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German Pages [272]
Bernhard Steinbrecher Das Klanggeschehen in populärer Musik
Schriftenreihe der Hochschule für Musik Franz Liszt herausgegeben von Christiane Wiesenfeldt und Tiago de Oliveira Pinto BAND 10
Bernhard Steinbrecher
Das Klanggeschehen in populärer Musik Perspektiven einer systematischen Analyse und Interpretation
2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Die Band Fugazi im September 1993 während eines Konzerts in New York City (Foto: Glen E. Friedman) © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Druck und Bindung: General Druckerei, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50525-7
Für Lynn
Danke ... ... an alle, die mich in all den Jahren menschlich und fachlich unterstützt, motiviert und inspiriert haben und immer ein offenes Ohr für mich hatten. Ohne Euch hätte diese Arbeit nicht entstehen können! Mein erster und größter Dank gilt Lynn Claude für ihre selbstlose Unterstützung in jeglicher Hinsicht. Martin Pfleiderer danke ich für die hervorragende Betreuung, für die vielen nützlichen Ratschläge und das stets fruchtbare und unmittelbare Feedback. Für den familiären Rückhalt danke ich Ingrid Steinbrecher-Mayer, Helmut Steinbrecher, Rudolf Mayer, Elisabeth Koderhold und Christian Steinbrecher. Des Weiteren danke ich Roman Duffner, Michael Knoll, Manuel Matuzovic und Paul Matyas für die zahllosen Gespräche und Diskussionen über Musik und Musikanalyse, die direkt und indirekt in diese Arbeit miteingeflossen sind. Auch danke ich Anja Brunner für ihre wertvollen Hinweise sowie Rupert Krieger und Markus Schimana, dass sie mein ursprüngliches Interesse für dieses Thema geweckt haben. Mein Dank ist ebenso an Tiago de Oliveira Pinto und Christiane Wiesenfeldt für die Aufnahme meines Buches in ihre Schriftenreihe als auch an die Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar für die Druckkostenunterstützung gerichtet. Finally, I want to thank Fugazi and Dischord for their permission to publish my transcriptions of the song Turnover in this book and Glen E. Friedman for letting me use his photograph on the cover. Wien, im August 2016 Bernhard Steinbrecher
Inhalt
1 Einleitung ...................................................................................................................................... 11 1.1 Ästhetik und Analyse ........................................................................................................ 13 1.2 ‚Populäre Musik‘ ................................................................................................................ 18 2 Ansätze zur Interpretation ......................................................................................................... 27 2.1 Wertende Zugänge ............................................................................................................ 29 2.2 Vergleichende Ansätze ...................................................................................................... 29 2.3 Referentielle Ansätze ......................................................................................................... 34 2.4 Soziologische Ansätze ....................................................................................................... 54 2.5 Psychologische Ansätze .................................................................................................... 66 2.6 Neuere ästhetische Ansätze .............................................................................................. 86 3 Ansätze zur Analyse .................................................................................................................... 97 3.1 Traditionelle und messtechnische Analyse .................................................................... 98 3.2 Prozessorientierte Analyse.............................................................................................. 104 4 Entwurf eines musikanalytischen Baukastensystems ........................................................... 135 5 Fallbeispiel Fugazi ...................................................................................................................... 147 5.1 Analyse von Werturteilen ............................................................................................... 154 5.2 Musikanalyse - Turnover ................................................................................................... 184 6 Zusammenfassung und Ausblick ............................................................................................ 207 Literatur ....................................................................................................................................... 213 Abbildungen und Tabellen ....................................................................................................... 231 Anhang A - Gesamtdarstellung Analysegrafiken .................................................................. 233 Anhang A1 - Oberfläche ................................................................................................ 233 Anhang A2 - Einzelstimmen.......................................................................................... 235 Anhang A3 - Einzelstimmen-Wechselbeziehung ....................................................... 258 Anhang B - Erstellung Analysegrafiken ................................................................................. 261 Anhang B1 - Vorlagen .................................................................................................... 261 Anhang B2 - Arbeitsschritte........................................................................................... 263
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Einleitung
Einleitung
Als traditionell ausgebildeter Musikwissenschaftler verfügt man über ein umfangreiches Repertoire an etablierten Zeichen und Begriffen, um Musik darstellen und beschreiben zu können und daraus Zusammenhänge abzuleiten. Oder anders formuliert: Man ist befähigt, Musik auf eine bestimmte Art und Weise zu analysieren. Beim Analysieren zergliedert der Forscher ein Ganzes, um besser zu verstehen, welche Eigenschaften und Funktionen die einzelnen Merkmale haben und wie sie zusammenwirken. Seit geraumer Zeit werden innerhalb der Musikwissenschaft die Ziele, Methoden und Gegenstände der Musikanalyse zunehmend kritisch beleuchtet und hinterfragt, was deren Mehrwert ist – insbesondere in Bezug auf die so genannte ‚populäre Musik‘. Diese Studie befasst sich mit dem Klingenden, der Musik in populärer Musik. Sie handelt von Perspektiven, wie die musikwissenschaftliche Analyse zum besseren Verständnis der Musik und des Umgangs mit ihr beitragen kann und sich als „Instrument zur Erkenntnissuche“ (Doehring 2012: 28) eignet. Ziel ist es einerseits, einen geordneten Überblick zu den Interpretationsrichtungen, aus denen sich das Klanggeschehen deuten lässt, zu schaffen. Andererseits sollen die musikanalytischen Handwerkszeuge systematisiert und ein methodisches Baukastensystem entworfen werden, aus dem sich der Forscher je nach Fragestellung einen passenden Erkenntnisweg zusammenstellen kann. Im Speziellen wird es in meiner Arbeit um Fragen zur musikalischen Wertschätzung gehen, also darum, was die Gründe für unsere Vorlieben und Abneigungen sein können und inwieweit sie zu dem in Beziehung stehen, was uns beim Hören eines Tonträgers zu Ohren kommt. Dieser Untersuchungsschwerpunkt ist in dreierlei Hinsicht naheliegend: Erstens besteht zwischen musikanalytischen Verfahren und dem Interesse für Wertungsmöglichkeiten historisch betrachtet ein enger, wenngleich nicht unproblematischer Zusammenhang. Zweitens lädt der viel diskutierte Begriff der ‚populären‘ Musik zu einer Suche nach Hinweisen ein, warum bestimmte Klangkonstellationen für den Hörer potentiell ansprechend sind. Und drittens muss eine solche Spurensuche sehr weitläufig angelegt sein und unterschiedliche Erklärungsansätze in Betracht ziehen. Sie bedarf somit einer grundlegenden Reflexion darüber, auf welche Theorien und Konzepte der Analysierende zurückgreifen kann, wenn er etwas in Worte fassen und veranschaulichen möchte, das in erster Linie zum Hören gedacht ist. Es herrscht in der neueren Forschung ein gewisser Konsens, dass für aussagekräftige Analysen der Kontext der untersuchten Musik miteinbezogen werden muss und deskriptive Aussagen zum Klanggeschehen mit dessen Verstehenshorizonten zu verknüpfen sind. Für Musikwissenschaftler wie Middleton (1993), Hawkins (2002), Wicke (2003), Pfleiderer (2008), Jost (2011), Obert (2012) oder Doehring (2012) lassen sich die Besonderheiten einer Musik weder ausschließlich in objektiven musikalischen Gegeben-
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heiten (im Sinne eines Zeichengefüges) finden noch zur Gänze über die historischen, kulturellen oder sozialen Rahmenbedingen begründen. Sie plädieren für eine multiperspektivische und disziplinenübergreifende Auseinandersetzung, um mit Hilfe von Musikanalysen Antworten auf gesellschaftlich relevante Fragestellungen zu bekommen. Welche ‚Kontexte‘ und ‚Verstehenshorizonte‘ sich wie und für welche Zwecke einbeziehen lassen, soll im theoretischen Abschnitt dieser Arbeit thematisiert werden. Ich werde dem musikinteressierten Forscher eine Orientierung bieten, in welche Argumentationszusammenhänge das Klingende bislang eingebunden wurde und wo es Lücken gibt, die es zu schließen gilt. Anfangs wird die Frage nach musikalischer Bedeutung aufgeworfen, sodann werden kurz wertende Zugänge erwähnt und in weiterer Folge vergleichende, referentielle, soziologische, psychologische und neuere ästhetische Ansätze vorgestellt (Kapitel 2). Nun sind es nicht nur die Interpretationsmöglichkeiten, die musikwissenschaftliche Grundsatzüberlegungen notwendig machen, sondern ebenso die Analysemöglichkeiten (Kapitel 3). Die traditionellen Vorgehensweisen werden aufgrund der ursprünglich dahinterstehenden Ideologie skeptisch betrachtet. Zudem wird in Frage gestellt, ob die althergebrachten Darstellungs- und Beschreibungsformen angesichts der veränderten Produktions- und Rezeptionsweisen noch geeignet sind, um das Klanggeschehen angemessen zu repräsentieren. Ich werde skizzieren, worauf sich die Diskussion um ‚geeignete‘ und ‚angemessene‘ musikanalytische Verfahren richtet, mich aber auch hier nicht nur darauf beschränken, vorhandene Zugänge lediglich zu problematisieren. Vielmehr sollen die Stärken und Grenzen von auf klassischen Notenzeichen oder physikalischen Messungen basierenden Analysemethoden aufgezeigt und Alternativen präsentiert werden. Ein Schwerpunkt wird dabei auf der Berücksichtigung von Wahrnehmungsaspekten im Rahmen von prozessorientierten Ansätzen liegen. Die besprochenen Methoden werden anschließend zu dem eingangs erwähnten Baukastensystem zusammengeführt (Kapitel 4). Um am konkreten Beispiel zu zeigen, wie sich der Wertschätzung für eine Musik systematisch nachspüren lässt, werde ich eine umfangreiche Falluntersuchung zur USamerikanischen Band Fugazi durchführen (Kapitel 5). Die Band wird allgemein beschrieben, ihr Schaffen kontextuell eingeordnet und mein persönliches Verhältnis zu ihr dargelegt. Danach erfolgt eine qualitativ orientierte Textanalyse von Amateurrezensionen zu einem ausgewählten Album, bei der ich die Kriterien herausarbeite, nach denen die Verfasser urteilen. Die Richtung der Kodierung wird von einer spezifischen, theoriegeleiteten Fragestellung vorgegeben, welche zwei neuere Ästhetikansätze mit meinem Interesse für das Klanggeschehen verknüpft: Welche Arten der Gestaltung, Wahrnehmung und Lebensführung werden in Bezug auf die Band Fugazi als schön und richtig empfunden und inwieweit stehen diese Aspekte in Beziehung zum Klanggeschehen?
Ästhetik und Analyse
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Auf Grundlage der inhaltsanalytischen Erkenntnisse wird eine zielgerichtete Analyse und Interpretation eines Fugazi-Songs möglich, bei der das entworfene Baukastensystem zur Anwendung kommt. Zum Abschluss werde ich die theoretischen und empirischen Erkenntnisse meiner Studie zusammenfassen und einen Ausblick auf weitere Perspektiven einer erweiterten Musikanalyse geben (Kapitel 6). Damit dem Leser die Hintergründe besser verständlich sind, die zur momentan „offenen Situation ungeklärter Fragen“ (Obert 2012: 10) führten, sei nun zurückgeblickt auf das eigentliche Ansinnen von Musikanalytikern und die Umdenkprozesse, welche nicht zuletzt durch die verstärkte Beschäftigung mit populärer Musik in Gang gesetzt wurden. Eine wesentliche Rolle spielten hierbei ästhetische Fragestellungen.
1.1 Ästhetik und Analyse
Ästhetik und Analyse Gemäß der neuzeitlich-philosophischen Denotation im Sinne Alexander Gottlieb Baumgartens verweist der Ästhetikbegriff auf das griechische ‚aisthetos‘ (‚sinnlich‘, ‚wahrnehmbar‘) oder ‚aisthesis‘ (‚Wahrnehmung‘). Er wurde von Baumgarten in den 1760er Jahren mit der Absicht entwickelt, Ästhetik als „eigenständige Disziplin im System der Philosophie zu etablieren und sie gleichzeitig von Theorien über die Kunst und das Schöne, welche als solche bereits in der Antike existierten, abzuheben“ (Fuhr 2007: 26). Baumgarten sah im sinnlichen Wahrnehmen und Erleben eine eigenständige Möglichkeit der Erkenntnis, die durch ästhetisches Urteilen ausgedrückt werden könne und so die Fähigkeit zur Wahrheitsvermittlung erhalte. Eine entscheidende Wendung erfuhr der Ästhetikbegriff durch Immanuel Kants Lehre vom ästhetischen Urteil („Wie kann ich urteilen?“), die er in seiner Kritik der Urteilskraft (1781) formulierte. Er definierte Ästhetik als Lehre vom Schönen, wobei Urteile über das Schöne stets nur subjektiv zustande kommen und das ästhetische Urteil demnach bloß ein Geschmacksurteil darstelle. Dem als schön Beurteilten begegne man interesselos, da es ein Lustgefühl erzeuge, obwohl es weder nützlich noch moralisch gut sei: „Schön ist das, was in bloßer Beurteilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen müsse“ (Kant 1996: 193).
Mit der Rede vom „interesselosen Wohlgefallen“ (Kant 1996: 117) gilt Kant als Begründer der Autonomie der Kunst, obgleich weder für ihn, der seine Überlegungen zumeist am Beispiel des Naturschönen anstellte, noch für Baumgarten der Bereich der Kunst in ihren Ästhetik-Konzeptionen jene zentrale Rolle spielte, die sie in den nachfolgenden, kunsttheoretischen Ansätzen einnahm. Für Baumgarten und Kant ging es um grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen hinsichtlich des sinnlichen Erlebens und Erkennens und der ästhetischen Erfahrung (vgl. Pfleiderer 2009: 5). Erst mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der die Ästhetik als Philosophie der schönen Kunst bestimmte, und Arthur Schopenhauer verengte sich der ästhetische Blick zunehmend auf die Kunst,
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Einleitung
„in deren Rezeption sie beide […] einen Weg zu höherer Erkenntnis alles Seienden sahen“ (v. Appen 2007: 204). Wie Michael Fuhr anmerkt, bescherte die Möglichkeit der Kunst ein Garant für die Wahrheit zu sein „ihr und der sich mit ihr beschäftigenden Philosophie, der Ästhetik, einen erfolgreichen Aufstieg in die höchsten Gefilde der Wissenschaften“ (Fuhr 2007: 38). Durch die Hervorhebung des Geistes gegenüber des Sinnlichen empfand im Speziellen die Musikanalyse einen starken Legitimationszwang, den ästhetischen Wert musikalischer Werke nachzuweisen und sie somit als Kunst zu etablieren. Nach Wilhelm Seidel war die Frage entscheidend, ob die Musik „nichts weiter als ein vergnüglicher Zeitvertreib, geboren aus dem Interesse der Sinne an sinnlicher Lust und dem Verlangen der Gemüter nach Bewegung [ist]“, oder sie „die Form eines selbständigen, schönen Gegenstands [hat], den die Hörer mit interesselosem Wohlgefallen anschauen, die Form also eines Objektes, das Sinn und Verstand zu freiem Spiel anregt“ (Seidel 1988: 73f. in ebd.: 43-44). Dass die Musik als niedere Kunst eingestuft wurde, lag nun gerade an der ihr zugeschriebenen Sinnlichkeit, also ihrer Fähigkeit, Gefühle hervorzurufen, zum körperlichen Mitvollzug einzuladen und lustvoll erfahren zu werden. Dies sah man als moralisch bedenklich an und war „mit dem klassischen Ideal des Guten, Wahren und Schönen nur schwer in Übereinstimmung zu bringen“ (Pfleiderer 2009: 3). Als Reaktion auf diese Minderschätzung schlug die Musikästhetik den Weg einer „Defensivstrategie“ (Sponheuer 1987: 128) ein. Sie versuchte die Musik als „Erscheinungsform von Geist“ (Dahlhaus 1982: 83) zu rechtfertigen, was sich vornehmlich im Nachweisen einer geschlossenen Ganzheit und inneren strukturellen Logik des (instrumentalen) musikalischen Kunstwerks niederschlug. E.T.A. Hoffmanns Analyse von Beethovens 5. Symphonie (1810) gilt als eines der frühesten Beispiele, in der sich die Überzeugung einer reinen, absoluten Tonkunst (vgl. Hoffmann 1963: 34-51) manifestierte. Während Hoffmann, dem frühromantischen Denken verhaftet, die ästhetische Substanz von Musik ihrer Fähigkeit zuschrieb, unbestimmte und unaussprechliche, von den äußeren Sinnwelten abgekoppelte Gefühle hervorzurufen, so grenzte sich später Eduard Hanslick von einer derart subjektiv-schwärmerischen, metaphysischen Überhöhung der Musik ab. Für Hanslick war rein das objektiv Gegebene des Musikwerks Gegenstand der Musikästhetik und der ‚Geist‘ Bedingung musikalischer Schönheit. Musikalische Schönheit objektiviere sich in der Musik als Form, wonach Form objektivierbarer Geist sei. Form und Inhalt seien identisch, also sei Geist der Inhalt von Musik (vgl. Hanslick 1854: 34 in Schirpenbach 2006: 102-103). In der zweiten Auflage seines zentralen Werks Vom Musikalisch-Schönen (1854) nahm er zum Vorwurf Stellung, er fordere die „absolute Gefühllosigkeit der Musik“ (Hanslick 1858: 8): „Man hat mir eine vollständige ‚Polemik‘ gegen Alles, was Gefühl ist, aufgedichtet, während jeder unbefangene und aufmerksame Leser doch unschwer erkennt, daß ich nur gegen die falsche Einmischung der Gefühle in die Willenskraft protestiere, also gegen jene ästhetischen Schwärmer kämpfe, die mit der Prätention, den Musiker zu belehren, nur ihre klingenden Opiumträume auslegen. Ich teile vollkommen die Ansicht, daß der letzte Werth des Schönen immer auf unmittelbarer Evidenz des Gefühls beruhen wird. Aber ebenso fest halte ich an der Ueberzeugung, daß man aus
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all den üblichen Appellationen an das Gefühl nicht ein einziges musikalisches Gesetz ableiten kann“ (ebd.).
Unabhängig davon hielt er an seinem Grundsatz fest, dass die Schönheit eines Tonstücks „spezifisch musikalisch [ist] d. h. den Tonverbindungen ohne Bezug auf einen fremden, außermusikalischen Gedankenkreis innewohnend“ (Hanslick 1858: 9). In gleicher Hinsicht äußerte sich Hans Heinrich Eggebrecht (1977), der in artifizieller Musik ein ästhetisch konzipiertes Gebilde sah, „das als solches darauf angelegt ist, in seinem Sinn durch die Sinne erkannt zu werden und demgemäß seinen Sinn in sich selbst zu haben und zu begründen“ (Eggebrecht 1977: 210-211). Nur eine derartige KunstwerkeMusik würde auf musikalische Analyse (Gefüge-, Formungs-, Strukturanalyse) „positiv antworten“ (ebd.). Die ästhetische Rechtfertigung von Musik als autonome Kunst begründete gleichzeitig auch deren Dichotomisierung in geistige Kunst und geistfremde, sinnlich unbestimmte und irrationale Nicht-Kunst (vgl. Fuhr 2007: 52). Dass diese Abgrenzung insbesondere auf Kosten populärer Musik ging, war gewissermaßen vorgezeichnet. So waren die musikalischen Kriterien, nach denen der künstlerische Wert einer Komposition beurteilt wurde, auf die Komplexität und den Beziehungsreichtum in der formalen, harmonischen und melodischen Gestaltung ausgerichtet. Für ein künstlerisch wertvolles Werk müssen diese Gestaltungsmittel gemäß Carl Dahlhaus so eingesetzt werden, dass sie eine eigene musikalische Logik entfalten. Jene Musik, die Virtuosität oder Effekte in den Vordergrund stelle, die „das Detail hervorkehrt, ohne originell zu sein“ (Dahlhaus 1967: 13) sei demnach schlecht komponiert. In Negation zur autonomen Musik fasste Dahlhaus Musikformen, in denen er das „Banale, Flache und Verschlissene“ (Fuhr 2007: 54) vorherrschend sah, unter dem Oberbegriff ‚Trivialmusik‘.1 Den Begriff ‚populäre Musik‘ lehnte er aufgrund der Betonung des quantitativen Aspekts ab (vgl. ebd.: 53), nicht ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass populäre Musikformen nichts anderes seien als „der Schutt, den die Vergangenheit hinterlassen hat“ (Dahlhaus 1977: 149). Nach Theodor W. Adorno unterscheidet sich die Sphäre populärer Musik von jener der ernsten Musik insbesondere durch ihre Standardisierung: „The whole structure of popular music is standardized, even where the attempt is made to circumvent standardization. Standardization extends from the most general features to the most specific ones. Best known is the rule that the chorus consists of thirty two bars and that the range is limited to one octave and one note. […] Most important of all, the harmonic cornerstones of each hit – the beginning and the end of each part – must beat out the standard scheme. This scheme emphasizes the most primitive harmonic facts no matter what has harmonically intervened. Complications have no consequences. This inexorable device guarantees that regardless of what aberrations occur, the hit will lead back to the same familiar experience, and nothing fundamentally novel will be introduced” (Adorno 1941: 17). 1
Diese Klassifizierung schloss allerdings nicht aus, dass auch potentiell hochkulturelle Symphonien oder Werke aus dem Bereich ‚mittlerer Musik‘ der künstlerische Wert abgesprochen werden konnte.
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Einleitung
Auch die musikalischen Details, wie bspw. ‚breaks‘, ‚blue chords‘ oder ‚dirty notes‘, sah er als standardisiert an. Diese werden, wenngleich nicht in dem Maße durchschaubar wie die formale Gestaltungsmittel, unter dem Deckmantel des individuellen Effekts eingesetzt und somit ein Expertengeheimnis vorgetäuscht, das für die meisten Musiker sowieso offenliege. In der vorhersehbaren Gesamtstruktur eines Stückes seien sie zumeist an strategischen wichtigen Stellen, wie etwa am Beginn des Chorus, positioniert, so dass sie möglichst gut wiedererkannt werden können. Im Gegensatz zur ernsten Musik, bei der musikalischer Sinn erst durch das situationsabhängige Zusammenspiel von Details und strukturellem (Gesamt-)Kontext entstehe, haben die Details in populärer Musik keine tragende Rolle und seien austauschbar: „It would not affect the musical sense if any detail were taken out of the context. […] Every detail is substitutable; it serves its function only as a cog in a machine“ (Adorno 1941: 18).
Ein weiteres Argument für die Ausgrenzung populärer Musik aus dem Kunstbereich entwickelte sich im Rahmen der verstärkten Auseinandersetzung mit musikalischen Funktionen seit Mitte der 1930er Jahre. Mit dem Begriff ‚funktionale Musik‘ wurde eine musiksoziologische Kategorie eingeführt, welche „die Bindung von Musik an eindeutig bestimmbare ökonomisch bzw. gesellschaftlich bedingte außermus. Zwecke kennzeichnet“ (v. Massow 1995: 157). Dem autonomieästhetischen Verständnis nach kann eine solche Musik, wie z.B. Unterhaltungs- und Tanzmusik, Schlager, Werbemusik, Pop, Beat u.Ä. (vgl. Eggebrecht 1977: 1), nicht autonom sein, da Autonomie Funktionslosigkeit voraussetzt (vgl. Adorno 2000: 336-337). Folglich könne sie auch nicht als artifizielle Musik begriffen und unter ästhetischen Gesichtspunkten untersucht werden – sie werde „von der an artifizieller Musik orientierten Analyse nur als das erkannt werden […], was sie musikalisch nicht ist“ (Eggebrecht 1977: 188). Der Umkehrschluss dieser Dichotomie von Autonomie und Funktion war nun derjenige, dass eine ertragreiche Beschäftigung mit populärer Musik besser auf soziologischer Ebene stattzufinden hat. Auch Adorno schätzte eine Analyse populärer Musik als nicht notwendig ein. Da sie geistig einfach zu verarbeiten sei, erfülle sie ihre Funktionen vor allem in der Zerstreuung, im Entspannen und Erholen von der Arbeit (vgl. Horkheimer 2006: 145). Seiner kulturkritischen Haltung entsprechend sah er in dergestalt unanstrengender, vorverdauter Musik eine unter profitmaximierenden Absichten produzierte Ware der Kulturindustrie, die den Hörern Pseudo-Individualismus vorgaukle und sie in die Rolle passiver Konsumenten versetze. Das Amusement, das die Hörer zur Ablenkung von ihrem unglücklichen Leben suchen, diene als Katharsis, die kritisches, widerständiges Denken ausschalte. Durch die Produktion hierfür geeigneter Waren könne das herrschende, kapitalistische System, repräsentiert durch die Kulturindustrie, die Hörer manipulieren: „It is catharsis for the masses, but catharsis which keeps them all the more firmly in line. One who weeps does not resist any more than one who marches. Music that permits its listeners the confes-
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sion of their unhappiness reconciles them, by means of this ‚release‘, to their social dependence“ (Adorno 2002: 462).
In der kritischen Rezeption Adornos begriffen vor allem die Vertreter der Cultural Studies populäre Kultur als widerständig und betonten, dass Massenmedien auch aktiv und subversiv rezipiert werden können. Zum Nachweis des gesellschaftspolitischen Werts von Medienkulturangeboten, also auch von populärer Musik, rückten verstärkt deren Rezeptions- und Nutzungskontexte ins Interessenzentrum. 2 Insbesondere jugend- bzw. subkulturelle Phänomene wurden häufig herangezogen (siehe bspw. Cohen 1972, Clarke 1979, Willis 1981, Hebdige 1983) um, so der gemeinsame Ausgangspunkt der CCCS nach Rainer Winter, „soziale Probleme und Fragestellungen, die im Schnittfeld von Alltag, Kultur und Macht entstehen […], in ihren sozialen, politischen und historischen Dimensionen [zu untersuchen]“ (Winter 1997: 59 in Calmbach 2007: 27). Als soziale Formationen verstanden, drücke sich in Subkulturen eine kollektive, durch Widerstand und Handlungsmächtigkeit gekennzeichnete Reaktion auf die aktuellen Lebensbedingungen ihrer Klasse aus (vgl. Winter 1999: 178). Während sich kulturanalytische Zugänge zur populären Musik immer größerer Beliebtheit erfreuten, gerieten Musikwissenschaftler, die Geschmacksfragen oder Werturteile am musikalischen Material zu erforschen versuchten, zunehmend unter Ideologieverdacht. Man betrachtete das Instrumentarium der Musikwissenschaft als ideologischen Apparatus, der unter dem Vorwand objektiver Analyse den Zweck erfüllt, die Musik zu evaluieren und zu bewerten (vgl. Regev 1992). John Fiske beurteilte in Understanding Popular Culture (1989) die Disziplin der Ästhetik gar als ein bourgeoises Mittel zur Ausübungen kultureller Hegemonie, mit dem Ziel, die Kulturwirtschaft in ähnlicher Weise zu kontrollieren wie die Finanzwirtschaft (vgl. Fiske 1989: 131; siehe auch v. Appen 2007: 20, 30). Es setzte sich die Denkweise durch, ästhetische Ansätze zur Gänze von der Untersuchung populärer Musik fernzuhalten: „The cultural studies movement conceives of itself as a critique of aesthetics. It construes its history in terms of the need to transcend the limited conception of culture handed down by nineteenthcentury aesthetics. And it formulates its project in terms of the expansion of this conception to include other departments of existence – the political, the economic, the popular – perhaps even ‚the way of life as a whole‘“ (Hunter 1992: 347).
Im Anschluss an die Cultural Studies war die Erforschung populärer Musik zunächst von sozial-, medien- und kommunikationstheoretischen Untersuchungen dominiert. Musikalische Analysen populärer Songs wurden nur vereinzelt vorgenommen und unterstrichen ihre ästhetische Minderwertigkeit nach klassisch-romantischen Kunstmusikmaßstäben (v. Irmer 1959, Binkowski 1962). Erst seit geraumer Zeit zeigt sich ein verstärktes musikanalytisches Interesse an populärer Musik, wobei insbesondere die 2
Im Unterschied zur Kritischen Theorie, bei der eher produkt- und werkorientierte Analysen des Kommunikationsprozesses im Vordergrund standen (vgl. Jacke 2004: 163).
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Einleitung
Beatles sowie die verschiedenen Spielarten des Progressive Rock beliebte Analysegegenstände sind (Mellers 1973, Whiteley 1992, Covach/Boone 1997, Moore 1997 u. 2003, Everett 1999 u. 2001, Reising 2002, Holm-Hudson 2002, McCandless 2010). Diese Ansätze werden jedoch zunehmend dafür kritisiert, dass sie vorwiegend auf klangimmanente Bedeutungszuschreibungen und traditionelle Analyseverfahren beschränkt bleiben, womit ich wieder bei der eingangs angedeuteten Diskussion zu Interpretations- und Analysemöglichkeiten angelangt bin, mit der ich mich in den Kapiteln 2 und 3 näher beschäftigen werde. Davor gilt es aber noch zu reflektieren, was mit dem Begriff ‚populäre Musik‘ zum Ausdruck kommen soll.
1.2 ‚Populäre Musik‘
‚Populäre Musik‘ Für Christofer Jost stellte die Diskussion um den Begriff der populären Musik zu Beginn der 1980er Jahre einen „notwendigen Prozess des Sichtbewusstwerdens über den eigenen Gegenstandsbereich“ (Jost 2012: 9) dar. Heutzutage seien Definitionsversuche jedoch eher „eine Art Pflichtübung“ (ebd.) in der Einleitung einschlägiger Publikationen, die „nicht selten […] mit der Erkenntnis [schließt], dass populäre Musik nicht wirklich auf eine terminologisch knappe und gleichermaßen aussagekräftige Formel zu bringen sei“ (ebd.). Eine eindeutige inhaltliche Bestimmung populärer Musik wird, so viel sei vorweggenommen, auch am Ende dieses Kapitels nicht zu finden sein und ist auch gar nicht beabsichtigt. Es erscheint mir ertragreicher zu hinterfragen, was mit der Verwendung dieses Ausdrucks suggeriert wird und inwieweit es sinnvoll ist, ihm in meinem eigenen Forschungsvorhaben eine derart zentrale Stellung einzuräumen. Warum also gerade die Analyse populärer Musik? Lässt sich mit den Zugangsweisen, die in diesem Buch vorgestellt werden, nur eine bestimmte Art von Musik untersuchen? Im (musik-)wissenschaftlichen Bereich ist der Begriff ‚populäre Musik‘ mittlerweile weit verbreitet. Er findet sich im Titel von Studiengängen, Arbeitskreisen, Professuren, Vorträgen und Publikationen und ruft zweifelsohne gewisse inhaltliche Erwartungen hervor. So wäre der Leser vermutlich einigermaßen überrascht, würde sich eine mit „Die Analyse populärer Musik“ betitelte Studie hauptsächlich mit populärer Musik im Mittelalter oder in Madagaskar beschäftigen. Welche Assoziationen Studienanfänger mit populärer Musik bzw. dem „Sprachungetüm“ (Wicke 1992: 1) Popularmusik verknüpfen, haben Angela Barber-Kersovan (1984) und Helmut Rösing (1996) empirisch zu erfassen versucht (vgl. Rösing 1996: 103-105). Sowohl bei Barber-Kersovan, die in ihrer Befragung auf Studienplatzbewerber im Modell Popularmusik an der Musikhochschule Hamburg Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre fokussierte, als auch bei Rösing, dessen Interesse Musikwissenschafts-Einsteigern an der Universität Hamburg im Jahr 1995 galt, zeigt sich, dass mit populärer Musik vor allem Aspekte wie Aktualität, große Bekanntheit und Beliebtheit, Kommerzialität und Technikbezogenheit bzw. Medienabhängigkeit verbunden wurde. Während bei diesen durchwegs sehr allgemeinen Merkmalen ein befragungsübergreifender Konsens erkennbar ist, so herrschte etwa in Bezug auf
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‚Populäre Musik‘
assoziierte Musikstile und musikstrukturelle Charakteristika (von den Musikhochschülern wurde die rhythmische Komponente, von den Musikwissenschaftlern die Eingängigkeit und Einfachheit betont) nur wenig Einigkeit (vgl. ebd.). Nun sind die Ergebnisse dieser Studien durch die sehr geringen Samplegrößen mit großer Vorsicht zu genießen und lassen keineswegs verallgemeinerbare Aussagen zu. Als empirische „Annäherungsversuche“ (ebd.: 108) bilden sie meines Erachtens dennoch einen gangbaren Einstieg in eine definitorische Auseinandersetzung mit einem Begriff, von dem in wissenschaftstheoretischen Abhandlungen behauptet wird, dass er „im Alltag eine breite Anwendung findet“ (Fuhr 2007: 20) und bei dem „jeder zu wissen [vermeint], was gemeint ist“ (Wicke 1992: 4). In gleicher Weise wie Fuhr äußert sich Richard Middleton gleich zu Beginn seines ‚Popular music‘-Artikels im New Grove Dictionary of Music and Musicians: „Popular music. A term used widely in everyday discourse, generally to refer to types of music that are considered to be of lower value and complexity than art music, and to be readily accessible to large numbers of musically uneducated listeners rather than to an élite“ (Middleton 2001: 128).
Bevor ich im Folgenden einen Querschnitt über theoretische Ansätze zur Bestimmung populärer Musik geben werde, möchte ich vorab zumindest leise Bedenken äußern, dass der Begriff ‚populäre Musik‘ im alltäglichen Sprachgebrauch tatsächlich so verankert ist, wie es Fuhr und Middleton vermuten. So würde heutzutage wohl kaum jemand auf die Frage, welche Musik man denn bevorzugt hört, mit „populäre Musik“ antworten, ebenso wenig wie der Begriff in der Verschlagwortung von Plattenläden oder Onlineportalen auftaucht. Im Laufe der letzten 30 Jahre hat eine Reihe von Autoren versucht, Kriterien festzulegen, die populäre Musik als eigenständiges Phänomen kennzeichnen. Einer der ersten systematisierten Zugänge ist diesbezüglich der von Philip Tagg 1979 vorgeschlagene ‚axiomatic triangle‘ – ein mehrdimensionales System zur Kategorisierung von Popular, Folk und Art Music, das in der nachstehenden Tabelle im Überblick dargestellt ist (vgl. Tagg 2000: 21): Tab. 1: Folk, art and popular music: an axiomatic triangle (nach Tagg 1979 u. 2000). Prod. and transmitted by
Mass distribution
Main mode of storage and distribution
Type of society in which the categ. of music mostly occurs
Written theory and aesthetics
Composer / Author
primarily professionals
usual
recorded sound
industrial
uncommon
nonanonymous
Folk Music
primarily amateurs
unusual
oral transmission
nomadic or agrarian
uncommon / common
anonymous
Art Music
primarily professionals
unusual
musical notation
agrarian or industrial
common
nonanonymous
Popular Music
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Einleitung
Für Tagg erscheint es klar, dass sich populäre Musik in einer Reihe von Aspekten von Volks- und Kunstmusik unterscheidet.3 Er weist allerdings auch darauf hin, dass es durchaus zu Überschneidungen kommen kann und sich sein System keineswegs zur „instant categorisation“ (ebd.: 22) bestimmter Musikstücke eignet. Einen konzeptuell ähnlichen Ansatz wie Tagg verfolgt Andreas Gebesmair (2008). Auch er arbeitet unterschiedliche Dimensionen heraus, die eine Klassifikation von populärer, volkstümlicher und klassischer Musik ermöglichen sollen, wenngleich er noch deutlicher als Tagg hervorhebt, dass die jeweiligen Charakteristika nicht absolut und durch benennbare Grenzen unterscheidbar sind. Vielmehr sieht er die Zuordnungen als Tendenzen, mit denen sich die althergebrachten Kategorien bis zu einem gewissen Grad differenzieren lassen (vgl. ebd.: 44-56): Tab. 2: Dimensionen populärer, volkstümlicher und klassischer Musik (nach Gebesmair 2008).
Populäre Musik Volksmusik Klassische Musik
Produktion
Rezeption
Ästhetik
Industriell, Individualismus, Heteronomie
Masse, Volk, Funktion
Einfachheit, Sound
Vorindustriell, Kollektivismus, Heteronomie
Nische, Volk, Funktion
Einfachheit, Struktur (Melodie/Harmonie)
Industriell, Individualismus, Autonomie
Nische, Elite, Autonomie
Komplexität, Struktur (Melodie/Harmonie)
Nach der „gängigen Auffassung“ (ebd.: 53) habe populäre Musik 4 also die Tendenz zu „Musik, die mit Blick auf den kommerziellen Erfolg produziert wurde (Heteronomie vs. Autonomie), massenhaft nachgefragt wird (Masse vs. Nische), von Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft präferiert (Volk vs. Elite) und für verschiedenste psycho-physische und soziale Zwecke funktionalisiert wird (Funktion vs. Autonomie)“ (ebd.: 53). In musikalischer Hinsicht tendiere populäre Musik zur Einfachheit, und Sound und Rhythmus nehmen in der Gestaltung einen wichtigeren Stellenwert ein als die melodische und harmonische Struktur (vgl. ebd.: 53-56). Derartige Grenzziehungsmodelle können insofern nützlich sein, wenn sie als erste Orientierungshilfe für die Kontextualisierung eines musikbezogenen Forschungsgegenstands herangezogen werden. Sie geben Hinweise, unter welchen Rahmenbedingungen und mit welchen Absichten ein Musikstück möglicherweise produziert und rezipiert wurde und welche musikalischen Aspekte eventuell von Belang sind. Um den Begriff der populären Musik für die vorliegende Forschungsarbeit zu „operationalisieren“ (ebd.: 40), sind solch weitgefasste kategoriale Gegenüberstellungen jedoch wenig ertragreich. 3 4
„It should be clear […] that popular music may be distinguished from art and folk musik in several ways“ (Tagg 2000: 22). Gebesmair verwendet die Begriffe populäre Musik, Popmusik und Popularmusik synonym (vgl. Gebesmair 2008: 42, Anm.).
‚Populäre Musik‘
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Denn würde man Philip Taggs definitorische Schlussfolgerung, nach der populäre Musik schlicht nicht Kunst- oder Volksmusik ist (vgl. Tagg 2000: 20), zum Programm machen, so würde dies bedeuten, dass sich die jeweils ‚andere‘ Musik mit dem angestrebten Analyseinstrumentarium nicht untersuchen ließe. Frans Birrer (1985) unterscheidet ganz allgemein zwischen vier Definitionstypen für populäre Musik. Neben negativen Definitionen, in denen populäre Musik wie etwa bei Tagg als „Sammelbecken für jene Musikrichtungen [fungiert], die etablierten Begriffen wie Kunst- oder Volksmusik nicht zugeschlagen werden können“ (Rösing 1996: 99), nennt Birrer ebenso normative, soziologische und technologisch-ökonomische Definitionen als gebräuchlich (siehe auch Middleton 1990: 3-7 u. Fuhr 2007: 21). Helmut Rösing ergänzt diese Auflistung um musikbezogene, hörerorientierte und interessenbezogene Definitionsansätze (vgl. Rösing 1996: 99). Wie weiter oben bereits dargelegt wurde, sind normative, den geringen Wert populärer Musik hervorhebende Klassifizierungsversuche historisch stark verwurzelt. Nach Peter Wicke (1992) bringt schon alleine das Voranstellen des qualifizierenden Adjektivs ‚populär‘ eine Subordination zu einem unzulässig generalisierten Musikbegriff, der in erster Linie die europäische Kunstmusik meint, zum Ausdruck und suggeriert die „Deklassierung des Gemeinten zu etwas Zweitrangigem, dem vermeintlichen Wesen der Musik Entfremdeten“ (Wicke 1992: 1-2). Populäre Musik wird, so Wicke in Bezug auf einen Definitionsansatz von Flender/Rauhe (1989) weiter, „auf die Bestimmungsstücke industrielle Massenfabrikation, körperlicher Reizstimulation, Mythenproduktion und Synthetisierung von authentischen, ‚ethnischen‘ mit ‚trivialen‘ europäischen Musiktraditionen reduziert“, sonach „schon vom Ansatz her ausgeschlossen [wird], daß diese Musikpraxis auf eine ihr eigene Weise kulturelle Bedeutungen und Werte sowie reale soziale Erfahrungen produziert“ (ebd.). Als Musikwissenschaftler und leidenschaftlicher Hörer auch ‚nicht-artifizieller‘ Musik könnte man nun leicht in Versuchung geraten, den musikanalytischen Gegenbeweis antreten und zeigen zu wollen, dass das Klingende in populärer Musik nicht per se banal, vorverdaut oder schematisiert ist, sondern ebenso eigenständig, anspruchsvoll und komplex sein kann wie die als ästhetisch wertvoll geadelten (Kunst-)Werke des Barock oder der Wiener Klassik. Das Ziel musikalischer Analysen wäre demnach die Aufwertung von bislang als minderwertig betrachteter Musik, die zum Teil unter dem Sammelbegriff ‚populäre Musik‘ zusammengefasst ist, und das angestrebte Analyseinstrumentarium käme einem Kriterienkatalog zur objektiven Bestimmung der musikalischen Qualitäten gleich. Diese Kriterien könnten einerseits an den etablierten Kunstmusikmaßstäben orientiert sein und das Instrumentarium dergestalt zum Nachweis eingesetzt werden, dass etwa die harmonische Gestaltung in Billy Joels New York State of Mind (1976) „eine Nähe zu klassischen Vorbildern [aufweist]“ (Schönberger 2006: 117, Anm.) und demnach „als ‚strukturell‘ interessant gelten darf“ (ebd.: 1). Andererseits wären auch alternative Kriterien denkbar, mit denen vermeintlich adäquater beurteilt werden könnte, ob es sich um einen ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ gemachten Song handelt und die sich bspw.
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Einleitung
auf die technische Elaboriertheit der Produktion, den gezielten Einsatz rhythmischer Nuancen, den Innovationsgrad o.Ä. beziehen. Abgesehen davon, dass die Beurteilungskriterien in beiden Fällen beliebig blieben und sich der Analysierende auf unzulässige Weise in den Rang eines musikalischen Universalexperten erhöhen würde, sorgen bewertende Zugänge keineswegs für definitorische Klarheit. Denn selbst wenn sich in stichhaltiger Form objektiv zwischen ‚einfacher‘ und ‚komplexer‘, ‚anspruchsloser‘ und ‚anspruchsvoller‘ oder ‚kommerzieller‘ und ‚authentischer‘ populärer Musik unterscheiden ließe, so würde dadurch der Begriff selbst nicht erklärt werden. Ober aber man würde jene Musik, die als hochwertig erkannt wird, von dem Attribut des Populären lösen und sie eigens als eine Art ‚zeitgenössische Kunstmusik‘, kategorisieren. André Doehring (2012) weist darauf hin, dass eine derartige Kanonisierung ausgewählter Künstler durchaus charakteristisch für die Popularmusikforschung ist (insbesondere für die deutschsprachige): „Dasjenige Repertoire wird behandelt, das man kennt und – in aller Regel – auch wertschätzt. Sehr wahrscheinlich ist diese Fokussierung mit der beginnenden Institutionalisierung der deutschsprachigen Popularmusikforschung in den 1980er Jahren zu sehen. Hier bemühte sich eine (auch) mit Rockmusik sozialisierte Generation von Musikwissenschaftlern, das neue Forschungsgebiet methodisch zu etablieren, indem sie an den gewählten Stücken der Beatles oder des Progressive Rock das legitimierte und legitimierende Handwerkszeug der Analyse anwandten […]“ (Doehring 2012: Anm. 24).
Als Folge hiervon werde die Musik anderer, geringer geschätzter Stilbereiche kaum untersucht, was auch Martin Pfleiderer (2009) anmerkt: „Zumeist wird ein Teil der populären Musik, z.B. Progressive Rock, moderner Jazz oder avancierte elektronische Clubmusik, verteidigt, jedoch um den Preis einer zum Teil vehementen Abwertung und Ausgrenzung anderer Bereiche der populären Musik, z.B. Teenie-Pop, Dixieland oder Techno“ (Pfleiderer 2009: 4-5).
Anstatt wertungsbezogen vorzugehen, erscheint es auf den ersten Blick vielversprechender und auch objektiver, über quantitative Maßstäbe zu bestimmen, welche Musik populär und welche nicht populär ist. So legt schließlich die Etymologie des Popularitätsbegriffes diesen Zugang nahe: „populär: beim Volk, bei der großen Masse, bei sehr vielen bekannt und beliebt; volkstümlich“ (Duden 2013). „Popularity (Lat. populus = the people; popularis = of, belonging to, or involving the whole people or a majority of it)“ (Heuger 1997: 1).
Es stellt sich jedoch umgehend die Frage, an welchen Aspekten sich massenhafte Beliebtheit ablesen ließe und wo die Grenzen zu ziehen wären. An superlativen Verkaufszahlen gemessen sind mit Stand 2014 die Beatles, Elton John, Michael Jackson, die Rolling Stones oder Katy Perry wohl zweifelsfrei ‚populäre‘ Musik. Die Beatles haben
‚Populäre Musik‘
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weltweit die meisten Tonträger verkauft5, Elton John zeichnet sich für die meistverkaufte Single6, Michael Jackson für das meistverkaufte Album7 verantwortlich, die Rolling Stones führten die nach Besucherzahlen erfolgreichste Tournee durch8, während Katy Perry in der Liste der meistverkauften digitalen Downloads an oberster Stelle steht9. Geht man nach der Beliebtheit in sozialen Netzwerken, so sind im Juli 2014 der südkoreanische Sänger PSY (YouTube-Views)10 sowie Shakira (Facebook-Likes)11 Paradebeispiele für populäre Musiker. Doch ab welchen Verkaufszahlen und Chartplatzierungen (Singles, Alben, Downloads?), ab wie vielen Konzertbesuchern, Radio-Airplays, YouTube-Views, Facebook-Likes o.Ä. ist der Status des Populären generell erreicht? Es gälte zu definieren, ob ein Künstler längerfristig oder wiederholt in den Charts vertreten sein muss oder ein One-Hit-Wonder nach einiger Zeit nicht mehr zur populären Musik zählt, ob ein globaler Verkaufserfolg notwendig ist oder lokale Topplatzierungen ausreichen und welche Art von Charts (allgemeine, genrebezogene) berücksichtigt werden. Abgesehen von der eher statistischen Frage, was überhaupt gemessen werden sollte und wie sich diese Zahlen interpretieren ließen, beinhalten technologisch-ökonomische Definitionsansätze, „bei denen massenmediale Verbreitung und massenhafter Umsatz […] im Vordergrund stehen“ (Rösing 1996: 99), die grundsätzliche Einschränkung, dass Musik in erster Linie als Ware betrachtet wird. Richard Middleton (1990) bezeichnet solche Zugänge (siehe bspw. Blacking 1981: 13 oder Hamm 1982: 5) als „positivist“ (Middleton 1990: 5) und kritisiert die mangelnde Unterscheidung zwischen „availability“ und „acceptance“ (ebd.). Welche Rolle die Musik im Alltag der Menschen spielt und ob sie tatsächlich gemocht wird, gehe aus der Messung von Verkaufszahlen oder Radiound TV-Airplays, deren Objektivität zudem angezweifelt wird (siehe hierzu Wicke 1992: 11), nicht hervor: „At best, positivist approaches measure not ‚popularity‘ but ‚sales‘“ (ebd.: 6).
Ebenso ist das Kriterium der massenmedialen Verbreitung als zentrales Merkmal von populärer Musik heutzutage kaum mehr zulässig. Einerseits können „prinzipiell alle Formen der Musik […] durch kulturindustrielle Mechanismen Warencharakter erhalten“ (Fuhr 2007: 22), andererseits bieten insbesondere die kollaborativen Elemente des Web 2.0 Möglichkeiten, auch abseits der traditionellen Kanäle der Massenmedien zu breiter Öffentlichkeit zu gelangen. 5 6 7 8 9 10 11
http://www.submeg.com/2011/04/25/highest-selling-artists-of-all-time [03.08.2014]. http://www.everyhit.com/bestsellingsingles.html [03.08.2014]. http://www.toptens.com/music-albums-worldwide [03.08.2014]. http://www.toptenz.net/top-10-most-successful-music-tours.php [03.08.2014]. http://www.riaa.com/goldandplatinum.php?content_selector=top-artists-digital-singles [03.08.2014]. http://readwrite.com/2012/09/02/top_10_youtube_videos_of_all_time [03.08.2014]. http://www.telegraph.co.uk/culture/music/music-news/10980031/Shakira-becomes-the-mostpopular-person-ever-on-Facebook.html [03.08.2014].
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Einleitung
Wird populäre Musik nicht über quantitative Aspekte, sondern anhand der sozialen Zugehörigkeit ihrer Hörerschaft definiert, so spricht Middleton von „sociological essentialism“ (Middleton 1990: 5). Diesen Zugängen liegt die Annahme zugrunde, dass Musikpraxis und Sozialstruktur in einem direkten Zusammenhang stehen. Gemäß des lateinischen ‚populus‘ finde in populärer Musik demnach vor allem das Volk seinen Ausdruck bzw., wie Wicke in Bezug auf Dave Harker (1980) anmerkt, als größte soziale Gruppe die Arbeiterklasse (vgl. Wicke 1992). Für Gebesmair tendiert die Elite hingegen „allen Statistiken zufolge“ (Gebesmair 2008: 51), wenn auch in Anlehnung an die ‚Allesfresserei‘-Theorie von Richard A. Peterson (1992) nicht mehr ausschließlich, zu klassischer Musik und populärer Musik höherer Komplexität. Diese Teilung sei durch Unterschiede in der Bildung, den ökonomischen Verhältnissen und den damit einhergehenden Zugangsmöglichkeiten zu Musik begründbar (vgl. ebd.). Wie in weiterer Folge noch ersichtlich wird, ist Gebesmair insofern beizupflichten, dass sozioökonomische Faktoren in der Untersuchung musikalischer Vorlieben Berücksichtigung finden sollten. Dass das musikalische Feld und die soziale Klassenstruktur jedoch nicht aufeinander reduziert werden können, macht Middleton (1990) deutlich: „[...] musical types and practices, even those of the minority sort, can never be wholly contained by particular social contexts. [...] the musical field and the class structure at any given moment, though clearly not unconnected, comprise different ‚maps‘ of social/cultural space, and they cannot be reduced one to the other (see Williams 1981)“ (Middleton 1990: 4).
Ganz ähnlich verhält es sich mit Definitionsversuchen, bei denen populäre Musik in erster Linie als jugendspezifisches Phänomen gefasst wird. Dies geht einher mit einem starken Forschungsfokus auf die populäre westliche Musik seit dem Ende des zweiten Weltkriegs, bei dem das Begriffspaar Pop-/Rockmusik nach wie vor eine zentrale Stellung einnimmt. Exponierte Veröffentlichungen zur Geschichte der populären Musik des 20. Jahrhunderts vermitteln, so Christofer Jost am Beispiel des von Peter Wicke herausgegebenen Bands Rock- und Popmusik (Wicke 2001), zum Teil schon durch ihre Titelgebung den Eindruck, „dass sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine Art Zeitenwende von der populären Musik zur Pop- und Rockmusik vollzogen haben muss“ (Jost 2012: 13). Im Artikel Popmusik des Lexikons Musik in Geschichte und Gegenwart (1997) weist Wicke darauf hin, dass der Begriff Popmusik, als Kurzform des Englischen ‚Popular Music‘, in den 1950er Jahren von amerikanischen Musikzeitschriften eingeführt wurde und als Abgrenzung zu den damals neu entstandenen Formen des Rock’n’Roll diente. Der Begriff stand für die vom Swing der 30er Jahre geprägten Lieder und Balladen, wie etwa von Frank Sinatra, Bing Crosby oder Perry Como, und sein vorrangiger Zweck war die Trennung des Musikgeschmacks Erwachsener und der von ihnen kontrollierten Musikpraxis von derjenigen Jugendlicher (vgl. Wicke 1997: Sp. 1693). Rock’n’Roll bzw. Rockmusik war nicht alleine eine neue musikalische Spielart, sondern ebenso eine Widerspiegelung „gesellschaftlicher Umwälzungen“ (Kneif 1979: 73). Die Jugendlichen konnten mit Rockmusik ihre „Bedürfnisse, sozialen Erfahrungen, geistigen und kulturellen Ansprüche“ (Wicke 2001: 437) zum Ausdruck bringen, wodurch das jugendliche
‚Populäre Musik‘
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Rezeptionsverhalten zunehmend an musikbezogene Handlungen gekoppelt wurde (vgl. Jost 2012: 15). Die Frage, inwieweit das Bedürfnis nach Abgrenzung auch heute noch jene tragende Rolle wie in der Nachkriegszeit einnimmt und Rockmusik eine ähnliche „subversive Kraft“ (Bennett 2000: 39) wie damals hat, gilt es im Einzelfall zu überprüfen. Es bleibt jedoch insgesamt festzustellen, dass der polare Bezug zwischen Pop- und Rockmusik nicht zuletzt durch den wachsenden Einfluss der Musikindustrie und den durch Zielgruppenmarketing vorangetriebenen Stilpluralismus weitestgehend verloren ging. Spätestens mit der Einführung von MTV in den 1980er Jahren sind mit dem Begriff Popmusik, so Wicke, all jene Musikformen gemeint, die eine jugendliche Konsumentenavantgarde ins Zentrum von Individualität und Identität stellen (unabhängig von bestimmten musikalischen Stilistiken) (vgl. Wicke 1997: Sp. 1693). Diese unter kommerziellen Blickpunkten konstruierte Verbindung zwischen Jugend und Popmusik möge durchaus zutreffen, wenngleich, wie auch Jost anführt, sowohl die Musikschaffenden als auch die Hörer mittlerweile häufig dem Jugendalter entwachsen sind (vgl. Jost 2012: 15). Als zentrales Charakteristikum populärer Musik ist der direkte Bezug zu einer bestimmten Altersgruppe – gleichermaßen wie zu bestimmten Formen der (medialen) Verbreitung, bestimmten Rezeptionsweisen o.Ä. – generell allerdings nicht haltbar, denn letztendlich bilden auch die unter den Begriffen Pop- und Rockmusik zusammengefassten Phänomene nur einen spezifischen Teilbereich populärer Musik ab. Dass der Begriff der populären Musik durch die große mediale und (popular-) wissenschaftliche Aufmerksamkeit für gewisse Spielarten populärer Gegenwartsmusik mit eben jenen vorrangig assoziiert wird, ist für die thematische Schwerpunktlegung in der vorliegenden Arbeit freilich nicht unerheblich. Aus einem definitorischen Blickwinkel sehe ich populäre Musik nichtsdestotrotz umfassenderer, denn, so Rösing: „Quantitativ, qualitativ und/oder normativ ausgerichtete Definitionen vermögen zwar aufschlußreiche Definitionspartikel zu vermitteln, greifen aber allesamt zu kurz angesichts eines Begriffes, dessen Qualität in seiner Vieldimensionalität liegt. Stockhausens ‚Gesang der Jünglinge‘ z.B. war für die wenigen Freunde zeitgenössischer elektronischer Musik zu Beginn der 60er Jahre ein Hit und damit weit ‚populärer‘ als Gottfried Michael Königs ‚Funktion Grün‘ […]“ (Rösing 1996: 108).
Oder wie Wicke es vereinfacht ausdrückt: „[…] ist nicht jede Musik für irgend jemand populär? […]“ (Wicke 1992: 5).
Zusammenfassend sind jedwede Ansätze, die populäre Musik inhaltlich festzulegen versuchen, für mein Vorhaben wenig zielführend, da sie damit zwangsläufig jene Musik ausschließen, die den gewählten Kriterien nicht entspricht. Den Gedankengängen Rösings und Wickes folgend, ist schließlich auch jene Musik, die nur zehn Menschen höheren Alters anspricht, medial nicht präsent ist und die nicht in erster Linie zu Unterhaltungszwecken gehört wird, durchaus als populär zu bezeichnen.
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Einleitung
Relevant für meine musikanalytisch orientierte Studie ist also nicht die Frage „Was ist populäre Musik?“, sondern „Warum ist bestimmte Musik bei bestimmten Menschen populär?“. Warum ich die Beifügung ‚populär’ überhaupt verwende, und nicht etwa ein terminologisch weniger vorbelastetes Adjektiv wie z.B. ‚beliebt‘, liegt darin begründet, dass der Begriff der populären Musik Ausdruck eines veränderten, sensibilisierteren wissenschaftlichen Umgangs mit Musik ist. Hierzu wieder Rösing: „‚Populäre Musik‘ und ‚Popularmusik‘ stehen als Chiffren für eine bestimmte Musikanschauung. Musik ist hierbei nicht, wie in traditioneller Forschung, Gegenstandsbereich bzw. Objekt, sondern […] das, was sie im Kontext konkreter Handlungen für alle diejenigen Personen bedeutet, die – auf welche Weise auch immer – in den Handlungsrahmen einbezogen sind“ (Rösing 1996: 109).
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Ansätze zur Interpretation
Ansätze zur Interpretation
Wie im Einleitungskapitel angedeutet, entwickelte sich mit dem Aufkommen der Cultural Studies Ende der 1960er Jahre eine spezifische wissenschaftliche Perspektive auf populäre Musik. Nicht das Klingende selbst steht seither im Interessenzentrum, sondern die Frage, wie mit populärer Musik als gesellschaftlichem Phänomen zu verfahren ist. Anstelle die „nach kompositionstechnischen Methoden analysierbare [musikalische] Struktur“ (Fuhr 2008: 16) zu untersuchen, gilt der Fokus den „kulturellen und sozialen Eigenheiten der Musikrezeption […] oder den technologischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Produktion populärer Musik“ (Pfleiderer 2009: 1). Diese Dominanz kulturanalytischer Zugänge veranlasste Autoren wie Richard Middleton, Allan F. Moore, Robert Walser/Susan Mclary, Simon Frith oder Peter Wicke Anfang der 1990er Jahre dazu, eine grundlegende Debatte über den Erkenntnisgewinn durch musikalische Analysen populärer Musik zu eröffnen. Bevor also Überlegungen dazu angestellt werden, mit welchen Werkzeugen sich das Klingende untersuchen bzw. beschreiben und darstellen lässt, gilt es zunächst der Frage nachzugehen, aus welchem Blickwinkel dies geschehen soll. Inwieweit lassen sich durch die Untersuchung des Klingenden Rückschlüsse darauf ziehen, warum es für bestimmte Menschen populär und damit wohl in irgendeiner Form bedeutsam ist? Was bedeutet ‚musikalische Bedeutung‘ überhaupt? Die Frage nach der Definition von musikalischer Bedeutung ist vielumstritten und wird von Vertretern unterschiedlichster Fachrichtungen thematisiert (bspw. Meyer 1956, Cooke 1959, Coker 1972, Nattiez 1990, Cumming 2000, Kivy 2002, Kramer 2002, Zbikowsi 2002, Moore 2012 usf.). Aniruddh D. Patel macht deutlich, dass ein Konsens zwischen diesen Zugängen nicht erkennbar ist und spricht von einer konzeptuellen Achse, die von sehr spezifischen zu sehr allgemeinen Definitionsansätzen reicht. Für den Philosophen Peter Kivy (2002) etwa kann Musik zwar eine logische Syntax haben und Emotion ausdrücken, da Musik alleine jedoch, ungleich zur Sprache, nicht direkt etwas repräsentiert, ist sie bedeutungslos. Er sieht die Frage nach musikalischer Bedeutung als „category error“ an, ähnlich der Frage, ob sich ein Stein als tot bezeichnen lässt. Denn das Konzept des Todes sei nur auf Dinge anwendbar, die zuvor gelebt haben (vgl. Patel 2008: 304). Der Musiktheoretiker und Ethnomusikologe Jean-Jacques Nattiez spricht sich hingegen für eine umfassendere, von Eigenheiten der Sprache abgelöste Begriffsverwendung aus. Nach Nattiez ist ein Objekt oder Event dann bedeutsam, wenn es in dem Wahrnehmenden etwas hervorruft, das über die bloße Wahrnehmung des Objekts oder Events hinausgeht (vgl. Nattiez 1990 in ebd.). Diesem Ansatz folgend, sind musikalische Bedeutungen im Klingenden nicht festgeschrieben und selbst der Komponist könnte kaum beeinflussen, welche Bedeutungen es für die Hörer und deren
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Ansätze zur Interpretation
unterschiedliche Rezeptions- und Interpretationsweisen hat. So auch Roland Barthes und Dietrich Helms: „The text’s unity lies not in its origin but in its destination … the birth of the reader must be at the cost of the death of the author“ (Barthes 1977: 148 in Shave 2008: 1). „Der Diskurs der populären Musik bevorzugt eine Rezeptionsästhetik, Bedeutungen – einschließlich aller Funktionalisierungen – werden an die Musik herangetragen, nicht aus ihr hinausinterpretiert. Ein Stück wird angeeignet und in Übereinstimmung mit der aktuellen Lebenssituation gebracht“ (Helms 2002: 102).
Patel verortet in seiner Brief Taxonomy of Musical Meaning (2008) ganz allgemein elf verschiedene Arten musikalischer Bedeutung, mit denen sich Musikforscher bislang auseinandergesetzt haben. Diese Auflistung reicht von Untersuchungen im Hinblick auf strukturelle Zusammenhänge zwischen musikalischen Elementen, auf emotionale und motionale Aspekte der Musikwahrnehmung, auf soziale und lebenserfahrungsbezogene Assoziationen bis hin zur Verknüpfung von musikalischen Strukturen und kulturellen Konzepten (siehe hierzu im Detail Patel 2008: 305-326). Für Allan F. Moore steht zunächst nicht der Bedeutungsbegriff selbst im Vordergrund, sondern die Frage, auf welchen Ebenen Musik interpretiert werden kann. Er unterscheidet diesbezüglich zwischen ‚first-‘, ‚second-‘ und ‚third-order interpretation‘. Basiert die Interpretation direkt auf dem Hören eines Musikstücks, so handle es sich um eine first-order interpretation. Bildet ein Musikvideo oder die Einschätzung eines Zweiten (Journalist, Wissenschaftler o.Ä.) die Grundlage der Interpretation, so spricht Moore von einer second-order interpretation. Eine third-order interpretation sei z.B. dann gegeben, wenn jemanden Anderes Auslegung eines Musikvideos interpretiert wird (vgl. Moore 2012: 164-165). Obgleich Moore deutlich macht, dass keine dieser drei Interpretationsebenen ‚falsch‘ wäre, so erscheint es ihm doch wichtig darauf hinzuweisen, dass sich insbesondere letztgenannte nicht auf das Musikstück selbst beziehen würde: „Of course there is nothing wrong with such an interpretation, unless you mistakenly believe you are interpreting the track directly“ (Moore 2012: 165). „Are you responding directly to the track or to some discourse surrounding it?“ (ebd. 164).
In Anlehnung an seine früheren Werke, im Speziellen Rock: The Primary Text (2001), bleibt Moore also weitgehend bei der Ansicht, es müsse beim Interpretieren zwischen einem primären Text, der durch das Klingende selbst hervorgebracht wird, und einem sekundären Text, der durch die Kommunikation über das Klingende entsteht, unterschieden werden (vgl. Moore 2001: 1). Ob eine solche Unterscheidung für mein Vorhaben sinnvoll ist und der Textbegriff im Zusammenhang mit Musik generell verwendet werden sollte, gilt es im Folgenden zu diskutieren. Ich werde mich der Frage um gewinnbringende Interpretationszugänge nun schrittweise annähern und hierfür einen Bogen von wertenden, vergleichenden, referentiellen, soziologischen, psychologischen und neueren ästhetischen Überlegungen spannen.
Wertende Zugänge
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2.1 Wertende Zugänge
Wertende Zugänge Unter einem wertenden Zugang verstehe ich eine Herangehensweise, die auf das Beurteilen musikalischer Qualitäten abzielt. Derlei Untersuchungen können unterschiedliche Motivationen zugrunde liegen, beginnend bei musikästhetisch orientierten Ansätzen in der Tradition von Eduard Hanslick oder Hans Heinrich Eggebrecht. Wie weiter oben schon dargelegt, geht es hierbei um den Nachweis einer „ästhetischen Kohärenz klanglicher Gebilde“ (Pfleiderer 2008: 156), der zumeist durch das Aufzeigen von musikstrukturellen Zusammenhängen erbracht wird. Anne Danielsen spricht diesbezüglich von einer Ideologie der „absolutist aesthetics“ (Danielsen 2008: 26), die sie als dominierend innerhalb der traditionellen Musikwissenschaft ansieht (vgl. ebd.). Zugänge dieser Art sind im Normalfall auf das Tun bzw. das Können des Komponisten ausgerichtet und es werden unter Verweis auf „mehr oder weniger formalisierte musiktheoretische Systeme“ (Pfleiderer 2008: 156) Aussagen darüber gemacht, ob der Komponist gewisse Regeln befolgt, ‚kunstvoll‘ erweitert oder bewusst gebrochen hat. In ähnlicher Weise agieren letztendlich auch Musikjournalisten und Hörer, wenn sie auf musikalischem Wege zu begründen versuchen, inwieweit ein Song oder Album gelungen ist und die Fähigkeiten der Musiker oder Produzenten zur Diskussion stellen (unabhängig davon, dass die Bewertungskriterien vermutlich häufig andere sind als in der traditionellen Musikwissenschaft – dies soll aber erst an späterer Stelle genauer behandelt werden). Ich werde im Verlauf dieser Arbeit grundsätzlich davon absehen, mich in irgendeiner Form wertend über die behandelten Musiken zu äußern. Dass ein gewisses Maß an subjektiver Einfärbung nicht zu vermeiden ist, und meine musikalischen Präferenzen für die Auswahl des Analysebeispiels nicht unerheblich waren, wird in Kapitel 5 thematisiert.
2.2 Vergleichende Ansätze
Vergleichende Ansätze Als vergleichend ordne ich jene Ansätze ein, deren Fokus auf dem Erarbeiten von musikalischen Gemeinsamkeiten oder Unterschieden liegt. Am weitreichendsten sind in diesem Zusammenhang Ansätze, die nach universellen Eigenschaften von Musik fragen. Die Grundannahme ist hierbei, dass es musikalische Merkmale gibt, die kulturunabhängig auf die gleiche Weise wahrgenommen und verarbeitet werden. Für kritische Betrachter wie Franz Födermayr lassen sich solcherart Universalien auf der „Oberfläche des real Erklingenden“ nicht finden. Es gebe jedoch biogene, soziogene und syntaktische Grundprinzipien, „welche gewisse Tiefenstrukturen von Musik bestimmen und Verwendungszusammenhänge und Funktionen von Musik erklären können“ (Födermayr 1998: 11). „Die Physik des Schalls, die Signalverarbeitungscharakteristik des Gehörorgans und grundlegende Verhaltensweisen des Menschen als Mitglied eines sozialen Verbandes sind keine Determinanten
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Ansätze zur Interpretation im strengen Sinn, sondern ein Grenzen absteckendes Netzwerk interdependenter Faktoren. Sie lassen dem musizierenden Menschen einen großen Freiraum bei der Gestaltung von Musik offen. Darum erscheint es sinnvoller, zunächst die Suche nach den jeweiligen Gründen für die Auswahl bestimmter Grundprinzipien und deren Umsetzung in konkrete musikalische Gebilde in den Vordergrund zu stellen“ (ebd.).
Födermayrs Ausführungen lassen sich dahingehend interpretieren, dass bspw. nicht danach gefragt werden sollte, ob ein Akkord auf der siebten Stufe generell nach Auflösung verlangt, sondern warum das Konzept von Spannung und Auflösung in der untersuchten Musik überhaupt eingesetzt wird. Im zweiten Schritt gälte es dann analytisch nachzuvollziehen, welche Gestaltungsmittel verwendet wurden, um diese Wirkung zu erzielen. Hierfür wäre allerdings ein grundlegendes Umdenken in der methodischen und analytischen Herangehensweise erforderlich (siehe Kapitel 3). Anstatt universellen musikalischen Merkmalen nachzugehen, verfolgen eine Vielzahl von musikzentrierten Forschungen das Ziel, Gemeinsamkeiten oder Unterschiede von bestimmten Musiken aufzuzeigen. Im Bezug auf populäre westliche Nachkriegsmusik steht dabei nicht selten die Frage im Vordergrund, ob kommerziell erfolgreiche Songs durch gleichartige musikalische Charakteristika gekennzeichnet sind. Veröffentlichungen zu dieser Thematik werden häufig mit dem Ansinnen verfasst, Regelhaftigkeiten oder ‚Hit-Formeln‘ zu entschlüsseln und pädagogisch aufzubereiten und richten sich dergestalt eher an angehende oder praktizierende Komponisten/Songwriter, als dass sie einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn anstreben (siehe z.B. Fritsch 1996, Perricone 2000, Tucker 2003, Kramarz 2006, Leikin 2008). Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Frank Riedemann, der in seiner Arbeit auf den musik- und textimmanenten Vergleich von Hits und Non-Hits aus dem Bereich neuerer Popmusik abzielt.1 Auf Grundlage von 57 erfolgreichen Titeln aus den deutschen Single-Jahrescharts von 2000 bis 2005 legt Riedemann eine Reihe von Rahmenvariablen fest, die Aussagen zur Hit-Kompabilität eines Songs liefern sollen. Seine Forschungen sind u.a. deswegen erwähnenswert, da er seine Analysen teilautomatisiert, mittels der eigens entwickelten Software Essencer, durchführt (vgl. Riedemann 2012). Computergestützte Verfahren zur Merkmalsextraktion kommen ansonsten meist dort zum Einsatz, wo es um das automatische Klassifizieren von Audioaufnahmen und deren Zuordnung zu Künstlern oder Genres geht (vgl. Abeßer/Lukashevich 2010). Derartige Technologien, die der Forschungsrichtung MIR (Music Information Retrieval) zuzurechnen sind, werden in der Regel zu verkaufsfördernden Zwecken entwickelt und auf den Plattformen diverser Musikanbieter eingesetzt. Sie ermöglichen nicht nur das gezielte Suchen in Datenbanken, sondern spielen darüber hinaus auch eine wichtige Rolle bei der personalisierten Generierung von Musikempfehlungen auf Grundlage der vom User konsumierten Musik. Wie Holger Großmann vom Fraunhofer IDMT anmerkt, hängt die Va1
Der Textbegriff bezieht sich bei Riedemann auf den gesungenen bzw. gesprochenen Text im Sinne des englischen ‚Lyrics‘.
Vergleichende Ansätze
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lidität dieser Automationssysteme stark von der Expertise von Musikwissenschaftlern ab (vgl. Großmann 2010), die solche Verfahren zum Teil kritisch betrachten und auf Fehler und Willkürlichkeiten in der Merkmalsextraktion und den Kategorisierungskriterien aufmerksam machen (siehe Tzanetakis et al. 2001, Aucouturier/Pachet 2003, Burred/Lerch 2003; zu aktuellen Fortschritten im Bereich MIR siehe bspw. Ras/ Wieczorkowska 2010, Lerch 2012). Musikwissenschaftliche Untersuchungen, in denen ein größeres Pop-/Rockmusikrepertoire analysiert und nach dem „stilistisch Verallgemeinerbaren“ (Elflein 2010: 9) gesucht wird, finden sich jedoch eher selten. Walter Everett konzentriert sich in seiner Arbeit The Foundations of Rock: From „Blue Suede Shoes“ to „Suite: Judy Blues Eyes“ (2009) auf Merkmale von knapp 300 Aufnahmen aus dem Zeitraum 1955 bis 1970. Sein Interesse gilt Aspekten wie instrumenten-/stimmenspezifisches Timbre, Melodie, Harmonie, Rhythmus, Form, Instrumentierung und Produktionsweisen eines relativ breitgefächerten Songspektrums (zur Kritik an der Nachvollziehbarkeit der Auswahl siehe Moore 2011: 2). Dirk Budde ist in Take Three Chords… Punkrock und die Entwicklung zum American Hardcore (1997) bestrebt, musikalische Charakteristika von (UK-)Punk und Hardcore aufzuzeigen. Auf Grundlage der Analyse spezifischer Bands, die Budde nach eigener Einschätzung als relevant für die Entwicklung der jeweiligen Phänomene ansieht (vgl. Budde 1997: 51), filtert er eine Reihe von stilbildenden Kriterien heraus und fasst diese in Listen zusammen. Er unterscheidet hierbei zwischen der Gestaltung des „linearen Verlaufs“ und der „vertikalen Ebene (Sound)“ (ebd.: 84). Dietmar Elfleins umfangreichen Form-, Rhythmus- und Ensemblespielanalysen von Heavy Metal-Aufnahmen liegt die Motivation einer „Beschreibung der musikalischen Sprachen eines Popularmusikstils“ (Elflein 2010: 10) zugrunde. Die Auswahl der untersuchten Daten und die verallgemeinerbare Relevanz seiner Forschungsergebnisse fundiert Elflein durch theoretische Konzepte der Erinnerungsforschung (vgl. ebd.: 12). Einen anderen Ansatz verfolgt Mark J. Butler in seiner Studie Unlocking the Groove: Rhythm, Meter and Musical Design in Electronic Dance Music (2006). Ihm geht es in erster Linie um die Schaffung eines Raums, in dem EDM als Musik diskutiert werden kann und um eine Erklärung, warum dies wichtig ist: „[…] studying the sonic dimensions of electronic dance music can help us understand the specific choices and behaviors that go into its creation and appreciation. As an essential part of the cultural complex in which EDM is embedded, sound deserves scholarly investigation“ (ebd.: 12).
Butler sieht das Klingende und speziell die metrisch-rhythmische Gestaltung als einen von mehreren möglichen Aspekten an, die an EDM geschätzt werden, und legt eine Reihe von Analysen vor, die helfen sollen, diesen Aspekt besser zu verstehen (vgl. ebd.: 11-12). Methodisch orientiert er sich hierbei verstärkt an den EDM-spezifischen Hörund Produktionsweisen, unter deren Bezugnahme er kurze Ausschnitte, gesamte Tracks und auch DJ-Sets mit teils alternativen Analyseinstrumentarien untersucht. Auch Martin Pfleiderer transkribiert und analysiert seine in Rhythmus: Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik (2006) herangezogenen Klangdokumente aus einem
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Ansätze zur Interpretation
erweiterten Blickwinkel, indem er musiktheoretische Konzeptionen mit musikpsychologischen Erkenntnissen verbindet. Pfleiderer, für den „der Grad der Popularität von Musikstücken und Musikstilen unmittelbar mit Aspekten der Rhythmusgestaltung zusammen[hängt]“ (Pfleiderer 2006: 329), konzentriert sich im Rahmen seiner Studie jedoch nicht nur auf eine spezifische Musikrichtung. Mit der Absicht, das „Wechselspiel von Einfachheit und Komplexität […] zu beschreiben“ (ebd.: 330), erforscht und vergleicht er den Rhythmus in der populären Musik Europas und Nordamerikas, im modernen Jazz und in Funk, Reggae, EDM und Rap Music. Einen methodisch traditionelleren und von stilistischen Fragen weitgehend unabhängigen Ansatz verfolgen Ralf von Appen und Markus Frei-Hauenschild in ihrer Auseinandersetzung mit Songformen und deren historischer Entwicklung (siehe v. Appen/ Frei-Hauenschild 2012). Anhand der Analyse von über 2500 größtenteils USamerikanischen Songs aus dem 20. Jahrhundert zeigen sie die Entwicklung der AABAForm, der verschiedenen Verse/Chorus-Formen und weiterer Formbausteine auf. Eines der Ziele ihrer historischen Betrachtung ist es, ein Bewusstsein für die verwendete Terminologie zu schaffen und die „im Umlauf befindlichen Begriffe hinsichtlich ihrer Ursprünge und Wandlungen zu untersuchen“ (ebd.: 57; siehe hierzu auch Kaiser 2011). Auf Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zielende Analysen können auch dann einen Erkenntnisgewinn bringen, wenn sie nicht, wie in den bislang skizzierten Ansätzen, die Charakteristika eines umfangreichen musikalischen Repertoires im Blick haben, sondern einzelne Stücke oder Tonträger individuell verglichen werden. Wortwörtlich gewinnbringend sind derartige Vergleichsuntersuchungen in Urheberrechtsverfahren, bei denen „die Frage nach dem Anteil der eigenschöpferischen Leistung an dem Musikprodukt“ (Rösing 2012: 259) von Belang ist. Für die musikwissenschaftliche Forschung sind diese Prozesse vor allem aus methodischen Gesichtspunkten relevant, da die Beurteilung der Eigenleistung in vielen Fällen ein Analyseinstrumentarium erfordert, das über traditionelle Verfahren hinausreicht. Wird etwa ein Gutachten des musikalischen Gesamteindrucks gefordert, so muss neben Struktur, Rhythmus, Melodie und Harmonie auch die klangliche Ebene, welche die aus Instrumentation und Arrangement resultierende Klangfarbe ebenso beinhaltet wie die elektronische Soundgestaltung, Berücksichtigung finden (vgl. ebd.: 261). Auch in wissenschaftlichen Arbeiten können vergleichende Gegenüberstellungen ein durchaus geeignetes Mittel sein, um auf analytischem Wege zu Erkenntnissen zu gelangen. Eine solche Vorgehensweise, die sich insbesondere bei Forschungen im Zuge des Grundstudiums (z.B. bei Seminar- oder Bachelorarbeiten) häufig anbietet, ist jedoch nur dann ertragreich, wenn durch den analytischen Vergleich etwas gezeigt wird, das über die bloße Deskription musikimmanenter Unterschiede/Gemeinsamkeiten hinausreicht. David Brackett etwa verbindet seine Gegenüberstellung von Billy Holidays und Bing Crosbys Fassung des Songs I’ll be seeing you mit Fragen zur Rezeption musikalischer Codes (vgl. Brackett 2000: 34-58), während er Glen Campbells und Isaac Hayes Aufnahmen von By the Time I Get to Phoenix unter dem Aspekt der genrespezifischen Adressierung kultureller Identitäten analysiert (vgl. Brackett 2005). Rob Bowman verfolgt mit
Vergleichende Ansätze
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dem Vergleich von Bing Crosbys, Aretha Franklins, Sam Cookes und Otis Reddings Versionen des Tin Pan Alley-Songs Try a Little Tenderness das Ansinnen, die jeweils unterschiedliche soziale Bedeutung, die er durch die entsprechenden Performances artikuliert sieht, aufzuzeigen. Hinweise hierzu findet Bowman in der Form-, Harmonie und Melodiegestaltung, im Gesangstimbre und in der instrumentalen Begleitung, die seiner Ansicht nach die Produktionsbedingungen und die Absicht, mit der die Stücke aufgenommen wurden, widerspiegeln (vgl. Bowman 2003).2 Kai-Erik Lothwesen veranschaulicht mittels der Untersuchung von zwei TechnoTiteln aus dem Jahr 1995, in der er das kommerziell erfolgreiche Endless Summer von Scooter mit dem Underground-Stück Moonflux von Black and Brown vergleicht, die Anwendung seines Entwurfs eines musikanalytischen Modells, „das stilistische Merkmale unterscheidet und als Basis einer formalbegrifflichen Kennzeichnung fungiert“ (Lothwesen 1999: 3). Im Gegensatz zum klanglich vielschichtigen und mit rhythmischen Raffinessen gestalteten Moonflux kennzeichnet Endless Summer, so sein Fazit, die einfache Rhythmusstruktur, die wenig variierte Soundebene und die zentrale Position der Sprechstimme. Für Lothwesen wird die Musik hierdurch bewusst einer breiteren Masse zugänglich gemacht, was er als Zeichen der kommerziellen Vereinnahmung der Technobewegung deutet (vgl. ebd.: 9). Die bislang skizzierten Ansätze sollen einen ersten Eindruck vermitteln, auf welch unterschiedliche Weise sich dem Zusammenhang von Klanggeschehen und Popularität nachspüren lässt. So kann bspw. ein nach ökonomischen, stilistischen und/oder historischen Gesichtspunkten abgegrenzter Materialkorpus herangezogen und nach musikalischen Regelhaftigkeiten innerhalb dieses Repertoires gesucht werden (Riedemann, Elflein, v. Appen/Frei-Hauenschild). Solcherart Untersuchungen sind erweiterbar, indem auch Produktions- und Wahrnehmungsspezifika in die Analysen miteinbezogen werden und die Frage nach der aktiven Eingliederung von Musik in den Lebensalltag in den Fokus rückt (Butler, Pfleiderer). Bei den Herangehensweisen von Brackett und Bowman ist hingegen der Gedanken zentral, dass im auf Tonträger festgehaltenen Klanggeschehen gewisse Verweise enthalten sind, die von den Rezipienten potentiell erkannt werden können. Ansätze dieser Art, die nicht unbedingt aus einer vergleichenden Perspektive durchgeführt werden müssen, bezeichne ich im Folgenden als ‚referentiell‘.
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Bowman versteht unter Performance demnach den gesamten Aufnahmeprozess und nicht etwa, wie im deutschen Sprachgebrauch üblich, nur die Aufführung vor einem Publikum (siehe hierzu auch Jost 2012: 42).
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Ansätze zur Interpretation
2.3 Referentielle Ansätze
Referentielle Ansätze Allan F. Moore unterscheidet generell drei verschiedene Arten von Verweisen, die sich in Musik auffinden lassen: „[…] music refers in three fundamentally different ways: within itself; to itself; outside itself“ (Moore 2012: 217).
Hiernach kann untersucht werden, inwieweit die musikalischen Einheiten innerhalb eines Stückes in Beziehung zueinander stehen, ob Bezüge zu anderen Musiken oder den Lyrics erkennbar sind, und, als dritte Möglichkeit, ob die Musik auf etwas referenziert, das außerhalb des Klingenden liegt (vgl. ebd.). Richard Middleton stuft sowohl außermusikalische Konnotationen als auch Verweise auf andere Musikstücke als sekundäre Bedeutungen ein (vgl. Middleton 1990: 232), die ihrerseits auf musikinterne strukturelle Zusammenhänge, den „primary types of signification“ (ebd.: 220) aufbauen. Diese Priorisierung des Klanggeschehens, die auch Moores Interpretationsebenen-Modell nahelegt, gilt als nicht unproblematisch, da hierdurch suggeriert wird, es gäbe Wichtiges und weniger Wichtiges zu verstehen. Solche Zugänge sind retrospektiv durchaus nachvollziehbar und als Versuch einzuordnen, die Stellung des Klanggeschehens in populärer Musik aufzuwerten. Philip Tagg, der populäre Musik als einer der ersten Musikwissenschaftler aus einem semiotischen Blickwinkel betrachtete, sieht insbesondere die von Middleton vorgeschlagenen Termini nichtsdestotrotz kritisch: „[...] I don’t like the terms ‚primary‘ and ‚secondary‘ signification because they suggest a hierarchy where no hierarchical categories are appropriate. I mean, ‚primary‘ should either mean coming first, i.e. that it comes before ‚secondary‘ signification when music is communicating something, or it ought to mean that it comes before ‚secondary‘ signification in a metaphorical sense, i.e. that it is more important. I think that neither of these is true. [...]. So, if, for example, you were to immediately associate a piece of avant-garde music with a load of stupid intellectuals who think they’re God – a social connotation – that would stop you from deriving any tactile or corporeal enjoyment out of that music, if there is any to be had. It’s for this kind of reason that I think it’s very confusing to talk about ‚primary‘ and ‚secondary‘ signification“ (Tagg 1998).
Ähnlich der Debatte, ob es vorrangig die Rahmenbedingungen zu untersuchen gilt, in denen Musik produziert und rezipiert wird, oder doch eher das Klingende selbst, finden auch unter Musikanalytikern seit jeher Diskussionen darüber statt, ob es relevante und weniger relevante musikalische Parameter in populärer Musik gibt. Ich werde mich dieser Frage an späterer Stelle unter kognitionspsychologischer Sicht annähern, nehme aber grundsätzlich davon Abstand, gewisse Aspekte populärer Musik im Vorhinein als primär, sekundär o.ä. sprachlich zu priorisieren. Denn letztendlich, wie auch Tagg andeutet, liegt es im Ermessen des Hörers, was er an seiner präferierten Musik gut findet und ob das Klanggeschehen für ihn überhaupt eine tragende Rolle spielt. Da das Erkennen von Referenzen ein wesentlicher Faktor für die musikalische Wertschätzung sein kann, werde ich nun verschiedene Ansätze vorstellen, die sich mit dieser Thematik auseinan-
Referentielle Ansätze
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dersetzen und mich dabei strukturell (und nicht-hierarchisierend) an Moores Unterscheidung der drei Verweisarten orientieren. Zugänge, die sich mit musikinternen Verweisen beschäftigen, werden an dieser Stelle jedoch ausgeblendet und im musiktheoretischen Kapitel 3 ausführlich behandelt.
Verweise ‚zur Musik‘ Mein Interesse gilt zunächst den Verweisen ‚zur Musik‘, die in der alltäglichen Kommunikation über Musik zweifellos von großer Bedeutung sind. Mit Hilfe von GenreZuordnungen und Vergleichen zu anderen Musikern/Bands („klingt wie ...“) gelingt es häufig auch ohne musiktheoretisches Vokabular nachvollziehbar zu vermitteln, wie eine bestimmte Musik klingt und warum man sie schätzt. Auch Musiker nutzen nicht selten derartige Bezugnahmen, um ihre eigene Musik zu charakterisieren, gleichermaßen wie in der Musikvermarktung hierdurch potentielle Zielgruppen angesprochen werden. Wie Simon Frith in Performing Rites: On the Value of Popular Music (1996) hervorhebt, spielen Kategorisierungen eine zentrale Rolle bei der Organisation populärer Kultur. Nicht nur Musik, ebenso Bücher, Magazine, Videos oder Filme werden Rubriken zugeordnet, mit Hilfe dieser vermarktet und vom Konsumenten (idealerweise) gefunden. Die Allgegenwärtigkeit dieser ‚Labels‘ wird uns erst dann richtig bewusst, so Frith, wenn wir nach einem bestimmten Buch, Magazin oder Video Ausschau halten und es sich nicht am erwarteten Platz befindet (vgl. Frith 1996: 75). Dass die Relevanz kategorialer Aufstellungen in den Regalen von Buch-, Video- oder Plattenläden im Zeitalter digitaler Suchmaschinen für den gezielten Suchprozess mittlerweile abgenommen hat, sei hier nur am Rande bemerkt. Von größerem Interesse ist Friths Standpunkt bezüglich des Stellenwerts, den Genreklassifizierungen und das Thematisieren musikalischer Referenzen bei Werturteilen über Musik einnehmen: „[...] such labeling lies, in practice, at the heart of pop value judgements“ (ebd.).
Für Frith wird populäre Musik in dreierlei Hinsicht durch Genre-Kategorisierungen organisiert: Sie organisieren den Verkaufsprozess, den Prozess des Gestaltens bzw. des Spielens von Musik sowie den Hörprozess. Seit Anbeginn der musikindustriell gesteuerten Verbreitung von Musik werden Genreklassifizierungen als Marketinginstrument eingesetzt. So nutzte der amerikanische Verleger Jerome H. Remick bereits 1907 Bezeichnungen wie ‚ballad‘, ‚cowboy song‘, ‚Irish comic‘ oder ‚march song‘, um Notenhefte populärer Songs zielgerichtet zu verkaufen. Auch in der Tin Pan Alley Ära wurden die Veröffentlichungen nach musikalischen oder lyrischen Aspekten kategorisiert und so den Konsumenten eine Orientierungshilfe beim Finden der gewünschten Spielanweisungen geboten (vgl. Frith 1996: 76). Ob ein Künstler bei einer Plattenfirma unter Vertrag genommen wird, hängt in erster Linie davon ab, inwieweit er einer bestimmten, der Ausrichtung des Labels oder den Erfordernissen des Marktes entsprechenden Sparte zuordenbar ist und demzufolge in
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Ansätze zur Interpretation
dieser als Marke aufgebaut werden kann. Hierauf basieren strategische Entscheidungen bezüglich der zu penetrierenden Zielgruppe, des Erscheinungsbildes, der Produktion und natürlich auch der medialen Kanäle zur Bekanntmachung des Künstlers. Während sich ein neuer Techno-Act in spezialisierten Printmagazinen (Raveline), OnlinePlattformen (Beatport) und elektronischen Musikfestivals (Sonar) positionieren lässt, so müssen bei Mainstream-orientierten Musikern andere Maßnahmen gewählt werden. Die deutsche Sängerin Sarah Connor wurde bspw., wie Tim Renner beschreibt, durch eine umfassende Kampagne im TV-Sender RTL in den Markt eingeführt. Durch ihre Dauerpräsenz in Musik-, Boulevard- und Nachrichtenformaten und dem dadurch erweckten öffentlichen Interesse gelang es, Connor innerhalb kürzester Zeit an die Spitze der Charts heranzuführen und sie als Marke im Segment ‚deutsche Popmusik‘ zu etablieren (vgl. Renner 2004: 180-181). Damit das mediale Zusammenspiel von Plattenfirma, Printmagazinen, OnlinePlattformen, Radio- und TV-Stationen, Konzertveranstaltern und Händlern funktioniert, bedarf es einer „agreed definition“ (Frith 1996: 77) über die verwendeten Genrebezeichnungen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Musikindustrie die einzig maßgebliche Instanz in der Schaffung dieser Klassifikationen ist oder sie unveränderlich und starr abgrenzbar sind. Forscher aus dem Bereich der Cultural Studies wie eben Frith, aber auch DiMaggio (1987), Negus (1999) oder Parzer (2008) sehen Genres vielmehr als ein Resultat von Aushandlungsprozessen, in denen „die MusikrezipientInnen selbst aktiv an der Kreation, der Verwendung sowie der Veränderung von Klassifikationssystemen beteiligt sind“ (Parzer 2008: 131). Plattenfirmen würden demnach eher bereits im Umlauf befindliche Begrifflichkeiten aufgreifen, anstatt sie selbst hervorzubringen: „I can’t think of an example of a musical genre created by a marketing machine, rather than given a hasty definition, like ‚world music‘, after its loose characteristics had already emerged through new consumer alliances“ (Frith 1996: 85; im Original in Klammern).
Genres oder Subgenres entstehen nicht selten in kleinen (jugendkulturell geprägten) Szenen abseits breitenwirksamer Vermarktung und werden durch Opinion Leader aus anderen Genres oder anderen medialen Bereichen weitergetragen. Dass die Musikindustrie des Öfteren erst dann in den Klassifizierungsprozess eingreift, wenn zentrale Charakteristika bereits mehr oder weniger definiert sind, sollte allerdings auch nicht zur Schlussfolgerung verleiten, dass ihre Wirkung auf genrebezogene Werturteile unerheblich ist. Dies wird bei Urteilen augenscheinlich, in denen der Rezipient einen zu offensichtlichen musikindustriellen Einfluss zu erkennen meint und dem Künstler demzufolge abspricht, ein ‚wahrer‘ Vertreter des ihm zugerechneten Genres zu sein. Der Vorwurf der ‚Kommerzialisierung‘, der Orientierung an den Bedürfnissen der breiten Masse und die damit begründete Minderschätzung wird hier davon gestützt, ein Wissen über den eigentlichen Kern von Punk, Dubstep, Wiener Klassik usf. zu haben. Dieser Kern wird zumeist in den ursprünglichen Intentionen und Handlungen von Akteuren der ersten Stunde ausgemacht und dabei bewusst oder unbewusst ausgeblendet, dass auch die eigene Wahrnehmung beträchtlich von medialer Filterung gefärbt ist (schließlich waren
Referentielle Ansätze
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wohl wenige am Hof Fürst Esterhazys oder im CBGBs in New York Ende der 1960er Jahre zugegen). Sofern sich also herausstellt, dass die Rekurrierung auf ein bestimmtes Genre ein wichtiger Aspekt im Ausdruck der Wertschätzung für einen Künstler ist, so kommt der Forscher nicht umhin zu ermitteln, ob, wie und durch welche Kanäle dieses Genre vor und während des untersuchten Zeitraums vermarket wurde bzw. wird, um diese Verweise entsprechend interpretieren zu können. Bei der Interpretation gilt es außerdem zu berücksichtigen, dass sich Genres – ob nun musikindustriell beeinflusst oder nicht – üblicherweise aus verschiedenartigen Merkmalen zusammensetzen. Der Taxonomie Franco Fabbris folgend, können sie durch formale und technologische, semiotische, soziale und ideologische, ökonomische und juristische Regeln definiert sein wie auch durch spezifische Verhaltenscodes (vgl. Fabbri 1982: 2-6). Wie explizit diese Konventionen sind und welches ‚Regelwerk‘ am prägendsten ist, hängt vom jeweiligen Genre ab. Während Kategorien wie ‚Indie‘ oder ‚Alternative‘ musikalisch kaum fassbar sind und sich in erster Linie über wirtschaftliche Gesichtspunkte abgrenzen, so spielen musikalische Konventionen bei anderen, meist spezifischeren (Sub-)Genres wie Death Metal oder Hardcore Techno eine weitaus größere Rolle. Bei Letzteren ist anzunehmen, dass sich das Einhalten oder das Abgehen von bestimmten Regeln auch verstärkt in der Wertschätzung seitens der Rezipienten niederschlägt. Michael Parzer, der sich dieser Thematik als einer wenigen aus empirischer Sicht angenommen hat, kommt in Bezug auf Heavy Metal zur Schlussfolgerung: „Ausgehend von mehr oder weniger explizit festgelegten Regeln wird zu bestimmen versucht, ob die daraus resultierenden Standards eingehalten werden oder nicht. So gilt instrumentale Virtuosität, die vor allem am Tempo von Solopassagen gemessen wird, als wichtiges Kennzeichen zahlreicher Spielarten des Genres ‚Heavy Metal‘. Je nachdem, in welchem Ausmaß diese Erwartung erfüllt wird, fällt schließlich auch die Bewertung einer bestimmten Musik oder auch einer/eines Musikerin/Musikers aus: ‚[Mir gefällt] Melodic-, Speed-, Deathmetal. Hauptsache es hört sich gut an. Je schwerer zu spielen, desto besser. Und ich mag sehr gerne schöne schnelle Solos‘ [Th 11, 18 (1– 2)]“ (Parzer 2008: 142).
Herrscht demnach eine Übereinkunft über bestimmte musikalische Eigenheiten eines Genres, so kann dies in gewichtiger Weise zur Organisation des Hörprozesses beitragen. Gewöhnliche Hörer wie professionelle Kritiker können anhand ihres Wissens über diese Regeln ihre Werturteile begründen und damit beeinflussen, ob sich der Leser einer Musikzeitschrift oder das Gegenüber im persönlichen Gespräch für die diskutierte Musik interessiert; Programmierer automatisierter Klassifikationssysteme greifen diese Regeln auf und wirken so auf den Suchprozess ein; Besucher eines Drum & Bass-Events wissen, was sie musikalisch erwartet. Musikalische Genrekonventionen helfen ebenso bei der Organisation des Gestaltungs- bzw. Spielprozesses. Wenn Musiker im Proberaum an neuen Stücken arbeiten, so verwenden sie für gewöhnlich Genrelabels, um den Kollegen schnell zu vermitteln, wie eine bestimmte Passage zu spielen ist und wie sie klingen sollte. An der Fähigkeit, diese Anweisungen ohne ausführlichere Erklärung umzusetzen, misst sich z.B., wie Frith an-
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Ansätze zur Interpretation
merkt, die Qualität von Sessionmusikern (vgl. Frith 1996: 87). Auch spielen Genrelabels eine große Rolle beim Gebrauch von Synthesizern und Sequencer-Presets oder bei der Beschreibung des Einsatzgebietes von bestimmten Instrumentenmodellen und tontechnischen Geräten. In ähnlicher Weise wie das Zuordnen zu Genres erleichtert auch das Referenzieren auf andere Songs oder Musiker die alltägliche Verständigung über Musik. Musiker orientieren sich an der Spielweise, dem Sound, den Songstrukturen anderer und Rezipienten beschreiben das Gehörte, indem sie Vergleiche mit bekannten bzw. bekannteren Musikern anstellen und Einflüsse oder Verweise zu erkennen meinen. Das Imitieren von musikalischen Vorbildern ist ein essentieller Bestandteil im Aneignen von instrumentalen oder stimmlichen Fertigkeiten, insbesondere bei jener Musik, die im schulischen Rahmen eher selten gelehrt wird. In vielen Bereichen populärer Musik erlernen die Musiker ihr Können vor allem autodidaktisch, durch intensives Hören und Nachspielen von Tonaufnahmen, und weniger durch einen Lehrer in formalen Unterrichten (vgl. Frith 1996: 54-55). Wie stark sich Musiker in ihrem Schaffen von den vermeintlichen ‚Originalen‘ abgrenzen müssen, damit sich die Rezipienten, deren musikalisches Wissen womöglich auf der gleichen Hörerfahrung beruht, daran nicht stören, ist jedoch höchst unterschiedlich. Bands wie Wolfmother, The Darkness oder Airbourne werden von ihren Fans deswegen geschätzt, weil sie sich eindeutig und selbstsicher an ihren Vorbildern aus den 1970er Jahren orientieren. Bands wie Interpol oder The Editors müssen sich hingegen des Vorwurfs erwehren, dass sie in erster Linie Joy Division imitieren würden. Von AC/DC und Bad Religion wird erwartet, dass sich neue Alben kaum von ihrem bisherigen Repertoire unterscheiden, während die späteren Werke der Rolling Stones oder U2 für mangelnde Weiterentwicklung kritisiert werden. An diesen Beispielen wird zweierlei deutlich: Zum einen können referenzbasierte Werturteile sowohl auf das Schaffen anderer als auch auf andere Werke des gleichen Künstlers bezogen sein, zum anderen ist Eigenständigkeit oder Innovativität keineswegs immer das entscheidende Kriterium für die Popularität bestimmter Musik. Obgleich sowohl Airbourne als auch Interpol im weitesten Sinne dem Genre Rockmusik zuzurechnen sind und deren Möglichkeiten, sich von anderen Bands abzuheben, schon alleine aufgrund des rocktypischen Grundinstrumentariums relativ eingeschränkt sind, so wird das Nehmen von Anleihen Letzteren häufig zur Last gelegt („Joy Division RipOff“3), Erstere demgegenüber zumeist dafür gehuldigt, ihre Lehrmeister würdig zu vertreten4. Nach Rainer Diaz-Bone, der sich Heavy Metal und Techno aus diskursanalytischer Sicht angenähert hat (siehe hierzu ausführlich Kapitel 2.6), kann dies darauf zurückgeführt werden, dass Stabilität, Verlässlichkeit und Traditionsbewusstsein in eher konservativen Genres wie Hard Rock oder Heavy Metal einen anderen Stellenwert ha-
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http://www.metacritic.com/music/turn-on-the-bright-lights/interpol [20.08.2014]. http://www.metal.de/rock/review/airbourne/53945-black-dog-barking [20.08.2014].
Referentielle Ansätze
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ben als in einem sozial-dynamischen Genre wie Alternative Rock (vgl. Diaz-Bone 2002: 170): „‚Keine Experimente!‘ so lautet eine einflussreiche Position im Hard Rock und Heavy Metal. Diese Position ist vereinbar mit dem Bild von einer an Traditionen festhaltenden Rock-Sensibilität, die nicht allein um Authentizität ringt, sondern um ein Bewahren von musikalischen Formen und die – so scheint es – gerade im Beharren gegen die Modernisierung von Formen ihre Identität im Ausmaß des Widerstands zu definieren sucht“ (ebd.: 52).
Bei Heavy Metal wird dieses Traditionsbewusstsein unter anderem dann deutlich, wenn sich neue Bands im Moment des Interviews erstmalig erklären und eine gemeinsame ästhetische Haltung durch das Bekenntnis zum Ausdruck bringen, „in einer bestimmten Tradition zu stehen, bestimmte andere Bands als Vorbilder anzuerkennen, sich an ihnen künstlerisch orientieren zu wollen“ (ebd.: 264). Auch bei einem in vielen Aspekten andersartigen Genre wie Techno ist das Reflektieren der eigenen, vergleichsweise kurzen Historie von hoher Relevanz. Der „Zwang zur Veränderlichkeit“ (Elflein 2010: 38) ist hier jedoch, so Diaz-Bones Befund, größer als bei Heavy Metal und äußert sich bisweilen durch die Schnelllebigkeit, mit der Genres und Subgenres von Nischenmedien als Trends ausgerufen und wieder fallengelassen werden (vgl. Diaz-Bone 2002: 383-385). Zudem lässt sich im Technogenre, wie auch in vielen anderen Spielarten von ‚Electronic Dance Music‘, ein anderer Umgang mit musikalischen Verweisen als etwa in Rockmusik beobachten. Das vollständige oder partielle Aufgreifen und Neuinterpretieren von bestehenden Musikaufnahmen, das in den Begriffen Remixing und Sampling seinen Ausdruck findet, ist hier durchaus positiv konnotiert, sofern diese Neuinterpretationen ein gewisses Maß an Innovativität erkennen lassen (vgl. ebd.: 407). Komplette Neufassungen in Form von Coverversionen können ebenso in Rockmusik legitim sein, wird hingegen in einem als Eigenkomposition titulierten Rocksong eine bekannte Hookline aus einem anderen Stück ausgemacht, so zieht dies tendenziell ein negatives Urteil nach sich. Im Hip Hop wiederum ist das bewusste Bezugnehmen auf Vorgängiges ein deutlich angemesseneres Mittel zur Schaffung musikalischer Individualität, wie Michael Rappe in Under Construction. Kontextbezogene Analyse afroamerikanischer Popmusik (2010) exemplarisch, anhand einer umfassenden Untersuchung von Missy Elliotts Work It (2002), zeigt. Er verortet in diesem Track ein weitreichendes Netzwerk von Referenzen, das durch die Nutzung von Soundevents und Produktionsweisen aus der Vergangenheit gebildet wird: „Missy Elliott/Timbaland agieren hier im Sinne des Signifiyin’s (Call-Response), indem sie die (schwarze) Musikgeschichte nach bedeutsamen Sounds durchsuchen, diese in ihre musikalische Gegenwart übertragen (flippen) und deren semantisches Potential zur Unterstreichung ihrer eigenen Aussagen ausschöpfen. [...] Durch die im Produktionsprozess gewählten Formen des LiveRecordings und die besonderen musikdramatischen Gestaltungsprinzipien des Live-DJings entsteht ein Referenzsystem, das parallel zum Bedeutungsraum der Soundreferenzen die (Technik-)Geschichte des Hip Hops aktualisiert“ (Rappe 2010: 332).
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Ansätze zur Interpretation
Der individuelle Stil formt sich laut Rappe dadurch, dass Missy Elliott und Produzent Timbaland die für afroamerikanisches Musikhandeln typische Technik des „paraphrasierenden Wiederholens“ (ebd.) anwenden, sie also genregeschichtlich Bedeutsames in neue Bezüge stellen und klanglich adaptieren und dergestalt Modernität und Traditionalität verbinden (vgl. ebd.: 163ff. und 332). Eine weitere Möglichkeit, wie mit musikalischen Verweisen verfahren werden kann, zeigt sich am Beispiel von Mainstream-orientierten Popproduktionen. Die Produzenten bzw. Produzententeams arbeiten in diesem Bereich häufig mit Anleihen aus zeitnahen Charterfolgen anderer und versuchen so einen möglichst hohen Wiedererkennungswert zu schaffen. Die daraus resultierenden Songs und Alben müssen dabei weder zwingend als innovativ gelten, stilistisch einheitlich sein oder bestimmten Genrekonventionen folgen, um die gewünschte Popularität zu erlangen. Der Erfolg kann hier auch davon herrühren, dass aktuelle Trends in einer für den Interpreten passenden Weise verarbeitet werden, wie etwa der Musiker, Psychologe und Journalist Tim Byron mit Blick auf die Nummer Eins-Hits In My Head (2010) und Talk Dirty (2013) des US-amerikanischen Sängers Jason Derulo vermutet. Seiner Ansicht nach war In My Head deswegen erfolgreich, weil der Beat, die Melodie und der Sound stark an Lady Gagas einige Monate davor veröffentlichten Song Just Dance erinnerten, an dem sich die Hörer zu diesem Zeitpunkt bereits etwas satt gehört hatten. Da aber nun ein Mann sang, der zudem als weniger extroviert gilt, erhielt das Stück eine neue Einfärbung und es konnte das weiterhin vorhandene Interesse an Just Dance neu erweckt werden. Der Erfolg von Talk Dirty erklärt sich für Byron dadurch, dass Derulo jene ungewöhnlichen Sounds und Synkopierungen einsetzt, mit denen die Produzenten The Neptunes und Timbaland die Chartsmusik Anfang der 2000er Jahre prägten, und die mittlerweile wieder angesagt sind, wie an den Hits Thrift Shop (2012) und Blurred Lines (2013) ersichtlich ist. Byron meint auch andere, ältere Anleihen in dem Song zu erkennen: „[...] the biggest R&B/rap successes this year are ‚Thrift Shop‘ and ‚Blurred Lines‘, both of which opt for skitter rather than pump, and so Derulo going in this direction is very likely commercially astute. It works. It’s catchy. That beat, with that horn playing following the tag-at-the-end-of-thechorus, ‚talk dirty to me‘, is 90% of why the song is a hit. Oddly enough, it reminds me most of the tag line to ‚Gettin’ Jiggy Wit’ It‘ by Will Smith, but there’s a similar tag line at the end of the chorus, with a similar rhythm, in Poison’s song ‚Talk Dirty To Me‘. And by similar, I mean identical. But hey, Derulo pulls off the odd ethnic-sounding melodies with ease and he can dance. Which means that the idea of singing a lyric from a Poison song over a beat created by an IsraeliAmerican band with a weird horn part is so crazy that it just might work!“ (Byron 2013).
An dieser Stelle möchte ich ein kurzes Zwischenfazit ziehen: Die bisherigen Beobachtungen in diesem Kapitel zeigen, dass die Funktion und der Stellenwert von musikalischen Verweisen sehr unterschiedlich sein kann. Ob und in welcher Form auf vorhandene Musik zurückgegriffen wird bzw. zurückgegriffen werden darf, muss demnach im Einzelfall musikanalytisch und empirisch nachgeprüft werden. Subjektive Einschätzungen, wie sie teils oben geäußert wurden, können hier erste Ansatzpunkte liefern.
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Ein theoretisches Konzept, das bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit musikalischen Verweisen des Öfteren herangezogen wird, ist jenes der ‚Intertextualität‘. Der Grundgedanke ist hierbei, dass Musik als ‚Text‘ gelesen werden kann – ein Ansatz, der sich in so mancher einflussreicher Arbeit zur Analyse populärer Musik wiederfindet (z.B. Middleton 1990 u. 2000, Brackett 1995, Moore 2001 u. 2012, Hawkins 2002) und den es im Folgenden kurz zu diskutieren gilt.
Exkurs: ‚Text‘ Der Linguist Michael Klemm (2002a u. 2002b) führt an, dass der Textbegriff bis zur frühen Neuzeit meist nur alltagssprachlichen Gebrauch fand und die Materialität einer Schrift, zumeist den Wortlaut der Bibel, bezeichnete. In den 1960er Jahren wurde er zunächst von sprachwissenschaftlicher Seite aufgegriffen und entwickelte sich in weiterer Folge auch in anderen Disziplinen zu einem zentralen Gegenstand. Aufgrund der verschiedenartigen Perspektiven, aus denen das Konzept ‚Text‘ seither betrachtet wurde bzw. wird und „angesichts des aktuellen medialen Wandels, der neue und noch ungewohnte Arten von Texten hervorbringt“ (Klemm 2002a: 1), existieren mittlerweile sehr unterschiedliche Textdefinitionen: „Intuitiv weiß natürlich jeder so ungefähr, was man einen Text (von lat. textus, urspr. ‚Gewebe‘ zu lat. texere ‚weben‘, ‚flechten‘) nennen könnte: einen Brief, einen Roman, eine wissenschaftliche Abhandlung . . . Aber es gibt auch zahllose Zweifelsfälle: Ist ein Telefongespräch ‚Text‘ zu nennen? Oder ein Lied, ein Piktogramm, eine Lautsprecher-Durchsage auf dem Bahnhof? Sind Verkehrsampeln und ihre Lichtsignale, mit deren Hilfe doch auch Informationen vermittelt werden, ‚Texte‘?“ (Heinemann/Viehweger 1991: 13-14).
In ähnlicher Weise wie bei populärer Musik versucht wird, sie anhand bestimmter Kriterien von anderen Musikformen abzugrenzen, gibt es auch beim Text Bestrebungen, Merkmale festzulegen, die ‚Texte‘ von ‚Nicht-Texten‘ unterscheiden. Insbesondere die Textlinguistik, die sich als „Wissenschaft vom Text“ begreift, sieht die Ermittlung derartiger Grenzlinien als eine ihrer Hauptaufgaben an (vgl. ebd.: 14). Nach Beaugrande/Dressler muss ein Text sieben Kriterien erfüllen, um seiner zentralen Funktion, nämlich kommunikativ zu sein, nachzukommen und der Rezipient „den Text einer Heiratsanzeige nicht als Sportreportage interpretieren [kann]“ (ebd.: 76). Als ‚textzentrierte‘, also unmittelbar am Text festzumachende Merkmale nennen sie Kohäsion und Kohärenz, als ‚verwenderzentriert‘ klassifizieren sie die Kategorien Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und Intertextualität (vgl. Beaugrande/Dressler 1981: 35). Solche Grenzziehungsmodelle, die in ähnlicher Form z.B. auch bei Vater (1992) oder Sandig (2000) diskutiert werden, gelten als umstritten. Wie im Zitat weiter oben angedeutet, lassen sich im Alltag viele Beispiele finden, die relativ eindeutig etwas kommunizieren, obwohl sie ein oder mehrere Textualitätskriterien nicht erfüllen. Im Essay Wie hältst Du’s mit dem Textbegriff? Pragmatische Antworten auf eine Gretchenfrage der (Text-)Linguistik (2002b) beleuchtet Klemm einige dieser „authentischen Zeichenvorkommen“ (ebd.: 2) hinsichtlich ihrer vermeintlichen Textualität. Sei-
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ner Ansicht nach kann bei SMS, Chats oder sich häufig verändernden Websites durchaus von Texten gesprochen werden, obwohl sie kaum dem Postulat entsprechen, dass Texte abgegrenzt, abgeschlossen oder gar autonome Ganzheiten sein müssen. Flüchtige Äußerungen dieser Art seien im traditionellen Sinne auch aus dem Grund Nicht-Texte, da sie üblicherweise nicht zum Zwecke der Überlieferung geschrieben werden, was etwa Ehlich (1984) als zentrales Textmerkmal ansieht (vgl. ebd.). Gemäß den Prinzipien der Kohäsion und Kohärenz müssen Texte strukturell und inhaltlich zusammenhängend sein. Hierzu hinterfragt Klemm, ob eine stichwortartige Vorlesungsmitschrift, ein Einkaufszettel, eine bewusst inkohärent gestaltete Werbeanzeige, ein isoliert geäußertes „Hurra“ oder die Anweisung „Tupfer“ in einem Operationssaal demnach keine Texte wären, würden sie doch sowohl inhaltliche als auch strukturelle Zusammenhänge innerhalb einer Zeichenkette vermissen lassen. Inwieweit derartige Äußerungen funktional und situativ angemessen sind, hänge vom entsprechenden Kontext ab. Darüber hinaus zweifelt Klemm an, dass Texte immer ein erkennbares Thema (dadaistische Gedichte, Kinder-Abzählreime, ein „Hallo“) und mindestens einen Verfasser und einen Rezipienten haben (anonyme Briefe, automatische E-Mails bzw. Selbstgespräche, Tagebücher). Die Beispiele Klemms lassen erahnen, welch große Schwierigkeiten schon alleine die (Text-)Linguistik damit hat, eine einheitliche und abgrenzbare Textdefinition zu finden (zum Bedeutungswandel des Begriffs siehe auch Knobloch 1990, Scherner 1996, Graefen 1997). Vor diesem Hintergrund erscheint es umso nachvollziehbarer, wenn Wicke die Verwendung des Textbegriffs im Zusammenhang mit der Analyse populärer Musik für „weder unproblematisch noch selbsterklärend“ (Wicke 2003) hält. Setzt man es etwa als Voraussetzung, dass Musik nur dann kommunikativ ist, wenn sie einen inneren strukturellen Zusammenhang hat und sich als geschlossenes Gebilde vom Umraum abgrenzt, so kommt der Analysierende schnell ins Fahrwasser der eingangs beschriebenen ‚absoluten‘ Ästhetikansätze. Die hierbei mitgedachte Trennung von Text und Kontext kann ebenso in Frage gestellt werden (siehe unten) wie das Kriterium der Dauerhaftigkeit, das in Anbetracht der heutigen Ubiquität von Musik diskussionswürdig ist. Wird Musik als Text begriffen, so impliziert dies zumindest aus linguistischer Sicht, dass es sich bei Musik um ein sprachliches Phänomen handelt und sie sich somit auch verschriftlichen lässt. Nun steht dem Analysierenden mit der traditionellen Notation und dem darauf bezogenen Vokabular zwar ein in der Musiktheorie weitgehend etabliertes sprachliches Zeichensystem zur Verfügung, um zumindest Teilaspekte des Gehörten schriftlich festzuhalten, dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die meisten Menschen beim Hören von Musik weder Akkorde oder Tonleitern vor Augen haben noch mittels dieser Begrifflichkeiten über Musik kommunizieren (zu den Möglichkeiten und Grenzen von sprachlichen und visuellen Beschreibungen von Musik siehe Kapitel 3). Allan Moore, der in Song Means (2012) das Textkonzept Paul Ricoeurs aufgreift, meint hierzu: „My endorsement of Ricoeur’s use of the word ‚text‘ might seem odd here, but it has become common practice in the interpretation of culture. This is not the place for a full discussion of the
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application of the concept to recorded song; it is sufficient that a text is something that is ‚read‘, that is, made sense of, interpreted. I appropriate that sense here, while ignoring the assumption that a text be a visible object“ (Moore 2012: 10).
Moore blendet also bewusst aus, dass die Verschriftlichung für Ricoeur ein zwingendes Textmerkmal ist – „the text is a discourse fixed by writing“ (Ricoeur 1981: 146). Wichtiger erscheint ihm bei Ricoeurs Ansatz, dass es beim Analysieren eines Textes nicht darum gehe, die Intentionen, Erwartungen oder Gefühle des Autors nachzuvollziehen, sondern um das Aufzeigen von Interpretationsmöglichkeiten, die der Text dem Rezipienten bietet („the possible way of looking at things“) (vgl. Moore 2012: 10). So kann der Sinngehalt, den der Rezipient einem Text zuweist, mitunter darauf basieren, dass er im Text andere Texte erkennt, womit ich wieder auf das Konzept der musikalischen Intertextualität zurückkommen möchte. Für Moore gilt es bei der Analyse von intertextuellen Bezügen zu unterscheiden, ob sich zwei Songs deswegen ähneln, weil auf gestalterischen ‚Allgemeinvorrat‘ („common stock“), wie etwa eine übliche I-IV-V-I-Kadenz, zurückgegriffen wurde, oder ob eine unverkennbare Melodiephrase, Akkordfolge, ein charakteristisches Stimm-/Instrumententimbre usf. aus einem früheren Songs wiederzuerkennen ist. Nur Zweiteres lässt sich seiner Ansicht nach als Text lesen, da Ersteres eher eine metasprachliche Funktion hat (vgl. Moore 2012: 272). Eine feinere Differenzierung nimmt Serge Lacasse in Intertextuality and hypertextuality in recorded popular music (2007) vor. In Anlehnung an Gérard Genette spricht Lacasse von Intertextualität, wenn Elemente aus einem anderen Song als Zitate oder Anspielungen vorkommen, es sich also um eine „effektive[n] Präsenz eines Textes in einem anderen“ (Genette 1993: 10) handelt. Textübergreifende Beziehungen bei Remixes, Covers, Parodien u.Ä., bei denen Elemente aus anderen Songs verändert werden und dergestalt ein neuer Text (Hypertext) auf Grundlage des ursprünglichen (Hypotext) entsteht, fasst er hingegen unter Genettes Kategorie der ‚Hypertextualität‘ (vgl. Lacasse 2007: 37-41, Moore 2012: 273). Das Verhältnis zwischen Hypo- und Hypertext könne ‚autosonic‘ oder ‚allosonic‘, ‚syntagmatic‘ oder ‚paradigmatic‘ sein. Wird ein Teil einer Musikaufnahme direkt, also ohne Neueinspielung übernommen und mit tontechnischen Mitteln bearbeitet, wie es vor allem beim Sampling der Fall ist, so definiert Lacasse dies als ‚autosonisch‘. Ein ‚allosonisches‘ Verhältnis liege vor, wenn Elemente des Originalstücks imitiert und neu aufgenommen werden. Der Begriff ‚syntagmatisch‘ bezieht sich hier auf eine inhaltliche Veränderung des Übernommenen (autosonisch oder allosonisch), wobei die ursprüngliche Stilistik beibehalten wird. Ändert sich der Stil, so klassifiziert Lacasse diese Adaptierung als ‚paradigmatisch‘. Zusammengefasst hält es Lacasse für möglich, populäre Musik, solange sie auf Tonträgern festgehalten ist, entlang der Achsen autosonisch/allosonisch und syntagmatisch/paradigmatisch zu lokalisieren, was er an einigen ausgewählten Beispielen auch veranschaulicht (vgl. ebd.: 41-55; weitere Anwendungsbeispiele finden sich bei Moore 2012: 273-281). Aus meiner Sicht ist dieses Modell inso-
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fern nützlich, als dass es theoretisch gestützte Termini zur Verfügung stellt, um unterschiedliche Verweisarten zu benennen und sich der Analysierende an den zwei Achsen orientieren kann, um differenziert zu untersuchen, ob bei einem Künstler oder in einem Genre Tendenzen bestehen, Vorgängiges auf eine bestimmte Art und Weise zu verarbeiten. Möglichkeiten zur Interpretation bieten sich insbesondere dann, wenn Wörter, Sätze oder der gesamte ‚Songtext‘ aus einem anderen Stück übernommen und in neue musikalische Zusammenhänge gestellt werden. Ein aktuelles Beispiel ist die Singleauskopplung Junge aus Heinos 2013 erschienenem Cover-Album Mit freundlichen Grüßen. Indem er den Die Ärzte-Song mit dem ihm eigenen sprachlichen Ausdruck interpretiert, verzerrte E-Gitarren durch Bläser und Akustikgitarren ersetzt und einen Frauenchor hinzufügt, und man sich das konservative Weltbild vor Augen führt, das von Heino zumindest medial vermittelt wird, so erfährt der ursprünglich ironisch angelegte (Punk-)Song eine gänzlich neue Konnotation: „‚Junge‘ von den Ärzten fällt dagegen völlig auseinander. Heino als brillanter Dekonstruktivist. Von dem Song bleibt wirklich nichts mehr übrig, wenn der gealterte Papa, aus dessen Perspektive der Text geschrieben ist, selbst ganz ernsthaft singt: ‚Junge, warum hast du nichts gelernt? / Guck dir den Dieter an, der hat sogar ein Auuuto!‘ [...]“ (Rabe 2013).
Dies führt mich zu Moores dritter Kategorie von ‚Verweisen zur Musik‘, nämlich der Beziehung von Musik und Songtexten (im Sinne des englischen Begriffs ‚Lyrics‘). Es sei hier generell angemerkt, dass ich in dieser Arbeit größtenteils davon absehen werde, Songtexte isoliert vom Musikalischen, also rein als sprachliche oder literarische Phänomene zu untersuchen. Einerseits bietet sich kaum der Platz dafür, andererseits erscheint es mir aufgrund meiner Zielsetzung als fruchtbarer, mich auf Ansätze zu konzentrieren, in denen Musik und gesungene/gesprochene Texte als zusammenhängende Elemente eines Musikstücks aufgefasst werden. Denn sofern ein Stück einen Text beinhaltet, was natürlich nicht immer der Fall sein muss, so wird dieser zwangsläufig vom Rezipienten mitgehört und hat so potentiell Einfluss darauf, ob das Stück gefällt oder nicht. Wie groß und welcher Art dieser Einfluss ist, hängt auch grundlegend davon ab, ob die Texte überhaupt verstanden werden (Fremdsprachen, Mixdown), was bei deren Interpretation oft stillschweigend vorausgesetzt wird. Hinsichtlich der Frage, wie dem Sinnpotential von Songtexten nachgespürt werden kann, spricht Christofer Jost von der Notwendigkeit einer „integrierten Betrachtung von Songtext und Musik“ (Jost 2012: 31). Er bezieht sich hierbei im Speziellen auf Dai Griffiths Essay From lyrics to anti-lyrics: analyzing the words in popular music (2003), auf den ich an dieser Stelle kurz eingehen möchte. Ein zentraler Aspekt für die Gestaltung des Zusammenspiels von Musik und Text ist für Griffiths der Raum, der den Wörtern innerhalb einer musikalischen Phrase zugestanden wird: „Tonal music’s phrasing creates spaces which the words in performance occupy; we can visualize the combination of consistent phrasing and words producing lines [...]. I call the function of musical phrasing in pop songs verbal space“ (Griffiths 2003: 43).
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Gemäß seines Ansatzes des ‚verbal space‘ verlaufen in einem Song sowohl musikalische als auch sprachliche Linien von links nach rechts, wobei Letztere leer oder mit Wörtern befüllt sein können. Die metaphorisch als Säulen beschriebenen Anfangs- und Endpunkte der sprachlichen Linien gehen mit jenen der musikalischen Phrasen einher. Entscheidend ist für ihn, wo die Wörter entlang der Linien positioniert werden, wie viel Platz sie einnehmen und wie dicht sie angeordnet sind, da sich hieraus Aussagen über die Relationalität der Ereignisse innerhalb des ‚verbal space‘ treffen lassen. Griffiths illustriert die Anwendung des Konzepts am Beispiel des Beatles-Songs Please Please Me (1963): In der Strophe ist der Raum in acht Schläge mit jeweils ein oder zwei Silben unterteilt. Dies ist auch beim Übergang („Come on, Come on!“) der Fall, hier entstehe jedoch der Eindruck, dass die Betonungen zum Silbenanfang hin verschoben sind und der Raum verkürzt ist. Bei der Bridge wird die Silbenanzahl pro Schlag verdoppelt und dergestalt die Silbendichte (‚syllabic density‘) der Linie erhöht. Für Griffiths bietet der ‚verbal space‘ eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Variation, etwa durch Positionsänderungen oder dem Ausdehnen oder Stauchen von Linien. Leider bleibt in dem Essay größtenteils offen, welche konkreten Fragestellungen durch die Deskription dieser Vorgänge untersucht werden können. Es findet sich nur eine Andeutung, bezogen auf ein Merkmal des Grunge-Genres: „I think something of the ‚slacker‘ aspect of grunge had to do with the tendency of some songs to use relatively short, ‚bored‘ lines starting from the pillar, the left side of the line: listen to Nirvana’s ‚Polly‘ or Hole’s ‚Doll Parts‘“ (ebd.: 48).
Dass eine vom Musikalischen losgelöste Betrachtung von Songtexten viele Facetten deren Gestaltung außen vor lassen würde, macht ein Artikel von Sam Inglis (2001) deutlich. Wie auch Griffiths hebt er den Einfluss hervor, den rhythmische und sprachklangliche Aspekte auf die Auswahl und das Arrangement der Wörter, und somit auch auf den Inhalt des Songtextes, haben können. Inglis’ Interesse gilt der Frage, welche kompositorischen Möglichkeiten die Textrhythmik, Reime und Alliterationen bieten, um gesungene/gesprochene Textpassagen im musikalischen (rhythmischen) Zusammenhang eines Songs zu ‚lyrical hooks‘ zu formen. Obgleich Inglis’ Artikel in erster Linie an Songwriter gerichtet ist, so eröffnet er auch einige interessante Perspektiven hinsichtlich der Interpretation musikalischer Werturteile. Kriterien wie Eingängigkeit, Abwechslungsreichtum oder Komplexität lassen sich dahingehend untersuchen, in welchem Verhältnis betonte und unbetonte Silben innerhalb einer Phrase stehen und ob diese rhythmischen Patterns wiederholt oder im Verlauf eines Songs variiert werden. „Continuous unvarying repetition of a simple foot, as in ‚Ob-La-Di, Ob-La-Da‘ and ‚Lucy In The Sky With Diamonds‘, is straightforward and direct, and can help to give a kind of singalong feel, but it can also sound facile and childish if overdone. More complex verbal rhythms can add interest and be diverting, but it can also be harder to find meaningful words that actually fit the structure without appearing contrived“ (Inglis: 2001).
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Nach Inglis besteht bei Popsongs die Tendenz, die metrische Struktur der Texte relativ stabil zu halten und erst beim Wechsel in einen anderen Songabschnitt merklich zu verändern. Strophen haben nicht selten eine repetitive, kontinuierliche Struktur mit einem verhältnismäßig geringen Anteil betonter Silben, während in Refrains häufig die Betonungsdichte erhöht werde, um dem Gesungenen mehr Nachdruck zu verleihen. Veränderungen im musikalischen Arrangement können diesen Kontrast zwischen den Abschnitten zusätzlich verstärken, wie Inglis am Beispiel des Beatles-Songs Lucy In The Sky With Diamonds (1967) andeutet. Der Bezug zwischen Sprache und Musik zeige sich des Weiteren daran, dass der natürliche Wort- und Satzrhythmus in vielen Fällen den rhythmischen Gegebenheiten des Instrumentalen untergeordnet werde (vgl. ebd.). Da die Sätze infolgedessen anders akzentuiert werden als im üblichen Sprachgebrauch, könne sich auch die Textaussage ändern. Es gebe ebenso konträre Beispiele, bei denen die Betonung der Songtexte bewusst natürlich gehalten werde und im Gegensatz zum eigentlichen Songrhythmus stehe. Dies lasse sich etwa an den meisten Songs der Manic Street Preachers zeigen – einer Band, die den Textinhalten einen großen Stellenwert zuweise. Von besonderer Bedeutung ist das rhythmische Zusammenspiel von (Sprech-) Gesang und Begleitpattern im Hip Hop, wo es auch verstärkt von den Rezipienten thematisiert wird (vgl. Kautny 2009). Oliver Kautny, der sich mit dem Begriff ‚Flow‘ auseinandersetzt, hält fest: „In wissenschaftlichen Publikationen, Rezensionen sowie in Rap-Foren findet man in diesem Kontext die Attribute on-beat bzw. off-beat, die mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen werden. On-beat zu rappen meint, dass sich der Rapper erfolgreich mit der Musik synchronisiert, ‚im Takt(schlag)‘ bleibt und metrisch unkontrollierte Akzente vermeidet. Gelingt ihm das nicht, ist sein Rap off-beat“ (ebd.: 141-142).
Dass das Attribut ‚off-beat‘ alltagssprachlich zumeist nicht im musiktheoretischen Sinne (Betonung neben dem Grundschlag) verwendet wird, sondern sich darauf bezieht, ob die Akzente im Takt oder nicht im Takt sind (vgl. ebd.), sei nur am Rande erwähnt. Relevanter ist für mich an dieser Stelle die Beobachtung, dass bei Hip Hop die Verschränkung von Sprache und Musik offen als Bewertungskriterium hervortritt. Noch stärker als bei anderen Genres fällt hier zudem ins Gewicht, wie mit Wörtern gleichen oder ähnlichen Sprachklangs umgegangen wird. Reime, Assonanzen und Alliterationen sind in vielen Spielarten populärer Musik ein wichtiges Mittel zur Gestaltung von Songtexten. Für Dai Griffith besteht wenig Zweifel, dass eine erhebliche Anzahl von Texten aus „babbling sounds“ (Griffiths 2003: 48) entstehen, die anschließend zu Wörtern geformt werden. Er zitiert hierzu beispielhaft eine Anmerkung von Paul Simon zu einer Textzeile aus Rene and Georgette Magritte with their Dog after the War (1981): „That’s just the way that it sings – the EEE OOO EEE OOO sound: e-sily loo-sing e-v’ning clo“ (Simon in ebd.). Auch Herbert Grönemeyer, der nicht zuletzt für seine lyrischen Qualitäten geschätzt wird (siehe hierzu z.B. die Untersuchungen von v. Appen 2007), gibt an, dass er seine Melodien in der Regel an englisch klingendem Kauderwelsch erprobt und auf Grundlage dieser „Bananentexte“ (Grönemeyer
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2011) die deutschen Sätze formuliert. So lautete die Urfassung seines Songs Zum Meer (2002): „Wasabi on your door. Wasabi on your bro. What shall be on your love. The edge is where I wait. The edge is where I close“ (vgl. Nimz 2012).5 In seinem Ansatz zur Systematisierung von Reimformen in Popsongs nennt Griffiths Vollreime, Halbreime sowie Nicht-Reime, die in einen ansonsten gereimten Text eingestreut werden, um bestimmte Inhalte hervorzuheben, als die gebräuchlichsten (vgl. Griffiths 2003: 50-52). Wie sich Reime mit Blick auf ihre mögliche Wirkung interpretieren lassen, zeigt er exemplarisch an einer vergleichenden Analyse von Elvis Costellos Beyond Belief (1982) und Rickie Lee Jones Living it Up (1981). Costellos Reime seien direkter und statischer, da die Wörter eine höhere Anzahl von übereinstimmenden Silben haben und grammatikalisch größtenteils ähnlich sind, während bei Ricky Lee Jones durch die ‚Dissonanz‘ der gereimten Begriffe der Eindruck von Bewegung, von vorwärtstreibenden Gedanken entstehe. Ob diese Wirkung von den Musikern jeweils beabsichtigt war oder inwiefern sie möglicherweise die Wertschätzung für die Songs beeinflusst, ist für Griffiths nicht von Belang. Ihm geht es in erster Linie um das Darlegen und die Beobachtbarkeit des Sachverhalts (vgl. ebd.: 52-53). Etwas konkreter deutet Sam Inglis den Einsatz bestimmter Reimformen. Wie auch Griffiths stuft er Halbreime bzw. Assonanzen als weit verbreitet ein und bezeichnet sie als ‚nächstbeste Lösung‘ zu Vollreimen. Sie würden einerseits dann verwendet, wenn kein passender Vollreim gefunden wurde, andererseits, um ein gewisses Maß an Subtilität zu erzeugen, wie etwa in traurigen oder persönlichen Songs. Unreine Reime seien in Popsongs hingegen eher ungewöhnlich und können, da sie tendenziell nicht der Hörerwartung entsprechen, einen eindringlichen Effekt erzielen. Die Textzeile „I am an Antichrist / I am an Anarchist“ des Sex Pistols Song Anarchy In The UK (1976) lasse sich dergestalt als bewusst gesetzter Kontrapunkt zu den lyrischen Konventionen in ‚braven‘ Popsongs interpretieren, der durch den rauen Gesangsstil von John Lydon zusätzlich verstärkt werde (vgl. Inglis 2001). Weitere Möglichkeiten, um sich von den gängigen Gestaltungsprinzipien abzuheben, bieten sich nach Inglis durch den Verzicht auf die üblichen Reimschemen abab, aabb, xaxa oder durch die Verwendung von Binnenreimen und Alliterationen. Zusätzlich zu rhythmischen und klanglichen Zusammenhängen können, wie schon beim Song Junge skizziert, inhaltliche Bezüge zwischen Text und Musik interpretiert werden. Allan F. Moore nennt als Beispiel Good Vibrations (1966) von den Beach Boys. Das zentrale Thema des Textes ist für Moore der Reflektionsprozess, den der Protagonist im Hinblick auf seine Rolle in der besungenen Liebesbeziehung durchläuft. Im instrumental zurückhaltend begleiteten Mittelteil komme der Protagonist zur Erkenntnis, dass für die „good vibrations“, die er in den Refrains offenbare, vor allem seine Partnerin verantwortlich sei und er selbst aktiver werden müsse, um die Beziehung aufrecht zu 5
Ein weiteres bekanntes Beispiel ist die Phrase „Scrambled eggs, how I like to eat some scrambled eggs!“, aus der letztendlich Yesterday entstand (vgl. Maas 1989: 33).
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erhalten. Dieses Umdenken spiegelt sich laut Moore in der kontrastierenden harmonischen Bewegung der beiden Formteile wider – die aufsteigende Harmoniefolge im Refrain (G-A-B) verläuft im Mittelteil entgegensetzt (B-A-G). Der abschließende Refrain endet auf A, der Protagonist werde zukünftig demnach den Kompromiss wählen (vgl. Moore 2012: 218-219). Nach Dörte Hartwich-Wiechell gibt es in Popmusik vier Typen der Textgestaltung: Die Musik könne erstens vom Text ‚zugeschüttet‘ sein und hauptsächlich eine illustrative Funktion haben, zweitens im Widerspruch zum Text stehen, drittens die textliche Aussage fortsetzen oder viertens den Text verstärken und kommentieren (vgl. Hartwich-Wiechell 1975: 74ff. in Maas 1989: 34). Georg Maas greift Hartwich-Wiechells Modell auf und erweitert es zu einem Raster zur Systematisierung von Text-/ Musikbeziehungen (Maas 1989: 34). Im Folgenden findet sich dieses Raster, ergänzt durch stichwortartige Zusammenfassungen der Beispielanalysen, die Maas zur Veranschaulichung von einigen Kategorien durchgeführt hat (vgl. ebd.: 34-41): Tab. 3: Raster zur Systematisierung von Text-/Musikbeziehungen (nach Maas 1989).
I ohne Bezug kein Bsp.
II pauschaler Bezug aa) Verdopplung des Stimmungsgehalts/Aussagegehalts Bsp.: Action Man in Motown Suite (10cc: 1981) --> der zerrissene Charakter des beschriebenen Protagonisten spiegelt sich in der unterschiedlichen musikalischen Gestaltung von Strophe (sanft, leicht schwebend) und Refrain (hart, aggressiv) wider
ab) Widerspruch im Stimmungsgehalt/Aussagegehalt Bsp.: Revolution (The Beatles: 1968) --> der melodisch und harmonisch unveränderte Text wird in zwei Fassungen vertont, einmal hart und schnell (Single), einmal soft und langsam (Album). Weist auf die ambivalente Haltung John Lennons zur Gewaltfrage hin (agitatorisch versus friedfertig)
ba) Kopie – musikstilistisch Bsp.: Danny’s All-Star Joint (Ricky Lee Jones: 1979) --> nostalgischer Rückblick auf Kindheitserinnerung, der musikalisch durch historische Bezüge bestätigt wird (das Erkennen dieser Bezüge setzt eine gewisse Vorkenntnis beim Rezipienten voraus)
bb) Kopie – personalstilistisch Bsp.: Jet Set Star (Spliff: 1980) --> kritische Auseinandersetzung mit dem Geschäft um die Pop-/Rockmusik – die Gesangsartikulation, der Beat und der Sologitarren-Klang deuten auf die Rolling Stones hin
c) (durchgängiges) Zitat, „Parodieverfahren“ (Kontrafaktur) kein Bsp.
III detaillierter Bezug a) Fortsetzung des Textes kein Bsp.
b) (akustische) „Signale“ kein Bsp.
ba) Realgeräusche Bsp.: Leader of the Pack (The Shangri-Las: 1964) --> Motorradgeräusche
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bb) musikalische „Zeichen“ (z.B. Zitat) Bsp.: Don’t call us, we’ll call you (Sugarloaf/Jerry Corbetta: 1975) --> die ironische Einfärbung des Textes (eine Band wird von der Plattenfirma wegen fehlender Originalität abgelehnt) wird durch ein musikalisches Zitat aus Stevie Wonders Superstition unterstrichen
bc) aufnahmetechnische „Zeichen“ Bsp.: Jet Set Star (Spliff: 1980) --> das dem Star treu ergebene und von ihm ausgenommene Publikum wird satirisch beschrieben und an dieser Stelle akustisch ein Live-Auftritt simuliert, bei dem das Publikum rhythmisch mitklatscht
c) Tonsymbolik u.a. „unhörbarer“ sinnbildlicher Bezug Bsp.: Ebony and Ivory (McCartney/Wonder: 1982) --> thematisiert das friedliche Zusammenleben von Schwarz und Weiß – steht in E-Dur (die Titelsubstantive fallen auf schwarze bzw. weiße Tasten)
Maas erachtet sein Raster, das keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, als hilfreich, um die von ihm herangezogenen Musiktitel vorläufig systematisch einzuordnen. Er begründet die Auswahl der Musikbeispiele damit, dass er sich bei ihnen weitgehend sicher ist, die Anliegen der jeweiligen Urheber angemessen deuten zu können und nicht Gefahr läuft, sie mit „analytischen Befunden und spitzfindigen Interpretationen zu überfrachten“ (ebd.: 35). Um zu erproben, ob Maas’ Raster auch bei einem erweiterten Repertoire nachvollziehbare Klassifizierungen erlaubt, bedürfte es freilich umfangreicher Studien. Aufschlussreich wäre es zudem zu untersuchen, inwieweit die vermutlich intendierten Bezüge von den Rezipienten erkannt und, im Speziellen bei den Kategorien II/aa und II/ab, auch die beabsichtige Wirkung erzielen. Die Überlegungen von Griffiths, Inglis, Kautny, Moore und Maas machen deutlich, dass Musik und Text mindestens auf drei Ebenen (Rhythmus, Klang, Inhalt) ineinandergreifen können und es demnach kurzsichtig wäre, die Wörter als zusätzlichen, vom Klingenden getrennten ‚Kontext‘ zu interpretieren. Hierzu auch John Shepherd: „Thus, if fans do not always ‚listen‘ to lyrics, it may be concluded that it is because they are not always listening to the semantic content or meaning of the lyrics, but are distracted, seduced by nonverbal, even musical, elements of the lyrics to which they are in fact listening just as attentively“ (Shepherd 1999: 173).
Doch wie verhält es sich mit Moores Kategorie der außermusikalischen Verweise? Lassen sich all jene Aspekte, die einem beim Hören von Musik nicht direkt zu Ohren kommen, als außermusikalische Rahmenbedingungen ansehen, die zwar irgendwie zur Musik gehören und sie möglicherweise mit Bedeutungen aufladen, aber für die Wertschätzung bestimmter Musik eher irrelevant sind? Oder ist es umgekehrt, und das Klingende selbst ist austauschbar?
‚Außermusikalische‘ Verweise Simon Obert, der im Essay Komplexitäten und Reduktionen. Zu einigen Prämissen der Popmusikanalyse (2012) die Frage nach dem Gegenstand musikalischer Analyse reflektiert, er-
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achtet es in erster Linie als eine pragmatische Entscheidung des Analysierenden, zwischen klingendem Text und nicht klingendem Kontext zu unterscheiden. Objektiv betrachtet sei eine derartige Trennung nicht haltbar, da sich Text und Kontext gegenseitig errichten: „Ein Musikstück wird ebenso durch seinen Kontext bestimmt, wie es diesen (mit-)bestimmt: Ändert sich der Kontext durch unterschiedliche Kontextualisierungen, ändert sich damit einhergehend die Musik; ändert sich die Musik durch unterschiedliche Wahrnehmungs- und Verstehensweisen, ändert sich auch der Kontext“ (Obert 2012: 12).
Zum einen hänge es vom Wissen und den Erfahrungen des jeweiligen Hörers ab, wie er eine Musik wahrnimmt, er also seinen Hörgegenstand konstituiert. Wie sich ein Gegenstand durch verschiedene Arten der Wahrnehmung ändern kann, zeigt Obert an einer Analyse von Dörte Hartwich-Wiechell (1974). Sie identifiziert einen Klang im Outro des Rolling Stones-Songs Street Fighting Man (1968), der eigentlich von einer indischen Shehani stammt, als einen elektronisch erzeugten Liegeton. Auf Grundlage dieses Befundes lassen sich Annahmen über die Art und Weise, wie die Stones die damalige Studiotechnik einsetzten und was sie damit zum Ausdruck bringen wollten, treffen. Werde hingegen die Shehani erkannt, so könne man interpretieren, dass die Stones mit dem Verwenden eines fernöstlichen Instruments ihre Tendenz zum Eskapismus andeuteten (vgl. Obert 2012: 11-12). Zum anderen bestimme das Erkenntnisinteresse des Forschers, was er als Text und was als Kontext begreift: „Für einen Musikwissenschaftler, der die Verwendung fernöstlicher Instrumente in populärer Musik untersucht, mag der Song ‚Street Fighting Man‘ ein Text sein, für einen Kulturwissenschaftler, der die ’68er-Bewegung untersucht, kann er ein Kontext sein“ (ebd.: 12).
Bei musikwissenschaftlichen Untersuchungen, die je nach Fragestellung durch soziale, historische, mediale etc. Zusammenhänge den zentralen Analysegegenstand, nämlich klangliche Strukturen, erweitern (sollten), werden Text und Kontext demnach zwangsläufig separiert, „um die ins Auge gefassten Konstitutionsverhältnisse genauer erkennen zu können“ (ebd.: 14). Obert spricht hier zwei grundlegende Aspekte im interpretativen Umgang mit Musik an, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch häufiger thematisiert werden – erstens die Besonderheiten, die ein analytisches Hören im Gegensatz zu anderen Arten des Hörens mit sich bringt, und zweitens die Frage, inwieweit bestimmte Wahrnehmungs- und Verstehensweisen von Musik intersubjektiv geteilt werden. Eine Gruppe von Hörern kann z.B. deswegen Gefallen an einer Musik finden, weil ein Rhythmuspattern, eine Harmoniefolge, ein Instrumentensound o.Ä. für sie etwas repräsentiert, das außerhalb des Klingenden liegt und von ihnen als positiv empfunden wird. Interpretationen dazu, worauf die klanglichen Einheiten eines Musikstücks möglicherweise referenzieren, finden sich vor allem in semiotisch orientieren Ansätzen. Einer der bekanntesten und zugleich diskussionsbehaftesten Ansätze ist jener von Philip Tagg. Tagg hat seit Ende der 1970er Jahre eine Reihe von Texten veröffentlicht, in denen er sich mit Musik als bedeutungstragendes Zeichensystem auseinandersetzt
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und die er 2012 im Buch Music’s Meanings überarbeitet und gesammelt hat. Seine Grundannahme ist, dass musikalische Strukturen als Zeichen zu verstehen sind, die eine identifizierbare physische Existenz haben und für etwas anderes als sich selbst stehen: „The semiotics of music, in the broadest sense of the term, deals with relations between the sounds we call musical and what those sounds signify to those producing and hearing the sounds in specific sociocultural contexts“ (Tagg 2012: 145).
Von musikalischen Strukturen lasse sich nur dann sprechen, wenn sie einen symbolischen Wert haben oder „practical building blocks in the construction of music“ (Tagg 1991: 1) seien. Für aussagekräftige Untersuchungen müsse der Musikanalytiker demnach auch semiotisch vorgehen und nicht bloß eine Art Musiker-Arrangeur-Komponist sein (vgl. ebd.: 1-2). Im Kommunikationsprozess könne man das Klingende als Kanal oder kodierte Mitteilung auffassen, die von einzelnen oder mehreren Übermittlern (Komponisten, Produzenten, Tontechnikern etc.) geschaffen und von den Adressaten, die gleichzeitig auch Übermittler sein können, verarbeitet wird. Die beabsichtige Mitteilung sei das, was die Übermittler jeweils auszudrücken versuchen, also „the right sounds at the right time in the right order creating the right ‚feel‘“ (Tagg 2012: 175-176). Welche ‚feels‘/‚moods‘ dies im europäischen und nordamerikanischen Kulturraum sein können, deutet Tagg mit einer Liste von 63 verbalen Annäherungen an, die von ‚rock’n’roll kick ass‘, ‚medieval meditation‘ bis hin zu ‚Barry Manilow Ballad‘ reicht (vgl. ebd.: 176). Seine Annahme ist, dass professionelle Musiker wie auch geübte Hörer zwar potentiell keine seiner vorgeschlagenen Wörter verwenden würden, sie aber dennoch in der Lage wären, eine zu den jeweiligen Beschreibungen korrespondierende Musik zu machen bzw. eine Musik entsprechend zuzuordnen. Die Intentionen der Musiker sind für Tagg jedoch nicht vordergründig relevant, da musikalische Bedeutungen, also „connotations, uses and paramusical contexts“ (Tagg 1991: 7), in letzter Konsequenz immer von den Hörern, in einem bestimmten soziokulturellen Kontext, verhandelt und adaptiert werden (vgl. Tagg 2012: 198). Um der Frage nachzuspüren, ob eine Musik bei mehreren Personen gleiche oder ähnliche Konnotationen hervorruft, haben Tagg und Bob Clarida zwischen 1980 und 1985 Rezeptionstests an 607 Studierenden, die größtenteils aus Schweden stammten und als ‚Nicht-Musiker‘ eingestuft wurden, durchgeführt. Den Probanden wurden bei diesen Tests rein auditiv zehn ihnen unbekannte Titelthemen (real und fiktiv) von Filmen und Fernsehserien vorgespielt, zu denen sie kurze Filmszenarios niederschreiben mussten. In der Auswertung dieser verbalen-visuellen Assoziationen zeigte sich laut Tagg/Clarida ein beachtliches Maß an intersubjektiver Übereinstimmung, was ihnen als empirischer Beleg für die musikalisch-kulturelle Kompetenz der ‚unmusikalischen‘ breiten Masse diente (vgl. Tagg 1991: 2). Mit Hilfe von Taggs Verfahren des interobjektiven Vergleichs und der hypothetischen Substitution (siehe hierzu Tagg 1982: 6-20) isolierten sie sodann die mit den Assoziationen scheinbar korrespondierenden musikalischen Strukturen und entwickelten hieraus eine Typologie musikalischer Zeichen. Unter jenen Zeichentypen, die Außermusikalisches repräsentieren (von Tagg ‚Anaphones‘ genannt),
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Ansätze zur Interpretation
identifizieren sie sonische, taktile und kinetische als die wichtigsten. Ein ‚Sonic Anaphone‘ lässt sich als Stilisierung eines Klangs denken, der vom menschlichen Körper, von Tieren oder von Elementen und Objekten aus natürlichen oder vom Menschen geschaffenen Umgebungen stammt und der für gewöhnlich nicht als musikalisch aufgefasst wird. ‚Tactile Anaphones‘ verweisen auf Aspekte des Spürens und äußern sich z.B. bei orchestralen Streichern durch auf physische Eigenschaften bezogene Klangzuschreibungen wie ‚homogen‘, ‚eben‘ oder ‚dick‘. ‚Kinetic Anaphones‘ repräsentieren die räumliche und zeitliche Komponente von Bewegung. Diese Bewegung kann z.B. als ein von A nach B gehender, fliegender, laufender etc. Mensch visualisiert werden, ebenso wie in Form von fliegenden Bienenschwärmen, startenden Raketen usf. (vgl. Tagg 2012: 485528). Wie ich bereits angemerkt habe, gelten Taggs Forschungen als nicht unumstritten. Chris Kennett kritisiert im Artikel Is anybody listening? (2003), dass Assoziationen zu einer Musik zeit-, demografie- und situationsabhängig stark variieren können und generalisierende Aussagen demnach kaum haltbar sind (vgl. Kennett 2003: 200-204). Tagg ist sich dieser Problematik zumindest in seinen späteren Texten durchaus bewusst und verweist auf die kulturelle Spezifität ihrer empirischen Erkenntnisse: „However, the most substantial problem with our taxonomy is its cultural specificity: 8,552 VVAs from 561 Scandinavians and 46 Latin Americans hearing ten short pieces of stereotypical title music in the 1980s represents an absolutely infinitesimal part of all the VVAs imaginable in response to any music heard by any population at any time in any place. For this reason our taxonomy should be understood as just one example of VVA classification among a virtually infinite number of possible variants. It’s in no way intended as a universally applicable or scientifically watertight taxonomy“ (Tagg 2012: 215-216).
Skeptisch werden insbesondere seine früheren Untersuchungen zum Titelthema der Fernsehserie Kojak sowie zum Abba-Song Fernando (vgl. Tagg 1979 u. 1981) betrachtet, die eine generelle Schwäche semiotisch orientierter Ansätze offenbaren. Die Strophe von Fernando (1975) beschwöre eine Postkartenidylle herauf, in der eine junge europäische Frau, alleine vor dem Hintergrund eines chilenischen Andenplateaus, nostalgisch auf den gemeinsamen Freiheitskampf mit ihrem Fernando zurückblickt. Unterdrückung, Armut und Kampf werden durch einen westlich-touristischen Filter vermittelt, was sich in der räumlichen Aufteilung der Stimmen (‚ethnische‘ Panflöten links und rechts im Stereopanorama, die Singstimme in der Mitte) widerspiegle. Die Aufrichtigkeit der Frau zeichne sich u.a. an ihrem stimmlichen Ausdruck und dem Fehlen von Bass und Gitarre ab (vgl. Tagg 1982: 16-18). Auch das Kojak-Thema bekräftige einen monozentristischen Blick auf die Welt – der heldenhafte Alleingänger müsse sich in einer ihm feindlich gesinnten urbanen Umgebung durchkämpfen (vgl. ebd.: 17). Deutungen dieser Art gelten insofern als fragwürdig, als dass bei ihnen, wie Martin Pfleiderer ausführt, die Tendenz besteht, „[...] persönliche Interpretationen und Spekulationen über mögliche Bedeutungen an die Stelle einer empirisch abgesicherten Beschreibung jener musikalischen Bedeutungsgebungsprozesse zu
Referentielle Ansätze
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setzen, mit denen ganz bestimmte Hörergruppen in konkreten Hörsituationen tatsächlich bestimmten Klanggebilden Bedeutungen zuschreiben“ (Pfleiderer 2006: 26).
Ein theoretisches Konzept, das mögliche Bedeutungszuschreibungen seitens der Hörer systematisiert und für die Untersuchung musikalischer Werturteile nutzbar sein könnte, hat Gino Stefani (1981) vorgeschlagen. Nach Stefani unterscheiden sich Hörergruppen durch ihre Kompetenz, bestimmte musikalische Codes zu erkennen. Diese CodeKompetenzen kategorisiert er in fünf Ebenen: Erstens generelle Codes, die allen Menschen zugänglich sind und durch die wir alltägliche Erfahrungen einzuordnen und interpretieren wissen. Zweitens soziale Praktiken, die Menschen aufgrund ihrer Sozialisation teilen und mit kulturellen Spezifika wie Sprache, Religion oder Technologie zusammenhängen. Drittens musikalische Techniken, die sich auf musikalische Theorien, Methoden und Instrumente beziehen. Diese drei Kompetenzebenen finden auf der vierten Ebene (Stile) eine konkrete Realisierung. Die fünfte Ebene (Opus) ermöglicht das Erkennen der Individualität von musikalischen Äußerungen (vgl. Stefani 1981 in Pfleiderer 2006: 25 sowie Stefani 1987 in Brackett 2000: 12). Für Hörer mit einer populären Kompetenz sind nach Stefani vor allem generelle Codes und soziale Praktiken interessant, während hochkulturell kompetente Hörer eher auf die individuellen Besonderheiten eines Stücks fokussieren. David Brackett, der in seinen Untersuchungen zu musikalischen Codes auch Stefanis Modell aufgreift, äußert die Vermutung, dass die Wertschätzung für bestimmte Songs u.a. damit zusammenhängt, ob sie vom Rezipienten als unter- oder übercodiert wahrgenommen werden. Untercodierte Stücke, wie etwa aus dem Bereich der Avantgardemusik oder des Free Jazz, lassen ganz eigene, individuelle Deutungsmöglichkeiten zu, während bei übercodierten Stücken (bspw. Werbejingles) jedes Detail von einem Netzwerk expliziter Codes und Subcodes überzogen sei. Er konkretisiert diese Idee an Bing Crosbys und Billie Holidays Fassung des Songs I'll Be Seeing You (beide aus 1944). Aus der Distanz mehrerer Jahrzehnte betrachtet sei Crosbys Aufnahme mittlerweile relativ übercodiert. Insbesondere die orchestrale Begleitung und das expressive Rubato haben sich zunehmend zu Klischees entwickelt, die in Werbungen ebenso zu finden seien wie unzählige ‚Lounge-Sänger‘ Crosbys Art und Weise zu singen imitieren. Dies führt Brackett auf die große Popularität und den Einfluss dieser Musik zur damaligen Zeit zurück. Holidays Fassung, bei der er Dissonanzen, spontane Variationen und nicht aufgelöste Spannungen ausmacht, sei hingegen eher unzugänglich und schwer nachzuahmen (gewesen), weswegen sie individueller interpretiert werden könne und demzufolge als tendenziell untercodiert einzuordnen sei. Brackett macht jedoch deutlich, dass die Wahrnehmung und Bewertung dieser Codes in letzter Konsequenz vom einzelnen Hörer und dessen persönlicher Erfahrung abhängt. Ein Hörer, der mit der Musik Bing Crosbys aufgewachsen ist und wenig Interesse für Jazz bzw. „post-rock ’n’ roll pop music“ (Brackett 2000: 71) hat, schätzt Crosbys I’ll Be Seeing You möglicherweise aus nostalgischen Gründen und empfindet die Version von Holiday als zu gekünstelt. Für eine Person mit einer Vorliebe für westliche Kunstmusik ist Billie Holidays Version eventuell
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Ansätze zur Interpretation
zu statisch und er findet Gefallen an der Orchestrierung, den Temposchwankungen und dem Rubato bei Bing Crosby (vgl. ebd.). Brackett hat seine Vermutungen empirisch bislang leider nicht nachgeprüft, ebenso wie bei Stefani die Frage offenbleibt, „auf welche Codes verschiedene Hörergruppen tatsächlich zurückgreifen und wie sich die Codes historisch entwickeln und verändern [...]“ (Pfleiderer 2006: 26) und seine Kategorien hilfreich sind, diese Codes systematisch zu untersuchen. Als Fazit dieses Kapitels zu referentiellen Ansätzen ist festzuhalten, dass Genrekonventionen, andere Musikstücke, Songtexte oder Verweise auf ‚Außermusikalisches‘ es dem Hörer ermöglichen, mit einer Musik mehr zu verbinden bzw. mehr zu hören als ausschließlich stückinterne strukturelle Zusammenhänge. Der Umgang mit Musik und letztlich auch die Freude am Musikhören beschränkt sich freilich nicht nur darauf, bestimmte Verweise oder Querbezüge zu erkennen, sondern mit Musik kann ebenso die Zugehörigkeit oder die Abgrenzung zu sozialen Gruppen zum Ausdruck gebracht werden. Dies wirft wiederum die Frage auf, inwieweit das Klingende in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Vorgängen und Bedingungen steht und die Wertschätzung für bestimmte Musik hiervon beeinflusst ist.
2.4 Soziologische Ansätze Soziologische Ansätze
„Der Soziologe steht bei der zeitgenössischen Popmusik einem Korpus an Songs, Schallplatten, Stars und Stilen gegenüber, die aufgrund einer Kette von Entscheidungen seitens der Produzenten als auch der Konsumenten dieser Musik existieren. Von den Musikern werden Songs geschrieben und Soli gespielt; Produzenten wählen unter verschiedenen Soundmöglichkeiten aus; Plattenfirmen und Rundfunkredakteure entscheiden, was veröffentlicht und gespielt werden soll; Konsumenten kaufen eher die eine Platte als eine andere und konzentrieren sich auf bestimmte Genres. Im Ergebnis all dieser offensichtlich individuellen Entscheidungen findet sich dann ein Erfolgs-, Geschmacks- und Stilmuster, das soziologisch erklärbar ist“ (Frith 1992).
Nach Frith kann die Soziologie grob aus zwei Blickwinkeln untersuchen, weswegen ein populärer Song „so und nicht anders klingt“ (ebd.). Es lasse sich den technischen und technologischen Bedingungen nachspüren, unter denen eine Musik produziert und konsumiert wird, als auch den Funktionen, welche die Musik in den sie tragenden sozialen Gruppen erfüllt. In Bezug auf Ersteres hält Frith fest, dass z.B. die Entwicklung der Popmusik des 20. Jahrhunderts in einem untrennbaren Bezug zur Elektronik, zur Aufnahmetechnik, zur Verstärkung usf. steht, ebenso wie sich das Selektionsverhalten der Rezipienten durch Transistorradios, Stereoanlagen, Walkmen u.Ä. stark verändert hat. Der Soziologe Alfred Smudits, der in Mediamorphosen des Kulturschaffens (2002) die Beziehung zwischen Kommunikationstechnologien und Kulturschaffen systematisch erarbeitet, macht deutlich, dass sich durch neue Kommunikationstechnologien auch die Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen verändern. Die Potentiale der
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Entwicklungen werden von den Kulturschaffenden ausgelotet und entfaltet, wodurch allmählich neue Inhalte und Formen entstehen, die den neuen Technologien mehr entsprechen als die vorherigen. Gleichzeitig verstärke sich auf Rezipientenseite die Nachfrage nach neuen ‚Textqualitäten‘ (vgl. Smudits 2002: 91). Diese Transformationsprozesse fasst Smudits unter dem Konzept der ‚Mediamorphosen‘, das er gemeinsam mit Kurt Blaukopf entwickelt hat: „Mediamorphosen [...] verändern also das gesamte Beziehungsgefüge der Kommunikationskultur: Motivation und Erscheinungsform der Auftraggeber, Produktionsbedingungen der Kulturschaffenden, Funktion und Bedeutung der Vermittler, Wahrnehmungsweisen der Rezipienten und nicht zuletzt Funktion und innere Struktur der ‚Werke‘, also der ästhetischen Produkte und Prozesse“ (ebd.).
Smudits versteht Kommunikationstechnologien als Produktivkräfte, die das Kulturschaffen bislang in fünf großen Entwicklungsstufen „umfassend und unumkehrbar“ (ebd.: 16) beeinflusst haben. Die erste Entwicklungsstufe bezeichnet er als ‚schriftliche‘ oder ‚erste grafische Mediamorphose‘ und bezieht sich auf die Erfindung der Schriftzeichen. Dieser gehe, als Sonderform, die ikonisch grafische Kodierung voraus (Höhlenmalereien). Mit der Erfindung des Buchdrucks lasse sich die ‚zweite grafische Mediamorphose‘ markieren – die erste umfassendere gesellschaftliche Verbreitung grafischer Kodierung. Als dritte Entwicklungsstufe, die als erste zur technischen Kodierung führte, nennt Smudits die ‚chemisch-mechanische Mediamorphose‘. Diese sei in erster Linie durch die Entwicklung der Fotografie gekennzeichnet, mit der Wirklichkeit direkt wiedergegeben werden konnte und nicht nur visuelle Artefakte, wie bei den vorher üblichen grafischen Reproduktionsverfahren. Ähnlich wie die Verfahren zur Schallaufnahme mittels Phono- oder Grammophonen, die ebenso in dieses Innovationszeitalter einzuordnen seien und die Notation als primäres Medium zur Verbreitung von Musik ablösten, stehe die Fotografie demnach an der Schnittstelle zwischen grafischen und technischen Mediamorphosen. Im Gegensatz zur ‚elektronischen Mediamorphose‘, die durch die Erfindung der drahtlosen Signalübertragung ihren Anfang nahm, mussten Ton- und Bildträger jedoch noch physisch zu den Rezipienten transportiert werden. Mit der Einführung der Digitaltechnik, der bislang letzten, ‚digitalen Mediamorphose‘, ergaben sich weitere gravierende Veränderungen in der Kommunikation, wie etwa hinsichtlich der Kapazität und Qualität der Kanäle und Speicher, der Vernetzbarkeit oder der andersartigen Erstellung von Bildern und Klängen (mit dem Bildschirm als zentrales Arbeitsgerät). Elektronische und digitale Kodierungen machen zudem eine technische Übersetzung und Rückübersetzung erforderlich, während lebendige und grafische Kodierungen im Bereich sinnlicher Wahrnehmung stattfinden (vgl. ebd.: 105-133). Für Smudits sind bei diesen Mediamorphosen vor allem deren Auswirkungen auf die Produktionsbedingungen der Kulturschaffenden interessant. Er orientiert sich dabei an berufssoziologischen Kriterien wie Berufsstatus, Grad der Subsumtion unter eine industrielle/kapitalistische Produktionsweise, Professionalisierung, Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten sowie ‚Mediatisierung‘ und ‚Kommerzialisierung‘ (vgl.
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Ansätze zur Interpretation
ebd.: 99-100). Die Auswirkungen auf die Rezeptionsweisen und auf die „innere Struktur der ‚Werke‘ – also z.B. auf die Herausbildung neuer Stile, Genres, neuer ästhetischer Wertvorstellungen etc. [...]“ (ebd.: 92) – stehen für ihn nicht im Interessenzentrum, wobei er vor allem in Bezug auf die sich potentiell verändernden ‚Werke‘6 einen Mangel an theoretisch fundierten Untersuchungen ausmacht (vgl. ebd.). Welchen Einfluss technologische Entwicklungen auf die Produktion und Rezeption einer Musik haben können, deutet Mark J. Butler am Beispiel von ‚Electronic Dance Music‘ an (Butler 2006). Hier sei die übliche Rollenverteilung zwischen Künstler, Produzent und Rezipient insofern aufgebrochen, als dass viele DJs gleichzeitig als Produzenten tätig seien (und umgekehrt) und die Hörer häufig auch selbst Musik machen. Den hohen Grad an musikalischer Partizipation, den er im Rahmen seiner Feldforschungen in Indiana (USA) beobachtet hat, führt Butler auf drei Gründe zurück. Erstens erfordere das Schaffen dieser Musik nicht zwangsläufig Mitmusiker, wodurch der Organisationsaufwand für Proben und Proberäume wegfalle. Zweitens sei die benötigte Technologie verhältnismäßig billig und leicht verfügbar. Die musikalischen Fertigkeiten lassen sich drittens gut auf autodidaktischem Wege aneignen (‚hands-on‘), wobei die komponierten Stücke zumeist in Eigenregie aufgenommen werden und die Beschäftigung mit der Technologie somit ein integraler Bestandteil des Lern- und Gestaltungsprozesses sei (vgl. Butler 2006: 48-49). Dass sich der Einsatz gewisser Technologien konkret im Klingenden widerspiegelt, legen Butlers Ausführungen zu Sequenzen in EDM nahe. Sequenzen, also (im EDMKontext) Abschnitte mit einer bestimmten Instrumentierung, die für eine bestimmte Zeit mit üblicherweise gleichbleibender Taktanzahl abgespielt werden, können auf zwei verschiedene Arten die Grundbausteine eines EDM-Tracks bilden. Der Produzent/DJ habe einerseits die Option, nur eine oder zwei Sequenzen wiederholt ablaufen zu lassen und währenddessen ausgewählte Elemente wegzunehmen, hinzuzufügen oder klanglich zu modifizieren, um die Textur variabel zu gestalten. Andererseits könne er auch mehrere unterschiedlich instrumentierte Sequenzen aneinanderreihen (vgl. ebd.: 207-209). Diese Charakteristika des Formaufbaus stehen in einem engen Zusammenhang mit den verwendeten Technologien. Durch die Erfindung des Synthesizers, des Drumcomputers, des Plattenspielers mit veränderbarer Geschwindigkeit und Direktantrieb und nicht zuletzt durch digitale Sampler und Software-Sequencer sei es den Produzenten/DJs ermöglicht worden, die Sequenzen kontrolliert und gegebenenfalls in Echtzeit zu steuern. Warum sich bei EDM gerade diese Art der Gestaltung durchgesetzt hat, kann möglicherweise über die sozialen Funktionen der Musik erklärt werden. Brewster und Broughton haben die These einer „‚creative perversion‘ of technology“ (Brewster/ 6
Smudits setzt den Werkbegriff stets in Anführungszeichen, da er ihn nicht im bürgerlich-kunstideologischen Sinne denkt, sondern in Richtung „umfassender Produkte und Prozesse oder Praktiken“ (ebd.: 91, Fußn.).
Soziologische Ansätze
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Broughton 2000: 315 in Butler 68) aufgestellt, nach der die frühen EDM-Protagonisten bestimmte Technologien bewusst für andere Zwecke eingesetzt haben als ursprünglich von den Herstellern intendiert. Als bekanntes Beispiel nennt Butler diesbezüglich den Analogsynthesizer Roland TB-303, der eigentlich für das Erzeugen von Bass-Linien gedacht war und E-Bassisten bei Live-Auftritten ersetzen sollte. Von EDM-Musikern wie DJ Pierre sei der Synthesizer jedoch vor allem für das Modifizieren von Klangeigenschaften wie Resonanz und Decay verwendet worden, wodurch sie den für Acid House prägenden Sound schufen. Hierbei wurde nach Butler mit Absicht in Kauf genommen, dass der TB-303 sehr unzuverlässig funktionierte und die Fehler gleichsam als Möglichkeit zur überraschenden und interessanten Gestaltung gesehen. Diese Herangehensweise lasse sich auch in den späten 1990er Jahren beobachten, als die Musiker Fehler in der digitalen Signalübertragung nicht zu eliminieren versuchten, sondern Verzerrung, Antialiasing und Clipping als Stilmittel einsetzten: „While EDM DJs and producers gladly avail themselves of new ways to make music, they do so within an aesthetic that cherishes obsolence, simplicity, and technological error“ (Butler 2007: 115).
Der Zugang, Gerätschaften zweckentfremdet zu gebrauchen und Unangenehmes/ Unerwünschtes zu erzeugen, kann, ähnlich wie beim absichtsvollen Übersteuern und Rückkoppeln von Gitarrenverstärkern zur Zeit von The Who, als Statement interpretiert werden, das eine Gegenhaltung zur dominanten Kultur zum Ausdruck bringt (vgl. Jauk et al. 2000). In Bezug auf das eigentlich zu vermeidende Gitarrenfeedback merkt Chris Cutler an, dass es „zum neuen, der Musik verfügbaren und kontrollierbaren Sound [wurde]. [...] Doch es war anregend und befreiend. Es schien jenseits von Ästhetik und Ware angesiedelt zu sein“ (Cutler 1995: 116 in Brabec de Mori 2008: 3). Durch die oben angesprochene, EDM-typische Gestaltung in Sequenzen bzw. Patternkombinationen, bei denen metrische und texturelle Aspekte einen weitaus höheren Stellenwert als funktionsharmonische Zusammenhänge einnehmen, wurde zusätzlich auch das traditionelle Ordnungsprinzip westlicher Musik in Frage gestellt. Einen noch naheliegenderen sozial-funktionalen Grund, dieses ‚Baukastenprinzip‘ (vgl. Pfleiderer 2006: 315-316) anzuwenden, kann in der primären Darbietungs- und Rezeptionsweise der Musik gefunden werden. Sie wird in erster Linie in Clubs aufgeführt, in denen das Tanzen im Mittelpunkt steht. Ein Unterschied zu traditionellen Tanzmusiken, wie etwa dem Walzer, besteht für Butler darin, dass die Besucher einen erheblichen Einfluss auf die gespielte Musik haben können. Zwar haben sie im Normalfall keine direkte Kontrolle über die Auswahl der Tracks, jedoch kommunizieren sie dem DJ durch ihr Verhalten und die Art und Intensität des Tanzens, welche Musik in bestimmten Situationen erforderlich ist, um die gemeinschaftliche Energie, den ‚Vibe‘ auf der Tanzfläche aufrechtzuerhalten (vgl. Butler 2006: 72). Ein guter DJ müsse in der Lage sein, diese Signale zu erkennen und spontan darauf zu reagieren, indem er z.B. die Bassdrum für kurze Zeit wegschaltet. Das Fehlen des Beats habe zur Folge, dass das Publikum zögerlicher tanzt oder stillsteht, während gleichzeitig die Erwartung auf das
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Ansätze zur Interpretation
Folgende gesteigert wird. Setzt der Beat wieder ein, werde üblicherweise mit einer höheren Intensität getanzt als zu vorherigen Abschnitten des Tracks (vgl. ebd.: 92). Für ein gelungenes Set dürfe der kontinuierliche Fluss der Musik allerdings nicht komplett unterbrochen werden. Der ‚Mix‘, also das nahtlose Ineinandermischen unterschiedlicher Tracks, sei ein weiteres Kriterium für die Beurteilung der Qualität eines DJs (vgl. ebd.: 94). In beiden Fällen spiele der sequentielle und schichtenartige Aufbau der Musik eine entscheidende Rolle – die Patterns können unabhängig voneinander gesteuert und mit Hilfe von EQs, einem ‚Tempo Slider‘ und dem Crossfader in der Livesituation angepasst und kombiniert werden (vgl. ebd.: 52-55). Ein nicht unumstrittenes Konzept aus dem Bereich der Cultural Studies, das u.a. die Frage aufgreift, inwieweit das Klanggeschehen die Charakteristika einer sozialen Gruppe widerspiegelt, ist jenes der ‚strukturellen Homologie‘ von Paul Willis (1981). Willis untersucht mit ethnografischen Methoden die Strukturen, die Form und den Stil der beiden „Minderheitenkulturen“ (Willis 1981: 25) ‚Rocker‘ und ‚Hippies‘. Das Ziel seiner Studien ist der Nachweis, dass „gewisse Dinge im kulturellen Umfeld einer gesellschaftlichen Gruppe enge Parallelen zu deren Gefühlsstruktur und charakteristischen Interessen zeigen“ (ebd.: 20). Willis’ besonderes Interesse gilt der Beziehung beider Kulturen zu den sie konstituierenden materiellen Gegenständen, in denen sich seiner Ansicht nach ihre Identität manifestierte. Bei den Rockern macht er das Motorrad und den Rock’n’Roll, bei den Hippies Drogen und progressive Musik als die wichtigsten aus (vgl. ebd.). Popmusikalische Formen hatten demnach bei beiden Gruppen die Fähigkeit, „bestimmte gesellschaftliche Bedeutungsgehalte in sich zu tragen und zu bewahren“ (ebd.: 105). Wie sich dies im Musikalischen konkret ausdrückte, versucht Willis andeutungsweise analytisch zu umreißen. Bei dem von den Rockern bevorzugten Rock’n’Roll der 1950er Jahre war in Bezug auf Rhythmus, Tonalität, Melodiefolge und Dynamik eine Abkehr von den bis dahin anerkannten Konventionen erkennbar. Durch den regelmäßigen, jeden Taktschlag gleich stark betonenden Beat, den Willis als das Fundament der Musik ansieht, entstand eine Art dahinfließender, kontinuierlicher Strom, der an die Stelle einer strukturierten und variierten Abfolge rhythmischer, melodischer und harmonischer Ereignisse trat. Der Mangel an einer Hierarchie von Taktschlägen führte dazu, dass alle Elemente gleichwertig waren und das Gefühl von Ordnung und geordneter Zeit untergraben wurde. Ein Rock’n’Roll-Stück konnte demnach jederzeit unter- oder abgebrochen werden und bedurfte keiner Organisationsprinzipien klassischer Musik, wie etwa die Abfolge Crescendo/Decrescendo oder Schlusskadenzen, um zu einem Ende zu kommen. Indem der Rock’n’Roll die konventionelle Tonalität umging sowie konventionelle Akkordfolgen und Melodielinien ignorierte, um stattdessen mit Wiederholung und ‚Zeitlosigkeit‘ zu experimentieren, musste die Musik auch nicht als Ganzes wahrgenommen werden. Jeder Teil der Musik ließ sich für sich verstehen (vgl. ebd.: 105-107). Für Willis entsprach das Verdrängen der strukturierten Zeit aus der Musik dem ruhelosen, konkreten Stil der Rocker, die nicht versuchten, „den Dingen Kausalität oder logische Abfolge zuzuschreiben“ (ebd.: 108):
Soziologische Ansätze
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„Es ging ihr [der Motorradkultur; Anm. BSt] darum, in einer konkreten, essentiell zeitlosen Welt zu leben und Erfahrungen zu sammeln – zeitlos gewiß in dem Sinn, daß sie keine geordneten rationalen Abfolgen akzeptierten. Das ständige Auspuffhämmern des Motorrads im Ohr (das an das ‚Pulsieren‘ ihrer Musik erinnert), während man ziellos dahinfährt [...], das ist ein gleichbleibender Daseinszustand, nicht ein zielgerichtetes, zeitgebundenes Handeln auf ein funktionales Ereignis hin“ (ebd.).
Ein weiterer Aspekt der Beziehung zwischen der Kultur und dem Stil der Rocker und der inneren Struktur der Musik bestand im (Wieder-)Zulassen der Körperlichkeit. Durch das Voranstellen regelmäßiger und durchgehender Rhythmen war der Rock’n’Roll weitaus zugänglicher und tanzbarer als die an der europäischen Klassik orientierte Musik. Dies kam dem Lebensstil der Rocker, der auf Selbstvertrauen, Bewegung und wenig Verlangen nach Abstraktion basierte, entgegen (vgl. ebd.: 95, 107). Für die Hippies war im Unterschied dazu das Erleben einer eigenen Art und Weise von Komplexität und Abwechslungsreichtum wichtig (vgl. ebd.: 211). Sie stellten normale gesellschaftliche Bräuche und Einstellungen infrage, lehnten Materialismus und Rationalität ab und wollten auf spirituellem Weg „die Faszination der unmittelbaren Umwelt [...] genießen“ (ebd.: 122). Ihr Lebensstil basierte auf Kreativität, Originalität und Individualität, was sich u.a. in der Kleidung, im Tanz und in der Vorliebe für ‚progressive‘ Popmusik ausdrückte. Diese Musik hatte die „regressiven und primitiven Elemente des frühen Rock’n’Roll“ (ebd.: 208) aufgegriffen, sich dessen Rückbesinnung auf Körperlichkeit zunutze gemacht und hieraus etwas Neues, ‚Komplexeres‘ entwickelt. Das fließende Pulsieren des regelmäßigen, konstanten Rock-Beats wurde adaptiert und abwechslungsreicher gestaltet, man setzte neue Technologien der Klangmanipulation ein, um das Gefühl von Räumlichkeit zu erzeugen, und auch tonale Strukturen nahmen insofern wieder einen höheren Stellenwert ein, als dass traditionelle Regeln bewusst missachtet und ironisch mit ihnen gespielt wurde: „Sie [die ‚progressive‘ Musik; Anm. BSt] nutzte den Umstand, daß der Rock ’n’ Roll die musikalischen Konventionen aufgebrochen hatte, und kombinierte traditionelle wie auch neue Elemente zu originellen und kreativen Formen. Gleichzeitig behielt sie das bei, was das eigentlich Originelle des Rock ’n’ Roll ausmachte: die Zeitlosigkeit und das Aufbrechen formaler Sequenzen“ (ebd.: 211).
Willis’ Beobachtung zufolge hörten die Hippies Musik nicht zur Zerstreuung oder als Zeitvertreib. Vielmehr betrachteten sie Musik als eine Erfahrung, die ein ruhiges und konzentriertes Wahrnehmen erfordert. Da die Single, die auf ein beschränktes Gefühl festgelegt war, diesen Anspruch nicht erfüllen konnte, bevorzugten sie das (neue) Format der Langspielplatte. Diese ermöglichte einen Zustand des Versenkens in die Musik, wobei die nun verwendeten Variationen, Gegenläufe und weitgespannten Formen insbesondere bei Konzeptalben voll zur Entfaltung kamen (vgl. ebd.: 196-197, 211-212). Im theoretischen Anhang seines Buches macht Willis ganz allgemein drei Möglichkeiten aus, wie ein kultureller Gegenstand analysiert werden kann. Einerseits lasse sich behaupten, dass die Bedeutung und der Wert eines Gegenstands zur Gänze sozial vor-
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Ansätze zur Interpretation
gegeben seien, er also eine Art Gefäß darstellt, in das soziale Gruppen ihre Lebensweise ‚hineinlesen‘. Hiernach sei etwa die Beziehung zwischen Rockern und Rock’n’Roll rein zufällig entstanden, da es „nichts in der Kunstform Innewohnendes gibt, was sie – und keine andere Form – für eine bestimmte Gruppe passend macht“ (ebd.: 248). Aus einer solchen Perspektive bestehe keine Notwendigkeit, das Klingende zu analysieren, da es seine Bedeutung von außerhalb erhalte und von verschiedenen Gruppen womöglich komplett unterschiedlich aufgefasst werde. Gehe man andererseits davon aus, dass ein kultureller Gegenstand stets die gleichen immanenten Qualitäten habe, so böte sich wiederum wenig Raum für eine soziale Analyse. Die Bedeutung und der Wert des Klingenden wären unabhängig von den sozialen und kulturellen Interessen einer Gruppe (vgl. ebd.: 248-249). Anstatt eine dieser entgegengesetzten Positionen einzunehmen, die ich schon in früheren Abschnitten angedeutet habe, wählt Willis einen Mittelweg. Seiner Ansicht nach sind Wichtigkeit, Wert und Bedeutung eines kulturellen Gegenstands zwar sozial vorgegeben, jedoch gebe es objektive Grenzen, die dessen innere Struktur setzt. Eine bestimmte Musik stelle demnach ein limitiertes Spektrum an ‚objektiven Möglichkeiten‘ bereit, die gewissen Bedeutungsgehalten und Einstellungs- und Gefühlsstrukturen einer sozialen Gruppe förderlich sein können und diese potentiell widerspiegeln. Obgleich sie sich nicht beliebig interpretieren oder beeinflussen lassen, so seien die objektiven Möglichkeiten dennoch polyvalent, was zur Folge habe, dass „bestimmte soziale Gruppen immer eine eigene Form für ihr Verhältnis zu vorher nicht gesehenen Aspekten traditioneller Gegenstände entwickeln [können]“ (ebd.: 250). Unterlegene Kulturen wie die Rocker oder Hippies können dergestalt eigene Bedeutungsgehalte hervorbringen, indem sie die Möglichkeiten von scheinbar trivialen, gebrauchsbezogenen, ‚kunstlosen‘ Gegenständen, welche von der herrschenden Kultur bereits ausgebeutet werden, (vielleicht auch unbewusst) kreativ ausnutzen (vgl. ebd.: 251-252). Dieser gesellschaftspolitische Aspekt, der für Willis von großer Wichtigkeit ist, soll hier nicht weiter vertieft werden. Für die vorliegende Arbeit ist relevanter, dass er mit seiner homologischen Analyse aufzeigt, wie sich soziologische und musikwissenschaftliche Interpretationen zusammenführen lassen, um den „komplexen qualitativen Zustand einer kulturellen Beziehung, so wie er in einem bestimmten Zeitraum zu beobachten ist“ (ebd.: 239) beschreibbar zu machen.7 Der Soziologe Gerhard Schulze beschäftigt sich in Die Erlebnisgesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart (1995) nicht wie Willis mit Subkulturen, sondern mit der Struktur sozialer Großgruppen in Westdeutschland Mitte der 1980er Jahre. Seine Grundannahme ist, dass sich infolge des steigenden Wohlstands die Möglichkeiten jedes Einzelnen vermehrt und damit auch die Lebensauffassungen gewandelt haben. Im Zentrum stehe nun 7
Wenngleich seine musikanalytischen Aussagen zum Teil etwas fragwürdig sind, etwa hinsichtlich des Ignorierens von Harmonie und Melodie in Rock’n’Roll. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass zur damaligen Zeit nur wenige musikalische Analysen populärer Musik vorhanden waren und er selbst auch kein Musikwissenschaftler ist (er holte sich diesbezüglich externen Rat).
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Soziologische Ansätze
das „Erleben des Lebens“ (Schulze 1995: 33), also eine Lebensauffassung, die nach Innen gerichtet sei und bei der das Ziel verfolgt werde, ein subjektiv als schön, interessant und lohnend empfundenes Leben zu führen. Dies sei früher nur von wenigen Privilegierten anstrebbar gewesen, während ein Großteil der Menschen in erster Linie außenorientierte Ziele hatte (Beschaffung lebensnotwendiger Ressourcen, Geldeinkommen, Fortbewegung u.Ä.). Schulze bezeichnet den neuen Gesellschaftstypus, bei dem die Ästhetisierung des Alltagslebens einen hohen Stellenwert einnimmt, als ‚Erlebnisgesellschaft‘. Um das mannigfaltige Angebot an Möglichkeiten, „die Welt zum Gegenstand des Erlebens zu machen“ (ebd.: 128) zu ordnen, bilden sich persönliche Gewohnheiten und Stile heraus, die an kollektiven Mustern des Erlebens orientiert seien. Diese ‚alltagsästhetischen Schemata‘ beschreiben das Verhältnis von sinnlich erfahrbaren Ereignissen (‚ästhetische Zeichen‘) und den ihnen von einer Deutungsgemeinschaft zugeordneten Bedeutungen (vgl. ebd.: 127): „Alltagsästhetische Schemata kodieren kollektive Bedeutungsmuster für große Zeichengruppen: Sie legen erstens fest, was normalerweise zusammengehört, statten zweitens die als ähnlich definierten Zeichen mit zeichenübergreifenden Bedeutungen aus und erheben drittens beides zur sozialen Konvention“ (ebd.).
Auf Grundlage einer 1985 durchgeführten, standardisierten Repräsentativumfrage von über 1000 Personen aus der Stadt Nürnberg hat Schulze drei alltagsästhetische Schemata höchsten Kollektivitätsgrades herausgearbeitet – Hochkultur-, Trivial- und Spannungsschema. Um die Bedeutung der jeweils typischen Zeichengruppen zu interpretieren, orientiert er sich an drei Bedeutungskomplexen des persönlichen Stils, die von ihm in vorherigen Kapiteln klassifiziert wurden – Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie. In der folgenden Tabelle sind im Überblick seine Ergebnisse dargestellt (siehe ebd.: 163), ergänzt durch eine Zusammenfassung der musikalischen Charakteristika, die im Verlauf der Interpretationen Erwähnung finden (vgl. ebd.: 142-157): Tab. 4: Alltagsästhetische Schemata (nach Schulze 1995). Alltagsästhetische Schemata
Typische Zeichen (3 Beispiele)
Hochkulturschema
klassische Musik, Museumsbesuch, ‚gute Literatur‛
Trivialschema
deutscher Schlager, Fernsehquiz, Arztroman
Bedeutungen
Musikalische Charakteristika
Genuss
Distinktion
Lebensphilosophie
Kontemplation
antibarbarisch
Perfektion
Form, Variation, Interpretation
Harmonie
behäbige/gleichförmige Rhythmik, Betonung erster Taktschlag, Wiederholung, Schlussakkord, Terzen/Sexten
Gemütlichkeit
antiexzentrisch
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Spannungsschema
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Rockmusik, Thriller, Ausgehen (Kneipen, Discos, Kino usw.)
Action
antikonventionell
Narzissmus
Synkopen, vorwärtstreibende Rhythmen, Lautstärke, Betonung der Bässe, bestimmte Klangfarben, heiseres Timbre, Septen/Sekunden/ verminderte Quinten
Das hochkulturelle Genussschema sei demnach geprägt vom Streben nach dem Geistigen/Absoluten/Höheren, nach einem Zustand der Versenkung in konzentrierter Ruhe. Genuss entstehe hier durch das Dekodieren eines ästhetischen Gegenstands, wobei nicht die Inhalte vordergründig relevant seien, sondern elaborierte formale Strukturen und deren Variation. Abgelehnt werde expressives Verhalten, zur Schau gestellte Körperlichkeit und offensichtliches ‚Ungebildetsein‘ (ausgedrückt bspw. durch Lesen der Bildzeitung oder Massentourismus). Das Lebensprinzip der Perfektion äußere sich im Zelebrieren des Besonderen, etwa in der Wertschätzung für eine als besonders gelungen erachtete musikalische Interpretation. Beim Trivialschema gebe es eine Tendenz zur Gemütlichkeit. Es werde Musik bevorzugt, die zur gleichförmigen und kollektiven Bewegung einlädt (Schunkeln, Stampfen, Mitklatschen etc.), die einfach gestaltet ist und ein Harmoniebedürfnis befriedigt, indem Schlichtes und Altgewohntes wiederholt wird. Gegenüber dem Fremden, Individualistischen oder Provozierenden sei man misstrauisch, da hierdurch das Familiäre der eigenen Gruppen gefährdet werden könne. Die Suche nach Abwechslung, die Freude am Unerwarteten und das stetige Bedürfnis nach neuen Reizen sieht Schulze als kennzeichnend für das Spannungsschema, dem historisch jüngsten „kollektiven Hauptmuster des persönlichen Stils“ (ebd.: 153). Eine zentrale Rolle spiele dabei das physische Erleben von Intensität, von Lautstärke, Geschwindigkeit, Hell-Dunkel-Kontraste u.Ä. Ebenso wichtig sei das Zeigen von Expressivität und die Selbstwahrnehmung als interessant, faszinierend und einmalig, während Konventionsbestimmtheit, Sicherheitsdenken und andere Merkmale des bürgerlichen Etabliertseins abgelehnt werden. Diese drei Schemata seien nicht exklusiv, sondern werden von den Menschen auf verschiedene Weise kombiniert, um den „persönlichen Stil zusammenzubasteln“ (ebd.: 157). Sie lassen sich demnach als dimensionaler Raum der Alltagsästhetik auffassen, mit dem die Menschen ihre Erlebnisorientierung ausdrücken bzw. sie in die Realität projizieren können. Von welchen Schemata Gebrauch gemacht wird, hänge von dem sozialen Milieu ab, in dem sich ein Individuum bewegt. Schulze macht gemäß seiner Studie fünf milieuspezifische Varianten der Erlebnisorientierung aus, die durch ihre Nähe oder Distanz zu bestimmten Schemata gekennzeichnet sind. Das Streben nach Rang etwa sei eine Erlebnisorientierung, die stark an das Hochkulturschema gebunden sei und sich vor allem im Niveaumilieu wiederfinde. Im Integrationsmilieu sei hingegen das Streben
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nach Konformität maßgeblich, ausgedrückt durch eine Nähe sowohl zum Hochkulturals auch zum Trivialschema. Als weitere Beispiele nennt Schulze das Harmoniemilieu (Geborgenheit → Trivialschema), das Selbstverwirklichungsmilieu (Selbstverwirklichung → Hochkultur- und Spannungsschema) sowie das Unterhaltungsmilieu (Stimulation → Spannungsschema) (vgl. ebd.: 165, 283-330). Wie auch Paul Willis verwendet Schulze den Begriff der Homologie, um Entsprechungen zwischen Merkmalen einer sozialen Gruppe zu beschreiben. Zur Erklärung, warum alltagsästhetische Schemata kollektiv angeglichen werden, hält er Willis’ Auffassung von Homologien jedoch nicht für ausreichend. Willis geht seiner Ansicht nach davon aus, dass Objekte oder Situationen einen vom Subjekt unabhängigen Erlebnisreiz haben, und seine Interpretation von Rockmusik baue „ganz auf der These einer Homologie zwischen objektiven Eigenschaften der Musik und subjektiven Erlebnisbedürfnissen von Subkulturen auf“ (ebd.: 135). Dies ist für Schulze zwar plausibel, es gibt wie er anmerkt aber auch Gegenstände, die aufgrund ihrer objektiven Beschaffenheit nur einen schwachen oder geringen Erlebnisreiz ausüben und mit denen dennoch ein Erlebnis aufgebaut wird (wie etwa eine Armbanduhr oder eine Grünanlage). Der objektive Erlebnisreiz werde in solchen Fällen „kognitiv überformt“ (ebd.: 136), wobei die kollektive Angleichung dieser Überformungen in erster Linie durch Prozesse der Tradition und Definition erfolge (vgl. ebd.). Die Regulierung alltagsästhetischer Schemata in einem sozialen Milieu lasse sich eher durch den Bezug auf ein übergeordnetes integratives Prinzip erklären – einer fundamentalen psychophysischen Semantik, die der Struktur des Milieus homolog sei (vgl. ebd.: 338). Diese Semantik, welche die ökonomische Semantik (von ‚mehr‘ und ‚weniger‘) zunehmend abgelöst habe, sei charakterisiert durch zwei Dimensionen von Urteilen über manifestes menschliches Verhalten, an denen sich die Menschen gruppenweise orientieren und dergestalt eine gemeinsame Identität ausbilden. Als erste Dimension nennt er die kognitive Differenziertheit (Denkstile), die zwischen den Polen von Einfachheit und Komplexität variiere, als zweite die Reguliertheit (Handlungsstile), variierend zwischen Ordnung und Spontanität: „Beide Dimensionen zusammen sagen etwas über den psychophysischen Habitus eines Menschen aus, der in vielen Einzelheiten manifest wird, etwa was und wie er redet, welche Fernsehprogramme er wählt, wie sein Freundes- und Bekanntenkreis zusammengesetzt ist, bis hin zu bestimmten körperlichen Eigenschaften“ (ebd.).
Willis und Schulze gehen also beide davon aus, dass Lebensstil und musikalische Präferenzen eng miteinander verbunden sind und mit der Vorliebe für bestimmte Musik die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zum Ausdruck gebracht wird. Michael Parzer wirft in seiner weiter oben bereits kurz erwähnten Dissertation Musikgeschmack in der Popularkultur (2008) die Frage auf, ob sich „angesichts zunehmender Ausdifferenzierung musikalischer Genres, der stets voranschreitenden Pluralisierung von Lebensstilen sowie der zu beobachtenden Enthierarchisierung ästhetischer Praktiken [...] anhand von Musikpräferenzen überhaupt noch aussagekräftige Rückschlüsse auf soziokulturelle Verortungen ziehen lassen“ (Parzer 2008: 157). Mittels einer qualita-
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Ansätze zur Interpretation
tiven Analyse von 3098 Postings aus 23 Online-Foren, die zwischen 2003 und 2008 verfasst wurden, arbeitet Parzer heraus, wie Rezipienten populärer Musik ihre musikalischen Vorlieben und Aversionen artikulieren. Von besonderem Interesse sind für ihn jene Qualitätszuschreibungen, die mit einem Anspruch auf moralische Überlegenheit einhergehen, d.h. in denen die Rezipienten zu glauben wissen, was in der gegenwärtigen Popularkultur ‚guten‘ und ‚richtigen‘ Geschmack ausmacht (vgl. ebd.: 127). Nach einer kurzen Beschreibung der Qualitätskriterien, welche die Poster zum Beurteilen der besprochenen Musik heranziehen (vgl. ebd.: 141-148) und auf die ich in Abschnitt 2.6 noch genauer eingehen werde, kommt Parzer zum Ergebnis, dass Musikgeschmack ein Mittel zur sozialen und kulturellen (Selbst-)Verortung ist. Musikgeschmack werde zur Identitätsstiftung ebenso genutzt wie zur Produktion von symbolischen Grenzziehungen (vgl. ebd.: 149). Innerhalb der Popularkultur verlaufe die Trennung zwischen ‚gutem‘ und ‚schlechtem‘ Geschmack jedoch weniger anhand der traditionellen Kategorien ‚klassische‘ und ‚populäre‘ Musik, und auch die Dichotomie von ‚authentischer‘ und ‚kommerzieller‘ Musik verliere zunehmend an Bedeutung. Es kommt nach Parzer ein neues Deutungsmuster moralischer Überlegenheit zum Vorschein, das durch Toleranz und größtmögliche Offenheit gegenüber verschiedenen Genres gekennzeichnet ist. In Anlehnung an Richard Petersons ‚Omnivore‘-These (Peterson 1992) verwendet er hierfür den Begriff des ‚Querbeet-Geschmacks‘. Der exklusive Lebensstil und die Überlegenheitsansprüche der Querbeet-Hörer manifestiere sich demzufolge nicht in der Konsumtion einer bestimmten Musik, die als wertvoller als eine andere erachtet wird, sondern im Infragestellen jener Grenzziehung zwischen ‚authentisch‘ und ‚kommerziell‘. Ihre Statusposition erwerben und absichern sie durch eine demonstrativ zur Schau gestellte Vorliebe für viele – wenn auch nicht alle – Musiken (vgl. ebd.: 188-189). Aus musikwissenschaftlicher Perspektive ist anzumerken, dass Parzer auf Analysen der genannten Musikbeispiele gänzlich verzichtet. Hierdurch bleibt meines Erachtens die Frage im Raum stehen, ob sich die Präferenz für scheinbar sehr unterschiedliche Musiken („Johann Sebastian Bach neben Sepultura, Udo Jürgens neben den Fantastischen Vier oder Hip-Hop neben Punkrock“ ebd.: 10) nicht vielleicht doch auf musikalische Gemeinsamkeiten zurückführen lässt, die aber mit traditionellen Analysemethoden möglicherweise nicht greifbar sind. Umfangreiche Auseinandersetzungen mit dem Klingenden bietet Christofer Jost in seiner Habilitationsschrift Musik, Medien und Verkörperung – Transdisziplinäre Analyse populärer Musik (2012), in der er ein Analysemodell zum Entziffern von Erfahrungs- und Sinnpotentialen populärer Musik entwirft und eine komplexe Fallanalyse zur Band U2 durchführt. Seine zentrale Annahme ist, dass populäre Musiker den Rezipienten(gruppen) nicht nur ein Wahrnehmungs-, sondern auch ein Identitätsangebot medial vermittelt zur Verfügung stellen und so ein „sinnkonstituierender Übertragungsprozess“ (Jost 2012: 5) zwischen Produzenten und Rezipienten möglich wird. Zum Verständnis dieses Angebotscharakters gelte es zwei Ebenen zu unterscheiden:
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„So wirken die musikalischen Wahrnehmungsangebote potentiell identitätsstiftend, weil in ihnen Haltungen, Meinungen oder Weltanschauungen transportiert werden, in die der Rezipient einwilligen kann, und weil sie Reizkonstellationen kreieren, die den Empfindungsweisen, Körperroutinen und Erlebnisansprüchen des Rezipienten entgegenkommen. Die Erfahrungs- und Sinnpotentiale populärer Musik sind also nicht zuletzt darin begründet, dass Haltungen von expressiven Personen mit den Mitteln der Musik (und der Medien) gewissermaßen vorgelebt werden“ (Jost 2012: 149).
Da die Rezeption von Musik auf kollektiv geteilte Erfahrungswerte aufbaue, sei die Art und Weise der Identifikation nicht völlig subjektiv. Es werden vielmehr Identitätsmuster repräsentiert, die in einer kulturellen Formation virulent seien (vgl. ebd.: 100, 149). Jost versucht mit diesem Ansatz musik-, medien- und kulturwissenschaftliche Zugangsweisen zusammenzuführen, um populäre Musik in ihrem „phänomenalen Gesamtspektrum“ (ebd.: 280) erfassbar zu machen. Als Analysedimensionen nennt er erstens kulturelle Wissensbestände (Genre, Szene, Oeuvre, Stil/Sound, Image), zweitens den Erlebnishorizont (vornehmlich bezogen auf Live-Veranstaltungen – Zeitpunkt und zeitlicher Verlauf, Ort und Raum, Teilnehmende) und drittens die Einzelmedien- und Materialspezifik (Klangmaterial, Musikclip, Bühnengeschehen). Die in diesem Kapitel skizzierten Ansätze haben gemeinsam, dass die Musikrezeption vorrangig aus dem Blickwinkel der Identifikation und Distinktion interpretiert wird. Ausgeblendet werden hingegen private Hörsituationen und andere Gebrauchsweisen von Musik, die nicht zuletzt auf die musikalische Wertschätzung einen erheblichen Einfluss haben können: „Was also eine soziologische Theorie des Geschmacks nicht erklären kann, sind die psychologischen und physiologischen Wirkungen von Musik, durch die deren Bewertung maßgeblich beeinflusst wird. Im Rahmen einer soziologischen Analyse von Geschmacksurteilen wird diese Ebene ausgeblendet – wohl wissend, dass daraus eine Reihe blinder Flecken resultieren“ (Parzer 2008: 20).
Simon Frith sieht neben der Identitätsstiftung noch drei weitere soziale Funktionen von populärer Musik, die hilfreich seien, um „das Entstehen von Werturteilen in der Musik zu verstehen“ (vgl. Frith 1992: 6-9). Mit Musik lasse sich eine Beziehung zwischen öffentlichem und privatem Gefühlsleben herstellen, was insbesondere an der großen Anzahl von Liebesliedern in Popmusik deutlich werde. Liebeslieder ermöglichen es, Gefühle auf eine Art auszudrücken, die ansonsten peinlich oder zusammenhanglos sein könne. Eine Aussage wie „Ich liebe/hasse dich“ klinge im alltäglichen Sprachgebrauch eher langweilig und banal, während sie in einem Popsong potentiell eine interessante und überzeugende Einfärbung erhalte. Eine weitere Funktion besteht für Frith in der Formung des Erinnerungsvermögens und der Organisation unseres Zeitsinns. Mit Musik lasse sich, mitunter durch die physische Wirkung von Beat oder Rhythmus, die Gegenwartserfahrung intensivieren und gewissermaßen die Zeit ‚anhalten‘. Indem sie unsere Aufmerksamkeit auf das Zeitgefühl lenke, sei sie auch der Schlüssel zum Erinnern an Vergangenes. Speziell in der sehr intensiv erlebten Jugendzeit, die im Nachhinein oft
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Ansätze zur Interpretation
nostalgisch betrachtet werde, spiele Musik dergestalt eine wichtige Rolle. Die Funktionen Identitätserzeugung, Gefühlsbeherrschung und Zeitorganisation hängen laut Frith von der Erfahrung ab, Musik in Besitz nehmen zu können, was er als vierte soziale Funktion einstuft. Zu bestimmten Songs oder Künstlern bauen wir eine derart starke Beziehung auf, dass wir sie zu einem Teil unserer Identität machen und unser Selbstbild hineinprojizieren, wir sie uns also über das Materielle hinausgehend ‚aneignen‘. Warum eine Musik gemocht wird und eine andere nicht, lässt sich gemäß Friths Fazit damit erklären, wie gut oder schlecht sie für den Hörer die beschriebenen Funktionen erfüllt (vgl. ebd.: 9). Ralf von Appen steht dieser Annahme kritisch gegenüber (vgl. v. Appen 2007: 33). Seiner Ansicht nach erwähnt Frith einige Aspekte nicht, die den Wert einer Musik ausmachen können. Außen vor bliebe z.B. das (Kunst-)Musik häufig zugeschriebene Potential, unsere Sichtweise der Welt zu verändern. Darüber hinaus hält v. Appen die Gefühlsbeherrschung oder die Intensivierung des Präsenzerlebens nicht unbedingt für soziale Funktionen, sondern eher für psychologische oder auch ästhetische (im philosophischen Sinne). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit v. Appens Zugang zum ‚Wert der Musik‘ findet sich in Kapitel 2.6. Im Folgenden gilt es nun Ansätze zu diskutieren, die den Umgang mit populärer Musik aus einer psychologischen Perspektive beleuchten und die – so ist zu hoffen – weitere Erkenntnisse liefern, warum bestimmte Musik bei bestimmten Menschen populär ist.
2.5 Psychologische Ansätze
Psychologische Ansätze Musik dient häufig als Mittel zur Entspannung, zur körperlichen Aktivierung, zur Verstärkung von Freude und Glücksgefühlen oder zur Abschwächung von negativen Gefühlen. Studien von Behne 1986, Lehmann 1994, Riggenbach 2000, Altenmüller/Kopiez 2005 oder Schramm 2005 belegen diese Nutzungsmotive. Aus musikanalytischer Sicht drängt sich die Frage auf, ob solche Funktionen auf einfache ReizReaktions-Schemata zurückzuführen sind, also bestimmte musikalische Ereignisse stets die gleiche Wirkung für verschiedene Rezipienten haben. Forscher wie Allesch (1982) oder Juslin et al. (2010), die körperliche und emotionale Reaktionen auf reale Musikstücke experimentalpsychologisch erfasst haben, zweifeln eine derartige These an. Christian Allesch hat ihm bekannten Jugendgruppen-Mitgliedern den fast 24 Minuten dauernden Pink Floyd-Song Atom Heart Mother (1970) vorgespielt und freie Assoziationen ebenso aufgezeichnet wie die Puls- und Atmungsfrequenz sowie das Atmungsvolumen. Physiologisch reagierten die Versuchspersonen sehr unterschiedlich auf die Musik, was ihn zur Erkenntnis bringt, dass kaum ein überindividueller Zusammenhang zwischen bestimmten Reaktionsmustern und bestimmten musikalischen Ereignissen besteht (vgl. ebd.: 56). Zudem könne durch rein physiologische Messungen über die Art der Erregung nichts ausgesagt werden:
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„Das physiologische Erregungsprofil eines Menschen, der durch Musik in höchste, beglückende Ekstase geführt wird, unterscheidet sich in nichts wesentlich von dem eines Menschen, der durch Musik zutiefst verstört oder geängstigt wird; lediglich der Grad der Erregung ist vergleichbar“ (ebd.: 53).
Bei den Assoziationen zeigten sich größere Übereinstimmungen, bspw. beim Zuordnen von Naturschilderungen zu ‚lyrisch-mediativen Passagen‘. Diese Ergebnisse seien aufgrund einer gewissen Klischeehaftigkeit jedoch nicht überzubewerten (vgl. ebd.: 56-57). Generell macht Allesch deutlich, dass es für die Erforschung des Musikerlebens nicht ausreichend ist, lediglich mit der Musik assoziierte Inhalte oder Begriffe abzufragen. Denn auch eine inhaltlich gleiche Beschreibung könne vom Einzelnen verschiedenartig interpretiert werden (vgl. ebd.: 64). Um das Musikerleben, das er als das Erlebnis von Bedeutungen definiert, nachzuvollziehen, sei umfassender vorzugehen und die persönlichen Hintergründe und situationalen Aspekte zu berücksichtigen, gleichermaßen wie die musikalische Struktur und „überindividuell gleichartig ausgeprägte[n] Wahrnehmungsmechanismen“ (ebd.: 63). Als gleichartig stuft er jene Prozesse ein, die im Verlauf der akustischen Gestaltbildung vonstatten gehen (vgl. ebd.: 52). Juslin et al. (2010) distanzieren sich ebenfalls von der Annahme, dass es eine Art „purely musical experience“ (Kivy 1990 in Juslin et al. 2010: 620) gibt und machen sieben psychologische Mechanismen aus, wie Musik Emotionen hervorrufen kann (vgl. ebd.: 620-623). Als ersten Mechanismus nennen sie rudimentäre Hirnstammreflexe. Diese werden dann ausgelöst, wenn ein hervorstechendes, also zum Beispiel ein plötzliches, lautes, dissonantes oder schnelles akustisches Ereignis auftritt und dem Gehirn eine mögliche Gefahr signalisiert, was eine erhöhte Aktivierung des zentralen Nervensystems zur Folge habe. Interagiert der interne Rhythmus des Körpers, wie etwa der Herzschlag oder die Atemfrequenz, mit dem Rhythmus einer Musik, so könne dies ebenso eine emotionale Wirkung haben. Juslin et al. sprechen hierbei von rhythmischen Entrainment. Emotionen können drittens durch bewertende Konditionierung entstehen, d.h. eine Musik wird wiederholt in als positiv oder negativ empfundenen Situationen gehört und in weiterer Folge damit assoziiert. Eher spekulativ ordnen sie den Mechanismus einer emotionalen Ansteckung ein, bei dem der Hörer die Musik innerlich nachahmt. Derartige Prozesse wurden bislang vor allem in Bezug auf menschliche Mimik untersucht, vereinzelt finden sich auch Studien zur innerlichen Nachahmung von emotionalen Sprachäußerungen (z.B. Neumann/Strack 2000), bei der klangliche Aspekte nicht unwesentlich sind. Des Weiteren könne Musik Emotionen bewirken, indem sie beim Hören innere Vorstellungsbilder hervorruft (wie etwa eine schöne Landschaft), sich der Hörer mittels des episodischen Gedächtnisses an persönliche Erfahrungen erinnert oder die musikalische Erwartung an den Verlauf eines Stücks erfüllt, nicht erfüllt oder verzögert wird. Diese sieben Mechanismen – die drei letztgenannten werde ich in den folgenden Abschnitten noch genauer behandeln – können einzeln oder in Kombination auftreten und längerfristige musikalische Präferenzen als auch ‚ästhetische Reaktionen‘, die für Juslin et al. durch das Wahrnehmen und Bewerten eines Stücks nach bestimmten künst-
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lerischen Maßstäben charakterisiert sind, beeinflussen. Es wird jedoch deutlich gemacht, dass Emotionen, Präferenzen und ästhetische Reaktionen nicht unbedingt voneinander abhängen: „It is perfectly possible to ‚like‘ a piece of music heard on the radio without the music inducing an emotional response (with a synchronized reaction in experience, physiology and expression). We may simply prefer the piece heard at the moment, over a piece heard earlier. Further, this liking response need not involve an evaluation of the piece’s quality as an art object, because the music in question (e.g. a pop song) may not be considered ‚art‘ and hence does not invite an ‚aesthetic attitude‘“ (ebd.: 636).
Ein wichtiger Aspekt im Umgang mit Musik, der wissenschaftlich bis dato eher vernachlässigt wurde, ist jener der Stimmungsregulation im Alltag. Holger Schramm hat sich in Mood Management durch Musik (2005) dieser Thematik angenommen und die Frage behandelt, welche medial vermittelte Musik welche Menschen bei welchen Stimmungen zu welchem Zweck hören (vgl. Schramm 2005: 110). Mit Hilfe von Leitfadeninterviews, halbstandardisierten Telefonbefragungen und eines fragebogengestützten Laborexperiments fand er heraus, dass ein Großteil der Probanden versucht, positive Stimmungslagen (z.B. ruhig/gelassen oder freudig erregt/fröhlich) mittels Musik aufrechtzuerhalten oder zu verstärken (vgl. ebd.: 233-234). Bei negativen Stimmungslagen zeigte sich hingegen ein differenzierteres Bild. So erfülle die Musik bei Wut und Ärger zumeist eine Kompensationsfunktion, wobei Männer ein ausgeprägteres Bedürfnis als Frauen haben, sich durch das Hören von aggressiver Musik, wie bspw. Rock oder Heavy Metal (vgl. ebd: 138), abzureagieren. Trauer und Melancholie werde hingegen nicht immer entgegengewirkt. 27 Prozent der Personen gaben an, diese Stimmungslagen anhand von trauriger, melancholischer Musik zu stützen, während 15 Prozent gar keine Musik hören wollen, wenn sie traurig sind. Fernerhin tendieren Frauen und Jugendliche im Vergleich zu Männern und älteren Menschen weniger dazu, Trauer und Melancholie zu unterdrücken (vgl. ebd.: 236-238). Schramm merkt an, dass „die Menschen unterschiedlich gewillt und auch fähig [scheinen], positive wie negative Stimmungslagen mit Musik auszuleben“ und identifiziert generelle Rezeptionsmodi, die sich teilweise überlagern, und mit denen „ein bestimmtes Ziel und eine gewünschte Wirkung des Musikhörens erfolgsversprechend in Angriff genommen werden kann“ (ebd.: 235). Beim ‚bewussten‘ Musikhören werde meist analytisch und strukturell gehört und nicht selten das Ziel verfolgt, die Musik zu beurteilen. Ein in seinen Studien häufiger genannter Modus ist das ‚diffuse‘ Hören, also das Musikhören als Nebenbeibeschäftigung. Von einem ‚assoziativen‘ Hören lasse sich sprechen, wenn die Hörer mit der Musik bestimmte Erinnerungen verbinden, während beim ‚meditativen‘ Hören die beruhigende Wirkung im Vordergrund stehe und ein genussvolles Erleben auch ohne extrinsische Motivation, d.h. ohne über das Musikhören hinausgehende Absichten zu verfolgen, möglich sei. Ruft die Musik körperliche Reaktionen hervor, so unterscheidet Schramm zwischen einem ‚motorischen‘ und einem ‚ve-
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getativen‘ Hören. Auch könne Musik ‚innerlich‘ gehört werden und nur in der Vorstellung des Rezipienten erklingen (vgl. ebd.: 130-135). Der Hörertypologie von Behne (1986) folgend, kategorisiert er an späterer Stelle fünf situationsabhängige Hörweisen und überprüft im Rahmen seines Laborexperiments, inwieweit sie mit Präferenzen für bestimmte Musikgenres zusammenhängen. Menschen, die Musik bevorzugt strukturanalytisch und qualitativ bewertend hören (hier bezeichnet als ‚distanzierendes‘ Hören), haben tendenziell eine Vorliebe für Jazz/Blues, Klassik/Neue (klass.) Musik und Beat-Musik der 1960er Jahre. Beim ‚emotionalvegetativen‘ Hören wurden Tendenzen zu Folk und World Music, aber ebenso zu Jazz/Blues und Klassik/Neue (klass.) Musik erkennbar, was für Schramm die These bestätigt, dass sich analysierendes und emotionales Hören nicht ausschließen müssen. Das diffuse Hören gehe mit Präferenzen für House/Trance/Techno, Pop/Soundtracks, Hip Hop/Rap und Rock/Alternative/Punk/Heavy Metal einher, das assoziative Hören vor allem mit Pop/Soundtracks und das motorische Hören mit Hip Hop/Rap. Generell zeigten assoziative, motorische und emotional-vegetative Hörer keine überzufällige Abneigung gegenüber bestimmten Genres (vgl. ebd.: 215-216). Für einen Musikwissenschaftler sind solche Resultate natürlich wenig aussagekräftig, da musikalische Merkmale nicht abgefragt werden und die Musik – sowie damit zusammenhängend womöglich auch die bevorzugte Hörweise – innerhalb dieser sehr groben Genreklassifikationen sehr unterschiedlich sein kann. Schramm geht einzig in seinen theoretischen Ausführungen zum emotionalen Ausdruck von Musik etwas näher auf Spezifika des Klingenden ein (vgl. ebd.: 50-54). In Bezug auf die Frage, „bei welcher Konstellation von musikalischen Parametern sich welche Ausdrucksstimmung der Musik einstellt“ (ebd.: 51), zieht er eine Tabelle von Helmut Rösing (1993: 580-581) heran, in der Zusammenhänge zwischen emotionalen Qualitäten (Freude, Trauer, Machtgefühl/Imponiergehabe, Zärtlichkeit/Demutsgebärde), typischen Verhaltensweisen (Aktion, Gestus, Äußerung, Funktion) und musikalischen Charakteristika (Tempo, Rhythmus, Lautstärke/Klangfarbe, Melodik, Harmonik) abgebildet sind. Rösings Einteilung sieht er jedoch diskutabel, weil die verwendeten Termini (z.B. ‚Prestotyp‘ oder ‚Adagiotyp‘) eine starke Nähe zur abendländischen, traditionellen Musik vermuten lassen und die Zuordnungen bei anderen Musikrichtungen zum Teil nicht zutreffen. Ein fröhlicher deutscher Schlager etwa sei zwar meist schnell, hell, strahlend und harmonisch einfach, aber üblicherweise wenig abwechslungsreich und kaum rhythmisch synkopiert. Ein fröhlicher amerikanischer Hip Hop-Song müsse wiederum nicht zwangsläufig schnell, hell und strahlend sein (vgl. ebd.: 52). Nichtsdestotrotz vertritt Schramm die Ansicht, dass emotionale Ausdrucksqualitäten von Musik von spezifischen musikalischen Parameterkonstellationen abhängen, die zumindest innerhalb eines Kulturkreises ähnlich wahrgenommen und identifiziert werden. Er stützt sich hierbei auf Studien von Scherer/Oshinsky (1982), Gabrielsson/Lindström (2001) sowie Trewogt/Van Grinsven (1991) (vgl. ebd.: 52-54). Dass speziell zum alltäglichen Umgang mit populärer Musik kaum psychologische Studien vorliegen, darauf macht der Artikel Populäre Musik als Herausforderung für die Mu-
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sikpsychologie. Eine kritische Bilanz (v. Appen 2012) aufmerksam. Populäre Musik werde in den Bereichen der Entwicklungspsychologie, der Kreativitäts-, Kompositions- und Interpretationsforschung, der Lernforschung, der musikpsychologischen Hirnforschung als auch der Persönlichkeitsforschung gar nicht oder nur bruchstückhaft untersucht. Einzig bei sozialpsychologischen Arbeiten sei ein vermehrtes Interesse an populärer Musik erkennbar (vgl. v. Appen 2012: 12-15). Wie ich schon im Zusammenhang von Holger Schramms Untersuchungen angedeutet habe, fehlen ebenso empirische Studien zur Frage, welche emotionale Wirkung einzelne musikalische Parameter haben können: „Eine Gesangsphrase oder ein Drumpattern wird intersubjektiv als ‚lässig‘ oder ‚drängend‘ empfunden – aber welche mikrorhythmischen und -intonatorischen Gestaltungsprozesse führen dazu? Wie erreicht man im Metal größtmögliche Härte? Was muss alles gegeben sein, damit ein BassPattern als ‚funky‘ bezeichnet wird? Welche akustischen Parameter führen im Detail dazu, dass ein Gitarrenklang als ‚warm‘ erlebt wird? Produzenten großer Charterfolge wissen offenbar durch Trial and Error-Verfahren, wie man Tanzbarkeit erreicht, wie man einen Chorus ‚abheben‘ lässt und wie man größtmögliche Eingängigkeit einer Melodie erreicht. Aber wäre es nicht wichtig, solche Prozesse auch wissenschaftlich zu verstehen?“ (ebd.: 15).
Nun können die hierfür notwendigen Forschungen in der vorliegenden Arbeit aus zweierlei Gründen nicht in Angriff genommen werden. Zum einen würden sie den inhaltlichen Rahmen sprengen und zudem empirische Methoden erfordern, mit denen Musikpsychologen wohl besser umzugehen wissen. Zum anderen gibt es Hinweise, dass musiktheoretische Erkenntnisse, die durch Herangehensweisen und Werkzeuge der traditionellen Musikanalyse gewonnen werden, nur bedingt widerspiegeln, wie Musik alltäglich gehört wird. Zu hinterfragen ist etwa die Annahme eines ganzheitlichen Wahrnehmens von Musikstücken, bei dem sich der Hörer das zeitliche Nacheinander aus der Erinnerung heraus als ein synchrones Ganzes vorstellt und auf diese Weise strukturelle Zusammenhänge erkennt: „Es ist jedoch fraglich, ob Musik tatsächlich auf diese Weise rezipiert wird, oder ob das Hören nicht vielmehr zumeist dem zeitlichen Verlauf der klanglichen ‚Oberfläche‘ folgt bzw. nur einzelne, momentane Klangepisoden fokussiert – Hörweisen, die gerade bei vielen populären Musikstilen weit verbreitet und hier auch durchaus angemessen sind“ (Pfleiderer 2008: 155).
Als umstritten gilt auch die Ansicht, dass Musik ähnlich wie Sprache rezipiert und grammatikalischen und logischen Strukturen gefolgt wird: „Wesentliche Stützen waren die interkulturell gleichen formalen Strukturen der Sprachen und der Nachweis, dass Sprachbenutzer nicht assoziativ verstehen und reden, sondern eine hierarchische Struktur von Regeln anwenden, also der Grundidee der transformationellen generativen Grammatik folgen. Ein gleiches gilt für die Musik nicht“ (de la Motte-Haber 1996: 83).
Wenn also die Musiktheorie zur Erklärung beitragen soll, „warum Menschen Musik gefällt und warum sie sie wertschätzen“ (Sloboda/Juslin 2005: 814) bzw. „was es in der Musik genau ist, das als schön oder wertvoll betrachtet wird“ (Budd 1985 in ebd.), so erscheint es mir sinnvoll, gewisse wahrnehmungsspezifische Aspekte, die nach heutigem
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Stand der Musikpsychologie offenbar bei den meisten Menschen ähnlich sind, in die musikalische Analyse miteinzubeziehen. Als ähnlich gelten jene kognitiven Prozesse, die zwischen der Reizaufnahme und dem vom physiognomischen Reiz beeinflussten Verhalten und Erleben vonstatten gehen. Anders formuliert geht es in den folgenden Abschnitten um die Frage, wie klangliche Information Eingang in das menschliche Gedächtnis findet, wie sie gespeichert und repräsentiert wird und welche Schlüsse sich daraus für ein Analyseinstrumentarium ziehen lassen, das beim Verständnis musikalischer Wertschätzung helfen soll.
Musik und Kognition Zeitlicher Ablauf der Verarbeitung und Speicherung Als erster Schritt der Informationsverarbeitung erfolgt die Enkodierung der akustischen Reizenergie für das auditive sensorische Gedächtnis. Innerhalb der zeitlich beschränkten Aufnahmekapazität dieses echoischen Gedächtnisses (bis ca. 250 ms) werden die aufgenommenen Schallereignisse zunächst in Nervenimpulse konvertiert, die ihrerseits die Frequenz und Amplitude einer individuellen akustischen Vibration repräsentieren (vgl. Snyder 2000: 19) und als unkategorisierte, kontinuierliche Signale vorliegen (vgl. Crowder 1993: 120). Die darauffolgende Verbindung perzeptiver ‚Events‘ führt zur Extraktion individueller akustischer Features wie Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe und stellt die erste Kategorisierung im Hörprozess dar. Auf diese Weise wird z.B. der Beginn eines Tons anhand von Veränderungen der Frequenz und multidimensionalen Attributen wie Klangfarbe erkannt und mittels einer Kombination dieser Eckdaten, ähnlich der Form, Farbe und Textur eines visuellen Elements, der Eindruck eines kohärenten Tons erzeugt (vgl. Deutsch 1999: 230). Diese Prozesse der ‚perceptional categorization‘ (vgl. Edelman 1989, 1992), also der Grenzziehung zwischen einzelnen Events, laufen größtenteils unterbewusst und lernunabhängig ab. Dementsprechend sind sie weitgehend unbeeinflusst von im Gedächtnis gespeicherten Erfahrungswerten und werden, da sie rein vom sensorisch Wahrgenommenen bestimmt sind, als ‚data-driven‘ oder auch ‚bottom-up‘ bezeichnet (vgl. Snyder 2000: 21). Bregman spricht in diesem Zusammenhang von einer durch ‚stream segregation‘ hervorgerufenen ‚scene analysis‘ (vgl. Bregman 1993 in Stoffer 2005: 545). Ein essentieller Aspekt ist hierbei die Reduktion des aufgenommenen Datenmaterials, so dass die nun bereitgestellte Information im Rahmen der beschränkten Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses weiterverarbeitet werden kann. Ab dieser Perzeptionsstufe werden zeitlich erweiterte, aus multiplen Events aufgebaute Patterns erfasst und primitive melodische und rhythmische Gruppierungen geformt. Die Abgeschlossenheit solcher Einheiten, die höchstens aus fünf verschiedenen Events bestehen, ist noch relativ schwach, da zumeist nur ein einzelner gestaltbildender Parameter für die entsprechende Separierung sorgt. Erst bei weiteren Verbindungsvorgängen auf der Ebene von Phrasen sind die Faktoren der Nähe, Ähnlichkeit und Kontinuität auf kombinatorische Weise für verstärkte Grenzziehungen verantwortlich (vgl. Snyder 2000: 37-39). Musikalische
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Phrasen entstehen also durch das Zusammenwirken primitiver melodischer und rhythmischer Gruppierungen, hervorgerufen durch Prozesse betreffend Tonhöhe, Dauer, Lautstärke, Artikulation, Klangfarbe und räumliche Position der Schallquelle. Für die Musikanalyse wäre diesbezüglich interessant, welche Mechanismen der Gestaltbildung verschiedene Musiken auf dieser Wahrnehmungsebene kennzeichnen. Unter anderem deswegen, weil eine Phrase sowohl zeitlich (höchstens fünf Sekunden) als auch quantitativ (höchstens neun verschiedene Elemente 8) die größte im Kurzzeitgedächtnis speicherbare musikalische Einheit darstellt (vgl. Snyder 2000: 38). In diesem Zeitfenster ist es möglich, sich die aktuelle Information in ihrer Gesamtheit und korrekten zeitlichen Abfolge zu vergegenwärtigen. Ernst Pöppel sieht hier gar das ‚Segmentierungsprinzip‘ des mentalen Lebens (vgl. Pöppel 1990 in Bruhn 2000: 52). Wird die Information nach Überschreitung dieses Kapazitätsrahmens nicht wiederholt ins Gedächtnis gerufen, verschwindet sie, was den von Pfleiderer geäußerten Zweifel an einer ganzheitlich-strukturellen Merkfähigkeit beim Hören untermauert. Um temporär vorhandene Information dauerhaft in Erinnerung zu behalten, werden assoziative Prozesse wirksam, mittels derer im Langzeitgedächtnis gespeicherte Information aktiviert und gegebenenfalls durch neue Information ergänzt wird. Erst diese Vorgehensweise ermöglicht die Ausbildung von Gruppierungen höherer Ordnung, wie etwa den Zusammenschluss von Phrasen zu Sektionen, und somit die Konstituierung von Aspekten der musikalischen Form. Sorgen auch hierbei in der Regel multiparametrische Veränderungen dafür, Abschnitte als zusammengehörig zu empfinden, so muss besonders in Bezug auf viele Formen populärer Musik darauf hingewiesen werden, dass Sektionen ebenso aus nur einer Phrase oder sogar nur einem singulären Event bestehen können (vgl. Snyder 2000: 194). Dies ist insofern nicht unerheblich, da in populärer Musik die strukturelle Dominanz ‚primärer Wahrnehmungsparameter‘ (siehe unten) bisweilen in den Hintergrund rückt und damit auch Ordnungsprinzipien zur Anwendung kommen können, die auf zeitlich kürzeren Ebenen ihre Ausdehnung finden. Es sei bemerkt, dass die hier skizzierten Ebenen der kognitiven Verarbeitung zur Veranschaulichung der zeitlichen Prozessabfolge dienen. Von der Hypothese fester oder abgeschlossener Stufen ist nicht auszugehen (vgl. de la Motte-Haber 1996: 458).
Primäre und sekundäre Wahrnehmungsparameter Hierarchisierende Adjektive wie ‚primär‘ und ‚sekundär‘ suggerieren den Eindruck, dass spezifische musikalische Gestaltungsmittel per se eine wichtigere oder tragendere Rolle im Wahrnehmungsprozess einnehmen würden als andere. So wird beim Analysieren häufig Melodie, Harmonie und Rhythmus ein höherer Stellenwert eingeräumt als Cha8
Ein Element bzw. Chunk kann z.B. eine Gruppierung sein und besteht demnach aus weiteren Elementen. Angaben zur Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses variieren in der Forschung, abhängig von psychischen Eigenschaften sowie von der zeitlichen Struktur und Segmentierung der wahrgenommenen Ereignisfolgen (vgl. Michon 1978: 93ff.; Crowder 1993: 120-121).
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rakteristika wie Klangfarbe, Textur, Lautstärke u.Ä. Der Musikwissenschaftler Walter Everett, dessen analytischer Zugang stark von Heinrich Schenker geprägt ist, sieht eine derartige Hierarchisierung als selbstverständlich an. Er begründet dies damit, nach welchen Kriterien ein Song wie Yesterday wiedererkannt wird: „[...] the next time I’m at a party and a friend asks if I’d play ‚Yesterday‘ I should sniff and respond, ‚I’m sorry, you’d never recognize the piece on the piano. Bring me an Epiphone guitar tuned a whole step lower and have a string quartet double the essential aspects of the guitar’s voice leading (or really, just play whatever they like – the pitch and rhythm are secondary to the texture) and then we’re in business‘“ (Everett 2000: 339, Fußn.).
Everetts Aussage ist nicht unproblematisch, misst er offenbar die Bedeutsamkeit von Melodie und Rhythmus rein an dem Maßstab, anhand welcher Gestaltungsmittel ein Song am ehesten identifiziert werden kann. Inwieweit allerdings die „‚secondary‘ musical issues [...] timbre, texture, and sound manipulation“ (ebd.) Yesterday ursprünglich geprägt haben, also letztendlich dafür verantwortlich sind, dass der Song auch heute noch erkannt wird, bleibt damit unbeantwortet. Hier stellt sich die Frage, wie musikalisches Wissen überhaupt entsteht und ob unterschiedliche Musikmerkmale unterschiedlich verarbeitet werden. Ganz allgemein kann zwischen deklarativem/explizitem und nicht-deklarativem/implizitem Wissen differenziert werden. Gemein ist beiden Wissensformen, dass sie im Langzeitgedächtnis verankert und somit ein Ergebnis von Prozessen sind, „die auf Grund von Erfahrungen die Verbindung zwischen Reizen oder zwischen Reizen und Reaktionen verändern“ (Goschke 1996: 368), also assoziativ arbeiten. Deklaratives Wissen ist verbalisierbar und kann sich sowohl auf semantische als auch auf episodische Inhalte beziehen. Semantische Inhalte sind hierarchisch in verschiedene Ebenen abstrakter konzeptueller Wissenskategorien geordnet und umfassen bspw. musikgeschichtliche Daten oder musiktheoretische Kenntnisse über Noten, Akkorde und Instrumente. Episodische Inhalte bestehen aus Erinnerungen an bestimmte autobiografische Handlungen, Tätigkeiten und Ereignisse, woraus mögliche Auswirkungen für die Zukunft abgeleitet werden (vgl. Bruhn 2005: 537-538, Snyder 2000: 77-78). Während explizites Wissen mittels Wörtern beschrieben werden kann, so ist dies bei implizitem Wissen nicht vollständig möglich. Dieses Spezifikum macht die Analyse und Interpretation von Musik insofern schwierig, als dass im Umgang mit Musik sehr viele Prozesse unbewusst, auf Grundlage automatisierter Fertigkeiten ablaufen (vgl. Bruhn 2005: 538, Snyder 2000: 74). Die Aneignung dieser Fertigkeiten kann auf zwei verschiedene Arten erfolgen und wird als prozedurales Wissen bezeichnet. Einerseits kann deklarativ erworbenes Wissen, wie Klavierspielen oder Notenlesen, in implizite Handlungsabläufe überführt werden. Bei ausreichender Übung oder Wiederholung wird auf diese Weise die Ausbildung implizierter Prozeduren ermöglicht und die Fähigkeiten stehen, ohne bewusste Denkanstrengung, für einen automatisierten Ablauf zur Verfügung (vgl. Bruhn 2005: 539). Im Kontext westlicher Kunstmusik sind derartige Prozesse als maßgeblich zu bezeichnen, beruht das Wissen über tonale Zusammenhänge oder
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Spielweisen doch hauptsächlich auf einer theoretischen Reflexion der Musik. Diese Reflexion ist in Büchern, also in externen Speichern, festgehalten (vgl. de la Motte-Haber 1996: 468). Andererseits können implizite Gedächtnisstrukturen auch durch Nachahmung entstehen und die immanenten Regeln des Kulturbereichs durch gemeinsames Singen und Musizieren gelernt und langfristig gespeichert werden (vgl. Bruhn 2005: 539). Solche heteronormen, organischen Prozesse sind z.B. für die westliche Volksmusik kennzeichnend. Im Jazz hingegen sieht Bruhn ein Beispiel für eine nachträgliche Theoretisierung eines ursprünglich implizit erwachsenen Musikstils: „Ähnlich ist die Kontinuität der unterschiedlichen Jazz-Stilrichtungen zu sehen. Die ursprünglich in gemeinsamer Handlung entstandenen Improvisationen sind allerdings zum Ende des 20. Jahrhunderts auf hohen Reflexionsniveau in ein umfassendes Theoriegebäude eingefasst (Berendt & Huesmann, 1989; Kernfeld, 1996), so dass die meisten Jazzer ebenso wie traditionelle mitteleuropäische Berufsmusiker detailliertes deklaratives Wissen über ihr Musizieren haben“ (Bruhn 2005: 539).
Aus musikpsychologischer Sicht herrscht Konsens darüber, dass die oben beschriebenen primitiven Gestaltbildungen, die im Rahmen früher perzeptiver Prozesse wirksam werden, keines expliziten Wissens bedürfen und, ähnlich wie die Bildung eines FigurGrundverhältnisses bei der visuellen Wahrnehmung, automatisch ablaufen (vgl. de la Motte-Haber 1996: 462). Dementsprechend kann eine melodische Kontur auch ohne das Wissen über tonale Schemata kurzzeitig gespeichert werden (vgl. Dowling/Harwood 1986: 134). Tonhöhe und Tondauer sind in diesem Zusammenhang, gemessen am Zeitpunkt der zeitlichen Abfolge und der kulturellen Unabhängigkeit, also tatsächlich primäre Wahrnehmungsparameter: „The existence of primary parameters is not a culturally determined phenomenon; it is based on perceptual abilities selected by our biological evolution, by means of which our nervous system has become finely tuned to certain aspects of sound in our environment. Pitch and duration are primary parameters for all cultures, all music uses some form of pitch and rhythm patterns“ (Snyder 2000: 195).
Entscheidend ist, dass diese perzeptive Information interpretiert werden muss, damit sie längerfristig behalten werden kann. Information zu interpretieren ist gleichzusetzen mit der Schaffung von kategorialen Einheiten, deren Bestandteile mittels aus Erfahrung abstrahierter Konzepte zueinander in Relation gesetzt werden können. Bei einem Dreiklang ist es nicht unbedingt notwendig, jeden einzelnen Ton zu fokussieren, da das Gehörte einer Klasse von Akkorden zugeordnet wird. Hieraus eröffnet sich die Möglichkeit, weitere Informationen, wie z.B. die Unterscheidung zwischen Dur und Moll, abzuleiten (vgl. de la Motte 1996: 467-468). Derartige konzeptuelle Kategorien fußen auf kulturspezifischen Konsensen über die Ordnung der entsprechenden Wahrnehmungsparameter, in Form von Stimmsystemen, Tonleitern oder Metren. Das Charakteristikum dieser Bezugssysteme sind konstante und relativ fixe proportionale Relationen zwischen
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den einzelnen Parametern, wodurch sich musikalische Patterns identifizieren lassen und Wahrnehmungserwartungen entstehen können (vgl. Snyder 2000: 195). Im Vergleich dazu sind diskrete Kategorisierungen bei Aspekten wie Lautstärke, Klangdauer, Tempo oder Klangfarbe weitaus schwieriger, da diese Dimensionen nicht limitiert oder fixiert sind und somit in relativen Kategorien von ‚mehr‘ oder ‚weniger‘ wahrgenommen werden. Dementsprechend kommen hier auch andere Arten der sprachlichen Beschreibung zum Einsatz. Die Verbalisierung erfolgt entweder über Adjektive, in Form von metaphorischen Gegensatzpaaren wie ‚laut/leise‘, ‚hell/dunkel‘, ‚schnell/langsam‘ etc. (vgl. Thies 1982), oder mittels produktionstechnischer Aspekte: „Wir haben ja bisher nur die Töne benannt nach ihrer Herkunft. ... man war bis heute nicht fähig, musikalische Töne mit Namen zu benennen ... Wenn man sagt Oboe, dann meint man das Instrument ... Aber einen Oboenton als solchen kann noch niemand unter Musikern beschreiben. Wenn Musiker Töne hören, von denen sie nicht wissen, wie sie gemacht werden, sind sie völlig verloren. ... da verliert man ... die Orientierung. ... wir haben ein ganz kleines, beschränktes Reservoir an Tönen, die wir benennen können, und das ist miserabel“ (Stockhausen 1973: 162-163 in Thies 1982: 33).
Die Unzulänglichkeit, eine direkte sprachliche Entsprechung für klangliche Phänomene dieser Art zu finden, dient Musikpsychologen als Beweis für die Existenz des erwähnten episodischen Gedächtnisses. Diesem liegt die Hypothese einer wahrnehmungs- bzw. reizanalogen, konkret-anschaulichen Speicherung zugrunde, anhand derer musikalische Vorstellungen auch ohne symbolische, abstrakt-kategoriale Repräsentationen entstehen können (vgl. Engh 2006: 117). Um eine Melodie gedanklich nachsummen zu können, ist es nicht unbedingt notwendig, sich gelernte semantische Abstraktionen über Intervallsprünge o.Ä. zu vergegenwärtigen, genauso wie die Fähigkeit zur inneren Vorstellung nicht an die Möglichkeit der stimmlichen Nachahmung gebunden ist (vgl. Crowder 1993: 134-135, de la Motte-Haber 1996: 478). Merkmale der Klangfarbe sind hierbei von besonderem Interesse, denn auch der spezifische Sound einer E-Gitarre, eines Synthesizers oder einer Oboe kann innerlich gehört werden, ohne dieser Imagination stimmlich Ausdruck zu verleihen. Dem Modell des Merkmalsvergleichs folgend, beruht die Speicherung von Klangfarben auf physikalischen Eigenschaften, wie etwa dem Verhalten der Teiltöne, und deren Zuordnung zu einer Instrumentenfamilie (vgl. de la Motte-Haber 1996: 470-471) oder z.B. auch zu einem band- oder genrespezifischen Sound (vgl. Engh 2006: 117, Fußn.). Diese Form der Speicherung, bei der aufgrund von empfundenen Ähnlichkeiten mehrdimensionale Bedeutungsregionen (‚semantische Räume‘) geschaffen werden, ist insofern betrachtenswert, als dass kontinuierliche Klangdimensionen keine direkte symbolische Entsprechung auf musikalisch-semantischer Ebene haben. Der Abstraktionsprozess verlagert sich somit auf die Ebene außermusikalischer Kategorisierungen und ist daher unvermittelter und reiznäher. So wird z.B. ein C-Dur Akkord erst als Dreiklang im Dur-Moll-System einer spezifischen Stimmung und Tonart abstrahiert, bevor er in weitläufigere semantische und episodische Bezugssysteme gesetzt werden kann. Bei der
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Einordnung von Klangfarbeneindrücken liegt hingegen die Vermutung nahe, dass die Erinnerung eher reizanalog abläuft und die Information mehrheitlich durch grundlegende Vorstellungsschemata bzw. ‚image schemas‘ repräsentiert wird (vgl. de la MotteHaber 1996: 478): „An image schema is a dynamic cognitive construct that functions somewhat like the abstract structure of an image and thereby connects together a vast range of different experiences that manifest this same recurring structure“ (Johnson 1987: 2 in Zbikowski 2002: 68).
Diese ‚image schemas‘ erfüllen die Funktion eines kognitiven Vermittlers zwischen perzeptiven Gestalten und konzeptuellen Kategorien und beinhalten demnach, da sie größtenteils auf direkten physischen Erfahrungen basieren, auch kontinuierliche oder analoge Aspekte (vgl. Snyder 2000: 117, Anm. 3). Um perzeptiven Abstraktionen dieser Art verbal Ausdruck zu verleihen, wird auf Beschreibungsweisen aus anderen Erfahrungsbereichen zurückgegriffen und die klanglichen Phänomene anhand körpernaher Metaphern beschrieben (vgl. Pfleiderer 2006: 96). Nun sind derartige Vorstellungsschemata nicht alleine auf kontinuierliche Klangdimensionen beschränkt. Auch melodische und rhythmische Gestaltungsmittel haben einen erheblichen Einfluss auf metaphorische Eindrücke von „up and down, centrality, linkage, causation, tension, pathways leading to a goal and containment“ (Snyder 2000: 110). So kann durch den Einsatz einer chromatisch aufsteigenden Tonfolge mit abschließender Schlusskadenzierung ein sehr eindringlicher Effekt von Spannungsaufbau und Auflösung erreicht werden. Dieser beruht allerdings weniger auf physiognomischen Vorgängen, wie etwa dem steigenden Energieverbrauch beim Singen aufsteigender Tonfolgen oder einer Tempoerhöhung an der Bassdrum, deren Auflösung auch körperliche Entspannung impliziert, sondern entsteht wiederum durch den bewussten oder unbewussten Rückgriff auf semantische Abstraktionen. Für Zbikowski stellt die Theorie von ‚image schemas‘ zwar einen Weg zur Verfügung, um die Entstehung konzeptueller Metaphern zu erklären, allerdings lasse sich daraus kein Hinweis ableiten, weswegen sich gewisse Metaphern besser zur Beschreibung klanglicher Phänomene eignen als andere. „For instance, the conceptual metaphor PITCHES ARE FRUIT could provide the grounding for such expressions as ‚You must play the first note more like an apple, the second more like a banana.‘ Although such mappings are possible, they are certainly not common. Pitches and fruits just do not seem to be a good match" (Zbikowski 2002: 70).
Bizarrerweise trägt sogar die Banane eine nicht unwesentliche symbolische Bedeutung im Kontext alternativer Rockmusik in sich. Durch Andy Warhols Covergestaltung von The Velvet Underground and Nico (1967) ruft sie eventuell musikalische Assoziationen wie „laute, stark verzerrte Gitarre sowie schlichte, naturbelassene Drum-, Percussion- und Stimmklänge ohne große Differenzierbarkeit oder Brillanz, ohne Schmuck und Schnörkel“ (v. Appen 2003: 112) hervor. Der Gedankengang Banane → Warhol → Velvet Underground → stark verzerrte Gitarren wäre in diesem Fall durch den Rückgriff auf
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deklarativ erworbenes Wissen erklärbar, während die Klangbeschreibungen nichtsdestotrotz eine unmittelbare Nähe zu körper- und gefühlsnahen Wahrnehmungsweisen haben können (vgl. Pfleiderer 2003: 26) – etwa wenn von ‚muffigen‘, ‚dreckigen‘ und ‚organisch‘ gestalteten Klangbildern gesprochen wird, welche die Strokes an Lou Reeds Band erinnern lassen (vgl. v. Appen 2007: 113). Zusammenfassend könnte es beim Interpretieren musikalischer Werturteile durchaus hilfreich sein, zu unterscheiden, welche Art des Wissens im Zusammenhang mit einer Musik wichtig erscheint, um danach in weiterer Folge die musikalische Analyse auszurichten. So liegt die Vermutung nahe, dass bei vielen Spielarten populärer Musik vor allem das episodische Wissen eine große Rolle spielt, also eine starke körperliche Bezugssetzung und demnach auch leichtere Bindung emotionaler Tatbestände (vgl. de la Motte-Haber 2000: 478). Wenig ertragreich ist es meines Erachtens nach, zwischen primären und sekundären musikalischen Gestaltungsmitteln zu unterscheiden, da sowohl diskrete als auch kontinuierliche Klangdimensionen gleichermaßen wahrnehmungsrelevant sein können. Everetts Yesterday-Anekdote mag vor Augen führen, dass ein bekannter Popsong auch unabhängig von nicht diskret wahrnehmbaren Klangdimensionen höchstwahrscheinlich wiedererkannt wird. Jedoch erklärt sie nicht, weshalb eine von den Beatles 1965 veröffentlichte Punkversion im Stile der Band P549 wohl nie ein Hit geworden wäre. Aus den skizzierten Erkenntnissen zur kognitiven Verarbeitung klanglicher Eindrücke stellt sich nun die Frage, ob etwaige Assoziationen wie die obig beschriebene zufällig entstehen oder es (personenübergreifend eventuell ähnliche) kognitive Strukturen gibt, die das Zustandekommen von Assoziationen beeinflussen. Eine mögliche Antwort darauf liefern Theorien über kognitive Schemata.
Kognitive Schemata Wie bereits dargelegt, gelangt jegliche Information, die wir aufnehmen, zunächst ins Kurzzeitgedächtnis und wird sogleich mit abgespeicherter Information aus dem Langzeitgedächtnis verglichen. Nach Ansätzen der Schematheorie werden diese Assoziationen von Schemata gesteuert, also Erwartungen, wie etwas üblicherweise ist (vgl. Snyder 2000: 263). „Both of these methods, automatic and voluntary recognition, require that schemas (knowledge of the structure of particular sounds or sound classes that are important to us) have already be formed by prior listening“ (Bregman 1993: 13). „Die Wahrnehmung, verstanden als ein aktiver, konstruktiver Prozeß der Informationsverarbeitung, basiert auf Schemata oder in der Terminologie von Miller, Galanter und Pribram (1960) auf ‚Plänen‘, die verschiedene Funktionen haben, darunter die Aufnahme spezifischer Funktionen.“ (de la Motte-Haber 1996: 97). 9
http://www.youtube.com/watch?v=4ymAm33G7uQ [09.08.2014].
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Schemata sind ganz allgemein dadurch gekennzeichnet, dass sie redundante Informationen aus unserer Erfahrung verdichten und so die strukturierende und zuordnende Wahrnehmung verschiedener konkreter Objekte, Situationen und Ereignisse in stabile und flexible Kategorien ermöglichen (vgl. Louven 1998: 35). Die spezifische Qualität eines Schemas ist, so wird angenommen, nicht an fixe Konstituenten gebunden, sondern als Gesamtkonstellation von dynamisch variierten und verschieden verknüpften Merkmalen zu verstehen. Sie sind vergleichbar mit Metakategorien oder Variablenbündel, die sich situationsabhängig aus verschiedenen ‚slots‘ bzw. Variablen zusammensetzen (vgl. Snyder 2000: 95, Louven 1998: 36): „So besteht etwa das Schema AUTO z.B. aus Variablen für die Merkmale LÄNGE, BAUART, aber auch für MOTOR, ANZAHL DER RÄDER, FARBE etc.“ (Louven 1998: 36).
Die Variablen eines Schemas werden abhängig vom Aufbau des spezifisch wahrgenommenen Objekts mit Werten belegt und unterliegen prinzipiell keinen Einschränkungen. Da allerdings eine Wertebelegung mit ‚0‘ bezogen auf die Variable ‚Anzahl der Räder‘ wenig zulässig erscheint, sieht das Schemamodell den Wertebereich (‚Variable Constraints‘) und die Vorbelegung (‚Default Values‘) als zwei grundlegende Variableneigenschaften vor (vgl. Louven 1998: 37f., Rumelhart 1980: 35f.). Bevor ich nun näher auf strukturelle und funktionelle Aspekte von Wahrnehmungsschemata eingehe, sei angemerkt, dass zur Schematheorie unterschiedliche Ansätze aus verschiedenen Einzeldisziplinen existieren. Wie Mandl et al. feststellen, kann keineswegs von einer einheitlichen Definition oder terminologischen Schärfe gesprochen werden (vgl. Mandl et al.: 1988: 124). Auch zu Schemata bei der Musikwahrnehmung gibt es verschiedene theoretische Konzepte, wobei ich mich im Folgenden an den Arbeiten von Stoffer (1985, 1996), Louven (1998), Snyder (2000) und Engh (2006) orientieren werde. Es gilt im Speziellen zu diskutieren, inwieweit diese Konzepte für das Nachvollziehen musikalischer Wertschätzung nützlich sind. Zur Veranschaulichung, wie kognitiv repräsentiertes Musikwissen eines Hörers strukturell organisiert sein könnte, hat Thomas Stoffer das folgende Schemamodell vorgeschlagen (vgl. Stoffer 1985: 162-171):
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Abb. 1: Hypothetische Struktur der kognitiven Schemata zur Repräsentation musikalischen Wissens (Stoffer 1985: 165).
Stoffer geht von einem ‚Musikschema‘ aus, das dem ‚Weltwissen‘ untergeordnet und von den Subschemata ‚globales Klassifikationsschema‘, ‚musikalisches Stilschema‘ und ‚Formtypenschema‘ unmittelbar beeinflusst ist. Durch das Klassifikationsschema werde Musik zunächst nach formalen und pragmatischen Aspekten eingestuft und etwa zwischen ‚klassischer Musik‘ und ‚Unterhaltungsmusik‘ unterschieden. Diese erste Einschätzung konkretisiere sich anhand des Formtypenschemas: „Das ‚Formtypenschema‘ enthält die Repräsentation der mit musiktheoretischen Konzepten beschreibbaren musikalisch-syntaktischen Regeln des formalen Aufbaus von Musik in den Ausschnitten, die zum Wissen eines Hörers gehören“ (Stoffer 1985: 164).
Ein Formtypenschema könne seinerseits eine Idealstruktur haben, die in einem ‚Kernschema’ repräsentiert werde. Ein typisches Kernschema sei z.B. jenes der Periodenstruktur, welches das Prinzip der binären Binnengliederung musikalischer Einheiten spezifiziere (vgl. ebd.: 167). Abweichungen von dieser Struktur werden vom Hörer als „Spezialfälle geringeren Allgemeingrades“ (ebd.) betrachtet. Der Ansatz von Stoffer lässt annehmen, dass sich musikalische Schemata in erster Linie über formal-syntaktische Merkmale konstituieren. Marcel Engh hinterfragt diese Einschränkung insbesondere mit Blick auf populäre Musik und adaptiert Stoffers Modell auf Grundlage von Gesprächen mit Musikwissenschaftlern und Marketingexperten (vgl. Engh 2006: 119, Fußn.):
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Abb. 2: Konzeptualisierung der Schemastruktur für populäre Musik (Engh 2006: 119).
Für Engh ist bei populärer Musik „die semantische Qualität innerer Vorstellungsbilder von zentraler Bedeutung“ (ebd.: 118-119), weswegen er die Schemastruktur um das ‚Semantikschema‘, das er als den „intangiblen Bedeutungskontext des Musikangebots“ (ebd.: 120) begreift, erweitert. Die globale Rasterung beim Klassifikationsschema kann seiner Ansicht nach an ein affektiv-ästhetisches Bewertungssystem gekoppelt sein und in dieser Phase spontan entschieden werden, ob eine Musik gefällt oder nicht. Es ist anzumerken, dass auch Engh die Einordnung in ‚E-Musik‘ und ‚U-Musik‘ als einziges Beispiel einer solchen globalen Klassifikation nennt und ähnlich wie Stoffer offen lässt, von welchen Merkmalen diese Unterscheidung abhängen könnte (vgl. ebd., Stoffer 1985: 164). Erst die Zuordnung zu einer bestimmten ‚Musikgattung‘, auf der Ebene des ‚Genreschemas‘, erfolge in enger Wechselbeziehung mit dem aktivierten ‚Syntaxschema‘. Dieses umfasse die „formalen melodischen, rhythmischen und harmonischen Attribute der Genretypen“ (ebd.: 120) ebenso wie visuelle Attribute. Das Kernschema sei als Synthese der in den übergeordneten Schemata repräsentierten Information zu verstehen. Für ein Genre wie Dance-/Clubmusic könne es bspw. Assoziationen wie ‚treibender Rhythmus‘, ‚kein Gesang‘, ‚DJ‘ oder ‚Drogen‘ beinhalten (vgl. ebd.). Sowohl in Stoffers als auch in Enghs Schemamodell finden sich auf unterster Hierarchieebene so genannte ‚Wahrnehmungsschemata‘. Es wurde schon im vorherigen Kapitel angedeutet, dass diese ‚perceptual categories‘ die erste Verarbeitung und Kategorisierung des sensorischen Inputs steuern, während die ‚Konzeptschemata‘ (‚conceptual categories‘) das Wahrgenommene in syntaktische und semantische Zusammenhänge stellen. Von Interesse ist nun, welche Funktionen die Schemata im Wahrnehmungsprozess einnehmen, wie also reiz- und konzeptgesteuerte Dekodierungsvorgänge interagieren und bestimmte Schemata aktiviert werden können. Im Speziellen möchte ich mich auf die Frage konzentrieren, ob sich hieraus Rückschlüsse auf einen schemaartigen
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Ablauf beim Bewerten von Musik ziehen lassen. Ich schlage für diese Zwecke eine eigene Strukturierung vor, die sich zum Teil von den vorgestellten Modellen unterscheidet:
Abb. 3: Vorschlag eines Strukturmodells kognitiver Bewertungsschemata.
Die zentralen Knotenpunkte dieses offenen Netzwerks sind die Schemata ‚Kultur/Lebensführung‘, ‚Wahrnehmung‘ und ‚Klanggeschehen‘, die subjekt- und situationsabhängig auf unterschiedliche Weise kombiniert und „im Zusammenhang jetzt wahrgenommener oder empfundener Handlungsnotwendigkeiten“ (Schmidt 1991: 37) in Erinnerung gerufen werden. Solche Schemata müssen meines Erachtens nach weder hierarchisch aufgebaut sein noch in direkter Abhängigkeit zueinander stehen, da bereits ein einzelnes Schema eine ausreichend repräsentative und auch bewertungsbeeinflussende Funktion erfüllen kann. Entspricht z.B. für einen politisch links gerichteten Hörer ein Song rein vom Höreindruck dem Genreschema von ‚progressiver Rockmusik‘ und findet er deswegen Gefallen daran, so kann sich diese Wertschätzung umkehren, sobald die entsprechende Band mit Rechtsradikalität konnotiert wird. Im Unterschied zu Stoffer und Engh plädiere ich für ein umfassenderes Schema ‚Klanggeschehen‘, das alle dem musikalisch-klanglichen Ausdruck zurechenbaren Dimensionen beinhaltet. Hierzu sind sowohl diskrete als auch kontinuierliche Klangdimensionen zu zählen, die alleine oder in Kombination für den Hörer wichtig sein können. In diesem Zusammenhang wird die Frage nach rekursiven Prozessen betreffend Instantiierung und Neuaufbau von Schemata relevant, also in welcher Form das Klanggeschehen in populärer Musik an der Schnittstelle zwischen ‚bottom-up‘- und ‚topdown‘-Verarbeitung einzuordnen ist. Christoph Louven kritisiert diesbezüglich die von Alba/Hasher (1983: 204) zusammengefassten Grundannahmen der Schematheorie (vgl. Louven 1998: 49ff.). Alba/Hasher sehen die vier Stufen Selektion, Abstraktion, Interpretation und Integration
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als zentrale Prozesse in der Informationstransformation aus der ‚wirklichen Welt‘ zur eigenen Konstruktion von Wirklichkeit an (vgl. Louven 1998: 49). Die Problematik dieses Konzeptes liege in der von sprachtheoretischen Untersuchungen übernommenen Verengung des Abstraktionsprozesses auf rational-analytische Bedeutungszuweisungen. Nicht nur, dass Musik häufig keine unmittelbar klangimmanente semantische Entsprechung habe, auch können scheinbar synonyme Oberflächenstrukturen mit verschiedenen semantischen Akzentuierungen wahrgenommen werden, wie im Sprachbereich am Beispiel von Stimmgebung oder Sprachmelodie ersichtlich sei (vgl. Watzlawick 1978: 76 in Louven 1998: 50). Darüber hinaus ginge auf diese Weise eine Vielzahl an etwaig relevanter Information verloren, da aufgrund des Mangels an semantischen Bezugsetzungen keine Codierung in Schemata möglich wäre (vgl. Louven 1998: 50). Um zu berücksichtigen, dass Schemata nicht ausschließlich durch den Rückgriff auf semantische Gedächtnisinhalte aktiviert werden können, sondern auch episodisches Wissen zur Modellierung kognitiver Strukturen beiträgt, integriere ich in mein Konzept die übergeordnete Wissensform ‚deklaratives Wissen‘. Die in meinem Modell vorgenommene strukturelle Zuordnung der verschiedenen Schemata zu semantischem oder episodischem Wissen ist, wie an dem Pfeil an der linken Seite angedeutet, tendenziell zu verstehen und nicht im Sinne starrer oder hierarchisch organisierter Einheiten mit gleichbleibenden Funktionsabläufen. Es ist denkbar, dass ein bestimmtes Schema direkt aus einem musikalischen Reizmuster extrahiert wird – Stoffer würde dies als Analyse niedrigem Niveaus unter dem Aspekt der Identifikation physischer Merkmale bezeichnen (vgl. Stoffer 1985: 167) – und etwa der Klang einer verzerrten Gitarre auch ohne musikalisch-syntaktische Kontextualisierung genug Information zur Repräsentation des Kernschemas ‚Rockmusik‘ liefert. In welchem Umfang weitere Schlüsselreize, wie z.B. Drogen, lange Haare, Gefahr etc., zur Konstruktion dieses Kernschemas benötigt werden, hängt natürlich von den individuellen Erfahrungswerten des Rezipienten ab. Die Fähigkeit zur Ausdifferenzierung ist außerdem ein entscheidender Faktor dafür, ob die Kategorie Rockmusik bereits ein Kernschema darstellt oder das vermittelte Klangbild vertiefendere Unterscheidungen zulässt. Denn obgleich Blues Rock und Death Metal zwar zumindest weitläufig dem Schema Rockmusik zuzurechnen sind, und in beiden Musikrichtungen mehr oder weniger verzerrte Gitarren vorkommen, so sind Übereinstimmungen auf Ebene eines charakteristischen Kernschemas nur schwer zu finden (dies bereits rein unter Berücksichtigung kontinuierlicher Klangdimensionen). Die am Beispiel verzerrter Gitarren angedeutete, reizgesteuerte Schemainstantiierung kann in noch stärkerem Maße von abstrakten Denkmustern abgekoppelt sein und die „rational distanzierte Weltbetrachtung durch eine vegetativ gelenkte Anpassungshaltung“ (Hesse 2003: 53) verdrängt werden. Eine zu körperlich-haptischer Erfahrung einladende Musik, wie etwa Techno oder eben Death Metal, kann nach Martin Seel „ohne den Umweg über Sinn, Bedeutung und individuellen Ausdruck somatisch gehört werden“, als „gleichsam direkte Übertragung der Energie des Werkes auf das leibliche Befinden seiner Hörer“ (Seel 2003: 248; siehe auch v. Appen 2007: 226).
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„Die physikalisch meßbare Intensität von Reizen hat sich immer mehr zum eigenen Stilmittel entwickelt. Lautstärke, Geschwindigkeit, Hell-Dunkel-Kontraste und Farbeffekte sind oft bis zu einer Intensität gesteigert, wo die bloße sinnliche Erfahrung schon die ganze Aufmerksamkeit beansprucht“ (Schulze 2005: 154).
Plastischer drückt dies Wicke aus, indem er Techno als „im Wortsinn taktile Musik“ bezeichnet, bei der die enormen Phonstärken „[...] Außenstehenden förmlich den Atem nehmen und aus dem Bässen wohlgezielte Schläge in die Magengrube zu machen scheinen [...]“ (Wicke 1998). Derartige Wahrnehmungsformen haben einen Systemwechsel von Bedeutungs-Repräsentation zu körperlicher Partizipation als Voraussetzung, wodurch der Klang „auf den Körper als Referenzbezug, auf körperliche Bewegung, Körpererfahrung und die symbolische Vermittlung dessen [...]“ (ebd.) umgerichtet werde. Hiernach ist ein Kernschema vorstellbar, das in seiner extremsten Ausformung ausschließlich im episodischen Gedächtnis verankert ist und ein ‚body schema‘ als Referenzpunkt für die Wahrnehmung dient (vgl. Vickhoff 2008: 52). Schemaaktivierungen können auch konträr zu diesem Beispiel vonstatten gehen und vorwiegend ‚top-down‘, durch die Wahrnehmung abstrakter semantischer Systeme erfolgen. Wie vielschichtig und komplex diese Zeichengefüge sein können, zeigt Michael Rappes Videoclipanalyse zum Freundeskreis-Song Esperanto (1998): „Es entsteht, um eine Formulierung Stuart Halls aufzugreifen, eine ‚Landkarte der Bedeutungen‘ (Hall 2004: 74). Und so kann es passieren, dass in den ersten drei Bildeinstellungen eines Hip HopClips – wir reden von gerade mal 20 Sekunden – die Geschichte des Hip Hop, die wichtigsten Kulturtechniken des Hip Hop, Kulturtechniken der europäischen Moderne und Themen wie Globalisierung und Rassismus auf musikalischer und visueller Ebene verhandelt werden“ (Rappe 2008: 175).
Ein essentieller Aspekt bei der Konstruktion von Wahrnehmungsobjekten mittels Schemata ist die Etablierung von Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Variablen. Wie stabil ein kognitiver Bezugsrahmen ist, hängt von der quantitativen und qualitativen Vernetzung der Variablen ab. Die quantitative Vernetzung bezieht sich auf die Anzahl der einwirkenden Variablen und gibt Aufschluss darüber, wie viele unterschiedliche Parameter zur Konstitution eines Schemas beitragen. Der qualitative Aspekt weist auf den Grad der Vernetzung hin und ist ein Indikator für die „Konsistenz und den inneren Zusammenhalt des Systems“ (Louven 1998: 42). Nicht völlig unwahrscheinlich sind Konfigurationen, in denen ein Kernschema durch eine hohe Anzahl an schwachen Korrelationen gekennzeichnet ist und Merkmale des Klanggeschehens ebenso relevant sind wie Merkmale aus allen anderen Schemata. Da die jeweiligen Abhängigkeiten in einem solchen Fall relativ gering wären, ließe sich in Bezug auf die beteiligten Variablen von einem entsprechend großen Spektrum an zulässigen Wertebereichen und einer damit einhergehenden Flexibilität in der Vorbelegung ausgehen. Derart verknüpfte Wissensstrukturen bieten wohl vor allem dort Orientierung, wo die Adäquatheitskriterien für eine schematische Informationseinordnung verhältnismäßig weitläufig sind.
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Ansätze zur Interpretation
Die Mechanismen massenorientierten Mainstream-Pops bilden schemabezogen ein besonderes Spannungsfeld ab, erfordern sie doch eine stetige Gratwanderung zwischen breit angelegter, möglichst globaler Schemakonformität, die Überschreitung selbiger als Ausdruck von Innovativität/Neuartigkeit sowie eine möglichst hohe assoziative Bindung an die umfassende Marke ‚Popstar‘ (vgl. Engh 2006: 122). Gelingt es strategisch, einen Künstler als eigenständiges Schema zu etablieren, so werden auch Wertebereichsverletzungen und eigentlich inadäquate Variablenbelegungen in Kauf genommen. Madonnas musikalische, optische und einstellungsbezogene Wandlungsfähigkeit spiegelt dies ebenso wider wie die Imagewechsel von Robbie Williams (von Boygroup zu Britpop, von Swing zu Stadionentertainment zu experimentellem Dance, und wieder zurück). Am Beispiel des Dance-/Hip Hop-Albums Rudebox (2006) wird jedoch deutlich, dass eine zu starke Abkehr von schematypischen Erwartungen die Gefahr rezipientenseitiger Ablehnung in sich birgt. Unter Berücksichtigung der dreistufigen Systematik schemageleiteten Lernens von Rumelhart (vgl. Rumelhart 1980: 52ff.) wurden hier offenbar die Grenzen zwischen langsamer Feinabstimmung (‚Tuning‘) und der Notwendigkeit zur Schemaneubildung (‚Restructuring‘) in zu hohem Maße überschritten. Es ist anzunehmen, dass sich in abgegrenzten Handlungskontexten niedrigeren ‚Kollektivitätsgrades‘ (vgl. Schulze 2005: 129), wie etwa einer musikbezogenen Subkultur, weitaus starrere Bezugssysteme finden lassen. Bei einem auf sozialpsychologische Motive abgestimmten Nutzungsverhalten, bei dem die soziale Integration in eine FanCommunity oder die Distinktion von anderen sozialen Gruppen im Vordergrund steht (vgl. Engh 2006: 137), nehmen starke schematische Verknüpfungen und entsprechend eingeengte Wertebereiche eine entscheidende Rolle ein. Bereits kleinste Abweichungen können die Stabilität des Systems in Frage stellen und Bedeutungsverschiebungen hervorrufen. Das Beispiel der Hardcore-Subkultur in Washington DC (vgl. Steinbrecher 2008) ist in diesem Zusammenhang exemplarisch zu nennen. Es bleibt festzuhalten, dass ein in dieser Form aufbereitetes Schemamodell gewisse Anhaltspunkte bietet, um populäre Musik aus dem Blickwinkel kognitiver Bezugsrahmen zu betrachten. Denkbar sind Interpretationen etwa in Bezug auf den Aufbau und die Qualität und Quantität der schematischen Vernetzung sowie die Art und Weise der Bedeutungszuschreibung. Obgleich es sich hierbei in erster Linie um individuelle Ordnungstendenzen handelt, so ist nicht auszuschließen, dass sie personenübergreifend ähnlich sind: „Aus der Erkenntnis, daß unsere subjektiven Welten nicht identisch sind, wird häufig die irrige Schlußfolgerung abgeleitet, jeder lebe in einer Welt, die im strikten Sinne seine eigene sei, hermetisch nach außen abgeschlossen, unerreichbar für die anderen“ (Schulze 2005: 224).
Nach Bob Snyder entstehen kognitive Schemata durch Generalisierung von ähnlichen Situationen. Wenn musikalische Konzepte und Praktiken öfters in bestimmten Situationen als zueinander in Bezug stehend erscheinen, dann können sich musikbezogene Schemata herausbilden, die dieses Verhältnis repräsentieren. Teilen mehrere Individuen solche Erfahrungen, entwickelt sich unter Umständen ein kollektives Repertoire von
Psychologische Ansätze
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musikalischen Konzepten und Praktiken, die das Wahrnehmen und Verstehen von Musik beeinflussen. Snyder spricht diesbezüglich von ‚musikalischen Kulturen‘ (vgl. Snyder 2000: 102). Eine Musikkultur könne aus mehreren Ebenen bestehen und Vorstellungen darüber beinhalten, was ein Musikstück überhaupt als solches kennzeichnet, in welchen Gegebenheiten Musik stattfinden soll, was eine schöne Phrase ausmacht u.Ä. Es sei jedoch möglich, dass bereits etablierte Schemata auch wieder vergessen werden, sofern sie nicht durch Konsens oder Wiederholung vergegenwärtigt bleiben (vgl. ebd.: 201). Zum Abschluss dieses Kapitels sei eine gängige Definition zu populärer Musik kurz aus kognitionspsychologischer Sicht betrachtet. Laut dem Wikipedia-Artikel Pop music10 charakterisiert einen Popsong eine Dauer von drei bis dreieinhalb Minuten, ein konsistenter und einprägsamer Rhythmus, einfache traditionelle Strukturen sowie die Zuordnung zu einem ‚mainstream style‘ (vgl. Everett 2000: 272). Die Struktur sei durch eine VerseChorus-Form gekennzeichnet, wobei die Strophe melodisch, harmonisch und rhythmisch zum Refrain in Kontrast stehe und der Fokus auf eingängige Melodien und Hooks liege (vgl. Shepherd 2003: 508). Kramarz hebt die Simplizität in Beat, Melodie und harmonischer Begleitung hervor (vgl. Kramarz 2006: 61) und Frith misst dem Gesangstext keinen sonderlichen Tiefgang in der Themenwahl bei (vgl. Frith 2001: 96). Diese Beschreibungen lassen vermuten, dass ein Popsong in erster Linie ‚einfach‘ gestaltet ist. Kognitionspsychologisch kann eine Information umso besser im Langzeitgedächtnis gespeichert und aufgerufen werden, je klarer und eindeutiger sie strukturiert ist und je häufiger sie wiederholt wird. Geht man nun davon aus, dass vor allem jene Popsongs populär sind, die sich schnellstmöglich und nachhaltig im Gedächtnis der Rezipienten verankern, so verleitet dies zu Hypothesen über deren mögliche ‚Idealstruktur‘. Zielführend wären bspw. musikalische Phrasen, die zeitlich die Kapazitätsgrenze des Kurzzeitgedächtnisses nicht überschreiten bzw. im Bereich eines gesprochenen Satzes liegen (zwischen drei und fünf Sekunden). Wie leicht diese Phrasen gespeichert werden können, hängt davon ab, wie zielgerichtet, abgegrenzt und stabil sie sind. Die einzelnen Stimmen müssten also harmonisch, melodisch und rhythmisch möglichst das gleiche Ziel verfolgen und als Einheit erfassbar sein. Diese Prämissen wären ebenso im größeren zeitlichen Kontext vorteilhaft. Sektionen bestünden im Idealfall aus wiederholten Phrasen und führen in erwartbarer Weise zu darauffolgenden Sektionen, wie etwa zum Refrain eines Songs. Um die Aufmerksamkeit des Hörers aufrecht zu erhalten, sollte die Gesamtdauer eines Songs eine gewisse Grenze nicht überschreiten (siehe hierzu Snyder 2006: 23-24). Solche Annahmen zu einem ‚kognitiv leicht verarbeitbaren Popsong‘, also zu gewissen Schemata, die zweifelsfrei die aktuelle westliche Musikkultur beeinflussen, können meines Erachtens nach eine gute Grundlage bieten, um Erklärungsansätze zur Popularität bestimmter Musik herzuleiten. Jedoch sollte davon Abstand genommen werden, von 10
http://en.wikipedia.org/wiki/Pop_music [22.08.2014].
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Ansätze zur Interpretation
allgemeingültigen musikalisch-syntaktischen Regeln auszugehen, die zu jeder Zeit spezifische Kognitionsmechanismen auslösen.
2.6 Neuere ästhetische Ansätze
Neuere ästhetische Ansätze Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass vergleichende, referentielle, soziologische und psychologische Ansätze ein breites Spektrum an Möglichkeiten eröffnen, um Musik zu interpretieren und die Gründe für deren Wertschätzung nachzuvollziehen. Es finden sich jedoch kaum Bestrebungen, diese Verstehenshorizonte zusammenzuführen und ästhetische Fragestellungen zum Klingenden aus mehreren Blickwinkeln gleichzeitig zu bearbeiten. Dies ist mitunter dadurch begründbar, dass das Verhältnis von Ästhetik und populäre Musik erst seit Kurzem wieder thematisiert wird (Diaz-Bone 2002, v. Appen 2007, Fuhr 2007, Rolle 2008, Stöckler 2008, Parzer 2008, Pfleiderer 2009, Brunner/Parzer 2010). Grundtenor dieser Abhandlungen ist die Forderung, Musikästhetik nicht länger als normative Lehre zu begreifen, in der legitimiert werden soll, was als schön bzw. als Kunst zu gelten hat, sondern vielmehr nach den Kriterien zu fragen, an denen sich die Hörer in ihren ästhetischen Urteilen orientieren. Zur Rekonstruktion dieser Kriterien bedarf es umfangreicher empirischer Untersuchungen, wie sie in den Forschungen von Diaz-Bone, v. Appen und Parzer zu finden sind. Ich werde mich im Folgenden vor allem an diesen drei Arbeiten orientieren und unter Einbeziehung des vorher Geschriebenen versuchen, eine eigene Zugangsweise zu entwickeln. Laut Michael Parzers Analyse von allgemeinen Internet-Gesprächsforen kann zwischen fünf Rechtfertigungsstrategien bei der Artikulation von Musikgeschmack unterschieden werden. In den von ihm untersuchten Beiträgen erfolge die Beurteilung der Qualität einer Musik erstens nach musikalischen Kriterien, zweitens nach den ihr zugeschriebenen Funktionen, drittens nach den erwarteten Wirkungen, viertens nach den ihr zugeschriebenen Fähigkeiten, bestimmte Erinnerungen hervorzurufen und fünftens nach ihrem spezifischen Identifikationspotential (vgl. Parzer 2008: 141). Wenn Qualitätszuschreibungen anhand von musikalischen Kriterien begründet werden, was Parzers Beobachtungen nach nur selten vorkommt, so diskutieren die Forumsteilnehmer folgende Parameter: „Kompositorische Qualitäten, Melodie, Rhythmus (bzw. ‚Beat‘), lyrische Qualitäten, handwerkliches Können bzw. Virtuosität, Sound, Musikgefühl, Stimme, interpretatorische Fähigkeiten und innovative Aspekte“ (ebd.: 142).
Diese Qualitätszuschreibungen beziehen sich unter anderem auf genretypische Konventionen, auf vermeintlich universale und genreunabhängige Qualitätsmerkmale (z.B. ‚Melodie‘) sowie auf die Fähigkeiten der Musiker (‚Musikgefühl‘, ‚musikalische Komplexität‘) (vgl. ebd.: 142-144).
Neuere ästhetische Ansätze
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„Auffällig ist allerdings, dass die Begründung von Geschmack mit dem Verweis auf musikalische Kriterien oft sehr unpräzise und widersprüchlich ist. Was jetzt genau unter ‚Melodie‘, ‚Virtuosität‘ oder ‚kompositorischer Komplexität‘ verstanden wird, bleibt nicht selten im Unklaren. Eine Melodie wird als ‚komplex‘, ‚seicht‘, ‚schön‘, ‚ekelig‘, ‚fad‘ oder ‚elektrisierend‘ bezeichnet; Begriffe, die sich wohl nur schwer operationalisieren lassen und oft auch über musikimmanente Aspekte hinausreichen“ (ebd.: 144).
Unter Berücksichtigung der in Kapitel 2.5 skizzierten Kognitionsspezifika erscheinen mir solcherart Musikbeschreibungen nicht unbedingt als auffällig, sondern im Kontext populärer Musik als durchaus üblich. Sie unterstreichen die angeführten Tendenzen zu einer eher reizanalogen Wahrnehmung, die mittels körpernaher, aus anderen Erfahrungsbereichen abgeleiteten Metaphern zum Ausdruck gebracht wird. Bei den Songtexten heben die Poster vor allem inhaltliche Aspekte hervor und beurteilen sie vor dem Hintergrund ihres Lebens- bzw. Jugendstils (vgl. ebd.: 144). Parzer liefert außerdem empirische Belege dafür, dass Musik auch aufgrund der Funktionen, die sie zu erfüllen vermag, geschätzt wird. Die Poster assoziieren eine Musik häufig mit einer spezifischen Situation oder Tätigkeit, wobei sie zwischen einem Freizeit- und einem Arbeitskontext unterscheiden. Genannt werden Tätigkeiten wie Tanzen, Entspannen, Abreagieren, Feiern, Arbeiten, Putzen u.Ä., die zu oder neben einer hierfür als geeignet erachteten Musik verübt werden (vgl. ebd.: 145). Es zeigen sich ebenso Hinweise, dass die Wertschätzung für eine Musik von den von ihr erwarteten Wirkungen beeinflusst ist (vgl. ebd.: 146-147). Bestimmte Songs oder Genres sollen bestimmte Gefühlslagen hervorrufen, stabilisieren, verstärken oder vertreiben können. Parzer verweist in diesem Zusammenhang auf Holger Schramms Untersuchungen zur Stimmungsregulierung durch Musik und merkt an, dass auch in den Forenbeiträgen sehr häufig auf die Bedeutung von ‚Mood Management‘ hingewiesen wird: „Musik wird ‚je nach Stimmung‘ und je nach ‚Lebensumständen‘ gehört; sie dient dazu ‚Aggressionen loszuwerden‘ oder dazu, ‚ganz bestimmte Gefühle und Stimmungen rüberzubringen‘. Vor allem der Konsum von ‚härteren‘ Musikrichtungen wie Heavy Metal und ähnlichem wird durch den Verweis auf deren Einsatz im Rahmen von ‚Mood Management‘ verteidigt [...]“ (ebd.: 146).
Als viertes Qualitätskriterium identifiziert Parzer die Eignung einer Musik, persönliche Erinnerungen zu wecken und die damaligen Gefühle und Stimmung auszulösen. Derartige Qualitätszuschreibungen können mitunter mit der Absicht verfasst werden, Gleichgesinnte mit ähnlichen Erfahrungen zu finden (‚Do-You-Remember-Phase‘) (vgl. ebd.: 147). Zusätzlich zu diesen vier „subjektiven Bestimmungsmerkmalen“ (ebd.: 148) seien musikalische Beurteilungen von bestimmten Vorstellungen, Ideen und Images abhängig, die zumeist außerhalb des Musikalischen liegen. Parzer spricht in diesem Zusammenhang von einem der Musik zugeschriebenen ‚symbolischen Mehrwert‘, also von Bedeutungen, die einem Song, einem Genre oder einer Band „je nach kontextueller Einbettung und Erfahrungsraum“ (ebd.) beigemessen werden. Eine Musik gelte dann als ‚gut‘, wenn sich der Rezipient mit ihr identifizieren und sozialkulturell positionieren kann, was
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ihn zu den in Kapitel 2.4 dargelegten Annahmen zur Identitätsstiftung mittels Musikgeschmack führt. Die Erkenntnisse von Michael Parzer sind für mein Vorhaben insofern wertvoll, als dass sie einige der oben geäußerten Vermutungen zu den Gründen musikalischer Wertschätzung empirisch untermauern. Als besonders vielsprechend erachte ich den methodischen Ansatz, ein Datenmaterial zu untersuchen, in sich dem die Rezipienten ohne Einflussnahme des Forschers äußern. Eine solche Vorgehensweise wählt auch Ralf von Appen in seiner Dissertation Der Wert der Musik. Zur Ästhetik des Populären (2007), wobei er sich im Unterschied zu Parzer auf Userbeiträge aus primär musikbezogenen Websites konzentriert und die Qualitätskriterien nicht nur allgemein, sondern in Bezug auf bestimmte Künstler/Bands herausarbeitet. Konkret versucht er mittels einer qualitativen und quantitativen Inhaltsanalyse von ca. 1000 Amazon-Rezensionen zu zehn Erfolgsalben systematisch zu dokumentieren, nach welchen Maßstäben Musik individuell bewertet wird. Bei der Auswahl der zwischen 2001 und 2004 veröffentlichten Alben differenziert er zwischen Verkaufserfolgen (Robbie Williams, Eminem, Herbert Grönemeyer, Anastacia, Norah Jonas) und Kritikererfolgen (The Strokes, Bob Dylan, Queens of the Stone Age, The Streets, Franz Ferdinand).11 v. Appen leitet aus seiner Studie zunächst sieben Kategorien von Kriterien ab, warum den Rezensenten eine Musik gefällt oder nicht gefällt: Qualitäten der Songtexte, Kompositorische Qualitäten, Interpretatorische Qualitäten, Authentizität und andere menschliche Qualitäten, Emotionale Qualitäten, Originalität/Neuheit/Vielfalt/Langeweile, Sonstiges (vgl. v. Appen 2007: 81-188). Es zeigt sich, dass die Songtexte für viele Hörer offenbar keine zentrale Rolle spielen. Einzig bei den Alben mit einem hohen Wortanteil werden verstärkt die Texte angesprochen, weswegen v. Appen seine Erkenntnisse vor allem aus den Besprechungen der ‚Rap‘-Alben von Eminem und The Streets sowie von Grönemeyer und Dylan zieht (vgl. ebd.: 81-94). Auf inhaltlicher Ebene sei für die Rezensenten wichtig, inwieweit die behandelten Themen bei der emotionalen und kognitiven Orientierung in der Welt helfen (vgl. ebd.: 92). Für eine positive Hervorhebung müssen die Texte einen gewissen Realitätsbezug aufweisen, aus dem sich eine Relevanz für das eigene Leben ableiten lässt. Gelobt werden jene Musiker, die es erstens schaffen, „ein scharf beobachtetes Bild der Gegenwart zu zeichnen“ (ebd.: 82), also z.B. Umwelten, Subkulturen oder Generationen glaubwürdig portraitieren, die zweitens Situationen oder Gefühle beschreiben, zu denen ein persönlicher Bezug aufgebaut werden kann und/oder die drittens einen persönlichen Einblick in ihr eigenes Leben gewähren. Ebenso finden die Rezensenten an Tex11
Verkaufserfolge: Robbie Williams - Escapology (2002), Eminem - The Eminem Show (2002), Herbert Grönemeyer - Mensch (2002), Anastacia - Anastacia (2004), Norah Jones - Feels Like Home (2004). Kritikererfolge: The Strokes - Is This It? (2001), Bob Dylan - Love And Theft (2001), Queens of the Stone Age - Songs For The Deaf (2002), The Streets - Original Pirate Material (2002), Franz Ferdinand Franz Ferdinand (2004).
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ten Gefallen, die zum Nachdenken anregen, etwa wenn die Musiker ethische oder gesellschaftskritische Fragen thematisieren. Noch seltener als die Inhalte werden laut v. Appen Aspekte des sprachlichen Ausdrucks angesprochen. Die Rezensenten attestieren Grönemeyers und vor allem Dylans Texten eine gewisse lyrische Qualität (schöne/gelungene Metaphern und Vergleiche, Wortwitz), während bei Eminem und The Streets eher Merkmale im Vordergrund stehen, die mit deren Fähigkeiten zu ‚Rappen‘ zusammenhängen (Klang, Rhythmus, Wortschatz). Weitere Bewertungskriterien für die Songtexte seien Härte, Humor und Distinktionspotential. Sofern die Amazon-Kritiker musikalische Gesichtspunkte zur Argumentation ihrer Urteile heranziehen, unterscheidet v. Appen zwischen Aussagen zu kompositorischen und zu interpretatorischen Qualitäten. Hierzu bemerkt er, dass die Trennung von Idee (Komposition) und Ausführung (Interpretation) in erster Linie eine theoretische ist, die er zum Zwecke der Gliederung vollzieht und die nicht zwangsläufig die Sichtweise der Rezensenten widerspiegelt (vgl. ebd.: 96). Die Güte der Kompositionen ist gemäß seiner Kategorisierungen das insgesamt am häufigsten erwähnte Kriterium in den Besprechungen, wobei den höchsten Stellenwert die melodischen Qualitäten einnehmen. Die Anmerkungen zur Melodie zielen jedoch nicht auf kompositionstheoretische Aspekte ab, sondern vorwiegend auf deren Wirkung: „[...] eine gute Melodie ist demnach eingängig und ‚ansteckend‘, setzt sich ohne Möglichkeit der Gegenwehr im Gedächtnis fest, zwingt zum Mitsingen, wird zum hartnäckigen Ohrwurm, ‚macht süchtig‘ und fordert, immer wieder gehört zu werden“ (ebd.: 100).
Offenbar nur sehr wenige Kommentare verweisen konkret auf die Gestaltungsmittel Rhythmus, Form und Harmonik. Zwar dürften einige Rezensenten zu wissen glauben, was kompositorische Qualität objektiv ausmacht, näher ausgeführt habe dies aber kaum jemand (vgl. ebd.: 97-98). Einzig bei den Alben von The Strokes und Queens of the Stone Age heben sie mehrfach die Komplexität der Stücke hervor, bezogen auf die „rhythmisch und melodisch auffällige Textur der Gitarren- und Bassstimmen sowie auf die formale Architektur der Stücke“ (ebd.: 99). Unter dem Aspekt der Basistreue und des (Punk-)Traditionsbewusstseins werden die Strokes aber ebenso für ihre musikalische Einfachheit gelobt (vgl. ebd.: 100). Als weitere Kriterien, die sich mehr oder weniger auf die Qualität der Kompositionen zurückführen lassen, identifiziert v. Appen Langlebigkeit und Zeitlosigkeit. Den Reiz eines Albums definieren manche der Bewerter darüber, ob es beim wiederholten Hören interessant bleibt und auch nach Monaten oder Jahren noch hörenswert ist. Die naheliegende Annahme, dass hierbei das Entdecken von neuen Facetten wichtig sei, bestätigte sich allerdings nicht (vgl. ebd. 102). In jedem dritten Beitrag werden laut v. Appen die interpretatorischen Qualitäten angesprochen, wobei die meisten Kommentare auf die Kategorie ‚Stimme, Gesang und Sprechgesang‘ entfallen. Bei der Beurteilung der stimmlichen/gesanglichen Qualitäten nehmen konventionelle kunstmusikalische Kriterien, wie z.B. saubere Intonation, Wohlklang oder Stimmumfang, eine vergleichsweise geringe Rolle ein. Als relevanter erachten die Rezensenten ein charakteristisches Timbre und die Fähigkeit der Sänger,
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mit ihrer Stimme Emotionen zu transportieren. Sie betonen die Intensität des Ausdrucks sowie die vermittelte Glaubwürdigkeit. Eine Ausnahme stellen wiederum die Alben von Eminem und The Streets dar, bei denen das Hauptaugenmerk auf handwerklich-technische Aspekte liege. Sehr wenig Beachtung finden die instrumentalen Leistungen der Musiker, die abgesehen von den rocklastigeren Kritikererfolgen Songs For The Deaf und Is This It sowie Love And Theft kaum zur Sprache kommen (vgl. ebd.: 110-112). v. Appen führt dies darauf zurück, dass sich aufgrund mangelnder Erfahrung und fehlendem Wissens scheinbar nicht jedermann kompetent fühlt, die handwerklich-technischen Fertigkeiten zu beurteilen. Zudem seien die einzelnen Musiker bei Bandalben wohl eher bekannt als bei den Alben von Solokünstlern, wo die vermutlich bewusst unauffälliger gestalteten Instrumentalstimmen zumeist von anonymen Studiomusikern eingespielt werden (die ausgewählten Verkaufserfolge sind ausschließlich von Solisten). Inhaltlich seien die Beschreibungen auch in dieser Kategorie relativ undifferenziert, es lässt sich aus v. Appens Sicht aber meist nachvollziehen, was die Rezensenten an den Instrumentalleistungen fasziniert (vgl. ebd.: 112). Aussagen zur Instrumentierung und dem Arrangement konnte er hingegen nicht detailliert auswerten, da sie bloß einfache Wertbehauptungen oder Lob für einzelne seltene Instrumente enthalten. In Bezug auf die Produktionsqualitäten tendieren die Rezensenten zu einer den emotionalen Ausdruck unterstützenden, natürlich und authentisch wirkenden Klanggestaltung. Die Kommentare zu Bob Dylan und vor allem zu The Strokes legen für v. Appen darüber hinaus die Interpretation nahe, dass das Sounddesign als Mittel zur Abgrenzung dienen kann und mitunter eine gewisse Lebenshaltung vermittelt: „Indem eine Band z.B. den Sound eines zeitlich zurückliegenden Stilbereichs imitiert, stellt sie sich in dessen Tradition, während sie sich zugleich von aktuellen, ganz anders klingenden Trends absetzt. [...] Ihre Anhänger [von The Strokes; Anm. BSt] schreiben ihnen eine unabhängige, kritische Gegenposition zu, der zufolge sie das Rohe, Einfache und Unvollkommene dem steril Sauberen, Angepassten, Überladenen und Realitätsfernen vorziehen. [...] So trägt der Sound der Strokes zum [...] Image des Nachlässigen, Coolen, etwas Arroganten bei, das Hörer an der Band so schätzen“ (ebd.: 113).
Auf die nicht direkt musikbezogenen Kriterien, die v. Appen in den weiteren Abschnitten des Auswertungskapitels bespricht, möchte ich aus Platzgründen nur kurz eingehen. Seiner Einschätzung nach ist dem Kriterium der Authentizität eine große Bedeutung beizumessen, wenngleich es in den Kommentaren nicht immer unmittelbar angesprochen wird. Es gebe unterschiedliche Gründe, warum eine Musik als authentisch oder inauthentisch gilt. Zur Diskussion stehe z.B., ob sich die Musiker nach den Wünschen der Wirtschaft und des Publikums richten oder aber ihre Individualität und Unabhängigkeit bewahrt haben. Wie glaubwürdig, persönlich und offen die Musiker erscheinen, könne für die Zuschreibung von Authentizität ebenso wichtig sein wie ethische und soziale Aspekte, die mit Fragen zur Identifikation und Distinktion zusammenhängen (vgl. ebd.: 115-131). Das Bedürfnis nach Authentizität beeinflusse zum Teil auch die
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nicht minder urteilsrelevante Einschätzung von Sympathie, Charakterstärke oder Haltung (vgl. ebd.: 131-133). Insgesamt am zweithäufigsten werden in den Rezensionen die emotionalen Qualitäten bewertet. v. Appen differenziert hier zwischen den Kategorien ‚Gefühl‘ und ‚Energie‘ und merkt an, dass die Kommentare zu den emotionalen Eindrücken weitgehend ausführlicher und detailreicher ausfallen als jene zu den musikstrukturellen Eigenschaften (vgl. ebd.: 135-162). In einer weiteren Kategorie fasst er Kriterien zusammen, die „Facetten unseres Interesses an Objekten [bezeichnen], die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil sie den Bereich des Erwarteten überschreiten“ (ebd.: 162). Für viele Rezensenten müsse eine Musik einen gewissen Grad an Originalität aufweisen, also stilistisch eigenständig sein und sich (vor allem vom Mainstream) abheben, um an ihr Gefallen zu finden. Weniger oft hänge die Wertschätzung vom Verlangen nach Neuheit ab. In diesem Fall gelte es zu unterscheiden, ob von einem Musiker Veränderung und Weiterentwicklung erwartet wird oder er den Anspruch erfüllen sollte, etwas grundsätzlich Neues und Innovatives zu schaffen. Erwähnenswert ist noch das Kriterium der Vielfalt, bei dem rezipientenorientiert der Abwechslungsreichtum, produzentenorientiert die Vielseitigkeit diskutiert wird (vgl. ebd.: 163-183). Im Großen und Ganzen bietet die empirische Studie von v. Appen einen weitaus ausführlicheren Einblick in spezifische Werturteile über Musik als Michael Parzers, was wohl nicht zuletzt auf die anders gelagerte Zielsetzung und die Auswahl der Stichprobe zurückführen ist. Durch das Aufgreifen der philosophischen Ästhetik-Konzeption von Martin Seel (2003), die auch Rolle (2008) und Pfleiderer (2009) mit Bezug auf populäre Musik thematisieren, eröffnet er darüber hinaus einen weiteren Blickwinkel, von dem aus sich das Klanggeschehen interpretieren lässt. Seel benennt drei verschiedene Modi der Wahrnehmung, in denen ästhetische Erfahrungen möglich sind. Solcherart ästhetische Wahrnehmungen, die sich auf das bloße, artistische oder atmosphärische Erscheinen von Gegenständen oder Situationen richten, sind selbstzweckbehaftet, vollzugsorientiert und dienen rein dem sinnlichen Erleben. Musik kann mit der Absicht gehört werden, den Alltag, die Umgebung für einen Moment beiseite zu schieben, von allen Bedeutungen abzusehen und sich rein dem Klingenden hinzugeben, was einer ‚kontemplativen Wahrnehmung‘ nahekommt. Versucht man das Klingende zu verstehen, musikalische Strukturen, Produktionsweisen oder Assoziationen zu erkennen und sich dabei fremde Erfahrungen und Weltsichten zu vergegenwärtigen, dann würde Seel dies einer ‚imaginativen Wahrnehmung‘ zuordnen. Von einer ‚korresponsiven Wahrnehmung‘ lässt sich sprechen, wenn ein bestimmter Song, der an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Uhrzeit gespielt wird, eine Atmosphäre vermittelt, die ein Hörer in ausschließlich dieser Konstellation als angenehm und wertvoll empfindet. Neben diesen atmosphärisch-situativen Korrespondenzen gebe es auch charakterliche Korrespondenzen. Zweiteres verweist darauf, dass der Charakter eines ästhetischen Gegenstands, wie etwa einer Musikrichtung, auch beständiger sein kann und dergestalt als Abbild der Lebensideale des Hörers deutbar ist. Die Musik wird hiernach Bestandteil der ästhetischen Alltagsgestaltung des Hörers und seine Präferen-
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zen ein Ausdruck seiner Identität, Charaktermerkmale und Grundhaltungen (vgl. Seel 2003: 145-172 sowie v. Appen 2007: 211-288, Rolle 2008: 52-55, Pfleiderer 2009: 5-8). Warum diese Wahrnehmungsmodi für das Verständnis musikalischer Werturteile wichtig sind, begründet v. Appen folgendermaßen: „Zweifellos kann Musik soziale und psychische Funktionen erfüllen, doch ihre Attraktion erschöpft sich für die Hörerinnen und Hörer nicht in der Nützlichkeit, auf die psychologische und soziologische (neuerdings auch evolutionsbiologische) Theorien sie reduzieren. Zudem kann sie viele der von ihr erwarteten äußeren Zwecke nur erfüllen, indem sie ästhetisch, mit einer Aufmerksamkeit für das ihr jeweils eigene sinnliche Erscheinen gehört wird“ (v. Appen 2007: 203).
Bevor eine Musik demnach zur Entspannung, zur Abgrenzung o.Ä. dienen könne, müsse der Hörer ihr zunächst eine gewisse ästhetische Attraktivität zuerkennen, d.h. sie muss Besonderheiten aufweisen, aufgrund derer ästhetische Erfahrungen auf einer oder mehrerer der oben genannten Ebenen möglich werden. Dies schließe nicht aus, dass Musik in vielen Fällen wegen ihrer sozialen und psychischen Funktionen gehört werde. Nichtsdestotrotz sei z.B. die entspannende Wirkung, die viele der Amazon-Kritiker Norah Jones’ Album attestieren, eine „angenehme Folge der Aufmerksamkeit für das musikalische Geschehen“ (ebd.: 216) – für Individuelles und Unerwartetes, das die Rezipienten zum Verweilen bringe. Erst nachdem wir uns auf eine bestimmte Musik ‚eingelassen‘ haben, könne sie uns in einen kontemplativen Zustand versetzen, in dem wir sinnabstinent, ohne bewusste Aufmerksamkeit für das konkrete Klanggeschehen hören. Musik sei eben „kein Werkzeug, mit dem sicher das Ziel der Entspannung erreicht werden könnte“ (ebd.). Auch eigne sich nicht jedwede Musik dazu, um zu einer von uns persönlich als angenehm empfundenen Atmosphäre beizutragen, gleichermaßen wie es nur bestimmte Musik gebe, mit der wir uns über einen längeren Zeitraum identifizieren und die bisweilen unseren Charakter und unsere Lebenseinstellung widerspiegelt. Für situative Korrespondenzen müssen vor allem die emotionalen Qualitäten passen, während charakterliche Korrespondenzen in erster Linie von den menschlichen Qualitäten, „die den Musikern aus außer- und innermusikalischen Gründen zugeschrieben werden“ (ebd.: 290), abhängig seien. Die Spezifika des Klingenden stehen noch stärker im Mittelpunkt, wenn wir versuchen, sie aufmerksam nachzuvollziehen, das Gehörte also gewissermaßen als Kunst wahrnehmen. Hier gehe es allerdings weniger um das endgültige, ‚richtige‘ Verstehen der Musik, sondern vielmehr um „spielerische Verstehensversuche, um das Erproben von Deutungsmöglichkeiten“ (ebd.: 264), die sich sprachlich nicht immer konkret ausdrücken lassen. Der Reiz einer Rezeptionshaltung, die auf das artistische Erscheinen gerichtet ist, bestehe darin, auf eine sinnliche Art und Weise persönlich als bedeutsam empfundene, bisherige Perspektiven aufbrechende Erfahrungen zu machen. Zur Beförderung unserer Vorstellungskraft müssen wir einen Sinn hinter den musikalischen Vorgängen entdecken, der über Oberflächliches hinausreicht: „Entscheidend ist [...], dass Hörer [...] nicht nur hören, was Eminem in seinen Raps erzählt, sondern dass sie ein Gespür dafür haben, wie er es tut, wie der Eindruck von Aggressivität und Wut
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sich nicht nur aus dem Inhalt seiner Aussagen, sondern auch aus der hart und aggressiv anmutenden Dynamik der Beats sowie dem Duktus und der drängenden Phrasierung seines Sprechgesangs entsteht“ (ebd.: 273).
Ich erachte v. Appens Annahme, dass der Wert einer Musik in der Erfüllung derlei ‚ästhetischer Funktionen‘ liegt (vgl. ebd.: 291), als durchaus nachvollziehbar, weswegen ich die drei skizzierten Dimensionen des Musikerlebens in meinen Analyse- und Interpretationsansatz integrieren werde. Es erscheint mir aufschlussreich, musikalische Wertaussagen dahingehend zu untersuchen, ob eine Musik eher zum kontemplativen, korresponsiven oder imaginativen Hören einlädt. Auf Basis dieser Einschätzungen ließe sich systematisch interpretieren, warum bei einer Band etwa deren charakterlichen Eigenschaften im Vordergrund stehen, es wichtig ist, dass ihre Musik nicht jedermann überall hört und man sich vertiefend mit ihr auseinandersetzen sollte, um sie zu schätzen, von Innovationsansprüchen aber ebenso wenig die Rede ist wie von der Eignung der Musik, zu ihr zu tanzen und zu feiern. Um im Zuge dessen zu ermitteln, was es im konkreten Fall genau am Klingenden ist, das bestimmte ästhetische wie auch soziale oder psychische Funktionen erfüllt, muss vorab der Werdegang der Band reflektiert sowie den Rahmenbedingungen nachgespürt werden, in denen die Produktion und Rezeption stattfindet. Es gilt zu überprüfen, was in Bezug auf die Band und das Genre, in dem sie sich bewegt, generell als schön und richtig empfunden wird. Ich möchte hierbei an Rainer Diaz-Bones Dissertation Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der bourdieuschen Distinktionstheorie (2002) anknüpfen. Diaz-Bone interessieren die kulturellen Wissenskonzepte und ethisch-ästhetischen Wertigkeiten der beiden ‚Popmusikwelten‘ Heavy Metal und Techno, die er aus den Diskursen innerhalb der Szenezeitschriften Metal Hammer und Raveline empirisch herausarbeitet.12 Wesentlich für seine Analysen ist die Unterscheidung zwischen ‚ästhetischen Formen‘ und ‚ästhetischen Schemata‘, die für ihn gemeinsam den ästhetischen Wert der kulturellen Objekte bilden. Eine Kulturwelt bringe über die Zeit bestimmte kulturelle Formen (z.B. Harmonien, Kompositionen, Stile) hervor, die in kulturellen Materialen wie Musiken, Bildern oder Texten enthalten seien und die sie auf bestimmte Weisen thematisiere und problematisiere. Im evaluativen Diskurs über Kunst seien Schemata auffindbar, die über Urteile wie ‚schön‘, ‚hässlich‘, ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ hinausreichen und den Formen erst einen sozialen Sinn und distinktiven Wert geben. Solche Schemata beziehen sich nicht nur auf die Formen der Musik, Malerei oder Literatur, sondern ebenso „auf ihre Herstellung, Distribution und Rezeption. Darüber hinaus stehen diese Schemata in Verbindung zur Lebensweise und Lebensführung insgesamt“ (Diaz-Bone 12
Da für meine Überlegungen hauptsächlich die Ergebnisse seiner empirischen Studie relevant sind, werde ich die in der ersten Hälfte der Arbeit diskutierten Begriffe und Probleme der Diskurs- und Distinktionstheorie größtenteils außen vor lassen (siehe ebd.: 15-201 sowie die Rezension von Angermüller 2004).
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Ansätze zur Interpretation
2002: 164-165). Die Bereiche der Produktion, Rezeption und des Lebensstils sind für Diaz-Bone insofern forschungsleitend, als dass er sie als jene Themenkomplexe erachtet, um die es beim Problematisieren, also beim Begründen, Argumentieren, Rechtfertigen, Reflektieren usw., der Wertigkeiten und Qualitäten von kulturellen Objekten vorrangig geht (vgl. ebd.: 170-174). Er widmet ihnen demgemäß auch sein Hauptaugenmerk bei der Analyse der Editoriale, Studioartikel, Bandartikel, DJ/Produzentenartikel, Instrumentenartikel, Rezensionen und Konzert-/Clubberichte von Metal Hammer und Raveline-Ausgaben aus dem Jahr 1999. Den Ergebnissen zufolge orientieren sich die Problematisierungen bei Heavy Metal an einer fundamentalen Integritäts-, Entwicklungs- und Qualitätssemantik, bei Techno hingegen an einer Erfolgs-, Selbstverwirklichungs- und Vernetzungssemantik. Ein zentraler Aspekt der Produktion von Heavy Metal sei die als künstlerische Einheit wahrgenommene Band. Das Bandgefüge sollte stabil sein und langfristig Bestand haben, und die Mitglieder sollten ernsthaft für die Bandidee einstehen und keine Nebenprojekte durchführen. Um als integer zu gelten, müssen sie sich kontinuierlich weiterentwickeln und langsam ihren Erfolg steigern, dabei aber gleichzeitig ihre Identität als Vertreter eines Subgenres bewahren. Die musikalische Bandtätigkeit werde weniger als geniale Schöpfung, sondern vielmehr als kollektiver Arbeitsprozess gesehen, der in einem bestimmten Produktionszyklus ablaufe (Stückeschreiben – Studioarbeit – Veröffentlichung – Tour) (vgl. ebd.: 397-400). An der schrittweisen und vor allem kontrollierten Umsetzung einer Intention für ein Album bemesse sich auch dessen künstlerischer Wert. Ein gelungenes Album setze voraus, dass die Musikerabsichten in dem Resultat wiederzuerkennen seien, die Band also die Techniken, Techniker, Instrumente und Produzenten in ihrem Sinne ‚eingesetzt‘ habe (vgl. ebd.: 286). Entscheidend sei hierfür, dass die Musiker über die erforderlichen instrumentell-handwerklichen Fähigkeiten verfügen und darüber hinaus über die Klangspektren der Instrumente, über die Möglichkeiten der Klangverfremdungen, über Verstärkertechniken usf. Bescheid wissen. Akzeptiert werden allerdings nur jene Instrumente und Techniken, die etwaige spielerische Mängel der Musiker nicht zu überdecken vermögen. Um eine gewisse Qualität zu erreichen und mit dem Produzierten erfolgreich zu sein, müssen demnach Kompetenzen erlernt und geübt werden, was laut Diaz-Bone dem Arbeits- und Erfolgsethos von Handwerkern oder Facharbeitern nahe kommt (ebenso wie die Trennung von Arbeit und Privatem). Für eine angemessene Rezeption bedürfe es einer informierten Werkkenntnis sowie einer aufmerksamen und körperlich aktiven Teilnahme an Konzerten. Zwischen Bands und Publikum bestehe eine gegenseitige Respektserwartung, die sich mitunter darin äußere, dass bei Konzerten eine entsprechende Leistung für das Eintrittsgeld gefordert werde. Auf Seiten der Musiker erwarte man sich Loyalität und dauerhafte Anerkennung. Die Analyse des Techno-Diskurses offenbart eine in vielen Punkten andersartige Einstellung zur Produktion und Rezeption der Musik sowie zum damit einhergehenden Lebensstil (vgl. ebd.: 402-408). Das Herstellen der Tracks erfordere kein langjährig angelerntes Expertenwissen und folge keinem geregelten Ablauf, sondern werde als spiele-
Neuere ästhetische Ansätze
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rische und experimentelle Auseinandersetzung mit den klangtechnischen und rhythmischen Möglichkeiten der Geräte begriffen. Um kreative und deshalb gute Ergebnisse zu erzielen, müsse die künstlerische Arbeit entspannend sein und in einer vertrauten Atmosphäre, wie etwa dem eigenen Wohnzimmer, stattfinden. Im Gegensatz zu der von Heavy Metal-Musikern verlangten Zugehörigkeit zu einer beständigen Band schätze man bei Techno-DJs/-Produzenten deren Unabhängigkeit. Die Künstler sollten in mehreren Projekten involviert sein, wechselnde Kooperationen eingehen und zudem als Unternehmer Erfolg haben. Ermöglicht werde dies durch ein Netzwerkdenken, das der Technokultur zugrunde liege und das sich durch Sampling und Remixing auch musikalisch niederschlage. Der an die Künstler gestellte Anspruch, robuste Universalisten zu sein, eine Sensibilität und Aufnahmebereitschaft für Neues zu haben und Spaß und Erfolg ebenso zu verbinden wie Arbeits- und Privatsphäre, verweist für Diaz-Bone auf den berufsständischen Ethos von Selbstständigen und freien Berufen. Einen weiteren Unterschied zur Heavy Metal-Kultur lassen seine Beobachtungen hinsichtlich der bevorzugten Rezeptionsweise vermuten, bei der es um das funktionale Erleben der Musik, um Tanzen und Entspannung und weniger um aufmerksames Zuhören/Zusehen gehe. Gemein sei beiden Popmusikwelten deren distanziertes Verhältnis zum Mainstream. Heavy Metal zeichne sich durch eine Anti-Ästhetik und eine starke Bindung an die Idee des Undergrounds aus (vgl. ebd.: 255). Auch im Techno werde versucht, sich vom Mainstream abzugrenzen, gleichzeitig aber dennoch angestrebt, ein Massenpublikum und kommerziellen Erfolg zu erreichen. Der Aufbau von Distanz erfolge hier mittels einer Positionierung als ästhetische Avantgarde – „Erfolg zählt hier gerade bei der Masse, wenn man als Künstler richtig verstanden worden ist, die künstlerische ‚Botschaft‘ in der Masse aufgegangen ist (ebd.: 403). Wie bereits angedeutet, sind bei Diaz-Bones Ansatz die Charakteristika der Musik von geringer Relevanz, da er Musikstücke als vordiskursive Formen ansieht, deren lebensstilbezogener Wert sich ändern kann, wenn die Schemata sich ändern (vgl. ebd: 167): „Die Einstellungen zur Sphäre der Kultur wird insgesamt weder auf individuelle Dispositionen noch auf materielle Eigenschaften und objektive Bedeutungen der kulturellen Objekte zurückführbar“ (ebd.: 171).
Seine Erkenntnisabsicht und zum Teil auch seine Sichtweise auf den Stellenwert des Klingenden unterscheidet sich somit grundlegend von v. Appens. v. Appen interessieren gerade die individuellen Erfahrungsmöglichkeiten, die eine Musik dem Einzelnen bietet, und die er bis zu einem gewissen Grad durchaus von den ‚materiellen Eigenschaften‘ beeinflusst glaubt. Nichtsdestotrotz finden sich auch in Diaz-Bones Arbeit zwei Tabellen, in denen er stichwortartig auflistet, an welchen musikalischen Kriterien sich die Journalisten in ihren Musikrezensionen orientieren. Ziemlich zu Beginn der Heavy Metal-Rezensionen werde im Regelfall die stilistische Verortung diskutiert. Von Belang seien Fragen zum Mischverhältnis von (Sub-)Genrestilen, zum hörbaren Einfluss anderer Bands, zur Dominanz bestimmter Instrumente
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Ansätze zur Interpretation
oder ob das Album zu poppig oder kommerziell klingt. Danach erfolge die Thematisierung des Sounds, bei der die Verfasser die Aufnahmequalität einschätzen, Labels oder Produzenten zur Soundbestimmung anführen und Zuschreibungen wie ‚energisch‘, ‚Härte‘, ‚metallisch‘, ‚krachig‘, ‚klar‘ verwenden. Merkmale der Melodie werden anhand von Adjektiven wie ‚eingängig‘, ‚melodisch‘, ‚hymnenhaft‘, ‚melancholisch‘ beschrieben, in Bezug auf den Rhythmus spiele die Geschwindigkeit und der Groove eine Rolle. Komplexität, Ausgereiftheit, Originalität, Neuheit, Aktualität und die Qualität des Arrangements sind Kriterien, die Diaz-Bone der Komposition zuordnet, bei den Texten komme es auf niveauvolle, kritische und emotionale Inhalte an. Eher gegen Ende der Rezensionen richte sich das Augenmerk auf die einzelnen Instrumente und deren Klangsspezifika. Vor der abschließenden Bewertung kommen die Kritiker laut DiazBone auf das Erleben zu sprechen (Erlebensintensität, Assoziierung von Szenen, Situationen, Typen) und geben Anweisungen, wie die Musik gehört werden sollte (vgl. ebd.: 300). Auch in den Techno-Rezensionen werde die stilistische Verortung zumeist früh thematisiert und dabei verstärkt Fragen zum Label-, Stadt- und Regionsbezug des Sounds aufgegriffen. Nähere Ausführungen zum Sound finden sich gemäß Diaz-Bones Tabelle tendenziell erst nachdem die Schreiber die Remixleistung oder die Eignung des Materials für einen Remix beurteilt haben. Auffällig ist, dass er Melodie, Rhythmus und Sound als gemeinsame Dimension begreift. Die Beschreibung geschehe hier mittels Raummetaphern (Raum, Fläche, Linie) und Adjektiven wie ‚funkig‘, ‚groovig‘, ‚druckvoll‘, ‚schnell‘. Ebenso spiele die Dramatik des Arrangements eine Rolle. Unter ‚Elemente der Komposition‘ fasst er Schilderungen zusammen, die sich auf die Instrumente bzw. auf die Instrumental- und Gesangslinien beziehen. Zuletzt schätzen die Rezensenten noch ein, welche Stimmung die Musik vermittle (‚interessant‘, ‚cool‘, ‚entspannt‘, ‚angenehm‘), ob sie club-/partytauglich sei, wofür sie sich eigne und wie und wo das Hören stattzufinden habe (vgl. ebd.: 388). Diaz-Bone verortet in den Rezensionen darüber hinaus eine Reihe von Oppositionen für die Beurteilung der Musik. Im Heavy Metal werde der Sound bspw. als professionell/unprofessionell oder hörbar/nicht hörbar erachtet, Melodie und Rhythmus als eingängig/kompliziert, hart/soft oder schnell/ tanzbar. Melodie, Rhythmus und Sound im Techno können entspannend/nervend, unterhaltsam/langweilig oder tanzbar/nicht tanzbar sein. Leider belässt es Diaz-Bone größtenteils bei der deskriptiven Darstellung dieser Kriterien und Oppositionen. In Anbetracht der reichlichen Hintergrundinformationen, die in den Genre-Kapiteln zu finden sind, würden sich weiterführende Interpretationen anbieten. So könnte man etwa danach fragen, ob die als schön und richtig empfundenen Weisen der Gestaltung, Wahrnehmung und des Lebensstils Hinweise darauf geben, warum der Sound eines bestimmten Heavy Metal-Albums energisch und hart und der Bass wummernd sein sollte. Hieran anschließend wäre es natürlich interessant zu betrachten, wie sich dies im Klanggeschehen äußert.
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Ansätze zur Analyse
Ansätze zur Analyse
„Es ist auffällig, dass [...] unter Popmusikforschern eine gewisse Einigkeit darin besteht, wie Popanalyse nicht gemacht werden solle“ (Obert 2012: 10). „[...] yet the methods I was learning to describe, praise, discuss, and write about music gave me no vocabulary to describe the ‚interesting‘ qualities of popular music in the way that I could describe the counterpoint of J. S. Bach, the intricate harmonic plan and dramatic form of Beethoven, or the delicate orchestral nuances of Debussy, Mahler, and Stravinsky“ (Brackett 2000: ix).
Philip Tagg (1982) und Richard Middleton (1990) haben schon vor einiger Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass musikanalytische Verfahren, die ursprünglich für den Nachweis des künstlerischen Werts klassischer westeuropäischer Musik entwickelt wurden (siehe Kapitel 1), nur bedingt geeignet seien, um eventuell relevante Merkmale populärer Musik deskriptiv nachvollziehbar zu machen. Taggs Befund einer ‚notational centricity‘ ist auch heute kaum von der Hand zu weisen, was sich nicht zuletzt bei einschlägigen Fachkonferenzen, wie etwa Black Box Pop (Mannheim 2010), IASPM Benelux conference (Haarlem 2011) oder popMAC Conference (Liverpool 2013) bemerkbar macht. Ein Großteil der Vortragenden, die bestimmte Sachverhalte am Klingenden vermitteln wollen, tut dies anhand von etablierten Begriffen und Darstellungsformen aus der traditionellen Musikanalyse. Nach Simon Obert ist eine solche Vorgehensweise auch durchaus legitim, sofern etwas am Klanggeschehen gezeigt werden soll, das mit diesen Methoden gut fassbar ist (vgl. Obert 2012: 17). Es stellt sich jedoch die Frage, ob die zur Verfügung stehenden Analyseinstrumentarien nicht die Bandbreite an Erkenntnisabsichten einschränken. Oder anders formuliert: Werden hier bewusst oder unbewusst Fragestellungen gewählt, die einer Analyse mit Notenzeichen und Termini der schulisch/universitär erlernten Musiktheorie entgegenkommen? Sollten sich nicht zuerst die Fragestellungen aus bestimmten sozialen, psychischen, ästhetischen oder anderen Interessensgebieten ergeben und erst dann, aus einem umfangreichen Fundus, die passenden musikalischen Darstellungs- und Beschreibungsformen ausgewählt werden? Mein Bestreben ist es, die vorhandenen Analysemethoden zu systematisieren und zusätzlich alternative Möglichkeiten aufzuzeigen, wie dem Klingenden analytisch begegnet werden kann. Davor möchte ich kurz skizzieren, bei welchen Aspekten die traditionelle Musikanalyse womöglich an ihre Grenzen stößt.
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Ansätze zur Analyse
3.1 Traditionelle und messtechnische Analyse
Traditionelle und messtechnische Analyse Middleton macht in Studying Popular Music (1990) drei Problemfelder aus, die mit dem Verwenden von auf klassische westeuropäische Musik ausgerichtete Verfahren einhergehen: Terminologie, Notation und, wie schon erörtert, (autonomie-)ästhetische Zielsetzung (vgl. Middleton 1990: 104-107). In Bezug auf die Terminologie merkt er an, dass es ein reichhaltiges und gut ausgearbeitetes Vokabular gibt, um Merkmale der Harmonie (Akkordtypen, Akkordfunktionen, Akkordverhältnisse), der Tonalität und Stimmsetzung (Kontrapunkt, Homophonie etc.) sowie der musikalischen Form (Motiv, Entwicklung) zu beschreiben. Tonhöhennuancen, Abstufungen außerhalb des diatonischen/chromatischen Systems, Timbre und auch rhythmische Charakteristika lassen sich mit dem vorhandenen Wortschatz hingegen nur bedingt verbalisieren. Einige der etablierten Begriffe deuten zudem auf Konzeptionen hin, die festlegen, wie eine ansprechend gestaltete Musik auszusehen habe. Gemäß althergebrachter Vorstellungen erfordern ‚dissonante‘ Intervalle und Akkorde eine Auflösung durch Kadenzen, bedarf ein ‚Motiv‘ einer Entwicklung, gefährde eine ‚Synkope‘ die rhythmische Norm usf. Nun liegt die Vermutung nahe, dass viele der Aspekte, die beim Gestalten klassischer Musik wichtig sind, und an denen zumindest Musikwissenschaftler die Qualität der Stücke bemessen, bei anderen Musiken eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. In einem Rocksong kann ein dissonanter Akkord, der harmonisch unaufgelöst bleibt, Teil eines unverändert wiederholten Gitarrenriffs sein, das mit einem synkopierten Schlagzeugrhythmus interagiert. Ob der geneigte Rockmusikhörer diesen Song deswegen für misslungen hält, weil funktionsharmonische Regeln nicht eingehalten wurden und es an thematisch-motivischer Arbeit mangelt, sei dahingestellt. Die Skepsis gegenüber dem verwendeten Vokabular hängt unmittelbar damit zusammen, dass sich die musikanalytischen Erklärungen üblicherweise auf eine bestimmte Art der grafischen Darstellung von Musik beziehen, nämlich der klassischen Notenschrift. Mit der Partitur und ihrer massenhaften Vervielfältigung ergab sich laut Diederichsen (2001) erstmals die Möglichkeit, das Klingende als ‚Musikobjekt‘ zu verdinglichen und es somit archivierbar und reproduzierbar zu machen. Die Musik nahm zum einen eine Form an, die sich als Handelsware auf dem Markt eignete, zum anderen konnte sie ihre kulturelle Funktion und Bedeutung etablieren und ausweiten (vgl. ebd.: 235): „Dieser vergegenständlichte, abstrakte, ‚wissenschaftliche‘ Modus rückte in den Mittelpunkt bürgerlichen Musiklebens und revolutionierte die Musik in Form und Inhalt, gerade weil sich sein inneres evolutionäres Potential so perfekt mit der Ideologie und den Bedürfnissen der revolutionär aufstrebenden Klasse der Bourgeoisie liierte. [...] Seine organisierenden und hierarchischen Qualitäten führten zur Expansion und Zuordnung von ‚Instrumentenfamilien‘ und zur rationalen und effizienten, fabrikmäßigen Produktion des modernen Orchesters“ (Cutler 1995: 35).
Traditionelle und messtechnische Analyse
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Durch den systematischen Einsatz von Notationsverfahren in der Produktion war Musik nun nicht mehr ausschließlich das Ergebnis eines organischen, in einer Gemeinschaft gewachsenen Prozesses. Es entstand mit dem Speichermedium des Notenblattes eine schematisierte Gedächtnisform, die dem biologischen Gedächtnis entgegenstand und eine funktionale Trennung von Komponist und Ausführenden nach sich zog. Erst die Tonaufzeichnung und die darauf folgende Verbreitung der Schallplatte sorgte für die Wiederannäherung dieser beiden Rollen (vgl. ebd.: 34). Im Gegensatz zur Partitur referierte die Schallplatte auf die Aufführung selbst, anstatt auf eine „im Prinzip immer anders wiederholbare Aufführungsanweisung, abhängig von Interpretation und Inszenierung wie ein Theaterstück“ (Diederichsen 2001: 236). Auf diese Weise wurde das Klingende wieder zum primären Gegenstand der Musikproduktion (vgl. Cutler 1995: 39): „Der Sound, mit dem deutschen Wort Klang nur unzureichend übersetzt, beginnt ein mediales Eigenleben zu führen. Er wird, als reintegrierte Einheit der vormals durch die Notenschrift getrennten und normierten musikalischen Parameter, zum Leitbegriff populärer Musikkultur des 20. Jahrhunderts“ (Großmann 2008: 124).
Dieser historische Abriss soll verdeutlichen, wie maßgeblich die Notenschrift den (industriellen) Umgang mit Musik beeinflusste. Es erscheint mir hier aber wenig zielführend, eine Diskussion darüber zu beginnen, welchen Stellenwert sie heute bei der Entstehung bestimmter Musik hat. Ob eine Songidee zunächst notiert und so an Mitmusiker kommuniziert wird oder das Resultat komplett ohne verschriftlichte Spielanleitungen zustande kommt, ist für mich von geringerem Belang als die Frage, welche Aspekte des auf Tonträger materialisierten Klanggeschehens sich mit dem etablierten Zeichenrepertoire gut repräsentieren lassen und welche nicht. Die Notenschrift weist Stärken bei der grafischen Abbildung von diskreten klanglichen Einheiten und deren relationalen Verhältnissen auf (vgl. Wicke 2003: 14). Sie veranschaulicht somit das Zuordnen bestimmter Klangdimensionen zu konzeptuellen Kategorien der westlichen Musikkultur (siehe Kapitel 2.5). Notiert werden Tonhöhen innerhalb des diatonischen/chromatischen Systems, organisierte Kombinationen dieser Tonhöhen oder einfache proportionale Beziehungen im zeitlichen Verlauf. Auf Grundlage dieses ‚stufig aufgebauten Rasters‘ (vgl. ebd.: 5) lässt sich etwa mit Hilfe der Formenlehre untersuchen, wie musikalische Gestalten zu größeren Sinneinheiten verarbeitet wurden, lassen sich Syntaxmodelle bestimmen, Stimmführungsmerkmale benennen usw. Jene Aspekte des Klanggeschehens, für die es keine diskreten Bezugssysteme gibt, sind mit der klassischen Notenschrift hingegen nur schwer visualisierbar. Hierzu zählen unstandardisierte Tonhöhen, die außerhalb der üblichen Tonleitern-/skalen liegen, kontinuierliche Bewegungen der Tonhöhe, wie sie etwa bei ‚slides‘, ‚slurs‘ oder ‚microtones‘ zu finden sind, Nuancen bei der Betonung und Artikulation oder auch rhythmische Nuancen (vgl. Middleton 1990: 105). Des Weiteren stehen kaum grafische Zeichen zur Verfügung, um Merkmale abzubilden, die aus tontechnischen Verfahren resultieren und das Klangbild entscheidend beeinflussen können (Hall, Delay, Kompression, Verzer-
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Ansätze zur Analyse
rung, Frequenzfilterung usw.). Eine Möglichkeit zur Darstellung solcher Klangdimensionen, die bei musikanalytischen Forschungen bislang eher selten genutzt wurde (z.B. Brackett 2000, Schneider 2002, Pfleiderer 2006), bietet sich durch messtechnische Methoden. Dem Analysierenden steht mittlerweile eine Vielzahl von Programmen zur Verfügung, mit denen sich physikalische Eigenheiten des akustischen Signals grafisch abbilden lassen (Audacity, Praat, Audition, Sonic Visualizer etc.). Dies wirft die Frage auf, welche Informationen an solchen Visualisierungen abgelesen werden können und inwieweit es bei deren Deutung Unterschiede und Schnittstellen zu notationsbezogenen Herangehensweisen gibt. Will man Melodien, harmonische Zusammenhänge oder Rhythmen zeigen, so orientiert man sich in der Regel am Fünfliniensystem der Notation. Der geübte Hörer kann bestimmte Klangereignisse kategorisieren und bildet sie als Tonsymbole auf dieser grafischen Vorlage ab. Er reduziert dabei das Gehörte auf ein bestimmtes Merkmal, zumeist die vermutete Grundfrequenz, damit der Leser weiß, welche der zwölf Stufen des westlichen Tonsystems mit diesem Symbol gemeint ist. Durch die horizontale Lage und die äußere Gestalt der Note lässt sich außerdem erschließen, in welcher Reihenfolge die Töne einsetzen und wie lange der Ton im Vergleich zu anderen Tönen dauert. Auf Grundlage dieser Darstellung können Beziehungen zwischen Einzeltönen und Tongruppen benannt und interpretiert werden. Hat der Analysierende Schwierigkeiten beim ‚Heraushören‘ der Tonhöhen, so bieten messtechnische Abbildungen des Frequenzspektrums eines akustischen Signals eine Hilfestellung. In vielen Fällen wird danach gefragt, ob die am deutlichsten hervortretenden Frequenzen ganzzahlige Vielfache der Grundfrequenz sind und somit dem Modell von Grundton und ‚harmonischen‘ Obertönen entsprechen. Diese proportionale Unterteilung gibt ein Ordnungssystem vor, das festgelegt, inwieweit ein akustisches Signal als ‚harmonisch‘, ‚inharmonisch‘ oder ‚unharmonisch‘ klassifiziert wird. Überspitzt ausgedrückt besteht der Zweck der Obertonanalyse also darin, Abweichungen von der idealisierten Obertonreihe zu erkennen. Man orientiert sich am gleichen Bezugssystem wie beim Untersuchen von Melodie und Harmonie, nämlich am 12-stufigen Tonsystem, und ergänzt das Beschreibungsvokabular durch zwei physikalische Größen (Hertz und Dezibel): „Der über die gespielten Töne (u.a. leere tiefe E-Saite) eindeutig als E-Dur zu erkennende erste Akkord hat als tiefsten erklingenden Ton ein Des bzw. Cis (vgl. Abb. 1). In dem zunächst grundtönigen Akkord wird [...] die spektrale Energieverteilung so verändert, daß die Grundfrequenz Des ~72 Hz fast völlig verschwindet (vgl. Abb. 2), der zweite Teilton des/cis ~141.2 Hz (musikalisch als e zu lesen, s.o.) nun zur Basis der ‚Teilton-Pyramide‘ wird und die Amplituden der Teiltöne oberhalb von etwa 300 Hz deutlich zunehmen“ (Schneider 2002: 117).
Sonagramme ermöglichen es, die Frequenzanteile eines akustischen Signals im zeitlichen Verlauf zu sehen. Hiermit kann verdeutlicht werden, ähnlich wie es Albrecht Schneider bei seiner Analyse eines Gitarrenakkordes von Jimi Hendrix macht, wie sich die Höhe und Intensität eines Klanges verändert. Für die Klangcharakteristik ist es mitunter nicht
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unerheblich, ob konstant dieselben Frequenzen signifikant hervortreten oder es partiell zu Intensitätsverstärkungen/-abschwächungen kommt und ob die Teiltöne (Grundton und Obertöne) regelmäßig oder unregelmäßig, kontinuierlich oder plötzlich von ihrer ursprünglichen Frequenzlage abweichen. Derlei Vorgänge können gar zu Verschiebungen in der Teiltonhierarchie führen und somit das eigentliche tonale Zentrum, sofern eines vorhanden ist, in Frage stellen. Um zu beschreiben, wie Töne oder Klänge hervorgebracht werden und aufeinanderfolgen, wird für gewöhnlich auf den Begriff ‚Artikulation‘ zurückgegriffen (vgl. Pfleiderer 2003: 22). Da Notensymbole nur den Einsatz- und ungefähren Endpunkt eines Klangereignisses abzubilden vermögen, bleiben die Geschehnisse dazwischen außen vor. Zusätzlich zu Teiltonfortschreitungen im Sonagramm lassen sich zum Visualisieren Wellenformdarstellungen heranziehen. Diese zeigen, wann ein Klang seinen höchsten physikalischen Schalldruck erreicht und wie die Lautstärkenzunahme/-abnahme vonstatten geht. Für das Unterscheiden und Benennen der verschiedenen Zustände eignet sich das ADSR-Modell, bei dem es sich ursprünglich um ein Verfahren handelt, das zur synthetischen Modellierung von Klängen entwickelt wurde und vor allem bei Synthesizern Verwendung findet. Grundlage ist die Annahme einer hypothetischen Hüllkurve, in der eine Amplitude in die Phasen ‚Attack‘ (Anstieg), ‚Decay‘ (Abfall auf den Dauerpegelwert), ‚Sustain‘ (Dauerpegelwert) und ‚Release‘ (Nachklang) unterteilt wird. Im Gegensatz zu spektralen Vorgängen, die durch Hertz, Dezibel, Zeit und Übereinstimmungen/Abweichungen zu diskreten Tonstufen charakterisiert werden können, sind Hüllkurvenmerkmale rein über physikalische Messgrößen (Dezibel, Zeit) beschreibbar, also ohne die Möglichkeit, auf eine konzeptuelle (Artikulations-)Kategorie Bezug zu nehmen. Ein idealisierter Hüllkurvenverlauf, der einen abweichenden Klang bspw. als ‚unartikulativ‘ ausweisen würde, existiert meines Wissens nach nicht. Soll im Notenblatt ersichtlich sein, wie der Übergang zwischen zwei nacheinander erklingenden Tönen gestaltet ist, kann man Pausen einfügen oder die notierten Töne mit Begriffen (‚legato‘, ‚staccato‘) und zusätzlichen Symbolen (Bogen, Punkt) ergänzen. Wann ein Klang tatsächlich endet und welche Intensität er hat, wenn er in den nächsten übergeht, bleibt jedoch vage. So vermittelt etwa der Übergang von langer Releasephase (Klang 1) zu langer Attackphase (Klang 2) einen anderen Höreindruck, als wenn die jeweils höchsten Amplitudenwerte direkt aufeinanderfolgen. Ebenso macht es einen Unterschied, ob der Frequenzgang der beiden Klänge jeweils linear verläuft oder sie zum Zeitpunkt ihres Zusammentreffens von ihrer eigentlichen Tonhöhe graduell abweichen, genauso wie einzelne Obertöne nachklingen und sich mit dem Spektrum des neuen Klanges vermischen können. Noch ein Aspekt, der sich mit physikalischen Messgrößen zum Teil besser als mit traditionellen Vortragsanweisungen vermitteln lässt, ist die Dynamik. Im Notenblatt kann man die relativen Lautstärkeverhältnisse zwischen oder innerhalb von Klangfolgen (Motive, Phrasen, Sektionen) kennzeichnen und einheitliche Tonstärken (‚forte‘, ‚piano‘), gleitende Veränderungen (‚crescendo‘, ‚diminuendo‘) und Betonungen (‚forzando‘, ‚sforzando‘) sprachlich und grafisch (‚Gabeln‘) kommunizieren. Diese Angaben sind
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sehr frei interpretierbar, da ein Referenzmaß, das die Grundlautstärke in ähnlicher Form festlegt wie z.B. die Metrums-/BPM-Angabe das Tempo, fehlt. Konkreter sind Beschreibungen, in denen die Lautstärkeverhältnisse physikalisch, anhand von Angaben zum Schalldruck, charakterisiert werden. Mit Wellenformdarstellungen und automatisierten Berechnungen lässt sich nachvollziehen, wie groß der Dynamikumfang eines ausgewählten Bereichs ist und ob bestimmte Klänge besonders hervorstechen (‚Peaks‘). Einen Hinweis auf die durchschnittliche Lautstärke geben Messungen des Spannungsmittelwerts (‚RMS-Pegel‘). Weitere Merkmale, die durch messtechnische Methoden veranschaulicht und verbalisiert werden können, sind z.B. die Klangdichte, der Klangumfang, Temposchwankungen oder die Verteilung des Signals im Stereopanorama. Anders als es meine Ausführungen vielleicht suggerieren, ist es in der Praxis nicht immer einfach, die genannten Verfahren zielführend einzusetzen und an die gewünschten Informationen zu kommen. Sollen bei einer empirischen Studie zur Wirkung von mikrorhythmischen Verschiebungen im House die dafür via Drumcomputer generierten Patterns mittels Amplitudenhüllkurven veranschaulicht werden, so ist das ohne Probleme möglich (vgl. Thallinger 2008). Was wir auf Tonträgern aber normalerweise hören, ist das Summensignal, d.h. der Mix aller beteiligten Audiospuren. Aufwändig produzierte Songs bestehen bisweilen aus über 50 verschiedenen Spuren, haben eine hohe Ereignisdichte und sind zusätzlich in ihrem Dynamikumfang stark komprimiert. Klangliche Feinheiten im Frequenzgang oder in der Artikulation einzelner Stimmen sind hier nur schwer herauszufinden. Wie eine messtechnisch unterstützte Analyse eines auf Tonträger vorliegenden Songs aussehen kann, werde ich in Kapitel 5 am konkreten Beispiel zeigen. Davor gilt es allerdings zu überlegen, welche Erkenntnisse sich aus solchen Details ziehen lassen und inwiefern sie eine Rolle spielen, wenn es um Fragen der musikalischen Wertschätzung geht: „Die Interpretation der vom Sonagraphen aufgezeichneten Schallereignisse ist nur sinnvoll, wenn man sie unter Berücksichtigung der Informationskapazität des Gehörs, also der physiologischen und psychologischen Gegebenheiten unseres Gehörgangs vornimmt“ (Wiora 1938: 66 in Rösing 1972: 7).
Nach Ansätzen der experimentellen Ästhetik sind Urteile, die im Hörprozess gebildet werden, von der Neuheit oder Komplexität des musikalischen Reizes beeinflusst (vgl. Engh 2006: 132 sowie Meyer 1956, Berlyne 1971, Niketta 1982, Sloboda/Juslin 2005): „Es wird vermutet, dass zwischen der strukturellen Komplexität und der evaluativen Komponente emotionalen Empfindens eine invers U-förmige Beziehung besteht, d.h. physiologische Erregung und Erlebnisintensität sind umso stärker, je größer Komplexität und Überraschungsgehalt des Musikgegenstands ausfallen. Ab einem bestimmten Komplexitäts- und Erregungsniveau nimmt jedoch das Gefallen ab; man spricht bei diesem Scheitelpunkt auch von einem optimalen Komplexitätsniveau des Stimulus, das mit einem optimalen Erregungsniveau einhergeht. Das Erreichen die-
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ses optimalen, mittleren Aktivierungsniveaus wird als angenehm und die damit verbundene Reizkonstellation als wohlfällig erlebt“ (Engh 2006: 132).
Diese Theorie ermöglicht Anknüpfungspunkte zur kognitionspsychologischen Annahme, dass die Aufmerksamkeit für eine Musik von vorhandenen Wissensstrukturen im Gedächtnis abhängt. Bietet der Reiz keinerlei neue Informationen und bedarf es, aufgrund anhaltender Stabilität und Konstanz, keiner aktiven Verarbeitung, so tritt das Phänomen der Habituation auf. Ein derartiger Gewöhnungseffekt, bei dem das Gehörte zunehmend in den Hintergrund rückt, kann nicht nur bei Umweltgeräuschen entstehen, wie etwa beim Brummen einer Klimaanlage, sondern z.B. auch bei repetitiven Begleitpatterns eines Musikstücks. Fokussiert werde meistens auf das Unstabile, Unkonstante und Unvorhersehbare (vgl. Snyder 2000: 23-24). Die Schwelle, bis zu der man an Neuem oder Komplexem Gefallen findet, ist natürlich von Hörer zu Hörer unterschiedlich. Denn „intentionales Abweichen von etablierten Kompositionsprinzipien, Verletzung musikalischer Regeln oder gar Verwendung hörend nicht repräsentierbarer Strukturen“ (Stoffer 2005: 28) muss nicht für jeden in gleichem Maße reizvoll sein, wie das weiter oben angeführte Beispiel Rudebox zeigt. Der Hinweis auf ‚hörend nicht repräsentierbare Strukturen‘ bringt mich zum Konzept der musikalischen ‚Nuancen‘. Nach Bob Snyder sind Nuancen feine Veränderungen innerhalb einer kognitiven Kategorie, die aufgrund ihrer geringen zeitlichen Ausprägung zwar direkt wahrgenommen werden, eine Speicherung allerdings nicht bzw. nur nach sehr häufigem Hören möglich ist. Hierzu zählen geringe Abweichungen von diskreten Tonstufen- und Intervallkategorien genauso wie kontinuierliche Variationen diskreter Beat- oder Metrumskategorien, die einen subtilen Einfluss auf die Wahrnehmung von Tonhöhe und Rhythmus haben können, aber auch Spezifika der Klangfarbe oder Lautstärke, deren kategoriale Zuordnung prinzipiell schwierig ist (vgl. Snyder 2000: 86, 143, 183 sowie Clarke 1987). Als wichtige Merkmale der Interpretation, für die Snyder den Begriff ‚Nuancenmanagement‘ verwendet, seien solche Phänomene nicht nur bei Live-Darbietungen wichtig, sondern vermutlich insgesamt von zentraler Bedeutung für die Charakterisierung und Bewertung von musiker-/bandspezifischen Spiel- und Ausdrucksweisen (vgl. Snyder 2000: 89): „Although not remembered, nuances contribute to the subtle ongoing ‚feel‘ of the music, and often carry important emotional information. Nuances in this sense are like colorations or shades within a basic category, and have been referred to as the ‚expressive aspects‘ of music“ (Synder 2000: 87).
Aufgrund ihrer schweren Erinnerbarkeit bieten Nuancen des Weiteren den Anreiz, dass sie sich auch nach mehrmaligem Hören ‚neu entdecken‘ lassen und die Musik somit längerfristig interessant bleibt. Was hier deutlich wird ist, dass eine als komplex, abwechslungsreich oder neuartig empfundene Musik nicht unbedingt Polyrhythmen, Tonartwechsel o.Ä. beinhalten muss. Beim Hören eines Musikstücks spielt es zudem nicht immer eine Rolle, welchen
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Bezug das gerade Gehörte zu Klangereignissen hat, die einige Sekunden oder Minuten davor oder danach stattgefunden haben oder stattfinden werden. Wir interessieren uns auch für das, was im Moment passiert, und machen ein gelungenes Hörerlebnis davon abhängig, ob uns die Musik im passenden Moment als spannungsgeladen, energisch oder überraschend erscheint, ob sie uns zum Kopfnicken bewegt usw. Musikwissenschaftliche Ansätze, die solche Wahrnehmungsaspekte berücksichtigen und „die Rezeptionsdimension des Hörens, sinnlichen Erlebens, Sich-Hinein-Begebens in die Musik“ (Redmann 2002: 80) ins Zentrum stellen, finden sich im Bereich der ‚prozessorientierten Analyse‘.
3.2 Prozessorientierte Analyse Prozessorientierte Analyse
„Strukturanalytische Verfahrensweisen setzen die synchrone Existenz oder Vorstellbarkeit musikalischer Werke voraus. Sie zielen auf das Fixierte, im Zeitablauf Konstante, Dauernde: Material, Struktur, architektonischer oder numerischer Aufbau. Prozessual orientierte Werkanalyse sucht hingegen den Sinn der Musik in einem anderen, flexibleren Prinzip, das das fluktuale Moment einschließt: die sich in der Zeit entwickelnde Form, das Sich-Entfalten, Ausladen, Steigern und Verlaufen“ (Fuß 2005: 21).
Prozessorientierte Herangehensweisen zeichnet grundsätzlich aus, dass sie beim Analysieren die Perspektive der Hörrezeption stärker miteinbeziehen als Verfahren, die auf der Formenlehre des 19. Jahrhunderts basieren (vgl. Redmann 2002: 31). Musikstücke werden hier weniger unter dem Prinzip der Ganzheitlichkeit und zeitablaufsabstrakten, inneren Logizität untersucht, sondern das Interesse gilt dynamisch-prozessualen Merkmalen des zeitlichen Verlaufs (vgl. Fuß 2005: 22). Aus theoriegeschichtlicher Sicht ist es vor allem die US-amerikanische Musikwissenschaft, die seit den 1950er Jahren prozessuale Verstehensansätze vorantreibt.
Wichtige Vertreter Leonard Meyer Einen wesentlichen Anteil daran hat der Musiktheoretiker Leonard Meyer, der in seinen einflussreichen Arbeiten Emotion and Meaning in Music (1956) und Explaining Music (1973) zwar weitgehend der Schenkerschen Schichtenlehre verpflichtet bleibt, als einer der ersten aber auch kognitionspsychologische Überlegungen in seine Theorien einfließen lässt (vgl. Huron 2006). Ein Schwerpunkt seiner Untersuchungen liegt auf dem Aspekt der musikalischen ‚Erwartung‘, die seiner Ansicht nach maßgeblich für emotionsbasierte Bedeutungszuschreibungen, dem ‚embodied meaning‘, ist (vgl. Meyer 1956: 35).1 1
Im Gegensatz dazu sieht Meyer das ‚designative meaning‘, das mit einer rational-beschreibenden Bedeutungszuordnung umschrieben werden kann.
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„Embodied musical meaning is, in short, a product of expectation. If, on the basis of past experience, a present stimulus leads us to expect a more or less definite consequent musical event, then that stimulus has meaning“ (ebd.).
Der Grad an emotionaler Wirkung definiert sich für Meyer durch die Verbindung von strukturellen Eigenschaften des Musikstücks und den beim Hörer vorhandenen Regeln und Normen, aufgrund derer eine Erwartungshaltung aufgebaut und das Gehörte interpretiert wird (vgl. Fuß 1995: 33). Es sei angemerkt, dass er sein Augenmerk in erster Linie auf musikimmanente Vorgänge richtet und er sich selbst als musikanalytischen Absolutisten einschätzt. Allerdings weist er nachdrücklich auf die Wichtigkeit von außermusikalischen und referentiellen Faktoren bei der Bedeutungszuschreibung hin (vgl. Meyer 1956: 1-2), was Mitte der 1950er Jahre eine eher ungewöhnliche Sichtweise war. In Explaining Music (1973) wendet Meyer sein Analysemodell konkret an und zeigt, wie verschiedene Formen der tonalen Melodiebildung und rhythmischen Gestaltung unter dem Blickwinkel musikalischer Implikationen betrachtet werden können. Auf Grundlage gestaltpsychologischer Theorien untersucht er die Beziehung eines musikalischen ‚events‘ zu vorangegangenen und folgenden Ereignissen, mit dem Ziel, Parameter offenzulegen, die im jeweiligen musikalischen Kontext einen spezifischen Fortgang implizieren (vgl. Meyer 1973: 10). Von Interesse ist für ihn die Frage, inwieweit gewisse Implikationsmuster, wie etwa auf- und abwärtsstrebende Melodielinien, melodische Sprünge, Symmetriebildungen oder auch rhythmische Akzentuierungen, zur Erwartung von Abschluss oder Fortsetzung beitragen (vgl. Fuß 1995: 36-37). Seiner Ansicht nach müssen die implizierten Ereignisse nicht immer eindeutig sein. Die Realisierung könne oft verschiedenartig ablaufen und auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Unter dem Begriff ‚contextual discrepancy‘ beschreibt Meyer Situationen, in denen „musikalische Ereignisse durch bestimmte Merkmale wie isolierte Lage, dynamische Betonung etc. hervorstechen, ohne daß der unmittelbare Kontext darauf reagiert“ (Fuß 1995: 38). Durch das Hervorheben solcher mehrdeutigen Phänomene bereitet er nicht nur den analytischen Boden für Untersuchungen zur musikalischen Ambiguität, wie sie bspw. in Thomson (1983), Levy (1995) und Butler (2006) zu finden sind, er sorgt darüber hinaus für ein Umdenken im ästhetischen Zugang. Diskontinuierliche und unerwartete Passagen offenen Ausgangs werden zunehmend als elementare Komponenten eines reizvollen Hörerlebnisses verstanden, bei dem nicht „die am Ende des Hörvorgangs virtuell gegebene Ganzheit“ (Fuß 1995: 39) entscheidend ist, sondern „das Geschehen, als dessen Resultat sie erscheint“ (ebd.: 40). Des Weiteren werden in seiner Theorie auch gänzlich nicht-implikative Muster behandelt (‚non-implicative patterns‘). Am Beispiel von Axialmelodien, also melodischen Bewegungen rund um einen zentralen Ton, zeigt er musikalische Vorgänge auf, die schwache oder gar keine Implikationen generieren und dennoch strukturwichtig sind, etwa in Form von repetitiven, ostinatoartigen Hintergrundmustern (vgl. ebd.: 39). Obgleich er derartige Situationen als bedeutungslos für die emotionale Wirkung ansieht – „a stimulus or gesture which does not point to or arouse
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Ansätze zur Analyse
expectations of a subsequent musical event or consequent is meaningless“ (Meyer 1956: 35) – und er dabei laut David Huron die konnotativen und denotativen Aspekte von ‚Sound‘ unterschätzt (vgl. Huron 2006), so bricht Meyer hier dennoch mit dem Dogma hierarchisch-zielbehafteter Stimmführung in der Schichtenlehre. Die bei ihm angedeutete Auseinandersetzung mit dem musikalischen Oberflächengeschehen wird von nachfolgenden Autoren wie Narmour (1977, 1990, 1992), Thomson (1983), Berry (1987), Kramer (1988), Hasty (1997) oder Butler (2006) in unterschiedlicher Ausprägung und Bezugnahme weitergeführt. Eine Gemeinsamkeit dieser Ansätze ist die verstärkte Fokussierung auf kleine Gruppierungs- und Sinneinheiten und die damit einhergehende Einsicht, dass deren Analyse auch unabhängig vom musikalisch-thematischen Kontext ertragreich sein kann: „Descriptions of the musical phrase, for instance, note its initiation and cadential termination without concern for the varieties of beguiling charms that may lie within its boundaries“ (Thomson 1983: 15). „Noch vor allen Tonsatzregeln, die – erlernt – als erwartungsleitende Hypothesen in die Anschauungen eingreifen, sind kategorial formende, elementare Prozesse beschreibbar, die es überhaupt erst ermöglichen, daß musikalische Bedeutungen verstehbar sind“ (de la Motte-Haber 1996: 98).
Patterns, Phrasen und Sektionen werden nicht länger nur ‚top-down‘, vor dem Hintergrund formbestimmter Weg-Ziel-Korrelationen zu übergeordneten Strukturebenen betrachtet, sondern der Blickwinkel um elementare Vorgänge der Perzeption erweitert. Einen maßgeblichen Beitrag liefert in diesem Zusammenhang Eugene Narmour mit der Entwicklung seines ‚Implication-Realization‘-Modells (Narmour 1990 u. 1992).
Eugene Narmour Das Ziel seines Modells besteht darin, die aus der Beziehung aufeinanderfolgender Einzeltöne implizierte Fortschreitung zu erklären, um auf diese Weise die Charakteristika melodischer Syntax auf niedrigster Wahrnehmungsebene fassbar zu machen (vgl. Narmour 1990: ix). Die Gestaltgesetze der Ähnlichkeit, Nähe und des gleichen Schicksals dienen ihm als theoretisches Fundament, aus denen er die grundlegenden Strukturprinzipien ‚Process‘ und ‚Reversal‘ ableitet. Diese Prinzipien können in jeweils unterschiedlichen Graden – er identifiziert in weiterer Folge acht Melodiearchetypen – weiterführende oder abschließende Wirkungen generieren. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die Universalhypothesen A + A → A und A + B → C, die ganz allgemein besagen, dass die Folge zweier oder mehrerer Töne, in der Narmourschen Terminologie als ‚Dyad‘ bezeichnet (im Gegensatz zum nicht-implikativen Einzelton ‚Monad‘), einen gewissen Fortgang impliziert. Am nachfolgenden Ton lasse sich überprüfen, ob die Implikation realisiert wurde. Legt die Tonfolge einen vergleichbaren oder identischen Fortgang nahe, der entsprechend realisiert wird, so spricht Narmour vom melodischen Archetypus ‚Process‘ [P], zu dem er auch ‚Duplication‘ [D] zählt. Eine Veränderung implizierende Dyade werde im Archetypus ‚Reversal‘ [R] realisiert. Welche Konstellation was impli-
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ziert und wann diese Implikation als realisiert gilt, macht Narmour vor allem von den Parametern ‚Registral Direction‘ [V] und ‚Interval‘ [I], die in der folgenden Abbildung ganz oben zu finden sind, abhängig:
Abb. 4: Beispiele für melodische Archetypen – links Process und Duplication, rechts Reversal (Narmour 1992: 3, 4, 6).
Ein gleichartiges Geschehen P werde dann impliziert, wenn das erste Intervall nicht größer als eine reine Quarte ist. Realisiert werde P den Intervallsmerkmalen [I] zufolge, wenn sich das zweite Intervall um höchstens eine kleine Terz vom ersten unterscheidet. Ab einer reinen Quinte im ersten Intervall entstehe die Erwartung einer veränderten Realisation R, die sich bei einer über die kleine Terz hinausreichende Abweichung erfülle, wie im Vergleich der Beispiele zwischen linker und rechter Spalte ersichtlich ist. Hier werden darüber hinaus die Mechanismen aufsteigender, absteigender und waagerechter Melodielinien verdeutlicht, auf die sich die Bewegungsrichtung [V] bezieht. Unterhalb der Quartengrenze impliziere eine angedeutete Richtung eine ebensolche Fortsetzung, ein größeres Intervall impliziere einen Richtungswechsel. Die den verschiedenen Intervallen jeweils innewohnende Implikationstendenz bildet Narmour anhand eines Graphen auf einer parametrischen Intervallskala ab (vgl. ebd.: 15). Ausgehend vom Tritonus, als Grenzbereich und Symmetrieachse gleichermaßen, erhöhe sich die Erwartung an einen kontinuierlichen Prozess mit sinkender Intervallgröße, während bei steigender Intervallgröße vermehrt mit einer Veränderung gerechnet werde. Diese Skala legt außerdem nahe, dass die Stärke der melodischen Implikationen proportional mit der Intervallgröße, beginnend bei der kleinen Sekunde, zunimmt.2 Dies sei mitunter für die von mindestens zwei aufeinanderfolgenden Intervallen vermittelte Schlusskraft relevant, die sich durch eine skalenbezogen nach rechts orientierte Bewegung in Richtung größerer Intervalle, z.B. große Sekunde zu großer Terz, verringere. Werden die Intervalle kleiner, so sei der entgegengesetzte Effekt zu beobachten, bleiben sie gleich groß, haben sie einen öffnenden Charakter (vgl. ebd.: 19). 2
Dem Unisono falle hierbei eine Sonderstellung zu – sie verfüge über eine höhere implikative Wirkung (vgl. ebd.: 16-17).
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In Bezug auf die Richtung erhöhe sich die Schlusskraft durch einen Wechsel, bleibt die Richtung gleich, werde mit einer Fortsetzung gerechnet (vgl. ebd.: 21). Nach Narmour zeichnen sich die ‚Standardvorgänge‘ P, D und R durch einen hohen Grad an Erwartungskonformität aus, da sie intervall- und richtungsbezogen stets die Erfordernis zur entsprechenden Übereinstimmung haben. Abweichungen und Teilrealisierungen, die Narmour anhand fünf zusätzlicher Szenarien klassifiziert (vgl. ebd.: 25-32), beinhalten demgemäß einen gewissen Gehalt an Überraschung und Spannung. Derlei Prozessderivate seien zum einen der bezüglich seiner Schlusskraft eher neutrale ‚Intervallic Process‘ [IP], d.h. zwei in unterschiedliche Richtungen strebende Intervalle ähnlich kleiner Größe, zum anderen der stark schließende ‚Registral Process‘ [VP], also ein kleines Intervall gefolgt von einem gleich ausgerichteten großen Intervall. Von den üblichen Formen der Veränderung abweichend ordnet Narmour den teilweise schließenden ‚Intervallic Reversal‘ [IR], bei dem ein großes Intervall in gleicher Richtung in ein kleines Intervall übergeht, sowie den ‚Registral Return‘ [VR] ein, bei dem, ebenfalls in gleicher Richtung, ein großes zu einem noch größeren Intervall wandert. Zusätzlich nennt er die neutrale ‚Intervallic Duplication‘ [ID], bei der ein Intervall wiederholt wird, sich die Richtung allerdings ändert. Kehrt ein Ton nach einem Sprung exakt oder im Abstand höchstens einer großen Sekunde zum Ausgangspunkt zurück, so führe das zu einer erhöhten Schlusskraft in den Realisationen IP und ID, was er durch die Beifügung ‚registral return‘ [aba] oder ‚near registral return‘ [aba'] kenntlich macht. Alle beschriebenen Vorgänge haben gemeinsam, dass sie entweder vollständig oder teilweise realisiert werden. Erweist sich ein erwarteter Fortgang im Nachhinein als komplett falsch, so spricht Narmour von einer ‚Retrospective Realization‘, die er durch eine Klammer kennzeichnet (vgl. ebd.: 32-35). Eine derartige Nicht-Realisation passiere dann, wenn das erste Intervall aufgrund seiner Größe, also höchstens eine Quarte, auf einen ‚Process‘ hinweist, es aber als ‚Reversal‘ verändert fortgeführt wird, und auch umgekehrt. Narmour bezieht des Weiteren die Faktoren ‚Duration‘ [(d)], ‚Meter‘ [(b)] und ‚Harmony‘ [(h)], die er unter dem Begriff ‚Other-Parametric-Interferences‘ zusammenfasst (vgl. ebd.: 36), in seine Überlegungen ein. Die Tondauer bewirke dann eine Unterbrechung des durch Prozesse oder Duplikationen vorangetriebenen melodischen Flusses, wenn ein Ton von einem zumindest doppelt so langen Ton gefolgt wird. Derartige Kumulationen würden demnach die intervall- und richtungsbezogenen Melodiegruppierungen aufheben. In ähnlicher Weise können harmonische Charakteristika, etwa wenn ein stark dissonanter Akkord Auflösung impliziert, oder auch metrische Akzentuierungen Einfluss nehmen und zur Entstehung von Kombinationsstrukturen und Melodieverkettungen beitragen (vgl. ebd.: 45f.). Im Gegensatz zu Meyers Untersuchungen, die ja ebenso auf musikalische Erwartungen fokussieren, unterliegen Narmours Fortschreitungswahrscheinlichkeiten zunächst keinerlei stilistischer oder tonaler Abhängigkeiten. Der Verzicht auf die Gestaltgesetze der guten Fortsetzung und guten Gestalt, die seiner Ansicht nach eine erlernte Wertigkeit beinhalten und eine Reihe von epistemologischen und methodologischen
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Problemen evozieren (vgl. Narmour 1992: 6), ermöglicht ihm eine explizite Konzentration auf ‚bottom-up‘-Prozesse in der Informationsverarbeitung, getragen von der Überzeugung ihrer ästhetischen Relevanz: „Despite thousands of analyses to the contrary, listeners do not attend to music just in order to assimilate the bottom-up foreground to higher-level, top-down relations of voice-leading structure and key. Indeed, it is the dynamic, nonreductive, individuated melodic motion at the note-to-note level that captivates music lovers“ (Narmour 1992: 330).3
Erst auf Grundlage dieser ‚low-level‘-Implikationen, deren Validität in Studien von Cuddy/Lunney (1995) oder v. Hippel (2002) größtenteils, mit dem Hinweis auf das Potential zu Prinzipienvereinfachung (siehe hierzu auch Schellenberg 1997, Huron 2006), bestätigt wurde, zieht Narmour Rückschlüsse auf strukturelle Fragestellungen. Nicht nur die methodische Vorgehensweise unterscheidet ihn diesbezüglich von traditionellen Reduktionsmodellen, auch ist sein Verständnis von Hierarchie ein anderes. Strukturwichtig sind für ihn Töne, die beginnende (‚primacy‘) oder abschließende (‚closure‘) Wirkung haben, also in der Regel der erste und letzte Ton eines Patterns. Diese Töne werden auf eine jeweils höher liegende Hierarchieebene transformiert und somit Implikationen auf Takt-, Phrasen- oder Sektionsebenen sichtbar gemacht (vgl. Narmour 1992: 31-32, 40-41). ‚Low-level‘-Patterns ‚verschwinden‘ demnach nicht auf höheren Strukturebenen oder werden von ihnen assimiliert (vgl. Foster 1990: 150), sondern sind ihrerseits strukturbestimmende Faktoren in perzeptiv gesteuerten Hierarchisierungsprozessen:
3
Dies ist allerdings keineswegs als Negation des Einflusses von Implikationen höherer Ebenen zu verstehen: „This does not mean that listeners ignore hierarchical relations emanating from the top down. Far from it. Higher-level implications, once generated, impinge on and interfere with the course of events on lower levels. Neither analysts nor listeners can overlook the influence that highlevel ‚feedback‘ has on the ‚feedforward‘ motion at the note-to-note level“ (Narmour 1992: 330).
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Abb. 5: Ebenenmodell melodischer Fortschreitung (Narmour 1992: 32).
In ähnlicher Weise wie Eugene Narmour zeigt auch Christopher Hasty neue Möglichkeiten auf, wie kleinste musikalische Sinneinheiten unter dem Gesichtspunkt der Erwartung, und unabhängig von stilistischen Merkmalen, analysiert werden können. Bei ihm geht es allerdings nicht um melodische, sondern um rhythmische Abläufe.
Christopher Hasty Eine zentrale Idee seiner Arbeit Meter as Rhythm (1997) ist die Abkehr von der Vorstellung eines dichotomen Verhältnisses zwischen Metrum und Rhythmus. Der klassische Metrumsbegriff, wie ihn z.B. Lerdahl/Jackendoff in A Generative Theory of Tonal Music (1983) verwenden, bezeichnet eine invariante, durch äquidistante Schläge gekennzeichnete und im musikalischen Hintergrund verankerte Betonungsordnung. Rhythmus hingegen wird als fluktuierendes Vordergrundelement gesehen, das, kontrastierend zum metrischen Bezugsrahmen, Variabilität und Spannung erzeugt. Hasty hebt diese Trennung auf, indem er Metrum als ein sich im Hörprozess wandelbares, vitales Phänomen definiert. Grundlage seines Metrumsverständnisses ist die zeitliche Ausdehnung eines einzelnen Tonereignisses A. Durch ein darauffolgendes Ereignis B werde nicht nur die Dauer des ersten bestimmt, es entstehe zudem eine von A auf B projizierte Erwartungshaltung bezüglich des weiteren temporalen Verlaufs:
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Abb. 6: Projection (Hasty 1997: 85).
Ein bestimmter Metrumseindruck sei demnach das Ergebnis stetiger Neueinschätzung, Umdeutung und Revidierung von potentiellen Projektionen, also von ‚events‘, die Hasty in unterschiedlichem Grade als vorbereitend, beginnend, fortschreitend oder abschließend klassifiziert (vgl. Hasty 1997: 84-86, Fuß 2005: 30, Butler 2006 101-102).4 Metrum und Rhythmus werden dergestalt anhand desselben Konzepts beschreibbar und Letzterer nach Butler „[...] a structurally significant element in its own right“ (Butler 2006: 100). Hiermit einher geht die Ablösung des Taktes als prädeterminiertes Ordnungsprinzip, da prinzipiell jedes projektive Ereignis, einzeln oder gleichzeitig und relativ unabhängig von der zeitlichen Ausprägung – vorausgesetzt ist die gedächtnisseitige Reproduzierbarkeit –, eine strukturbestimmende Funktion einnehmen kann. Einen etwas anderen Zugang als Hasty und Narmour, die sich vornehmlich auf ein bestimmtes Gestaltungsmittel konzentrieren, verfolgt Wallace Berry in Structural Functions in Music (1976, 1987). Sein Augenmerk gilt mehrdimensionalen Vorgängen innerhalb eines mehrstimmigen Musikstückes.
Wallace Berry Für Berry ist die Wirkung einer Musik grundlegend davon beeinflusst, wie Intensitätsverläufe gestaltet sind (vgl. Berry 1987: 2). Mit dem Fokus auf prozessuale Aspekte wie „Wachsen und Abnehmen, Kontrast und Gleichartigkeit, Klangverdichtung und -verdünnung, Kompression oder Diffusion“ (Fuß 2005: 26) behandelt er die Frage, welche Faktoren dafür verantwortlich sein können, dass die Intensität innerhalb eines Stückes steigt, sinkt oder gleich bleibt. Den kontrollierten Einsatz einer solchen ‚dialektischen‘ Balance zwischen Intensivierung und Auflösung (vgl. Berry 1987: 6-7) sieht er als ein zentrales Charakteristikum komponierter Musik an: „In music that is composed (as opposed to music of random operations or random consequences), actions (changes, events) involving various elements (lines of pitch change, tonal and harmonic succession, rhythm and meter, texture, and coloration) are so conceived and controlled that they function at hierarchically ordered levels in processes by which intensities develop and decline, and by which analogous feeling is induced“ (ebd.: 4).
4
Der Begriff ‚event‘ bezieht sich in diesem Fall nicht nur auf Ton zu Ton-Ereignisse, sondern beinhaltet auch größere zeitliche Zusammenschlüsse wie etwa Phrasen.
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In seinem Buch beschäftigt sich Berry schwerpunktmäßig mit Tonalität, Rhythmus und Metrum, aber auch mit Eigenschaften der musikalischen Textur, was insofern hervorzuheben ist, als dass dieses Thema aus einem Blickwinkel wie Berrys bislang kaum diskutiert wurde. Er beschränkt Textur nicht alleine auf formal-kategoriale, melodische und harmonische Verhältnisse beschreibende Begrifflichkeiten wie Mono- oder Polyphonie, sondern sieht Textur allgemein als die Synergie aller klingenden Komponenten. Sie sei zum einem durch den quantitativen Aspekt der Dichte, zum anderen durch die Interaktion der beteiligten Faktoren, dem qualitativen Aspekt, charakterisiert (vgl. ebd.: 184). Der Grad an Texturdichte bestimme sich über die Anzahl der gleichzeitig erklingenden Ereignisse (‚density-number‘) sowie deren vertikaler Ausdehnung (‚density-compression‘), wobei bei Letzterem die Intervallgröße als auch die Klangfarbe und die Dynamik relevant sein können. Von einer hohen Dichte lasse sich z.B. dann sprechen, wenn mehrere Töne mit geringem räumlichen Abstand, etwa drei Töne innerhalb einer kleinen Terz, in gleicher Lautstärke zusammenklingen. Werden die Bestandteile dieses stark komprimierten Texturkomplexes, und tendenziell dissonanten Akkordes, von mehreren Instrumenten mit unterschiedlichen Klangeigenschaften gespielt, so könne dies eine Intensitätsabschwächung zur Folge haben. Da üblicherweise nicht nur Quantitätsveränderungen den Texturverlauf eines Stückes kennzeichnen, integriert Berry qualitative Merkmale in sein Modell. Als relevant erachtet er die Beschaffenheit interlinearer Relationen, wie also verschiedene Stimmen in Wechselwirkung zueinander treten und in übereinstimmender oder gegensätzlicher Weise verlaufen. Ein Vorgang, bei dem die Töne eines Sekundakkords in entgegengesetzter Richtung in einen Sextakkord übergehen – der obere Ton wandert eine Quarte aufwärts, der untere eine Sekunde abwärts – kann nach Berry als texturelles Ereignis aufgefasst werden, das Veränderungen sowohl im Kompressionsgrad als auch in der Bewegungsrichtung beinhaltet (vgl. ebd.: 185-186). Weitere Abweichungen in den Parametern Rhythmus oder Intervallfortschreitung, die neben bewegungsbezogenen Charakteristika am wesentlichsten für die Texturqualität seien, können die Eigenständigkeit einer Stimme zusätzlich erhöhen. Anhand der Zuschreibung von drei verschiedenen Konstellationen pro Parameter, er verwendet hierfür die Präfixe ‚homo-‘, ‚hetero-‘, ‚contra-‘, klassifiziert Berry insgesamt neun Möglichkeiten der Interaktion im zeitlichen Kontext: ‚homo-/hetero-/ contrarhythmic‘, ‚homo-/hetero-/contradirectional‘, ‚homo-/hetero-/contraintervallic‘ (vgl. ebd.: 194-195):
Abb. 7: Interaktionsformen (Berry 1987: 194-195).
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Wie sich sein Modell anwenden und zwischen hierarchisch geordneten Texturebenen unterscheiden lässt, zeigt er am Beispiel des ersten Taktes von Igor Stravinskys Variations for orchestra (Aldous Huxley in memoriam), beschränkt auf Bläser und Streicher:
Abb. 8: Texturebenen am Beispiel von Stravinskys Variations (Berry 1987: 197).
Die Stimmen der Streichergruppe stehen in einem als ‚heterorhythmicheterodirectional-heterointervallic‘ ausgemachten Verhältnis, die Textur der Bläser beschreibt er als ‚homorhythmic-homodirectional-contraintervallic‘. Die strukturell höherliegende Gesamttextur dieses Klangkomplexes sei ‚heterorhythmic-contradirectionalcontraintervallic‘ und weise eine progressive, texturerweiternde Tendenz auf (vgl. ebd.: 196-199). Zum Veranschaulichen und Operationalisieren dieser Vorgänge trifft Berry die Unterscheidung zwischen tatsächlich erklingenden Komponenten und ‚real‘ verlaufenden Texturfaktoren. Stimmen mehrere gleichzeitig erklingende Komponenten in einem Großteil der drei Qualitätsparameter überein, so fasst er sie zu einem realen Faktor zusammen und bildet hieraus Zahlenverhältnisse, die als Grundlage für das Erstellen qualitativer und quantitativer Spannungskurven dienen:
Abb. 9: Spannungskurven am Beispiel von Milhauds Six Sonnets for mixed chorus; No. 3, Takte 1-7 (Berry 1987: 188).
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In diesem Beispiel stellt eine vertikal ausgerichtete Zifferneinheit jeweils einen Takt vom Beginn der Sonette dar, wobei die Addition der Werte Auskunft über die insgesamt im Takt vorhandenen Stimmen gibt. Die Werte selbst (1, 2, 4) weisen auf die texturellen Zusammenschlüsse hin. Der Moment maximaler Diversität werde in Takt 4 erreicht, da hier jede der beteiligten Stimmen eigenständig verlaufe und demnach vier reale Faktoren gleichzeitig wirken. Im Anschluss daran erhöhen sich schrittweise die Interdependenzen und der Ausschnitt ende im Status relativer Gleichförmigkeit (vgl. ebd.: 188-189). Berry schätzt derartige Abhängigkeitsverhältnisse, die zusätzlich von Parametern der ‚coloration‘ beeinflusst werden können, als die signifikantesten Kriterien der Texturqualität ein. Je stärker sich die Komponenten unterscheiden, desto komplexer werde das Stimmengeflecht und der Intensitätseindruck erhöhe sich. Faktoren wie Dissonanz, Rhythmusbeschleunigung, steigende Tonhöhe oder auch formbezogene Charakteristika können für eine darüber hinausgehende Intensitätssteigerung sorgen und dadurch ein vermehrtes Verlangen nach Auflösung und Stabilität hervorrufen (vgl. ebd.: 190, 213). Zusammengefasst ist Berrys Analysekonzept vom Vorhaben geleitet, die prozessuale Aktivität musikalischer Passagen bestimmbar zu machen. Die Beschaffenheit der musikalischen Textur ist in diesem Kontext von speziellem Interesse, vor allem da sie von Berry auch als möglicher Indikator zur Charakterisierung und Unterscheidung von Musikstilen gesehen wird (vgl. ebd.: 200-201, 293-294). Pauschalisierungen wie diejenige, dass westliche Kunstmusik aufgrund textureller Vielschichtigkeit und Komplexität von Volks- oder Popmusik grundsätzlich abzuheben sei, sind allerdings nicht nur aus Gründen der Stilvielfalt klassischer Musik problematisch.5 Sie sind insbesondere deswegen zu kritisieren, weil Berrys Methoden ebenso wie die übrigen Analyseansätze, die ich im Rahmen dieses Abschnitts vorgestellt habe, zwar durchaus vielversprechend für das Untersuchen populärer Musik erscheinen, mit Ausnahme von Butler jedoch keiner der Autoren im Detail auf deren Spezifika eingeht und die wissenschaftliche Fundierung für einen Vergleich demnach fehlt.
Prozessorientierte Analyse und populäre Musik Wenngleich volkstümliche oder populäre Musikformen in den analytischen Überlegungen von Meyer, Narmour, Hasty und Berry, ebenso wie bei den kurz erwähnten Kramer und Lerdahl/Jackendoff, eine relativ nebensächliche Rolle spielen, so finden sie bei den meisten Autoren zumindest andeutungsweise, und mit unterschiedlicher Wertigkeit bedacht, Erwähnung. Meyer weist im Kapitel Folk Musik and Primitive Music (Meyer 1956: 211-214) auf die hohe emotionale und ästhetische Wirkung von Ornamentationen und Variationen hin und misst diesen Merkmalen vor allem in Bezug auf oral überlieferte Musik eine entscheidende Bedeutung bei. Aufgrund des Fehlens exakt kodifzierter Spielanweisungen 5
So weist er selbst monophonen Stücken einen vergleichsweise hohen texturellen Komplexitätsgrad zu.
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seien strukturelle Abweichungen und Ausschmückungen nicht nur ein zusätzlicher, sondern vielmehr ein integraler Bestandteil des Musikerlebens und affektiven Ausdrucks. Der formale Aufbau und dessen detailgetreue Reproduktion verbleibe somit nicht mehr alleine als Gradmesser für den ästhetischen Gehalt eines Stückes, wie Meyer am Beispiel Jazz, stellvertretend für eine der Volkmusik nahestehenden Spielart, anführt: „A popular song played ‚as written‘ is seldom ‚hot‘; it is the series of artistic distortion given to the tune that makes it jazz“ (Waterman 1948 in ebd.: 213).
Er greift mit Blick auf Jazz ebenso ein Zitat Jelly Roll Mortons auf, in dem das Riff als Hintergrundfundament, das Break hingegen als artistische Essenz beschrieben wird, was er im Sinne eines Norm- und Abweichungsverhältnisses interpretiert (vgl. ebd.). Vergleichbare ‚Basisplanvariationen‘ meint Meyer in orientalischer Kunstmusik und in nahezu allen „primitive musical styles“, Letztere skizziert an Beispielen jugoslawischer und afrikanischer Musik, zu finden (vgl. ebd: 209-214). Leider bleibt die tatsächliche Ausarbeitung der jeweils relevanten Parameter sehr vage und würde auch ein entsprechendes Einbeziehen von mit traditioneller Notenschrift nur mangelhaft fassbaren Gegebenheiten erfordern. So ist für ihn die Form und Organisation von Musik, die auf physische Aktivität und Expressivität abzielt, analytisch uninteressant, da er sie gleichsam als das funktionelle Produkt dieses expressiven Verhaltens ansieht und eine bewusste Reflexion somit, seiner Einschätzung nach, wegfällt (vgl. ebd.: 239). Dass erwartungsleitende Faktoren – bei Meyer erwächst Bedeutung wie oben erwähnt aus Emotion, die ihrerseits das Ergebnis von Erwartungshaltungen ist – auch bei einer solchen Musik relevant sein können und mit Aspekten der Klangfarbe oder Dynamik, die er generell vernachlässigt, potentiell zusammenhängen, wird ausgeblendet. Von diesen durchaus fragwürdigen und teils stereotypen Sichtweisen abgesehen, die allerdings auch dem Erscheinungsjahr entsprechend eingeordnet werden müssen, ist der Einfluss, den sein wahrnehmungsorientierter Ansatz auf nachfolgende Forscher hatte, nicht nur für die Analyse westlicher Kunstmusik wertvoll. Angesichts der in Kapitel 2.5 aufgeworfenen Frage nach kognitiven Verarbeitungsmechanismen auf Phrasenebene, als temporale Kapazitätsgrenze des Kurzzeitgedächtnisses und essentielle Zeiteinheit populärer Musik, bieten sich zum Beschreiben melodischer Vorgänge, mit Einschränkungen, die aus Meyers Konzept weiterentwickelten und konkretisierten Prinzipien im Modell von Eugene Narmour an.
Melodie Die folgenden Beispiele veranschaulichen die Anwendung seiner Basistheorie anhand der Refrain-Gesangshooklines von Turnover (Fugazi 1990) und Get the Party Started (Pink 2001). Den ersten Song habe ich deswegen ausgewählt, weil er in Kapitel 5 noch wichtig sein wird, der zweite Song bietet sich an, da er keine Harmoniewechsel beinhaltet und nach traditionellen Vorstellungen wohl keiner Analyse wert wäre:
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Abb. 10: Eigene Anwendung des I-R-Modells von Eugene Narmour. „The question is, What do the analyses tell us?“ (Narmour 1992: 29).
Zunächst ist festzuhalten, dass die melodischen Kleinstgruppierungen in den vorliegenden Gesangslinien maßgeblich vom Aspekt der Tondauer [(d)] beeinflusst sind. Im Fugazi-Beispiel werden die ersten drei Einheiten jeweils durch einen den vorherigen Notenwert zumindest verdoppelnden Ton abgeschlossen und durch eine anschließende Pause zusätzlich separiert.6 Die Melodieverkettung am Ende des Refrains ist auf die längere Pause davor zurückzuführen. Bei der Pink-Gesangsmelodie bestimmen metrische und harmonische Faktoren – die Dominante Fis fällt auf die schwere Zählzeit 3 – zusätzlich zur Tondauer die Takt 1 und 2 übergreifende melodische Verkettung. Auf Grundlage dieser Unterteilungen können die beteiligten Archetypen und deren prospektive oder retrospektive Realisation untersucht und Erkenntnisse über die Art der melodischen Fortschreitung gewonnen werden. Das Fugazi-Beispiel zeichnet sich diesbezüglich durch ein hohes Maß an Kontinuität und Gleichförmigkeit aus. Es werden ausschließlich schwache Prozesse oder Duplikationen impliziert und auch, größtenteils in Form von Teilrealisationen, umgesetzt. Aufgrund der sehr kleinen Intervalle bleibt die Schlusskraft des dominierenden IP-Archetypen gering, eine minimale Abschlusswirkung wird über die häufige Wiederkehr in Richtung des Ausgangstons [aba'] vermittelt. Im Gesamten ist andeutungsweise, wie der Wechsel zum D-Archetypen auf der zweiten Ebene verdeutlicht, eine Bewegung in Richtung kleinerer Intervalle und somit die Tendenz zum Abschluss erkennbar. Der Mangel an signifikanten Gruppierungen auf Intervall- oder Richtungsebene deutet darauf hin, dass die zeitliche Strukturierung in diesem
6
Diesbezüglich muss auf die von Fuß (1995) geäußerte Kritik hingewiesen werden, nach der Narmour den Umstand missachtet, dass „der Wert einer nach der Note stehenden Pause fast immer als Teil des gesamten Dauernwertes dieser Noten wahrgenommen wird“ (Fuß 1995: 51).
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Fall ein vergleichsweise größeres Melodiecharakteristikum darstellt und demnach eher zur potentiellen Wiedererkennung beiträgt. Im Refrain von Get the Party Started findet sich die strukturell stärkste Konstellation im P-Archetypus der einleitenden PR-Verkettung. Die hohe Implikations- und Realisationskraft dieses Prozesses ist einerseits durch das Verhältnis der Notenwerte – ein sehr langer Ton geht in zwei kurze über –, andererseits durch die Bewegung in Richtung eines größeren Intervalls bedingt. Angesichts der relativ geringen Schlusskraft einer solchen Bewegung, die auf der Narmourschen Intervallskala nach rechts orientiert ist, liegt die darauffolgende, nur allmählich vollzogene Auflösung nahe. So ist die in der Verkettung eingeschlossene Umkehrung schwach ausgeprägt und lässt dadurch Raum für eine kontinuierliche Weiterführung der Abwärtsbewegung. Diese erfolgt nicht zur Gänze linear, sondern beinhaltet einen von ‚registral returns‘ umschlossenen Sprung, der auf zweiter Hierarchiebene als retrospektive, und somit etwas unerwartete, IP-Realisation kennzeichenbar ist. Zusammengefasst entspricht die Melodie größtenteils Meyers ‚gapfill‘-Prinzip (vgl. Meyer 1973: 44), nach dem ein großer Auswärtssprung eine schrittweise Auflösung nach unten impliziert. Im Rahmen dieses Schemas können, wie mit Hilfe des I-R-Modells veranschaulicht, markante Melodiemerkmale vor allem auf der Ebene von Nuancen und pointiert eingesetzten Abweichungen festgestellt werden. An diesen Analysen wird ersichtlich, dass Namours Theorie durchaus geeignet ist, melodische Vorgänge in Pop-/Rocksongs wahrnehmungsorientiert zu untersuchen und die Merkmale konkret zu benennen. Narmour selbst beschränkt sich in seiner Arbeit leider, trotz der proklamierten Stilunabhängigkeit, vorwiegend auf Beispiele westlicher Kunstmusik. Volkstümliche oder populäre Melodien werden nur beiläufig erwähnt oder indirekt als „simple music“ (Narmour 1992: 202) geringgeschätzt – er nennt exemplarisch Kinderlieder oder Werbejingles –, da sie seiner Meinung nach durch strukturelle Singularität und nur gelegentlichen Elementkombinationen gekennzeichnet sind (vgl. ebd.). Einen analytischen Nachweis bleibt er aber ebenso schuldig, wie er es verabsäumt, die neun im Anhang abgebildeten „Examples from Other Cultures“ (ebd.: 386) entsprechend zu interpretieren (vgl. ebd.: 386-389). Das erkenntnisversprechende Potential des Modells, in Bezug auf die Analyse realer Musikstücke, wurde auch in nachfolgenden Untersuchung bislang kaum genutzt. So belassen es die Autoren entweder bei zusammenfassenden Rezensionen (vgl. Cumming 1992, Foster 1992, Fuß 1995, Royal 1995), oder aber es werden grundlegende Studien zur kognitionspsychologischen Validität der melodischen Prinzipien durchgeführt (Cuddy/Lunney 1995, Schellenberg 1997, v. Hippel 2002). Die fehlende Verwendung möge einerseits dem Einarbeitungsaufwand in die nicht immer leicht nachvollziehbare Theorie geschuldet sein, andererseits besteht, mit Blick auf ein umfassenderes Melodieverständnis, die Notwendigkeit zu Erweiterungen im Bereich unpräziser Reize. Auch wenn Narmour dahingehend rechtzugeben ist, dass Melodien nicht alleine auf globale Konturinformationen beschränkt werden sollten, so gilt es dennoch, die für das Erkennen und Behalten nachgewiesene Wirksamkeit von relativ wahrgenommenen Tonbeziehungen (vgl. z.B. Dowling/Fujitani 1971, Deutsch 1999) nicht zu vernachläs-
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sigen.7 Narmours Methodik zum Erfassen diskreter Melodiecharakteristika könnte durch Vorgehensweisen ergänzt werden, mit denen sich Melodieverläufe auch unabhängig von absoluten Intervall- oder Tondauerverhältnissen beschreiben lassen. In Anbetracht des ungemein breiten musikalischen Spektrums populärer Stilistiken sind Verknüpfungen zwischen eher konventionell eingefärbten Strukturansätzen und flexibleren Theorien durchaus zweckdienlich. Harmonie- und Rhythmusanalysen sind hiervon nicht ausgenommen.
Harmonie Im Bereich der Harmonieanalyse rücken in den letzten Jahren neben weiträumigen strukturellen Zusammenhängen und motivisch-thematischen Entwicklungen auch kleinere Sinneinheiten zunehmend in den Fokus. Allan F. Moore merkt ganz allgemein an, dass die harmonische Gestaltung für Nicht-Musiker der am schwersten zu verstehende musikalische Faktor zu sein scheint, wohingegen alle anderen Merkmale auch ohne Erfahrung in der Ausübung von Musik greifbar und artikulierbar seien. Vor diesem Hintergrund erachtet er es als überraschend, dass die Bedeutung harmonischer Patterns häufig in Frage gestellt wird: „And yet, harmony has a profound effect on the meaning of what we listen to. The harmonic syntax of popular song is both simpler (on a large scale) and more complex (on the local level) than the harmonic syntax of other Western musics. It is therefore vital to sort out its basic attributes“ (Moore 2012: 69).
Für Moore gibt es zwei konzeptionelle Ansätze zur Harmonieanalyse von populärer Musik: Zum einen könne man das harmonische System der klassisch-westlichen Tonalität als Norm heranziehen und Abweichungen untersuchen. Zum anderen sei es möglich, anzunehmen, dass die harmonische Sprache von populärer Musik mit jener der westlichen Tonalität in keiner Beziehung steht und man demzufolge eine Theorie entwickeln müsse, die ausschließlich auf der Sprache der beteiligten Musiker basiert. Am geeignetsten erscheint ihm ein nicht-priorisierender Mittelweg zwischen diesen beiden Sichtweisen. Es gelte die Sprache der Musiker und die der westlichen Tonalität gleichermaßen zu akzeptieren, wobei ‚populäre Harmonie‘ nicht unter der Prämisse von Abweichungen, sondern als eigenständige Norm analysiert werden sollte (vgl. ebd.: 69-70 sowie Tagg 2009). Im Falle von Rockmusik, auf die sich bislang ein Großteil der harmonischen Analysen konzentriert, wird häufig hervorgehoben, dass sie eher repetitiv und zyklisch denn zielgerichtet und funktional gestaltet ist (bedingt u.a. durch das Fehlen eines Leittons, durch unvollkommene Kadenzen oder terzfreie Akkorde – siehe z.B. auch Stephenson 2002, Björnberg 2007, Biamonte 2012). Um eine solche Musik dennoch angemessen beschreiben zu können, schlägt Moore als Alternative zu Walter Eve7
„For melody is not simple contour: it is a cognitive phenomenon of structural implication and realization on various hierarchical levels“ (Narmour 1992: 386).
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retts sechsteiliger harmonisch-tonaler Klassifikation von Rockmusik (vgl. Everett 2007) die Verwendung eines modalen Harmoniesystems vor (vgl. Moore 1992, 1995, 2012). Akkordfolgen innerhalb eines Patterns können einem (oder mehreren) der sieben gängigen Modi oft besser zugeordnet werden als einem funktionsharmonischen Schema. Außerdem erlauben die Modi einen flexibleren Umgang mit Tonartwechsel innerhalb eines Stückes: „There seems to be no a priori reason why we should assume that a mode operates throughout a song. Modal change is extremely common, and a first approximation should be to assume that a mode operates only for the length of the pattern it describes“ (Moore 2012: 71-72).
Hinsichtlich der Rolle von Harmonien im Songaufbau trifft Moore eine relative Unterscheidung zwischen period structures und open ended structures. Periodische Strukturen zeichne aus, dass die Harmonien in erster Linie durch das Verhältnis der übergeordneten formalen Sektionen bestimmt werden und weniger durch ihre innere Beschaffenheit („Period structures carry meaning less by what they consist of harmonically, than by way of how they end“). Offene Strukturen hingegen seien charakterisiert durch sich mehrmals wiederholende harmonische Patterns (vgl. ebd.: 76-89). Im Artikel Patterns of Harmony (1992) hat Moore eine elaborierte, 15 Klassen umfassende Systematik zu diesen ‚loops‘ entworfen, die von static harmony über subdominant sequences bis hin zu wandering/chromatic modality reicht (vgl. ebd.: 82-106). Einer Definition von Richard Middleton (1990) folgend, können Akkordsequenzen demnach z.B. in Form von ‚open-ended repetitive gestures‘ auftreten und keinerlei Zielbezogenheit oder Auflösungsmöglichkeit vermitteln. Solcherart Patterns werden von Victoria Malawey (2007) am Beispiel des Björk-Albums Medúlla (2004) ausführlich untersucht. Ihr Interesse gilt der Entwicklung eines Modells, um Prozesse der ‚harmonic oscillation‘, definiert als Wiederholung von zwei oder mehr alternierenden Harmonien, sowie der ‚musical stasis‘, einer kontinuierlichen Wiederholung einer einzelnen Harmonie, zu analysieren. Auf Grundlage von Theorien zur musikalischen ‚Zeitlosigkeit‘ (Meyer 1967, Rowell 1987, Kramer 1988) als auch unter Berücksichtigung kognitionspsychologischer Überlegungen (z.B. Johnson 1987, Echard 1999, Hughes 2003) arbeitet sie alternative, über die Interpretation linearer Fortschreitungsmerkmale hinausgehende Lesarten von harmonischen Gestaltungsweisen heraus. So kommt sie etwa bei der Analyse des Songs Triumph of a Heart zur Schlussfolgerung, dass die hier in Halbtonschritten stattfindende stufenartige Aufwärtsmodulation in Popmusik zwar durchaus verbreitet sei, sie aufgrund ihrer gleichmäßigen Verteilung über den Song hinweg aber einen unüblichen, nicht dem Zwecke des Spannungsaufbaus dienenden Effekt habe: „Here, the climactic energy is diffused evenly throughout the course of the song, perhaps redirecting listeners’ attention toward moment-to-moment listening and away from teleological listening on a large scale (i.e., waiting for ‚climactic release‘ until the end of the song)“ (Malawey 2007: 185).
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Zur Veranschaulichung dieser tonalen Bewegung adaptiert sie die von Tim Hughes (2003) vorgeschlagenen ‚staircase‘- und ‚wave‘-Modelle:
Abb. 11: Tonale Bewegung in Triumph of a Heart (Malawey 2007: 185).
Malawey zeigt mit ihrer Studie auf, dass prozessorientierte Ansätze auch in der Harmonieanalyse möglich und aufschlussreich sind und sich die Beobachtungen z.B. mit stilistischen oder audiovisuellen Aspekten in Verbindung bringen lassen (vgl. ebd.). Im Rahmen ihrer Untersuchungen macht sie zudem auf ein Phänomen aufmerksam, das bei populären Harmonien generell relevant sein kann – nämlich jenes der manchmal schwierigen Identifizierbarkeit eines tonalen Zentrums. Mangels klarer Anhaltspunkte sind Patterns, Sektionen oder ganze Songs in Bezug auf die Tonika mitunter mehrdeutig hörbar. Ein Beispiel für Ersteres ist die Akkordfolge A-F-E-Cis im Kate Bush-Song Wuthering Heights (1978), die sich sowohl einer modifizierten ionischen (I-♭VI-V-III’) als auch einer modifizierten äolischen Skala (I’-VI-V’♯III’) zurechnen lässt (vgl. Moore 2012: 74). Zur tonalen Mehrdeutigkeit innerhalb von Sektionen ist Guy Capuzzos ‚sectional centricity‘-Konzept zu nennen (vgl. Capuzzo 2009), das er in Anlehnung an den von Christopher Doll (2007) verwendeten Begriff der ‚centric ambiguity‘ entwickelt hat. Laut Capuzzo kommt dieses Phänomen im Speziellen bei Songs mit einer sektionalen Tonalität zum Tragen: „It [Good Day Sunshine von den Beatles (1966); Anm. BSt] is an instance of what I term sectional tonality. Let us refer to a section as a distinct part of a song’s formal structure [...]. Then, we can define sectional tonality (hereafter ST) as a type of tonality in which each section projects a distinct key. The keys may or may not be related, and may or may not connect via a pivot chord [...]. [...] Many rock songs exhibit a technique akin to ST in which each section presents pitch material other than a major or minor key. The pitch-class content of each section is distinct, with one or more pitch-classes acting as a center/s in each section. I use the term sectional centricity (SC) to describe such songs“ (Capuzzo 2009: 157-158).
Exemplarisch hierfür zieht er Radioheads Karma Police (1997) heran. Der Song bestehe aus drei Sektionen mit jeweils zwei oder mehr korrespondierenden tonalen Zentren. Aufgrund von Stimmführungsmerkmalen, dem Tonvorrat und metrischen Betonungen erlaube Sektion A (Intro, Strophe) eine Zuordnung zu a-Moll und e-Moll, Sektion B (Strophe) zu G-Dur und h-Moll (laut Griffiths 2004 auch zu e-Moll) sowie Sektion C
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(Schluss) zu a-Moll, e-Moll, G-Dur, h-Moll und D-Dur (vgl. Capuzzo 2009: 162-167). Die folgende Grafik zeigt die unterschiedlichen Auffassungsmöglichkeiten von Sektion C:
Abb. 12: Tonale Zentren Karma Police, Sektion C (Capuzzo 2009: 167).
Capuzzo untermauert seine Sektionsgliederung mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Erzählperspektiven im Gesangstext, in dem in Sektion A ein Außenstehender, in Sektion B ein Mitglied der ‚Karma Police‘ und in Sektion C das lyrische Ich vortrage (vgl. ebd.: 165-166).8 Auf Songebene betrachtet werden wechselnde, unklare oder fehlende tonale Zentren zuweilen auch als Ausdruck von Aushandlungsprozessen oder Orientierungslosigkeit interpretiert. So deutet Walter Everett das Fehlen von tonikalen Auflösungen im Coldplay-Song Square One (2005) dahingehend, dass der Sänger verloren sei, sein Ziel nicht erreichen könne und nach einem Kompass, einer Karte frage (vgl. Everett 2012: 1599), während die häufigen Wechsel in Wake Up Alone (2006) Amy Winehouses innere Zerissenheit widerspiegeln (vgl. ebd.: 160-161). Unklare tonale Zentren lassen sich im Sinne einer Konfliktaustragung auffassen, wie z.B. bei D’Angelos Ain’t That Easy (2015) (vgl. Bannister et al.), oder aber sie bieten Raum für gegensätzliche Auslegungen. Letzteres zeigt Moore am Song Calvary Cross von Richard Thompson (1974), der gleichermaßen optimistisch (ionisch) wie pessimistisch (äolisch) interpretiert werden könne (vgl. Moore 2012: 75). Auf den Einfluss von multiblen Zentren auf den Hörer weisen u.a. Meyer (1956) und Doll (2007) hin. Wie die hier genannten Beispiele andeuten, haben harmonieanalytische Methoden nicht nur bei jenen populären Musiken Erkenntnispotential, die eindeutig an einer Hauptstufe orientiert sind. Diese Beobachtung ist insbesondere für die Analyse von teils 8 9
A: „Karma Police, arrest this man“; B: „This is what you get when you mess with us“; C: „Phew, for a minute there, I lost myself“. Zur tonalen Ambiguität bei Coldplay siehe auch Welch 2015.
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noch repetitiveren Spielarten als Rockmusik, wie EDM oder Hip Hop, von Bedeutung, deren harmonische Eigenheiten bis vor kurzem kaum Beachtung fanden. Wooller/Brown haben 2008 ein framework for discussing tonality in electronic dance music vorgestellt, mit dem sie das Ziel verfolgen, die reichhaltige Tonalität von EDM-Tracks stärker ins Zentrum zu rücken (vgl. Wooller/Brown 2008: 1). Ihr System beinhaltet vier Attribute zur Beschreibung von tonalen Verläufen: rate of tonal change (TC), tonal stability (TS), pitch/noise ratio (PNR) und number of independent pitch streams (IPS). TC weist auf das Aktivitätslevel innerhalb von tonalen Abschnitten hin, beginnend auf unterster Stufe bei einem konstanten Bordun auf dem Tonikaklang bis hin zu tonale Ambiguität hervorrufende Lead Riffs (‚solo‘) auf höchster Stufe. TS bezieht sich auf die Stärke oder Stabilität der wahrgenommenen Tonalität zu jedem beliebigen Zeitpunkt, PNR auf die Klarheit von Tonhöhen unter Berücksichtigung der Obertonstruktur und IPS auf die Anzahl und Wechselbeziehung eigenständiger Klangschichten (vgl. ebd.: 92-95). Obgleich ihre Konzeption, die bis dato meines Wissens nach leider noch keine konkrete Anwendung fand, vorrangig auf prozessuale Aspekte ausgerichtet ist, so stellen Wooller/Brown nicht in Abrede, dass sich bestimmte Passagen auch bzw. besser mittels konventionellen Werkzeugen analysieren lassen (vgl. ebd.: 91-92). Robert Ratcliffe (2013) veranschaulicht dies in seiner Analyse des Orbital-Tracks Chime (1989). Eine erste umfangreiche Studie zur Harmonik im Hip Hop hat 2014 Harald Scholz vorgelegt. Mit seiner Analyse von 326 US-amerikanischen Top 10 R’n’B- und Hip HopSongs mit Sprechgesang aus den Jahren 2001 bis 2010 möchte Scholz „zu einem besseren Verständnis beitragen, wie kurze rekurrierende und möglicherweise auch nicht rekurrierende Progressionen in populärer Musik gestaltet sind“ (Scholz 2014: 7). Auf Grundlage ihres harmonischen Gestaltungsprinzips ordnet er die Songs in sechs Klassen ein, wobei die meisten (201) in die Klasse Stücke einer harmonischen Einheit fallen (vgl. ebd.: 47).10 Oberflächlich betrachtet bestätige dieses Ergebnis die Annahme, dass vergleichsweise kurze, abgeschlossene und häufig wiederholte Fortschreitungseinheiten die Grundkonzeption der Stücke bilden. Im Detail jedoch macht Scholz eine Vielzahl von voneinander differenzierbaren Progressionen aus, die formal zudem verschiedenartig eingebunden seien. Er erkennt in mehr als 87,7% der Stücke mehrgliedrige, also über ‚one-chord-progressions‘ hinausgehende harmonische Entwicklungen, und in insgesamt 38,3% der Fälle finde der Hörer mindestens zwei unterschiedliche Progressionseinheiten vor (vgl. ebd.: 312). Zusammenfassend hält Scholz fest, dass die harmonische Gestaltungsebene durch Vervielfältigung und Kombination von formelhaft-einfachen, aber nichtsdestotrotz sehr variantenreichen durmolltonalen, modalen oder freien chromatischen Zusammenhängen geprägt ist (vgl. ebd.: 316) und sie „vermutlich keineswegs 10
Die weiteren Klassen sind: Stücke zweier ähnlicher Forschreitungen (59), Stücke mehr als zweier ähnlicher Fortschreitungen (22), Formteilübergreifende repetitive Anlagen aus ähnlichen Teilprogressionen (4), Stücke grundverschiedener Progressionen, von denen keine ausschließlich Brückenprogression ist (18), Stücke einer gesonderten Brückenprogression, die keiner anderen Progression im Stück ähnelt (22) (vgl. ebd.).
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grundsätzlich weniger elaboriert und komplex ausgeprägt zu sein [scheint] als in anderen populären Mainstreamgenres“ (ebd.: 312). Nun soll im Rahmen dieses Abschnitts zur Harmonieanalyse nicht außer Acht gelassen werden, dass bei einer überwiegenden Mehrheit populärer Musiken von einer, gemäß Scholz’ Wortlaut, ‚formelhaften Einfachheit‘ gesprochen werden könnte. So stellt Peter Winkler seinem in der Originalversion 1978 erschienenen Text Toward a Theory of Popular Harmony den provokanten Kommentar voran: „[...] don’t we know all too well how pop music goes? Its harmonic language is that of classical European tonality, only more simple-minded. Our ears are daily assaulted by its harmonic commonplaces, ready-made formulas, easy clichés. We have to live with this stuff; must we study it as well?“ (Winkler 2007: 251).
Auch Everett hebt in der Einleitung von Making Sense of Rock’s Tonal Systems (2007) die größtenteils ‚konservative‘ Gestaltung von in Pop-Charts reüssierenden Songs hervor. Die meisten davon lassen sich in die erste Gruppe seiner harmonisch-tonalen Klassifikation einordnen und seien durch gängige Funktionsharmonik- und Stimmführungsschemata innerhalb von traditionellen Dur-/Moll-Systemen gekennzeichnet (vgl. Everett 2007: 304). Ein Ziel seiner Analysen ist es folglich, zu demonstrieren, dass es genug Beispiele für (Rock-)Songs gibt, die mittels kontrapunktischer Elemente oder mehrschichtiger Harmoniebeziehungen das Ohr des qualifizierten Hörers herausfordern (vgl. ebd.: 334). Die Besonderheiten von diesbezüglich weniger außergewöhnlichen Stücken bleiben durch eine solche Zielsetzung und Korpusauswahl freilich im Verborgenen (siehe auch Kapitel 1). Zur analytischen Vernachlässigung des musikalischen Mainstreams nimmt Brendan Blendell in Harmony and Syntax in Contemporary Pop Music (2015) kritisch Stellung. Zeitgenössischer Rock, Pop und elektronische Musik seien von Musiktheoretikern zu lange ignoriert worden, zugunsten des in der (US-amerikanischen) Mainstream-Kultur heutzutage nicht mehr länger in der Aufmerksamkeit stehenden Classic Rock.11 Das Erforschen aktuellerer Musik ermögliche eine stärkere Verknüpfung mit gegenwärtigen Geschehnissen und eine einfachere Anbindung an Sozialwissenschaften, wodurch ein besseres Verständnis für Musik als kulturelle Ausdrucksform generiert werden könne (vgl. Blendell 2015: 22). Dieser Sichtweise entsprechend hat Blendell eine eigene Untersuchung zu 97 Songs aus den ‚Year-End Hot 100‘ Billboard-Charts der Jahre 2009 bis 2013 durchgeführt. Ausgangspunkt seiner Analysen ist die Vermutung, dass kurze syntaktische Gruppierungen hier eine größere Rolle spielen als übergeordnete harmonische Strukturen. Sein Fokus ist sodann auf die innere Beschaffenheit von Vier-Akkord11
In Ergänzung zu den bereits erwähnten Studien ist in diesem Zusammenhang die statistisch ausgerichtete, softwaregestützte Untersuchung Statistical Analysis of Harmony and Melody in Rock Music von Temperley/de Clercq (2013) zu nennen als auch Nicole Biamontes Arbeit Modal Function in Rock and Heavy Metal Music (2012).
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Patterns mit einer ‚zyklischen Syntax‘ gerichtet, worunter er nach außen hin abgrenzbare harmonische Fortschreitungen wie z.B. I-V-vi-IV versteht. Da sie in sich geschlossen seien, können sie theoretisch beliebig umgekehrt, durchmischt und wiederholt werden (vgl. Blendell 2015: 1). In seiner Stichprobe erkennt Blendell 23 verschiedene dieser Patterns, denen er in Popmusik eine entscheidende Bedeutung für Prozesse des Spannungsauf- und -abbaus beimisst: „I hypothesize that each function has a level of tension which is interpreted semantically, with tension increasing as they approach the dominant or plagal, and resolving once it reaches the tonic. [...] This hypothesis is also consistent with the creation and audience of pop music: songwriters and listeners are often musically untrained, so the syntactical violations that are not ‚allowed‘ in common practice period grammar are perfectly at home in the pop world“ (ebd.: 22).
Wie Blendell selbst anmerkt, ist sein Forschungsansatz in mehrere Richtungen erweiterbar, etwa in Bezug auf das Songmaterial (jährliche Aktualisierung), die Art der Gruppierungen (Drei-Akkord-Patterns), Formaspekte (Neuanordnungen und rhythmische Abwandlungen) und die Beziehung zur melodischen Gestaltung. Das Verhältnis von Melodieverläufen zu Akkord, Skala und Tonart wird von David Temperley – wiederum mit Blick auf Rockmusik – genauer thematisiert. Im Artikel The melodic-harmonic ‚divorce‘ in rock (2007) greift er die u.a. von Moore (1995) getätigte Annahme einer gelegentlichen Unabhängigkeit zwischen Melodie und Harmonie auf. Ein Indikator hierfür seien Nicht-Akkordtöne, die nicht unmittelbar stufenweise aufgelöst werden. In Anbetracht der häufig pentatonisch gestaltenen Gesangslinien definiert er ‚Stufe‘ dabei nicht ausschließlich als kleinen oder großen Sekundschritt. Von einer Stufe lasse sich ebenso sprechen, wenn Bewegungen zwischen Tönen, die auf pentatonischen Skalen benachbart sind, stattfinden (vgl. Temperley 2007: 327). Bei der Analyse von eigenständigen Melodietönen gelte es im Allgemeinen drei Bezugsebenen zu berücksichtigen: die des gerade erklingenden Akkordes, die der lokalen Harmoniefolge (z.B. innerhalb von Patterns oder Sektionen) sowie die der Tonart, die dem Song zugrunde liegt. Ein ‚unaufgelöster‘ Ton B über einen F-Dur-Akkord im Kontext eines an G orientierten Abschnitts, wie er in Elton Johns Saturday Night’s Alright for Fighting (1973) zu finden ist („get here“), sei zwar vom Akkord, nicht aber von der lokalen Harmonie unabhängig. Im Vergleich dazu hebe sich in Oasis’ D’Know What I Mean (1997) der ‚unaufgelöste‘ Ton H, den Liam Gallagher in der auf Fis bezogenen Strophe über einen A5-Akkord singt („at dawn“), gleich in mehrerer Hinsicht ab (vgl. ebd.: 325, 328).12 Über den Effekt dieser exponierten Klänge herrscht in der Literatur eine gewisse Uneinigkeit. Für Everett werden sie vom Hörer hauptsächlich als Spannungselemente wahrgenommen und geschätzt (vgl. Everett 2000: 315). Temperley hingegen ist der Meinung, dass Situationen, in denen Melodie und Harmonie kurzzeitig voneinander abgespalten sind und die dergestalt eine Art ‚geschichtete‘ Tonhöhenorganisation 12
Beide Gesangslinien basieren auf einer pentatonischen Moll-Skala.
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(‚stratified pitch organisation‘) widerspiegeln, nicht zwangsläufig als instabile Dissonanzen gehört werden. Sofern ein passender Kontext etabliert ist, können unaufgelöste Nicht-Akkordtöne auch für sich stehen, ohne Spannung oder Unvollständigkeit zu vermitteln (vgl. Temperley 2007: 330). Eine zusätzliche Erkenntnis, die Temperley aus seinen Songanalysen zieht, ist diejenige, dass die Bindung von Melodie und Harmonie fast ausschließlich in den Strophen in Frage gestellt wird. Er bezeichnet dies als ‚looseverse/tight-chorus‘-Modell, das sich als Ausdruck des Kontrastes zwischen Einheit und individueller Freiheit deuten lasse: „Most often, stratified pitch organisation involves a pentatonic melody, and it normally occurs in verses of songs rather than choruses. A particularly common situation is where the verse of a song features stratified organisation, followed by a chorus which shifts to a ‚unified‘ organisation in which both melody and accompaniment are regulated by the harmonic structure. This strategy could be seen to express a tension between individual freedom (represented by the verse) and coordinated unity (represented by the chorus)“ (ebd.: 339-340).
Im Großen und Ganzen eröffnen Temperleys Untersuchungen weitere fruchtbare Perspektiven einer Hamonieanalyse, die an aktuell populäre Musikformen angepasst ist, wenngleich er mit dem Begriff ‚stratified pitch organisation‘ Anleihen an Fred Lerdahls eher konventionell gedachtem System eines ‚Tonal Pitch Space‘ nimmt (siehe Lerdahl 2001). Lerdahls Konzeption basiert auf den gemeinsam mit Ray Jackendoff entwickelten Theorien in A Generative Theory of Tonal Music (1983), die ich zu Beginn meiner Ausführungen zur Rhythmusanalyse kurz skizzieren möchte.
Rhythmus Lerdahl/Jackendoff habe ich bis jetzt deswegen kaum erwähnt, da ihr Fokus dezidiert auf die Wahrnehmungseigenschaften klassisch geschulter bzw. ‚perfekter‘ Rezipienten (vgl. Lerdahl/Jackendoff 1983: 3) gerichtet ist. Ihr Vorhaben ist geprägt vom Paradigma größtenteils ‚top-down‘ geleiteter Reduktionsprozesse in hierarchisch aufgebauten Strukturen tonaler Kunstmusik, die es dem Hörer ermöglichen, Musik im Sinne einer grammatikalischen Ordnung zu gliedern.13 Ausgehend von der musikalischen Oberfläche definieren Lerdahl/Jackendoff vier Formen der funktionsharmonischen und/oder metrisch-rhythmischen Organisation – ‚Grouping Structure‘, ‚Metrical Structure‘, ‚Time-span reduction‘, ‚Prolongational reduction‘ –, in denen jeweils die Regeln der Wohlgeformtheit und Präferenz wirksam werden. Mein Interesse gilt im Speziellen den Möglichkeiten zum Visualisieren von Akzentuierungen, die sie im Kontext metrischer Strukturcharakteristika entwickelt haben. Die Autoren unterscheiden diesbezüglich zwischen phänomenalen, metrischen und strukturellen Akzenten (vgl. ebd.: 17-21). In die erstgenannte Kategorie falle jegliches Ereignis, das aus dem kontinuierlichen musikalischen Oberflächengeschehen heraustrete und 13
Für eine detaillierte Zusammenfassung und Kritik siehe bspw. Fuß 1995, Pfleiderer 2006.
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dergestalt, etwa aufgrund von signifikanten Veränderungen in Lautstärke, Artikulation, Dynamik, Klangfarbe, Ambitus, Tondauer etc., für eine erste perzeptive Segmentierung sorge. Vermittle die Abfolge dieser betonten Events den Eindruck von Regelmäßigkeit, so werde ein metrisches Akzentmuster ausgebildet, an dem sich der Rezipient fortan orientiere. Solch ein virtuell vorhandener Grundpuls aus äquidistanten Schlägen (‚beats‘) ist für Lerdahl/Jackendoff die Voraussetzung, um metrische Akzente in hierarchische Beziehungen setzen zu können. Für die Entstehung einer metrischen Hierarchie sei die Alternation schwerer und leichter Schläge erforderlich, da sich höhere hierarchische Ebenen in der Regel aus den schweren Schlägen der jeweils darunterliegenden zusammensetzen und die Pulsation binär oder ternär gegliedert werde. Diese Strukturen können mit dem hierfür entworfenen Notationssystem veranschaulicht werden, wie eine exemplarische Bassstimmenanalyse von den Strophen der zwei bereits erwähnten Songs zeigt:14
Abb. 13: Eigene Anwendung des Modells metrischer Hierarchie von Lerdahl/Jackendoff.
Beide Beispiele offenbaren metrische Strukturen, die von Jackendoff/Lerdahl in einem späteren Artikel als charakteristisch für westafrikanische Musik oder Volksmusik aus dem Balkanraum angesehen und in Klassik und Pop als „occasional anomalies“ (Jackendoff/Lerdahl 2006: 41) beschrieben werden (vgl. ebd.: 41-42). So korrespondieren die in Ebene 1 dargestellten Akzente auf 1, 2+, 3+ nur zum Teil mit den prototypischen Betonungsmustern 1 und 3 eines 4/4-Takts und weichen in dieser Form auch von der regelmäßigen Periodizität einer binären oder ternären Gliederung ab. Jackendoff/Lerdahl selbst gelangen in der Analyse der Beatles-Songs Here Comes the Sun (1969) und All You Need is Love (1967) zu ähnlichen Erkenntnissen (vgl. ebd. 8):
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Die abwechselnd variierende Punktgröße im Grundpuls ist eine Erweiterung des Modells von Lerdahl/Jackendoff und dient zur besseren Unterscheidbarkeit der Zählzeiten.
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Abb. 14: Metrische Irregularitäten an den Beispielen Here Comes the Sun und All You Need is Love (Jackendoff/Lerdahl 2006: 41).
Derartige Irregularitäten werden von Mark J. Butler, im Rahmen seiner Untersuchungen zu Rhythmusmerkmalen elektronischer Tanzmusik, als spezifisch zu betrachtende Phänomene begriffen. Mittels dem auf Jay Rahn (1996) rekurrierenden Begriff ‚diatonic rhythms‘ beschreibt Butler rhythmische Patterns, die eine geradzahlige Zeiteinheit asymmetrisch unterteilen, wie etwa die Pulsgruppierungen 3+3+2 oder 3+3+3+3+4 innerhalb der Dauer einer ganzen Note (vgl. Butler 2006: 81-89). Die Besonderheit diatonischer Rhythmen sei, dass die Anzahl der Betonungen zwar in einem ungeraden Verhältnis zur segmentierten Zeiteinheit stehe, die Verteilung allerdings gleichmäßig sein müsse. Eine 16 Pulsschläge gliedernde Abfolge 3+2+4+3+4 erfülle das Prinzip der „maximal evenness“ (ebd.: 84) demnach nicht. Aufgrund ihrer Kompatibilität zu gänzlich regelmäßigen Rhythmen bieten Asymmetrien dieser Art eine Möglichkeit, die rhythmische Eindimensionalität des gerade in Popmusik dominierenden 4/4-Takts um zusätzliche Facetten zu erweitern, ohne die Rezipienten durch komplexe Polyrhythmik etwaig zu überfordern. So zeigt Traut in einer Analyse von Hooks aus ca. 150 Charterfolgen der 1980er Jahre, dass das Pattern 2+3+3 in diesen Songs zu den vier meist gebrauchten Akzentmustern zählt (vgl. Traut 2005: 60f. in Pfleiderer 2006: 230-231). Nach der traditionellen Terminologie können diatonische Rhythmen als Unterkategorie der ‚Synkope‘ bezeichnet werden, also einem Gestaltungsmittel, das durch phänomenale Akzentuierungen auf schwachen Zählzeiten für einen Bruch mit der metrischen Ordnung sorgt. Das Taktgefüge kann hierdurch in unterschiedlichem Maße beeinflusst werden, von stabilen Backbeat-Betonungen im Rock-Schlagzeug (vgl. Temperley 1999) bis hin zu vielschichtigen und variierenden Verschiebung im Break-Beat oder Funk (vgl. Butler 2006). Synkopierte Rhythmen benötigen per Definition allerdings stets eine etablierte metrische Ordnung, zu der sie ihre kontrastierende Wirkung entfalten, wohingegen diatonischen Rhythmen von Rahn und Butler ein gewisser Grad an struktureller Eigenständigkeit zugewiesen wird (vgl. Butler 2006: 84). Durch häufige Wiederholungen können diese kurzen Patterns dergestalt selbst die Rolle einer zeitlichen Referenzebene einnehmen:
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„In African music, diatonic rhythms often function as the ‚timeline‘, a repeating pattern (usually played on a bell or similar instrument) that serves as the rhythmic foundation of a piece of music. In this context, therefore, a seemingly irregular, asymmetrical pattern functions as the timekeeper rather than an even, pure-duple drum beat“ (Butler 2006: 89).
Nun sind markante, zyklisch wiederkehrende und Orientierung schaffende Rhythmusfiguren auch für die Popularmusikforschung keineswegs neuartige Phänomene und werden vor allem als charakteristisches musikalisches Merkmal von ‚Groove‘ in den Fokus gerückt (siehe z.B. Ziegenrücker/Wicke 1989, Middleton 1999, Pressing 2002, Klingmann 2010, Rappe 2010, Pfleiderer 2010). Gerischer (2010) erweitert in diesem Kontext die Hierarchiediskussion um die Frage, inwieweit die Annahme eines präzisen und regelmäßigen Rasters, an den Untersuchungen zur Grooverfahrung nicht selten ausgerichtet sind, zielführend ist. „Exaktes Timing, eine durchgängige gleichmäßige Pulsation, ein steady Beat werden häufig als erste Bedingung für Groove genannt oder empfunden. Bedenkt man jedoch die mikrorhythmische Gestaltung aller involvierten Pattern und berücksichtigt, dass sie in Interaktion und Kommunikation mit anderen Musikern gestaltet und phrasiert werden, dass musicking insgesamt ein Prozess und nicht die Realisierung exakter Vorgaben ist, dann scheint mir das gleichberechtigte Nebeneinander der genannten Faktoren wahrscheinlicher als eine hierarchische Vorstellung, die eine Bedingung über andere setzt“ (Gerischer 2010: 12).
Für Gerischer steht das Wahrnehmen von Groove in engem Zusammenhang mit dem populärer rhythmischer Musik von Charles Keil (1987) zugeschriebenen Prozesscharakter. Unter Bezugnahme auf Studien von Aschersleben et al. (2000) und Todd et al. (1999) merkt sie an, dass die Tendenz, einen Rhythmus mit einer regelmäßigen Pulsation zu synchronisieren und ihn eventuell als Groove wahrzunehmen, weniger auf allgemeingültigen neuronalen Gegebenheiten, im Sinne einer ‚inneren Uhr‘, beruht, sondern vielmehr auf erlernten kognitiven Schemata, die es dem Bewegungsapparat erleichtern, „energetisch günstige Steuerimpulse zu generieren“ (Gerischer 2010: 15). Auf welche Art und Weise ein Rhythmus im Allgemeinen und Groove im Speziellen gehört werde, hänge infolgedessen von Prozessen der kulturellen Aneignung ab, was zur Konsequenz habe, dass auch die jeweilige Pulsation unterschiedlich ausgeprägt sein könne. Gerischer schlägt aus diesem Grund vor, Rhythmusphänomene generell nicht alleine über (mikrorhythmische) Abweichungen von einem spezifischen Raster sowie etwaigen Regel- oder Unregelmäßigkeiten zu analysieren, sondern gleichermaßen als „‚Gestalt‘, im Sinne einer rhythmischen Folge“ (ebd.: 16) ins Blickfeld zu nehmen: „Demnach ist jede Verlängerung oder Ausdehnung eines Impulses gegenüber anderen eine Art der Betonung. Wenn die Interonset Intervalle, also die Abstände zwischen einzelnen Akzenten größer sind, nehmen die jeweiligen Impulse mehr Platz innerhalb einer Struktur ein und genießen somit größere Aufmerksamkeit. [...] Die Dehnungen und Stauchungen innerhalb eines Zyklus beschreiben einen Spannungsauf- und -abbau, auch dieser kann bezüglich seiner Wirkung interpretiert werden“ (ebd.).
Prozessorientierte Analyse
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Sowohl das oben beschriebene Konzept diatonischer Rhythmen als auch die von Gerischer angedeutete Wirkung gestaltimmanenter Relationen geben Anlass, das prozessorientierte Modell Christopher Hastys als zusätzliche Möglichkeit zur Analyse in Betracht zu ziehen: „From a perspective of process, however, events are intrinsically relational and are constituted by relationship“ (Hasty 1997: 106).
Obgleich Hastys Bestrebungen in erster Linie auf metrisch höchst irreguläre Kompositionen des 20. Jahrhunderts ausgelegt sind (vgl. ebd.: 237), zeigt Butler am Beispiel des Synthesizer-Motivs vom 808-State-Song Cubik (1990), wie eine Analyse unter dem Aspekt metrischer Projektionen auch in tendenziell eher regelmäßiger Popmusik interessante Perspektiven eröffnet (vgl. Butler 2006: 102-105):15
Abb. 15: Projection am Beispiel Cubik (Butler 2006: 102, 104).
In der ersten Zeile wird das Original-Riff des Tracks – dieses erklingt zunächst solo, dann in Kombination mit Hi-Hat-Sechzehntel- und Bassdrum-Viertelschlägen – auf zwei verschiedenen Hierarchieebenen veranschaulicht. Die gänzlich symmetrischen Patterns der zweiten Zeile dienen als hypothetische Vergleichsbeispiele. Anhand der Buchstaben Q, R, S, T und den dazugehörigen durchgezogenen Pfeilen wird das projektive Potential eines Events symbolisiert. Ob die jeweils folgenden Events die projizierte Tondauer übernehmen, kann durch die Buchstaben Q', R', S', T' und den gestrichelten Pfeilen überprüft werden. 15
Die vertikalen Striche oberhalb der Notenlinien weisen auf die Funktionen Beginning (I), Continuation (/) und Deferral (/-/) hin und spielen insbesondere in ternären Rhythmen eine relevante Rolle. Siehe hierzu im Detail Hasty 1997: Kapitel 9.
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Ansätze zur Analyse
Links oben ist ersichtlich, dass für Butler die zu Beginn des Patterns ermöglichte Erwartung einer regelmäßigen ternären Teilung unerfüllt bleibt, da die projizierte Tondauer R' vorzeitig unterbrochen wird. Auf niedrigerer Hierarchiebene sei der letzte Ton hingegen zu lange, um in einem quinären Metrum, das in elektronischer Tanzmusik dieser Art auch relativ unüblich wäre, vollständig aufzugehen (vgl. ebd.: 103). Der Unterschied zwischen diesen beiden Interpretationsweisen besteht im Grad der Inkompatibilität zu den angenommenen Projektionen. Während im ersten Fall eine Projektion höherer Ordnung, die zudem relativ lange Notenwerte beinhaltet, frühzeitig gestört und tendenziell nicht weitergeführt wird16, so ist die abweichende Tondauer in einer nichthierarchischen, schrittweisen und bereits etablierten Fortschreitung eher als strukturierende Schwankung in einem kontinuierlichen Prozess auszulegen.17 Mit dieser Annahme, die über Butlers Analyse hinausreicht, greife ich Hastys Ausführungen zur kontextabhängigen Einschätzung zeitlicher Fluktuationen auf, in denen er zwischen Merkmalen der Länge und der Geschwindigkeit differenziert (vgl. Hasty 1997: 87f.). Eine Abweichung von der projizierten Tondauer könne, abhängig von der jeweiligen Hörintention, sowohl als ‚interruption‘ wie auch als ‚acceleration‘ oder ‚deceleration‘ empfunden werden: „The decision to hear acceleration or interruption depends, in part, on our interest or purposes. If we expect a third sound, C, or if our interest is directed toward continuation, a feeling of acceleration will serve for prediction“ (ebd.: 88).
Unter diesem Blickwinkel ist die Nicht-Realisation von T' weniger im Sinne einer Zäsur zu interpretieren, sie stellt vielmehr ein dynamikerzeugendes Gestaltungsmittel dar, das ein ansonsten konstantes und vorwärtstreibendes EDM-Gefüge an strukturell wichtigen Stellen – das Phrasenende wird rhythmisch gekennzeichnet – ausdehnt. Hier kommt hinzu, dass in jedem vierten Phrasenende eine als Auftakt fungierende Achtel hinzugefügt und somit das Metrum weiter ‚symmetriert‘ wird. Wie Butler anmerkt, ist der von Hasty propagierte Perspektivenwechsel in Richtung eines ‚rhythmischen Metrums‘ vor allem dafür geeignet, die positiven Attribute rhythmischer Gestaltung herauszuarbeiten und, gemäß Gerischers Forderung, etwaige Diversitäten gegenüber eines statischen Bezugssystems erst einmal auszublenden (vgl. Butler 2006: 105). Er kritisiert Covach (1997) und Temperley (1999) für die pauschale Annahme, dass in Rockmusik üblicherweise die als Begleitinstrumente titulierten Bass und Schlagzeug das metrische Fundament darstellen und die eigentliche rhythmische Gestaltung, den ‚Grouping Structures‘ von Lerdahl/Jackendoff folgend, den Melodiestimmen vorbehalten sei. Die analytische Betrachtung bleibe als Konsequenz verhältnismäßig einseitig (vgl. Butler 2006: 98): 16 17
Ein Beispiel für eine frühzeitige Unterbrechung findet sich bei Hasty 1997: 88, Abb. 7.3c. „In this case, Q′ will be denied complete realization“ (ebd.). Die Wahrnehmung einer Quintole würde in diesem Fall erst retrospektiv entstehen.
Prozessorientierte Analyse
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„He [Temperley] treats the drums and other accompanying instruments as ‚meter‘ – fixed, predictable, and therefore inherently uninteresting (he never transcribes them) – and the solo melody as ‚rhythm‘ – syncopated, and changing from measure to measure (altough ultimately reducible to the same ‚deep structure‘ as the meter)“ (ebd.). 18
Dass diese Verengung des Rhythmusbegriffs dem gestalterischen Potential der Rhythmusabteilung [sic!] scheinbar geradliniger Rockmusik, auch abseits diverser Crossoveroder Progressive Rock-Spielarten, kaum gerecht wird, zeigt sich exemplarisch an Songs wie Lust for Life (Iggy Pop 1977), Longview (Green Day 1994) oder Come Together (Beatles 1969), in denen die Schlagzeug- oder Bassakzentuierungen erheblich zur Wiedererkennung beitragen. Nach Pfleiderer werden „synkopierte Akzentmuster bisweilen auch dann zu Hooks, wenn sie zwar nicht die Melodiestimme bestimmen, aber als Basis der instrumentalen Begleitung fungieren“ (Pfleiderer 2006: 231). Die hierarchisierende Trennung von Melodie- und Begleitstimmen greift insbesondere dort zu kurz, wo die Bedeutsamkeit der Melodie vermindert ist oder eine heterogene Struktur im Vordergrund steht. Auf Hip Hop bezogen weist Michael Rappe dem Bass nicht nur die Stellung einer grundlegenden rhythmischen Einheit zu, sondern sieht ihn allgemein als musikalisches Fundament, über den sich einzelne Grooveelemente „verzahnen“ (Rappe 2010: 7) – „Melodie und Harmonik sind untergeordnet bzw. auf ein Minimum reduziert (Brackett 1995; Vincent 1996; Easlea 2004)“ (ebd.). In den perkussionsorientierten Texturen vieler EDM-Ausprägungen ist hingegen die Bindung an eine dominierende Stimme häufig zur Gänze aufgehoben und die verschiedenen Rhythmuslinien verlaufen gleichberechtigt neben- und gegeneinander. Die wenigen melodischen Elemente, wie bspw. Riffs im Techno, erfüllen nicht selten auch eine perkussive Funktion (vgl. Butler 2006: 93). Zusammenfassend ist weder die Annahme eines imaginären Pulsrasters noch das dichotome Konzept von ‚rhythmischer Melodie‘ gegenüber ‚metrischer Begleitung‘ immer geeignet, die verschiedenartigen Facetten rhythmischer Gestaltung in populärer Musik verständlich zu machen. Ebenso unvollständig wäre allerdings ein Zugang, der kulturspezifische Betonungsordnungen oder kategoriale Rhythmuspatterns unberücksichtigt lässt. Denn ohne Zweifel spielt zumindest bei westlicher Musik die „abendländischen Akzentmetrik“ (Pfleiderer 2003: 23) und die damit assoziierten zeitlichen Orientierungsmerkmale, wie etwa der Akzentstufentakt oder fortlaufende, ganzzahlige Proportionen (vgl. Snyder 2006: 177-183), eine nicht unwesentliche Rolle. Anleihen aus Jackendoff/Lerdahl und Hasty ermöglichen es, hierarchisch-kategoriale Zusammenhänge aufzuzeigen und dabei die eigenständige Bewegung einzelner Rhythmuslinien ebenso miteinzubeziehen. Veränderungen im relativen Verhältnis der Tondauern können dar18
Wie schon angedeutet, stellt die hier in Frage gestellte Dichotomie von Rhythmus und Metrum eine zentrale Grundannahme von Lerdahl/Jackendoffs Theorie dar und schlägt sich insbesondere in der Unterscheidung von (melodiebezogener) Gruppierungstruktur und Metrumsstruktur nieder: „In der Generativen Theorie tonaler Musik lebt die Unterscheidung zwischen Rhythmus und Metrum fort. Was bislang Rhythmus genannt wurde, heißt nun allerdings Gruppierung“ (Pfleiderer 2006: 129).
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Ansätze zur Analyse
über hinaus als Charakteristika von rhythmischen Konturen interpretiert und, in Analogie zur Tonhöhenkontur, anhand metaphorischer Distanzkonzepte beschrieben werden (vgl. Dowling/Harwood 1986, Snyder 2006). Was bei den vorgestellten Melodie- und Rhythmuskonzepten insgesamt auffällt ist, dass bestimmte Aspekte des Klingenden weiterhin außen vor bleiben. In Bezug auf Rhythmus macht Peter Petersen darauf in der Einleitung zur seiner Komponententheorie aufmerksam: „Überfällig ist eine vollumfängliche Theorie der Zeitverhältnisse in Tonsätzen, die potentiell alle Klangsignale als dauer- und somit auch als rhythmusgenerierend anerkennt. Es ist eine fragwürdige Konvention, Tonfolgen als rhythmusbildend gelten zu lassen, Abfolgen anderer Klangsignale aber nicht (z. B. den Wechsel von Tonhöhe, Intervallrichtung, Lautstärke, Klangfarbe)“ (Petersen 2010: 7).
Gerade bei prozessorientierten Ansätzen und ihrer verstärkten Ausrichtung an kognitiven Vorgängen finde ich es zu kurz greifend, Charakteristika der Klangfarbe, Artikulation oder Dynamik bloß am Rande zu erwähnen und sie wenn nur mittels abstrakter Notationssymbolik abzubilden, anstatt z.B. auf die Möglichkeiten messtechnischer Verfahren zurückzugreifen. So kann die Gruppierung von melodischen oder rhythmischen Einheiten erheblich von Obertonstrukturen und Hüllkurvenspezifika beeinflusst werden, gleichermaßen wie das Empfinden von Intensität oder Spannung wohl nicht ausschließlich aufgrund der ‚attack points‘ von Basistönen entsteht.
Textur Auch Wallace Berry weist im Fazit seines Texturkapitels auf die Wichtigkeit solcher klanglichen Spezifika hin und kritisiert deren unzulänglich analysierten strukturellen Einfluss: „It should be said again that literatures involved with the study of musical elements other than tonality and harmony (especially those independent of specificity of PC content) leave much yet to be done. Texture and color (timbre, articulation, dynamic intensity, registral coloration etc.) have been much too little explored in their structural implications. We need especially to understand process better, exploring all musical events as to their expressions of such fundamental structural functions as progression and recession“ (Berry 1987: 294).
Bedauerlicherweise wird Berry seiner eigenen Forderung nach einer verstärkten Kenntnisnahme nur bedingt gerecht, leitet er seine Erkenntnisse doch fast zur Gänze von konventionell notierten Gegebenheiten ab. Dementsprechend unzureichend bleibt die Auseinandersetzung mit den z.B. im Kontext interlinearer Relationen so dezidiert hervorgehobenen Aspekten „color, spatial distance and compression, dynamic and articulative distinction“ (Berry 1987: 213). Dies äußert sich zunächst in der undifferenzierten Verwendung des Begriffs ‚color’, der einerseits, siehe Zitat oben, als Übergriff fungiert, andererseits als zumeist relativ vager Hinweis auf registerbezogene Strukturmerkmale. Berry verabsäumt es, adjektivisch oder physikalisch zu beschreiben, wodurch der Klang
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jeweils charakterisiert ist, und beschränkt sich darauf, allgemein hervorzuheben, dass die Klangfarbe in speziellen musikalischen Konstellationen, wie etwa beim monophonen Zusammenklang unterschiedlicher Orchestergruppen, von hoher Relevanz und ästhetisch wertvoll ist: „The second quotation (m. 6) is given in illustration of a single voice heavily underscored in coloration and sonority. It is, of course, an extremely potent monophonic statement, with a variety of colors and articulations. [...] The texture changes neither in density nor in class. But the coloration is curved in a manner beautifully complementary to the downward-upward curve and rhythmic recession of the line“ (Berry 1987: 199).
Er grenzt ‚spatial distance and compression‘, mit Ausnahme des einem Pianoakkord von Weberns Four Pieces Op. 7 zugewiesenen Obertonreichtums, auf Basistonverhältnisse ein, und auch die überwiegend auf Spielanweisungen bezogene ‚dynamic and articulative distinction‘ spiegelt das Verhältnis verschiedener Texturschichten nur teilweise wider, da pegel- oder intonationsspezifische Aspekte nicht berücksichtigt werden. Es erscheint spekulativ, ob sich Berry mit den heutzutage vergleichsweise zugänglicheren technischen Möglichkeiten zur Klangvisualisierung, die z.B. diverse SpektralanalyseSoftwarelösungen bieten, stärker am Klingenden orientiert hätte. Zumindest deutet er an, dass der Umfang, den er Merkmalen der Klangfarbe beimisst, nicht deren strukturell-funktioneller Bedeutung entspricht (vgl. ebd.: 20), und nennt als Begründung für die fehlende Analyse elektronischer Musik explizit den Mangel eines adäquaten Modus zur grafischen Repräsentation (vgl. ebd.: 21). Das Übernehmen von Berrys Texturkonzept für die Analyse populärer Musik würde wohl des Öfteren seine Annahme einer „textural uneventfulness“ (ebd.: 293) unterstreichen, da zudem auch perkussive Elemente komplett außen vor gelassen werden. Eine der wenigen diesbezüglichen Erwähnungen von Berrys Konzept findet sich bei Woloshyn (2010), die sich in ihrem als Wallace Berry’s Structural Processes and Electroacoustic Music betitelten Artikel aber darauf beschränkt, Berrys Methode allgemein zu beschreiben. Ein weiteres Problem sehe ich in seiner äußerst heterogenen und wenig systematischen Herangehensweise beim Untersuchen der verschiedenen Texturaspekte. So ist die breit gestreute Auswahl von Werken verschiedenartiger Komponisten und Epochen – von der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts bis hin zu Zwölftonkompositionen Dallapiccolas – zwar grundsätzlich positiv zu bewerten, die kapitelweise divergierende Stück- bzw. Ausschnittsauswahl wirkt allerdings stark vom singulären Nachweis einer spezifischen Texturqualität geleitet. Dementsprechend schwierig gestaltet es sich, aus der Vielzahl an beispielbezogenen Parametern ein praktikables Analyseinstrumentarium abzuleiten, wobei auch die Komplexität der verwendeten Begrifflichkeiten sowie die häufig wechselnden Formen der Sachverhalts-Visualisierung dem Verständnis nicht unbedingt zuträglich sind. Gewinnbringend ist bei Berry letztendlich vor allem die grundlegende analytische Herangehensweise, nämlich vorbehaltlos zu hinterfragen, in welchem Verhältnis die an einer bestimmten musikalischen Situation beteiligten Stimmen stehen, ob und warum
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sie mit- oder gegeneinander interagieren und inwieweit dies Auswirkungen auf die Wahrnehmung steigender oder sinkender Intensität haben könnte. Nach Fuß sind zusätzliche Fragestellungen denkbar, die sich mit der Art der Intensitätsentwicklung (exponentiell, linear), der Relation zwischen Unterbrechung und Kontinuität sowie der Verknüpfung sukzessiver Prozesse auseinandersetzen (vgl. Fuß 1995: 98).
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Entwurf eines musikanalytischen Baukastensystems
Entwurf eines musikanalytischen Baukastensystems
Angenommen, man hat Hinweise darauf, dass bestimmten Menschen ein Song deswegen gefällt, weil sie ihn als innovativ, druckvoll, eingängig und tanzbar empfinden, so steht man vielleicht dennoch vor dem Problem, nicht zu wissen, wo man beim Analysieren des Klingenden beginnen kann. Welche Songpassage, welche Stimme(n), welches Gestaltungsmittel soll mit welchen Methoden und in welchem Detailgrad analysiert werden? Hilfreich wäre hier eine Systematik, die Orientierung bietet, die verschiedene Möglichkeiten zum Zergliedern des Klingenden vorzeichnet und ebenso Vorschläge liefert, wie die Teilaspekte wieder zusammenfügt werden können. Mit anderen Worten wäre ein musikanalytisches Baukastensystem gut, mit dem sich ein zur Fragestellung passender Erkenntnisweg individuell zusammenstellen lässt. Einer der wenigen Ansätze, die in diese Richtung gehen, ist in Martin Pfleiderers Artikel Gestaltungsmittel populärer Musik. Versuch einer Systematik (2003) zu finden. Sein Ziel ist es, den inneren Zusammenhang der „klanglichen Dimensionen der Musik“ (ebd.: 18) aus der Perspektive des Hörers zu systematisieren, wodurch er sich von Herangehensweisen unterscheiden möchte, bei denen musikalische Parameter anhand von ‚AnalyseChecklisten’ bloß aufgelistet und deren Wechselbeziehungen außen vor gelassen werden (siehe z.B. Jerrentrupp 1981, Tagg 1985, Schoenebeck 1987, Budde 1997). Er schlägt sechs Gestaltungsmittel vor, auf die man sich beim Analysieren konzentrieren kann: erstens die Textur, die er auch als ‚Gesamt-Klangbild‘ bezeichnet, und die dem undifferenzierten ersten Höreindruck entspreche. Für das Texturempfinden seien strukturelle Details oder stiltypische Schemata und Konventionen weniger wichtig als die Klangintensität und -dichte im zeitlichen Verlauf, die Dichte und Intensität der spektralen Energieverteilung sowie die räumliche Verteilung der Klänge, im Sinne von links-rechts oder fern-präsent (vgl. ebd.: 20-21). Durch die Eigenheiten der beteiligten Instrumental- und Vokalstimmen untergliedere man das Gehörte üblicherweise in gegeneinander abgrenzbare Klangströme oder Klangschichten, die einzeln oder gemeinsam für Intensitätssteigerungen/-abnahmen als auch für Brüche oder Zäsuren in der Gesamttextur sorgen können (vgl. ebd.: 22). Pfleiderers Texturverständnis ist dem von Wallace Berry demnach nicht unähnlich. Zweitens lassen sich Klangfarbe und Artikulation untersuchen, die eng mit Parametern wie Dynamik, Instrumentierung, Registerlage oder Geräuschanteil zusammenhängen. Der Begriff Klangfarbe umfasse im engeren Sinne die spektrale Energieverteilung von stationären Klängen/Geräuschen und Texturen, zu berücksichtigen gelte es aber ebenso, wie sich das Frequenzspektrum im zeitlichen Verlauf verändert. Zusätzlich zu melodischen und rhythmischen Gestaltungsmittel führt Pfleiderer die harmonische Gestaltung sowie die Formgestaltung in seiner Systematik an. Bei der Formwahrnehmung sei stets das Langzeitgedächtnis beteiligt, da er mit Form musikalische Einheiten meint, die über die zeitlichen Grenzen des Kurzzeitge-
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dächtnisses hinausreichen, und die durch melodische und harmonische Abläufe, durch Veränderungen in der Klangtextur oder Wechsel in der Instrumentierung, Lautstärke und Ereignisdichte abgegrenzt sein können (vgl. ebd.: 26). Die Systematik von Pfleiderer bietet eine gute Zusammenschau, an der ich mich bei meinem Entwurf eines Analysebaukastens anlehnen werde und die ich in mancherlei Hinsicht modifizieren möchte. Zunächst erachte ich es aus Übersichtsgründen als sinnvoll, beim Analysieren zwischen drei Beschreibungs- und Darstellungsebenen zu unterscheiden. Die Anregung dazu kommt von Kai Stefan Lothwesen, der für das Ordnen stiltypischer Merkmale von zwei Techno-Tracks eine Unterscheidung in Mikro- und Makrobereich trifft: „Der Makrobereich kennzeichnet das Stück selbst und dessen formale Abschnitte, der Mikrobereich umfasst deren innere Gestaltung“ (Lothwesen 2008: 74).
Im Mikrobereich spricht Lothwesen von ‚Elementen‘, die er als die einzelnen Teile der Instrumentation begreift. Durch mehrtaktige Wiederholungen eines Elements entstehen ‚Patterns‘, die im Makrobereich eine strukturbildende Wirkung haben und ein Stück in formale Abschnitte gliedern (vgl. ebd.). Lothwesens Grundidee soll nun ausgebaut und terminologisch geschärft werden. Anstelle der Begriffe ‚Makro-‘ und ‚Mikrobereich‘, von denen vor allem der zweite missverständlich ist, da man ihn auf wortwörtlich ‚mikroskopische‘ Phänomene wie etwa Mikrotiming reduzieren könnte, schlage ich die folgenden drei Analyseebenen vor: ‚Oberfläche‘, ‚Einzelstimmen‘ und ‚EinzelstimmenWechselbeziehung‘. Bevor ich meinen Entwurf einer Analysesystematik präzisieren werde, gilt es kurz noch einmal die Besonderheiten einer musikanalytischen Auseinandersetzung sowie der damit (meist) einhergehenden Transkription zu thematisieren. Grundlage von Analysen ist üblicherweise das Hören des musikalischen Untersuchungsgegenstands. 1 Abgesehen von der Subjektivität dieses Hörerlebnisses, derer sich der Analysierende bewusst sein und dem Leser entsprechend kommunizieren sollte (siehe weiter unten sowie Kapitel 5), stellt das analytische Hören eine ganz spezifische, auf vertiefendes Erkennen und Verstehen ausgerichtete Wahrnehmungsweise dar, die nicht unbedingt dem Hörzugang der Rezipienten zur untersuchten Musik entsprechen muss. Sofern die Interpretation der analytischen Erkenntnisse rezeptionsorientiert ist, wie im Falle der vorliegenden Arbeit, so sind demnach, abhängig von der Fragestellung, unterschiedliche Formen des Umgangs mit bzw. des Hörens von Musik in Betracht zu ziehen (siehe Kapitel 2) als auch „die eigene Hörerfahrung durch die Zeugnisse anderer [...] zu stützen bzw. zu erweitern“ (Pfleiderer 2006: 31). Wie André Doehring bemerkt, sind Musikwissenschaftler
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Dass dies nicht zwangsläufig der Fall sein muss, zeigen bspw. die in Kapitel 2.2 skizzierten Ansätze zur automatischen Klassifizierung von Audioaufnahmen (MIR).
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schließlich nicht die einzigen Menschen, die intensiv Musik hören und bestimmte Aspekte daraus zur Grundlage einer Interpretation machen: „For example, focusing on the field of EDM, these [every day] analyses might ask if the music is good for dancing (even while dancing), if they want to listen to it again and buy the record (or download it from the Internet) or what might happen if the track is played at a specific time and place to a specific audience?“ (Doehring 2015: 138).
Der Vorgang des Analysierens kann ganz allgemein als Lernprozess verstanden werden, im Zuge dessen eine Reflexion des eigenen Musikerlebens stattfindet und ein Bewusstsein für die Einflüsse und Veränderungen von persönlicher Hörerfahrung, schematischer Wahrnehmung, körperlicher und emotionaler Reaktionen u.Ä. zu entwickeln ist (vgl. Pfleiderer 2006: 32). Für Doehring ist das Kriterium, das ‚wissenschaftliche‘ von ‚nicht-wissenschaftlichen‘ Analysen unterscheidet, der Anspruch an Objektivität bzw. Intersubjektivität, Konsistenz, Überprüfbarkeit und Diskursivität (vgl. Doehring 2015: 138, Fußn.). Um diesen Erfordernissen nachzukommen und die erfassten Hörinhalte angemessen und nachvollziehbar vermitteln zu können, greift der Wissenschaftler im Regelfall auf die Möglichkeit der grafischen Repräsentation von Klängen zurück. Diese seien zwar, so Simon Obert, „angesichts des realisierten und und hörbaren Klangs eine nachgerade lächerliche Krücke“ (Obert 2012: 17), ohne sie komme man als Analytiker aber kaum aus (vgl. ebd.). Die Musikethnologin Doris Stockmann, die sich im Artikel Die Transkription in der Musikethnologie (1979) mit den Eigenheiten und Herausforderungen der Transkription schriftlos überlieferter Musik befasst, macht darauf aufmerksam, dass die musikanalytische Niederschrift stets nur ein unvollkommenes Abbild des Hörinhalts sei. Physikalisch-akustische Parameter wie Frequenzen oder Schallstärken werden zu Empfindungsund Wahrnehmungskategorien umgewandelt, z.B. zu Tonhöhen oder Lautstärken, und komplexe psychophysische Prozesse zum Notenbild ‚umgedacht‘. Das Ergebnis seien niemals direkte Abbilder von akustischen Phänomenen, sondern von Bewusstseinsvorgängen aufgrund akustischer Prozesse (vgl. ebd.: 210). Da die Umwandlung „weder bei jedem Menschen in der gleichen Weise, noch bei jedem einzelnen ein für alle Mal nach denselben festen Regeln erfolgen [muss]“ (ebd.: 213), gebe es zudem vielerlei Ebenen für individuelle Unterschiede im Hör- und Schreibvorgang. Als Beispiele nennt sie unter anderem die vielfältigen Möglichkeiten der Tonhöhendifferenzung und Tondauer- und Rhythmusnotierung, die verschiedenen Bezeichnungsmöglichkeiten von Besonderheiten des Vortragsstils aber auch „so selbstverständlich und klar erscheinende Dinge wie Schlüssel-, Akzidenzien- und Taktvorzeichungen, Transpositionsmodus, Notenwertwahl u.ä.“ (ebd.). Da Transkriptionen stets eine sekundäre, abgeleitete Quellenkategorie seien, fließen subjektive Auffassungen unvermeidlich in die Interpretationen des Aufzeichners ein. Divergenzen seien demnach nicht nur eine Frage des persönlichen Stils, sondern „gehören zur Natur der Sache“ (ebd.: 214).
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Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass keine noch so umfassende und elaborierte Analyesystematik den Anspruch erheben kann (und sollte), durch ihre Anwendung Musik intersubjektiv auf exakt die gleiche Art und Weise darstellen zu können. Des Weiteren ist es kaum möglich, ein Baukastensystem zu entwickeln, mit dessen Hilfe sich erkenntnisbringende Vorgehensweisen für jedwede Musikart und Fragestellung zusammenfügen lassen. Denn natürlich müssen Analysemethoden stets dem Untersuchungsgegenstand und Verstehenshorizont angepasst werden, um etwaig relevante musikalische Faktoren präzise, überschaubar und nicht-verfälschend zu vermitteln. Das im Folgenden vorgestelle Baukastensystem ist demnach weder im Sinne einer analytischen ‚Checkliste‘ noch als ‚Schritt-für-Schritt Anleitung‘ zu verstehen, die dem Analysierenden zielsicher Erkenntnis verspricht und ihm generell adäquate Vorgehensweisen und Vermittlungsformen an die Hand gibt. Vielmehr handelt es sich um einen offenen, aus prozessorientiertem Blickwinkel konzipierten Bezugsrahmen, in dem sich der Analysierende frei bewegen und dessen Komponenten er je nach Fokus (neu) kombinieren, erweitern, vertiefen und verändern kann. Der Mehrwert dieser Systematik besteht also nicht nur darin, Orientierung zu analytischen Methoden und Werkzeugen zu schaffen, sie soll ebenso Impulse dahingehend geben, den Analysevorgang als solchen zu reflektieren, ihn transparenter und somit auch die Ergebnisse vergleichbarer zu machen. Als Leser einschlägiger Texte bleibt man mitunter etwas ratlos zurück, wenn es darum geht, zu erfahren, warum eine bestimmte Fragestellung musikanalytisch in einer bestimmten Reihenfolge, mit einem bestimmten Detailgrad und einem bestimmten Werkzeug untersucht wurde. Hätte ein anderer Ablauf, eine gröbere/feinere Zergliederung oder eine andere Form der Vermittlung bestimmter Sachverhalte zu ähnlichen Interpretationen geführt? Im Zuge dieser einleitenden Anmerkungen möchte ich nun das methodische Konzept, welches den im Baukastensystem vorgeschlagenen Darstellungsmöglichkeiten zugrunde liegt, beleuchten. Diesbezüglich sei zunächst auf die umfangreiche Methodendiskussion in Kapitel 3 verwiesen, in der klargelegt wurde, dass sowohl traditionelle als auch neuere Werkzeuge gewisse Stärken in der analytischen Darstellung haben, aufgrund derer sie im Bedarfsfall in Betracht gezogen werden sollten. So findet die klassische Notenschrift selbstverständlich auch in meiner Konzeption Berücksichtigung, wobei ich auf Vorschläge zur Erweiterung des Zeichenvorrats durch diakritische Zeichen weitestgehend verzichten werde. Hier liegt es wie oben angedeutet im Ermessen des Forschers, inwieweit er es als sinnvoll erachtet, den analytischen ‚Bauteil‘ selbst zu erweitern und auf Zusatzzeichen (siehe z.B. Abraham/v. Hornbostel 1910) zurückzugreifen. Zur Ergänzung des Notenbildes und von messtechnischen Darstellungen schlage ich unterschiedliche Möglichkeiten zur Hervorhebung bzw. zur visuellen Vereinfachung vor, bspw. in Bezug auf melodische Konturen, Akzentmuster oder Artikulationsspezifika. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass insbesondere bei elektroakustischen Verfahren der Messweg nicht über das Ohr des Forschers führt und somit ohne Weiteres keine an sein Bewusstsein gebundene Sachverhalte abgebildet werden (vgl. Stockmann 1979: 221). Obgleich sich auditiv wahrgenommene Eindrücke in vielen Fällen mittels Sona-
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grammen, Wellenformabbildungen usw. illustrieren lassen und dergestalt ihre Vermittlung erleichtert wird, so fußen diese Grafiken nicht unmittelbar auf Höranalysen. Sie können demnach auch selbst neue Erkenntnisse generieren und die Hörweisen des Analysierenden beeinflussen sowie erweitern (etwa hinsichtlich Tonhöhen- und Rhythmuswahrnehmung, Klangerzeugung o.Ä.). Als direkt vom menschlichen Empfinden abgeleitete Transkriptionen sind die in der Systematik vorgestellten Möglichkeiten zur Visualisierung von prozessorientierten Untersuchungsschwerpunkten zu verstehen. Die Grafiken weisen auf ganzheitliche Gruppierungs-, Fortschreitungs-, Intensitäts- und Bewegungswahrnehmungen hin und stellen diese im Sinne von körpernahen, metaphorischen Klangverbalisierungen in relativen Kategorien dar (siehe auch Kapitel 2.5). Ein solches von notenschriftlichen Methoden unabhängiges Verfahren kann als Beitrag zu einem, wie Rolf Inge Godøy mit Blick auf die Analyse des Angebotscharakters musikalischer Gesten fordert, „conceptual apparatus for dealing with holistically experienced musical sound“ angesehen werden: „meaning not score-based ‚analysis‘, but auditive features of real musical excerpts. In such excerpts, several concurrent features such as pitch, loudness, and timbre interact“ (Godøy 2010: 113). Der konzeptionelle Ansatz, Merkmale von Klangverbalisierungen in diese prozessorientierten Abbildungen einfließen zu lassen, wirft die Frage auf, weswegen ich sprachlichen Darstellungen nicht generell den Vorzug gegenüber grafischen ‚Umschriften‘ gebe. Dies umso mehr, als dass populärer Musik zumeist eine schriftlose Überlieferung zugeschrieben wird (siehe z.B. Tagg 1982, Wicke 2003). Mark J. Butler merkt in Bezug auf EDM an: „The visual representation of sound presents another area of concern for the analyst. As a general rule, electronic dance music is not notated. This is equally true both before and after its creation: most producers do not compose tracks on paper, and no one transcribes works for sale to other performers [...]“ (Butler 2006: 21).
Der Umstand, dass visuelle Repräsentationen in der Gestaltung von EDM und vielen anderen populären Spielarten vermeintlich keine große Relevanz haben2 und sie vor allem in der Rezeption keine Rolle spielen, mindert meines Erachtens jedoch nicht ihre Vorzüge in der differenzierten und vergleichbaren Deskription von musikalischen Sachverhalten. Worte sind zweifelsohne ein unverzichtbarer Bestandteil von Analysen, da sie es gemäß Stockmann dem Forscher ermöglichen, zu umschreiben und genauer einzu2
Siehe auch Kapitel 3. Pauschale Aussage hierzu sollten generell mit Vorsicht getätigt werden, zieht man die große Menge an ‚Songbüchern‘ zu (vielen) populären Musikformen und Künstlern als auch die stetig steigende Anzahl an Online-Ressourcen mit Noten, Tabulaturen oder Akkordangaben (www.ultimate-guitar.com, www.mychordbook.com, www.jellynote.com, www.hooktheory.com etc.) in Betracht. Zum Beispiel EDM fügt Butler hinzu, dass viele Sequencing Programme texturelle Graphen beinhalten (im Form so genannter ‚piano roll‘-Notationen), die durchaus eine Rolle im Produktionsprozess spielen können (vgl. ebd., Fußn.).
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kreisen, „was in den abstrakten Notationssystemen fehlt oder durch Zeichen nicht unmittelbar sinnfällig ausgedrückt werden kann“ (1979: 220). Ein kompletter Verzicht auf Visualisierungsformen, d.h. in letzter Konsequenz auch auf sich darauf beziehende Beschreibungen wie Notenwerte, Akkordbezeichnungen, Hertzangaben usf., würde die Nachvollziehbarkeit analytischer Untersuchungen ab einem gewissen Detailgrad allerdings erheblich erschweren. Ein entscheidender Faktor dafür, dass Transkriptionen und die darin abgebildeten Klangdimensionen für den Betrachter verständlich und gut greifbar sind, ist freilich deren grafische Aufbereitung. Wichtig erscheint mir dabei nicht nur die Gewährleistung von Zweckmäßigkeit, Prägnanz und Übersichtlichkeit (was z.B. bei Sonagrammen, die häufig angepasst und nachbearbeitet werden müssen, um relevante Ausschnitte aussagekräftig zur Darstellung zu bringen, mit einem nicht zu unterschätzenden Arbeitsaufwand verbunden sein kann), sondern ebenso, dass die Visualisierungen durchgängig gestaltet sind und sich zueinander in Beziehung setzen lassen. So kann es aufschlussreich sein, Notationen und messtechnische Abbildungen in einer gemeinsamen Grafik zusammenzufassen oder sie übereinander zu stellen, um einen Vorgang aus unterschiedlichen Blinkwinkeln zugleich betrachten zu können (siehe z.B. Hähnel 2015). Für das einfache analytische Übertragen von musikalischen Merkmalen bietet sich die konsequente Verwendung von Zeitachsen an, die ich auch bei alternativen Visualisierungsmöglichkeiten zumeist einsetzen werde. Genauere Erklärungen zur Erstellung der Grafiken (Vorgehensweise, Software, Einstellungen etc.) sind in den folgenden Abschnitten als auch im Anhang dieses Buches zu finden.
Analyseebenen Oberfläche Die Oberflächen-Ebene zielt auf den ersten Gesamteindruck eines Musikstückes ab, konkret auf die Anzahl, Anordnung und Dauer der Abschnitte (Abschnittsverlauf), auf Veränderungen im Frequenzspektrum, in der Dynamik, im Tempo und im Stereopanorama (Klangverlauf) sowie auf die Schichtung der Gesangs- und Instrumentalstimmen (Stimmenverlauf). Das Festlegen des Abschnittsverlaufs kommt einem hörenden Herantasten gleich, bei dem man das Stück zunächst in Abschnitte untergliedert und diese benennt (z.B. mittels Buchstaben). Mit Hilfe einer Stoppuhr oder messtechnischer Abbildungen lässt sich dann in Minuten/Sekunden angeben, wann genau die Abschnitte beginnen und wie lange sie dauern. Um den Höreindruck sprachlich zu vermitteln und zu beschreiben, was die einzelnen Abschnitte andeutungsweise charakterisiert, kann auf Adjektiv-Listen aus Hörstudien zurückgegriffen werden (z.B. Thies 1982: 57). Diese grobe Abschnittsgliederung lässt sich anschließend auf Grafiken übertragen, die bestimmte Merkmale des Gesamtablaufs entlang einer proportionalen Zeitachse abbilden. Zum Illustrieren des Stimmenverlaufs bietet sich eine Ablaufgrafik an, in der man die einzelnen Stimmen auf einer vertikalen Achse übereinander schichtet und anhand
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von Linien oder Balken einzeichnet, wann welche Stimme im Verlauf eines Stückes erklingt oder pausiert. Die Abschnitte können ebenso in Sonagramm- oder Wellenformdarstellungen markiert werden, um nachvollziehbar zu machen, ob es Unterschiede in der Lautstärke oder im Frequenzspektrum zwischen den einzelnen Abschnitten gibt. Weitere messtechnische Informationen, die beim Vermitteln von Klangverlaufs-Merkmalen helfen, liefern RMS-Messungen (Durchschnittslautstärke), FFT-Graphen ohne zeitliche Information (Frequenzverstärkungen), Beats per Minute-Angaben (Tempo) oder Phasenanalysen (links/rechts-Verteilung). Wie ausführlich man auf solche Informationen eingeht, und was davon man wie schematisch darstellt (Linien, Pfeile, Farbabstufungen o.Ä.), hängt vom Ziel der Analyse ab. Jedoch gilt es beim Analysieren des Oberflächengeschehens zu berücksichtigen, dass vornehmlich ein grober Überblick gegeben werden soll und die allgemeine Beschaffenheit der Textur im Vordergrund steht.
Einzelstimmen Detailfragen zu einzelnen Klängen und Klangfolgen lassen sich auf einer hypothetischen Einzelstimmen-Ebene untersuchen, bei der ich Melodie, Harmonie, Rhythmus, Stereopanorama, Dynamik, Frequenzspektrum und Artikulation miteinbeziehe. Um das Klanggeschehen zu ordnen, kann als Erstes auf die herkömmliche Notenschrift zurückgegriffen und die melodische, harmonische und rhythmische Gestaltung mit traditionellen Begriffen beschrieben werden. Zum Visualisieren von Akzentuierungen ist eine Darstellungsform ähnlich der von Lerdahl/Jackendoff hilfreich, bei der man unterhalb des im Fünfliniensystem Notierten Punkte einzeichnet, die Betonungen auf unterschiedlichen Hierarchieebenen repräsentieren. Eine ähnliche Vorgehensweise ermöglicht das vereinfachte Darstellen von Melodiekonturen. Indem man die (Grund-) Töne als Punkte abbildet und sie mittels Linien verbindet, wird schnell ersichtlich, wann eine Melodie aufwärts, abwärts oder gleichbleibend verläuft und ob diese Veränderungen sprunghaft oder schrittweise vonstattengehen. Diese eher traditionellen Zergliederungen bieten eine Orientierung, wenn mit messtechnischen Darstellungen und Begriffen der Klangcharakter einer Stimme erklärt werden soll oder mikrorhythmische und mikrotonale Nuancen von Interesse sind. Um bei solchen Analysen den Überblick zu behalten, kann es vorteilhaft sein, zuerst die spektrale Energieverteilung (Frequenzspektrum) zu betrachten und erst dann auf Veränderungen im zeitlichen Verlauf, die ich hier sehr weitgefasst als Artikulation verstehe, einzugehen. Wie zu Beginn von Kapitel 3 schon erwähnt, eignen sich zum Untersuchen in beiden Fällen Sonagramme, sofern die Stimme nicht zu stark überlagert ist, bei der Artikulation unter Umständen auch Wellenformdarstellungen und darauf bezogene Hüllkurven, sofern es Passagen im Stück gibt, in denen die Stimme alleine erklingt. Ob die gut messbaren Klänge oder Klangfolgen repräsentativ für die analysierte Stimme sind, muss anhand des Höreindrucks beurteilt werden, wobei prinzipiell auch Vergleiche
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möglich sind (Stellen mit/ohne der Stimme). Gleiches gilt in Bezug auf Dynamik und Stereopanorama. Vorausgesetzt, man hat genug Informationen gefunden, so kann man auch Merkmale der Artikulation schematisch als ‚Umrisse‘ in einer Ablaufgrafik demonstrieren. Sollen etwa die Geschehnisse innerhalb einer Phrase auf einfache Weise veranschaulicht werden, hat man die Möglichkeit, auf einem Sonagramm den jeweils am deutlichsten hervortretenden Frequenzbereich der Klänge nachzuzeichnen und innerhalb der daraus resultierenden Formen Farbverläufe zu verwenden, um Hüllkurvenspezifika anzudeuten. Blendet man das Sonagramm anschließend aus, so bleibt eine Ablaufgrafik, die das herkömmlich Notierte insofern ergänzt, als dass sie Tonhöhe, Tondauer und Ein/Ausschwingvorgänge ein wenig genauer wiedergibt.
Einzelstimmen-Wechselbeziehung Diese dritte Analyseebene repräsentiert jenen Bereich, in dem die Erkenntnisse zu den einzelnen Stimmen zusammengeführt und deren Wechselbeziehungen untersucht werden können. Von Belang ist hier die Frage, auf welche Art und Weise die Merkmale der Melodie, des Frequenzspektrums, der Dynamik usf. stimmenübergreifend zusammenwirken. Diese Informationen lassen sich mit Beobachtungen zum Gesamteindruck in Verbindung bringen und es kann dergestalt das Oberflächengeschehen auf ‚Darunterliegendes‘ zurückgeführt werden. Die folgende Abbildung zeigt, welche Aspekte das Baukastensystem beinhaltet und wie man sie verknüpfen kann:
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Abb. 16: Aufbau Musikanalytisches Baukastensystem.
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Wie in dieser Übersicht deutlich wird, erweitere ich die oben skizzierten, eher herkömmlichen Analyseverfahren um prozessorientierte Analyseverfahren, die noch stärker auf die Wahrnehmung bezogen sind. Die Idee dahinter ist, dass man zu Beginn einer Analyse nicht gleich nach Stimmenverläufen, Frequenzen, Dezibel, Melodien, Rhythmen u.Ä. fragt, sondern sich zuerst auf prozessuale Merkmale konzentriert und diese dann, mit den bewährten Konzepten, zu begründen versucht. Konkret schlage ich vier Untersuchungsschwerpunkte vor, die für mich den Kern der in Kapitel 3.2 vorgestellten Ansätze bilden: Gruppierungsvorgänge, Fortschreitungstendenzen, Intensitätsentwicklungen und Bewegungsmuster. Mit Gruppierungsvorgänge ist gemeint, wie sich klangliche Ereignisse im zeitlichen Nacheinander zusammenschließen. Ein Stück ist für gewöhnlich in mehrere Einheiten unterteilt, beginnend bei ‚formalen‘ Sektionen wie Strophe, Refrain oder Bridge, über Phrasen bis hin zu noch kürzeren Abschnitten, die man im Kontext von Pop-/Rockmusik häufig als Riffs oder Patterns bezeichnet. Es kann danach gefragt werden, welche Gruppierungen es innerhalb eines Stückes gibt und warum wir sie als solche wahrnehmen. Sind es Unterschiede in der harmonischen oder rhythmischen Gestaltung, in der Lautstärke, Instrumentierung oder im Gesangstext, die den Refrain von der Strophe abgrenzen? Unterscheidet sich die Gliederung der einzelnen Stimmen? Spielen etwa Gitarre und Bass gleichzeitig kurze Riffs oder dauert das Bassriff dreimal so lange und setzt zu einem anderen Zeitpunkt ein? Des Weiteren lässt sich untersuchen, wie stark aufeinanderfolgende Gruppierungen zueinander abgegrenzt sind und welche Fortschreitungstendenzen sie demnach haben. Hierbei spielt auch eine Rolle, ob die Hörerwartung in der anschließenden Passage erfüllt wird oder es aufgrund des unmittelbar davor Gehörten eher überraschend ist, wie ein Stück weitergeht. Als dritten prozessorientierten Aspekt beziehe ich Intensitätsentwicklungen mit ein. An welchen Stellen des Stückes steigt oder sinkt die Intensität und worauf beruht dieses Hörempfinden? Geschehen die Veränderungen plötzlich oder kontinuierlich und welche Stimmen sind dafür verantwortlich? Ist es die Verzerrung der E-Gitarre und das Timbre des Sängers, die für eine höhere Intensität im Refrain sorgen, oder entsteht der Eindruck deswegen, weil in allen beteiligten Stimmen das Tempo und die Lautstärke erhöht werden? Der vierte Untersuchungsschwerpunkt kann Bewegungsmustern gelten. Beim Musikhören sind wir gelegentlich dazu verleitet, mit dem Kopf, den Füßen oder dem ganzen Körper ‚mitzuwippen‘, zu klatschen, zu springen, zu tanzen – uns also in irgendeiner Form zur Musik zu bewegen. Rolf Inge Godøy weist in diesem Zusammenhang auf ‚sound-accompanying gestures‘ hin (vgl. Godøy 2010: 110-113; zur Verbindung von Musik und Bewegung siehe z.B. Pfleiderer 2006: 94-112). Richard Middleton hat in Popular music analysis and musicology: bridging the gap (1993) einen Zugang angedeutet, um derlei körpernahe Aspekte, für die auch er den Begriff ‚Gesten‘ verwendet, analytisch nachvollziehbar zu machen. Wie Wallace Berry spricht Middleton metaphorisch von
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einem ‚texturalen Raum‘, in dem die musikalischen Bewegungen stattfinden (vgl. Berry 1987: 5, Middleton 1983: 179). Die Bewegungswahrnehmung hänge dabei nicht ausschließlich von Metrum und Rhythmus ab, sondern sei ebenso von Melodiekonturen, Harmoniefolgen, der spektralen Energieverteilung oder Artikulationsmerkmalen beeinflusst. Sein Versuch, „basic gestural features“ (ebd.: 181) bei einem Madonna- und einem Bryan Adams-Song anhand von Linien und Kurven darzustellen, greift jedoch etwas kurz, da er sich hauptsächlich auf melodische und harmonische Vorgänge konzentriert (vgl. ebd.: 182, 184). Hans Zeiner-Henriksen vermutet in seiner Studie The „PoumTchak“ Pattern: Correspondences Between Rhythm, Sound, and Movement in Electronic Dance Music (2010), dass durch spektrale Eigenheiten von EDM-Drumpatterns bestimmte Körperbewegungen unterstützt werden. Seinem auf psychologischen Theorien basierenden Ansatz folgend, entstehen durch die Alternation von tiefen und hohen Frequenzen, etwa bei abwechselnden Schlägen auf Bass- und Snaredrum, so genannte ‚vertical movement patterns‘, die er mittels Kurven in Sonagrammen einzeichnet (vgl. ebd.: 159198). Die Konzepte von Berry, Middleton und Zeiner-Henriksen bringen mich zur hypothetischen Annahme, dass es musikalische Bewegungsmuster gibt, die sich in Bezug auf Größe, Geschwindigkeit und Ausrichtung analysieren lassen.3 Ob eine Klangfolge eine eher große oder kleine Bewegung vermittelt, hängt meinem Hörempfinden nach eng mit Unterschieden in der spektralen Energieverteilung zwischen den einzelnen Klängen zusammen, im Speziellen mit der vertikalen Distanz der wahrgenommenen Tonhöhen. Auf Grundtöne bezogen fasst man die Melodieabfolge C'-D'-C' wohl als kleinere Bewegung als C'-D''-C' auf, gleichermaßen wie die Schlagabfolge Bassdrum-Floortom eine andere Bewegungscharakteristik als die Schlagabfolge Bassdrum-Snaredrum hat. Die Bewegungsgeschwindigkeit sehe ich in erster Linie vom Tempo und der Ereignisdichte im zeitlichen Verlauf beeinflusst, die Bewegungsausrichtung von Akzentuierungen und der Artikulation. Vereinfacht ausgedrückt kann der Schwerpunkt einer Klangfolge zu Beginn, in der Mitte oder am Ende liegen und somit der Eindruck entstehen, dass eine Bewegung zeitlich ‚mittig‘, ‚nach vorne‘ oder ‚nach hinten‘ ausgerichtet ist. Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich einen Vorschlag liefern, wie sich die vier prozessorientierten Untersuchungsschwerpunkte, die natürlich nur die relativen Verhältnisse innerhalb eines Stückes abzubilden vermögen, mit Hilfe einer Ablaufgrafik andeuten lassen:
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Adjektive zur Beschreibung von Bewegungscharakteren finden sich z.B. bei Gabrielsson 1973: 258.
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Abb. 17: Vorlage Prozessgraphen.
Entlang einer Zeitachse kann durch vertikale Linien dargestellt werden, wann eine Gruppierung beginnt und endet. Auf diesen hier grau eingefärbten Linien zeichne ich zusätzlich die Fortschreitungstendenzen ein. Je nach Länge symbolisieren die schwarzen Linien eine schwache, mittelstarke oder starke Abgrenzung. Bei der Intensitätsentwicklung, die ich anhand eines horizontal verlaufenden Graphen illustriere, unterscheide ich zwischen einer niedrigen, mittelhohen und hohen Intensität. Das Ansteigen oder Absinken der Intensität wird ebenso mit diesem Graphen angezeigt. Durch die trapezartigen, hell-, mittel- und dunkelgrauen Grafikelemente soll jeweils die Größe, Geschwindigkeit und Ausrichtung der Bewegungsmuster veranschaulicht werden. Die Höhe der Elemente spielt auf die Bewegungsgröße an (klein, mittelgroß, groß), die Breite und Grauabstufung auf die Geschwindigkeit (langsam, mittelschnell, schnell), die Neigung auf die Ausrichtung (mittig, nach vorne, nach hinten).4 Es sei ausdrücklich betont, dass die Erkenntnisse, die man durch solche prozessorientierten Verfahren gewinnt, wahrscheinlich noch viel stärker von der subjektiven Perspektive des Analysierenden beeinflusst sind als es bei herkömmlichen Verfahren der Fall ist (siehe hierzu auch Fuß 2005: 22). Wie jemand die Intensität eines Stückes wahrnimmt oder wie überraschend eine bestimmte Phrase ist, kann erheblich divergieren. Auch beruht insbesondere der Entwurf von Bewegungsmustern in erster Linie auf meinen eigenen Eindrücken, ohne bislang empirisch nachgewiesen zu haben, ob auch andere Menschen eine Musik in diesen Dimensionen hören. Wie aber schon zu Beginn dieses Abschnitts mit einem Zitat von Simon Obert angemerkt, geht es bei der Musikanalyse darum, mit Beschreibungen und Darstellungen bestimmte Sachverhalte zu vermitteln, was im folgenden Fallbeispiel nun versucht werden soll. 4
Durch den Einsatz von Farben können die Grafikelemente noch deutlicher hervorgehoben werden (siehe Anhang A): Intensitätskurven: rot; Bewegungsmuster: blau (groß), grün (mittelgroß), gelb (klein).
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Fallbeispiel Fugazi
Fallbeispiel Fugazi
Ich werde nun am konkreten Beispiel der Band Fugazi der Frage nachgehen, ob sich die Wertschätzung für Künstler oder Genres auf bestimmte Charakteristika des auf Tonträger materialisierten Klanggeschehens zurückführen lässt. Im Zuge dessen skizziere ich eine Vorgehensweise, mit der den Kriterien, an denen sich die Rezipienten bei der Beurteilung der Musik orientieren, systematisch nachgespürt werden kann. Für mein Unterfangen nehme ich Anleihen an Theorien und Methoden, die an unterschiedlichen Stellen dieser Arbeit bereits Erwähnung fanden, und füge diesen einen systematisierten Musikanalyse-Blickwinkel hinzu. Mein Ansatz ist anwendungsorientiert gedacht, d.h. ich möchte nachfolgenden Wissenschaftlern Anhaltspunkte bieten, um ihre eigenen Forschungsfragen zur Popularität einer Musik zielgerichtet beantworten zu können. Es soll hier allerdings weder darum gehen, einen idealtypischen Analyse- und Interpretationsleitfaden zu konzeptionieren, mit dem jeglichem Material oder Phänomen gleichermaßen beizukommen wäre, noch ist es im Rahmen dieser Arbeit möglich, die Vielfalt an musikbezogenen Fragestellungen und Erkenntniswegen auch nur annähernd durch entsprechend viele und umfangreiche Fallanalysen abzubilden. Zunächst soll die Band kurz vorgestellt und der Kontext dargelegt werden, in dem sie tätig war und ist. Als Einstieg sei die offizielle Bandbeschreibung herangezogen, die auf der Website des Labels Dischord verfügbar ist: „Guy Picciotto – Guitar, Vocals / Ian MacKaye – Guitar, Vocals / Joe Lally – Bass, Vocals / Brendan Canty – Drums. Fugazi is a band from Washington, D.C. They played their first show in the fall of 1987 and since then they have released seven albums and toured the world extensively covering all fifty United States, Europe, Australia, South America, Japan and many points in between. The band is self managed and release all their material through Dischord Records, an independent label founded by Ian MacKaye and partner Jeff Nelson in 1980. The band maintains a policy of affordable access to their work through low record and ticket prices and all concerts are all-ages. […] Prior to forming Fugazi, the members of the band played in various other bands with releases available on the Dischord label. Ian MacKaye: Teen Idles, Minor Threat, Skewbald, Egg Hunt & Embrace. Brendan Canty and Guy Picciotto: Rites of Spring, One Last Wish, Happy-GoLicky“ (Dischord).1
Einen Einblick in die Musik liefert Dirk Budde in seiner Hardcore-Monographie Take Three Chords: „Der Terminus Emocore [Hervorhebungen getilgt; Anm. BSt.] wird von vielen mit der Musik der Minor Threat-Nachfolger und D.C.-Champs Fugazi verbunden. Die Band um Ian MacKaye spielt sehr untypischen, langsamen Hardcore mit starken Rockeinflüssen und produziert immer wieder aufs neue interessante musikalische Varianten: ‚They have power, anger, speed, moments of inten1
http://www.dischord.com/band/fugazi [22.08.2014].
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se calm, and a subtle softness, but most of all they have emotion. Hardcore is made of that emotion‘ (No Answers 7). Messitsch beschreibt die Musik von Fugazi: ‚(Eine) vom Hardcore ausgehende Mischung verschiedener Musikstile, vor allen auch schwarzer Musik […] immer wieder auftauchende Reggae-Bassläufe […] oder der für Hardcore nicht gerade als typisch zu bezeichnende, stark entwickelte Gesang, dessen Spektrum von der kraftvollen Einladung zum Mitgröhlen über beinahe verhaltene Stille bis zu Explosion im Schrei reicht‘ (Messitsch 11/90) [Quelle unbekannt; Anm. BSt.]“ (Budde 1997: 169).
Im Alternative Rock-Magazin trouser press stellen McCaleb et al. einen Zusammenhang zwischen Bandintegrität und musikalischem Ausdruck her: „Even the most suspicious observer would have to admit that integrity is not entirely unknown in rock’n’roll. The ability to maintain a principled posture toward the business of making music for any appreciable length of time, however, presents a challenge that few bands have ever proven equal to. Yet those are the shoes in which Fugazi has stood now for more than a decade, producing pure, high-intensity punk rock of rare intelligence and artistry without any concession to the tug of commercialism or the internal tensions that usually cause such high-minded organizations to implode. Staunch and vocal opponents of senseless violence, exploitation, alienation, stardom and conformity, the modest but explosive Fugazi is a knuckle sandwich made with nine-grain bread, building strong minds and bodies with rattling guitar power. The quartet’s achievement is a marvel to behold – and even better to hear. As the longstanding figurehead and moral conscience of Washington DC’s punk scene, singer/guitarist Ian MacKaye has led the Teen Idles, Minor Threat, Egg Hunt and Embrace; the flagship of the mighty Dischord label (which he co-founded), Fugazi is the culmination of it all“ (McCaleb et al. 2007).
Grob zusammengefasst handelt es sich bei Fugazi um eine US-amerikanische Band, die von 1987 bis 2003 aktiv war (sie hat sich nie offiziell aufgelöst), bis dato ungefähr zwei Millionen Kopien ihrer sieben Studioalben verkauft und über eintausend nationale und internationale Konzerte gespielt hat. Seit 2011 veröffentlicht sie unter dem Namen Live Series digitale Mitschnitte dieser Gigs, mit Stand April 2014 waren 750 von 800 angestrebten Live-Alben online, gegen ein Entgelt von mindestens fünf US-Dollar, verfügbar.2 Die Bandbesetzung entspricht einem klassischen Rock-Line-Up aus zwei EGitarren, E-Bass und Schlagzeug. Mit Ian MacKaye und Guy Picciotto hat Fugazi zwei Leadvokalisten, die abwechselnd oder gemeinsam singen. Der Bassist Joe Lally übernimmt zumeist den Begleitgesang, in einzelnen Songs auch die Hauptstimme. Auf späteren Alben und Konzerten wurde das Instrumentarium partiell erweitert, etwa durch Piano, Cello, Trompete und ein zweites Schlagzeug. Die stilistischen Zuschreibungen reichen von Punk, Post-Punk, Hardcore, Post-Hardcore, Hardcore Soul, Emocore bis hin zu allgemeineren Einordnungen als Alternative Rock oder Indie Rock. Auch wird vereinzelt auf Funk, Reggae und Dub-Einflüsse hingewiesen.3 2 3
http://www.dischord.com/fugazi_live_series [22.08.2014]. Punk: http://www.spin.com/articles/punk-icons-fugazi-finalizing-huge-concert-archive; Post-Punk: http://www.nytimes.com/2011/11/26/arts/music/fugazi-live-series-a-post-punkbands-archive-of-shows.html;
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Ein zentrales Charakteristikum ist die strikte Einhaltung des ‚Do It Yourself‘-Ethos, also einer alternativen Kulturproduktion, in der kulturelle Objekte möglichst abseits von kommerziellen Strukturen geschaffen werden und dabei versucht wird, sich als Gegenpol zur Kulturindustrie zu positionieren (vgl. Calmbach 2007: 96). Bei Fugazi äußert sich diese „Geschäftspraxis“ (ebd.) unter anderem darin, dass sie sämtliche Tonträger auf dem unabhängigen, von Ian MacKaye mitbetriebenen Label Dischord veröffentlichen, sowie im Ablehnen von kommerziell ausgerichteten Werbemaßnahmen, wie bspw. T-Shirts, für das Musikfernsehen produzierte Musikclips oder PromotionInterviews mit Massenmedien. Ebenso verweigert die Band Auftritte auf gewinnmaximierenden Veranstaltungen, wie etwa dem Coachella-Festival in Kalifornien: „We’ve turned down a lot of money in the past to do things we weren’t comfortable with. Fugazi would get together to play Maxwell’s [in Hoboken, N.J.]. We wouldn’t get together to play Coachella. No amount of money would get us out of our houses“ (Canty 2007).4
Die nachstehende Abbildung gibt einen Überblick, in welchen Bands die Musiker gespielt haben und spielen und welche Alben Fugazi wann veröffentlicht hat. Um das Schaffen der Band kontextuell einordnen zu können, habe ich bestimmte Entwicklungen in Bezug auf Genres, mediale Präsenz und politische Einstellung angedeutet:
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Hardcore: http://www.lastfm.at/music/Fugazi, http://www.spiegel.de/kultur/musik/ueber-800konzerte-hardcore-legende-fugazi-oeffnet-digitales-live-archiv-a-800434.html; Post-Hardcore: http://www.bbc.co.uk/radio1/mostpunk/profiles/fugazi.shtml, http://en.wikipedia.org/wiki/Fugazi; Hardcore Soul: http://www.punknews.org/bands/fugazi; Emocore: siehe angeführtes Budde-Zitat; Funk, Reggae, Dub: http://www.purevolume.com/fugazirock, http://en.wikipedia.org/wiki/Fugazi, http://www.punknews.org/bands/fugazi [19.7.2012]. http://www.punknews.org/article/25590/brendan-canty-discusses-fugazi-hiatus-burn-to-shineand-new-projects [19.7.2012]. Als interessantes Vergleichsbeispiel kann die ebenso einflussreiche schwedische Hardcore-Band Refused herangezogen werden. Diese verbinden Stilelemente von Hardcore, Metal und Techno in ihrer Musik und entstammen einem ähnlich selbstverwalteten Umfeld wie Fugazi (auch etwa zur gleichen Zeit). Die Band ist mittlerweile wiedervereinigt und bespielt große, kommerzielle Festivals, was ihrem ursprünglichen Ethos, den Fugazi stets beibehalten haben, nicht mehr entspricht.
Abb. 18: Kontext Fugazi.
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Fugazi entspringt dem Hardcore-Punk-Umfeld aus Washington DC, das von Beginn bis Mitte der 1980er Jahre stilprägende Bands hervorbrachte, in denen die FugaziMitglieder zum Teil selbst als Musiker tätig waren. Mit dem Begriff ‚Hardcore-Punk‘, oft synonym als ‚Hardcore‘ bezeichnet, ist üblicherweise sowohl ein Ende der 1970er Jahre entstandenes musikalisches Genre als auch die damit zusammenhängende Subkultur gemeint (begriffsdefinitorische Detaildebatten blende ich hier bewusst aus – siehe hierzu z.B. Steinbrecher 2008). Wie stark Hardcore-Punk von der ‚ursprünglichen‘ PunkÄra beeinflusst wurde, die man weithin mit Bands wie Sex Pistols, The Clash oder Ramones assoziiert, gilt als umstritten. Je nach Blickwinkel wird von einer linearen Weiterentwicklung, einer Reaktion, einer Antwort oder auch von einem prototypischen Stil gesprochen (vgl. Ableitinger 2004: 178, Büsser 2003: 17, Blush 2001: 12). Als eine der ersten und zugleich bekanntesten Vertreter des ‚American Hardcore‘, auf den ich das Hauptaugenmerk richte, sind Dead Kennedys aus San Francisco (gegr. 1978), Black Flag aus Hermosa Beach (gegr. 1976) sowie Bad Brains aus Washington DC (gegr. 1977) zu nennen. Vor allem die beiden letztgenannten gelten als Vorreiter einer Musik, die im Vergleich zu Punk noch schneller, lauter, minimalistischer und ‚härter‘ werden sollte: „Hardcore music was totally unique, focusing on speed and anger. Although the philosophy implied ‚no rules‘, the music wasn’t avant-garde, experimental, nor did it have unlimited possibilities. It was all about playing as fast as possible. [...] HC guitarists – with their new-fashioned style of attack – ripped as fast as humanly possible. Soloing represented traditional Rock bullshit and was forbidden, so they developed previously unheard rhythmic styles. Singers belted out words in an abrasive, aggressive manner. Drummers played ultra-fast, in an elemental one-two-one-two. That insistence on speed imposed limitations, which soon turned into assets“ (Blush 2001: 42).
Was Steven Blush in diesem Zitat beschreibt, trifft im Speziellen auf jene Bands zu, die ich als ‚HarDCore 1‘ in der Abbildung eingezeichnet habe. In Washington DC schlossen sich um das Jahr 1978 einige High School-Teenager zu einer kleinen musikalischen Szene zusammen, deren gemeinsamer Antrieb der Hass auf die Kleinbürgerlichkeit ihrer Umgebung und die Hingabe zur Musik der Bad Brains war (vgl. Andersen/Jenkins 2003: 19). Zwei Jahre später lieferte diese Gruppierung, dann unter dem Namen ‚Georgetown-Punks‘ oder ‚HarDCore‘ bekannt, mit der Band Teen Idles und dem Song Get Up And Go die musikalische Blaupause für Hardcore-Punk aus Washington DC und Bands wie Minor Threat, SOA, Untouchables, Gouvernment Issue, Void oder Youth Brigade: „If LA spawned Hardcore, it reached frutition in DC. The term Hardcore now implies the sound, style and aesthetic coming out of early 80s Washington“ (Blush 2001: 132).
Im Unterschied zum britischen Punk, der durch den kommerziellen Erfolg der Sex Pistols ziemlich von Beginn an in den Massenmedien präsent war, fand Hardcore zunächst unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. In Washington DC gab es kaum Veranstaltungsorte oder Clubs, in denen die Musik gespielt wurde oder Konzerte stattfinden
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konnten, ebenso wie Musikmagazine und Radio- und TV-Sender Hardcore größtenteils ignorierten. Als Treffpunkt und Kommunikationsort dienten alternative Plattenläden, die auch zur Verbreitung der zumeist in Eigenregie produzierten Tonträger beitrugen. Es entstanden selbst gestaltete Fanzines, und für Konzerte nutzte man besetzte Häuser oder Universitätsräumlichkeiten (vgl. Andersen/Jenkins 2001: 3-18, 41). Von einer bewusst inszenierten und artikulierten Gesellschaftskritik, die der Washingtoner Szene vor allem mit dem Schlagwort ‚Straight Edge‘ zugewiesen wird, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sprechen. Vielmehr verschafften sich die größtenteils aus Mittelstandsfamilien stammenden Jugendlichen Platz gegen eine „schwer lokalisierbare Unlust und Enge“ (Büsser 2003: 19) und kanalisierten den Frust über die Langeweile und Ziellosigkeit in aggressiver Musik: „Early DC punk was not political. It comes from what I’m into: soul. Guitars with politics bore me. I relate to music on the level of sex and death – sweat, blood, cum, sleepless nights, insecurity“ (Rollins in Andersen/Jenkins 2003: 80).
Erst im Jahr 1983, kurz vor der Veröffentlichung von Minor Threats Album Out of Step, wurden vermehrt politische Themen aufgegriffen und eine schärfere und pointiertere Kritik an Klassenunterdrückung, Rassismus oder Sexismus geübt. Es entwickelte sich eine Art kollektives (links-)politisches Bewusstsein, das man nicht nur rhetorisch, sondern auch durch aktivistische Initiativen zum Ausdruck brachte (vgl. ebd.: 168). In dieser ‚zweiten‘ HarDCore-Phase hinterfragte so manche Band bereits das musikalische ‚schnell und hart‘-Credo und legte einen größeren Wert auf strukturellen Aufbau und Melodie, was ihnen bisweilen den Vorwurf der Kommerzialisierung einbrachte. Die Musikindustrie zeigte nun ein verstärktes Interesse an Hardcore, und einzelne Bands, wie z.B. Dag Nasty (mit dem vormaligen Minor Threat-Akteur Brian Baker), wechselten zu Majorlabels. Der erste Schritt in die Massenmedien kann auf das Jahr 1987 datiert werden, als MTV Musikvideos von den Bad Brains in sein Programm aufnahm und Martin Scorsese deren Song Pay To Cum in seinem Film After Hour verwendete (vgl. ebd.: 225). Im Sommer 1986 erfuhr die Szene in Washington DC, die nicht zuletzt aufgrund der steigenden Popularität im Begriff war sich aufzulösen, einen letzten Aufschwung. Eine neue Generation von Bands sorgte dafür, dass die Musik vielschichtiger wurde. Zum einen gab es die Tendenz zu eingängigerem, ‚poppigerem‘ Hardcore, der sich landesweit etwa durch Bad Religion oder NOFX immer größerer Beliebtheit erfreute. Zum anderen versuchte man Stilelemente aus anderen Genres einfließen zu lassen und kombinierte Hardcore mit Funk, Metal, Hip Hop, Reggae, Ska oder Jazz (vgl. ebd.: 148, Büsser 2003: 50). Auch Fugazi, gegründet 1987, wollten der „vorherrschende[n] Seichtheit“ (MacKaye in Büsser 2003: 46) musikalisch etwas entgegensetzen und sahen ein Mittel dazu im ‚Groove‘, „weil hier Inhalte über den ganzen Körper transportiert werden“ (ebd.). Viele der damaligen Ansätze trugen zur Entwicklung von Genres wie Power-Punk, PopPunk, Melodycore, Emocore, Crossover oder Grunge bei, die man heute oftmals dem Alternative Rock zurechnet. Spätestens mit dem Erfolg des Nirvana-Albums Nevermind
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(1991) war diese Art von Musik dann endgültig im Mainstream vertreten. Obgleich gerade Nirvana mitunter sehr konkret gesellschaftliche Missstände kritisierte, und etwa für das Aufbrechen etablierter Geschlechterrollen, für Abtreibungs- und Homosexuellenrechte eintrat (vgl. Jacke 1998: 14), so setzte sich zumindest medial das Bild durch, dass vor allem die Grunge-Bands das Lebensgefühl einer politikverdrossenen, resignierenden Generation repräsentierten, die den Wohlstand und die Berufssicherheit ihrer Eltern nicht mehr genießen konnten, sondern „in einer von Arbeitslosigkeit und Virtualisierung geprägten Gesellschaft Orientierung suchte“ (ebd.: 11-12). Generell sind explizite politische Statements oder Protestsongs von massenmedial präsenten (Rock-)Musikern in den 1990er Jahren eher selten zu finden. Erst durch die Anschläge vom 11. September 2001 und dem darauf folgenden dritten Golfkrieg bezogen insbesondere USamerikanische Künstler, von Bruce Springsteen, Neil Young, Patti Smith über R.E.M. bis hin zu Pink, wieder eindeutig Stellung. Im Hinblick auf Genreentwicklungen waren Mitte der 1990er Jahre Green Day und The Offspring mit ihrer Version von Pop-Punk global erfolgreich, in Europa bewirkten Oasis und Blur einen Britpop-Hype. Das Interesse an Alternative Rock verringerte sich in den Folgejahren bis zum Beginn des neuen Jahrtausends, als die Musik durch das so genannte ‚Garage Rock-‘ oder ‚Post-Punk-Revival‘, mit Bands wie The Strokes, The Libertines oder The White Stripes, einen erneuten Popularitätsschub erfuhr. Zur gleichen Zeit veränderte sich mit der Etablierung des Internets allmählich auch die Musikdistribution, da es mit Hilfe von diversen Plattformen, Online-Versandhändlern und Filesharingnetzwerken einfacher wurde, musikalische Produktionen einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren (vgl. Gebesmair 2008: 175). Abschließend sei noch bemerkt, dass ca. seit 2010 eine Tendenz zu Band-Reunions erkennbar ist. Acts wie Soundgarden, Alice in Chains, Rage Against The Machine oder Refused, die ihre größten Erfolge in den 1990er Jahren feierten, gehen wieder auf Tour und manche von ihnen veröffentlichen kommerziell durchaus erfolgreiche neue Alben. Dieser sehr fragmentarische historische Abriss soll verständlich machen, worauf sich gewisse Aussagen in den im Folgenden untersuchten Werturteilen möglicherweise beziehen. Meinem Eindruck nach spielen bei Fugazi die Herkunft der Akteure und die Geschehnisse, die rund um das ihr zugeschriebene Genre passiert sind, eine große Rolle, wenn die Qualitäten der Band diskutiert werden. Ich stütze mich hier auf meine langjährige Beschäftigung mit Fugazi, die es zu thematisieren gilt.
Persönliches Verhältnis Nach André Doehring (2012) sollte das Reflektieren des persönlichen Verhältnisses zur untersuchten Musik ein expliziter Bestandteil von analytischen Arbeiten sein. Er fordert, dass sich der Analysierende seiner Subjektivität und Rollendiversität bewusst wird und ähnlich wie Mark J. Butler (2006) benennt, was ihn als Wissenschaftler, Hörer, AmateurMusiker, Szenegänger usf. mit einer Musik verbindet. Doehring geht es dabei weniger um inhaltliche Belange, sondern um das Überwinden einer objektivitätsfixierten For-
154
Fallbeispiel Fugazi
schungslogik. Angesichts der Vielzahl möglicher Interpretationen sei die begrenzte Gültigkeit des eigenen Zugriffs anzuerkennen (vgl. Doehring 2012: 37-38). Interessiere sich der Forscher für eine Musik, die er selbst sehr schätzt, so könne diese Vertrautheit zwar helfen, sie dürfe jedoch nicht dazu führen, dass „Liebhaberei oder gar Geschmäcklerisches die wissenschaftliche Verpflichtung auf eine Reflexion und Ursachenermittlung zum Erliegen bringt“ (ebd.: 34) und man dem Leser aus einer vermeintlichen Expertenperspektive die Lieblingsmusik als ‚gute‘ Musik nahelegt (vgl. ebd.). Nichtsdestotrotz ist nicht auszuschließen, dass sich autorenseitige Vorlieben oder Abneigungen in den Analysen niederschlagen (vgl. v. Appen 2007: 71-72), weswegen ich meine persönliche Sicht auf Fugazi kurz darlegen möchte. Ganz allgemein gefragt würde ich Alternative Rock wohl als meine bevorzugte Musikrichtung nennen. Wie viele andere in meinem Umfeld (Jahrgang 1981) kam ich Mitte der 1990er Jahre durch Mainstream-Bands wie Die Toten Hosen, Die Ärzte, Nirvana oder Green Day mit dieser Musik in Berührung. Mein Interesse für Subgenres und weniger bekannte Acts stieg um die Jahrtausendwende, wo mich Freunde auch erstmals auf Fugazi aufmerksam machten. In den Folgejahren wirkte ich als Gitarrist und Sänger in einer am Post-Hardcore orientierten Band mit. Unser Ziel war es, eine etwas vertrackte, wenig vorhersehbare und größtenteils instrumentale Variante alternativer Rockmusik zu kreieren. Fugazi diente uns nicht direkt als musikalisches Vorbild, sondern eher Bands, die Fugazi als Einfluss angeben (z.B. At The Drive In, Refused, Valina). Im Zuge meines Musikwissenschaftsstudiums begann ich mich ab ca. 2005 verstärkt mit historischen, sozialen und kulturellen Aspekten von Hardcore auseinanderzusetzen und verfasste 2008 meine Magisterarbeit zu diesem Themenbereich. Ich höre Fugazi auch unabhängig von meiner wissenschaftlichen Motivation gerne, ohne jemals bei einem Konzert vor Ort gewesen zu sein, und kann mich in vielerlei Hinsicht mit ihrer Art der Lebensführung und politischen Einstellung identifizieren. Als szenezugehörig bezeichne ich mich allerdings nur sehr bedingt. Warum ich die Musik von Fugazi schätze, soll hier nicht weiter begründet werden, da meine private Meinung durch die intensive analytische Auseinandersetzung schon stark beeinflusst ist und ich mittlerweile anders argumentieren würde als vor Beginn der Dissertation. Von Belang ist für mich vielmehr, wie andere Hörer, die ihre Meinung öffentlich kundtun, über Fugazi urteilen.
5.1 Analyse von Werturteilen Analyse von Werturteilen
Methode
Um mich der Frage anzunähern, was Rezipienten an Fugazi schätzen oder vielleicht auch nicht schätzen, wähle ich eine ähnliche methodische Herangehensweise wie v. Appen (2007) und Parzer (2008) und werde online abrufbare Beiträge von Amateurkritikern als Datenquelle für eine qualitativ orientierte Textanalyse nutzen. Konkret
Analyse von Werturteilen
155
wende ich das von Philipp Mayring vorgeschlagene Ablaufmodell einer inhaltlich strukturierenden Analyse an (vgl. Mayring 2008: 94). Diese Technik zielt darauf ab, bestimmte Themen, Inhalte, Aspekte anhand theoretisch fundierter Strukturierungsdimensionen aus dem Material herauszufiltern und zusammenzufassen (vgl. ebd.: 98). Als Interpretationsverfahren hat die qualitative Inhaltsanalyse den Vorteil, dass die Analyse in einzelne, vorher festgelegte Schritte zerlegt wird und sie sich somit intersubjektiv überprüfen lässt. Sie sei stets an den konkreten Gegenstand anzupassen, müsse aber gleichzeitig den Anspruch einer ‚Intercoderreliabilität‘ erfüllen, d.h. wie bei quantitativen Verfahrensweisen sollten mehrere Forscher unabhängig voneinander zu vergleichbaren Ergebnissen kommen (vgl. ebd.: 59). Unter qualitativen Gesichtspunkten zu analysieren bedeutet für Mayring nicht, auf die Stärken der quantitativen Inhaltsanalyse zu verzichten. Durch ein systematisches, regelgeleitetes Vorgehen seien auch die Ergebnisse einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Gütekriterien wie Objektivität, Reliabilität und Validität einschätzbar. Zudem können quantitative Schritte integriert werden, was bei Fallanalysen ein gewisses Maß an Verallgemeinerung ermögliche (vgl. ebd.: 48-52).
Datenressource Gemäß seines Ablaufmodells ist zu Beginn der Analysen das Ausgangsmaterial zu definieren. Als Datenressource dienen mir verschriftlichte Aussagen zu Fugazi, die ohne Einflussnahme eines Forschers, und ziemlich sicher ohne das Bewusstsein, dass sie später jemand analysiert, verfasst wurden. Da es mir um wertende Aussagen geht, die sich im Idealfall auf die Musik beziehen, folge ich dem Ansatz v. Appens und konzentriere mich auf redaktionell unbearbeitete Albumbesprechungen von Laienrezensenten. Meine Ergebnisse beruhen auf 161 englischsprachigen Online-Rezensionen zum Album Repeater (1990), die ich von den Websites amazon.com (54), amazon.co.uk (7), rateyourmusic.com (97) und itunes.apple.com (3) im April 2013 kopiert und in eine gemeinsame Textdatei übertragen habe. Sie wurden zwischen 1999 und 2013 verfasst und bestehen aus insgesamt 19.305 Wörtern. Die durchschnittliche Wortanzahl ist 115 – der kürzeste Beitrag hat 4 Wörter, der längste 980. Eine solche Textdatei habe ich zu Kontrollzwecken ebenso für die Alben Steady Diet of Nothing (70), In On The Kill Taker (86), Red Medicine (84), End Hits (84), Instrument (47), The Argument (217) sowie für die Compilation 13 Songs (150) erstellt, um nachvollziehen zu können, ob die Bewertungskriterien ähnliche sind. Jede dieser Websites bietet darüber hinaus die Option, Alben auf einer fünfstufigen Rating-Skala einzustufen. Mit Ausnahme von Amazon ist dies jeweils auch ohne das Verfassen eines Kommentars möglich, was mich im Gesamten, durch das Hinzunehmen von Ratings aus punknews.org und sputnikmusic.com, auf über 20.500 Noten für die acht Tonträger bringt. Meine Entscheidung für die Datenquelle Internet und im Speziellen für die erwähnten Plattformen bedarf natürlich einer Begründung. Betrachtet man meine Auswahl kritisch, so ließe sich anführen, dass die Stichprobe für die große Anzahl von Fugazi-
156
Fallbeispiel Fugazi
Hörern, bemessen an ca. 2 Millionen verkauften Alben, kaum repräsentativ ist. Auch in Bezug auf soziodemografische Charakteristika können kaum Eingrenzungen gemacht werden, da ich bei einem Großteil der Rezensenten nicht sehe, welches Geschlecht sie haben, wie alt sie sind oder wo sie leben, ganz zu schweigen vom monatlichen Verdienst u.Ä. Solche Daten ließen sich mit Hilfe von Interviews oder Umfragen weitaus besser erheben. Allerdings kommt es bei den meisten Hörern im Alltag wahrscheinlich sehr selten vor, dass sie über Musik sprechen, weil sie für wissenschaftliche Zwecke befragt werden. Schon eher äußert man sich zu einer Band oder einem Album, um sich als Kenner auszuweisen, anderen Hörer eine Empfehlung zu geben oder jemandem vom Kauf abzuraten. Für viele Menschen ist es heutzutage selbstverständlich, ihre private Meinung im Internet mitzuteilen, und sie etwa über soziale Netzwerke, Weblogs oder Foren zu verbreiten. Nichtsdestotrotz ist v. Appen recht zu geben, dass das Verfassen einer Kritik „nicht unbedingt das Musikhören in alltäglichen Situationen widerspiegelt“ (v. Appen 2007: 60). Aussagen darüber, wie ein passionierter Fugazi-Hörer reagiert, wenn der Song Waiting Room abends unvermutet im Club erklingt, worüber er sich anschließend mit Freunden unterhält oder was ihn dazu bewegt, das Album Repeater am Weg zur Arbeit auf dem iPod auszuwählen, kann ich nur dann treffen, wenn er diese Erlebnisse als so relevant erachtet, dass er sie im Rahmen einer Albumkritik niederschreibt und den Text auf einer der von mir untersuchten Websites veröffentlicht. Sonstige Gründe für seine Wertschätzung, die er auch in der Kritik nicht anführt, weil sie ihm vielleicht weniger wichtig sind oder er sie schwer verbalisieren kann, ließen sich noch am ehesten mit den Methoden der Verhaltensbeobachtung erfassen. Von einer etwaigen Analyse audiovisueller Konzertmitschnitte abgesehen, welche den Reiz einer für viele Rock-Fans gewohnten Situation zumindest annähernd wiederzugeben vermögen, und die im Falle von Fugazi in verhältnismäßig großer Anzahl auf YouTube vorliegen, sind derartige Studien forschungsökonomisch hier allerdings nicht zu bewältigen. Zudem wären die Ergebnisse noch weniger verallgemeinerbar. Aufschlussreich könnte es sein, ähnlich wie Diaz-Bone (2002) die Sichtweise von professionellen Musikkritikern zu untersuchen, da ihr Einfluss als Meinungsführer wohl nicht zu unterschätzen ist. Um zu kontrollieren, ob sich ‚fachkundigere‘ Urteile von denen meiner Stichprobe stark unterscheiden, habe ich mir zusätzlich einen Einblick in Beiträge verschafft, die in Musikmagazinen5 erschienen sind oder von den Redaktionen einschlägiger Online-Plattformen6 als offizielle Reviews freigegeben wurden. Es zeigte sich, dass die Experten zwar tendenziell ausführlicher und sprachlich nuancierter argumentieren, sie die Alben aber auf fünfstufigen Rating-Skalen im Durchschnitt ähnlich
5 6
Rolling Stone, Musikexpress, Ox-Fanzine, Visions. www.amazon.com, itunes.apple.com, www.punknews.org, www.sputnikmusic.com, www.splendidezine.com, www.pitchfork.com.
Analyse von Werturteilen
157
wie die Laien bewerten und auch die Rechtfertigungen in vielen Fällen Parallelen aufweisen. Dass auffällig positive Rezensionen eventuell nicht von gewöhnlichen Usern stammen, sondern zu Werbezwecken von der Plattenfirma oder den Musikern verfasst wurden, kann ich weitestgehend ausschließen. Erstens wäre es für den Ruf eines ethisch höchst sensiblen Labels wie Dischord fatal, solche Manipulationen vorzunehmen. Zweitens werden auf rateyourmusic.com keine Tonträger direkt verkauft, was die Gefahr des Betrugs im Vergleich zu amazon.com oder itunes.com weiter minimiert. Und drittens gibt die Art und Weise, wie die Texte sprachlich formuliert sind, keinen Anlass, an deren Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Von mehrfach geposteten Beiträgen habe ich jeweils nur einen berücksichtigt. Die Auswahl der vier Online-Plattformen ergab sich aus der Recherche nach Websites, in denen möglichst viele Laienrezensionen zu Fugazi-Alben gesammelt vorliegen. Warum ich mich auf Alben und nicht auf Singles konzentriere, hat den einfachen Grund, dass von Fugazi keine Singles veröffentlicht wurden. Im Zuge meiner Nachforschungen kristallisierte sich schnell heraus, dass online nur wenige Kritiken in Deutsch zu finden sind, weswegen ich ausschließlich englischsprachige zur Analyse heranziehe. Ein positiver Nebeneffekt davon ist die bessere Vergleich- und Zuordenbarkeit der verwendeten Begriffe. Sonstige Ausschließungsgründe gab es keine, d.h. ich habe jeglichen Beitrag, unabhängig von Länge, Formulierung oder Inhalt, berücksichtigt. Die meisten Rezensionen (insgesamt 435) konnte ich dem kostenlosen Community Board von rateyourmusic.com entnehmen: „RYM is a community-built music and film database where you can rate, review, catalog and discover new music and films as well as participate in contributing to the database itself“ (Rate Your Music 2014).7
Rate Your Music wurde im Jahr 2000 mit Schwerpunkt auf Rockmusik gegründet und bietet registrierten Usern seit 2002 die Möglichkeit, ihre Beiträge nach Freigabe eines Moderators online zu stellen. Laut einer Statistik des Betreibers Hossein Sharifi beinhaltete die Datenbank am 13.03.2014 961.618 Artists, 32.816.270 Ratings und 1.820.665 Reviews. Die Zahl der User-Accounts belief sich zu diesem Zeitpunkt auf 437.744 (vgl. Sharifi 2014).8 Über die Hälfte des Datenverkehrs führt Sharifi auf Aktivitäten von Benutzern aus den USA, Großbritannien und Kanada zurück, einen wesentlichen Anteil haben darüber hinaus Westeuropa, Polen, Russland, Mexico, Brasilien und Australien (vgl. Sharifi 2012).9 Seit 2006 finanziert sich die Website über Affiliate Marketing, mit 7 8 9
http://rateyourmusic.com/wiki/RYM:About+RYM [30.04.2014]. http://rateyourmusic.com/board_message?message_id=868876&board_id=2&show= 20&start=120 [22.08.2014]. http://rateyourmusic.com/board_message?message_id=3811412&board_id=2&find= 3811412&x=m#msg3812274 [22.08.2014].
158
Fallbeispiel Fugazi
Links zu Online-Musikanbietern, sowie über Werbeanzeigen von Google AdSense (vgl. Sharifi 2006).10 Auf amazon.com befanden sich zum Zeitpunkt der Datenerhebung 377 verwertbare Rezensionen zu Fugazi-Alben, auf amazon.co.uk 63. Die Website amazon.com ging 1995 online und vertreibt seit Juni 1998 Tonträger. Amazon.co.uk existiert seit Oktober 1998, im Jahr darauf wurde auch hier ein Music Store eröffnet. In das Geschäft mit der digitalen Musikdistribution im Internet stieg Amazon 2008, mit dem Launch von Amazon MP3, ein.11 Nach eigenen Angaben hat Amazon über 144 Millionen aktive Kundenaccounts.12 Verlässliche Statistiken zum Anteil von Amazon an weltweiten Musikverkäufen liegen mir leider nicht vor. Sobald ein Benutzer ein Produkt gekauft hat, kann er zu diesem oder jedem anderen Artikel eine Rezension abgeben. Amazon empfiehlt eine Länge von 75 bis 300 Wörtern (maximal 5000), wobei man sich beim Rezensieren auf „bestimmte Features“ und die „Erfahrung mit dem Produkt“ konzentrieren und die Bewertung begründen solle.13 Als ergänzende Datenquelle dienten mir 24 Customer Reviews von itunes.apple.com. Zu jedem der acht Alben lagen hier jeweils drei Kritiken vor. Wie bereits weiter oben erwähnt, steht das Album Repeater bzw. Repeater + 3 Songs im Zentrum meiner Inhaltsanalyse. Es handelt sich bei Repeater um die erste offizielle LP der Band, die 1990 erschienen ist und von Ted Nicely in den Inner Ear Studios (Washington DC) produziert wurde.14 Sie beinhaltet elf Songs und hat eine Gesamtlänge von 35:01. Im selben Jahr veröffentlichte die Band mit Repeater + 3 Songs eine erweiterte Version, bei der sie die 7 Inch 3 Songs hinzufügte (42:29). Für meine Analysen spielt diese Unterscheidung keine Rolle, da die Rezensionen auf den Websites in einem gemeinsamen Bereich zusammengefasst sind. Wurden die drei zusätzlichen Songs angesprochen, so habe ich das berücksichtigt. Meine Entscheidung, nur ein Album im Detail zu kodieren, begründet sich aus dem Ziel, das ich mit dieser Fallanalyse verfolge. Es geht mir weniger darum, ein vollumfängliches Bild von Fugazi zu zeichnen, sondern ich möchte ein Beispiel für eine systematische Vorgehensweise geben, mit der sich die Wertschätzung für eine Band und deren Musik besser verstehen lässt. Das entwickelte Kodiersystem, welches ich unten noch genauer beschreibe, könnte ohne Probleme auch auf die anderen Rezensionen angewendet werden, wie eine stichprobenartige Kontrollanalyse gezeigt hat. Dadurch wäre es möglich, den spezifischen Reiz der einzelnen Alben genauer zu erfassen. Meinen Beobachtungen nach bleiben die Beurteilungskriterien im Großen und Ganzen aber die
10 11 12 13 14
http://rateyourmusic.com/board_message?message_id=530490&board_id=2&show= 20&start=0 [22.08.2014]. http://phx.corporate-ir.net/phoenix.zhtml?c=176060&p=irol-corporateTimeline [01.05.2014]. http://www.amazon.co.uk/Inside-Careers/b?ie=UTF8&node=203043011 [22.08.2014]. http://www.amazon.de/gp/community-help/customer-reviews-guidelines [22.08.2014]. http://www.dischord.com/release/044/repeater [22.08.2014].
Analyse von Werturteilen
159
gleichen, weswegen es wohl zu einigen Redundanzen käme, die den erheblichen Mehraufwand kaum lohnenswert machen. Es ist diesbezüglich sicher nicht von Nachteil, dass die Kritiken einer Zeit entspringen, in der die meisten oder alle bisherigen Studioalben schon existierten, und ich somit einschätzen kann, welcher Tonträger tendenziell am wichtigsten erachtet wird. Der Stellenwert von Repeater lässt sich z.B. daran ablesen, wie oft das Album in den übrigen Besprechungen Erwähnung findet. Das Album wird fast 300 Mal namentlich genannt – über einhundert Mal öfter als das anderswo am zweithäufigsten erwähnte In On The Kill Taker. Des Weiteren ist es in den Top Albums of All-time auf rateyourmusic.com das bestplatzierte von Fugazi (Position 47015) und wird im Wiki setlist.fm als jenes Album angeführt, von dem Fugazi am häufigsten Songs live gespielt hat.16 Um zu veranschaulichen, wie die aus den Werturteilen gewonnenen Erkenntnisse musikanalytisch interpretiert werden können, ziehe ich exemplarisch den Song Turnover heran. Eine Analyse jedes einzelnen Songs ist aufgrund des Detailgrads, mit dem ich die Anwendung meines Baukastenentwurfs demonstrieren möchte, nicht umsetzbar. Die Auswahl des Songs erfolgte nach ähnlichen Kriterien wie die Auswahl des Albums. So wurde in den Repeater-Rezensionen kein Song öfters angesprochen als Turnover, der in den Livesets ein fixer Bestandteil war. Eine Suche im Online-Archiv der Fugazi Live Series ergab 349 Treffer17, setlist.fm reiht Turnover auf Platz 11 der meistgespielten Songs18. Wichtig ist noch zu erwähnen, dass sich Turnover nicht gravierend von anderen Stücken des Albums unterscheidet und generell kein untypischer Fugazi-Song ist. Zudem hielt ihn wohl auch die Band für gelungen, da sie ihn als Opener für ihr erstes Album verwendete. Resümierend bleibt zur Stichprobe festzuhalten, dass es sich bei meinen Probanden um Menschen handelt, die ein oder mehrere Fugazi-Alben gehört haben oder es zumindest vorgeben. Sie machen sich die Mühe, ihre Gedanken dazu zu verschriftlichen und sie als registrierte User auf einer Online-Plattform zu veröffentlichen. Sie sind der englischen Sprachen (mehr oder weniger) mächtig und haben die Kritik zwischen 1999 und 2013 verfasst, also zu einer Zeit, in der die Hochphase der Band schon vorüber bzw. sie nicht mehr aktiv war. Was diese Hörer sonst noch kennzeichnet, erschließt sich womöglich aus ihren Kommentaren.
Fragestellung und Kodierung Ein elementarer Bestandteil der strukturierenden Inhaltsanalyse ist das Entwickeln eines Kategoriensystems. Auf Grundlage der theoretischen Beschäftigung mit einer Thematik und den damit einhergehenden Fragestellungen sind Analysekategorien zu bilden, die an 15 16 17 18
http://rateyourmusic.com/charts/top/album/all-time [22.08.2014]. http://www.setlist.fm/stats/albums/fugazi-3d6bdff.html [22.08.2014]. http://www.dischord.com/fugazi_live_series [02.05.2014). http://www.setlist.fm/stats/fugazi-3d6bdff.html [02.05.2014].
160
Fallbeispiel Fugazi
das Material herangetragen und während der Analyse überarbeitet und rücküberprüft werden (vgl. Mayring 2010: 59). Wie sich in den Theoriekapiteln herausgestellt hat, bieten speziell die Studien von Diaz-Bone und v. Appen empirische Anhaltspunkte, an denen man sich beim systematischen Untersuchen der Gründe für die Popularität einer Musik orientieren kann. Aus ihren Ansätzen, und einem Vorschlag Martin Pfleiderers folgend (vgl. Pfleiderer 2009: 12), leite ich meine spezifische Fragestellung ab, welche die Richtung der Kodierung vorgibt: Welche Arten der Gestaltung, Wahrnehmung und Lebensführung werden in Bezug auf die Band Fugazi als schön und richtig empfunden und inwieweit stehen diese Aspekte in Beziehung zum Klanggeschehen? Bei der Suche nach Gestaltungskriterien entferne ich mich insofern von Diaz-Bones Zugang, als dass ich meinen Fokus in erster Linie auf Aussagen zu den ‚ästhetischen Formen‘ richte und danach frage, was den Rezensenten am klanglichen Resultat, zu dem ich auch die Lyrics zähle, ge- oder missfällt. Die Frage nach der richtigen Herstellungsweise soll mit einer Interpretation der auf das Klanggeschehen anspielenden Kommentare beantwortet werden, für deren Strukturierung ich Anleihen an meiner in Kapitel 4 entworfenen Analysesystematik nehme. Statements zur Wahrnehmung untergliedere ich gemäß v. Appens bzw. Seels Theorie in korresponsive, verstehende und kontemplative Wahrnehmungsweisen. In Bezug auf die Lebensführung unterscheide ich zwischen allgemeinen Zuschreibungen und Aussagen, bei denen die Rezensenten den Ethos der Band in konkreten Handlungen ausgedrückt sehen. Letzteres hat sich, so wie viele weitere Differenzierungen, im Zuge zahlreicher Kodierungsvorgänge ergeben. Nachdem ich die Beiträge in einer Textdatei gesammelt, nummeriert und übersichtlich formatiert hatte, begann ich in der Textanalysesoftware MAXQDA mit dem Kodieren von Textstellen. Da alle Texte in digitaler Form vorliegen, war keine Transkription notwendig. Während der ersten Durchläufe bestätigte sich die im Theorieteil getätigte Annahme, dass Genrezuordnungen und Vergleiche eine wichtige Rolle beim Beschreiben von Musik einnehmen. Ebenso wurde ersichtlich, dass es für viele Rezensenten offenbar wichtig ist, ihr Wissen über die Band oder einzelne Bandmitglieder preiszugeben. Für diese Informationen galt es eigene Kategorien zu schaffen, da sie wertvolle Hinweise darauf liefern können, wie vertiefend sich die Rezensenten mit Fugazi und ihrer Musikrichtung auseinandergesetzt haben und was sie mit bestimmten Charakterisierungen meinen. Denn ein Punk-Hörer verbindet mit Adjektiven wie ‚hart‘ oder ‚schnell‘ vermutlich etwas anderes als jemand, dem diese Art von Musik völlig fremd ist. Je öfter und detaillierter ich die Rezensionen kodiert habe, desto mehr Unterkategorien musste ich erstellen und andere wiederum verwerfen. Mit zunehmender Ausdifferenzierung der Kategorien stieg auch die Anzahl mehrfach kodierter Passagen, was die Arbeit mit MAXQDA ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr praktikabel machte. Die finale Zuordnung der Textstellen erfolgte demnach in Excel.
161
Analyse von Werturteilen
Schlussendlich, nach einem Bearbeitungszeitraum von drei Monaten, erwiesen sich sechs Hauptkategorien als zielführend: ‚Album/Songs/Personen‘, ‚Zuordnungen/Vergleiche‘, ‚Ethos/Lebensführung‘, ‚Wahrnehmungsweisen‘, ‚Lyrics‘, ‚Musik‘. Die Unterkategorien und inhaltlichen Kodierkriterien werden im nun folgenden Ergebniskapitel dargelegt. Um nachvollziehen zu können, welche Textbestandteile unter eine Kategorie fallen, habe ich jeweils Ankerbeispiele angeführt. Hierbei war darauf zu achten, dass die Zitate, welche zur besseren Verständlichkeit von groben Tipp- und Rechtschreibfehlern bereinigt wurden, von möglichst vielen unterschiedlichen Rezensenten stammen. Die Urheber der Zitate lassen sich aus den Zitationskürzel ableiten.19 Ergänzend geben quantitative Ergebnisse Auskunft darüber, in wie vielen Rezensionen der entsprechende Aspekt angesprochen wurde.
Ergebnisse Die nachstehende Tabelle zeigt noch einmal im Detail die Anzahl der Rezensionen und Ratings sowie die durchschnittliche Bewertung gemäß der ‚5 Sterne-Skala‘. Zusätzlich sind Informationen zur Wortanzahl ersichtlich: Tab. 5: Quantitative Übersicht zu den analysierten Rezensionen.
Plattform
amazon.com
amazon.co.uk
rateyourmusic.com
itunes.apple.com
Gesamt
Rezensionen
54
7
97
3
161
Ratings
54
7
3964
88
4113
Bewertung (dur.)
4,6
5
3,93
5
3,96
Wortanzahl (ges.)
7944
777
10298
286
19305
Wortanzahl (dur.)
147
111
106
95
118
Der aus allen 4113 Ratings errechnete arithmetische Mittelwert von 3,96 spiegelt die überwiegend positive Meinung der 161 Rezensenten wider. Negative Kommentare finden sich nur selten, komplette Verrisse gibt es nur vier. Bei der Wortanzahl ist anzu19
Zum Beispiel steht das Kürzel ama.com_30 für die dreißigste auf amazon.com verfügbare Rezension nach der Reihenfolge newest first. Auf amazon.com war zum Zeitpunkt der Datenerhebung das Erstellungsdatum des ersten Beitrags der 14.12.2012 (http://amzn.to/1fOlCdT); amazon.co.uk (ama.co.uk): 16.08.2010 (http://amzn.to/SvqEla); rateyourmusic.com (rateym): 17.04.2013 (http:// bit.ly/Rj0txm); auf itunes.apple.com (itunes) ist leider kein Erstellungsdatum ersichtlich, die Reihenfolge hat sich mit Stand 06.05.2014 jedoch nicht verändert (http://bit.ly/1iSiYUT). Da nicht auszuschließen ist, dass die Website-Betreiber im Verlauf der Zeit bestimmte Rezensionen löschen oder anders anordnen, kann die Textdatei mit der den Quellenangaben zugrunde liegenden Zählung beim Autor eingesehen werden.
162
Fallbeispiel Fugazi
merken, dass der Durchschnitt durch einige sehr ausführliche Beiträge etwas verzerrt wird (der Median liegt bei 63 Wörtern).20
Album/Songs/Personen Zunächst erschien es sinnvoll, zu überprüfen, ob die Kritiker das Album als Ganzes schätzen oder sie eher einzelne Songs hervorheben. In 26 Beiträgen klingt an, dass das Album von Anfang bis Ende gelungen ist. Fünf Rezensenten sehen die Qualität schwankend: „Just beginning to end a classic“ (ama.com_1). „The album is great from start to finish“ (ama.com_29). „This album starts amazingly and never stops being amazing“ (rateym_3). „The single thing keeping this from being a 5 is that I just wasn’t quite so thrilled by the second half, which felt a bit aimless at times“ (rateym_18).
Einzelne Songs finden in 62 Beiträgen Erwähnung, indem der Titel aufgeführt oder aus dem Text zitiert wird. Wenngleich die bei Konzerten oft gespielten Turnover, Repeater, Shut the Door, Merchandise und Blueprint mit Nennungen in 24 oder mehr Rezensionen etwas hervorstechen, so lässt sich, wohl auch aus Mangel an Singleauskopplungen, kein Konsens über einen Hit erkennen, der das Album überstrahlt. Die Songs der zweiten Albumhälfte werden weniger oft, aber dennoch in nicht unwesentlicher Zahl angesprochen. Tabelle 6, welche die Songs von links oben nach rechts unten gemäß der Reihenfolge am Album listet, zeigt die entsprechende Verteilung: Tab. 6: Übersicht zu den genannten Songs. Songs (N = 62)
Turnover
Repeater
Brendan #1
Merchandise
Blueprint
Sieve-Fisted Find
Greed
N
38
32
15
25
24
17
8
N (Musik)
21
17
10
14
17
11
4
N (Lyrics)
8
4
10
3
3
1
Two Beats Off
Styrofoam
Reprovisional
Shut the Door
Song #1
Joe #1
Break-In
N
5
10
3
26
8
6
7
N (Musik)
4
8
3
13
6
5
6
4
1
N (Lyrics)
20
4
1
Bei itunes.apple.com ist leider nicht nachvollziehbar, ob tatsächlich alle 88 Bewerter fünf Sterne vergeben haben, da hier im Gegensatz zu den anderen Plattformen die Einzelbewertungen nicht einsehbar sind.
163
Analyse von Werturteilen
Bei einem Großteil der Kommentare konnte ich aus dem Zusammenhang erschließen, ob die Rezensenten aus musikalischen oder textlichen Gründen auf einen Song hinweisen. Was sie zum Klanggeschehen und den Lyrics genau zu sagen haben, soll weiter unten erörtert werden. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass es häufiger die Musik ist, die sie zum Hervorheben bestimmter Stücke veranlasst. Richtet man den Blick auf die Nennungen der Musikernamen, so zeigt sich ein deutlicheres Gefälle als bei den Songs. Von den 46 Kritikern, die namentlich auf einen oder mehrere Bandakteure eingehen, befassen sich 44 mit Ian MacKaye: Tab. 7: Übersicht zu den genannten Bandakteuren. Personen (N = 46)
MacKaye
Picciotto
Lally
Canty
N
44
19
10
9
N (Musik)
34
18
10
9
N (Lyrics)
7
4
N (Ethos)
8
1
Nicht nur werden seine musikalischen Qualitäten fast doppelt so häufig thematisiert wie jene des zweiten Sängers und Gitarristen Guy Picciotto, auch ist seine (Hardcore-) Vorgeschichte und seine Haltung offenbar am interessantesten: „Ian MacKaye takes what made him a great frontman in Minor Threat and expands upon it by taking on guitar and applying his hardcore vocal style to an interesting genre of music“ (rateym_12). „Fugazi founder Ian McKaye, has already become a mythical hero of sorts for his work with Minor Threat, the DC hardcore band that started the Straight Edge movement two decades ago“ (ama.com_45). „Ian MacKaye, an artist seemingly guided by an otherwordly force who released a palpable psychological tension and Wagnerian intensity against society [...]“ (ama.co.uk_1).
Diese Ergebnisse lassen noch keine definitive Aussage über die Relevanz der einzelnen Vokal- und Instrumentalstimmen zu. Sie geben zunächst nur darüber Auskunft, dass die Rezensenten einen gewissen Kenntnisstand haben und Fugazi eher mit dem Namen MacKaye verbinden als mit Picciotto, Lally oder Canty. Wie weit sie sonst noch informiert sind, kann aus Zuordnungen und Vergleichen interpretiert werden.
Zuordnungen/Vergleiche Über die Hälfte der Kritiker kommt in ihren Kommentaren auf Genrebezeichnungen zu sprechen. Sie ordnen Fugazi bzw. Repeater bestimmten Genres zu und thematisieren die Einflüsse, die sie bei der Band wiederzuerkennen glauben. In einigen Rezensionen ist auch davon die Rede, dass Fugazi selbst Genres beeinflusst und geprägt hat: „super melodic postpunk“ (ama.com_8). „It’s like hardcore, only smart“ (ama.com_18).
164
Fallbeispiel Fugazi
„Repeater is different due to the fact that it contains less influences of genres such as reggae and other genres featured on 13 Songs, yet this makes Repeater stronger because it focuses only on post-hardcore [...]“ (rateym_57). „Fugazi are no more, which is too bad but fortunately they have left a discography that (along with Helmet) laid the foundation for post-hardcore“ (ama.com_14).
Die meisten Nennungen entfallen auf Punk/Punk-Rock, die zu einer Kategorie zusammengefasst wurden. An zweiter Stelle rangiert die Kategorie Hardcore/Hardcore-Punk, gefolgt von Post-Hardcore/Post-Punk. Einen vergleichsweise geringen Stellenwert nehmen übergeordnete Genres wie Rock/Hard-Rock oder Alternative/Indie ein: Tab. 8: Übersicht zu den genannten Genres. Genres (N = 74)
Punk/ Hardcore/ Post-Hardcore/ Rock/ Punk-Rock Hardcore-Punk Post-Punk Hard-Rock
Alternative/ Indie
Emo
N
47
24
19
16
12
9
N (Musik)
42
16
19
14
11
7
N (Ethos)
12
4
Pop
Reggae
Jazz
Dub
Ska
Funk
Rap/ Hip Hop
N
5
4
4
3
2
1
1
N (Musik)
5
4
4
3
2
1
1
3
N (Ethos)
Wie hier erkennbar ist, bezieht sich ein Großteil der Genre-Verweise auf musikalische Merkmale. Im Falle von Punk, Hardcore und Alternative wird zudem angemerkt, dass Fugazi den ursprünglichen Ethos dieser Genres würdig vertritt: „Fugazi are perhaps the last true punk band. This is not because they’re tough or juvenile or superpolitical. This is not because they have 3 foot high mohawks and copious amounts of leather and denim (they don’t, thank god). This is not because they sound like every band that occurred from the late 70’s till the mid 80’s. Fugazi reach back beyond all the punk paraphanelia, posturing, supposed ideals to find the true spirit of just what punk was. Fugazi’s music is their own. It does not compromise and it sounds like nothing else“ (ama.com_16). „Once upon a time (the early 90s), bands played a breed of music with the ethics and urgency of punk rock: any-time, any-place, any-where - and, the readiness and melody of alternative rock. Fugazi were the leading light of these groups“ (rateym_20).
Die Rezensenten verweisen häufiger auf Genres als auf andere Bands, um die Musik von Fugazi zu kategorisieren. In 33 Beiträgen werden Ähnlichkeiten aufgezeigt, Empfehlungen abgegeben oder aber es wird zum Ausdruck gebracht, dass sich gerade jüngere Musiker nicht mit Fugazi messen können. Das Spektrum an aufgeführten Bands ist
165
Analyse von Werturteilen
groß21, und mit höchsten drei Nennungen sticht keine davon besonders hervor. Aussagen zum aktuellen Musikschaffen von MacKaye, Picciotto, Lally und Canty sowie zu Bands, in denen sie vor oder nach ihrer Zeit bei Fugazi ehemals mitwirkten, habe ich separat untersucht. Mit einer Ausnahme (Rites of Spring) erwähnen die Rezensenten ausschließlich MacKaye-Bands, wobei der Fokus eindeutig auf Minor Threat liegt. Was die Fugazi-Akteure gegenwärtig musikalisch machen, ist nur für einen Probanden, der The Evens beiläufig anspricht, erheblich: Tab. 9: Übersicht zu den genannten Bands von Fugazi-Akteuren. Bands von FugaziAkteuren (N = 25) N
Minor Threat
Embrace
Pailhead
The Evens
Rites Of Spring
22
2
1
1
1
Bei Kommentaren, die Repeater im Vergleich zu anderen Alben bewerten, differenziere ich zwischen allgemeinen, genrespezifischen und bandspezifischen Einschätzungen. Knapp ein Fünftel der Rezensenten hält Repeater für eines der besten Alben, das sie kennen: „This is the best album I own. This is the best album I’ve ever heard. For context, I own some 500 albums currently“ (rateym_79). „This album (Repeater) has to rate as one the top 10 best albums of all time“ (ama.co.uk_3).
26 Hörer weisen Repeater in einem bestimmten Genre als herausragend aus: „Repeater one of the best alt-rock/punk albums around. an instant classic“ (ama.com_17). „[...] the best post-hardcore album ever made, in my opinion“ (rateym_13).
In 69 Beiträgen wird das Album im Kontext des Bandœuvres diskutiert. Für 23 Bewerter ist Repeater das beste Fugazi-Album, für zehn sind andere Alben besser und für fünf sind alle Alben gleichermaßen ansprechend: „This CD is, in my opinion, their best“ (ama.com_30). „Do yourself a favor and stick to 13 Songs or Minor Threat’s Complete Discography for Ian MacKaye’s best work. This definitely is not it“ (ama.com_49). „Fugazi almost never disappoints me. I love almost everything they have put out“ (ama.com_9).
21
At the Drive-In, The Blood Brothers, Nirvana, Pearl Jam, Sonic Youth, Hot Water Music, Bear vs. Shark, Braintree, Kyuss, Green Day, The Offspring, Gang of Four, Helmet, The Clash, Beatles, AC/DC, Jimi Hendrix, Beastie Boys, Faith No More, Therapy?, Rage Against the Machine, Sum 41, Braid, Sunny Day Real Estate, Wire, Trail of Dead, NOFX, Reel Big Fish, Alice in Chains, Bad Religion, Wipers, Scary Kids Scaring Kids, Liars, Kings Crimson, Misson of Burma, Fear, Hüsker Dü, The Get Up Kids, Iggy Pop, Refused, The Minutemen, Bad Brains, Black Flag, Primus, Modern Lovers, Agnostic Front, Pixies, Judas Priest, Ramones, Dead Kennedys, AFI, Less Than Jake, Jim Morrisson.
166
Fallbeispiel Fugazi
Darüber hinaus schreiben 25 Rezensenten, dass Repeater wichtig für die Entwicklung von Fugazi war bzw. es einen guten Einstieg bietet, um sich mit der Band zu beschäftigen. „Repeater was the next logical step in the evolution of Fugazi as a band“ (rateym_16). „All their albums are good, but newbies should start with this one or ‚13 Songs‘“ (ama.com_18).
Als Zwischenresümee der bislang eher statistisch orientierten Auswertung lässt sich festhalten, dass die Hörer aus meiner Stichprobe durchaus kundig sind und einiges über Fugazi und ihre Musik wissen. Sie nennen passende Genres, haben vertiefende Kenntnisse über ein Bandmitglied, präferieren unterschiedliche Songs, kennen mehrere Alben und hören ähnliche Bands.
Ethos/Lebensführung N = 52 (Allgemeine Zuschreibungen: 27 / Konkrete Handlungen: 48)
In fast einem Drittel der Beiträge sind die Lebensführung, die Einstellung oder die menschlichen Eigenschaften der Band ein Thema. Den Musikern aus Washington DC wird dabei ein hohes Maß an Moral, Ethik und Integrität attestiert. Sie werden als anständig, glaubwürdig und ernsthaft beschrieben und ihre offensive wie selbstreflexive Kritik an gesellschaftspolitischen Missständen positiv herausgestellt: „How utterly improbable for me to bring up economics when we’re talking about Fugazi! Next I’ll mention ...ARTISTIC INTEGRITY! [...]“ (rateym_84). „[...] their ethics about greed are absolutely moral. Props to the band for keeping true to themselves“ (ama.com_5). „[...] i think its their indie credibility that precedes them“ (ama.com_51). „The sincerity, self-reflection and complexity revealed in the music and lyrics shows a group of men who are at the height of their song-writing and performing powers. The cultural commentary, which sometimes includes criticisms levelled at their own persons, fits well with the angry but controlled intensity that permeates each song. [...] it is a blueprint for how to mix your sense of alienation with constructive music making“ (ama.com_48).
Ebenso würdigt man, dass Fugazi – ganz der Do It Yourself-/Punk-Attitüde entsprechend – eigenmächtig handelt und in keiner kommerziell getriebenen Abhängigkeit steht. Ihre Ablehnung von gewinnorientierten Prinzipien ist insgesamt von großer Bedeutung für die Kritiker und wird nicht selten mit ihrem Geschäftsgebaren in Verbindung gebracht. Obgleich nur wenige auf persönliche Konzerterlebnisse zu sprechen kommen, so ist es vielen Bewertern dennoch wichtig zu betonen, dass die Band stets maximal fünf Dollar Eintritt verlangte. Sie schätzen ihre negative Haltung gegenüber massenmedialer Vermarktung, Merchandising und Major Labels und verweisen in diesem Zusammenhang mehrfach auf das unabhängige Label Dischord: „Refusing to charge more than $5 entry to concerts, which they stipulate must be all-age shows; refusing to make music videos or sell merchandise; freezing the prices of their albums at $10; and belonging to an independent record label, Dischord, (created by Fugazi singer Ian MacKaye) that distributes its profits to various charities, Fugazi are the ultimate punk band“ (ama.com_10).
Analyse von Werturteilen
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„[cheap] CD’s, [cheap] shows, no merchandise, no B.S. It really is all about the music“ (ama.com_30). „[...] people less concerned with vanity and commercial success, and more concerned with the music that they’re playing and their fans“ (ama.com_39). „Selling records for ‚cheap‘ charging people $5 (or sometimes free) to see them in concert, no radio airplay, MTV, etc., and still, they haven’t sold out. Minor Threat broke up because Ian thought they were getting too much fame... amazing“ (ama.com_42). „It takes major balls just to BE Fugazi and deny the powers of money, wider fame, and the temptation to play straight even to your underground base“ (rateym_18).
Wie im weiter oben angeführten Zitat aus ama.com_48 ersichtlich, drückt sich der Ethos von Fugazi laut den Rezensenten nicht nur im Geschäftlichen aus, sondern auch in der Musik. Es wird angemerkt, dass die Rohheit und Intensität der Musik ihre Aufrichtigkeit und Hingabe widerspiegelt und ihr kritisches und reflektierendes Denken mit der musikalischen Komplexität korrespondiert: „[...] this is one band I highly respect as individuals and their DIY ethic. [...] Choosing not to compromise and thinking for yourself is a strong message in punk music, but if you want to know one of the bands that practice what they preach, it is these guys. [...] They are a band that every band should be, which is good people. And this ideal is even evident in their music, especially in a song like Merchandise and Turnover. Punk Rock to me is raw music that is purely uninhibited and perfectly exemplifies the ultimate feeling of freedom. Their music is raw, unpolished, and bare bones. In other words, it is honest“ (rateym_12). „‚Repeater‘ is a relatively straightforward record. It’s driven by thick power chords and some sublime bass lines but there is an understated harmony to it all which kind of amusingly reflects Ian MacKaye’s strict tee-tolling lifestyle“ (rateym_5). „On Repeater, Fugazi play intellectual everymen and make you think they're going on about politics, society and so forth when in actuality they just are using such themes as a vehicle for their quirky post-something-or-other music and sophisticate instrumental interplay. Or is it the other way around?“ (rateym_49).
Weitere Übereinstimmungen erkennen die Rezensenten in den Songtexten (siehe hierzu Abschnitt ‚Lyrics‘). Dass die Band während ihrer Konzerte ein großes Augenmerk auf Gewaltfreiheit legte und das für Hardcore typische ‚Slamdancing‘ und ‚Stagediving‘ zu unterbinden versuchte, findet lediglich in zwei Reviews Beachtung. Gänzlich belanglos ist das Aussehen oder der Kleidungsstil der Musiker.
Wahrnehmungsweisen N = 101 (Korresponsiv: 69 / Verstehend: 47 / Kontemplativ: 43)
Im Verlauf der Analysen zeigte sich, dass häufiger auf episodisches denn auf semantisches Wissen Bezug genommen wird und es vielen Hörern ein Anliegen ist, ihre persönlichen Erfahrungen und Empfindungen an andere weiterzugeben. Aus diesen Aussagen konnte ich Rückschlüsse ziehen, welche Wahrnehmungsweisen sie als schön und richtig empfinden. Die meisten Nennungen entfallen auf die Kategorie ‚korresponsive Wahrnehmung‘. Hier galt mein Interesse zunächst den atmosphärisch-situativen Korrespondenzen.
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Fallbeispiel Fugazi
Kaum ein Rezensent hält es für nennenswert, wann, wo und wie er die Musik rezipiert, ob er sie also zu einer bestimmten Tageszeit, zu Hause oder in Clubs, via Kopfhörer oder über eine laute Anlage hört. Auch Konzerterfahrungen werden, wie bereits angedeutet, nur selten thematisiert. Dies kann natürlich daran liegen, dass ein Großteil der Autoren orts- oder altersbedingt nicht die Möglichkeit hatte, einen der zahlreichen Auftritte zu besuchen. Für die Rezensenten ist es generell unwichtig, ob man die Anfänge oder die Hochphase der Band bewusst mitbekommen hat. Ihre Kommentare vermitteln nicht den Eindruck, dass es einem richtigen Wahrnehmen abträglich wäre, wenn man die Gruppe erst nach ihrer aktiven Zeit für sich entdeckte. Was jedoch sehr wohl eine Rolle spielt, ist die Art und Weise des Entdeckens. Nach den Schilderungen der Kritiker wird man auf Fugazi durch Freunde oder andere geschätzte Bands aufmerksam, und nicht etwa durch massenmediale Kanäle, für die sie auch sonst ausschließlich negative Bemerkungen übrig haben. Sie äußern sich abfällig über die Musik auf kommerziellen Radiosendern und empfehlen, das Album besser in unabhängigen Plattenläden oder direkt bei Dischord als bei Großkonzernen zu kaufen: „In 1986, while bemoaning the death of Minor Threat, hearing that Bad Brains had broken up (rumor had it that HR had died) and learning to like Metallica, my friend from DC came up with an incredible tape of demos from Ian’s new band, Fugazi. The tape became a local classic, dubbed and copied until it was hardly audible“ (ama.com_40). „I have always had plenty of friends who were over the top in their appreciation so I would kind of take them in via osmosis method. Anyway, this is the only album I took the time to get (got it on the cheap a long time ago)“ (rateym_47). „Frontman Tim McIlwrath [von Rise Against; Anm. BSt] WORSHIPS Ian MacKaye, mostly Minor Threat, but I’m pretty sure he digs some hell out of Fugazi and that is one reason why I am excited to hear Fugazi, you know, hear the idol of my idol and what not“ (rateym_6). „This is what punk is about, not the 3 chord emo crap you hear on the radio“ (rateym_93). „My wish is that a kid puts down the Sum 41 cd, walks out of the Best Buy, and goes to his local independent record store and buys a copy of Fugazi’s Repeater“ (ama.com_34). „Just make sure to pick up a copy from Dischord Records, because this is honest music, and it’s a lot cheaper straight from the source“ (ama.com_28). „I recommend this to ANYONE who is sick of hearing the same s*** on the radio!“ (itunes_3).
Das letzte Zitat lässt vermuten, dass die Rezensenten Fugazi einem bestimmten Hörerkreis mit bestimmten Interessen nahelegen und anderen Hörern das Verständnis für die Musik absprechen. Weitere Hinweise auf legitime und nicht-legitime Hörerkreise finden sich aber nur vereinzelt: „These songs are stone-cold fucking anthems for punckszx across the globe“ (rateym_14). „If you are looking for something new and different you haven’t heard of then check out Fugazi“ (ama.com_43). „Kids don't listen to this record becuz its so different from what is popular today. They wouldn't even understand the political undertones“ (itunes_2).
Ist das Interesse an der Band erst einmal geweckt, bleibt sie einem über Jahre im Gedächtnis. So zumindest die Meinung jener Autoren, die über ihre Freude beim Wieder-
Analyse von Werturteilen
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entdecken berichten und sich beim Hören in frühere Zeiten zurückversetzt fühlen. Sie vergleichen ihre Wahrnehmung als Erwachsener mit der als Jugendlicher und stellen gewisse Veränderungen fest: „Just bought it yesterday after not listening to it for ten years“ (ama.com_44). „For me it is walk in a place where I grew up!“ (ratym_50). „When I was in school, all of the hip kids listened to Fugazi, so I picked up this CD. I didn’t like it. Now, ten years later [...] I decided to give Repeater another listen [...] and surprise, I love the album now. It is really weird how your tastes in music change over the years. I think I am going to pick up 13 Songs tomorrow, because if I remember correctly, that was the album that all the hip kids had. At the age of 30, maybe I'm finally a hip kid“ (ama.com_23).
Manche Hörer identifizieren sich sehr stark mit Fugazi, was sich an Beiträgen ablesen lässt, in denen der Einfluss der Gruppe auf das eigene Leben und die persönliche Werthaltung zur Sprache gebracht wird. Für die Verfasser ist das Besondere an der Band ihre Fähigkeit, mit den Songs zum Nachdenken anzuregen und in einem das Bedürfnis zu wecken, selbst aktiv gegen Missstände aufzubegehren. Solche Kommentare verweisen auf den Bereich charakterlicher Korrespondenzen und auf Wahrnehmungsweisen, die über ein passives, einmaliges Nebenbeihören weit hinausreichen. „[...] they made inspirational things, things that make me move, make me think about a lot of things“ (rateym_56). „It’s powerful enough for you to want to throw all your branded goods out of the window and go and vandalise the nearest Tesco“ (rateym_8). „[...] the entire record is a loud scream to all of us that we must take responsibility for the world and for our actions“ (ama.com_4).
Dass die Musik von Fugazi eine langfristige und tiefgehende Beschäftigung ermöglicht, kann zudem aus Statements geschlossen werden, die der Kategorie ‚verstehende Wahrnehmung‘ zuordenbar sind. Für nicht wenige Rezensenten lädt das Klingende zum einem verstehenden, mitunter sogar analytischen Hören ein. Laut eher allgemein gehaltenen Kommentaren handle es sich um eine interessante, ‚gedankenvolle‘ Musik, die von einfachen Gemütern ebenso wie von Intellektuellen genossen werden könne: „Fugazi is really really cool because it’s one of those things an airhead and an intellectual can both enjoy if they are open-minded“ (ama.com_41). „I can see why someone who is sixteen doesn’t like it. I didn’t like it as a kid either--too abstract and not punk enough. [...] It’s thoughtful [...]“ (ama.com_44).
Es wird hervorgehoben, dass das Album durch mehrmaliges Hören Schritt für Schritt erschlossen werden müsse und der Genuss umso größer werde, je öfter man die Songs hört. Konkret ginge es dabei um ein ‚Durchbrechen‘ der musikalischen Oberfläche, mit dem Ziel, musikalische Feinheiten zu entdecken: „Ok at first listen I didn’t understand Fugazi at all. […] But on the second listen...I got it. Brilliant! [...] be sure to give it a listen or two, and you will be back for three, four, and one hundred twenty seven“ (ama.com_20). „Aside from the first two tracks, this was pretty boring. Edit: The more I listen to this, the more I find myself enjoying it“ (rateym_1).
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Fallbeispiel Fugazi
„I can understand not liking fugazi at first because when I first started listening to their music, I had trouble getting into it. [...] The fact that fugazi’s music doesn’t provide that instant gratification is actually one of the reasons that they are so incredible. [...] it just keeps growing on you and every time you listen you hear something new. And that way, their music never gets old and never loses its meaning“ (ama.com_35). „[...] each time I turn it on I have to adjust somewhat again. When you do, though, it’s awesome“ (rateym_84). „This album contains so many hidden facets and subtleties I find something new each time I listen to it…“ (ama.com_50).
Jedoch sind nicht alle Kritiker dieser Ansicht. Bei ein paar von ihnen stellte sich auch nach wiederholtem Hören keine Begeisterung ein: „I’ve tried to listen to this thing multiple times, I’ve tried skipping to different tracks, I can never last more than 10 minutes“ (ama.com_2). „I have listened to this record many times now […] no reason to label this album as ‚monumental‘ or ‚revolutionary‘“ (ama.com_51).
Andere wiederum argumentieren aus Musikersicht, und geben den Ratschlag, sich analytisch mit den Songs auseinanderzusetzen: „After repeated listening I realized that I like Fugazi better than Minor Threat. [...] at first I didn’t like it. After a couple of years of music lessions I gave it another try and really got into this album“ (ama.com_38). „But if you could imagine, for just one second, recording an album and having all the necessary instruments play just right for about 1 hour while you are recording, then you will see just how utterly amazing this album is“ (ama.com_13). „[...] these guys should be examined by younger punk musicians“ (ama.com_16).
In den Beiträgen konnten ebenso Aussagen gefunden werden, die eine nach Innen gerichtete, ‚kontemplative Wahrnehmung‘ erahnen lassen. So mancher Hörer beschreibt einen Zustand des Versenkens, in dem an nichts anderes als die Musik gedacht und eine hypnotische bis karthatische Stimmung hervorgerufen wird: „Fugazi will meet you where you are, but soon take you somewhere entirely different. And when you get there, you will wonder how you ever went without it. [...] The two instrumentals serve their purpose. They give you a mental rest from the lyrical hailstorm that is the backbone of the album“ (ama.com_24). „Either way, you’ll think of nothing else while you sit and watch“ (ama.com_47). „[...] a sound that was nevertheless more cathartic than destructive“ (ama.co.uk_1). „[...] ‚Shut the Door‘ which is a highly repetitive, but extremely hypnotic MacKaye track [...]“ (rateym_71).
Nicht etwa Ruhe oder Melancholie scheinen hierfür entscheidend zu sein, sondern das Empfinden von Energie und Intensität. Man werde psychisch wie physisch in die Musik hineingezogen, bekomme kalte Schauer über den Rücken, habe das Bedürfnis zu tanzen oder seine Aggressionen auszuleben: „I become absolutely sucked into the energy and attitude of it all“ (rateym_5).
Analyse von Werturteilen
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„Repeater contains some of the most punishing music you will ever hear, but not in a painful way. [...] It is also so intense that it can make queasy people crazy by the end!“ (rateym_96). „[...] the way Blueprint evolves into it’s fist-pumping conclusion, the absolutely infectious Merchandise interlude that will make you dance [...]“ (ama.com_5). „Recommended... turn the volume up and rawk the tin cans down“ (rateym_84). „When they rock, it’s so well constructed one could not possibly sit still. [...] It’s tough to explain why this record sends chills up and down your spine, makes you feel like shouting out the lyrics, and thrashing around like a crazy person, but it does“ (ama.com_19).
Den in ama.com_19 herausgestellten Drang mitzusingen haben offenbar noch weitere Rezensenten: „You will feel the absolute need to shout out the lyrics as they come to you because they are filled with such intense emotion, it’s hard not to relate to the songs“ (ama.com_13). „1-2-3 REPEATER! Yes, that’s the sound of me singing along to Fugazi. Feel free to join in. In fact, just try and resist“ (rateym_82).
Mein Interesse gilt nun der Frage, wie sich die Kritiker zur Gestaltung dessen äußern, was ihnen beim Hören des Albums zu Ohren kommt. Beginnen möchte ich bei den Songtexten, auf die in 48 Rezensionen Bezug genommen wird.
Lyrics N = 48 (Beschreibungen: 37 / Direkt zitiert: 25)
Gemäß den untersuchten Beiträgen ist das Relevanteste an den Lyrics ihr gesellschaftskritischer Inhalt. Es finden sich sowohl generelle Charakterisierungen wie „socially and politically aware lyrics and themes“ (rateym_95) als auch konkrete Aussagen zur Kritik der Band an Rassismus, Drogenmissbrauch, Gewalt und Materialismus/Kommerzialismus/Konsumdenken. Betont wird insbesondere der letztgenannte Themenkreis: „It’s thoughtful and presents lucid commentary on the darkside of commercialism (something that is becoming ever more apparent)“ (ama.com_44). „This album combines great music with great message, [...] shouting about things such as materialism“ (rateym_77) „‚Merchandise‘ - Remember that whole no merchandise thing? Wanna know why? Listen“ (ama.com_30).
15 Rezensenten zitieren aus dem Song Merchandise, 10 davon die Textzeile „You are not what you own“, und unterstreichen dergestalt ihre Achtung für das antimaterialistische Denken der Musiker. Wichtig erscheint es den Verfassern des Weiteren, dass die Inhalte zwar mit Emotion und Leidenschaft, nicht aber plakativ transportiert werden. Sie loben die textliche Intelligenz, Komplexität und Ernsthaftigkeit: „[...] this is punk with so much more to offer than angry youth slogans [...]“ (rateym_79). „[...] their lyrics were packed with intelligence and emotion [...]“ (ama.com_19).
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Fallbeispiel Fugazi
„[...] with lyrics that although angry & confrontational, aren’t yelled at the listener [...]. [...] the rousing ‚Sieve-Fisted Find‘ shows that Fugazi can mix serious lyrical content with aggressive rhythmic sections and still sound completey relevant“ (ama.com_25). „[...] MacKaye’s impeccable ability to put passion behind any line, even if it is, ‚We release our poisons like Styrofoam‘“ (rateym_71). „[...] the lyrics became more assured and intelligent [...]“ (ama.com_14).
Explizite Äußerungen dazu, ob Text und Musik gelungen harmonieren, gibt es nur vereinzelt: „Complementing the sound are Fugazi’s lyrics: a mix of direct and enigmatic contemplations on violence, apathy, identity and more that manage to match the passion and textured abstraction of their music“ (rateym_4). „The lyrics are maybe too serious minded and understated at times, but they hardly undermine the music, which here is astonishing“ (ama.com_32).
Musik N = 115
Weitaus häufiger als die Lyrics sprechen die Kritiker musikalische Merkmale an. In 115 Beiträgen gehen sie ganz allgemein oder zum Teil auch sehr spezifisch auf die Musik ein. Zunächst richte ich den Fokus auf die eher unbestimmten Aussagen. a) Musik allgemein N = 103 (Kraftvoll/Intensiv/Aggressiv = 37 / Komplex/Intelligent = 22 / Einzigartig/Innovativ = 22 / Abwechslungsreich = 14 / Eingängig/Punchy = 20)
Die hier gefassten Kommentare verweisen auf jene hypothetische Hörebene, die ich in Kapitel 4 als musikalische Oberfläche bezeichnet habe. Demzufolge wurden genauere Anspielungen auf einzelne Gestaltungsmittel oder Vokal-/Instrumentalstimmen in dieser Kategorie nicht berücksichtigt. Auffällig viele Rezensenten heben die Energie, Intensität und Aggressivität der Songs hervor: „It holds its energy all the way through [...]“ (ama.com_22). „It’s so powerful and driven… [...]“ (ama.com_28). „Intense punk rock from start to finish [...]“ (rateym_55). „An excellent collection of songs with scorching attitude and biting hardcore energy [...]“ (rateym_95). „Solid, aggressive and interesting, with good lyrics“ (rateym_33).
Das Klingende sei aber nicht nur kraftvoll und energiegeladen, sondern gleichzeitig auch intelligent, komplex und experimentell: „The music is raw and loud but also very complex and beautiful“ (ama.com_41). „Fugazi took the origins of the bare-bones punk sound, maintaining its rawness and anger, but added some real intelligence and incredible structure to it [...]“ (rateym_13).
Analyse von Werturteilen
173
„This is the band at their most intense, but Fugazi is a band who has realized something: how to make good, complicated songs. While the songs are complex for such fast music, it is more rewarding that way“ (rateym_96). „Fugazi’s basic sound is already a warped and semi-experimental take on basic punk [...]. [...] what really attracted me to Fugazi was the amount of subtlety actually going on under what is normally a blunt and angry music“ (rateym_18).
Eingängige Momente gebe es ebenso: „[...] all the songs are anthems that are brutally honest and refreshingly catchy (at times)“ (ama.com_34). „Repeater. 1, 2, 3. Repeater. So catchy not even the cream of catchiness could replace it on the catchiest day of the year“ (rateym_88). „Repeater + Three Songs (to give it’s full name) starts strongly with the catchy Turnover [...]. [...] Blueprint is more melodic, but still filled with the same fury from Merchandise“ (ama.co.uk_4). „[...] Fugazi’s mastery of catchy tunes is hypnotic and awe inspiring/jaw dropping“ (ama.co.uk_3).
Aus den Aussagen kann interpretiert werden, dass die Musik von Fugazi mitunter deswegen geschätzt wird, weil sie scheinbar Gegensätzliches wie Intensität, Komplexität und Eingängigkeit vereint. Möglicherweise liegt darin die ihr mehrfach zugeschriebene Einzigartigkeit und Innovativität begründet: „[...] they already accomplished an already unique sound, which is a creature that is unlike anything else“ (rateym_12). „I don't like punk that much but I think Fugazi is a great band and their music seems to stand out. [...] If you are looking for something new and different you haven’t heard of then check out Fugazi“ (ama.com_43). „This stuff is just too different and well done to ignore as a fan of post-hardcore“ (itunes_2).
An früherer Stelle ist bereits angeklungen, dass einige Rezensenten auf Genrebezeichnungen zurückgreifen, um das Gehörte zu charakterisieren. Bei näherer Betrachtung erwiesen sich diese genrebezogenen Kommentare allerdings als wenig aufschlussreich, da meist nicht weiter ausgeführt wird, warum die Musik Punk, Hardcore usf. ist oder nicht ist und zu viel Interpretationsspielraum bleibt – etwa „This is punky alternative rock“ (rateym_45) oder „They all have an indie/alt feel to them“ (rateym_53). Dies trifft gleichermaßen auf die oft sehr unkonkreten Bandvergleiche zu. Für eine aussagekräftige Deutung wäre es erforderlich, die genannten Gruppen ebenso zu analysieren: „‚Merchandise‘ is cool too, catchy as fuck and reminds me of if the Beastie Boys were (still) a Punk band, fucking cool“ (rateym_6). „Fugazi’s sound is closer to acts like Faith No More, Therapy? or Rage Against The Machine than to Minor Threat“ (ama.com_32). „Sometimes it is good in a Sonic Youth type of good“ (rateym_81).
a1) Musikalisches Können N = 13
Um eine vielschichtige Musik wie die oben beschriebene spielen zu können, müssen alle vier Bandmitglieder gewisse musikalisch-handwerkliche Fähigkeiten mitbringen. Diese
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Fallbeispiel Fugazi
Annahme wird durch Kommentare gestützt, die das Können der Band als Ganzes würdigen. Für die einen sind die Spielfertigkeiten generell außergewöhnlich, für die anderen im Rahmen des Punk-Genres: „Every instrumentalist is talented and brings a whole lot to the table. [...] The attitude and emotion don’t even quite eclipse the level of musicianship these guys have“ (ama.com_5). „Instrumentally the band is simply top notch [...]“ (rateym_15). „Every instrument, every vocal, just comes into place. It’s what i call Kyussism. The proper notes are played at just the right time and just the right place, that it is hard to imagine the songs on this album any different!“ (ama.com_13). „Musicianship and production are above average for punk“ (rateym_24). „Most punk bands, as musicians, stick to the 3 chord or nothing rule. Not Fugazi. Even with no formal training [...]“ (ama.com_16). „But the first half is among the most flawless punk ever recorded, these guys are regular virtuosos of the sub-genre“ (rateym_18).
a2) Zusammenspiel/Interaktion N = 31 (Mehr als zwei Stimmen = 20 / Rhythmussektion = 20 / Gitarren = 8 / Gesangsstimmen = 2)
Weitere Hinweise auf die Wertschätzung der musikalischen Kollektivität liefern Aussagen, in denen das Zusammenspiel der Musiker positiv betont wird. Die Rezensenten loben vor allem die Interaktion von Bassgitarre und Schlagzeug und weisen die Rhythmussektion als ein hervorstechendes Merkmal aus. Konkret kommt die ‚Verzahnung‘ der Instrumente und der Groove, der aus ihrem Zusammenspiel entsteht, zur Sprache: „Fugazi has the best rhythm section of any band alive“ (ama.com_47). „These guys are angry, man. Plus their rhythm section is ridiculous“ (rateym_30). „But a lock-step between the bass and drums that could best be described as junglelike, seen at it’s best on the title track“ (ama.com_21). „The foundation of all the songs is the absolutely rock solid rhythm section. Joe and Brendan are one of the best rhythm sections of the past decade. From the opening track, Turnover, they lay down a groove so tight it grabs you and won’t let go. [...] or the way Ian and Guy interweave their lines in Shut the Door, both with each other and with the bassline“ (ama.com_50).
Der Verfasser von ama.com_50 ist mit seiner Meinung, dass auch die Gitarren untereinander sowie mit anderen Instrumenten gut interagieren, nicht alleine: „[...] innovative yet underrated guitar interplay between singer/guitarist-frontmen Ian MacKaye […] and Guy Picciotto“ (ama.com_10). „Turnover starts the album with a slow building guitar with one of the best drum and bass copliments ever behind“ (ama.com_20). „Brendan Canty feathers his high-hat and brings bassist Joe Lally with him to groove along to the guitar work [Turnover]“ (ama.com_24). „Built on the interplay between some truly incredible drumming and bass-playing and guitars that burn with both ferocity and focus [...]“ (ama.co.uk_2).
Analyse von Werturteilen
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Eine umfassende Beschreibung, wie die Band als kollektive Einheit funktioniert, geben z.B. die nachfolgenden Kommentare. Jeder Musiker hat nach Ansicht dieser Kritiker einen wichtigen Platz im Gesamtgefüge und trägt entscheidend dazu bei, warum das Album gefällt: „Lally and Canty’s rhythm playing is top-notch, punching out dub-inspired grooves and angular beats with ablomb in a manner that recalls Gang Of Four at their best. The twin guitars crash, plink, and screech all over the dynamic stop/start/loud/quiet rhythms [...]. Turnover [...] an excellent Guy song (I love how he sings against the rhythm on the second verse). [...] Sieve-Fisted Find sports more Guy vocals over a RAD bassline“ (ama.com_14). „Take this album for example, here we have the duel vocals of Ian and Guy. The rhythm of Guy matched by the angry passion of Ian. Where Guys vocals work so well in the rolling rhythm of songs like Turnover Ian’s are equally at home in the heavy reggae influenced Shut the Door with its stop start beat and heavy bass. [...] Instrumental songs such as Brendan #1 and Joe #1 give the other musicians in the band a chance to come to the front, Brendan #1 with it’s rolling drums and Joe #1 with its head nodding bass“ (ama.com_15).
b) Gestaltungsmittel N = 70
Als Nächstes soll ein genauerer Blick darauf geworfen werden, welche Gestaltungsmittel die Rezensenten für erwähnenswert halten. Wenig überraschend konnte ich nicht alle Analysedimensionen meines Baukastenentwurfs als Kodierkategorien verwenden. Zum Beispiel vermittelt keiner der Autoren seinen Höreindruck anhand von Obertonstrukturen oder Hüllkurvenmerkmalen, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass sich durch eine Analyse des Frequenzspektrums oder der Artikulation keine neuen Verstehenshorizonte eröffnen lassen (siehe Kapitel 5.2). b1) Sound/Produktion N = 34
Während des Kodierens wurde die Entscheidung getroffen, der Kategorie ‚Sound/Produktion‘ nur jene Aussagen zuzubuchen, in denen entweder die Produktion des Albums thematisiert oder unter tontechnischen Aspekten der Klang bestimmter Instrumente hervorgehoben wird. Zwar habe ich auch allgemeine Charakterisierungen des ‚Band-Sounds‘ gesammelt, hier hat sich aber gezeigt, dass die Statements entweder sehr weitläufig interpretierbar sind oder es zu häufig zu Überschneidungen mit anderen Kategorien kommt, wodurch eine eigene Kategorie wenig sinnvoll erschien: „The sounds of this album were very appropriate for this time period [...]“ (rateym_37). „[...] note the holy trinity of ‚Merchandise‘, ‚Sieve-Fisted Find‘ and ‚Styrofoam‘ as the three tracks that not only define the album but the early Fugazi sound“ (ama.co.uk_2). „Post-hardcore is a really hard to define with it’s sound“ (rateym_12).
Die Aufnahmequalität wird in den Kommentaren sowohl positiv als auch negativ angemerkt. Negativ bewertet wird bspw. der ‚lo-fi‘-Sound und die Qualität der Schlag-
176
Fallbeispiel Fugazi
zeugaufnahmen. Ein Rezensent kritisiert zudem den fehlenden Abwechslungsreichtum in der Soundgestaltung: „Lo-fi in the sense that it’s fuzzy as hell [...]“ (ama.com_2). „[...] the obvious lo-fi sounds [...]“ (ama.com_51). „The production on ‚Repeater‘ is probably also the worst in their career, with Canty’s drums sounding way too compressed and the whole album just sonically sounding very dated“ (rateym_71). „[...] the songs are samey in their sound. [...] They’re all similarly dense in sound [...]“ (rateym_84).
Die positiv gestimmten Hörer stufen die Produktion insbesondere für das Punk-Genre als überdurchschnittlich ein und bezeichnen die Rohheit und Einfachheit als passend: „Musicianship and production are above average for punk“ (rateym_24). „[...] means awesome punk-roots with awesome songwriting/production“ (rateym_58). „The raw production does not hide anything and hence makes one feel that the band is playing right in front of them“ (ama.com_48). „The production on the thing is also perfectly minimal, and in it’s minimal it reaches a better communication of its maximum“ (rateym_18). „Simply produced [...]. In the face of the crass over-produced pop charts“ (ama.co.uk_5).
b2) Songwriting/Komposition/Strukturen N = 25
Das Vokabular der traditionellen Musiktheorie spielt in den untersuchten Texten eine ähnlich große Rolle wie messtechnische Beschreibungen. So ist die Anzahl an Beiträgen, die Anmerkungen zu diskreten Klangdimensionen und tonalen oder metrischen Bezugssystemen beinhalten, verschwindend gering. Eine die Harmoniegestaltung betreffende Kategorie war demnach überflüssig. Nichtsdestotrotz sind das Songwriting, die kompositorischen Qualitäten und die musikalischen Strukturen der Songs für manche Rezensenten eine positive Erwähnung wert. Sie sprechen von einem kompakten Songwriting und organisiertem Chaos sowie von fokussierten und geradlinigen Kompositionen: „[...] the songwriting is tighter“ (ama.com_14). „The album kicks and screams but never feels like it’s about to lose control. Organised chaos“ (rateym_5). „The songs became more focused and constructed on Repeater than they were previously on 13 Songs. The composition of the music was becoming more and more direct“ (rateym_16).
Andere empfinden das Songwriting als inspiriert und abenteuerlich und stellen den Abwechslungsreichtum der Stücke heraus: „[…] truly inspired songwriting. [...] adventurous songwriting. [...] exercise of musical ideas“ (ama.com_5). „[...] the utterly adventurous and unique instrumentation, song structures, and sounds, this album is vital, uncompromising, and aesthetically perfect“ (ama.com_4).
Analyse von Werturteilen
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„[...] exploring so many ideas. [...] ‚Turnover‘ […] and then has an amazing up and down musical structure“ (ama.com_27). „The songwriting never ceases to amaze me every time I listen to this album“ (ama.com_50).
Darüber hinaus wird geschätzt, dass das Songwriting bei Fugazi ein kollektiver Prozess ist und dies zur Qualität beiträgt: „Repeater sounds like a tightening of sound and direction [...]. Maybe this is because they really took to songwriting as a group!“ (rateym_18). „[...] there’s something about Repeater that finds the group’s songwriting […] fully realized and in a class of its own“ (rateym_4). „Fugazi’s two equally talented songwriters (MacKaye and Picciotto) [...]“ (ama.com_3).
Die kritischen Kommentare sollen nicht vorenthalten werden: „[...] they are sticking to textbook examples on how to be aggressive [...]“ (rateym_71). „Fugazi writes average songs [...]“ (ama.com_51).
b3) Melodie N = 14
Bezüglich der melodischen Gestaltung nennen die Rezensenten keine konkreten Melodiecharakteristika, sondern merken eher allgemein an, dass es gelungene Melodien gibt: „And the best among them have really neat melodies to them“ (rateym_18). „The [...] melodies and chants, it’s all very addictive“ (rateym_13).
Etwas öfter findet sich die Zuschreibung ‚melodisch‘: „Super melodic postpunk“ (ama.com_8). „It is an album full of melodic anthems, all of them punchy, none of them cliched“ (ama.com_48). „‚Turnover‘ - a classic. Very melodic“ (ama.com_29).
b4) Rhythmus N = 23 „It has an edge, but is infused with hooks and grooves [...]“ (rateym_20). „[...] their acrobatic figures and powerful grooves“ (rateym_28). „They also know how to lock their instruments into tight grooves, as in the opener, ‚Turnover‘ [...]“ (rateym_79).
Bei der Kategorie ‚Zusammenspiel/Interaktion‘ hat sich gezeigt, dass im Speziellen das von Joe Lally und Brendan Canty Gespielte ein positiv konnotiertes Groove-Empfinden hervorzurufen vermag. Die dort angeführten Zitate informieren zum Teil auch über die Besonderheiten der rhythmischen Gestaltung. Es ist die Rede von genreerweiternden Tendenzen, von Dub-, Jungle-, Funk- und Reggaeeinflüssen, von ‚rollenden‘ und synkopierten Rhythmen und schrägen ‚stop start‘-Beats. Die Rhythmen sind offenbar deswegen reizvoll, weil sich Fugazi über die rhythmischen Konventionen von Punk und Hardcore zwar hinwegsetzt, die Intensität und Aggressivität dieser Genres aber dennoch beibehält:
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Fallbeispiel Fugazi
„[...] the rousing ‚Sieve-Fisted Find‘ show that Fugazi can mix serious lyrical content with aggressive rhythmic sections [...]“ (ama.com_25). „[...] a rolling rhythmatic chat about what is raw“ (ama.com_47).
b5) Dynamik/Tempo N = 25
Ein wesentliches Merkmal des Albums scheint die Dynamik der Songs zu sein. Es geht den Rezensenten dabei weniger um die Lautstärke im Allgemeinen, welche eher sporadisch in Kommentaren wie „The music is raw and loud“ (ama.com_41) Erwähnung findet, sondern eher um prozessuale Entwicklungen. In einzelnen Beiträgen wird positiv wie negativ das geringe Tempo der Musik kommentiert: „There didn’t have to be […] fast dirty paces that were near inaudible. [...] Slowed down and clear, Repeater saved punk and brought about (sigh) ‚emo‘“ (ama.com_34). „[...] from this cd down, it marked the the slowing down of their music. [...] If you’re looking for the more mellow cd’s, go with Repeater and down“ (ama.com_42). „The songs on this are just slow and pretentious in my opinion [...]“ (ama.com_36). „This is the part where the poser follows the instructions from the hipster handbook and tells you that this band is not boring, and that slow, painfully simple music is not lame“ (rateym_7).
Eine größere Bedeutung messen die Kritiker den Dynamikveränderungen bei. Laute und leise, schnelle und langsame Passagen würden sich auf gelungene Weise abwechseln: „‚Turnover‘ shows that Fugazi’s brand of punk utilises all of the main rock instruments, and not just in a way that simply is a band playing as loudly and fast as possible. [...] Of course some of Repeater is going to be loud and fast. It’s a punk album! [...] Sometimes they can slow down a little and still be great though [Styrofoam]. [...] perhaps the slowest song on the album, but also the darkest [...] it has great dynamics changes with a quiet verse about the darkness of a crack den and the destructiveness of drug addiction [...] before the loud chorus with MacKaye manically screaming [Shut the Door]“ (rateym_8). „[...] it’s an exercise in how to effectively mix quiet and loud, clean and distorted, restrained and chaotic“ (ama.com_46). „[...] the throttling ‚Sieve Fisted Find‘, […] the slippery dynamics of ‚Shut the Door‘ [...]“ (rateym_4).
Sie machen die als variantenreich wahrgenommenen Spannungs- und Intensitätsverläufe jedoch nicht alleine an der Lautstärke oder dem Tempo fest. Es wird in diesem Zusammenhang auch auf die klangliche Dichte, den Geräuschanteil oder tonale Aspekte verwiesen: „And with ‚athletic‘ I don’t mean speed or force. I am referring rather to their remarkable flexibility, ability to ‚push past the red‘ and release almost immediately [...]“ (rateym_28). „They toyed at will with tempo changes, chromatic changes and density changes“ (rateym_40). „[…] the building riff and cathartic release of ‚Sieve Fisted Find‘ (which is probably my favourite early Fugazi song) [...]“ (rateym_61).
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„The noisy elements make it so incredibly abrasive that they can slow down without losing any intensity. [...] soft to loud dynamics in the songs ‚Blueprint‘ and ‚Eight Beats Off‘. [...] The whole record is constantly shifting in tone and pace without seeming like it follows some formula“ (ama.com_19). „‚Turnover‘, a prime example of the kind of tight-loose push-pull thing these guys are so good at. [...] and before you know it Ian MacKaye’s guitar explodes and Guy Picciotto is rocking the mic“ (rateym_79).
c) Stimmen N = 53
Abschließend sei noch einmal ein verstärkter Fokus auf Aussagen zu einzelnen Vokaloder Instrumentalstimmen gerichtet. c1) Instrumentation N=6
Die wenigen dieser Kategorie zuordenbaren Kommentare lieferten kaum neue Erkenntnisse. Die Instrumentation wird entweder im Kontext des Songwritings (‚komplex‘, ‚abenteuerlich‘, ‚einzigartig‘) oder des Zusammenspiels genannt. Unter Berücksichtigung des oben Geschriebenen lässt sich behaupten, dass die Rezensenten das klassische Rock-Line-Up auf diesem Album wohl als passend empfinden, nicht zuletzt da jedes Instrument seinen Zweck erfülle: „‚Turnover‘ shows that Fugazi’s brand of punk utilises all of the main rock instruments [...]“ (rateym_8). „[...] there’s something about Repeater that finds the […] firey instrumental symbiosis fully realized and in a class of its own“ (rateym_4).
c2) Vokalstimme(n) N = 29
Hier galt es zunächst herauszuarbeiten, von welcher Art stimmlichen Ausdrucks gesprochen wird. Es zeigte sich, dass kein einziger Rezensent die Qualität der Stimmen an klassischen Gesangskriterien wie saubere Intonation oder dem ‚Treffen‘ der Töne bemisst. Viel eher thematisieren sie das Schreien: Sowohl negativ: „Some interesting moments but then they always starting to scream and getting aggressive. I don’t like that“ (rateym_23).
Aber vor allem positiv: „[...] until you dig deeper into it and fall in love with the […] stupid shout in ‚Repeater‘“ (rateym_58). „[...] MacKaye’s patented shouty hardcore delivery of the title track’s chorus [...]“ (rateym_59). „Not that Ian’s a slouch, his closing song ‚Shut the Door‘ is as emo as it gets (an early example of the singing to screaming dynamic people would use over... and over... and over when it got to the 2000s...)“ (rateym_61).
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Fallbeispiel Fugazi
Der letztgenannte Kommentar, in dem der Wechsel von Singen zu Schreien als wichtiger Aspekt der Dynamik erkannt wird, ist insofern ein Einzelfall, als dass die Kritiker über den Gesang bzw. das Singen ansonsten kaum schreiben: „The singing is for those with heart“ (rateym_26). „Picciotto crooning like a sick Iggy Pop [Two Beats Off]. [...] MacKaye’s impeccable ability to put passion behind any line [...]“ (rateym_71).
Neben dem Hinweis auf Guy Picciottos Croonen finden sich noch weitere ungewöhnliche Charakterisierungen des stimmlichen Ausdrucks, die von Seufzen, Flüstern bis hin zu Rappen/Toasten reichen: „[...] and Guy Picciotto is rocking the mic. [...] The rhymes are there. The pre-emo sighing in tune is there [Turnover]“ (ama.com_24). „‚Shut the Door‘ - [...] with whispered vocals. Then the power chords kick in and along comes the screaming. Haunting track. ‚Song #1‘ - Are they rapping? This sounds like the Beastie Boys. But that’s not necessarily a bad thing“ (ama.com_30). „On Song #1 the two of them bounce off one another in a style I would not describe as rap but more similar to ‚toasting‘ in the ska style“ (ama.com_15).
Generell schätzen die Rezensenten das Kraftvolle und Leidenschaftliche an den beiden Vokalstimmen: „[...] impassioned vocals [...]“ (ama.com_5). „I can see some connections with the emo world in this release [...]. [...] Joe’s voice does almost coin that style of singing, but in such a way that when everyone else sounds whiny, he projects power“ (ama.com_21). „The vocals have the passion and raw aggression of hardcore punk such as Black Flag and Minor Threat“ (rateym_74). „It keeps talking until it is quiet, then either the fists will break the twine and grab injustice by the throat [MacKaye]“ (ama.com_47).
c3) Gitarre(n) N = 36
Die Gitarren werden wiederholt mit allgemeinen Wertschätzungsäußerungen bedacht, vereinzelt als ‚stechend‘, aggressiv oder ‚bohrend‘ beschrieben und der Sound gewürdigt: „The guitars are nothing short of amazing [...]“ (rateym_15). „Fugazi’s Repeater is a fine debut with some stinging and aggressive guitar playing [...]“ (rateym_95). „[...] separated from the rest by fabulous guitar sounds and intelligence“ (ama.co.uk_5). „Both are swiss army knife guitarists, wielding their amazing sounds in every direction. Squalls, riffs, strumming, they bring a whole bag of neat guitar sounds into the music. [...] the piercing guitar lines of Repeater [...]“ (ama.com_5). „With the addition of Guy’s rickenbacker it changed the whole dynamic of the band. Guy uses the Rickenbacker like a laser to cut though Ian’s Chunky riffs produced by his SG“ (rateym_3).
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Abgesehen von rateym_3 sind Gitarrenmarken ansonsten kein Thema, gleichermaßen wie Verstärkermodelle oder Effektgeräte. Entscheidend für den außergewöhnlichen Sound sei vielmehr das Gespielte selbst. Hervorgehoben wird die Spieltechnik, die Arbeit am Instrument und das Ausnützen der Möglichkeiten, die (E-)Gitarren bieten. Dies hätte etwas Interessantes, Überraschendes und Einzigartiges: „[...] gut-wrenching guitar work [...]“ (ama.co.uk_3). „[...] more interesting guitarwork than the opening comp 13 songs“ (rateym_14). „Some brilliant guitar-playing I’ve heard“ (rateym_64). „Ian McKaye and Guy Piccioto where smart enough to recognize that the guitar, in fact, has 6 strings on it and is capable of a wider variety of sounds that powerchords. Fugazi’s unique guitar sound is just one of their trademarks [...]“ (ama.com_16).
Für die musikalische Analyse ferner von Relevanz ist die Frage, ob sich die Rezensenten auf Einzeltonfolgen, also z.B. auf Soli, oder auf Akkorde/Riffs konzentrieren. Hier ist eine Tendenz zu Letzterem bemerkbar: „[...] ‚Blueprint‘, whose moody chords were majorly ripped off by The Get Up Kids [...]“ (rateym_59). „MacKaye’s guitar riffs on Repeater were actual riffs and added to the songs rather than just being a driving force behind the music“ (rateym_16) „[...] strong, funky hooks/riffs/magnificentexamplesofguitarinterplay/twiddlythings... [...]. [...] If you like punchy, ‚angular‘ riffs [...]“ (rateym_84).
Interessant ist zudem, dass in elf Rezensionen die Gitarren in Verbindung mit dem Songaufbau gebracht und zum Teil als elementar für das Erzeugen von Spannung und Auflösung angesehen werden. Besondere Beachtung gilt den Gitarren zu Beginn der Songs: „And the guitars... they’re simply amazing! Listen to the squealing line at the beginning of Repeater [...]“ (ama.com_50). „‚Turnover‘ begins with the guitar volume swelling on the 12th fret [...]. ‚Repeater‘ […] having a guitar riff in the chorus that only Fugazi could create“ (ama.com_27). „[...] this also one of the great guitar records of the 90’s... wait around 2 minutes into ‚Merchandise‘ for an anthemic guitar explosions that easily impresses [...]“ (ama.com_25).
c4) Bass N = 32
In den Kommentaren bleibt relativ offen, was das Spezifisch-Besondere an Joe Lallys musikalischem Beitrag ist. Es wird angedeutet, dass die Basslinien erhaben und komplex sind und über eine bloße Hintergrundbegleitung hinausgehen. Ein Rezensent erkennt im Bass das tragende Element der Musik: „The bassline is awesome“ (rateym_26). „[...] some sublime bass lines [...]“ (rateym_5). „[...] 3 dimensional basslines [...]“ (ama.co.uk_3).
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Fallbeispiel Fugazi
„Repeater melodically is bass driven, taking some cues from post-punk in this respect, with intricate bass hooks from Joe Lally defining the majority of the songs here“ (rateym_8).
Ähnlich wie bei den Gitarren haben die Kritiker auch beim Bass lobende Worte für die Spieltechnik. Lallys Läufe seien handwerklich brillant und würden zum Nachspielen einladen: „[...] some truly incredible […] bass-playing [...]“ (ama.co.uk_2). „[...] until you dig deeper into it and fall in love with the bass playing in ‚Shut the Door‘ [...]“ (rateym_58). „Fugazi teaches bass“ (rateym_10). „The album I’d recommend to anyone that plays the bass“ (rateym_32). „Play Lally basslines all night“ (rateym_42).
c5) Schlagzeug N = 30
Am Schlagzeugspiel fällt den Hörern konkret dessen physische Komponente auf. Die Härte der Schläge sei mitunter spürbar: „The drums are hard hitting [...]“ (rateym_12). „Sometimes it is good in this is some bloody great rock drumming kind of good, way to beat the shit out of those skins, man. Particularly on Brendan #1, top stuff there“ (rateym_81).
Offenbar beschränken sich Brendan Cantys Fähigkeiten aber nicht nur auf kraftvolles Spielen: „The drums are great“ (rateym_26). „Then there is ‚Brendan #1‘, [...] those drums […] are undeniable [...]. [...] ‚Sieve-Fisted Find‘ and ‚Greed‘ are really good, especially the drums“ (rateym_6). „[...] Brendan #1 with it’s rolling drums [...]“ (ama.com_15).
Etwas genauer wird die Aufnahmequalität charakterisiert, wobei die Meinungen zwischen ‚seltsam metallisch‘, ‚zu komprimiert‘ und ‚perfekt‘ schwanken: „[...] strangely metallic drum sound [...]“ (rateym_61). „[...] Canty’s drums sounding way too compressed [...]“ (rateym_71). „The drums are mixed PERFECT, I love the way they sound, if only more Punk had drums like that“ (rateym_18).
Überblick Die vorgenommene Inhaltsanalyse verrät einiges darüber, warum die Autoren der untersuchten Rezensionen Gefallen an Fugazi und im Speziellen am Album Repeater finden. In der nachstehenden Tabelle sind noch einmal die zentralen Aspekte ihrer Zuschreibungen im Überblick dargestellt:
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Analyse von Werturteilen Tab. 10: Überblick zu den Ergebnissen der Inhaltsanalyse. Wissen (Interpretationsrahmen) - Genres - Bands - Bandschaffen - Personen Lebensführung
Gestaltung
- anständig - glaubwürdig - kritisch - denkend - selbstreflexiv
- Arbeit (körperlich) - Ausnützen des Instruments - Instrumententechnik steht nicht im Vordergrund - kollektiv individuell - selbstbestimmt, DIY (Business) Wahrnehmung
korresponsiv - längerfristige Bindung - aktives Hören, wird zu Handlungen angeregt - über persönliches Umfeld aufmerksam geworden - kaum konkrete Hörsituationen beschrieben
verstehend - mehrmaliges Hören möglich - über Jahre interessant - Entdecken von Facetten - Wertschätzung aus Musikersicht
kontemplativ - Versenken in die Musik - körperliche Einwirkung und Reaktionen - Mitsingen
Ausdrucksformen Lyrics - gesellschaftskritisch, insbesondere gegenüber Materialismus - selbstreflexiv - emotional/leidenschaftlich intelligent/komplex
Musik - kraftvoll/intensiv/aggressiv komplex eingängig/melodisch - Zusammenspiel/Interaktion individuelles Spiel - Spannung und Auflösung - Steigern und Verringern der Intensität - körpernahe Beschreibungen - keine diskreten Kategorien - zeitliche Abfolge interessant, einzelne Klangcharakteristika weniger (Ausnahme: Gesang, Schlagzeug)
In Bezug auf die Gestaltungsweisen wurde deutlich, dass die Rezensenten das Kollektive an der Band wie auch die Leistungen jedes Einzelnen würdigen. Sie verbinden das Gehörte mit Arbeit und Übung und überhöhen die Musiker nicht als Genies, denen ihre Fertigkeiten und Einfälle in die Wiege gelegt wären. Auf wenig Gegenliebe stößen wohl elektronische Instrumente oder elektronische Klangverfremdungen, da sie den Herstellungsprozess intransparenter erscheinen lassen und den Verdacht einer Verschleierung musikalischer Schwächen schüren könnten. Die Anschauung als ehrliche und anständige Handwerker wäre in Frage gestellt, und genretypische Konventionen würden vermutlich zu stark missachtet. Punktuelle Abweichungen dürften in Ordnung und sogar er-
184
Fallbeispiel Fugazi
wünscht sein, solange nicht das Gefühl aufkommt, dass sich die Band zu sehr von ihren Hardcore-Wurzeln entfernt. Das kritische Bewusstsein über die eigenen Traditionen und über die eigene Stellung in einer Gesellschaft, die skeptisch betrachtet wird, hinterlässt im Klingenden offensichtlich Spuren. Es ist weder das hinlänglich Bekannte noch das komplett Neuartige, was die Rezensenten fasziniert, sondern das nuancierte Hinterfragen und Weiterentwickeln von bereits Bestehendem. Statt utopischen Weltverbesserern wollen sie bodenständige Realisten, die mit den verfügbaren Mitteln und im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv und selbstbestimmt etwas Eigenes schaffen, das zum Verstehen, Mitvollziehen und selbstvergessenden ‚Eintauchen‘ anregt. Distanziertheit oder Gekünsteltheit wären hier ebenso fehl am Platze wie plumpe Plattitüden. Vielmehr bedarf es einer zugänglichen, aber zugleich längerfristig interessant bleibenden Musik, die emotional mitreisst und bei der sich das Körperliche des Spiels auf den Hörer überträgt. Wichtig scheint dabei die Art und Weise zu sein, wie sich die Songs im zeitlichen Verlauf entwickeln. Die zum Thema gemachten Vorgänge, wie etwa das Prinzip von Spannung und Auflösung, werden größtenteils auf kontinuierliche Klangdimensionen zurückgeführt, und auch sonst charakterisieren die Kritiker das Klingende vorwiegend anhand von körpernahen Metaphern. Dies, und die häufige Bezugnahme auf episodische Wissensinhalte, kann als Indiz für eine tendenziell enge persönliche Bindung zur Musik gelten. Naheliegender ist jedoch, dass abstrakt-kategoriale Begrifflichkeiten aus der Musiktheorie deswegen keine Verwendung finden, weil sie den Rezensenten nicht geläufig sind oder aber als nicht passend erachtet werden, um die Hörempfindungen zu verbalisieren. Die folgende Musikanalyse erhebt nun keinesfalls den Anspruch, das Klanggeschehen ‚besser‘ oder ‚adäquater‘ als die Amateurkritiker beschreiben zu wollen. Das Ziel ist es, den vorgeschlagenen Analysebaukasten zu nutzen, um ihre Aussagen aus einem erweiterten Blickwinkel interpretieren zu können.
5.2 Musikanalyse - Turnover
Musikanalyse - Turnover Gemäß des in Kapitel 4 skizzierten Ablaufplans und unter Berücksichtigung der oft eher allgemein gehaltenen Rezensentenkommentare wurde zunächst die musikalische Oberfläche untersucht.
Oberfläche Zur ersten Annäherung habe ich den Song in mehreren Hördurchläufen möglichst ‚unanalytisch‘ auf mich wirken lassen, um einen Eindruck zu bekommen, wie er sich im Gesamtverlauf entwickelt, und um mir meines persönlichen Urteils bewusst zu werden (ich halte Turnover für gelungen, schätze andere Fugazi-Songs aber mehr). Danach begann das eigentliche Zergliedern, mit einer groben Unterteilung in zeitliche Abschnitte
Musikanalyse - Turnover
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und deren adjektivischen Beschreibung. Hierbei orientierte ich mich an der von Wolfgang Thies empirisch erarbeiteten Liste von allgemeinen Begriffen zur Klangcharakterisierung, die 51 Wörter beinhaltet (vgl. Thies: 1982: 57). Da sich Thies’ Begriffe auf elementare Klangereignisse beziehen, und nicht auf Klangfolgen oder Klangtexturen, ist die Übertragung auf das Oberflächengeschehen als Versuch zu werten:22
Abb. 19: Abschnittsverlauf Turnover.
In dieser Tabelle wird ersichtlich, dass der formale Aufbau von Turnover für einen Rocksong nicht sonderlich ungewöhnlich ist, zumindest den ersten Teil betreffend. Nach einem Intro folgen dreimal abwechselnd, mit geringfügigen Variationen, Strophe und Refrain.23 Im zweiten Teil des Songs findet sich zunächst ein kurzer Zwischenteil, 22
23
Hierzu Pfleiderer: „Begriffe der Klangbeschreibung, so zeigte Thies in weiteren Versuchen ansatzweise, lassen sich als Kombinationen und Spezifikationen dieser Elementardimensionen verstehen. Auch hier stellt sich jedoch die Frage, inwieweit eine Übertragung auf Klangfolgen und Klangtexturen möglich und sinnvoll ist“ (Pfleiderer 2003: 25). Ich verwende diese beiden Begriffe, da ich davon ausgehe, dass der Leser weiß, was mit ihnen gemeint ist. Der terminologischen Unschärfen, die z.B. von Kaiser (2011) thematisiert werden, bin ich mir bewusst. Ansonsten folge ich seinem Vorschlag, dass „es sich als gewinnbringender erweisen [könnte], auf Fachbegriffe gänzlich zu verzichten und formale Abschnitte mit Buchstaben oder Zahlen zu kennzeichnen, als in den Streit über eine Terminologie zu geraten, deren Verwendung den Eindruck von Beliebigkeit hinterlässt“ (Kaiser 2011: 73).
186
Fallbeispiel Fugazi
der nach einer soloartigen Passage wiederholt wird. Letztere erklingt nach einem weiteren neuen Abschnitt in mehr als doppelter Länge noch einmal. Das Stück endet mit einer leicht zurückgenommenen Variante der ersten Hälfte der ersten Strophe. Auf eine erneute Wiederholung des Refrains verzichten die Musiker. Gemeinsam mit dem Intro besteht Turnover demnach aus sechs deutlich unterscheidbaren Sektionen innerhalb einer üblichen Rock-/Popsong-Dauer, was als Hinweis auf einen gewissen Abwechslungsreichtum interpretiert werden kann. Von Interesse ist nun, wie sich die Abschnitte charakterisieren lassen, wie stark sie voneinander abgegrenzt sind und welchen Intensitäts- und Bewegungseindruck sie vermitteln. Zur Visualisierung dieser Aspekte wurde eine prozessorientierte Ablaufgrafik erstellt: 24
Abb. 20: Prozessverlauf Turnover.
Die langgezogenen, wenig bewegten und klaren Geräusche im Intro gehen fließend in die erste Strophe über. In dieser sind die mittelschnellen und mittelgroßen Bewegungen anfangs eher nach vorne, später eher mittig ausgerichtet. Mit der Veränderung der Bewegungsausrichtung geht eine Intensitätsteigerung einher, und der Klang wird kräftiger und rauer. Im Vergleich zur Strophe ist der Refrain, der ziemlich nahtlos anschließt, gleichmäßiger und stetiger. In kleinen Bewegungen wird die Intensität schrittweise angehoben und fällt erst mit Beginn der zweiten Strophe, die nunmehr lediglich aus dem raueren Teil besteht, wieder ab. Durch die Rückkehr zur Strophe löst Fugazi die bis dahin sukzessiv aufgebaute Spannung ein wenig auf, um sie nachfolgend, anhand einer Erhöhung der Ereignisdichte, noch stärker zu intensivieren. So ist die dritte Strophe weiter verkürzt und mittels zweier kraftvoller Unterbrechungen leicht abgewandelt, und in der letzten C-Sektion sind zwei Refrains direkt aneinandergereiht. Der zweite davon wird nur ca. bis zur Hälfte gespielt und mündet unerwartet im ruhigen und gedämpften Zwischenteil D, der hier sowie im Anschluss an den danach kurz angedeuteten Abschnitt E für eine kleine Atempause sorgt, bevor sich die aufgestaute Energie in F und E auf unterschiedliche Weise entlädt – in Abschnitt F durch große und weiträumige, in Abschnitt E durch schnelle und treibende Bewegungen. Der langsam ausklingende BTeil vom Anfang des Stückes schließt den Spannungsbogen. 24
Die eingezeichneten Bewegungsmuster geben prinzipielle Tendenzen wieder. Genauere Darstellungen sind in den Detailgrafiken auf Einzelstimmen- und Wechselbeziehungsebene zu finden.
Musikanalyse - Turnover
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Es sei an dieser Stelle abermals die Subjektivität solcher Einschätzungen betont. Dass der Song auch bei anderen Hörern ähnliche Intensitäts- und Bewegungsempfindungen hervorruft, kann aus Publikums- und Musikerreaktionen geschlossen werden, die in Live-Videos dokumentiert sind.25 Zum Nutzen der Adjektive von Wolfgang Thies ist zu sagen, dass sie beim analytischen Herantasten zwar helfen, sich der persönliche Höreindruck mit ihnen aber natürlich nicht passgenau wiedergeben lässt und es zusätzlich eigener Worte bedarf, um das Gehörte zu beschreiben. Dies trifft freilich wohl auf jegliche Typologie dieser Art zu. Der nächste Schritt der Analyse besteht darin, nach den Gründen für die dargelegten Merkmale zu fragen. Dafür soll das Klanggeschehen nach und nach weiter zergliedert und die Erkenntnisse abschließend wieder zusammengeführt werden. Bei dieser Vorgehensweise erscheint es mir sinnvoll, nicht gleich zu sehr ins Detail zu gehen, sondern zunächst die Entwicklungen im Gesamtverlauf des Stückes mit anderen, nämlich messtechnischen Augen zu betrachten:26
Abb. 21: Klangverlauf Turnover.
Die in Adobe Audition CS6 erstellte Wellenformabbildung zeigt die Pegelauslastung, welche auf der y-Achse in Prozent angegeben ist. Es wird erkennbar, dass die Lautstärke 25 26
http://www.youtube.com/watch?v=R7Y6atVu7co, http://www.youtube.com/watch?v=gzC0RNkBXM0 [22.08.2014]. Hierzu ist anzumerken, dass ich die Originalversion zur Analyse herangezogen habe. Stichprobenartige Vergleichsanalysen mit dem Remaster aus dem Jahr 2005 zeigen nur geringe Unterschiede (etwa bezüglich des Dynamikumfangs). Die Aussagen in den folgenden Abschnitten beanspruchen demnach Gültigkeit für beide Versionen. Zu beachten gilt einzig, dass das Intro im Remaster um rund 600 ms gekürzt wurde, wodurch die darauf folgenden Abschnitte dementsprechend nach vorne verschoben sind.
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Fallbeispiel Fugazi
zur Mitte der ersten Strophe sprunghaft ansteigt und dann auf relativ hohem Niveau bis zum Ende des zweiten E-Teils bleibt. Die Pegelauslastung sinkt in dem Bereich zu keinem Zeitpunkt unter 20 Prozent, d.h. auffällig leise Passagen oder Momente der Stille sind nicht auszumachen. Dies liefert einen Hinweis darauf, dass die beschriebenen Intensitätsveränderungen offenbar nicht direkt mit Lautstärkenvariationen zusammenhängen. Eine in WaveLab Elements 8 durchgeführte Messung des RMS-Pegels mit einer Auflösung von 200 ms, einem Schwellwert von -60 db und einer Minimalzeit von 7 s zwischen den Messpunkten ergibt einen Durchschnittswert von -12 dB.27 Von den sechs vom Programm angegebenen RMS-Maxima liegen vier entweder zu Beginn oder am Ende einer Sektion, während die RMS-Minima alle in der ersten und zweiten Strophe zu finden sind. Das Sonagramm wurde ebenso in Adobe Audition erstellt und dabei eine logarithmische Anzeige sowie eine spektrale Auflösung von 4096 gewählt. 28 Da ich im Zuge der ersten Hördurchgänge zwischen meinem linken und rechten Ohr nur minimale Unterschiede bemerkt habe, und die beiden Stereo-Spuren auch im entsprechenden Überblicks-Sonagramm nahezu identisch wirkten, ist aus Platzgründen nur das Mono-Signal abgebildet. Die Abstufungen in der Darstellung zeigen, dass sich die Sektionen vor allem im Bereich unter 200 Hz unterscheiden und hier insbesondere die C- und E-Teile durch ihr dichtes Klangspektrum hervorstechen. Bezüglich der höheren Frequenzbereiche kann zwischen 0:33,0 und 3:50,0 von einer vergleichsweise ebenmäßigen und kontinuierlichen Textur gesprochen werden. Das Tempo des Stücks beträgt gemäß der Software BPM Analyzer 130 bpm. Turnover liegt somit sehr viel näher am experimentell ermittelten bevorzugten Referenztempo von 85 bis 120 bpm (vgl. Pfleiderer 2006: 47) als die Songs der ersten Hardcore-Phase Anfang der 1980er Jahre, die bis zu 200 bpm erreichen (vgl. Budde 1997: 210), und ist in dieser Hinsicht für einen ‚old school‘-Hardcore-Hörer wahrscheinlich wenig energiegeladen. Die eher moderate Geschwindigkeit lässt den Musikern dafür mehr Spielraum für die Ausgestaltung ihrer Stimmen, was ja für viele der Rezensenten nicht unerheblich zu sein scheint. Welche Stimmen an Turnover beteiligt sind und in welchen Sektionen sie erklingen, kann an der folgenden Ablaufgrafik nachvollzogen werden:
27
28
Der Wert für die Auflösung wurde aufgrund der zu diesem Analysezeitpunkt ungefähr eingeschätzten Dauer einer Bass-Achtelnote gewählt. Messungen mit anderen Auflösungen (z.B. 100 ms und 1000 ms) zogen kaum Veränderungen nach sich. Die Auswahl der Minimalzeit ergibt sich aus der Dauer des kürzesten Abschnitts D. Eine Verkürzung auf 1 s führte auch hier zu nahezu deckungsgleichen Ergebnissen. Zum Teil habe ich auch geringere Auflösungen verwendet, um bestimmte Charakteristika besser bzw. überblicksartiger betrachten zu können. Weitere Einstellungen: Window Function: BlackmanHarris, Decibel Range: 132 dB. Als zusätzliche Programme dienten mir EmapSon, Sonic Visualizer, Praat und WavePad.
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Abb. 22: Stimmenverlauf Turnover.
Die einzige von Anfang bis Ende vorkommende Stimme ist die Gitarre, bei der ich davon ausgehe, dass Ian MacKaye sie eingespielt hat (eine genauere Information ist im Booklet leider nicht zu finden). Es ist in der Abbildung deswegen von Gitarre(n) die Rede, weil in den D- und E-Teilen eine zweite Gitarrenlinie zu hören ist und zudem das Klangbild Hinweise auf zwei Gitarren gibt (siehe auch ‚Stereopanorama‘).29 Da die Abschnitte D und E in meinen Detailanalysen nicht die Hauptrolle spielen werden und die Gitarrenlinien im restlichen Stück identisch sind, ist ab sofort nur von einer Gitarre zu lesen.30 Nach 18 s setzen das Schlagzeug (Brendan Canty) und die Bassgitarre (Joe Lally) ein, und ab diesem Zeitpunkt leisten auch diese beiden Instrumentalisten einen durchgehenden Beitrag zum Song. Die Mitwirkung des Gesangs (Guy Picciotto) beschränkt sich indessen auf die ersten drei Strophen, die Refrains sowie die beiden ruhigeren Zwischensektionen. In Letzteren entstehen durch das Fehlen von Snaredrum-Schlägen kleine Brüche in der instrumentalen Textur.
Einzelstimmen Die weitere analytische Vorgehensweise gestaltete sich wie folgt: Zunächst habe ich für jede der vier Stimmen eine von Beginn bis zum Ende des Songs reichende Ablaufgrafik zum Prozessverlauf angefertigt, um, gleichermaßen wie bei der Oberflächenebene, einen Überblick zu den prozessualen Entwicklungen zu bekommen und erste Vergleiche anstellen zu können (Anhang A2.1). Als zweiter Schritt erfolgte eine Transkription des Gesamtstücks mittels der traditionellen Notenschrift. Danach wurde zu jedem Takt ein Sonagramm und eine Wellenformvisualisierung erstellt und gespeichert, die Breite der Abbildungen den im Fünfliniensystem notierten Takten an29 30
Live spielen sowohl MacKaye als auch Guy Picciotto bei diesem Song Gitarre. In den D-Teilen werden die dortigen Akkordzerlegungen (jeweils H2, Fis3, H3) von einem in Achteln wiederholten Powerchord auf H2 untermalt. Im ersten E-Teil spielt die zweite Gitarre eine Achtelkette auf dem Ton E4, während im zweiten E-Teil eine sehr kurze und eher geräuschhafte Slidebewegung eingestreut wird. Es handelt sich demnach nicht wirklich um ‚Soli‘, die einer genaueren Analyse und Interpretation durchaus wert wären.
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Fallbeispiel Fugazi
gepasst und oberhalb der Partitur angefügt. Durch diese grafische Aufbereitung ist auf einen Blick erkennbar, welche Veränderungen im Frequenzspektrum und in der Amplitude mit den notierten Klangereignissen einhergehen (Anhang A2.2). Die erzeugten Prozessverlaufs-, Noten-, Sonagramm- und Wellenformdarstellungen bildeten die Grundlage für die anschließenden Detailanalysen auf Einzelstimmen- und Einzelstimmen-Wechselbeziehungsebene. Mein hauptsächliches Ohren- und Augenmerk galt dabei den Strophen- und Refrainmerkmalen, was sich damit begründet, dass die Abschnitte B und C meines Erachtens nach die prägnantesten des Songs sind. Der Aufwand, jede einzelne Passage des über vier Minuten dauernden Stücks bis ins Letzte zu zergliedern, stünde in keinem Verhältnis zu den erwartbaren Erkenntnissen. Eine der schwierigeren Aufgaben beim Analysieren einer Musik ist die systematische Darlegung der Ergebnisse. Damit meine ich, dass dem Leser im Auswertungskapitel nur jene deskriptiven Aussagen präsentiert werden sollten, welche sich mit Bezug auf die Fragestellung(en) interpretieren lassen. In der vorliegenden Arbeit ist dies vor allem bei den Detailanalysen herausfordernd, da es mir ja auch um das Aufzeigen der Möglichkeiten ging, die das entworfene Baukastensystem dem Analysierenden bietet. Um einen guten Lesefluss zu gewährleisten und Redundanzen zu vermeiden, werde ich die gewonnenen Einsichten nicht für jede Stimme einzeln darlegen, sondern sie sogleich zusammenführen. Auch hier verweise ich auf den Anhang, in dem übersichtliche Sammelgrafiken zum Gesang (Anhang A2.3), zur Gitarre (Anhang A2.4), zum Bass (Anhang A2.5) und zum Schlagzeug (Anhang A2.6) vorliegen.
Einzelstimmen-Wechselbeziehung Ich beginne diesen Ergebnisteil mit detaillierten Verbildlichungen der die Strophen und Refrains konstituierenden Abschnitte. Zuoberst sind die Gruppierungen, Fortschreitungstendenzen, Intensitätsverläufe und Bewegungsmuster der beteiligten Stimme ersichtlich. Um mich den Beginn- und Endpunkten der prozessualen Aspekte halbwegs genau anzunähern, zog ich eine Sonagrammdarstellung als Schablone heran. Darunter finden sich notenschriftliche Transkriptionen und davon abgeleitete Melodiekonturen und Akzentuierungsebenen. Diese Visualisierungen werden sodann hinsichtlich Melodie-, Harmonie- und Rhythmusgestaltung kommentiert. Im Anschluss daran nehme ich die Klangereignisse und Klangfolgen genauer unter die Lupe und untersuche Merkmale des Stereopanoramas und der Dynamik sowie des Frequenzspektrums und der Artikulation. Der strukturelle Aufbau des ‚Wechselbeziehungskapitels‘ ist demnach an den sieben herkömmlichen Untersuchungsschwerpunkten der Einzelstimmenebene orientiert. Die prozessorientierten Untersuchungsschwerpunkte werden jeweils mit eingeflochten, und die Analysen mit Blick auf die Oberflächenbeobachtungen und Rezensentenaussagen unmittelbar interpretiert.
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Zum dargestellten Strophenabschnitt ist vorab zu sagen, dass er in den ersten drei Strophen aneinandergereiht wird, wobei sich die Gestaltung der Instrumentalstimmen kaum verändert (keine Gitarre zu Beginn von Strophe 1, Schlagzeug-Fills, Breaks in Strophe 3). Der Gesang divergiert sowohl textlich als auch musikalisch. Blendet man die Vokalstimme aus, so wäre die linke Hälfte der Ablaufpläne ausreichend, um die Merkmale der Strophe abzubilden. Im Abstand von ca. achteinhalb Sekunden bzw. 16 Viertelnoten wiederholen sich die Phrasen von Gitarre, Bass und Schlagzeug.31 Erst die Gesangsphrase sorgt aufgrund des textlichen Zusammenhangs dafür, dass der gewählte Ausschnitt als zusammengehörig empfunden wird. Dieser repetitive Aufbau ist einer schnellen Speicherung im Gedächtnis sicher nicht abträglich und könnte mit ein Grund für die von den Rezensenten angesprochene Eingängigkeit sein. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass das Gesamtklangbild das Ergebnis verschiedenartiger Vorgänge ist und sich die Einzelstimmen stärker voneinander unterscheiden, als es die Oberflächenanalysen vielleicht vermuten ließen. Innerhalb des Refrains erscheinen die Vorgänge geradliniger, da alle vier Stimmen gemeinsam auf ein Ziel im letzten Drittel des Abschnitts zulaufen und nur schwerlich in kürzere Phrasen unterteilt werden können.
31
Die Setzung der Taktstriche erklärt sich aus dieser Phrasenlänge.
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Fallbeispiel Fugazi
Abb. 23: Prozessverlauf und Melodie / Harmonie / Rhythmus Einzelstimmen (Strophe).
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Abb. 24: Prozessverlauf und Melodie / Harmonie / Rhythmus Einzelstimmen (Refrain).
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Fallbeispiel Fugazi
Melodie Über das gesamte Stück gesehen fällt auf, dass die Instrumentalstimmen tendenziell größere Bewegungen als die Vokalstimme ausführen. Diese Empfindung korreliert mit der Größe der verwendeten Intervallbereiche. Der Gesang bewegt sich im Bereich einer übermäßigen Quarte, und kein Melodiesprung ist größer als ein Ganztonschritt. Gitarre und Bass nutzen hingegen Tonstufen aus über zwei Oktaven – von E2 bzw. E1, also dem jeweils tiefsten Ton ihrer normal gestimmten Instrumente, bis hin zu G4 bzw. G3.32 Noch mehr vertikalen Raum nehmen die Bewegungen des Schlagzeugs ein, bei dem aber aufgrund spektraler Eigenschaften wie erwartet keine genaue Zuordnung zu diskreten Tonstufen möglich war. Es liegt nun die Vermutung nahe, dass es weniger die Gesangslinien sind, welche die Rezensenten dazu veranlassen, die Musik als melodisch oder ‚catchy‘ zu beschreiben, sondern eher die Gitarren- und Basslinien. Die Melodiekonturen von Bass und Gitarre sind beide durch einen Aufwärtssprung mit anschließender stufenartiger Abwärtsbewegung zum Ausgangston charakterisiert, was der Realisation einer implizierten Richtungs- und Intervallgrößenumkehr entspricht (vgl. Snyder 2000: 148). Joe Lally wiederholt diese Bewegung innerhalb der Phrase drei Mal, wobei er sie beim zweiten Mal auf der vierten Stufe sequenziert (die zentrale Tonhöhe ist A). Die Schlagzeugphrase lässt sich in vier Motive untergliedern, von denen die ersten drei identisch sind und durch die Abfolge der Bass- und Snaredrumschläge der Eindruck einer Tief-Tief-Hoch-Tief-Tief-Hoch-Bewegung entsteht. Sie beginnen zeitgleich mit den Bassmotiven, dauern aber jeweils eine Achtelnote länger. Der dritte Schlag (Hoch) fällt dabei mit dem die Richtungsumkehr der Basslinie realisierenden Ton zusammen, und nicht etwa mit ihrem Scheitelpunkt. Die langgezogene Gitarrenlinie, bei der die Sprünge durch Slides und schnelle Wechselschläge ein wenig abgeschwächt werden, erklingt im Verlauf der Phrase nur einmal und endet zu Beginn der dritten Bassund Schlagzeugmotive auf ihrer zentralen Tonhöhe E. Nach ca. sechseinhalb Sekunden setzt die Gesangslinie ein und wird somit, abgesehen vom nachklingenden Gitarrenakkord, lediglich vom nun etwas zurückgenommenen Schlagzeug begleitet. Die Band behält diese Art der Texturgestaltung auch in den nachfolgenden Strophenabschnitten bei, wodurch die Gesangslinie aus dem sonst relativ dichten Gesamtklangbild hervorsticht. Einzig im letzten Abschnitt der zweiten Strophe singt Picciotto über der Bass- und Gitarrenstimme. Der Gesang ist in den Strophen sehr statisch, und bewegt sich meist im Bereich von Halbtonschritten um die Tonhöhe A herum. Auch im Refrain kann bei der Vokalstimme von einer A umspielenden AchsenMelodik gesprochen werden, wenngleich insgesamt der Ansatz eines Melodiebogens 32
Um Missverständnisse zu vermeiden, werde ich für die Bezeichnung von Tonhöhen in weiterer Folge ausschließlich in kursiv gesetzten Großbuchstaben verwenden (Tonleiter-Bezeichnungen ausgenommen). Buchstaben ohne Ziffer beziehen sich allgemein auf die Tonstufe, Buchstaben mit Ziffer verweisen gemäß der englischen Notation konkret auf die Oktavlage. Letzteres ist insbesondere bei den Analysen zum Frequenzspektrums und zur Artikulation von Belang. Zur Übersicht siehe http://www.sengpielaudio.com/Rechner-notennamen.htm [21.07.2014].
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erkennbar ist, der am Strophenende mit den Wörtern „but just“ bzw. „you just“ eingeleitet wird. Da jede der ersten drei melodischen Zellen einen Ganzton höher als die vorherige endet, entsteht der Eindruck einer sich aufwärts bewegenden Melodielinie. Eine solche Bewegung ist noch deutlicher bei den größtenteils im Oktavabstand geführten Melodielinien von Bass und Gitarre auszumachen. Lally und MacKaye erhöhen eine aus acht wiederholten Achtelnoten bestehende Zelle schrittweise um einen Halb- oder Ganztonschritt (die Ausgangsnote ist bei beiden Stimmen C). Dieses stetige Ansteigen erzeugt Spannung, welche die Musiker zu unterschiedlichen Zeitpunkten auflösen. Zu Beginn der zweiten Refrainhälfte werden die Konturen von Bass und Gitarre durch schnelle Auf- und Abwärtsbewegungen kurz unregelmäßiger, während der Gesang eine den anderen Stimmen entgegengesetzte melodische Bewegung abwärts ausführt und dergestalt die zentrale Stellung des Wortes „turnover“ zur Geltung kommt (textlichmusikalische Interpretationen im Sinne eines melodischen ‚turnover‘ seien an dieser Stelle nur nebenbei erwähnt). Am Ende der Silbe „over“ nimmt auch der Bass etwas Spannung heraus, indem er eine Quarte abwärts springt. Die Gitarre behält die Intensität hingegen bis zum Übergang zur Strophe bei und beschließt den Refrain am höchsten Punkt ihres Melodieverlaufs. Beide Saiteninstrumente kehren mittels eines Terzfalls, unterstützt durch schnelle Snaredrumschläge, zu ihrem zentralen Strophenton zurück. Zum Schlagzeug ist noch zu sagen, dass die kontinuierliche Schlagabfolge im ersten Refraintakt (Tief-Tief-Hoch) jedes zweite Mal mit der nicht unähnlichen Bewegung des Gesangs zusammenfällt. Zusammengefasst entsprechen insbesondere die Bass- und Gitarrenlinien gängigen Archetypen, die gemäß ihrer melodischen Implikationen erwartungsgemäß fortgeführt werden und den Rezensenten demnach wohl vertraut erscheinen. Dass die Musik auch angesichts der häufigen Wiederholungen dennoch als interessant und vielschichtig empfunden wird, könnte mit der melodischen Eigenständigkeit dieser Stimmen zusammenhängen. Bass und Gitarre spielen zwar prinzipiell die gleichen Melodieschemata, allerdings tun sie das vor allem in der Strophe auf unterschiedliche Art und Weise. Zudem hat das Schlagzeug in Turnover nicht bloß die Rolle eines Rhythmusgebers, sondern durchaus eigene ‚melodische‘ Qualitäten und dementsprechende Berührungspunkte mit den übrigen Stimmen. Bei der Melodiegestaltung spiegelt sich die aus den Rezensionen herauslesbare Opposition zwischen Kollektivität und Individualität wider. So sind die Melodielinien individuell gestaltet, aber trotzdem der Homogenität des Songs dienlich. Der Gesang bildet hier keine Ausnahme und steht melodisch sogar eher im Hintergrund. Die Tatsache, dass das Gesungene kaum große Intervallsprünge beinhaltet, erleichtert darüber hinaus das ‚Treffen‘ der Töne beim Mitsingen bzw. Mitschreien der Textzeilen. Wie sich später noch zeigen wird, kann von einer sauberen Intonation ohnehin nicht gesprochen werden.
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Fallbeispiel Fugazi
Harmonie Es ist mitunter interessant zu interpretieren, welche Eigenschaften die Rezensenten der Musik nicht zuschreiben. Zum Beispiel redet niemand von traurigen oder fröhlichen Songs. Obgleich man bei diesbezüglichen Verallgemeinerungen vorsichtig sein sollte, so könnte das daran liegen, dass in den Stücken kaum Terzzusammenklänge zu finden sind und dadurch nur schwerlich ein Tongeschlecht herauszuhören ist. Im Falle von Turnover bestehen die Gitarrenakkorde in der Strophe aus Grundton, abgedämpfter Quinte und Oktave, also aus angedeuteten Powerchords. Im Refrain spielt MacKaye etwas kraftvoller und definierter klingende Akkorde aus Grundton und Quinte, was zur erhöhten Intensität dieses Abschnitts beiträgt. Die Strophenmotive von Joe Lally können als Zerlegungen eines Sept- und eines Sextakkords aufgefasst werden. Auf starke Dissonanzen wird in diesem Song verzichtet und das erwähnte Wechselspiel zwischen Spannung und Auflösung demnach auf anderem Wege vollzogen. Nun ist die Verwendung von konsonanten und terzfreien Gitarrenakkorden für Punk/Hardcore ebenso wenig ungewöhnlich wie die an e-Moll orientierte Tonart des Songs, welche auf Gitarre und Bass relativ leicht spielbar ist. Das tonale Zentrum wird bereits im Intro vorgestellt, bei dem MacKaye die Töne E und A mittels seines Lautstärkenreglers alternierend ein- und ausfadet. Durch diesen Songeinstieg vermitteln die anschließenden Basslinien, die zunächst ja ohne Gitarre und Gesang erklingen, einen unsteten Eindruck, der erahnen lässt, dass hier wohl nicht die Tonika der Ausgangsund Endpunkt der Phrase ist (abgesehen vom Durchgangston Fis wäre a-Moll im Bereich des Möglichen). Das harmonische Fundament wird folglich von den auf E basierenden Gitarrenlinien gelegt und Bass und Gesang errichten ihre Melodien auf der vierten Stufe. Eine solche Gestaltung stellt eine Abweichung von genreüblichen Konventionen dar, da der Bass normalerweise den Grundtönen der Gitarrenakkorde folgt. In Bezug auf das Zusammenspiel entspricht der Refrain eher den Erwartungen an einen Hardcore-Song – bis zu dem Zeitpunkt, in dem die Gitarre zur Tonikaparallele hochsteigt und der Bass in die Subdominantparallele wechselt, so dass beide Instrumente den gleichen Intervallsprung zur Strophe ausführen können. Erst in Abschnitt D verweilen Bass und Gitarre gemeinsam auf der Dominante H und springen zu Beginn von Abschnitt E gleichzeitig zur Tonika (selbst der Gesang tendiert in Abschnitt D stärker zu H als zu A). Die beiden Saiteninstrumente bleiben sodann im Oktavverhältnis, und die harmonische Ambivalenz bleibt auch deswegen aufgelöst, weil der Gesang wegfällt. Insgesamt lässt sich die Harmoniegestaltung von Turnover mit den auf das Songwriting anspielenden Kommentaren der Laien-Kritiker ganz gut beschreiben. Es ist das Bemühen erkennbar, ein wenig Unvorhersehbarkeit und Abwechslungsreichtum in das traditionell eher starre harmonische Konzept von Hardcore-Stücken zu bringen. Hierzu zählt z.B. auch, den Refrain auf der sechsten Stufe zu beginnen und eine stufenweise Aufwärtsbewegung mit leiterfremden Tönen einzubauen. Derlei Gestaltungsweisen erwecken bei Fugazi allerdings nicht den Eindruck einer bemühten Konstruktion am Reißbrett, sondern es hat für mich eher den Anschein, als ob sie intuitiv, gleichwohl
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aber nicht zufällig, im Spielprozess entstanden wären. Dass etwa die Quinte in den Strophenakkorden nur abgedämpft mitangeschlagen wird, kann als bewusste Entscheidung gegen einen allzu dissonanten Zusammenklang mit der Bassstimme interpretiert werden. Die Musiker verzichten auf eventuell irritierende oder gekünstelt komplex wirkende harmonische Fortschreitungen und Verbindungen und sind in dieser Hinsicht näher am Eindeutigen des Punk oder Hardcore als am Ausschweifenden des Progressive- oder Math-Rock. Spätestens wenn die Stimmen zusammengeführt und klare Verhältnisse geschaffen sind, kommt in Turnover jene Geradlinigkeit und Kontrolliertheit zum Ausdruck, welche die Rezensenten am Songwriting wie auch am Ethos der Band schätzen.
Rhythmus Versucht man sich bei Turnover an einem Grundschlag zu orientieren, so kann in der Strophe von einem Viertelpuls, im Refrain von einem Achtelpuls gesprochen werden. Der Refrain lädt zu einem schnelleren Mitklatschen, Kopfnicken usf. ein und wirkt dadurch energiegeladener. Die metrischen Hauptakzente sind in beiden Abschnitten konventionell gesetzt und befinden sich, in Viertelnoten ausgedrückt, auf den Zählzeiten 1, 5, 9 und 13. Im Bereich zwischen diesen Bezugspunkten kommt es bisweilen jedoch zu Abweichungen von dem in Pop-/Rockmusik häufig verwendeten binären Betonungsmuster. Mein erstes Augenmerk gilt der Bassstimme in der Strophe, bei der eine geringfügige Verschiebung erheblich den Höreindruck beeinflusst. Rein aufgrund der Abfolge von Noten und Pausen wäre es naheliegend, die auf 4+ und 8+ beginnenden Achtelfiguren jeweils als zusammengehörige Einheit wahrzunehmen, was eine andere Melodielinie als die oben beschriebene zur Folge hätte. Dass dem eher nicht so ist, und die erste Achtelnote dieser Figuren auftaktig klingt, hängt damit zusammen, dass Lally sie beim Anfangsmotiv weglässt und er dergestalt die komplette Phrase um eine Achtelnote nach vorne verschiebt. Dies ruft den in Kapitel 3.2 bereits erwähnten ‚diatonischen Rhythmus‘ 3+2+3 hervor, da die Schwerpunkte nun auf den Zählzeiten 1, 2+ und 3+ liegen. Auch Brendan Canty spielt ein asymmetrisch untergliedertes Bass- und SnaredrumPattern mit dem Aufbau 3+3+2, das er mit regelmäßigen Achtelschlägen auf der Hi-Hat begleitet. Die Bass- und Schlagzeuglinien sind demnach in zweierlei Hinsicht rhythmisch spannungsreich – einerseits in Bezug zum Grundschlag, andererseits durch ihr Verhältnis zueinander. MacKaye sorgt mit seinen Gitarrenakkorden hingegen für Ordnung und Stabilität, indem er sie auf die metrisch schweren Schläge 1, 5, 7 und 9 setzt. Am variantenreichsten ist der Gesang gestaltet, dessen Betonungen in den ersten beiden Strophenphrasen mit den Zählzeiten 13, 14, 15+ sowie 12+ und 14+ zusammenfallen. Im Anschluss an die dritte Strophenphrase, also der ersten Hälfte des zweiten B-Teils, in der sich die Akzente zweimal auf 13, 14 und 15+ befinden, folgt eine in puncto Geschwindigkeit und Betonungsanzahl fast schon an Rap erinnernde Gesangslinie. Den
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zum Refrain überleitenden Ausruf akzentuiert Picciotto am sechzehnten Taktschlag („just“). Im Refrain ist zunächst eine deutliche Orientierung am Grundschlag erkennbar. Bass und Gitarre erhöhen ihre Achtelketten zu den Zählzeiten 1, 5 und 9, während Bass- und Snaredrum abwechselnd die Viertelschläge betonen und die durchgehende Hi-Hat-Begleitung fortgesetzt wird.33 Die ersten zwei kurzen Melodiezellen von Picciotto sind an den geraden Zählzeiten 4 bzw. 8 ausgerichtet und stechen dadurch zwar etwas heraus, stören die von den Instrumentalstimmen vermittelte Regelmäßigkeit aber nur minimal. Gemeinsam mit der Melodie wird auch der Rhythmus zur Refrainmitte unruhiger. Die Gesangsmotive werden abwechselnd auf leichten und schweren Schlägen akzentuiert und die Abstände zwischen den Tonanfängen größer, was mit der gesteigerten Schlagfrequenz von Bassdrum und Gitarre kontrastiert. Mit der Silbe „over“ auf dem neunten Schlag des zweiten Refraintakts scheint das melodische, harmonische und rhythmische Ziel erreicht und es kehrt wieder Konstanz ein. Picciotto nimmt diese Spannungsauflösung mit dem Bindewort „a - nd“ auf dem ersten Taktschlag vorweg – die einzige Stelle im gesamten Song, an der die Gesangsstimme auf der takteröffnenden Zählzeit einsetzt. Ab Abschnitt D decken sich die Betonungen der beteiligten Stimmen mit den schweren metrischen Schlägen und der Song bleibt somit auch in rhythmischer Hinsicht stabil und eindeutig. Anhand der hier dargelegten Merkmale, welche wohlgemerkt nur auf die Interonsetintervalle bezogen sind, können Vermutungen angestellt werden, woran es liegt, dass die Rezensenten die Rhythmen als schräg, genrefremd und ineinander verzahnt, aber ebenso als solide und aggressiv bezeichnen. Denn trotz der stellenweise vorhandenen Divergenzen zwischen den Rhythmusschichten, die womöglich einen genreuntypischen Eindruck hinterlassen, bleiben die metrischen Orientierungspunkte stets in Hörweite und die strukturellen Zusammenhänge weitgehend klar. Es sind nicht etwa Polymetren oder ungewöhnliche Taktarten, die Fugazi bei diesem Song einsetzen, und die wegen der höheren Konzentrationserfordernis die körperlich betonte Live-Darbietung erschweren würden, sondern sie präsentieren dem Hörer ein Wechselspiel zwischen gleich und unterschiedlich ausgerichteten Bewegungsmustern. Die rhythmischen Zellen des Gesangs und des Schlagzeugs sind in der Strophe eher nach hinten, die der Bassgitarre nach vorne und die der Gitarre mittig ausgerichtet. Wie in den oben erwähnten Konzertvideos ersichtlich ist, führt dies dazu, dass die Körperbewegungen der Besucher während der B-Teile bisweilen etwas unschlüssig wirken. Die C- und E-Teile animieren durch die schnellen und kurzen Bewegungen der Instrumentalstimmen stärker zum gewohnten regelmäßigen Kopfnicken und Auf- und Abspringen.
33
Auf 1 und 16 (erster Takt) sowie 9 (zweiter Takt) schlägt Lally anstatt der Hi-Hat das Crashbecken an.
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Mit der Balance zwischen Asymmetrie und Symmetrie, Zyklizität und Abweichung, Getriebenheit und Verspieltheit könnte letztlich auch das in den Kritiken mehrfach angemerkte Groovempfinden zusammenhängen.
Stereopanorama Beim Herantasten an die musikalische Oberfläche waren zwischen linkem und rechtem Stereo-Kanal kaum Unterschiede erkennbar. Dieser Eindruck lässt sich durch die mittels vergleichenden Pegelmessungen und Phasenanalysen unterstützte Einzelstimmenuntersuchung größtenteils bestätigen. Gesang und Bassgitarre sind ebenso wie Bassdrum, Snaredrum und Hi-Hat mittig gemischt, wodurch der Song kompakt und druckvoll wirkt. Die Gitarrenspur wurde (vermutlich) gedoppelt und die Signale nach halblinks bzw. halbrechts gelegt, was das Klangbild kräftiger und breitgefächerter macht. Für eine zusätzliche Breite sorgt das stark geräuschhafte Crashbecken, welches vor allem im zweiten Teil des Songs Verwendung findet und relativ weit außen im Mix platziert wurde. Von einem spezielleren Stereoeffekt lässt sich einzig beim Intro und Outro sprechen, in denen das leichte Gitarrenfeedback von links nach rechts zu wandern scheint. Kurzum handelt es sich das Stereopanorama betreffend um eine konventionelle Rockproduktion, die auch in Mono ohne nennenswerte Qualitätsverluste wiedergegeben werden kann. Dass die einzelnen Stimmen trotz der geringen Stereobreite gut hörbar bleiben, zeigt, dass die Musiker und Produzenten ihr tontechnisches Handwerk seit den ersten Hardcore-Aufnahmen merklich weiterentwickelt hatten und es keiner kostenintensiven, kommerziell orientierten Aufnahmestudios bedurfte, um einen – den Rezensionen nach – für Punk überdurchschnittlichen und klaren, gleichwohl rohen Sound zu erzeugen. Nun lassen nicht nur die unmittelbar auf die Aufnahmequalität bezogenen Kommentare darauf schließen, dass die Art und Weise der Produktion für die Wertschätzung relevant ist. Damit das individuelle Spiel der Musiker zur Geltung kommt und die Hörer nach und nach Besonderheiten und Details, wie eventuell die bereits dargelegten, entdecken können, ist ein gewisses Maß an klanglicher Transparenz erforderlich. Des Weiteren wäre es dem Gedanken einer gleichberechtigten Gestaltung abträglich, wenn eine Stimme sehr dominant im Vordergrund stünde und die restlichen Bandmitglieder zu Hintergrundmusikern ‚degradiert‘. Jedoch sollte das Klangbild auch nicht zu steril und die Stimmen zu stark voneinander abgegrenzt wirken, da darunter die Interaktionswahrnehmung leiden könnte. Nichtsdestoweniger verlangen die Rezensenten nach lauter, verzerrter und körperlich spürbarer Rockmusik. Mit einem betont ‚fetten‘ Sound aus Dutzenden übereinander geschichteten Spuren täte sich Fugazi aber wohl ebenso keinen Gefallen. Es würde der Anschein einer distanzierten und ökonomisch motivierten Musik erweckt, welche eher für Mainstream-Medien und große Festivalbühnen denn für Indie-Radios oder kleine Clubs konzipiert ist. Die hier angesprochenen Aspekte verweisen auf kontinuierliche Klangdimensionen, die es näher zu beleuchten gilt.
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Dynamik Gemäß meines Höreindrucks bleibt die Lautstärke der einzelnen Stimmen über den Song hinweg größtenteils unverändert. Dies kann messtechnisch leider nicht untermauern werden, da das Summensignal keine separate Untersuchung der Durchschnittspegel zulässt. Mit Ausnahme der geschlossenen Hi-Hat im Outro (-35 dB) und des Gitarrenfeedbacks zu Beginn erklingt keine der Stimmen komplett alleine, wodurch auch an einzelnen Klangereignissen keine genaue Messung möglich ist. Aussagen darüber, wie bestimmte Stimmen den RMS-Pegel beeinflussen, können bei Turnover durch eine vergleichende Analyse des mit unterschiedlicher Instrumentation wiederholten B-Teils getroffen werden. Die Dauer der gewählten Ausschnitte wird von den ersten zwei Bassmotiven der Strophenphrase vorgegeben:34 Tab. 11: Vergleich des RMS-Pegels von vier Strophenpassagen. Ausschnitt
Stimmen
RMS-Pegel
4:03,8–4:06,7
Bass, geschlossene Hi-Hat
-18 dB
0:17,9–0:21,7
Bass, geschlossene Hi-Hat, Bassdrum, Snaredrum
-15,4 dB
0:33,1–0:37,0
Bass, offene Hi-Hat, Bassdrum, Snaredrum, Gitarre
-12,4 dB
1:40,5–1:44,2
Bass, offene Hi-Hat, Bassdrum, Snaredrum, Gitarre, Gesang
-11,9 dB
Unter Berücksichtigung der Oberflächenbeobachtungen erscheint es wenig überraschend, dass in erster Linie die Gitarrenakkorde für die konstant hohe Pegelauslastung verantwortlich sind. Gemeinsam mit der offen gespielten Hi-Hat sorgen sie ab Sekunde 34 für einen Anstieg von 3 dB, was einer Erhöhung der wahrgenommenen Lautstärke um den Faktor 1,23 entspricht.35 Durch den Gesang ändert sich der RMS-Pegel dann nur mehr geringfügig. Mit Bass- und Snaredrum sorgt Canty für regelmäßige Pegelspitzen, während er mit den ebenso Peaks erzeugenden Schlägen auf das Crashbecken zunächst sparsam umgeht und sie lediglich an zentralen Songstellen, wie etwa dem Refrainbeginn und -ende oder der Silbe „over“, platziert. In den Sektionen E und F steigert der häufigere Gebrauch dieses Beckens das Intensitätsempfinden, wenngleich auch hier der gezielten Betonung bestimmter schwerer Zählzeiten der Vorrang gegenüber einem stetigen Geräuschteppich gegeben wird. Insgesamt verweist das Verhältnis zwischen Pegelspitzen (bis zu 0 dB) und Durchschnittspegel auf einen Dynamikumfang von
34 35
Zur besseren Vergleichbarkeit wurde das Gitarrenfeedback weitgehend herausgefiltert. Die Pegelwerte repräsentieren den Durchschnitt aus beiden Kanälen und wurden mit einer Auflösung von 200 ms durchgeführt, was ca. der Länge eines Basstons nahe kommt. Zur Umrechnung zwischen Schalldruckpegel und Lautheit siehe http://www.sengpielaudio.com/Rechnerpegel aenderung.htm [15.07.2014].
201
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ca. 12 dB.36 Der Kompressionsgrad lässt somit genügend Freiräume, um einzelne Stimmencharakteristika und klangliche Nuancen wahrnehmen zu können – und das trotz der in puncto Lautstärke doch relativ dichten Textur. Ein Vergleich der Songsektionen zeigt, dass sich die RMS-Pegel von Strophe (mit Gitarrenbeteiligung -12,3 dB), Refrain (-11,1 dB), Teil D (-11,2 dB), Teil E (-11 dB) und Teil F (-11,4 dB) kaum voneinander unterscheiden. Diese Messergebnisse unterstreichen die Meinung jener Rezensenten, welche die Intensitäts- und ‚Dynamik‘-Veränderungen nicht alleine im drastischen Wechsel zwischen Laut und Leise begründet sehen (ein Stilmittel, das die Pixies und später vor allem Nirvana in härterer Rockmusik etablierten37). Die Spannungsbögen in diesem Song können nach den bisherigen Analysen eher auf melodische, harmonische und rhythmische Charakteristika zurückgeführt werden.
Frequenzspektrum Zum Frequenzspektrum ist zunächst Ähnliches wie zur Dynamik zu sagen. Mit Fokus auf die Obertonstruktur der beteiligten Stimmen sind im Fortgang des Songs keine gravierenden Veränderungen zu hören. Es werden bspw. keine frequenzmodulierenden Effekte hinzu- oder weggeschaltet. Des Weiteren nehmen die Gitarrenakkorde auch in spektraler Hinsicht eine prägnante Rolle ein, da sie nicht nur den RMS-Pegel, sondern ebenso die Dichte der spektralen Energieverteilung merklich erhöhen. Durch vergrößerte Sonagramm-Ansichten sowie FFT-Analysen ohne zeitliche Information lassen sich die Frequenzbereiche abschätzen, in denen die Stimmen auffällig verstärkt sind:38 Tab. 12: Auffällige Frequenzbereiche der Einzelstimmen.
36 37 38
Stimme
Frequenzbereich
Gesang
370 Hz–4400 Hz
Gitarre
80 Hz–3200 Hz
Bass
40 Hz–400 Hz
Becken
2500 Hz–3000 Hz
Snaredrum
190 Hz–10000 Hz
Bassdrum
40 Hz–150 Hz
Die zur Messung des Dynamikumfangs auf einschlägigen Websites häufig herangezogene Software Dynamic Range Meter war zum Zeitpunkt meiner Untersuchungen leider nicht mehr verfügbar. Siehe hierzu z.B. Winkler 2014. ‚Auffällig‘ bezieht sich hier auf eine Schallintensität von zumindest 110 dB – die Angabe der dBWerte erfolgt gemäß der in der Software EmapSon angezeigten Magnitude auf der y-Achse der FFTAnalyse.
202
Fallbeispiel Fugazi
An dieser Stelle, sowie im Abschnitt zur Artikulation, soll nun eine etwas genauere Beschreibung der Klangmerkmale erfolgen. Hierfür bietet es sich an, die jeweiligen Frequenzverteilungen im Detail zu untersuchen. Das Klangbild der Gitarre ist angesichts der kräftig und rau wirkenden Verzerrung, die wohl direkt am Verstärker mittels einer hohen Gain-Einstellung erzeugt wurde, relativ klar und wenig ‚schrill‘. Es ist anzunehmen, dass dieser Eindruck in der Obertonstruktur begründet liegt. Beim analysierten Strophenakkord auf E treten die Frequenzen bei 167 Hz und 331 Hz am deutlichsten hervor, was in etwa den gespielten Tönen auf der Gitarre entspricht (E3, E4). Weitere relevante Teiltöne sind die Harmonischen 4, 5, 15 und 16. Die Spitzen des zweiten Akkords auf A sind bei 222 Hz (A3) und 444 Hz (A4) sowie bei den Harmonischen 4, 12, 14, 15 zu finden. Im Refrain entsteht durch den Wechsel auf Powerchords ein dichterer Klang, da die Obertöne von Grundton und Quinte nun gemeinsam einen Bereich von ca. 2500 Hz ausfüllen. Generell lässt sich von einer harmonischen nichtlinearen Verzerrung sprechen, mit der die Pegelverhältnisse der Frequenzen zueinander zwar beeinflusst werden, der Bezug zur Grundfrequenz, also dem ‚handwerklich Gespielten‘, aber gut vernehmbar bleibt. Sehr hohe Frequenzen wurden zugunsten des druckvollen Mittenbereichs wahrscheinlich bewusst abgesenkt. Im Vergleich zur Gitarre klingt der Bass gedämpft und weniger aggressiv. Dies ist nicht zuletzt auf die mangelnde Verzerrung und die verhältnismäßig schwach ausgeprägten Obertöne ab 400 Hz zurückzuführen, wie eine exemplarische Analyse einer Bassphrase im letzten B-Teil zeigt. Verstärkt werden vor allem die ersten zwei Harmonischen. Die zentralen Melodietöne A und D haben wie erwartet bei ungefähr 100 Hz (A2) und 150 Hz (D2) ihre Spitzen und wurden auch ziemlich sicher in diesen Tonhöhen angeschlagen. Interessanterweise deuten die im Sonagramm hier zudem ersichtlichen Frequenzverstärkungen bei 57 Hz (A1) und 75 Hz (D1) darauf hin, dass Lally diese Töne oktaviert und ein zweites Mal eingespielt hat, um eine zusätzliche Bassfülle zu erreichen. Wie in konventionellen Rockproduktionen üblich, liegt der Bass sehr nahe am Druckbereich der Bassdrum, der zwischen 40 Hz und 80 Hz am stärksten in Erscheinung tritt. Für die Durchsetzungskraft und den umgangssprachlich als ‚knackig‘ charakterisierbaren Sound dieses Schlaginstruments sorgen die vom Anschlag auf das Fell herrührenden Frequenzen, die von ca. 1000 bis 2000 Hz und 3000 bis 5000 Hz (‚Klick‘) etwas hervorgehoben sind. Die treibende und ‚knallige‘, mit Teppich gespielte Snaredrum ist in den oberen Frequenzbereichen noch weitaus präsenter und zieht bis etwa 10000 Hz eine nahezu durchgehende vertikale Linie durch das Sonagramm. Ihr ‚Körper‘ befindet sich zwischen 190 Hz und 250 Hz. Von diesen kurzen Impulsen abgesehen werden die Frequenzen über 3000 Hz hauptsächlich von den Becken, im Speziellen von der offenen Hi-Hat genutzt. Die Vokalstimme ist zwischen Singen, Schreien und Sprechen anzusiedeln. Sie weist mit Blick auf ihre spektralen Merkmale bestimmte Besonderheiten auf, aufgrund derer sich die Melodieanalyse anfangs schwierig gestaltete. Einige stichprobenartige Messungen machen deutlich, dass Picciotto eher die ersten zwei bis drei Vokalformanten betont
Musikanalyse - Turnover
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als die von mir notierte Grundfrequenz39 – so z.B. bei der weitgehend alleine erklingenden Silbe „alarm“ (/ə ˈ lɑ ː rm/) in der ersten Strophe. Die Spitzen des Vokals „a“ liegen nahe bei den Harmonischen 2 und 3 der empfundenen Tonhöhe A1 (880 Hz, 1320 Hz). Beim kurz davor erklingenden „o“ in „turn off“ (/tɜ ː rn ɔ ː f/) tritt insbesondere der zweite Formant in den Vordergrund, der nur unwesentlich vom zweiten Harmonischen von B1 (932 Hz) entfernt ist. Zusammen mit der geringen Ausprägung der von trainierten Sängern typischerweise hervorgehobenen Formanten zwischen 2500 Hz und 3300 Hz (vgl. Hähnel et al. 2014: 14) bestätigen diese Analysen meinen Eindruck eines sprechnahen, ‚gepressten‘ Gesangs. Das von den Rezensenten zumeist positiv herausgestellte Schreien äußert sich im Sonagramm durch teils diffus erscheinende Frequenzverstärkungen zwischen und oberhalb der Formanten. Diese relativ schwachen Verzerrungen beeinträchtigen die Sprachverständlichkeit jedoch nicht wirklich.40 Gerade beim Gesang zeigt sich, dass eine auf Spektralanalysen basierende Interpretation unvollständig wäre, würde man die Entwicklungen im zeitlichen Verlauf außen vor lassen.
Artikulation Picciotto setzt in diesem Song grob zwei Arten der Artikulation ein. Seine melodischen Zellen beginnen fast immer mit kurzen und impulsartigen Achteltönen, die häufig nur ein Wort beinhalten, und enden in den meisten Fällen mit langgezogenen Silben. Durch Zuhilfenahme einer Bandpassfilterung sowie einer stark vergrößerten Sonagramm- und Amplitudenansicht ist es möglich, einen vagen Einblick in die Dauer und den Aufbau dieser Klangereignisse zu bekommen. Die kurzen Töne erstrecken sich über ca. 250 ms, haben einen relativ geradlinigen Frequenzgang und eine sehr kurze Attackphase. Zu ihrem meines Erachtens perkussiven Charakter trägt bei, dass sie inmitten ihrer Releasephase ineinander übergehen und infolgedessen merklich voneinander abgegrenzt sind, ohne dabei ‚abgehackt‘ zu klingen. Je länger die Töne dauern, desto kurvenartiger ist ihr Frequenzverlauf, da Picciotto sie von unten anschleift und nach dem Erreichen der angestrebten Tonhöhe bis zu einem 39
40
Als Übersicht zu den englischen Vokalformanten diente mir Tabelle 3 unter http://www.scielo.br/img/fbpe/bjorl/v75n5/html/a12tab01-03.html [21.07.2014). Die Übersetzung in US-amerikanische Lautschrift erfolgte mittels des Online-Tools Phonetizer – http://www.phonetizer.com/ui [21.07.2014]. Auf eine genaue Analyse des Textes werde ich in dieser Arbeit u.a. deswegen verzichten, weil ich die englische Sprache leider nicht muttersprachlich beherrsche und ich aufgrund dessen schwer beurteilen und interpretieren kann, wie das Gesungene sprachlich und inhaltlich aufgefasst wird. Anzumerken ist, dass Picciotto auf Vollreime gänzlich verzichtet und stattdessen, zumindest in der Strophe, Assonanzen einsetzt. Im Refrain sind auch keine vokalischen Halbreime oder ähnliche Stilfiguren auszumachen. Inhaltlich ist zu deuten, dass im Text zum Überwinden der eigenen ‚Mattigkeit‘ aufgerufen wird und der Hörer inspiriert werden soll, seinem Leben eine positive Wendung zu geben. Die Botschaft verbleibt zumindest meinen Sprachkenntnissen nach etwas kryptisch, was wiederum die Meinung der Rezensenten bezüglich zum Nachdenken anregender Texte bestätigt.
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Fallbeispiel Fugazi
Ganztonschritt wieder hinabzieht. Das Absenken der Tonhöhe unterstreicht die Gruppierungsenden, zudem wird diesen Tönen mehr Platz zum Abklingen gegeben und hiermit ein beruhigender Kontrast zu der ansonsten aggressiven und leicht ‚bellenden‘ Artikulation geschaffen. Wie bei der Vorstellung meines Analysebaukastens in Kapitel 4 erwähnt, lassen sich Eigenheiten wie die gerade dargelegten schematisch anhand einer Ablaufgrafik veranschaulichen. Nachstehend sind zwei solcher Abbildungen zu finden, bei denen ich in Umrissen die stimmenbezogen am stärksten hervortretenden Frequenzbänder sowie mittels Farbverläufen die ungefähren Hüllkurvenmerkmale eingezeichnet habe:41
Abb. 25: Umrisse der Artikulation (Strophe).
Abb. 26: Umrisse der Artikulation (Refrain).
41
Zur farblichen Darstellung siehe Anhang – blau: Bassdrum, Snaredrum, Hi-Hat; rot: Bass; grün: Gitarre; lila: Gesang.
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Es wird andeutungsweise ersichtlich, dass die Basstöne etwas sanfter als z.B. die kurzen Gesangstöne intoniert werden und Lally die Saiten nicht sonderlich hart mit seinem Plektrum anschlägt.42 Dadurch entstehen gleichmäßige und relativ weich klingende Töne mit einer ausgeprägten Sustainphase. Da er die Saiten kaum nachklingen lässt, er sie aber auch nicht sehr abrupt abdämpft, bleiben die Melodieläufe definiert und gleichsam fließend, was für den motionalen Aspekt der Grooverfahrung nicht unbedingt nachteilig ist. Die von der Bassdrum erzeugten Klänge haben in etwa die gleiche Dauer wie die Basstöne, nämlich ca. 220 ms, und ebenso wie Lally legt Canty – zumindest bei der Fußtrommel – offenbar mehr Wert auf ein flüssiges Spiel denn auf pure Kraft und (Bespannungs-)Härte. Der Druckbereich entfaltet sich in den ersten 100 ms nach dem Anschlag, wobei der Peak nicht sofort, sondern erst nach etwa 50 ms erreicht wird. Nach einer Zehntelsekunde verändert sich die spektrale Energieverteilung merklich, und das Signal klingt vorwiegend in tieferen Frequenzbereichen bis zum Beginn des nächsten Schlages fast komplett aus. Von „hard hitting drums“ (siehe Rezension rateym_12) lässt sich am ehesten bei der Snaredrum sprechen. Mit dem Auftreffen des Sticks auf das Fell schnellt der Pegel umgehend in die Höhe und sinkt ziemlich schnell wieder ab (diese beiden Vorgänge dauern gemeinsam ca. 50 s). Der Schlag, im Speziellen das Frequenzband um 200 Hz, klingt bzw. hallt anschließend für ca. 350 ms nach. Die durchgängigsten Klangverläufe führen die offene Hi-Hat sowie die Gitarre herbei. Erstere wird wiederum eher behutsam angeschlagen und bleibt deshalb zum einen etwas im Hintergrund, zum anderen überlagern sich die Beckengeräusche im zeitlichen Nacheinander nur minimal. So wie ich es höre und im Sonagramm sehe, lockert Canty die Textur zum Ende der Strophenphrasen etwas auf, indem er schnell abklingende Viertelschläge, und zum Teil auch Triolen, auf der geschlossenen Hi-Hat einstreut. Die Gitarre ist hingegen weitaus präsenter und überzieht große Teile des Songs mit einer nahezu ununterbrochenen Klangschicht von gleichbleibender Intensität. Durch die Verstärkung bleiben der Frequenzgang und der Pegel auch bei langanhaltenden Akkorden relativ stabil, und da MacKaye die Saiten nicht abstoppt, gehen die meisten Akkorde annähernd nahtlos ineinander über. Bei größeren Intervallsprüngen werden etwaige Lücken mit Hilfe der erwähnten Slides und Wechselschläge vermieden. An den beiden Darstellungen zur Artikulation können noch zwei weitere Spezifika abgelesen werden. Sinnbildlich formuliert haben die Musiker in der Strophe jeweils eigene Frequenzbereiche zur Verfügung, in denen ihr individueller Beitrag zur Geltung kommen kann. Abgesehen von der Gesangsstimme scheint Individualität im Refrain weniger von Belang zu sein. Hier werden die Instrumente sprichwörtlich ‚zusammengeschoben‘ – die Gitarre wandert näher zum Snaredrum- und der Bass zum Bassdrum‚Körper‘. Darüber hinaus gleichen sich die Tondauern der Gitarre jenen des Basses und der Bassdrum an, und die Anschläge werden insgesamt synchroner.
42
Dass er ein solches verwendet, ist aufgrund der Live-Videos sehr wahrscheinlich.
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Fallbeispiel Fugazi
Letzteres ist auch insofern einen Hinweis wert, weil die Band generell wohl kein übergroßes Augenmerk auf exaktes Timing gelegt hat. So unterscheiden sich etwa die im Abschnitt zur Dynamik analysierten Strophenausschnitte um bis zu 250 ms. Solche Mikrotiming-Schwankungen bekräftigen beim Hören vielleicht insgeheim das Gefühl, dass die Musik von nahbaren Personen gemacht wurde, die, wie man selbst auch, hin und wieder etwas ungenau sind, und für die Leidenschaft wichtiger ist als maschinelle Perfektion. Bevor ich nun die Analyseergebnisse abschließend zusammenfassen und im Hinblick auf meine Forschungsfrage verdichten werde, möchte ich kurz noch einmal den Weg in Erinnerung rufen, der mich bis zu diesem Punkt gebracht hat.
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Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassung und Ausblick
Forschungsleitend für diese Studie war die Frage nach der musikalischen Wertschätzung und den Möglichkeiten, welche systematische Analyse- und Interpretationsverfahren zu deren Erforschung bieten. Es wurde gezeigt, dass speziell in der Popularmusikforschung eine immer stärkere Tendenz dahin geht, die Sichtweise der Rezipienten in die Interpretation des Klingenden miteinzubeziehen. Eine Analyse gilt hier mitunter nur mehr dann als ertragreich, wenn sie über das Aufzeigen musikinterner Zusammenhänge hinausreicht und mit Verstehenshorizonten verknüpft wird, die auf die ein oder andere Weise Einsicht geben, warum das Klingende für den Hörer besonders ist. Welche Verstehenshorizonte sich z.B. erschließen lassen, habe ich in Kapitel 2 skizziert. Ausgehend von der Diskussion um musikalische Bedeutung wurden fünf relevante Arten von Ansätzen verortet. Das Klanggeschehen kann mit dem Ansinnen analysiert werden, Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen bestimmten Musiken herauszuarbeiten. Es ist möglich, einen nach vorher festgelegten Kriterien abgegrenzten Materialkorpus heranzuziehen und nach musikalischen Regelhaftigkeiten innerhalb dieses Repertoires zu forschen. Solche vergleichenden Untersuchungen, bei denen sich auch einzelne Stücke gegenüberstellen lassen, werden zum Teil mit Produktions- und Wahrnehmungsspezifika in Verbindung gebracht und es wird der Frage nachgegangen, wie die Hörer Musik aktiv in ihren Lebensalltag eingliedern. Mein nächster Schwerpunkt trug dem Gedanken Rechnung, dass im auf Tonträger festgehaltenen Klanggeschehen Verweise enthalten sind, die von den Rezipienten potentiell erkannt werden. Dieser Abschnitt zu referentiellen Ansätzen wurde gemäß Allan F. Moores Vorschlag von drei musikalischen Verweisarten gegliedert, wobei mein Interesse primär den Verweisen ‚zur Musik‘ und ‚außermusikalischen‘ Verweisen galt. Es zeigte sich, dass Genrekategorisierungen und Referenzierungen auf andere Songs und Musiker eine wichtige Rolle bei der Organisation des Hör- und Gestaltungsprozesses spielen und die Funktion und der Stellenwert von musikalischen Verweisen sehr unterschiedlich sein kann. Danach erfolgte eine kurze Auseinandersetzung mit dem theoretischen Konzept der Intertextualität sowie dem Textbegriff im Allgemeinen, dessen Verwendung sich nicht nur im Zusammenhang mit Musik als diskutabel erwies. Zum Verhältnis von Musik und Lyrics wurde konstatiert, dass sie auf mehreren Ebenen ineinandergreifen können und es kurzsichtig wäre, die Wörter getrennt vom Klingenden zu interpretieren. Geht man davon aus, dass eine Musik deswegen geschätzt wird, weil sie etwas repräsentiert, das außerhalb des Klingenden liegt, so kann man semiotisch orientierte Ansätze aufgreifen. Aussagen zu bedeutungstragenden Codes sind allerdings eher spekulativ und darauf fokussierte Forschungen lassen häufig stichhaltige Indizien vermissen,
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dass die vermuteten Bedeutungen von bestimmten Hörergruppen tatsächlich zugeschrieben werden. Nun wird Musik nicht alleine wegen Verweisen und Querbezügen gehört (und gemocht), sondern mit Musik kann ebenso die Zugehörigkeit oder die Abgrenzung zu sozialen Gruppen zum Ausdruck gebracht werden. Obgleich viele soziologische Studien diesen Umstand im Blick haben, so beinhalten nur wenige von ihnen Musikanalysen, da zwischen den Merkmalen des Klingenden und den sozialen Funktionen, die es zu erfüllen vermag, zumeist kein unmittelbarer Zusammenhang gesehen wird. Vereinzelte Ansätze beweisen jedoch, dass hier durchaus Potential zu erkenntnisbringenden Verknüpfungen vorhanden wäre, und es zudem an der Zeit ist, den Einfluss von technischen und technologischen Bedingungen auf bestimmte Klanggestalten vertiefend zu thematisieren. Weitere Aufschlüsse zu Wertschätzungsfragen können psychologische Ansätze liefern, sofern sie dem alltäglichen Umgang mit Musik eine verstärke Aufmerksamkeit widmen und z.B. der Zusammenhang zwischen situationsabhängigen Hörweisen und musikalischen Präferenzen zu ergründen versucht wird. Aktuell helfen beim Verständnis vor allem kognitionspsychologische Erkenntnisse, da diese Hinweise geben, wie die klangliche Informationsverarbeitung vonstatten geht und musikalisches Wissen strukturiert ist, und sich dadurch Analyseverfahren ableiten lassen, welche die menschliche Wahrnehmung stärker berücksichtigen als traditionelle Instrumentarien. Solche prozessorientierten Methoden, die in Kapitel 3 ausführlich behandelt wurden, werfen ein anderes Licht z.B. auf musikbezogene Äußerungen. Sie ermöglichen es, Ansätzen, die aus einem gewissen ästhetischen Interesse heraus musikalische Werturteile untersuchen und dabei das Klingende – aus unterschiedlichen Gründen – weitgehend ausblenden (Kapitel 2.6), eine erweiterte Analyseperspektive hinzuzufügen. In Kapitel 3 wurde des Weiteren klargelegt, dass es per se keine ‚angemessenen‘ oder ‚adäquaten‘ Analysewerkzeuge geben kann, sondern es stets von den Erkenntnisabsichten des Forschers abhängt, mit welcher Art von Beschreibungen und Darstellungen er bestimmte Sachverhalte vermitteln möchte. Damit die Bandbreite an Erkenntnisabsichten nicht von vornherein eingeschränkt ist, und nicht nur hauptsächlich Fragestellungen gewählt werden, die einer Analyse mit Notenzeichen und Termini der schulisch/universitär erlernten Musiktheorie entgegenzukommen scheinen, erachtete ich es als wichtig, traditionelle und alternative Analyseverfahren zu systematisieren. Der in Kapitel 4 entworfene Methodenbaukasten zeichnet verschiedene Möglichkeiten zum Zergliedern des Klingenden vor und liefert Vorschläge, wie die Teilaspekte wieder zusammengefügt werden können. Die Theorien und Methoden aus den ersten vier Kapiteln dieser Arbeit habe ich sodann zur Frage verdichtet, welche Arten der Gestaltung, Wahrnehmung und Lebensführung in Bezug auf die Band Fugazi als schön und richtig empfunden werden und inwieweit diese Aspekte in Beziehung zum Klanggeschehen stehen. Überspitzt formuliert könnte die Frage ebenso lauten, ob das, was Fugazi im Jahr 1990 auf dem Album Repeater, dem mein Hauptaugenmerk galt, festgehalten haben,
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auch komplett anders klingen könnte und die Verfasser der inhaltsanalytisch untersuchten Rezensionen trotzdem größtenteils positiv über diesen Tonträger bzw. überhaupt etwas zu ihm schreiben würden. Ich meine deswegen nein, weil es viele Anzeichen dafür gibt, dass die Wertschätzung für Fugazi das Ergebnis eines ineinander verwobenen Gefüges von Kriterien ist, aus dem sich das Klanggeschehen nicht so einfach herauslösen lässt. Zur Untermauerung dieser These möchte ich noch einmal ein paar zentrale Ergebnisse meiner Fallanalyse hervorheben und danach einen kurzen Ausblick auf weiterführende Forschungen geben. Das Schaffen von Fugazi steht in engem Zusammenhang mit den Konventionen eines bestimmten Genres, die vielen Rezensenten offenbar bekannt sind und an denen sie zum Teil auch die Qualitäten der Band bemessen. Dies hat den Vorteil, dass ihre Aussagen in dieser Hinsicht eingeordnet und die Analyseresultate in Verbindung mit genretypischen Merkmalen gebracht werden können. Aus dem Blickwinkel kognitiver Schemata betrachtet, lässt sich auf Basis der vorgenommenen Inhaltsanalyse sowie einschlägiger Studien bei dem mit Fugazi assoziierten Variablenbündel ‚(Hardcore-)Punk‘ von einem geringen Spektrum an zulässigen Wertebereichen sprechen. An die Band werden spezifische Erwartungen herangetragen, die sie grundsätzlich zu erfüllen hat, um als würdiger Vertreter ihrer Musikrichtung zu gelten. Faktoren wie Glaubwürdigkeit, Selbstbestimmtheit, antimaterialistisches Denken, Bodenständigkeit, Traditionsbewusstsein, Zusammengehörigkeit, das Gefühl von persönlicher Nähe sowie Leidenschaft und körperlich erlebbare Intensität nehmen einen hohen Stellenwert ein. Fugazi entspricht diesen Vorstellungen insofern, als dass sie ihre Tonträger auf einem unabhängigen, von einem Bandmitglied mitgeführten Label veröffentlichen, sie auf Merchandising, Musikvideos und Promotion-Interviews mit Massenmedien verzichten und sie ihre zahlreichen Konzerte, für die sie verhältnismäßig wenig Eintrittsgeld verlangten, in alternativen Clubs, Jugendzentren u.Ä. anstatt bei kommerziell ausgerichteten Veranstaltungen spielten. Sie verwenden genreübliche Instrumente, deren Benutzung handwerkliches Tun erfordert, und setzen tontechnische Verfahren auf eine Art und Weise ein, die ihr Können bzw. Nicht-Können kaum verschleiert (ich beziehe mich im Folgenden exemplarisch auf den analysierten Song Turnover). Die bisweilen hohe zeitliche Ereignisdichte der Musik bedarf beim Spielen einer gewissen körperlichen Anstrengung, die man als Hörer bewusst oder unbewusst mitzuvollziehen vermag. Gleiches gilt für die kraftvolle Vokalstimme, die sich zudem, aufgrund von melodischen und artikulatorischen Charakteristika, relativ einfach Mitsingen/Mitschreien lässt. Auch die insbesondere in tieferen Frequenzbereichen sehr dichte spektrale Energieverteilung, der konstant hohe Schalldruckpegel, der zur Mitte hin ausgerichtete Stereomix und das rau wirkende Klangbild begünstigen eine somatische Hörerfahrung. Für einen Rockmusikhörer beinhaltet die Musik insgesamt wohl viel Gewohntes, etwa in puncto Dauer, formaler Aufbau (Strophe/Refrain), häufige Motiv- und Phrasenwiederholungen, melodische Archetypen, terzfreie Akkorde ohne erkennbarem Tongeschlecht (speziell in Form von Powerchords), rhythmische Orientierung an
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Zusammenfassung und Ausblick
schweren metrischen Zählzeiten (4/4-Takt), verzerrter Gitarrensound usw. Sie fußt auf altbekannten, der kognitiven Verarbeitbarkeit zuträglichen Gestaltungsweisen, was den Eindruck vermittelt, dass die Musiker keinen elitären oder zwanghaft intellektualisierenden Zugang verfolgen, sondern mit vertrauten und zugänglichen, den Moment in den Vordergrund stellenden Mitteln eine Verbindung zum Hörer schaffen möchten. Die Band sollte diesen Gemeinschaftsgedanken vorleben, indem sie als kollektive Einheit auftritt, bei der nicht nur ein, sondern möglichst alle Akteure wortwörtlich tonangebend sind. Das Miteinander äußert sich im Klanggeschehen z.B. durch die stimmenübergreifende harmonische Zielrichtung, durch ähnliche oder gelegentlich identische Melodielinien, Rhythmuspatterns und Artikulationsspezifika und der Tatsache, dass jeder der drei Instrumentalisten einen nahezu durchgehenden Beitrag leistet. Dass der Sänger mehrmals pausiert, ist nicht unbedingt außergewöhnlich – allerdings macht er das nicht, um, wie oft üblich, dem Gitarristen Raum für Soli und die Betonung seiner spieltechnischen Fähigkeiten zu geben. Es ist generell das Bemühen erkennbar, die klassische Rollenverteilung innerhalb einer Rockband zu hinterfragen und die Trennung zwischen Melodie- (Gesang, Gitarre) und Begleitstimmen (Bass, Schlagzeug) aufzuheben. Jede Stimme hat eigenständige Qualitäten und steuert etwas Markantes zur Musik bei, das von anderen Stimmen oder starken Geräuschanteilen nicht allzu sehr überdeckt wird. Hierdurch können mitunter die bei (Hardcore-)Punk kaum erwarteten Zuschreibungen wie ‚komplex‘ oder ‚innovativ‘ erklärt werden. Rhythmische Verschiebungen, harmonische Ungewissheiten, individuell ausgestaltete Melodieschemata und unterschiedliche Bewegungsmuster gleichermaßen wie mikrorhythmische und mikrotonale Besonderheiten machen das Klingende längerfristig interessant und laden zu einer vertiefenden Beschäftigung ein. Hierbei handelt es sich nicht um grobe Konventionsbrüche, sondern eher um nuancierte Abweichungen, mit denen Spannungs- und Intensitätsverläufe vielschichtiger werden. Auch sie spiegeln wider, was die Rezensenten in Bezug auf die Gestaltung, Wahrnehmung und Lebensführung an Fugazi schätzen. Sie empfinden es als schön und richtig, dass die Akteure gesellschaftliche Missstände sowie das eigene Handeln und die eigenen Traditionen kritisch reflektieren und Bestehendes so weit weiterentwickeln, wie es die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten erlauben. Auf Tonträger festgehalten ergibt diese Einstellung eine Musik, die auch gedanklich anregend zu sein scheint und offenbar so manchem persönlichen Lebensentwurf nahekommt oder ihn beeinflusst. Nun wäre es natürlich spannend, Musiken zu untersuchen, bei denen genrebezogene Verknüpfungen eine geringere Relevanz haben. Interessiert man sich z.B. für Mainstream-orientierte Popmusik, so spielen in den Zuschreibungen Verweise auf andere Songs, Alben oder Künstler eventuell eine größere Rolle als bei Fugazi und erlauben vergleichende Analysen und Interpretationen. Zudem ist anzunehmen, dass die Beurteilung von umfangreicher vermarkteten Musikern vermehrt von semantischen Wissensinhalten beeinflusst ist, die durch zusätzliche Medienangebote stärker vermittelt werden
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(private Vorkommnisse, Aussehen, Kleidungsstil etc.). Eine vertiefende Auseinandersetzung damit, wie sich der Künstler in Musikclips, auf sozialen Netzwerken oder mittels Merchandising-Produkten darstellt, legt Hintergrundinformationen offen, welche für die Kontextualisierung des Klingenden wichtig sein können. Dass im Falle von Fugazi die diesbezüglichen Analysemöglichkeiten eingeschränkt sind, bedeutet nicht, dass nicht auch hier Fotografien, Booklets, Interviews oder Live-Videos weitere relevante Erkenntnisse zum angedeuteten Kriteriengefüge liefern könnten. Fernerhin ist die Datenquelle Online-Rezensionen sicherlich nicht immer geeignet, um die musikalische Wertschätzung nachvollziehbar zu machen – speziell bei Musiken, die noch weniger in den (neuen) Medien stattfinden. Allerdings war es auch gar nicht das Ziel der vorliegenden Studie, jeden in Frage kommenden Verstehenshorizont bis ins letzte Detail zu erschließen und ein vollumfängliches Bild eines bestimmten Künstlers zu zeichnen. Mein Ansinnen war es vielmehr, zu zeigen, dass es für den musikinteressierten Forscher sowohl auf interpretatorischer als auch auf analytischer Ebene viele erprobte und zu erprobende Vorgehensweisen für eine systematische Bearbeitung seiner Fragestellungen gibt. Hat z.B. ein Musikwissenschaftler die Vermutung, dass eine bestimmte Hörergruppe einen Song deswegen schätzt, weil die melodische Gestaltung außergewöhnlich ist, so hat er nun Anhaltspunkte, auf welche Hintergrundinformationen er sich konzentrieren kann, um diese These interpretativ zu untermauern. Umgekehrt ist es z.B. für einen Soziologen, der das Besondere einer Musik in dessen distinktivem Potential sieht und eine Verknüpfung zum Klanggeschehen herstellen möchte, hilfreich zu wissen, wo Musikanalysen ansetzen können. Gleiches gilt für Psychologen, Semiotiker, Ethnologen, Historiker usw., die ihre musikbezogenen Forschungen um zusätzliche Facetten bereichern können, wenn sie mehr analytische Erkenntniswege als bisher in Betracht ziehen. Auch kann es für Musiker und Produzenten interessant sein, ihre mitunter vielleicht intuitiv getroffenen Gestaltungsentscheidungen auf Grundlage des entworfenen Baukastensystems zu reflektieren. Die vorliegende Studie versteht sich als systematisierender Beitrag zu einem Forschungsbereich, in dem das Klanggeschehen als gesellschaftlich relevant erachtet und Analyse nicht nur zum Selbstzweck, sondern als Instrument zur Erkenntnissuche eingesetzt wird. Sie ist ein Beitrag zu einer Musikwissenschaft, die unser Verständnis dafür verbessert, was es am Klingenden genau ist, das es so besonders macht, dass es uns im Leben auf solch unterschiedliche Weise manchmal mehr als nur begleitet.
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Abbildungen und Tabellen Abbildungen
Abb. 1: Hypothetische Struktur der kognitiven Schemata .......................................................... 79 Abb. 2: Konzeptualisierung der Schemastruktur für populäre Musik ....................................... 80 Abb. 3: Vorschlag eines Strukturmodells kognitiver Bewertungsschemata. ............................. 81 Abb. 4: Beispiele für melodische Archetypen ............................................................................. 107 Abb. 5: Ebenenmodell melodischer Fortschreitung................................................................... 110 Abb. 6: Projection ............................................................................................................................ 111 Abb. 7: Interaktionsformen ............................................................................................................ 112 Abb. 8: Texturebenen am Beispiel von Stravinskys Variations ................................................ 113 Abb. 9: Spannungskurven am Beispiel von Milhauds Six Sonnets for mixed chorus ........... 113 Abb. 10: Eigene Anwendung des I-R-Modells von Eugene Narmour ................................... 116 Abb. 11: Tonale Bewegung in Triumph of a Heart .................................................................... 120 Abb. 12: Tonale Zentren Karma Police, Sektion C .................................................................... 121 Abb. 13: Eig. Anwendung des Modells metrischer Hierarchie von Lerdahl/Jackendoff .... 126 Abb. 14: Metrische Irregularitäten................................................................................................. 127 Abb. 15: Projection am Beispiel Cubik ......................................................................................... 129 Abb. 16: Aufbau Musikanalytisches Baukastensystem ............................................................... 143 Abb. 17: Vorlage Prozessgraphen ................................................................................................. 146 Abb. 18: Kontext Fugazi. ................................................................................................................ 150 Abb. 19: Abschnittsverlauf Turnover ........................................................................................... 185 Abb. 20: Prozessverlauf Turnover ................................................................................................ 186 Abb. 21: Klangverlauf Turnover ................................................................................................... 187 Abb. 22: Stimmenverlauf Turnover. ............................................................................................. 189 Abb. 23: Prozessverl. und Melodie / Harmonie / Rhythmus Einzelstimmen (Strophe)..... 192 Abb. 24: Prozessverl. und Melodie / Harmonie / Rhythmus Einzelstimmen (Refrain). ..... 193 Abb. 25: Umrisse der Artikulation (Strophe)............................................................................... 204 Abb. 26: Umrisse der Artikulation (Refrain) ............................................................................... 204 Tab. 1: Folk, art and popular music: an axiomatic triangle ......................................................... 19 Tab. 2: Dimensionen populärer, volkstümlicher und klassischer Musik................................... 20 Tab. 3: Raster zur Systematisierung von Text-/Musikbeziehungen .......................................... 48 Tab. 4: Alltagsästhetische Schemata ................................................................................................ 61 Tab. 5: Quantitative Übersicht zu den analysierten Rezensionen ............................................ 161 Tab. 6: Übersicht zu den genannten Songs.................................................................................. 162 Tab. 7: Übersicht zu den genannten Bandakteuren.................................................................... 163 Tab. 8: Übersicht zu den genannten Genres ............................................................................... 164 Tab. 9: Übersicht zu den genannten Bands von Fugazi-Akteuren .......................................... 165 Tab. 10: Überblick zu den Ergebnissen der Inhaltsanalyse ....................................................... 183 Tab. 11: Vergleich des RMS-Pegels von vier Strophenpassagen .............................................. 200 Tab. 12: Auffällige Frequenzbereiche der Einzelstimmen ........................................................ 201
llen
Anhang A - Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Anhang A1 - Oberfläche Oberfläche
A1.1 Abschnittsverlauf
234
A1.2 Prozessverlauf
A1.3 Klangverlauf
A1.4 Stimmenverlauf
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
Anhang A2 - Einzelstimmen Einzelstimmen
A2.1 Prozessverlauf
A2.2 Gesamttranskription (Notenschrift, Spektralanalyse)
235
236
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
237
238
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
239
240
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
241
242
A2.3 Gesang
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
243
244
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
245
246
A2.4 Gitarre
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
247
248
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
249
250
A2.5 Bass
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
251
252
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
253
254
A2.6 Schlagzeug
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
255
256
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Einzelstimmen
257
258
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Anhang A3 - Einzelstimmen-Wechselbeziehung Einzelstimmen-Wechselbeziehung
A3.1 Prozessverlauf und Melodie / Harmonie / Rhythmus Strophe
Einzelstimmen-Wechselbeziehung
A3.2 Prozessverlauf und Melodie / Harmonie / Rhythmus Refrain
259
260
A3.3 Artikulation Strophe
A3.4 Artikulation Refrain
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Anhang B - Erstellung Analysegrafiken Erstellung Analysegrafiken
Die Gestaltung und Aufbereitung der Analysegrafiken erfolgte mit Adobe Photoshop (zuletzt verwendete Version: CS6). In Anhang B1 werden anhand von Screenshots offene PSD-Dateien der Prozessgraphenvorlage, der Visualisierungen von Rhythmus und Melodiekontur sowie der Artikulationsumrisse gezeigt. Die Dateien und die darin beinhalteten Vektorelemente stehen auf www.popularmusicanalysis.com zum Download bereit und können als Grundlage für die Erstellung eigener Grafiken verwendet werden. Erforderlich hierfür sind Kenntnisse in Adobe Photoshop, wobei der konzeptionelle Ansatz der Visualisierungen natürlich übernommen und die Grafiken mit Hilfe von alternativer Software erstellt werden können. Messtechnische Abbildungen werden mittels Screenshots aus Analyse-Software, in diesem Fall größtenteils Adobe Audition CS6, importiert. In Anhang B2 werden beispielhaft die Arbeitsschritte beim Erstellen von Grafiken für eine Einzelstimmenanalyse gezeigt. Zunächst wird die Zeitachse auf Grundlage eines Sonagramm-Ausschnitts angepasst und dann schrittweise die Grafikelemente des Prozessverlaufs eingefügt. Das Sonagramm im Hintergrund dient hier der annähernd zeitgenauen Positionierung dieser Wahrnehmungsqualitäten. Im nächsten Schritt werden die notenschriftlichen Transkriptionen importiert und darunter die Rhythmus- und Melodiekonturschematisierungen erstellt. In den letzten drei Abbildungen ist der Ablauf beim Gestalten der Artikulationsumrisse ersichtlich.
Anhang B1 - Vorlagen B1.1 - Prozessgraphen
262
B1.2 Rhythmus und Melodiekontur
B1.3 Artikulationsumrisse
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
Arbeitsschritte
Anhang B2 - Arbeitsschritte
263
264
Gesamtdarstellung Analysegrafiken
SCHRIF TENREIHE DER HOCHSCHULE FÜR MUSIK FR ANZ LISZT HERAUSGEGEBEN VON CHRISTIANE WIESENFELDT UND TIAGO DE OLIVEIRA PINTO EINE AUSWAHL
BD. 7 | MARTIN PFLEIDERER (HG.) POPULÄRE MUSIK UND KULTURELLES
BD. 3 | HELEN GEYER,
GEDÄCHTNIS
THOMAS RADECKE (HG.)
GESCHICHTSSCHREIBUNG –
AUFBRÜCHE UND FLUCHTWEGE
ARCHIV – INTERNET
MUSIK IN WEIMAR UM 1800
2011. 173 S. 35 S/W-ABB. BR.
2003. 220 S. ZAHLR. NOTENBSP. BR.
ISBN 978-3-412-20773-1
ISBN 978-3-412-16602-1 BD. 8 | CHRISTIAN STORCH BD. 4 | HELEN GEYER,
DER KOMPONIST ALS AUTOR
WOLFGANG OSTHOFF (HG.)
ALFRED SCHNITTKES
SCHILLER UND DIE MUSIK
KLAVIERKONZERTE
2007. X, 414 S. 106 NOTENBSP. UND
2011. IV, 288 S. ZAHLR. NOTENBSP.
9 S/W-ABB. IM TEXT, 2 FARB. UND 1 S/W-
BR. | ISBN 978-3-412-20762-5
ABB. AUF 4 TAF. BR. ISBN 978-3-412-22706-7
BD. 9 | HELEN GEYER, BIRGIT JOHANNA WERTENSON (HG.)
BD. 5 | KNUT HOLTSTRÄTER
PSALMEN
MAURICIO KAGELS
KIRCHENMUSIK ZWISCHEN TRADITION,
MUSIKALISCHES WERK
DRAMATIK UND EXPERIMENT
DER KOMPONIST ALS ERZÄHLER,
2014. VI, 412 S. 188 S/W-ABB. UND
MEDIENARRANGEUR UND SAMMLER
NOTENBSP. BR.
2010. 322 S. 26 S/W- ABB. UND
ISBN 978-3-412-22171-3
56 NOTENBSP. BR. ISBN 978-3-412-20245-3
BD. 10 | BERNHARD STEINBRECHER DAS KLANGGESCHEHEN
BD. 6 | ROMAN HANKELN
IN POPULÄRER MUSIK
KOMPOSITIONSPROBLEM KLASSIK
PERSPEKTIVEN EINER SYSTEMATISCHEN
ANTIKEORIENTIERTE VERSMETREN IM
ANALYSE UND INTERPRETATION
LIEDSCHAFFEN J. F. REICHARDTS UND
2016. 264 S. 26 S/W- UND 37 FARB. ABB.
EINIGER ZEITGENOSSEN
MIT NOTENBSP. BR.
2011. XVI, 331 S. ZAHLR. ABB. UND
ISBN 978-3-412-50525-7
NOTENBSP. 1 CD-ROM. BR.
TR807
ISBN 978-3-412-20287-3
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
KL ANGZEITEN MUSIK , POLITIK UND GESELLSCHAF T HERAUSGEGEBEN VON DETLEF ALTENBURG, MICHAEL BERG UND ALBRECHT VON MASSOW
EINE AUSWAHL
BAND 10 | KATRIN STÖCK MUSIKTHEATER IN DER DDR
BAND 6 | MATTHIAS TISCHER
SZENISCHE KAMMERMUSIK UND
KOMPONIEREN FÜR UND WIDER DEN
KAMMEROPER DER 1970ER UND 1980ER
STAAT
JAHRE
PAUL DESSAU IN DER DDR
2013. 314 S. 30 NOTENBSP. BR.
2009. VIII, 344 S. ZAHLR. NOTEN BSP. BR.
ISBN 978-3-412-20878-3
ISBN 978-3-412-20459-4 BAND 11 | MARCO LEMME BAND 7 | NINA NOESKE,
DIE AUSBILDUNG VON
MATTHIAS TISCHER (HG.)
KIRCHENMUSIKERN IN THÜRINGEN
MUSIKWISSENSCHAFT UND KALTER
1872–1990
KRIEG
2013. 555 S. 35 S/W-ABB. BR.
DAS BEISPIEL DDR
ISBN 978-3-412-22150-8
2010. V, 195 S. 2 S/W-ABB. BR. ISBN 978-3-412-20586-7
BAND 12 | MELANIE KLEINSCHMIDT »DER HEBRÄISCHE
BAND 8 | JÖRN PETER HIEKEL (HG.)
KUNSTGESCHMACK«
DIE KUNST DES ÜBERWINTERNS
LÜGE UND WAHRHAFTIGKEIT IN DER
MUSIK UND LITERATUR UM 1968
DEUTSCH-JÜDISCHEN MUSIKKULTUR
2011. 142 S. 1 S/W-ABB. BR.
2015. 269 S. ZAHLR. NOTENBSP. BR.
ISBN 978-3-412-20650-5
ISBN 978-3-412-22390-8
BAND 9 | IRMGARD JUNGMANN
BAND 13 | ALBRECHT VON MASSOW,
KALTER KRIEG IN DER MUSIK
THOMAS GRYSKO, JOSEPHINE PRKNO
EINE GESCHICHTE DEUTSCH-
(HG.)
DEUTSCHER MUSIKIDEOLOGIEN
EIN PRISMA OSTDEUTSCHER MUSIK
2011. VI, 182 S. BR.
DER KOMPONIST LOTHAR VOIGTLÄNDER
ISBN 978-3-412-20761-8
2015. 125 S. ZAHLR. NOTENBSP. 2 AUDIO-CDS. BR.
TT167
ISBN 978-3-412-22518-6
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THOMAS ULRICH
STOCKHAUSENS ZYKLUS LICHT EIN OPERNFÜHRER
Karlheinz Stockhausen (1928-2007) hat 25 Jahre lang an seinem Opernzyklus LICHT gearbeitet. In dieser Zeit sind 7 Opern mit insgesamt 29 Stunden Musik entstanden. Die Opern thematisieren die 7 Tage der Woche; nach antiker Tradition ist jeder Tag durch ein zentrales Thema des menschlichen Lebens bestimmt. So bietet der Zyklus ein Bild der „condition humaine“ im Ganzen. Obwohl LICHT ein Hauptwerk der Musik unserer Zeit ist, ist der Zyklus im Einzelnen fast unbekannt. Dieses Buch will in Gestalt eines tiefer eindringenden Opernführers den Zyklus vorstellen und eine solide Basis für sein Verständnis schaffen. Vor allem werden die vielfältigen religiösen Traditionen, die Stockhausen verwendet hat, interpretiert und mit einer Analyse der Musik verbunden. Es öffnet sich der Blick auf ein einzigartiges Werk, das den ihm gebührenden Platz im geistigen Leben unserer Zeit finden sollte. 2016. 432 S. CA. 60 S/W-ABB. UND NOTENBSP. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-50577-6
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ULRICH WILKER
„DAS SCHÖNSTE IST SCHEUSSLICH“ ALEXANDER ZEMLINSKYS OPERNEINAKTER DER ZWERG (SCHRIFTEN DES WISSENSCHAFTSZENTRUMS ARNOLD SCHÖNBERG, BD. 9)
Alexander Zemlinskys Oper Der Zwerg gilt als konservatives Werk eines Komponisten , der sich zwar dem Schönberg-Kreis zugehörig fühlte , den Schritt in die Atonalität aber nie vollzogen hat. Doch die Handlung des Einakters , in dem sich „das Schönste“ als „scheußlich“ ( und umgekehrt ) entlarvt , erschüttert ästhetische Gewissheiten , die musikalische Faktur ist brüchig. Im unvermittelten Nebeneinander heterogener Tonfälle stellen spätromantischer Klangrausch und expressionistische Verzerrung die Pole dar , zwischen denen sich die selbstreflexive Identitätssuche des zwischen den stilistischen Stühlen stehenden Komponisten Zemlinsky abspielt. Der Zwerg lässt sich somit als Künstleroper deuten , die die kompositorische Identitätskrise der musikalischen Moderne im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts dokumentiert. Der Protagonist verkörpert dabei als Anti-Narziss das Sinnbild einer Moderne , die mit dem Auf kommen der neuen Musik sich selbst problematisch wird. 2013. 248 S. ZAHLR. NOTENBSP. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-79551-3
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SIEGFRIED FRIEDRICH
ZU FUNKTION UND WIRKUNG GRADUELLER TONHÖHENÄNDERUNGEN IN J. S. BACHS „DAS WOHLTEMPERIERTE KLAVIER“ I UND II SOWIE F. SCHUBERTS „DIE SCHÖNE MÜLLERIN“ (WIENER SCHRIFTEN ZUR STILKUNDE UND AUFFÜHRUNGSPRAXIS, BAND 8)
Die Auswirkungen stimmlicher Phänomene, die in der barocken Affektenlehre und der musikalischen Rhetorik durchaus bekannt und in ihrem Bedeutungsraum erfaßt waren, finden in der neueren Zeit auf dem Gebiet der Psychoakustik wieder Beachtung, bleiben aber von der musikalischen Praxis sowie auch der harmonischen und melodischen Analyse zumeist abgetrennt. Siegfried Friedrich zeigt in dieser Arbeit nicht nur, daß sich bei einer Berücksichtigung stimmlicher „präkultureller“ Symptome scheinbare Gegensätze zwischen tonaler und atonaler Musik nivellieren, sondern legt auch ausführlich dar, in welchem Ausmaß musikalische Meisterwerke wie Bachs Wohltemperiertes Klavier und Schuberts Liederzyklus „Die schöne Müllerin“ von derartigen Aspekten beinflußt und durchdrungen sind. Dabei treten Bedeutungsräume zutage, die etwa Analysen nach funktionsharmonischen Gesichtspunkten verschlossen bleiben. 2015. 548 S. 365 NOTENBEISPIELE. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-20301-8
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SONJA HUBER
DAS ZEITGENÖSSISCHE KLAVIERKONZERT ANALYSEN ZU M. FELDMAN, M. JARRELL, G. KÜHR, H. LACHENMANN, G. LIGETI UND W. LUTOSŁAWSKI
Klavierkonzert heute – das bedeutet die Auseinandersetzung mit einer repräsentativen, historisch besonders geprägten Gattung. Erstaunlich viele zeitgenössische Komponisten – teils mit kritischem Verhältnis zur Tradition – haben sich dieser Herausforderung in den letzten Jahrzehnten gestellt. Im vorliegenden Buch werden zur Darstellung eines breiten Spektrums ästhetischer Positionen sowohl bewährte Methoden verwendet als auch neue Wege bestritten. Besonders einbezogen wird die Rolle des Hörers zur Bewertung und Einordnung analytischer Ergebnisse. Anhand detaillierter Analysen ausgewählter Klavierkonzerte werden die Gattungsgrenzen neu bestimmt und zugleich ein Panorama zeitgenössischen Komponierens geboten. 2014. 276 S. 66 NOTENBEISP. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-79558-2
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