung durch Christus an sein persönliches Heil zu glauben und den Glauben in der Volkssprache verankerte, habe es Luther mit Hilfe weltlicher Fürsten vermocht, „die Gesellschaft in Deutschland auf dem Weg einer religiösen Reform zu säkularisieren“ und das eigene Gewissen zum Schiedsrichter in Glaubensfragen zu machen.180 An-Naifar ist überzeugt, dass eine Revolution der Gesellschaft und des Staates von der Religion ausgehen müsse. Warum aber, fragt er, blieb bisher die religiöse Reform in den Ländern des Islam aus? An-Naifar führt dies Versagen auf eine Entwicklung im Urislam zurück. Das ursprüngliche Anliegen des Propheten, jedem Angehörigen der Umma bürgerliche und religiöse Verantwortung zuzusprechen, sei durch den Bürgerkrieg und die Not politischer Gegenwehr nach der Ermordung des zweiten rechtgeleiteten Kalifen Abu Bakr grundlegend verändert worden. Die umayadische Dynastie habe, gestützt auf religiöse Kreise, eine Despotie begründet. Nach der Vorstellung des Koran sei „das Politische das Resultat des gesellschaftlichen Organismus“, dessen Basis von der Familie, von Märkten, Moscheen, der Landwirtschaft und anderen „Felder(n) der Kultur“ gebildet werde. Die umayadische Dynastie habe alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der Wirtschaft mit Hilfe der Religion unter ihre Kontrolle gebracht. Religionsgelehrte seien als „Hoftheologen“ die Krücken der Pyramide geworden, die auf gewaltsame Weise auf die Spitze gestellt worden sei. In der Folge sei Religion zum Mittel der Herrschaftserhaltung missbraucht worden. Religiöse Reformen blieben aus, das Gewissen des einzelnen Gläubigen gegenüber Gott und den Mitmenschen wurde seiner Freiheit beraubt und die politische Mitwirkung des Volkes wurde verhindert.181 An-Naifar hält dem dekadenten Religionssystem des politischen Islam die Reformen Luthers entgegen: Die kirchliche Gemeinschaft wurde in Landeskirchen neu
180 An-Naifar, Die Islamisten, vgl. seine Kapitelüberschrift: „Kann der Islam in der Bewegung Luthers etwas entdecken, das für ihn selbst von Bedeutung ist?“, Meier, Der politische Auftrag, 495 f. 181 Meier, der politische Auftrag, 489.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
organisiert und nationalisiert. Die Gläubigen wurden aus den Fesseln des römischkatholischen Ritus befreit und die Kirchen erhielten Freiraum, um den Glauben mit den neuen Anforderungen der Zeit und Erwartungen bürgerlicher Gruppen zu versöhnen.182 Luther habe durch die religiöse Reformbewegung die Entwicklung der Gesellschaft auf dem Weg zu Selbstbestimmung angestoßen, ohne selbst nach der Herrschaft zu streben. Ähnliche Reformen (im Sinne der zweiten Bedeutung von „Reform“ und „Reformieren“) fordert An-Naifar im islamischen Staat. Zuerst müssten islamische Institutionen gegenüber dem politischen Betrieb autonomen Spielraum erhalten. Dies bedeute nicht, dass der Staat atheistisch oder religiös indifferent sein müsse. An-Naifar schwebt ein „organisches“ Gesellschaftsmodell vor, in dem die Bereiche sich gegenseitig durchdringen und stabilisieren, ohne dass er sich an konkreten Entwicklungen protestantischer Herrschaft in den deutschen Reichsterritorien oder den skandinavischen Monarchien orientiert hätte. An-Naifar kritisiert Herrscher wie Ben Ali, Gaddafi und Mubarak, ebenso aber auch Salafisten und Anhänger des wahabbitischen Königs in Saudi-Arabien.183 Der Professor an der Sitouna-Universität arbeitet weiter an Lösungen, wie weltliche und geistliche Macht entflochten werden könnten: Einerseits müsste die Verfolgung der „Islamisten“ in Tunesien gestoppt werden, andererseits den Islamisten der Zugang zur politischen Herrschaft verhindert werden.184 Soumaya Mestiri stellt neuerdings ähnliche Überlegungen an wie An-Naifar. Tunesien sei mit „Tribalismus, Regionalismus, religiöse(m) Sektentum, Berbertum, Arabertum, Modernismus und Konservatismus“ ein besonderer „Fall“. Diese „identitären Modalitäten“ könnten unmöglich unter eine einzige Kategorie subsumiert werden. Anerkennung religiöser und ethnischer Diversität erfordere eine religiös neutrale Regierung, die unterschiedliche Narrative religiöser und ethnischer Gruppen anerkennt und gelten lässt, aber die gegenüber radikalen Islamisten und Vertretern des Panarabismus die Grenzen religiöser Toleranz deutlich markiert.185
182 Ebd., 499. 183 Zur Aktualität dieser Kritik nach dem Arabischen Frühling in Tunesien vgl. Mirco Keilberth (journalistischer Korrespondent in Tunis), Tunesien. Ein Ort wehrt sich gegen die Salafisten, in Spiegel online, 26. Februar 2015; ders., Per Dschihad-Route nach Hause, in: Tageszeitung (taz) online 20. März 2015. 184 An Naifar, Der Islamismus, in: Meier: Der politische Auftrag, 500 f. 185 Mestiri, Multikulturalismus, 77–87. Soumaya Mestiri ist Professorin für politische und Sozialphilosophie an der Universität in Tunis.
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Mahmoud Muḥammad Tāhās historisch-kritischer Zugang zum Koran
Der Vergleich der Gesellschaftssysteme und ihrer religiösen Grundlagen wurde von islamischen Gelehrten um 1900 an verschiedenen Orten im leibhaftigen Kontakt mit europäischen Wissenschaftlern durchgeführt. Die Kolonialherrschaft gab kritischen Intellektuellen zu vergleichenden Betrachtungen zwischen christlichen und islamischen Gesellschaften Anlass. Appelle zur Reform des Islam aufgrund einer neuen Hermeneutik des Koran – in Analogie zu einer Neulektüre der Heiligen Schrift, die Reformatoren wie Luther angemahnt hatten – kamen auch aus Kreisen theologischer Gelehrter. Einer von diesen ist Mahmoud Muḥammad Tāhā (1909–1985), der 1945 in Sudan, damals Kolonie unter britischer Regierung, die Partei der Republikanischen Brüder gründete, mit dem Ziel, eine Demokratie im Sudan einzuführen.186 Ayaan Hirsi Alis Appell zu einer islamischen Reformation ist von Tāhās Ideen inspiriert. Sein Buch Die zweite Botschaft des Islam (erstmals 1967, englisch 1987)187 präsentiert eine historische Lesart des Koran und der Sunna. Ihr gemäß sei die Offenbarung in Mekka von der in Medina aufgrund der Lebensstationen Muḥammads zu unterscheiden. Die erste Botschaft, die der Prophet empfangen habe, sei auf eine vorzivilisatorische Gesellschaft zugeschnitten gewesen, in der polytheistische Glaubensformen überwunden und die Sitten veredelt werden sollten. Die Scharia sei als Rechtssystem für eine Stammesgesellschaft im Übergang zur Bildung einer Umma ausgearbeitet worden. Ihre Gültigkeit sei historisch begrenzt. Die zweite Botschaft war, so Tāhā, die persönliche Sunna des Propheten mit einem ethischen Auftrag an die ganze Welt. Diese Botschaft sei universell und fordere Frieden, Gleichheit und individuelle Selbstverwirklichung. Das Leben Muḥammads habe den Zustand völliger innerer Freiheit von Furcht und Unwissenheit erreicht. Als unter Ga’far an-Numairis Regime die sudanesischen Scharia-Gesetze 1983 eingeführt wurden, wurden Tāhā und Mitglieder seiner Republikanischen Gemeinschaft verhaftet. Ihr Gründer Tāhā wurde zwei Jahre später wegen Apostasie hingerichtet. Das Urteil wurde in Saudiarabien und von der Islamischen Weltliga gebilligt.188 Tāhā glaubte, der Islam sei besser als die politische Philosophie Europas geeignet, die traditionell hierarchische, ökonomisch zurückgebliebene Gesellschaft im Sudan
186 Howard, Mahmoud Mohammad Taha, a Remarkable Teacher in Sudan, 83–93 und Tāhā, Zweite Botschaft des Islam, in: Meier, Der politische Auftrag, 526–533; Oevermann, Die ‚Republikanischen Brüder‘ im Sudan. 187 Mahmoud Muḥammad Tāhā, The Second Message of Islam, übersetzt von Abdullahi Ahmad An-Na’im, Syracuse 1987. 188 Schulze, Geschichte der islamischen Welt (2016), 377.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
auf demokratische Regeln und Institutionen vorzubereiten. Seine Idee der Verzeitlichung der Offenbarung an Muḥammad leitet zu einer neuen Lesart der Suren an, die vor der Zäsur der Übersiedlung der Gemeinde von Mekka nach Medina offenbart worden sind. Seine Hermeneutik widerspricht dem offiziellen Glauben, dass die Sendung des Propheten aus einem Guss, abgeschlossen und unveränderlich sei. Er unterscheidet die Mekkanische Offenbarung mit einer universellen humanistischen Botschaft von der Medina-Offenbarung. Letztere betreffe nur die damalige Gesellschaft, besitze aber nicht überzeitliche Geltung. Die Zweite Botschaft sei die Folge davon, dass die universellen Prinzipien der Mekka-Offenbarung in der vom Krieg geprägten medinensischen Gesellschaft nicht verwirklicht werden konnten. Die universelle Botschaft im Koran werde erst wieder zur Geltung gebracht, wenn die Menschheit durch zivilisatorischen Fortschritt dazu reif geworden sei. Maßstab war für Tāhā die Erklärung der Menschenrechte durch die UNO im Dezember 1948. Diese wurden zum „hermeneutischen Schlüssel“ für die Kritik an der Offenbarung und an der Scharia; beide müsse man in ihrem historischen Kontext verstehen, wozu auch die politische Führerrolle Muḥammads in Medina gehört.189 Muḥammad schuf sich nach der Flucht aus Mekka (622) in Medina durch Bündnisse mit größeren Stämmen eine eigene starke Machtgrundlage. „Der religiöse Schwärmer entwickelte sich in Medina zu einem weitblickenden Politiker und Organisator.“190 Als erfolgreicher Eroberer kehrte er nach Mekka zurück und vereinigte von dort die Stämme der Arabischen Halbinsel zu einer muslimischen Gemeinschaft.191 Muḥammad war selbstredend von Tāhās historischer Kritik ausgenommen, als der einzige und erste Muslim im Vollbesitz des Wissens. Tāhā zielte auf eine Reform im Koranverständnis dergestalt, dass die Erste Botschaft erst in Zukunft durch die Verwirklichung der Zweiten Botschaft vervollkommnet werde. Tāhās Hermeneutik unterscheidet zwischen dem Wortlaut und dem inneren Sinngehalt des Korans, der durch sufische Meditation eruiert werden könne.
10.
Ayaan Hirsi Alis Appell „Reformiert euch!“
Auf theologisch fundierte Versuche, einen dritten Weg zwischen Islamismus (politischem Islam) und Laizismus zu bahnen, berufen sich, nach Katajun Amirpur, zeitgenössische Islam-Reformer erneut.192 Luther und die Folgen seiner Reformation hat 2015 Ayaan Hirsi Ali abermals als Vorbild für eine Reform des Islam 189 190 191 192
Taha, Zweite Botschaft, in: Meier, Der politische Auftrag, 550. Werner/ Rudolph, Einleitung zur Übersetzung des Koran von Max Henning, 13. Ebd., 16. Amirpur, Den Islam neu denken, 9–17; dies. und Ammann (Hg.), Der Islam am Wendepunkt, Einleitung.
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beschworen. Die somalische Exilantin und Ex-Muslimin verwendet die Begriffe „Reformation“, „Orthodoxie“ und „Häresie“ mit deutlicher Anspielung auf die Kirchengeschichte Europas, weil sie im Korantext und den Hadithen die Wurzel einer politischen Ideologie sieht, welche Gewaltakte gegen Ungläubige legitimiere.193 Hirsi Ali erklärt genauer als die bisher vorgestellten Reformdenker, die sich auf Luther beriefen, was im Glaubenssystem, das auf dem Koran fußt, reformbedürftig sei, indem sie – ähnlich wie Tāhā194 – den geoffenbarten Text im Zusammenhang mit den Lebensumständen Muḥammads und der Kriegergesellschaft, die er anleitete, historisch liest. Die „Medina-Muslime“ meinten, sie müssten ihren Glauben wörtlich verstehen und danach leben. Sie begrüßten ein Regime, das sich auf die Scharia stützt, und betrachteten ihre gewaltsame Durchsetzung als religiöse Pflicht. Die „Mekka-Muslime“, angeblich die Mehrheit der Gläubigen, konzentrierten sich auf die korrekte Ausübung ihres Glaubens und leiteten aus dem Koran ethische Gebote ab, ohne sich um die Suren zu kümmern, die wörtlich zum Dschihad aufrufen, die Polygamie legitimieren und die Frau zur Sklavin ihres Ehemanns degradieren.195 Hirsi Ali identifiziert sich mit einer dritten Gruppe, den reformwilligen Dissidenten, von denen viele in den Westen geflüchtet sind. Die Reform-Muslime wollen aus dem „endlosen Kreislauf politischer Gewalt“ ausbrechen, der durch die wörtliche Befolgung der Vorschriften im Islam in Gang gesetzt werde, und ihre Religion aufgrund einer historisch-kritischen Lesart des Koran reformieren.196 Die Reformation, die sich Hirsi Ali wünscht, soll von Reformen des Glaubenssystems ausgehen und so den Islamisten die Grundlage ihrer Argumentation entziehen, den wörtlich verstandenen Korantext. Denn „die Unruhe in der heutigen muslimischen Welt“ gehe „auf den Islam selbst und die Unvereinbarkeit einiger Kernelemente des muslimischen Glaubens mit der Moderne zurück“.197 Ihr Reformprogramm stellt sie in fünf Thesen der Weltgemeinschaft der Muslime zur Diskussion. Es soll sie so provozieren wie Luthers Wittenberger Thesen oder (m. E. passender) die Artikel der Confessio Augustana, die im Juni 1530 von protestierenden Fürsten („protestantes“) während des Reichstags dem Kaiser übergeben wurden. Bei den Glaubenssätzen im Koran unterscheidet sie, ähnlich wie Tāhā, zwischen universell gültigen Glaubenssätzen und Anweisungen, die nur für die Zeit bestimmt waren, in der der Prophet die Offenbarung empfing.
193 Ayaan Hirsi Ali, Reformiert euch! Warum der Islam sich ändern muss. München 2016 (erstmals englisch 2015), 20 f., 31, 43 und 51. 194 Ebd., 87 und 89. 195 Hirsi Ali, Reformiert euch, 33–37. Die Unterscheidung zwischen Mekkanischen und Medinischen Suren wird in der Einleitung von Ernst Werner und Kurt Rudolph zur Koran-Übersetzung von Max Henning historisch erläutert und die entsprechenden Suren werden aufgelistet (Seite 33). 196 Hirsi Ali, Reformiert euch, 37. 197 Ebd., 100.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
Sie ist im Islam erzogen worden, kennt den Koran und ist mit der muslimischen Lebensweise vertraut. Hirsi Ali bezeichnet sich in ihrer Autobiographie als „Nomadin“ aus Mogadischu in Somalia, die sich vom Islam losgesagt hat.198 Ihre Erziehung im Glauben war streng. Ihre Mutter achtete auf die genaue Einhaltung der Gebote und Gebetszeiten. Widerreden und Fragen wurden nicht geduldet. Als gewissenhafte Muslima fand die Jugendliche Anschluss an die Muslimbrüderschaft, fiel aber durch kritische Hinterfragung der Glaubensvorschriften auf. Ihr Vater fand es schicklich, für sie eine Ehe mit einem kanadischen Verwandten anzubahnen. Darauf scherte sie aus und bat in den Niederlanden, von wo sie nach Kanada hätte weiterfliegen sollen, um Asyl. Nach dem Gymnasialabschluss studierte Hirsi Ali Politikwissenschaften und schloss ihr Studium an der Leidener Universität mit dem Titel der Magistra artium ab. Sie engagierte sich publizistisch als Expertin für Einwanderung und arbeitete fünf Jahre lang im niederländischen Parlament mit.199 Das TIME Magazine nahm Hirsi Ali 2005 in die „Liste der hundert ‚einflussreichsten Menschen der heutigen Welt‘“ auf – trotz oder gerade wegen ihrer Behauptung, dass die „Kulturen und Regierungen“ der islamischen Länder die Werte, die sie vermeintlich im Koran verankern, nämlich Mitleid, Freiheit und Toleranz, gerade nicht anerkennen würden.200 Als Fellow an der Harvard University sucht die Ex-Muslimin nach einem „dritten Weg“ zwischen einem fundamentalistischen Islamverständnis als Kennzeichen einer religiös begründeten Identität ethnischer Minderheiten und der Apostasie, die nach islamischem Recht strafwürdig ist. Der dritte Weg soll Muslimen ermöglichen, in demokratisch organisierten Gesellschaften Europas ihren Glauben zu leben und gleichwohl die Werte der Gesellschaft, in der sie Zuflucht gefunden haben, anzuerkennen. Während ihres Studiums und als Journalistin hat sich Hirsi Ali mit früheren Ideen zur Reform des Islam auseinandergesetzt. Sie stellt dieselben Fragen wie Djamāloddīn al-Afghānī und ‘Abduh, wieso sich die islamischen Gesellschaften nicht in Staaten organisiert hätten, in denen die Menschenrechte und demokratische Regeln gelten. Ihr Studium der Politikwissenschaften und europäischen Geschichte in Leiden ermächtigt sie zu Vergleichen der politischen Entwicklung in den Ländern des Islam und Europas. Anders als Djamāloddīn al-Afghānī und ‘Abduh hat sie, unter dem Choc vom 11. September 2001, kein Verständnis mehr für eine Apologie des Islam als vernunftgemäße Religion, nachdem die Attentäter des 11. September 2001 ihr Mordgeschäft mit Suren begründet hatten, die zum Dschihad gegen die Ungläubigen aufrufen.201
198 Ayaan Hirsi Ali, Mein Leben, meine Freiheit. Die Autobiographie, aus dem Englischen von Anne Emmert und Heike Schatterer, München 2006. 199 Hirsi Ali, The Story of a Heretic, 31–52; deutsche Übersetzung: dies., Reformiert euch, 52–77. 200 Hirsi Ali, Mein Leben, 488. 201 Eine Liste der Suren, die zu Gewalt aufrufen, ebd. auf Seiten 216 f. und 231. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Hamed Abdel-Samad in Islam. Eine kritische Geschichte, bes. Kapitel 3.
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Eine Reform des Islam müsse bei der religiösen Sozialisation der Muslime ansetzen. Sie sollten die Möglichkeit haben, Zweifel zu äußern und die Autorität des Koran aufgrund einer historisch-kritischen Lektüre zu hinterfragen. Vorbildlich findet Hirsi Ali Luthers Maxime, die Laien zur eigenmächtigen Lektüre der Heiligen Schrift zu ermuntern. Terror und Gewalt islamischer Fundamentalisten hätten bisher nicht zum Massenexodus gläubiger Muslime aus dem Islam geführt, vermutlich weil viele „Mekka-Muslime“ den arabischen Korantext mit den vielen nur zeitbedingten Suren kaum kennen würden. Hirsi Ali hofft aber, dass eine Versöhnung des Glaubens mit den „key imperatives of modernity“ möglich sei. Sie ruft zur historisch-kritischen Lesart des Koran auf, die diesen (ähnlich wie Angelika Neuwirth in ihrem Korankommentar) als „fortlaufende Verkündigung“ im Entstehungskontext begreift. Eine solche Lesart könnte für die jeweilige historische Bedeutung der Suren sensibel machen.202 Theologische Koranexegese sieht die somalische Ex-Muslima und Exilantin aber nicht als ihr Geschäft an. Wohlweislich schlägt sie daher keine Purgierung des Korantextes und der Hadithe von solchen Anweisungen des Propheten vor, auf die Terroristen ihre Gewalttaten gegen Ungläubige gründen. Hirsi Ali wünscht sich und fordert Gewissensfreiheit, Toleranz gegenüber Diversität, Geschlechtergleichheit und eine selbstbestimmte Lebensgestaltung statt Jenseitsglauben mit der Aussicht auf himmlischen Lohn. Ihre Apostasie erschwert Hirsi Ali die Kommunikation mit ihren religiös sozialisierten Landsleuten. Sie sieht nicht ein, wieso Frauen, die um Gleichberechtigung kämpfen, den Islam aufgeben müssten – so wie es von ihr erwartet worden sei –, um ihre Offenheit für gesellschaftliche Reformen in islamischen Staaten und ihre Bereitschaft für den Dialog mit dem Westen zu demonstrieren. Warum sei es so schwer, den Islam zu reformieren, nachdem es viele intellektuelle Brückenbauer im 19. und frühen 20. Jahrhundert gegeben habe? Als sie das Verhalten muslimischer Teilnehmer in ihren religionsvergleichenden Lehrveranstaltungen an der Harvard University beobachtete, kam sie einer Antwort näher.203 Streng Gläubige verweigerten sich kritischer Diskussion und hatten Angst davor, Zweifel am Koran und der Sunna zu äußern. Dafür gebe es in islamischen Ländern nirgendwo eine Öffentlichkeit. Muslimische Geistliche duldeten keine kritischen Diskussionen über Koran, Sunna, Ulama und Scharia, aus Angst, kritisches Hinterfragen würde massenhaft zur Apostasie führen. Apostasie und Reformen des Glaubens gelten jedoch als „Todsünden“ im Islam, so schwerwiegend wie Mord. Hirsi Ali kommt zu einem ähnlichen Urteil über die politische Ordnung in den islamischen Ländern wie ihr tunesischer Kollege An-Naifar. Machthaber haben 202 Angelika Neuwirth, Einleitung zu ihrem Handkommentar zum Koran, Band 2: Frühmekkanische Suren, 23. Neuwirths Urteil, „der Koran sei in Teilen die ‚Mitschrift einer Gemeindebildung‘“ gilt in jedem Fall für die Zeit in Medina.“ (Abdel-Samad, Islam. Eine kritische Geschichte 87) 203 Hirsi Ali, Reformiert euch, 79–81.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
den Islam zur politischen Ideologie umfunktioniert, welche die absolute Herrschaft und die obsolete Scharia stützt. Intellektuelle, die für die Trennung von Moschee und Staat eintreten, würden verketzert und ihre Werke verschwänden aus den Bücherregalen. In siebzehn Nationen mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung sei der Islam Staatsreligion. Der Herrscher müsse ein Muslim sein. Dort, wo Islamisten herrschten, wird von theologischen Rechtsgelehrten nach der Scharia Recht gesprochen. Tatsächlich sei der Islam für die meisten Muslime ein umfassendes System von Einstellungen, Glaubenshaltungen und Bräuchen, das alle Facetten des Lebens regelt, persönliche, kulturelle, politische und religiöse Aspekte, dabei aber Frauen keine individuelle Selbstverwirklichung ermöglicht.204 Daher hätten Muslime in Europa Orientierungsprobleme und neigten aus Unfähigkeit, in der Dissonanz der beiden Wertesysteme zu leben, zu ultra-konservativen Ansichten. Denn die religiösen Anforderungen an Muslime gemäß dem Koran seien bisher unvereinbar mit weltlichen Werten wie Religionsfreiheit, Chancengleichheit und individueller Selbstverwirklichung. Hirsi Ali führt die Durchsetzung von Gewissensfreiheit und das Recht auf Religionsfreiheit in Europa auf die nachhaltigen politischen Wirkungen der Reformation und reformatorischer Diskurse zurück. Sie folgt dabei den abendländischen ‚Meistererzählungen‘, aus denen ich anfangs zitiert habe. Welche Lektion könnten Muslime aus Luthers Reformation und ihren Folgen lernen, fragt sich die ExMuslimin.205 Sie ist sich bewusst, die Botschaft Luthers und die Wirkung seiner Texte extrem zu vereinfachen.206 Luther habe die neue Technologie des Buchdrucks genutzt, um seine religiösen Botschaften zu verbreiten. Seine Idee der Rechtfertigung durch den Glauben alleine statt käuflicher guter Werke und die Maxime des Laienpriestertums hätten einer wachsenden Klasse von Stadtbürgern gefallen, die mit den ökonomischen Praktiken der römischen Kirche und ihrem weltlichen Herrschaftsanspruch unzufrieden waren. Landesherren wie Friedrich der Weise, der hessische Landgraf Philipp der Großmütige und Herzog Christoph von Württemberg, sogar der englische König hätten aus politischen Gründen – zur Verteidigung und Vergrößerung ihrer Macht gegenüber Kaiser Karl V. – Luther in seinem Kampf gegen die Kirchenhierarchie unterstützt. Nach mehr als einem Jahrhundert lokaler und internationaler Kriege, die durch den Religionsstreit und das Schisma der christlichen Kirchen veranlasst wurden, sei eine neue internationale Ordnung etabliert worden. Wie ‘Abduh deutet Hirsi Ali Religionskriege dialektisch als Kämpfe, die mit einer Lektion verbunden waren und konsequent zu Friedensverträgen und einer internationalen Ordnung führten, in welcher Regeln
204 Hirsi Ali, Reformiert euch, 81. 205 Hirsi Ali, Reformiert euch, 82–84. 206 Ebd., 83.
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für die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften erarbeitet wurden. Der Augsburger Religionsfrieden und der westfälische Friede gewährten dem Einzelnen einen Glaubensschutz unter einem Herrscher desselben Glaubens und das Recht auf Emigration und freie Religionsausübung. Kurz, die Befreiung des individuellen Gewissens vom Diktat Geistlicher als Glieder einer allmächtigen hierarchischen Institution eröffnete einen Raum für kritisches Denken und war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur religiösen Toleranz. Hirsi Ali ist sich hier (ohne ihn zu erwähnen) mit Faraḥ Anṭūn einig. Dieser Weg habe im Islam gefehlt. Aus den Änderungen, welche die Reformation bewirkt habe – vor allem ihrer Betonung der allgemeinen Alphabetisierung – entstand eine bemerkenswerte Zahl von Dingen, die uns Heutige zu modernen Menschen macht.207
Die Revolution in den Naturwissenschaften, die Aufklärung, die amerikanische und die Französische Revolution führten „zum Aufstieg des Kapitalismus und der repräsentativen Demokratie mit ihren Idealen der Selbstverwaltung, Toleranz, Freiheit und Gleicheit vor dem Gesetz.“208 Das individuelle Bewusstsein befreite sich, so Hirsi Ali, aus der Herrschaft religiöser Autoritäten. Kritisches Denken war nicht länger verboten, sondern war die Bedingung für den Fortschritt in Wissenschaft und Gesellschaft. Frühere Ansätze zu Reformen, welche die Macht der Geistlichen einschränkten und der individuellen Vernunft Freiraum verschafften, seien in allen Ländern des Islam durch konservative Richtungen erstickt worden. Ali Abd ar-Raziq, Professor an der Al-Azhar-Universität und Scharia-Richter, riet in seinem Buch Islam und die Grundlagen der Regierung (1925) dazu, das Glaubens- und Traditionssystem Islam von politischen Institutionen zu trennen, um es vor politischer Instrumentalisierung zu schützen.209 Das Kalifat habe, so Raziq, mit individueller Religionsausübung nichts zu tun. In islamischen Staaten sei niemand ex officio zur Regelung des Verkehrs mit Ungläubigen befugt. Muslime würden durch kein Dogma ihrer Religion daran gehindert, mit Ungläubigen wissenschaftlich und politisch zu kooperieren. Kein Dogma verbiete es ihnen, ihr Regierungssystem auf der Basis der gesunden Vernunft und historischer Erfahrung den Anforderungen der globalen Welt anzupassen. Darauf sei Raziq seines Amtes enthoben, aus dem Kreis der Ulama entfernt und unter Hausarrest gestellt worden. Hirsi Ali führt auch das
207 Ebd., 84. 208 Ebd. 209 Ali Abd ar Raziq, Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft. Deutsche Übersetzung von Hans-Georg Ebert und Assem Hefny. Frankfurt a. M. 2010; Hirsi Ali, Reformiert euch, 87 f.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
tragische Schicksal Tāhās an, der zwar an Allah und an seinen Propheten Muḥammad glaubte, aber empfahl, die Muslime sollten sich „nach dem spirituellen Islam Mekkas anstatt nach dem Islam aus Mohammeds kriegerischer und politischer Zeit in Medina richten“.210 Überall habe sich jedoch die Ansicht der Fundamentalisten durchgesetzt, es könne keine Reform im Islam geben, es sei denn, man kehre zum Wortlaut des Koran und der Scharia zurück, der unveränderlich sei, und erkenne die Vollkommenheit und Allgemeingültigkeit der Worte und Taten Muḥammads an.211 Nach Luthers Vorbild will Hirsi Ali fünf Thesen zur Reform des Glaubens und zur Befreiung der Muslime aus der Unmündigkeit religiös-politischer Disziplinierung und Indoktrinierung an eine imaginäre Tür der scientific community und internationalen Zivilgesellschaft nageln: 1. Stellt sicher, dass Mohammed und der Koran offen interpretiert und kritisiert werden können. 2. Räumt dem Leben im Diesseits den Vorrang vor dem im Jenseits ein. 3. Begrenzt die Scharia und beendet ihren Vorrang vor weltlichem Recht. 4. Beendet die Praxis, ‚das Rechte zu gebieten und das Verwerfliche zu verbieten‘. 5. Gebt den Aufruf zum Dschihad auf.212
Die Thesen lassen sich so zusammenfassen, dass die grundlegenden Konzepte der auf den Koran gestützten Theologie – Unfehlbarkeit Muḥammads, der Koran als unveränderliches Wort Gottes, Jenseitsorientierung, Legitimität der Scharia und des Dschihads – „so abgewandelt werden müssen, dass das muslimische Leben mit der Welt des 20. und 21. Jahrhunderts besser vereinbar wird.“213 Solange die fünf Thesen nicht umgesetzt seien und keine Gleichberechtigung der Geschlechter und der Religionen gelte, hält es Hirsi Ali für müßig, sich mit Praktiken der Duldung von Christen und Juden in islamischen Gesellschaften zu beschäftigen und nach Ansätzen zur Toleranz im Umgang mit Ungläubigen zu fahnden. Ihr Ziel ist ein gewandelter Islam, ein Glaube, „der die Menschenrechte mehr beachtet, der in der ganzen Welt weniger Gewalt und mehr Toleranz predigt, der weniger korrupte und chaotische Regierungen unterstützt, der mehr Zweifel und abweichende Meinungen zulässt und der mehr Bildung, mehr Freiheit und
210 Hirsi Ali, Reformiert euch, 89. 211 Ebd., 90. Hirsi Alis ‘Fundamentalisten’ verstehen Reformation also im Sinne von Restauration, Rückkehr zu den Ursprüngen; s. Waardenburg, Muslims as Actors, 378–385, während sie zu einer Reformation gemäß der dritten Bedeutung von ‘Reformation’ aufruft. 212 Hirsi Ali, Reformiert euch, 102. 213 Ebd., 177. „Reformieren“ wird von Hirsi Ali also in der zweiten Bedeutung (nach Waardenburgs Unterscheidung) verwendet.
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mehr Gleichheit innerhalb eines modernen Rechtsystems begünstigt.“214 Die Grenzen der Toleranz sieht Hirsi Ali dort, wo „Muslime Mohammeds Leben in Medina so auslegen, dass sie diesem mehr Loyalität schulden als dem Staat, dessen Bürger sie sind“, denn durch sie sei „die Sicherheit des Staats“ gefährdet. Daher billigt sie auch John Lockes Grenzen der Toleranz gegenüber römischen Katholiken, weil diese sich „in den Dienst eines anderen Fürsten [des Papstes] begeben“ würden und illoyale Bürger wären.215 Hirsi Ali warnt vor einer Toleranz, welche ihre Grenzen zu weit steckt und aus grundsätzlichem Respekt vor der fremden Religion deren Intoleranz gegenüber natürlichen Rechten von Frauen billigt.216 Religionsfreiheit und Toleranz seien Errungenschaften der Aufklärung in Europa, zu der Luthers Rebellion gegen die Papstherrschaft, die Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Macht, die Begründung christlicher Freiheit und des Laienpriestertums die Grundlagen geschaffen hätten. Eine Gesellschaft gefährde dieses Erbe, wenn sie intoleranten Muslimen gegenüber Toleranz übe. Islamreformer, die an der ersten Bedeutung von „reformieren“ festhalten und die wörtliche Befolgung auch der medinensischen Suren, als wären sie ewig gültig und nicht Ausdruck einer „aufgewühlten Zeit zwischen zahllosen Kriegen“ und zusammen mit der Scharia für eine achtjährige „Ausnahmesituation“ gedacht, bereiten bis heute, mit dem Koran in der Hand, dem Islamismus einen Boden.217
Ausblick An-Naifar und Hirsi Ali halten den politischen Islam ohne Gewaltenteilung unter einem Alleinherrscher, der als Nachfolger eines der rechtleitenden Kalifen die Geltung der Scharia garantieren würde, für ein obsoletes Hindernis auf dem Weg zur Verankerung von Grundrechten und zur politischen Partizipation in einer Demokratie. Im Vergleich mit den Exponenten panislamischer Reformprogramme an die Adresse von Kolonialmächten formuliert Hirsi Ali konkrete Bedingungen an ein Glaubenssystem, das verträglich mit den Grundwerten demokratischer Gesellschaften ist und Muslimen die Integration in einer Republik ermöglichen soll, welche die Menschen- und Grundrechte in ihrer Verfassung verankert hat. Sie setzt zwar die in Medina niedergeschriebenen Suren in Analogie zur kirchlichen Tradition, deren Autorität Luther bestritt, aber macht als Nicht-Theologin keine Vorschläge, welche Suren und Hadithe aus dem Glaubenssystem als nicht mehr zeitgemäß entfernt oder umgewandelt werden sollten. 214 215 216 217
Ebd., 104. Alle Zitate ebd. 251. Ebd., Kapitel 8 „Toleranz im Zwielicht“, 248–263. Abdel-Samad, Islam. Eine kritische Geschichte, 86.
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Martin Luther und die Reformation in der Kritik der Islamreformer
Was in den Auseinandersetzungen muslimischer Intellektueller mit Luther und der Reformationszeit fehlt, ist eine komplexe, differenzierte Sicht auf unterschiedliche Reformationen in verschiedenen geographischen Regionen sowie in Städten und auf dem Land. Auch die innerchristlichen Streitigkeiten, die nach Meinung Sebastian Castellios, Jacopo Aconcios, Bernardino Ochinos und anderer protestantischer Glaubensflüchtlinge zu Blutvergießen geführt haben, werden von den muslimischen Intellektuellen nicht differenziert in den Blick genommen. Alle bis auf Hirsi Ali haben kein Verständnis für innerchristliche Verfolgung und Verketzerung. Sie verurteilen die Religionskriege der Frühen Neuzeit, die sie als Folgen des kirchlichen Schismas betrachten, ohne die Ursachen des Streits zwischen Sunniten und Shiiten damit zu vergleichen. Nur Hirsi Ali formuliert ihr Programm für Reformen, die von der Lockerung des literalen Auslegungsprinzips und der Freigabe des Korans für individuelle Lektüre ausgehen sollten, in Analogie zu Luthers Reformanliegen. Zwar erkennt sie an, dass die Technik des Buchdrucks die Verbreitung reformatorischer Theologie ermöglicht habe, aber unberücksichtigt bleibt die Dynamik der Wittenberger Reformation mit ihren spirituellen ‚Ablegern’ von Dissidenten, die Glaubenszwang und Orthodoxie verurteilten. Sie forscht nicht nach möglichen historischen Analogien im Islam zur ‚concordia discors’218 in protestantischen Territorien und Reichsstädten, wo sich Visionen aus der Frühzeit der Reformation im Kreis von Täufern und anderen Dissidenten (in Hagiographien und Zensuranleitungsschriften) erhielten und wiederholt zum Hebel der Kritik an Ansätzen zur neuen Orthodoxie wurden. Dass die Wittenberger Reformation zu einer Vielfalt lokaler Reformationen den Anstoß gab und die Vorstellung inspirierte, dass die Reformation nie abgeschlossen sein wird, hat Islamreformer wenig interessiert, da sie den Islam im Sinne eines Traditionsgeflechts als einigendes Band verstanden, mit dem ein anderer Weg als der des Westens in die Moderne ermöglicht werden sollte. Protestantisierung des Glaubenssystems bedeutete für sie keinesfalls eine Lizenz zur Zersplitterung und Diversifizierung. Folglich werden die zeitlich und räumlich begrenzten Experimentierfelder für die Gleichberechtigung religiöser Kulte im 16. Jahrhundert in Basel, Straßburg, den Bündner Tälern, in Polen unter dem König Sigismund II. August und in Siebenbürgen nicht kommentiert. Die Islamreformer erkannten, dass die Religionskriege des 16. Jahrhunderts zu Friedensordnungen geführt haben, in denen die friedliche Koexistenz von Kirchen Platz hatte. Aber man findet keine Reflexionen darüber, wie sehr die theologischen Diskussionen der Reformatoren und die Konfrontation der jungen protestanti-
218 Dieser Begriff aus der Musiktheorie wurde als Metapher während der Arbeit an der Konkordienformel eingeführt, als das politisch motivierte Bemühen um eine Einigung lutherischer Protestanten angesichts der Vielfalt regionaler Kontroversen und Polemiken besonders groß war. Vgl. Dingel, Concordia controversa.
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schen Kirchen mit religiösen Dissidenten Diskurse über religiöse Toleranz und ihre politische Verankerung angeregt haben. Es stimmt nachdenklich, dass (1) Renans pauschales Urteil, dass alle Weltreligionen intolerant seien, bei den muslimischen Intellektuellen keinen nennenswerten Protest hervorrief, ist doch der traditionelle Schutzstatus der Ḏhimmī nur ein schwacher Abglanz von vertikaler Toleranz. (2) Einzig Faraḥ Anṭūn, als orthodoxer Christ einer Minderheit angehörend, setzte sich, auf Luthers Von weltlicher Oberkeit Bezug nehmend, mit den Bedingungen der Möglichkeit religiöser Toleranz im Gemeinwesen auseinander und machte indirekt auf den gefährdeten Status der Christen im osmanischen Reich aufmerksam. Muslimische MigrantInnen in offenen Gesellschaften Europas haben kaum Anlass, sich auf Anṭūn oder auf Plädoyers der protestantischen Glaubensflüchtlinge für die Gewährung von Glaubensfreiheit zu berufen. Sie ist ihnen – dank dem zu den reformatorischen Diskursen zurückreichenden Erfahrungshorizont – verfassungsmäßig garantiert.219 Das Beispiel der Reformationen im 16. Jahrhundert könnte auch muslimischen Intellektuellen (nicht nur dem syrischen Christ Anṭūn) Anlass geben darüber nachzudenken, dass die Forderungen nach Glaubensfreiheit im religiös neutralen Staat Folgen der von Luther angestoßenen Bewegung des Laienpriestertums waren. Aber vielleicht muss man gar nicht, wie Al-Afghānī und ‘Abduh, Luther bemühen, weil „sich im Islam Ausgangspunkte für eine Ethik der anerkennenden Toleranz zur Genüge finden lassen“.220 Wenn diese Ethik auch ein Erbe der Diskussionen der ersten Islamreformer ist,221 dann besteht Hoffnung, dass sie gegen Islamisten und Wahhabiten, die „Reformation“ als Rückkehr zu den Ursprüngen der Umma in Medina verstehen, stark gemacht werde.
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219 Vermutlich nach europäischem Vorbild wurde im Osmanischen Reich im Zuge der TanzimātPeriode „1856 die rechtliche Gleichstellung für die Mitglieder aller Religionsgemeinschaften beschlossen. [...] Auch im Iran wurde die jizya und damit der Ḏhimmī-Status im Zuge der Konstitutionellen Revolution von 1907 für abgeschafft erklärt.“ (Kokew, Toleranz im islamischen Kontext, 210). 220 Kokew, Toleranz im islamischen Kontext, 218. 221 Vgl. die Diskussionen, die Dhouib in Toleranz in transkultureller Perspektive dokumentiert hat, und Krämer, Toleranz und Islam.
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Barbara Mahlmann-Bauer
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Namensregister
A Aaron 325 Ab(a)elard, Pierre 98, 108 Abbt, Thomas 26, 406, 414 Abd al-Wahhab, Muḥammad ibn 475 ‘Abduh, Muḥammad 30, 473, 480, 484, 485, 489, 494–501, 504–509, 517, 519, 524 Abdülhamid II., Sultan des Osmanischen Reichs 505, 506 Abraham (ben Shmuel) Abulafia 39 Abraham (Buch Genesis) 50 Abu Bakr, früher Anhänger des Propheten Muḥammad 512 Abu Zayd, Nasr Hamid 482 Acontius, Jacobus (Aconcio, Jacopo oder Giacomo) 163 Adam (Buch Genesis) 69, 77, 86, 505 Agamemnon 154 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 88 Al-Afghānī, Seyyed Djamāloddīn 30, 473, 480, 484–489, 491–495, 498, 506, 507, 509, 511, 517, 524 Alciati, Gian Paolo 120–122 Al-Gadaffi, Mu’ammar Muhammad Abdassalam Abu Minyar, 1969–2011 Revolutionsführer und Staatsoberhaupt von Libyen 513 Ali, Ayaan Hirsi 30, 482, 514–523 Alsted, Johann Heinrich 53 Ambrosius von Mailand, Heiliger 57, 219, 368 Amerbach, Basilius, Sohn von Bonifaz Amerbach 114, 146, 148
Amerbach, Bonifaz, Professor für römisches Recht und Stadtsyndicus in Basel 18, 125 Andreae, Johann Valentin 191, 192, 194–196, 198, 200–202, 210 Andrezel, Jean-Baptiste Louis Picon Vicomte d’ 334 An-Naifar, Ahmīda 30, 507–513, 518, 522 Annius von Viterbo 53 An-Numairi, Dschafar Muhammad, Präsident Sudans 1971–1985 514 Archimedes 59 Aretino, Pietro 163 Aristoteles 58, 66, 74, 76, 82–84, 187, 196, 198, 266, 363, 500, 504, 505 Arminius, Jacob (Hermann, Jacob) 352 Arndt, Johann 191, 201, 202, 205, 210, 288 Arnisaeus, Henning 210 Arnobius d. J. 199 Arnold, Gottfried 27, 428, 431 Arnolfini, Niccolò 141 Arnolfini, Paolo 141 Ar-Raziq, Ali Abd 520 Athenaios Naukratios 362 Aubigny, Jean-Henri Merle d’ 477, 478 Augustinus, Aurelius, Bischof von Hippo 14, 17, 57, 68, 77, 93, 96–98, 199, 202, 210, 219, 225, 384–386, 388 Augustus Octavian, erster römischer Kaiser 376, 446 Auvergne, Gaspard d’ 117, 129 Averroes (Ibn Ruschd) 496, 504 Ayyāši, Muḥammad al- s. Muḥammad al-'Ayyāši
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Namensregister
B Bach, Johann Sebastian 383 Bacon, Francis 166, 168, 361, 362 Baif, Jean-Antoine de 68 Barnaud, Nicolas 143 Baronio, Cesare 368 Báthory, István, Fürst von Siebenbürgen, ab 1576 König von Polen und Großfürst von Litauen 323 Bauer, Georg Lorenz 445 Baur, Ferdinand Christian 452, 454, 455 Bayle, Pierre 24, 27, 219, 342, 360–365, 368, 369 Becanus, Martin 189, 198, 222, 223 Bellarmin, Roberto 198, 208, 219, 223 Ben Ali, Zine el-Abidine, Präsident Tunesiens 1987–2011 513 Berengarius Turonensis 428 Bernhard von Chartres 97 Bernhard von Clairvaux 98, 202 Besold, Christoph 189–217, 220–226 Bethlen, Gábor, Fürst von Siebenbürgen 21, 310 Bethlen, Wolfgang de 312 Betti, Francesco 164 Beza, Théodore de 18, 24, 213, 301, 366 Biandrata, Giorgio 121–123, 126, 307, 309, 319 Birgitta von Schweden 57 Bíró, Dévai 321 Blair, Hugh 341 Blarer von Wartensee, Jacob Christoph 146 Boccaccio, Giovanni 41, 433–435, 438 Boccalini, Traiano 159, 167 Bocskai, István, Fürst von Siebenbürgen 323, 324 Bodin, Jean 155, 156, 158, 167, 170, 171, 426, 467 Böhme, Jakob 53 Boileau, Nicolas 369
Bonifacio, Giovanni Bernadino 125 Bonifatius, Comes Africae 365 Bonnet, Charles 404, 418 Borgia, Cesare 162 Borromeo, Carlo 202 Bossuet, Jacques Bénigne, Bischof von Meaux 328 Bourguiba, Habib, erster Präsident der tunesischen Republik 509 Bovelles, Charles de (Bovillus, Carolus) 68, 91 Breitinger, Johann Jacob 19, 20, 233–237, 241–250, 252–277, 282–284, 288, 290, 291 Brenz, Johannes 12, 214 Bruno, Giordano 46, 79, 505 Budé, Guillaume 68 Bullinger, Heinrich 11, 20, 124, 235, 236, 243–245, 267, 268, 286, 301 Burlamacchi, Francesco 128, 133, 141, 142 C Calixt, Georg 206 Calvin, Jean 24, 118–124, 126, 127, 133, 134, 136–140, 142, 155, 170, 173, 213, 236, 251, 477, 485, 500 Camden, William 168 Campanella, Tommaso 15, 16, 35, 36, 50–60, 90, 96, 97, 196, 206–208 Campbell, Archibald 23, 343, 349–355 Campeggio, Lorenzo, Bischof von Bologna, Kardinalsprotektor von England seit 1523 110 Cappel, Guillaume 117 Caracciolo, Galeazzo 123 Carli Piccolomini, Bartolomeo 132, 139 Carpzov, Johann Benedict 38 Case, John 160 Cassius Dio 144, 149 Castellio, Sebastian 9, 11–15, 24, 28, 114, 118, 120–126, 128, 133, 139, 142, 145,
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Namensregister
150, 152, 154, 163, 164, 172, 195, 197, 215, 244, 293, 434 Castelnau, Michel de 24, 367 Castelvetro, Giacomo 162–165, 167, 169, 171 Castelvetro, Lodovico 164 Castiglione, Baldassare 163 Celsi, Mino 13, 133–135 Chapelle, Jean de la 331 Chard, Thomas 160 Chemnitz, Martin 214 Christoph, Herzog von Württemberg 23, 519 Christus, Jesus s. Jesus Christus Churchill, John, Duke of Marlborough 331 Clapmarius, Arnold 202, 203 Clemens von Alexandrien 57, 199 Clichtovius, Jodocus (Clichtove, Josse van) 84 Cobham, Henry 163 Collins, Anthony 369 Columbus, Christoph 54 Comenius, Johann Amos 194 Committee (for Purity of Doctrine) 23, 349–351, 354 Constantia, Enkelin von Kaiser Friedrich II., Königin von Aragon, Gemahlin Peters III. 36 Contarini, Gasparo, Kardinal seit 1535 67, 321 Contzen SJ, Adam 198, 224, 225 Copernicus, Nicolaus 503 Corro, Antonio del 163, 170 Cotta, Johann Georg 449, 456 Cottesford, Samuel 160 Crell, Samuel 303, 304 Cromwell, Oliver 365, 476 Cronegk, Johann Friedrich von 433 Curione, Celio Agostino 120
Curione, Celio Secondo 85, 122, 133, 136–138, 141, 148 Cyprian, Ernst Salomon 428 Cyrus (Kyros), Perserkönig 56, 127 D Dandino, Anselmo 163 Daniel, Prophet 54, 307 Dante Alighieri 55 Darwin, Charles 501 David 234, 325 Dávid, Ferenc 21, 302, 307, 308, 319 Dee, John 160 Defoe, Daniel 330, 331, 374, 377, 379 Demosthenes 75 Devereux, Robert, second Earl of Essex 168 Dionysios Areopagita 79, 97 Disraeli jun., Benjamin 359 Disraeli sen., Benjamin 359 Disraeli, Isaac 15, 23, 24, 359–369 Dohm, Christian Wilhelm von 410, 411 Donzellini, Girolamo 145 Draper, John William 476, 477, 501–507 Dudley, Robert, first Earl of Leicester 168 Duns Scotus, Johannes 91, 95, 99, 108 Duraeus, Johannes (John Dury, Durie) 272 Dyck, (Al Haki) Cornelius van Alen van Dyck 477 E Edward VI., König von England und Irland 365 Eichhorn, Johann Gottfried 445 El Materi, Mahmoud, erster Präsident des Neo Destour in Tunesien 509 Elias, Prophet 50 Emerson, Ralph Waldo 360 Engelmann, Wilhelm 456 Enyedi, György 311, 312, 319
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Namensregister
Erasmus von Rotterdam, Desiderius 11, 15, 17, 18, 85, 103, 105–111, 113, 114, 126, 137, 219 Erastus, Thomas 169–171 Erlach, Franz Ludwig von 263 Ernst der Fromme 240 Eschenmayer, Carl August 449, 450 Esra, Prophet 55 Essex, Earl of s. Devereux, Robert, second Earl of Essex Euklid 59 Eva (Buch Genesis) 46 F Fabri, Johannes 110 Farel, Guillaume 105 Faruq, König von Ägypten seit 1937 508 Fénelon, François (François de Salignac de la Mothe-Fénélon), Erzbischof von Cambrai und Romancier 328 Ferdinand d’Aragon 171 Ferdinand I., König von Böhmen, Kroatien und Ungarn seit 1526, Kaiser seit 1558 107, 320–323 Ferdinand III., Kaiser 326 Ferdinand, Erzherzog von Österreich s. Ferdinand I. Ferenc Forgách, Erzbischof von Esztergom 324 Ferenc II., Rákóci, Fürst von Siebenbürgen 15, 22, 327 Ferguson, Adam 341 Ferrer, Vincenz 57 Feuerbach, Ludwig 360 Ficino, Marsilio 66, 68, 93, 97 Flacius (Illyricus), Matthias 119 Franck, Sebastian 114 François I. (Franz I.), König von Frankreich 79 François-Hercule de Valois, Duc d’Alençon 149
Frangepán, Ferenc, Erzbischof von Kalocsa und seit 1538 Bischof von Agria 322 Franziskus, Heiliger 79 Friedrich I., König von Preußen seit 1701 330 Friedrich der Große (Friedrich II.), König von Preußen 399 Friedrich II., König von Sizilien 36, 37 Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen 519 G Gabler, Johann Philipp 445 Gaddafi s. Al-Gadaffi Galatinus, Petrus 48, 53 Galilei, Galileo 502, 503, 505 Gallo, Nicola 121–123 Gattinara, Mercurino, Kanzler bei Karl V. 110 Geilfuss, Johannes 198 Gélida, Juan 46 Gellius, Aulus 362 General Assembly (of the Church of Scotland) 344, 347, 355 Gentile, Valentino 13, 121–123, 134, 136, 138, 140, 266 Gentili, Alberico 161, 162, 165–173 Gentillet, Innocent 168 Gerhard, Johann 195, 200, 202 Gerlach, Stefan 301, 309 Gervinus, Georg Gottfried 29 Gibbon, Edward 362 Gicatilla, Josef s. Josef Gicatilla Giorgi Veneto, Francesco 68 Giovio, Paolo 146, 172 Goethe, Johann Wolfgang von 397, 454, 455 Goeze, Johann Melchior 429, 430, 432, 436, 439 Gratarolus, Guilelmus 91, 98 Gregorz, Pawel z Brzezin 306
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Namensregister
Gribaldi, Matteo 120, 137, 138, 142 Gromorsus, Petrus 46, 66, 85 Grosthoman, Johannes 324 Grotius, Hugo 214, 366, 368 Gryphius, Andreas 379 Guarini, Giovanni Battista 163 Guérin, Thomas 149 Guicciardini, Francesco 131 Guizot, François 476, 477, 489–491, 503, 507 Gustav Adolf, König von Schweden 272 Gutzkow, Karl 450 Guyottin, Alexandre 121 György Rákóczi I., Fürst von Siebenbürgen 326 H Hall, Joseph 365 Haller, Johann 124, 125 Haym, Rudolf 443 Hayward, John 168 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 85, 443, 444, 448, 451–453 Heinrich IV., König von Frankreich 149 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 455 Henri IV. (Heinrich von Navarra), König von Frankreich 158 Herbert von Cherbury 66 Herder, Johann Gottfried 432, 445, 468 Hermann Judaeus 38, 62 Hermes Trismegistos 202 Heß, Tobias 201 Hieronymus, Sophronius Eusebius 199 Hirschvogel, Augustin 323 Hobbes, Thomas 378 Hoecker, Jonas 198 Hofmeister, Sebastian 113 Holbein, Hans, d. J. 106 Holtz, Dominikus 389 Homberg, Herz 407 Homer 154, 266
Honorius Augustodunensis 91, 97 Hôpital, Michel de l’ 467 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 82 Hotman, François 149 Hotton, Godofroy 271 Houssaye, Amelot de la 160 Hugo von St. Victor 55 Hume, David 341–343, 354 Hutcheson, Francis 341–343 Hutten, Ulrich von 29, 443, 454, 455, 458 I Idel, Moshe 39 Iqbal, Muhammad 470, 476 Ismael (Buch Genesis) 70 Ismael, Mulay s. Mulay Ismail J Jablonski, Daniel Ernst 332 Jacob II (James II.), König von England, Schottland und Irland 366 Jacobi, Friedrich Heinrich 409, 429 János I. (János Szapolyai), König von Ungarn seit 1526 320, 321, 323 Jaume I., König von Aragon und Graf von Barcelona 36 Jaume II., König von Aragon 37 Jeremia, Prophet 312 Jesus Christus 17, 43–45, 48, 49, 51, 87, 88, 90, 208, 211, 215, 216, 218, 222, 225, 311, 321, 384, 479, 507, 512 Joachim von Fiore 55, 57 Johann Sigismund Szapolyai, König von Ungarn und Fürst von Siebenbürgen 310 Johann von Staupitz 202 Johannes Scotus Eriugena 81 Johannes XXIII., Papst 479 Johannes, sagenhafter Priesterkönig 56 Johnson, Samuel 359 Jonson, Ben 160
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Namensregister
Joris, David 18, 69, 85, 124 Josef Gicatilla 39 Joseph I., Kaiser seit 1705 331 Jud, Leo 235, 258, 263 Julian Apostata, römischer Kaiser Jurieu, Pierre 363
367
K Karl der Große, Kaiser 325 Karl I., König von England, Schottland und Irland 365 Karl V., Kaiser 108, 325, 519 Karl VI., Erzherzog von Österreich, als Karl III. König von Ungarn, römischdeutscher Kaiser 1711-1742 377 Karl VII., als Karl I. Kurfürst und Herzog von Bayern, römisch-deutscher Kaiser 1742–1745 377 Karl IX., König von Frankreich 368 Karl XII. (Carolus Rex), König von Schweden seit 1697 330 Kepler, Johannes 194, 204, 205, 502, 503 Khomeini, Ruhollah Musawi, Ayatollah 508 Klesl, Melchior von, Bioschof von Wien 324 Klose, Karl Rudolf Wilhelm 456 Knox, John 368 L Labrousse, Elisabeth 360 Lactantius, Lucius Caecilius Firmianus (Laktanz) 219 Lamberto, Francesco 145 Landis, Hans 244, 245, 249, 280 Lansius, Thomas 216, 217 Lavater, Johann Caspar 26, 403–405, 418 Le Fèvre de la Boderie, Guy 68 Leechman, William 341 Lefèvre d’Etaples, Jacques 68 Leibniz, Gottfried Wilhelm 72, 363, 366
Leicester, Earl of s. Dudley, Robert, first Earl of Leicester Lessing, Gotthold Ephraim 15, 26, 27, 29, 308, 406, 409, 425–436, 439, 440, 443, 444, 453–458, 460, 461, 479, 495 Lessing, Karl 430, 432 Lessing, Theophil 27, 425, 426 Liena, Nicolao 121, 133, 136, 141 Lipsius, Justus 130, 171, 198, 216, 368 Locke, John 27, 332, 342, 365, 366, 368, 426, 427, 522 Lohenstein, Daniel Casper von 376 Louis Philippe, König von Frankreich 489 Lowth, Robert 445 Ludwig I. (der Große), König von Ungarn 325 Ludwig XIV, König von Frankreich 329 Lukas, Evangelist 365, 446 Lullus, Raimundus 15, 36, 39, 47, 59, 60, 91 Luther, Martin 12, 30, 89, 107–109, 113, 152, 195, 199, 201, 207, 236, 387, 427, 467, 468, 470, 474, 477, 479–483, 485, 488, 489, 491, 500, 503, 507–509, 511–513, 515, 519, 522, 524 Lutomirski, Jan 122 M Machiavelli, Niccolò 15, 18, 19, 117–120, 126–134, 140–148, 151, 154–174 Mackenzie, George 23, 351, 352 Madre Zuana s. Zuana, Madre Mai, Angelo 384 Maior, Georg 303 Maizeaux, Pierre de 360, 369 Maria I. (Mary I.), Königin von England und Irland 118, 365 Maria, Gottesmutter 43, 44, 46 Märklin, Christian 444 Martinengo, Massimiliano Celso 133 Martini, Jacob 210
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Namensregister
Masen SJ, Jacob 328 Materi, Mahmoud s. El Materi Matthew, Tobie 172 Matthias Corvinus, Kaiser von Ungarn 22, 325 Matthias, Erzherzog von Österreich, seit 1612 Kaiser 324 Medici, Caterina de’, Königin von Frankreich 143 Medici, Cosimo de’, Großherzog der Toskana 142, 162 Mehmed II. 42, 55 Meisner, Balthasar 188, 210, 216, 219 Melanchthon, Philipp 22, 213, 321, 376, 381 Melchisedech (Bibel) 50 Melchisedech (Decamerone) 433, 434 Mellini, Giovanni Garzia, Kardinal seit 1606 und Sekretär der Kongregation der römischen Inquisition seit 1616 324 Meltinger, Heinrich, Bürgermeister Basels 1522–1529 105 Melville, Herman 360 Menasseh ben Israel 410 Mendelssohn, Moses 15, 26, 27, 397–399, 401, 403–406, 408–419 Mentzer, Balthasar d. Ä. 205, 206 Menzel, Wolfgang 449, 450 Meyer, Adelberg 105 Michaelis, Johann David 26, 445 Midhat Effendi, Ahmed 477, 505, 506 Millar, John 341 Milton, John 153, 171 Montaigne, Michel de 88, 114, 364 Montesquieu, Charles de Secondat de 503 Moses (Moyse) 59, 77, 127, 128 Moshe de Leon (Moshe ben Schem Tov de Leon) 39 Mosheim, Johann Lorenz von 72
Mubarak, Muhammad Husni, 1981–2011 Staatspräsident der Arabischen Republik Ägyptens 513 Mulay Ismael 374 Mulay Ismail 388–391 Müller, Johannes, Autor von De tribus impostoribus 437 Müller, Vitus 198 Müntzer, Thomas 208, 224 Murad ibn Abdullah s. Somlyai Balázs Murray, John 359 Musculus, Wolfgang 124 Muḥammad (Mohammed, Muhamedes, Mahomet), Prophet, Religionsstifter 43, 45, 46, 50, 59, 66, 85, 266, 273, 303, 374, 389, 390, 521, 522 Muḥammad al-‘Ayyāši 374 N Nachmanides 37, 38 Nádasdy, Tamás 322 Nathan, Prophet 432 Nebukadnezar 307, 312 Nero, römischer Kaiser 154, 216 Neuser, Adam 15, 20, 21, 301, 304–309, 426 Newton, Isaac 366, 503 Nicolaus Cusanus (Nikolaus von Kues) 15, 17, 70, 71, 75, 79, 84, 91, 93, 95, 97 Niege, Georg 382, 383, 386 Nietzsche, Friedrich 361, 443 O Ochino, Bernardino 122, 128, 129, 133, 138, 139, 141, 152, 172, 523 Oekolampad, Johannes 105, 107, 108, 111, 112 Oporinus, Johannes 65, 85, 86, 152 Origenes (Origines) 78, 88 Orpheus 85 Osiander, Lukas d. J. 198
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Namensregister
P Pablo Christiani 37, 38 Palaeologus, Jacob 21, 304, 305, 308–311 Paleario, Aonio 133 Pantaenus von Alexandria 199 Paracelsus, Theophrast Bombast von Hohenheim, genannt 207, 210 Pareus, David 214 Paruta, Niccolo 309 Pasquier, Étienne 152 Patrizi, Francesco 68, 95 Paulus, Apostel 42, 49, 109 Pázmány, Péter 22, 324–327 Pellikan, Konrad 109 Pellow, Thomas 389 Penn, William 366 Perényi, Péter 22, 320–323 Perna, Pietro 18, 117, 126, 133, 134, 140, 141, 144–146, 148–151, 153, 154, 162–165 Peter I., Zar von Rußland 331 Peter III., König von Aragon 36, 37 Petrarca, Francesco 83, 202, 203 Petrus, Apostel 42, 50, 135 Pfeil, Franciscus 224 Philipp (der Großmütige), Landgraf von Hessen 519 Philo von Alexandrien 57 Pico della Mirandola, Gianfrancesco 88 Pico della Mirandola, Giovanni 68 Pius II, Papst 43 Pius IX, Papst 502 Platon 17, 58, 66–69, 71, 73, 74, 76, 78, 80–83, 89, 93, 106, 109, 196, 440 Plinius Secundus der Ältere, Gaius 361 Plotin 68, 69, 74 Plutarchos von Chaironeia 361 Pomponazzi, Pietro 66, 72, 212 Postel, Guillaume 15–17, 36, 38, 45, 47–51, 53, 60, 67, 69, 70, 72, 73, 75–77, 79–82, 85, 86, 88–90, 92–96, 98
Priscillian 368 Proklos 68, 97 Prynne,William 367 Pucci, Francesco 163, 164, 170 Pufendorf, Samuel 332, 378, 379 Pythagoras 55, 57, 59, 68, 98 R Rabelais, François 68, 114 Ragnoni, Lattanzio 133 Raimundus de Pennaforti (Raymond von Penyafort) 37, 39 Raimundus Martini (Ramon Martí) 37 Raimundus Sabundus 91, 92 Rainolds, John 170, 171 Ramus, Petrus (Pierre de la Ramée) 125 Rehabeam 325 Reher, Pius, Fürstabt von St. Gallen 261, 265 Reid, Thomas 341 Reiffenberg, Justus 167 Reimarus, Albrecht Heinrich 456 Reimarus, Elise 429, 430 Reimarus, Hermann Samuel 29, 435, 438, 447, 455–457 Renan, Ernest 473, 478, 480, 491–494, 496, 524 Renato, Camillo 135–137 Reuchlin, Johannes 68, 78, 82, 97 Révay, Ferenc (1489–1553) 322 Richard von St. Victor 55 Ridā, Rashīd 30, 473, 480, 484, 485, 499, 504 Robertson, William 341 Rojas y Spinola, Christoph de 328 Romulus 127 Ronsard, Pierre de 79 Rousseau, Jean-Jacques 159, 479 Rovere, Giulio Feltrio della, Bischof von Urbino, Kardinal und päpstlicher Legat 139
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Namensregister
Rudolf II., Kaiser seit 1576 Rustici, Filippo 152 Rutherford, Samuel 347
323, 324
S Sadoleto, Jacopo 94 Sancho I., König von Mallorca 37 Saulus (Saul) 66 Savonarola, Girolamo 127–129, 142, 195, 202, 203 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 445 Schickard, Wilhelm 198, 204 Schimon ben Jochai (Rabbi Simon) 39 Schlegel, Friedrich 432 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 454, 468 Schnabel, Johann Gottfried 15, 25, 373–379, 381–391 Schwenckfeld, Caspar 217, 250, 273, 274, 286 Selim II., türkischer Sultan 304, 307 Servet, Michel (Miguel) 11, 13, 24, 120, 121, 135–137, 142, 266, 301, 366, 468, 483, 500, 505 Shakespeare, William 363 Sidney, Philip 168, 169 Sigismund II. August, König von Polen 122, 523 Simoni, Simone 123 Simson, John 23, 343, 349–355 Smith, Adam 341 Sokrates 57 Somlyai, Balázs 308 Sommer, Johannes 21, 307 Sozzini, Fausto (Socinus, Faustus) 21, 134, 302–304, 319, 352 Sozzini, Lelio 122 Spinoza, Baruch de 24, 157–159, 167, 342, 456 Stahl, Friedrich Julius 455
Stephan I. (der Heilige), erster König von Ungarn 325 Stepney, George 329 Steudel, Christian Friedrich 29, 448, 449 Stör, Stephan 105 Strauß, David Friedrich 15, 28, 29, 443–461, 492 Stupanus, Giovanni Niccolò 144–150, 155, 157, 159, 160, 164–167 Suetonius Tranquillus, Gaius 376 Sulzer, Simon 124, 125 Sylvanus, Johannes 426 Szirmay, István 333 Sztárai, Mihály 321 T Tacitus, Publius Cornelius 131, 162 Tauler, Johannes 202, 210 Taylor, Jeremy 365 Tegli, Silvestro 18, 117–131, 133–136, 139–142, 145, 148, 152, 155, 157, 159–161, 164, 165, 168, 172–174 Telesio, Bernardino 52, 58 Tertullian 172, 219 Theresa von Avila 202 Theseus 127 Thomas von Aquin 37, 68, 93, 97, 108 Thou, Jacques-Auguste de 172, 368 Thumm, Theodor 19, 191, 198, 206, 217–220 Thurzó, Elek 321 Timpler, Clemens 188, 189, 212 Toroczkai, Máté 311, 312 Tóth, Miklós 306 Tāhā, Mahmoud Muḥammad 30, 514–516, 521 Trajan, römischer Kaiser 252, 367
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Namensregister
U Uhlius, Johann Ludwig 303 Ullmann, Karl Christian 450, 453 Urban VIII., Papst 52 V Válaszúti, György 309 Valdés, Juan de 132, 133 Valentini, Gentile 134 Vanini, Lucilio 212 Vergerio, Pier Paolo 124, 173, 183 Vermigli, Pietro Martire 118, 121, 123–125, 128, 133, 141, 153–155, 170 Vilmar, August Friedrich Christian 455 Vintimille, Jacques de 117 Voltaire, François-Marie Arouet 27, 29, 426, 427, 443, 444, 447, 453, 455, 458–461 W Waldkirch, Konrad 146 Walsingham, Francis 168 Warburton, William 369 Wartenberg, Johann Kasimir Kolbe, Graf von 330
Weber, Max 289, 475, 476, 493 Weeze, Johannes von, Erzbischof von Lund und Bischof von Konstanz 320, 321 Wehrli, Max 112 Weigel, Valentin 198, 205, 210 Werenberg, Jacob 202 Wezel, Johann Karl 378 Whitworth, Charles 329 Wilhelm von Conches 90, 91, 97, 98 Wolders, David 383 Wolf, Johannes 199 Wolfe, John 160–165, 167–169 Wursteisen, Christian 114 Z Zamoscius, Stephanus 312 Zanchi, Girolamo 125 Zbaski, Abraham 122 Zedler, Johann Heinrich 26, 399–404 Zuana, Madre 46 Zurkinden, Nikolaus 123–125 Zwingli, Huldrych 107, 112, 235, 236, 243, 244, 247, 251, 265, 477
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