Franz Lehár oder das schlechte Gewissen der leichten Musik 9783110935141, 9783484660120

Franz Lehár (1870-1948), 'the composer most frequently performed within his own lifetime', still represents an

160 110 6MB

German Pages 237 [240] Year 1995

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Table of contents :
0. “Lehár ist besser”. Vorwort
1. Von einem, der auszog ... Lehárs Biographie. Prolog
II. Warenhaus Operette. Lehárs Salonoperette
1. “Musik sich den Reigen erzwingt”. Zur Musikdramaturgie der Salonoperette
2. “Kein Wort, doch es tönt fort”. Zur Rezeption der Salonoperette
3. “Heute ist heute”. Zum Sujet der Salonoperette
III. Verinnerlichung zum Ausdruck gebracht. Der unbekannte Lehár
1. “Halbversteckt, der Knalleffekt”. Operettenästhetisches
2. “Feme Klänge, Märchen gleich”. Experimente
IV. Orpheus wandert ab ... Lehárs Graf von Luxemburg
1. “Wie’s nur ein Luxemburger kann”. Zu Sujet und Dramaturgie des Graf von Luxemburg
2. “Man greift nicht nach den Sternen”. Zu den musikalischen Formtypen des Graf von Luxemburg
3. “Versteh’ das Meisterstück”. Zur Musikdramaturgie des Graf von Luxemburg
V. Süße Lehár-gie. Lehár und die Geschichte
1. “Kunst bringt Gunst”. Im Spiegel der Zeitgenossen
2. “Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen”. Im Nationalsozialismus
VI. Ausverkauf der Geschichte. Lehárs Lyrische Operette
1. “Das ewige Lied von Lust und Leid”. Zur Musikdramaturgie der Lyrischen Operette
2. “Man sieht ja doch das fade Leben Tag für Tag”. Zur Rezeption der Lyrischen Operette
3. “Eingelullt in süßen Worten”. Zum Sujet der Lyrischen Operette
VII. Dramatische Musik der dritten Art. Lehárs Giuditta. Epilog
Literaturverzeichnis
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Franz Lehár oder das schlechte Gewissen der leichten Musik
 9783110935141, 9783484660120

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iheatron

Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele

Band 12

Stefan Frey

Franz Lehár oder das schlechte Gewissen der leichten Musik

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Frey, Stefan: Franz Lehár oder das schlechte Gewissen der leichten Musik / Stefan Frey. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Theatron ; Bd. 12) NE: GT ISBN 3-484-66012-0

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt

Vorbemerkung

Seit mehr als zehn Jahren, als er am Ende einer Aufführung von Becketts Glücklichen Tagen diese Musik zum ersten Mal hörte, verfolgt sie den Autor, um ihn, wie er hofft, nach Veröffentlichung dieses Buches endlich freizugeben. Die Widerhaken, mit denen sie sich ihm so hartnäckig festgrub, hat sie noch immer nicht verloren. Dennoch ist zweifelhaft, ob es je soweit gekommen wäre, hätten seine ersten Bemühungen, sich Lehár von der Seele zu schreiben (damals noch an der Universität), nicht einen Mentor gefunden, der zu ihrem jetzigen Abschluß erst ermutigt hat: Professor Dieter Borchmeyer, der diese Arbeit über sechs Jahre mit Anteilnahme begleitete, selbst dann noch, als der Verfasser längst ans Theater übergelaufen war. Auch hier stieß er auf Verständnis, so bei Intendant Peter P. Pachi, der ihm seine erste Lehár-Inszenierung ermöglichte. Doch wäre das Buch in dieser Form nicht zustande gekommen, ohne die vielseitige Unterstützung, die der Autor von allen Seiten erfahren hat. Vor allem dankt er fur die Erstellung der Druckvorlage: Gabi Kugel und Werner Schleicher (verantwortlich für Textverabeitung und Rechner). Für weiteres technisches Gerät: Wolfgang Brunner. Für Korrekturlesen und Betreuung: Susan Scott. Für bereitwilliges Zurverfügungstellen des Materials: dem nicht mehr existenten, noch von Lehár gegründeten Glockenverlag und in seiner Nachfolge dem Vertrieb 'Musik und Bühne' sowie Dr. Silvia Müller von der Operettengemeinde Bad Ischl. Für Operettenfachsimpelei, bzw. -Schwärmerei: Professor Volker Klotz und Ksenjia Lukic. Schließlich für wichtige musikalische Anregungen: Peter Frey.

Maierhöfen, November 1994

Inhaltsverzeichnis

0.

1.

"Lehár ist besser" Vorwort

1

Von einem, der auszog... Lehárs Biographie. Prolog

7

Operettenleben 7 - Das Jahr 1928 8 - Instrumentalzögling 9 - Wunderkind 9 Militärkapellmeister 10 - Opemkomponist 11 - Belagerung der Oper 14 Operettenintermezzo 15 - Eroberung der Oper 16

Π. 1.

Warenhaus Operette Lehárs Salonoperette

19

"Musik sich den Reigen erzwingt" Zur Musikdramaturgie der Salonoperette Auflösung und Zusammenhang 20 - Konstellationen I

20 21 - Aufteilung der Mu-

siknummem I 22 - Besetzung; Charakter der Musiknummern 23 - Entrée 24 - Tänze 25 - Schlager I 26 - Stereotypen 27 - ModeUe 28 - Verhältnis zur Oper 29 2.

"Kein Wort, doch es tönt fort" Zur Rezeption der Salonoperette

31

Massenpublikum, Geschäft und Unterhaltungsmusik 31 - "Die Lustige Witwe steht auf der Grenze" 33 - Marktlücke Lustige Witwe 34 - Intemationalisierung I 34 - Rezeption in Serie 36 - Schlager Π 37 - Kunstferne und Publikumsnähe 38 - Chaos von Stilgebärden 39 - Modernität 40 - Erlebnis, Psychologie und Unsinn 41 - Mode 42 - Kult 44

VII

3.

"Heute ist heute" Zum Sujet der Salonoperette

45

Warenhaus Operette I 45 - Internationalisierung II 46 - Schwankthematik 46 Salon und Fest 47 - Innere Handlung I 48 - Märchen 49 - Gegenwartscharakter 50 - Die Operette als Ort der Alltäglichkeit 51 - Exkurs I: Banalisierung des Alltags vermittels Maxim 52 - Exkurs II: Gesellschaft und Fabrikmädel 53 "Legitim, anders nicht" oder "Ganz egal scheint Moral" / Operettenfrivolität 55 "Morgen geht vielleicht in Trümmer die Welt" / Operettenfatalismus 58 - Textfaktur 58 - Schlagworte 59 - Warenhaus Operette II 61

ΠΙ. 1.

Verinnerlichung zum Ausdruck gebracht Der unbekannte Lehár

63

"Halbversteckt, der Knalleffekt" Operettenästhetisches

63

Selbstreflexionen 63 - Opernmittel 64 - Vom Musikfeldwebel zum Psychologen 65 - Orchestersatz 66 - Stellung zur Moderne 68 - Der Bühnenkomponist 69 - Keine Operntexte 70 - Grübeleien der Bühnenschriftsteller 70 - Gewagte Stoffe 72

2.

"Feme Klänge, Märchen gleich" Experimente

73

Gewagtere Stoffe 73 - Zigeunerliebe I / Dramaturgie 74 - Zigeunerliebe II / Traumspiel 75 - Zigeunerliebe III / Naturklang 77 - Endlich allein I / Erotische Phantasie 78 - Endlich allein II / Der zweite Akt 79 - Endlich allein III / Der Wagner der Operette 81

IV. 1.

Orpheus wandert ab... Lehárs Graf von Luxemburg

83

"Wie's nur ein Luxemburger kann" Zu Sujet und Dramaturgie des Graf von Luxemburg

84

Zwischen Oper und Straße I 84 - Entstehung und Erfolg 84 - Gesellschaftliche Sphären 86 - Innere Handlung II 86 - Zwischen Oper und Straße II 88 - Intrige 89 - Kollektiver Held 89 - Buffopaar 90 - Angèle und Finale I 91 Zweiter Akt / 'Scène à faire' 92 - Die Lösung des 'Gordischen Knotens' oder der dritte Akt 93

VIII

2.

"Man greift nicht nach den Sternen" Zu den musikalischen Formtypen des Graf von Luxemburg

94

Fonntypen 94 - Kollektives und Subjektives 95 - "Mädel klein, Mädel fein" oder Tanzwalzer 96 - "Bist du's lachendes Glück?" oder Valse moderato 96 Antithesen 98 - Wiener-Walzer-Intermezzo 99 - Exkurs: Pentatonik 99 - Verbindungen 100 - "Am besten schmeckt's dem Bübchen", Zwischenformen 100 Subtext der Soloinstmmente 101 - "Knöpschen klein, Knöpschen fein" oder Parodie 101 - Inneres Objekt und Couplet I 102 - Couplet II 103 - "Trèfle incarnat", eine erweiterte Szene 104 - "Nicht minder interessant", die ABA-Form 106 Charakterisierende Melodik 108 - "In nebelhaften Fernen", ein Duett 109

3.

"Versteh' das Meisterstück" Zur Musikdramaturgie des Graf von Luxemburg

110

Widerstreit von Illusion und Desillusion 110 - ...In der Orchestereinleitung 111 Spielszenen 112 - Beispiel I: Intrigenspiel (Nr. 6) 113 - Beispiel II: liève et parodie' (Nr. 13) 113 - Beispiel III: "Statt Sphärenklang eine Tanzmelodie" (Nr. 11) 115 - Reminiszenzen-Finale 1115 - Finale II oder 'Musikdrama' 117

V. 1.

Süße Lehár-gie Lehár und die Geschichte

123

"Kunst bringt Gunst" Im Spiegel der Zeitgenossen

123

Alltagsreflexe 123 - Mahlers Heiterkeit 124 - Der Operette Zauberring 125 Schriftstellerisches am Rande 128 - Gefälligkeitszauber 129 -

Premieren-

fieber 130 - Schönbergs Respekt 131 - Ein Kino in London 133 - Eine Künstlerfreundschaft 134

2.

"Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen" Im Nationalsozialismus

138

"Kulturpolitisch ein strittiges Problem" 138 - Einsam in eherner Zeit 139 Hitler zur Operette 141 - Rückzug 144

IX

VI. 1.

Ausverkauf der Geschichte Lehárs Lyrische Operette

145

"Das ewige Lied von Lust und Leid" Zur Musikdramaturgie der Lyrischen Operette

146

Versuch des Ausgleichs 146 - Konstellationen II 147 - Konflikt 148 Aufteilung der Musiknummern II 149 - Einlage und bloßes Innen / die Nummemdramabirgie der Lyrischen Operette ISO - Drastik der Affekte: "zu einem orgiastischen, betäubenden Gipfelpunkt hinauf' 151 - Distanz und Nahe / Historismus, Exotismus und Jazztanze 152 - Formtypen 154 - Tauberlied: Aufbau, Melodik, Haltung 155 - Text: "Dazu seid ihr ja da" 158 - Widersprüche 160 - Verhältnis zur Oper 161 - Lehár und Puccini, Puccini und Lehár 162 - Musikdrama? 163 - "O Mädchen", einem Leitmotiv zu Friederike gefolgt: 1. Akt, Material / 2. Akt, Drama / 3. Akt, Erinnerung 165

2.

"Man sieht ja doch das fade Leben Tag für Tag" Zur Rezeption der Lyrischen Operette

168

Negative Ewigkeit 168 - Schein des Inwendigen 169 - Realitätsverlust 170 Stabilisierung der Gemüter 171 -

Opernersatz

172 -

Rundfunk 175

"O Tauber, mein Tauber": Tauber und Lehár, Tauber und Massary, Tauber und Goethe 176 - Tauberkult 178

3.

"Eingelullt in süßen Worten" Zum Sujet der Lyrischen Operette

180

Geisterfahrt wider die Geschichte 180 - Historische Distanz 181 - Zusammenhang mit dem Menschlichen 182 - Entsagung 183 - Innen- und Außenwelt 185 -Rührstück 186 - Der Mann mit dem Einglas oder Alltag und Kult 188 - Textfaktur 190 - "Den Fraun'n will ich die Geige weih'n", z. B. Paganini 191 - "Weggeküßt", z. B. Goethe 193 - Danilo "brauchte nicht dezent zu sein" 196

VII.

Dramatische Musik der dritten Art Lehárs Giuditta. Epilog

197

"Müßige Frage" 197 - Weihe des Hauses 198 - "Gewähltheit der Thematik" 198 Opemheldin im Lichte Nietzsches 200 - Operettenheld im Schatten des

X

Faschismus 201 - Disparate Musikdramaturgie 203 - Stereotypen im Zwielicht 205 - Konsequenzen 207 - Inkonsequenz 209 - "Im Zeichen des Verschwindens" 212 - Resümee 214 - Nachschrift 215

Literaturverzeichnis

217

XI

Folgende Werke Lehárs sind im Text als Sigle mit Seiten- bzw. Taktangabe und in einfachen Klammern aufgeführt: (LW) - DIE LUSTIGE WITWE, Operette in drei Akten von Victor Léon und Leo Stein (teilweise nach einer fremden Grundidee), Musik von Franz Lehár, Klavierauszug mit Text, Wien/London 1959 [1905]

(GVL) - DER GRAF VON LUXEMBURG, Operette in drei Akten von Alfred Maria Willner und Robert Bodanzky, Musik von Franz Lehár, Klavierauszug mit Text, Wien o. J. [1909/1937]

(ZL) - ZIGEUNERLIEBE, Romantische Operette in drei Bildem, Text von Alfred Maria Willner und Robert Bodanzky, Musik von Franz Lehár, Klavierauszug mit Text, Wien o. J. [1910]

(EVA)-EVA, Operette in drei Akten von Alfred Maria Willner und Robert Bodanzky, Musik von Franz Lehár, Klavierauszug mit Text, Wien/Wiesbaden o. J. [1911]

(EA) - ENDLICH ALLEIN, Operette in drei Akten von Alfred Maria Willner und Robert Bodanzky, Musik von Franz Lehár, Klavierauszug mit Text, Originalausgabe des Komponisten, Leipzig/Wien/New York o. J. [1914]

(PAG)-PAGANINI, Operette in drei Akten von Paul Knepler und Béla Jenbach, Musik von Franz Lehár, Klavierauszug mit Text, Wien o. J. [1925]

(ZAR) - DER ZAREWITSCH, Operette in drei Akten von Heinz Reichert und Béla Jenbach (Frei nach ZapolskaScharlitt), Musik von Franz Lehár, Vollständiger Klavierauszug mit Text, Originalausgabe des Komponisten (Neue Fassung), Wien/New York o. J. [1927/1937]

(FRI)-FRIEDERIKE, Singspiel in drei Akten von Ludwig Herzer und Fritz Löhner, Musik von Franz Lehár, Klavierauszug mit Text, Berlin o. J. [1928]

XII

(LDL) - DAS LAND DES LÄCHELNS, Romantische Operette in drei Akten nach Victor Léon von Ludwig Herzer und Fritz Löhner, Musik von Franz Lehár, Klavierauszug mit Text, Originalausgabe des Komponisten, Wien o. J. [1929]

(GIÙ)- GIUDITTA, Musikalische Komödie in fünf Bildern, Buch von Paul Knepler und Fritz Löhner, Klavierauszug mit Text, Originalausgabe des Komponisten, Wien o. J. [1934]

XIII

0. "Lehár ist besser"1 Vorwort

"Später mache ich eine Lehár-Renaissance mit."2

Franz Lehár, der "innerhalb seiner Lebensgrenzen am meisten aufgeführte Komponist aller Zeiten,"3 ist ein Ärgernis für Intellektuelle, der Inbegriff des süßen Kitsches, das Synonym für Schund schlechthin. Im Gegensatz zu anderen Meistern seiner Gattung wurde er nie rehabilitiert. Jacques Offenbach und Johann Strauß konnten unumstritten zu Klassikern werden. Franz Lehár nicht Er entzieht sich solcher Klassifizierung geradezu. Noch fehlt die historische Distanz, die ihm seinen Platz in der Kulturgeschichte zuwiese. Ihr stellt Lehár als krasser Anachronismus ein unbewältigtes Kapitel der Moderne dar. Allenfalls Die Lustige Witwe läßt sie gelten. Was folgt, bestätigt im Spätwerk ihr Vorurteil vom 'Olympier der Banalität': das Auseinanderfallen von handwerklicher Perfektion seiner Musik und ihren Gehalten, die technische Bravour seiner Instrumentation, die die einfachen Gebilde hinter einem weichen Klangteppich verschwinden läßt - das Mißverhältnis von Zweck und Mitteln. Das von Lehár erstrebte Ideal eines völligen Wohlklangs verselbstständigt sich, verliert seine Substanz. Der Kritiker steht ratlos vor solchem Wohlklang - " aus süßem Holz quillt süßer Klang."4

1

2

3 4

Theodor W. Adorno, Erich Wolfgang Kontgold. Drei Lieder für Sopran und Klavier, op. 22; Suite für 2 Violinen, Violoncello und Klavier (linke Hand), op. 23, Mainz: B. Schott's Söhne 1930, in: Ders., Gesammelte Schriften 19 - Musikalische Schriften VI, hrsg. von Rolf Tiedemann und Klaus Schulz, Frankfurt a. M. 1984, S. 324 Karl Kraus, Saiten, in: Ders., Die Fackel, hrsg. von - - , Bd. 11, XXXII. Jahr, (Wien) September 1930, Nr. 838-844, S. 52 Maria von Peteani, Franz Lehár. Seine Musik - Sein Leben, Wien/London 1950, S. 7 Ludwig Ulimann, Franz Lehár zum Sechziger, zit. n. Karl Kraus, Die Fackel, Bd. 11, XXXII. Jahr, Sept. 1930, Nr. 838-844, S. 55 - Auf einer anderen Ebene wiederholt sich im übrigen das Phänomen bei Richard Strauss. Sein Weg von 'Salomé' zu 'Capriccio' etwa beschreibt parallel dem Lehárs von der 'Lustigen Witwe' zu 'Giuditta' die Auflösung unterm Diktat "des klangsinnlichen Hedonismus" (Theodor W. Adorno, Die Geschichte der deutschen Musik von 1908-1933, in: Gesammelte Schriften 19, S. 620). Als Komponisten einer Generation tragen sie das Mal ihrer Epoche.

1

Vorschnell wäre Nietzsches Urteil über den Zigeunerbaron auch über Lehárs Schaffen gesprochen - "die zwei Arten der deutschen Gemeinheit, die animalische und die sentimentale, nebst ganz schauderbaren Versuchen, hie und da den gebildeten Musiker zu zeigen."5 Nähme es doch der Lehárschen Musik die eigentümliche, in ihrem Wohlklang begründete "Fähigkeit, kraft ihrer sinnlichen Faszination das ästhetische Gewissen zum Schweigen zu bringen."6 Beide Positionen, mithin die Instanz jenes fragwürdigen 'ästhetischen Gewissens', sind ihrem Gegenstand nicht angemessen. Gerecht werden kann einem Werk, das von seiner Wirkung lebte, nur eine Betrachtung, die jene Wirkung miteinbezieht. Dem Phänomen Lehár sich annähern, heißt, es kulturhistorisch begreifen, als Produkt einer Epoche, die es kennzeichnet. Schließlich zeigt "kein Wiener Operettenkomponist [...] die Wandlung des Zeitgeschmacks innerhalb seiner Werke so deutlich wie Franz Lehár."7 Als Komponist an der Schwelle zur Massenkultur gewinnt gerade Lehár Bedeutung. Adornos Entwurf seiner Philosophie der Neuen Musik weist ihm, aus der Gegenperspektive, diesen Platz zu: Das Komplement der radikalen Musik war von Anbeginn die für den Markt angefertigte standardisierte Massenmusik. Der Kontrast zu ihr ist gesellschaftlich und technologisch von entscheidender Bedeutung für die Formulierung der neuen Kompositionsziele gewesen, und die Neue Musik stellt in ihrer Geschichte sowohl die Fluchtbahn vorm Banalen der Massenmusik, wie den Versuch der Adaption an deren Markterfolg dar. Daher ist die musikalische Unterwelt in die Betrachtung explizit hereinzuziehen. Gleichgültig sind mittlere, gehobene Komponisten; wichtig dagegen sind hier Schönberg, Webern und Berg, dort Lehár und Oscar Straus.8

Adornos Veröffentlichungen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre erweisen sich für die Bestimmung Lehárs als entscheidend neben einigen in Zeitschriften erschienen Aufsätzen und dem Buch Otto Schneidereits ragen sie aus der Flut der vor allem biographischen Lehár-Literatur, deren anekdotische Substanz über Maria von Peteani noch vom Komponisten selbst stammt. Im Verein mit Karl Kraus' lebenslanger, beinahe manischer Polemik 5

6

7

8

2

Friedrich Nietzsche, Brief an Peter Gast vom 27. 09. 1888, zit. n. Hugo Fleischer, Friedrich Nietzsche über die Operette, in: Merker, 8. Jhg., Wien Juli 1917, Nr. 12-13, S. 472 Hans Kralik, Opem- und Konzeitkritiken, in: Die Musik, Bd. 26, 26. Jhg., Berlin/ Leipzig April 1934, Nr. 7, S. 549 Arthur Neisser, Vom Wesen und Wert der Operette. Mit 26 Bildnissen, SzenenBildern und Handschrift-Nachbildungen, in: Die Musik, begründet von Richard Strauss, Leipzig 1923, S. 81 Theodor W. Adomo, Die Geschichte der deutschen Musik von 1908-1933, in: Ders., Gesammelte Schriften 19, S. 623

gegen Franz Lehár, stellen sie hauptsächlich das Material vorliegender Arbeit. Die wichtigen Werkanalysen von Carl Dahlhaus, Volker Klotz, Ingrid Grünberg, Dieter Zimmerschied sowie aus Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters (PEM) sollen an anderer Stelle gewürdigt werden. Seit wenigen Jahren erst hat die Wissenschaft sich der Operette im Allgemeinen und der des zwanzigsten Jahrhunderts im Besonderen angenommen. Von Belang sind hier erstaunlicherweise vor allem die Arbeiten zweier Germanisten. Faßt Volker Klotz seine langjährige Beschäftigung mit dem Gegenstand in Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst zu einer produktiven Reflexion über die Dramaturgie der Gattung zusammen, macht Martin Lichtfuss als Ausverkauf der Operette für die zwanziger Jahre schlüssig, "daß Gestalt und Ausstrahlung der Libretti bei weitem mehr Gewicht beizumessen ist, als allgemein angenommen wird."9 Beide Autoren bestechen durch Witz und Materialfülle und messen Lehár auch in ihrem Kontext zentrale Bedeutung zu. Aus dem dergestalt sich darbietenden Kompendium zerstreuter Sekundärliteratur, ist der Versuch unternommen, unter dem Primat werkimmanenter Analyse einen Zusammenhang herzustellen - ist doch bislang "der längst fällige Versuch einer kritischen Gesamtbeurteilung der Erscheinung Lehárs in ihrer sozialen und musikalischen Tragweite [...] über erste Ansätze nicht hinausgekommen."10 Schon 1929 stand eine solche Aufgabe vor großen Hindernissen: Die Bestimmung einer modernen Operette aus dem geistigen Leben der Gegenwart stellt den streng wissenschaftlichen Forscher, der in freiwilliger Askese auf den ganzen Apparat von biographischem und anekdotischem Material verzichten muß, vor geradezu unüberwindliche Schwierigkeiten.11

Vorliegende Arbeit versucht, diesen Schwierigkeiten zum einen in der Konzentration auf Lehár, dem unumstritten gültigen Vertreter der 'modernen Operette' zu begegnen. Zum andern wird Lehárs Werk in zwei wesendiche Perioden unterteilt: in eine frühe, von Die Lustige Witwe (1905) bis Die Ideale Gattin (1913), und eine späte, seit Paganini (1925). Sie bilden jeweils verbindliche Modelle aus: die Salon- und die Lyrische Operette. Die Termini 9

10

11

Martin Lichtfuss, Operette im Ausverkauf: Studien zum Libretto des musikalischen Unterhaltungstheaters im Österreich der Zwischenkriegszeit, Wien/Köln/Böhlau 1989, S. 12 Christoph Winzeier, Franz Lehár - ein "Fanatiker der Kunst'?, in: Schweizerische Musikzeitung, 121. Jhg., Zürich 1981, Nr. 4, S. 229 Arthur Kahane, Die moderne Operette. Eine geistesgeschichtliche Untersuchung, in: Die Scene, 19. Jhg., Berlin März 1929, Heft 3, S. 229

3

wären im folgenden zu begründen und an Musikdramaturgie (Formstereotypen, schematischer Aufbau, ornamentale Effekte), Rezeption (Aufführungsserien, internationale Verbreitung) und Sujet (Niederschlag geistiger Strömungen der Zeit, Theaterformen, Gestalt der Libretti) zu verifizieren. Im Mittelpunkt steht eine eingehende, vor allem auf die Musikdramaturgie sich stützende Analyse des Graf von Luxemburg. Er soll als repräsentatives Werk für Lehárs gesamtes Schaffen nachgewiesen werden. Diese im Wesentlichen phänomenologisch am Werk orientierten Untersuchungen beschränken sich auf zehn der dreißig Bühnenwerke des Komponisten. Die von Max Schönherr12 mit dem Begriff der 'Romantischen Operette' gekennzeichnete Übergangsphase zwischen Salon- und Lyrischer Operette wird als stilistische Erweiterung der Operette in exemplarischen Experimenten zusammengefaßt. Mit einem Resümee der Lehárschen Operette am Beispiel seines letzten opernhaften Werkes schließt sich der Kreis, wie er anhebt mit einem biographischen Abriß, dessen ironische Klammer die Oper bildet. Als Experiment tritt die Lehársche Operette epigonal das Erbe der Nummernoper, zum Teil gar des Musikdramas an. Solches Experimentieren trifft den Nerv der Zeitgenossen, in deren Spiegel seine Modernität treulich festgehalten ist. So befremdlich dies im Kontrast zur eigentlichen Moderne scheinen mag, sieht Volker Klotz zurecht Operette und Avantgarde in gemeinsamer Opposition "gegen eine dritte Größe, das bürgerliche Bildungstheater."13 Auch wenn Lehár versucht, sich ihm anzunähern, bleibt ihm diese Mitte doch verwehrt. Ist "leichte Kunst [...] das gesellschaftlich schlechte Gewissen der ernsten"14, so wäre die Operette Lehárs, als negatives Phänomen der Moderne ernst genommen, das ästhetisch schlechte Gewissen der leichten Musik. Ihr Opernanspruch von der individuellen Sehnsucht ihres

12

13

14

4

(Dessen weiterer Unterteilung nicht gefolgt werden kann.) Vgl. Max Schönherr, Franz Lehár-BibliogTaphie zu Leben und Werk. Beiträge zu einer Lehár-Biographie, Wien 1970 Volker Klotz, Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. Darin: 106 Werke ausführlich dargestellt, München 1991, S. 62 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, hrsg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1987, S. 160

Schöpfers bis zum kollektiven Bedürfnis ihrer Zeit, ist nichts als Ausdruck solcher Umkehrung. "Sie läßt sich nicht verteidigen, so wie sie's meint, aber sie läßt sich retten, so wie sie, transparent wider ihren Willen, gemeint ist."15

Vom Schaffen

"Was ich suche und immer wieder suche, das ist die Melodie...es ist eine Arbeit, glauben Sie mir!"16

Theodor W. Adorno, Arabesken zur Operette (1932), in: Ders., Gesammelte Schriften 19, S. 516 Franz Lehár, zit. n. Karl Kraus, Vom Schaffen, in: Ders., Die Fackel, Bd. 11, XXXII. Jahr, Sept. 1930, Nr. 838-844, S. 51

I. Von einem, der auszog... Lehárs Biographie. Prolog

Wenn kommende Generationen nach dem Namen jener fragen werden, die in unserem Jahrhundert am reichsten waren an ungeklügelter, zum Herzen sprechender Melodie, dann nennt man ihnen und nicht nur an letzter Stelle gewiß mit Franz Schubert, Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini auch Franz Lehár.1

Operettenleben Glänzend wie die Operettenwelt, der er zugehört, mag sich das Leben eines Operettenkomponisten zutragen. Hat er gestern noch "gern [...] die Frau'n geküßt" (PAG 50), geht er heute "ins Maxim [,wo er] sehr intim" (LW 32) ist, brennt morgen seine "Leidenschaft [...] heißer noch als Gulaschsaft" 2 Ja, sein ganzes "Leben liri lari lump , ist nur ein Pump" (GVL 11). Am 7. Januar dirigiert der Operettenkomponist "in Graz Zarewitsch"3, am 15 Januar zahlt er "Steuer", eine Woche darauf der "Concordia Ball". Am 24. Februar ist er zur "Premiere Luxemburg / Metropoltheater" in Berlin, am 3. März im Gaité lyrique (Paris) zur Paganini Premiere ("glänzend ausgefallen"), um sich vom 8. bis 27. März in Monte Carlo zu erholen, mal mit Gewinn, so am 25. (17.000), mal mit Verlust wie am 27. (13.000), all das im Spielcasino selbstverständlich. Er läßt sich am 7. April einen Besuch der Pompadour in Berlin ebensowenig entgehen wie Einladungen "bei Charell, Löwenthal, Massary, Léon." Darauf steht die "Zarewitsch Premiere (außergewöhnlicher Erfolg)" in Wien am 18. und am 25. Mai in Budapest an. Auch diese ist "glänzend ausgefallen". Bevor es dann in die Sommerfrische nach Bad Ischl geht, notiert der Operettenkomponist: "10. Juni - 9.30 Käthe Dorsch, 5 Uhr Rita Georg bei mir!!". Dort angekommen bedrängt ihn auch schon ein Einfall: "Die jauchzenden Berge, das Tal, der Äther im leuchtenden Strahl, sie singen von dir, jubeln mit dir". Nach schöpferischer Zurückgezogenheit ruft am 29. 1

2

3

Anton von Lehár, Lehár-Geschichten, erzählt von - - , in: Erinnerungen, Bd. 1, Wien 1905-43, S. 118 f. Emmerich Kálmán, Gräfin Manza, Operette in drei Akten von Julius Brammer und Alfred Grünwald, Musik von — , Klavierauszug mit Text, London 1958, S. 35 Wie alle folgenden Zitate in diesem und im nächsten Abschnitt aus: Franz Lehár, Notizbuch 1928, Stadt- und Landesbibliothek Wien, Handschriftenabteilung, o. Nr., o. S.

7

August das "100. Frühlingsmädel" nach Berlin und am 22. September wirkt die "Haller Revue Schön und Schick grell". Zwei Tage darauf verbringt er mit "Massary 2h, [mit] Rotter 5h" - ehe das Jahr seinem Höhepunkt zustrebt: Freitag, 4. Oktober ist "FRIEDERIKE, UA, fabelhaft ausgefallen". Kurz darauf stellen gratulierend "Benatzky, Jossa Selim, Charell, Kálmán" sich ein. Dann ist vom 9. November vielsagend vermerkt "Rita Georg bei mir ...". In diesem Monat dirigiert der Operettenkomponist die "50. Vorstellung" Friederike in Berlin, sowie in Wien den "200. Zarewitsch". Ein erfülltes Jahr, zumal noch einmal zu einer "Probe Rita Georg" mit drei geheimnisvollen Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen ("...") erscheint. Zu Weihnachten schließlich beschert ihm das "Metropoltheater" bzw. "Charell" eine "Lustige Witwe Premiere. Künstlerisch befriedigt" findet der Komponist die "Massary glänzend" und glaubt "an wirklichen Publikums Erfolg".

Das Jahr 1928 So hat sich das Jahr 1928 seinem geheimen Notizbuch zufolge für Franz Lehár, den Operettenkomponisten, zugetragen. Von Arbeit, Komponieren, ist da kaum die Rede. Einmal sollte er den "Concordia Onestep vorbereiten", dann der "Friederike Clav. Auszug für Februar" fertig sein. Aber der erste Blick täuscht auch hier. Immerhin entstanden zu dieser Zeit Friederike, Umarbeitungen von Frühling und Lustige Witwe. Denn Franz Lehár lebte, wie der Dichter von Bambi und mutmaßlicher Verfasser der Geheimen Memoiren der Therese Mutzenbacher, Felix Saiten, einmal schrieb: "ein emsiges, einfaches, mustergültiges Komponistendasein."4 Maria von Peteani, die es ja wissen mußte, versichert: "Gewiß, es hatte nichts Platz in diesem Leben als Arbeit und wieder Arbeit."5 Das widersprüchliche Bild vervollständigen Tagebucheintragungen wie "3. Januar: Krenek Vortrag, 4. Januar: Jonny (Opera)". Dieser Operettenkomponist ist keiner, wie er im Buche steht. Er trifft sich mit dem Dramatiker "Franz Molnár (4.0ktober, Berlin)" oder wird am 29. August von Puccinis 'bester Tosca', der Primadonna der Wiener Staatsoper "Jeritza [...] angerufen". Doch weit mehr als das Jahr 1928, da Lehárs Schaffen im Zenit steht, verrät der Weidegang des Meisters, seine Jugend, als er noch kein Meister war, vom Leben des Operettenkomponisten.

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ziL n. Maria von Peteani, S. 13 Ebd.

Instrumentalzögling Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus, und so nimmt es nicht weiter Wunder, bereits den heranwachsenden Prager Konservatorianer Franz L. bei Antonin Dvorak heimlich Komposition studieren zu sehen. Heimlich, da es dem Violinstudenten nicht gestattet war, außerhalb der Hochschule zu komponieren. Der Siebzehnjährige folgt dennoch seinem dunklen Drang und bittet eines Tages Dvorak um Beurteilung seiner Hervorbringungen (meist fur Violine): Dvorák, der "Wilde', wie man ihn nannte, vertiefte sich. 'Hm... nicht übel, gar nicht übel'. Besonders die 'Sonate à l'antique' zeigte eigenwillige Bewegtheit. Mit einer abschließenden Gebärde warf er das Opus auf den Tisch, schaute seinen Besucher an und sagte: "Weißt was, Bub? - werde Komponist!' - Komponist! Oh, welch herrliches Wort, Posaunenklang längst gehegter Wünsche!6

Als er diese seinem skeptischen Vater eröffnet, fuhrt ihn der zur nächst höheren Instanz, Johannes Brahms. Der Meister selbst berichtet zurückblickend: Auch ihm habe ich meine Sonate [à l'antique] vorgespielt. Brahms äußerte sich sehr wohlwollend über mich und gab mir eine Empfehlungskarte an Professor Mandyczewski; von der ich keinen Gebrauch machen konnte, denn ich mußte wieder nach Prag zurück. Die Empfehlung hatte folgenden Wortlaut 'Herrn M. P. Lehár empfehle angelegentlich und bitte wegen seines Sohnes freundliche Rücksprache zu nehmen die Beilagen sprechen und empfehlen weiter'.

Das spricht in der Tat weiter. Doch zuvor mag ein Blick zurück den biographischen Hintergrund dieses hoffnungsvollen Jünglings erhellen.

Wunderkind Sein, wie gesagt, skeptischer Vater, Franz Lehár sen., Militärkapellmeister und Komponist des historischen Oliosi-Sturmmarsches der k. u. k. Armee, war aus Mähren gebürtig. Seine Mutter deutschstämmige Ungarin. So erklärt es sich, daß der reife Operettenkomponist, wie Karl Kraus überliefert, von sich behaupten konnte, "slawischen Ursprungs [...] [zu sein und zugleich] das

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Ebd., S. 25 Franz Lehár, Vom Schreibtisch und aus dem Atelier. Bis zur 'Lustigen Witwe', in: Velhagen & Klasing's Monatshefte, Bielefeld/Leipzig 1912, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár. Eine Biographie in Zitaten, Berlin 1984, S. 25

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Feuer der ungarischen Rasse, der [...] [er] gleichfalls angehöre,"8 zu besitzen. Dieser spezifisch Österreich-ungarische Kosmopolitismus sollte denn auch sein künftiges Schaffen prägen. Tatsächlich sprach er bis zum Alter von zwölf Jahren, als er am Prager Konservatorium zu studieren begann, kein Wort deutsch, ausschließlich ungarisch. Bis dahin zeigt der junge "Lanzi', wie er sich damals nannte, beachtliche Ansätze zum Wunderkind, obwohl man "von einem Wunderkind [...] in der Familie nur dann gesprochen [hätte], wenn [...] [er] nicht Musiker geworden wäre."9 Durch solch familiäre Umstände war dem aufstrebenden Talent entsprechende Pflege vergönnt und so findet man bereits den Vierjährigen am Klavier. Ein Gedicht, das seiner Mutter besonders gefiel, inspiriert ihn zu mehr: Es begann mit den Worten: 'Ich fiihl's, daß ich tief innen kranke, und Trauer zieht in mein Gemüt...' [...]. Was ich mir hierbei als sechsjähriges Kind gedacht habe, weiß ich heute nicht mehr [...]. Ich fand zu den Worten eine Melodie, die in G-Dur [sie!] begann, um nach drei Takten ganz sinngemäß in Moll überzuleiten. Das war meine erste Komposi tion! [...] Bald darauf, es war zu Weihnachten schenkte mir mein Vater drei Klavierauszüge: Lohengrin, Faust, Carmen.10

Schon beim Sechsjährigen also läßt sich der Hang zu romantischer Schwermut beobachten und jene reizvolle dur/moll-Mischung, die ihn dereinst so berühmt machen sollte. Doch was geschah mit dem Zwölfjährigen, der im Fach Violine am Böhmischen Landeskonservatorium angenommen wurde?

Militärkapellmeister Er hungerte. Und absolvierte nach sechs Jahren beim Abschlußkonzert der 'Instrumentalzöglinge' mit Max Bruchs d-moll Violinkonzert Danach arbeitete er sich an den 'Vereinigten Stadttheatern Barmen-Elberfeld' durch die damalige Opernliteratur und vom Primgeiger zum Konzertmeister hoch. Dann führte ihn das Schicksal mit 20 Jahren als jüngsten k. u. k. Militärkapellmeister nach Losoncz (Galitzien), vier Jahre später nach Pola zum einzigen Marine· und mit 115 Mann größten Militärorchester der Monarchie. Es war ein veritables Sinfonieorchester, das der junge Komponist hier vorfand - und es nährte seinen hochstrebenden Ehrgeiz. Waren schon in Losoncz 8

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Franz Lehár, zit. n. Karl Kraus, Mähä, in: Karl Kraus, Die Fackel, Bd. 6., XIII. Jahr, (Wien) April 1912, Nr. 345/6, S. 47 Franz Lehár, Franz Lehár erzählt, in: Das Deutsche Podium, Berlin 26. April 1940, zit. n. Otto Schneidereit, S. 16 Ebd. S. 17

"sechsundzwanzig Tonstücke aller Art: Lieder, Violinkonzerte [...] und Märsche"11 entstanden, hier fand Lehár im früh verstorbenen Korvettenkapitän Falzari endlich einen gleichgesinnten Libretüsten. "Dieser Falzari, gebürtiger Venezianer [...], war ein poetischer Mann. Weite Seereisen hatten seine Phantasie beflügelt."12 Er lieferte die Gedichte zu den Karst-Liedern, von denen später sein Bruder Anton behaupten wird, sie könnten "ruhig neben den Mörikeliedern Hugo Wolfs bestehen"13 - und natürlich das Buch zur Oper KukuSka. Die Möglichkeiten seines großen Orchesters versetzten Lehár in die außergewöhnliche Lage, die Instrumentation seines Opernersdings original in die Praxis umzusetzen - ein Verfahren, das auch der reife Komponist beibehalten sollte. "Wenn andere am Klavier komponieren, komponiert Lehár am Orchester."14 Auf diese KukuSka konzentrierte des k. u. k. Marinekapellmeisters Streben sich völlig. Als sie für das Leipziger Stadttheater zur Uraufführung angenommen wurde, verabschiedete er sich genialisch von Pola, der Marine und seinem bisherigen Dasein mit den prophetischen Worten (an die Eltern): Ich tauge nicht zum Militärkapellmeister, ich habe zuviel Ehrgefühl dazu! [...] Wollt Ihr es Eurem Kinde nicht verzeihen, wenn es seine Knechtschaft endlich einmal abschüttelt! Ich fühle mich seit der Stunde, wo ich diesen Entschluß ausführte, wie neugeboren! Es kommt schon die Zeit, wo Ihr mich verstehen werdet!15

Militärkapellmeister Franz Lehár sen. fällt aus allen Wolken, hatte er doch, wie Frau von Peteani versichert, seinem Sohn folgende Lehre mit auf den Lebensweg gegeben: "Schau, Franz, ein ordentliches Einkommen braucht der Mensch, keine Schlösser im Mond."16 Man schreibt das Jahr 1896. Franz zählt sechsundzwanzig Lenze.

Opernkomponist Es ist kein schlechter Anfang. Das Stadttheater Leipzig, eine der größeren deutschen Opembühnen, ermöglicht dem "blutjungen', unbekannten Kompo11 12 13 14

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Maria von Peteani, S. 33 Ebd., S. 39 Anton von Lehár, S. 109 Franz Lehár, Musik mein Leben, in: Neues Wiener Tagblatt, Wien 23.9.1944, zit. n. Otto Schneidereit, S. 38 Ernst Decsey, Franz Lehár. Mit 15 Text- und 18 Tafelbildern, 12 Notenbeispielen und einer Partiturbeilage, Berlin/München 1930, S. 29 Maria von Peteani, S. 25

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nisten am 27. November 1896 die Uraufführung seines aufwendigen Erstlings. Welchem Großen widerfuhr solches? Und das Werk selbst? Die Oper in weiser Voraussicht bereits "Lyrisches Drama' genannt - erzählt von einem russischen Soldaten, Alexis mit Namen, der aus Liebe zum Wolgafischermädchen Anuska seine Pflicht im Wachtdienst versäumt und deshalb nach Sibirien verbannt wird. Man fühlt an einen ähnlichen Fall im Oeuvre des Meisters sich erinnert. Beim Schlußbild in schneebedeckter Taiga dagegen, wo der inzwischen geflohene Soldat und die inzwischen nach Sibirien herübergereiste Wolgafischerin im Tod sich vereinen, mag "einer unermeßlichen Ebene an der fernsten Grenze von New Orleans"17 gedacht werden, in der Puccinis Manon Lescaut "sola, perduta, abbandonata...in landa desolata"18 seit 1893 den Tod findet. Gleichviel, dies Sujet entsprach auch drei Jahre später noch einer Oper, zumal Lehár im russischen Milieu reichlich Gelegenheit zu Folklore fand; schon damals eine Stärke, die auch dem sonst sehr kritischen Herrn Pfau von der 'Leipziger Zeitung' auffällt: Sobald der Komponist auf national-russisches Gebiet überschwenkt - bei dieser Gelegenheit wohl auch Orginalthemen benutzend [...], bekommt sein künstlerisches Schaffen einen gewissen frischen Zug; stellenweise hat er es auch verstanden, wirklich 19 Stimmung zu machen, z.B. in den Chören der Verbannten im zweiten Akt.

Daß mit seinem Erstling der spätere Operettenkomponist den Operngeschmack der Zeit traf, belegt geradezu überschwenglich die 'Dresdner Zeitung': Die mit ungewöhnlicher Spannung erwartete Erstaufführung des Werks endete mit vier- oder fünfmaligem Hervorrufe des von Triest gekommenen Componisten. Das gefüllte Haus war mehr und mehr von dem starken eigenartigen Talent des Künstlers überzeugt worden und dieser kann mithin auf einen bedeutenden Erfolg befriedigt hinweisen. [...] Das Schlußbild, die sibirische Eiswüste, von Kautsky wunderbar schön gemalt, und ein ganz erstaunlich gut gemachter täuschender glitzernder (durch elektrisches Licht!) Schneefall, waren für das Auge des Publikums Überraschungen. Lehárs Musik könnte an Adel und Empfindung Tristan und Isolde und alles Größeste illustrieren und würde ein eminentes Talent beweisen. Entzückend ist das Vorspiel des dritten Actes, entzückend das melancholische Frühlings-Vogelgezwitscher in jenen erschütternd einsamen Landwüsten, wo der Kuckuck, die Lerche und das Blatt der weißen Birke das Einzige sind, was den kurzen Frühling manifestiert. Voll Reiz die kleinen

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Giacomo Puccini, Manon Lescaut. Dramma lirico in quattro atti di M. Praga, D. Oliva, G. Ricordi e L. Illica. Ridazione per canto e pianoforte di Carlo Carignani. Nuova edizione a cara di Mario Parenti, Milano 1984, S. 274 Ebd. ,S.288f. F. R. Pfau, Neues Theater, in: Leipziger Zeitung, Leipzig 28.11.1896, zit. n. Otto Schneidereit, S. 45

humoristischen Liedansätze des armen Verbannten. Lehár ist kein Compilator, sondern besitzt Schaffensgenie, denkt und fühlt heißblütig musikalisch. Wie sehr das Werk fesselt, mag der fremde Leser daraus entnehmen, daß man die Oper am liebsten gleich noch einmal hören möchte, und bei dem hinreißend nervösen Liebesduo in der sibirischen Wüste vergessen, daß die Leute alle weit über ihren Stand gelehrt und nicht ukrainisch, sondern meist westliche geistreiche Musik singen.20 Zwischen elektrischem Licht und Tristan

und Isolde

also wird des Seehund-

zwanzigjährigen westliche, geistreiche Musik angesiedelt, wie dies 3 0 Jahre später ähnlich der Fall sein wird (Paganini). den Fernen

Klang

In einer Epoche, die im

Tiefland

vernimmt, darf 'alles Größeste' nicht fehlen. Von weniger

'Adel und Empfindung' ist für besagten kritischen Herrn Pfau (Leipziger Zeitung') hingegen die Faktur des Werkes, er nennt sie schlicht: Mascagnitis; [...] man wird erdrückt von jenen unmotivierten vulkanischen Wutausbrüchen des Orchesters, durch die sich die modernen Veristen feiner empfindenden musikalischen Gemütern so unbeliebt gemacht haben. Dazu jenes hohle, hochtrabende Pathos, auf der anderen Seite die Melodienduselei mit den aufgelösten Dreiklängen in der Begleitung, überhaupt fast durchgehend homophones Element und nur einige schüchterne Versuche zu einer wohltuenden Polyphonie, außerdem die Singstimme immer lustig mit den Orchesterinstrumenten unisono geführt [...]. Jedenfalls ist das Buch besser als die Musik.21 Eine Meinung, der übrigens auch Gustav Mahler war. ("Wenn die Musik so gut ist, wie das B u c h [...], so wird er die Oper aufführen.") 2 2 Daß dieser Rundumschlag gegen den Verismus den jungen Komponisten nicht treffen konnte, rückt in den "Leipziger Neuesten Nachrichten' der Musikgelehrte Prof. Bernhard Vogel eindruckvoll ins rechte und gerechte Licht: Auf den theatralischen-operistischen Effekt versteht sich Lehár bei diesem Erstling schon besser als mancher, der auf eine längere Praxis zurückzublicken vermag; das zeigt der wirksame Zuschnitt vieler Szenen. Ein nicht geringer Vorzug ist in der Eindringlichkeit seiner Stimmungsmalerei zu finden; man wird durch sie mitten hineinversetzt in die jeweilige Situation und gleichsam zum Zeugen aller aufregenden Vorgänge. Das Lokalkolorit ist von überraschender Treffsicherheit, die Orchesterbehandlung bisweilen zwar überladen, meist aber üppig farbenprangend im Sinne der modernsten Technik [...]. Am kräftigsten schlug der letzte Akt ein, der Komponist wurde fünfmal hervorgejubelt. Ohne Zweifel ein ansehnlicher Erfolg. 23

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ο. Α., in: Dresdner Zeitung. Nr. 278, zit. n. Maria von Peteani, S. 43f. F. R. Pfau, a. a. O, zit. n. Otto Schneidereit, S. 44 Ludwig Karpath, Wie Franz Lehár wurde. Aus meinen Erinnerungen, in: Neues Wiener Journal, Nr. 10631, (Wien) 24. Juni 1923, S. 10 Prof. Bernhard Vogel, KukuSka, in: Leipziger Neueste Nachrichten, Leipzig, 28. 11. 1896, zit n. Otto Schneidereit, S. 43f. 13

Dies Vermögen für die musikalischen Erfordernisse einer Situation wird auch sein späteres Schaffen begleiten, wie das Entrée der Lustigen Witwe, die Trèfle incamat'-Szene des Graf von Luxemburg oder das erste Finale der Giuditta belegen - Stimmungsmalerei! Auch 1940 braucht sich der mittlerweile Hochberühmte "der Partitur nicht zu schämen."24 Dennoch folgte der so hart errungenen künsterlischen Autonomie nicht die erhoffte wirtschaftliche und so besann sich der junge Tonsetzer der Lehre seines Vaters, ohne jedoch seine KukuSka zu vergessen, an der weiterhin seine künstlerischen Hoffnungen hingen.

Belagerung der Oper 1899 erlebt dann das 'Königliche Opernhaus Budapest' glänzende Aufführungen von KukuSka in der ungarischen Fassung von Sandor, zu denen dem Komponisten gar der Kaiser selbst Glück wünschen wollte, was dann unterblieb, da der mittlerweile wieder k. u. k. Militärkapellmeister zur Parade nicht erschien. Er hatte die Premiere seiner Oper etwas zu ausgiebig gefeiert. So überliefert von ihm selbst.25 Nichtsdestoweniger wird er noch im selben Jahr nach Wien versetzt, in sein geliebtes Wien: "und hier entschied sich mein Schicksal"26. Nun gilt all sein Künstlerwollen der Eroberung der letzten Bastion im Kampf um künstlerische Anerkennung, der k.u.k. Hofoper. Hier hat es der junge Komponist mit keinem geringeren zu tun, als mit Direktor Gustav Mahler - 'Eurer Hochwohlgeboren', wie er ihn ehrfürchtig tituliert. Nun hatte es mit diesem Direktor seine eigene Bewandtnis. Man erzählte sich die wildesten Geschichten über ihn: Er stand in Kampfstellung gegen seine zahlreichen Widersacher, galt als exaltiert, als Fanatiker. Erst kürzlich war eine Militärkapelle an der Oper vorübermarschiert und hatte dabei einen flotten Marsch mit Motiven aus den Nibelungen gespielt. Es wurde behauptet, Mahler hätte über diese Blasphemie an Wagner einen Wutanfall bekommen und geschworen, niemals einem Militärkapellmeister Zutritt zur Oper zu gewähren.27

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Franz Lehár, Franz Lehár erzählt, a. a. O., zit. n. ebd. S. 41 A. D . G . , Wiener Portraits. Franz Lehár, in: Neues Wiener Journal, Wien 26.4.1903, zit. n„ ebd., S. 48 Franz Lehár, Bekenntnis, Zürich 1947, S. 2 Franz Lehár, Mein interessantestes Reiseabenteuer, Manuskript aus dem Jahre 1930, zit. n. Otto Schneidereit, S. 52

Wieder einmal stößt dem Komponisten sein Broterwerb bitter auf. Wie nur konnte er "diesen genialen Vollblutmusiker"28 überzeugen? Partitur und Textbuch lagen ihm bereits vor, aber die erwartete Reaktion blieb aus. Telegramme aus Budapest und dergleichen führten zu nichts. Lehár schickt den mit Mahler befreundeten Journalisten Ludwig Karpath ins Rennen. Der kennt Lehár von Budapest her und schildert seine Bemühungen 1923 dem 'Neuen Wiener Journal' unter dem Titel: "Wie Franz Lehár wurde. Aus meinen Erinnerungen', wie folgt: Eines Abends [,ira Cafe Imperial, fragte Mahler] mich, ob ich einen Herrn Franz Lehár kenne. Als ich die Frage bejahte, erzählte er mir, daß dieser Herr Lehár, von dem er noch nie etwas gehört habe, die Oj|>er Kukuska bei ihm eingereicht hat und daß er das Textbuch auch schon gelesen habe. -

mit dem bekannten, traurigen Resultat. "Der vom Libretto sehr begeisterte Hofopemdirektor war enttäuscht, als er die Musik Lehárs kennenlernte, die ihm noch als eine Anfängerarbeit schien."30 Wenn man Herrn Karpath Glauben schenkt, war Franz Lehár [...] ein geknickter Mann. Noch war sein Ehrgeiz zu groß, als daß er daran gedacht hätte, in der Operette sein Heil zu suchen [...]. Er war trotz aller Volkstümlichkeit [als Wiener Militärkapellmeister] unbefriedigt und sehnte sich in eine künstlerische Atmosphäre.31

Jahre später, als Lehár trotz aller Sehnsüchte Operettenkomponist geworden war, besinnt sich der 'exaltierte' Mahler nach dem Zeugnis Julius Sterns denn doch und soll seinem Ballettmeister Josef Haßreiter mitgeteilt haben: er wolle den Operettenkomponisten Franz Lehár einladen, für die Hofoper ein Ballett zu komponieren; die heutige Operette und der Tanz seien ja geradezu innig miteinander verwandt. Er glaube, Lehár werde auch in der Oper Zugkraft üben, namentlich, 32 wenn er feinere Musik und eigenartige Rhythmen biete.

Operettenintermezzo Diese prophetischen Worte sollten sich späterhin beeindruckend erfüllen. Doch bis dahin muß der Komponist sich anderweitig betätigen. Er läßt seine 28 29 30 31 32

Otto Schneidereit, S. 52 Ludwig Karpath, a. a. O., S. 9 Ebd., S. 10 Ebd. Julius Stern, in: Volkszeitung, Wien, 9. 3. 1924, zit. n. Otto Schneidereit, S. 53 15

Kukuska vom renommierten Max Kalbeck zu einer Tatjana machen, die im Februar 1905 in Brünn zur Aufführung kommt, und ein Jahr später im Kaiser-Jubiläum-Theater zu Wien - heute Volksoper, damals 'Salon der Zurückgewiesenen' - mit der Lustigen Witwe eines aufstrebenden Operettenkomponisten konkurriert. Lehár aber gibt nicht auf. Ohne aufzuhören, 'sich in eine künstlerische Atmosphäre' zu sehnen, wendet er seine Gabe einem Genre zu, mit dem er bisher noch nicht in Berührung gekommen war, und das seit dieser Berührung mit ihm sich fortwährend veredeln sollte. Für die Spielzeit 1902/3 wird er als Kapellmeister ans 'Theater an der Wien' engagiert. Dieses Theater spielt unter der neuen Direktion Wilhelm Karczags ausschließlich Operetten. In dem ehrwürdigen Haus wurden Fidelio und Fledermaus aus der Taufe gehoben und hier sieht der Komponist nach eigenem Zeugnis erstmals in seinem Leben eine Operette. Sie heißt Wiener Frauen und ist von Lehár. Das Jahr 1902 beschert demselben drei große Erfolge: den Gold und Silber-Walzer, die Wiener Frauen mit dem Nechledil-Marsch und den Rastelbinder. Der Schöpfer von Kukuska kündigt bald auch als Kapellmeister, endlich getreu dem Grundsatz des inzwischen verstorbenen Vaters, und lebt fortan als in jeder Hinsicht autonomer Künstler. Keineswegs jedoch beruhigt sich damit die bewegte Vita "des Mannes, der ausging Symphonien zu suchen und den Nechledil-Marsch fand."33

Eroberung der Oper 30 Jahre später sitzt dieser Mann, nunmehr ein Meister besonderer Art, über einer geheimnisvollen Partitur am Schreibtisch des Schickaneder-Schlößls, das bald ein Lehär-Schlößl werden sollte. Ein guter Stern schwebt über dem alten Gemäuer, das einst den Dichter der Zauberflöte beherbergte und über dessen Schwelle heute einem anderem zu Ehren die Inschrift prangt: "Wer kann der Töne Allgewalt ermessen,/ Die Lust verklärt und Leiden macht ver„34

gessen. Der es konnte, arbeitet an der Einlösung jener von Julius Stern überlieferten Mahler-Worte, "Lehár werde auch in der Oper Zugkraft üben."35 Worum er für seinen Erstling zäh und vergebens rang, das wird seinem letzten Werk 33

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Karl Kraus, Ritter Sonett und Ritter Tonreich, in: Ders., Die Fackel, Bd. 6, XIII. Jahr, (Wien) 29. Februar 1912, Nr. 343, S. 7 Tafel am Lehär-Schickaneder-Schlößl in Nußdorf/Wien Julius Stern, a. a. O., zit. n. Otto Schneidereit, S. 53

zuteil - die Opernweihe Wiens.36 Aus der 'Hofoper' war die 'Staatsoper' geworden, aus Gustav Mahler Clemens Krauss, und aus dem jugendlichen Stürmer und Dränger ein Weltbekannter. Der Operettenkomponist, der keiner war, wie er im Buche steht, hatte in der Zwischenzeit keineswegs die ernste Musik vernachlässigt. Besonders während des ersten Weltkriegs trug ihm sein schwermütiges Naturell mit dem Liederzyklus Aus Eiserner Zeit. Seiner Majestät dem Deutschen Kaiser Wilhelm II. gewidmet, mit den symphonischen Dichtungen für großes Orchester, Klavier und Gesang, Fieber und II Guado, reichen musikalischen Ertrag ein. Der Bogen aber schließt sich mit der 'Musikalischen Komödie' Giuditta, denn so heißt dies letzte Werk. Hatte nicht unlängst der kompetente Rudolph Lothar im *Neuen Wiener Journal' geäußert, "Lehár wäre der Mann, eine ideale Opera buffa zu schreiben [...]. Hoffentlich erfüllt Lehár diese Verpflichtung bald."37 Lehár erfüllt. Schon lange ward der Ruf nach einer komischen Oper des Meisters laut, lange schon fühlte auch der Meister diese 'Verpflichtung'. Im Herbst 1931 konkretisiert sich die Suche nach einem Libretto auf Betreiben jener Maria Jeritza, die ihn am 29. August 1928 wegen Zarewitsch anrief und deren Photographie auf Puccinis Flügel stand. Die Angelegenheit war für das 'Große Schauspielhaus Berlin', für die Regie war Max Reinhardt vorgesehen. Nachdem die Frage des Librettos vom Komponisten, der zu einer Carmen ähnlichen Frauenfigur tendiert, entschieden war, spricht Richard Tauber, vorgesehener Partner Maria Jeritzas, auf der Traunbrücke vor Lehárs Villa in Bad Ischl dem Komponisten aus tiefster Seele. Maria von Peteani berichtet: '"Kinder, wißt ihr, wo ich diesen Octavio singen möchte ?', rief er. 'In der Wiener Staatsoper'!"38 - Dem Wunsch wurde Erfüllung. Kaum zwei Jahre später zieht Giuditta in die von 7mtaw-Klängen geweihte Stätte ein. Wien wußte, was es seinem Lehár schuldig war.39 Und da dies auch der Operndi36

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"Bisher ist keinem lebenden Operettenkomponisten diese Ehre erwiesen worden," wie Lehár nicht ganz richtig bemerkt (Strauß mit 'Ritter Pazman1). - Franz Lehár, in: Wiener Zeitung. Wochenausgabe, Wien 13. Juni 1933, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 53 Rudolph Lothar, Lehár-Premiere in Berlin. Großer Erfolg seiner Oper 'Schön ist die Welt', in: Neues Wiener Journal, Wien, 7. 12. 1930, zit. n. Otto Schneidereit, S. 252 Maria von Peteani, S. 192 Dazu der sonst wohlgesonnene Emst Decsey im 'Neuen Wiener Tagblatt' vom 27. Januar 1936: "Ernst Kreneks 'Karl V.' wurde abgesetzt, trotzdem er bestellt war [...] und Lehárs 'Giuditta' startete zur gleichen Zeit. Dieses Weibchen [...] war stärker: in ihrem Reich, in ihrem, geht die Sonne nicht unter [...]. p i e Kasse der Staatsoper hatte] am Premierabend 44.000 Schilling, die höchste aller Operneinahmen, verbucht und verdankt dies Lehárs 'Giuditta1. Was nicht Mozart und Weber, Wagner, Verdi, Puccini vermochten, vermochte das neue Genre: die vulgarisierte Oper."(Ernst Decsey,

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rektion bekannt war, dürfte sich der Hergang weniger anekdotisch zugetragen haben. Die Premiere findet am 20. Januar 1934 ohne Maria Jeritza und Max Reinhardt, aber mit Richard Tauber in der Staatsoper statt. Sie 'fallt glänzend aus', wie der Meister zu sagen pflegt und wird von 120 Rundfunkstationen in alle Welt übertragen40. Er selbst jedoch "trägt die unerhoffie Staatsoperngnade in aller Demut eines ebenso weltfremden wie entgegenkommend selbstbewußten Künstlers"41, worauf er mit Blumen und Lorbeerkränzen überschüttet wird. Die Staatsoper spielt das Werk noch zweiundvierzig Mal. Neun Jahre später kehrt der Komponist noch einmal zur Opernbühne zurück.42 Er arbeitet seine schon zur Oper tendierende 'romantische Operette' von 1910, Zigeunerliebe, zur durchkomponierten Oper um: Garabonciás Diák heißt das Werk in ungarischer Sprache, herausgebracht am Königlichen Opernhaus Budapest. Doch dies ist in der Biographie des Operettenkomponisten nur ein Schnörkel. "Die nie erloschene Sehnsucht nach Kukuska-Tatjana, sie endet in Giuditta,1,43 weiß Frau von Peteani einmal mehr und resümiert in der ihr eigenen Direktheit: "Der Traum eines Lebens war in Erfüllung gegangen."44

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Der Esel Aristoteles, in: Neues Wiener Tagblatt, Wien, 27. Januar 1934, zit. n. Martin Lichtfiiss, S. 45) L. U., Die große Lehár-Sensation, in: Wiener Allgemeine Zeitung, Wien, 15.1.1934, zit. n. Otto Schneidereit, S. 271 Ebd. Bereits ein Jahr zuvor, 1933, arbeitete er Trasquita' zu einer 'opéra comique' für dieselbe im 'Salle Favart' (Paris) um. Maria von Peteani, S. 200 Ebd., S. 199

Π. Warenhaus Operette Lehárs Salonoperette

"Welch ein eigenwilliger Moderner!"1

Lehár, der mit seinem ersten und letzten Bühnenwerk die Grenzen der Gattung Operette überschreitet, vollendet andererseits deren Entwicklung in einem verbindlichen Modell. Dieses Modell, repräsentativ für die Operette des zwanzigsten Jahrhunderts, kommt mit der Lustigen Witwe auf und prägt die Werke aller Vertreter dieser Epoche2, die in Abgrenzung zur klassischen, 'goldenen' Ära, allgemein "das silberne Zeitalter der Wiener Operette"3 heißt. Wiener Operette aber ist ein Begriff, der sinnvoll nur war, die Produkte der Wiener Meister des 19. Jahrhunderts von denen Pariser und Londoner Provenienz zu unterscheiden - als Werke mit noch lokalem Charakter. Diesen Charakter haben die Wiener Erzeugnisse des zwanzigsten Jahrhunderts verloren. Sie verfolgen nach Ingrid Grünberg eine "Internationalisierungstendenz"4, die sowohl "am veränderten Sujet und an der Musikdramaturgie als auch an ihrer Rezeption"5 festzumachen wäre. Den Zeitgenossen erschien dieser neue Operettentypus analog zu damaligen literarischen Strömung als "modern"6. Er wäre als Tanz- oder Salonoperette zu charakterisieren. Seine

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Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, in: Ders., Die Fackel, Bd. S, X. Jahr, 19. Januar 1909, Nr. 275-71, S. 5 Neben Franz Lehár im wesentlichen Oscar Straus, Leo Fall und Emmerich Kálmán Hans Renner, Renners Führer durch Oper, Operette, Musical. Das Bahnenrepertoire der Gegenwart, München/Mainz 1979, S. 563 Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk. Die Entstehung eines spezifischen Typs massenwirksamer Unterhaltungsmusik, in: Argument Sonderband AS 24, Angewandte Musik - 20er Jahre. Exemplarische Versuche gesellschaftsbezogener musikalischer Arbeit für Theater, Film, Radio, Massenveranstaltung, Redaktion: Dietrich Stern, hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, Berlin 1977, S. 64 Ebd. Wie sehr, beschreibt Wilhelm Karezag, als Direktor des Theaters an der Wien entschiedener Förderer dieses Modells, im 'Neuen Wiener Journal' vom 12. April 1914: "Es ist ein musikalisches Werk mit lustigen und dramatischen Akzenten gemischt, ein neues Genre! Will man es oder will man es nicht? Das Publikum scheint es zu wollen, denn für diese Art musikalischer Werke ist eine neue Zeit angetreten und diese haben den Komponisten Künstlerehre und materielle Sorglosigkeit eingebracht, gar nicht

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Modernität depraviert bald zur Mode, sein erweitertes Modell zum Schema, das der Komponist von Kukuska und Giuditta 1905 mit der Lustigen Witwe vorgibt. Und genau zwanzig Jahre später mit Paganini durch ein neues ersetzt. Ist die Entwicklung Lehárs bis dahin im Großen die gesamter Operettenproduktion, wird sie seit Paganini zur singulären Erscheinung. Im folgenden wäre mit Lehárs Werken von der Lustigen Witwe bis Cloclo (1924) im weiteren, im engeren Sinn bis die Ideale Gattin (1913), der Typus der Salonbzw. Tanzoperette zu beschreiben und zwar dem Vorschlag Grünbergs entsprechend anhand: 1. der Musikdramaturgie, 2. der Rezeption, 3. des Sujets

1. "Musik sich den Reigen erzwingt." (LW 47) Zur Musikdramaturgie der Salonoperette

Auflösung und Zusammenhang Was die Salonoperette musikdramaturgisch kennzeichnet, ist der Antagonismus von Auflösung und Zusammenhang. In einem Maße, wie sie vorher nur die Revue kannte, verwendet die Salonoperette musikalische Einlagen, die sowohl stilistisch als auch dramaturgisch aus dem Rahmen des Gesamtzusammenhangs fallen. Wie bei der Revue bezweckt solche Auflösung Abwechslung. Die Möglichkeit zur Variation soll einem großen, "diffusen Publikum"7 gerecht werden. Dennoch bleibt der Zusammenhang einer Handlung gewahrt. Einerseits werden die Einlagen in die Handlung eingebunden, andererseits Eröffiiungs- und Finalszenen erweitert. Der musikalische Zusammenhang wird durch verschiedene Wiederholungstechniken hergestellt - zum einen durch Reminiszenzen, die in den meisten Fällen nichts als geschlossene Refrainwiederholungen sind, zum anderen durch leitmotivi-

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davon zu reden, daß hunderte von Theaterunternehmungen [...] zu Wohlstand gelangten." (Wilhelm Karezag, Operette und musikalische Komödie, in: Neues Wiener Journal, Nr. 7350, (Wien) 12. April 1914, S. 13) Ingrid Grünberg, a. a. O., S. 61

sehen Gebrauch von bisher verwendeten Themen und Motiven. Dieses Verfahren, bereits rudimentär angelegt in den klassischen Operetten, wird zum musikdramaturgischen Muster der Salonoperette. Es hat seinen Grund in der von der traditionellen Oper übernommenen Nummemdramaturgie und dem Widerspruch, in dem solche Nummemdramaturgie zur zeitgenössischen durchkomponierten Oper steht. Die Salonoperette nimmt dazwischen ihren Platz ein. Die Mitte ist ihr ästhetischer Ort, an dem sie zu Beginn der Moderne die zentrifugalen Kräfte leichter und ernster Musik, von Oper und Massenkultur zusammenzuhalten versteht

Konstellationen I Um gegen die zunehmende Auflösung des Zusammenhangs durch die Einzelnummern jene Mitte zu halten, schematisiert die Tanzoperette ihre Dramaturgie. Die lose Nummemdramaturgie wird, da sie formal und stilistisch aufgrund kompositorischer Entwicklung auseinanderfallen muß, zum Schema fixiert. Dafür steht bezeichnend die Besetzung mit erstem und zweitem Paar, die schon in der klassischen Operette angedeutet ist, dort aber weder festgelegt noch vorgeschrieben war. In der Salonoperette aber stehen die Konstellationen von vornherein fest. Es steht fest, wer das erste Paar bildet, wer das zweite, daß beide am Ende sich finden, und wer eventuell der geprellte Fünfte ist. Ein Partnertausch ist undenkbar. Wenn er wie in Zigeunerliebe doch vorkommt, wird er zuletzt revidiert. Diese Handlungsprämisse bietet wenig Stoff für Konflikte. Daher muß der Konflikt in die Figuren selbst verlegt werden. Aus den eindeutigen Figuren der klassischen Operette werden vieldeutige, aus dem Handlungskonflikt ein innerer, der psychologisch motiviert wird. So verbieten in der Lustigen Witwe Stolz und Erinnerung an ihre gemeinsame Jugendliebe Danilo, die reichgewordene Hanna zu heiraten, um nicht durch den Verdacht, Mitgiftjäger zu sein, diese Werte zu verraten. Erst nach der Vorgabe Hannas, ihre Millionen verloren zu haben, kann ihr Danilo seine Liebe gestehen. Das klärende Wort im letzten Akt beseitigt die meisten Konflikte der Salonoperette. In der Lustigen Witwe fand sie "das gesuchte Rezept. Es hieß: Einführung eines ernsten, gefühlvollen Konflikts, ohne daß der Witz dabei zu Schaden kam."8 Trägt das erste Paar diesen Konflikt aus, hat das zweite für den Witz zu sorgen. Dramaturgisch hat es kaum mehr 8

Felix Günther, Operetlendämmerung, in: Die Schaubühne - Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1905-1918, Königstein/Ts. 1980-9. Jhg., 4. September 1913, S. 839.

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Funktion. Musikalisch wird es Träger der Einlage. Um die Handlung fortzubewegen, werden so neben den zwei Paaren ein bis zwei Antagonisten benötigt, entweder eine Bassbuffo- oder Sprechrolle. Da die Musiknummern meist den zwei Paaren und dem Chor vorbehalten sind, wird die Handlung immer mehr in den Dialog verlegt. Während in der klassischen Operette die handlungsgebundenen Nummern den Dialog dominieren, ist die Gewichtung in der Tanzoperette umgekehrt. Nur die ersten zwei Finali stellen ausgesprochene Handlungsszenen mit Musik dar.

Aufteilung der Musiknummern I Der schematischen Besetzung entspricht die Aufteilung der Musiknummern. Der erste Akt, der das Kennenlernen des ersten Paares zu leisten hat - das zweite Paar kennt in der Regel sich von Anfang an - hat mit einer milieuschildernden Chorszene zu beginnen. Weiter enthält er die Entrées der Protagonisten und ein erstes Duett des zweiten, sogenannten Buffopaars. Das erste Finale bringt dann das erste Duett und die Annäherung des Liebespaares. Bereits hier werden die ersten Reminiszenzen vorheriger Nummern verwendet. Auch der zweite Akt beginnt mit einer auf das nun veränderte Milieu bezogenen Szene. Jeweils ein Solo der Protagonisten, ihr zweites Duett schließen sich an. Entweder enthält der zweite Akt eine Handlungsszene des ersten Paares mit Vertretern des Chores oder eine Ensembleszene, auf jeden Fall aber das zweite Buffoduett. Auch für diese Szenen können Reminiszenzen benutzt werden. Das zweite Finale arbeitet überwiegend mit vorhandenem Material, sei es als Reminiszenz, sei es leitmotivisch. Im zweiten Finale wird stets der Konflikt des ersten Paares, der seine Verbindung verhindert, ausgetragen. Das aus diesem Grund 'tragische' zweite Finale stellt in der Operettenhandlung ein retardierendes Moment mit umgekehrten Vorzeichen dar.9 Es verzögert das von vorneherein angelegte 'Happy-End ', das im dritten Akt in Form eines Reminiszenzen-Duetts des Hauptpaares abgeschlossen wird, ehe im Finaletto III alle Figuren mit dem Chor sich vereinigen zur erneuten Reminiszenz, meist eines BufForefrains. Der dritte Akt beginnt in der 9

Trotz des opernhaften Aufwands trägt es für Adorno bereits das Stigma der Massenkultur: "Wie jede rechtschaffene ungarisch-wienerische Operette im zweiten Akt ihr tragisches Finale haben mußte, das dem dritten nichts übrigließ als die Berichtigung der Mißverständnisse, so weist die Kulturindustrie der Tragik ihre feste Stelle in der Routine zu." (Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 179)

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Regel mit einer Zwischenaktmusik. Darauf folgt entweder eine Chor- bzw. Ballettszene mit Einlagecharakter, ein Couplet oder der Auftritt des sogenannten '3. Akt-Komikers'. Das zweite Paar erhält ein weiteres Duett, oft auch nur die Reminiszenz eines alten. Die dreiaktige Form, von der klassischen Wiener Operette übernommen, erfährt eine verbindliche Gewichtung. Die mangelnde musikalische Bedeutung des dritten Aktes mit ein bis zwei neuen Nummern entspricht seiner dramaturgischen Funktion: der routinierten Lösung des im zweiten Finale aufgebrochenen Konflikts, die überdies immer im Dialogteil stattfindet

Besetzung - Charakter der Musiknummern Diese kurze Skizze der Nummemdramaturgie muß ebenso schematisch bleiben wie ihr Gegenstand. Am Beispiel des Graf von Luxemburg wäre sie näher auszuführen. Bemerkenswert ist, daß die Besetzung in der Regel sich auf zwei Stimmlagen und vier Fächer des reichen Rollenangebots der Oper beschränkt: lyrischer Tenor und Sopran für das erste Paar, Soubrette und Spieltenor für das zweite. Die Ausnahme stellt, zumindest im Werk Lehárs, ein Bassbuffo und ein Spielalt, wie im Fall des Graf von Luxemburg, dar. Einlagecharakter, im Sinn aus dem Handlungszusammenhang isolierter Nummern, haben erstens die Duette des zweiten Paares. Sie müssen als Schlager isolierbar und vor allem Tanzstücke sein. Gemäß erwähnter Symmetrie liegen auch den Duetten des ersten Paares im ersten Finale und im zweiten Akt Tanzformen, bei Lehár meist der Valse moderato, zugrunde, die häufig jedoch als aus der Handlung sich entwickelnde Tanzszenen angelegt sind. Zweitens stellen sowohl die Ensembleszenen des zweiten und die Chorbzw. Ballettszenen des dritten Aktes in der Regel Einlagen dar. Schwieriger gestaltet sich die Einordnung der Entrées. Einerseits die Handlung unterbrechend, zeichnen sie andererseits oft ein für die Handlung unerläßliches Charakterbild der Figur, wie etwa das Maxim-Lied in der Lustigen Witwe oder Angèles Entrée im Graf von Luxemburg. Zudem stiften sie als Reminiszenz dramaturgischen Zusammenhang. Obwohl in den Soli der Protagonisten im zweiten Akt die Handlung still steht, wird doch in ihnen ihr innerer Konflikt reflektiert. Das kann ebensogut der Gegenstand ihrer Tanzduette sein, wie einer durch die Intrige bestimmten Situation. Das ist in den Handlungsszenen, sofern vorhanden, gegeben. Beide Fälle werden in den ersten beiden Finali behandelt. Während aber das erste Finale von der Intrige beherrscht

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wird, kollidiert im zweiten Finale der innere Konflikt der Protagonisten mit der Intrige, deren Opfer und Täter sie sind. Das zweite Paar und die übrigen Figuren stehen in ihm nur in deren Dienst

Entrée In der Blütezeit der klassischen Wiener Operette lag ihre Dramaturgie in der "Mitte zwischen schlichtem Possentheater und subtilem Musikdrama."10 Das Alt-Wiener Volkstheater verschwindet zu dem Zeitpunkt, als die Operette in Wien aufkommt. Seine Stücke waren als 'Possen mit Gesang' bereits Vorläufer der Operetten. Ihre Gesangseinlagen traten aus dem Handlungszusammenhang und waren direkt an das Publikum gerichtet. Diese enge Verknüpfung von Bühne und Publikum übernimmt die Operette in Form des Entrées. Bereits bei Raimund und Nestroy haben die Protagonisten ein Auftrittslied, in dem sie sich vorstellen, und so dem Publikum eine aufwendige Exposition ersparen. Meist ist die Bühne dazu eigens, mittels unmotivierter Unterbrechung der Handlung leer gemacht, der Held tanzt oder springt herein, eilt an die Rampe und gibt seine mimische Visitenkarte ab.11

Diese Glosse trifft auf die klassische Wiener Operette generell, vor allem auf das von der Posse übernommene "Ich bin ..."-Lied zu. Dessen Prototyp stellt das Entrée der Briefchristel aus Zellers Vogelhändler dar: Ich bin die Christel von der Post, Klein das Salär und schmal die Kost. ...etc.

Diese Unmittelbarkeit zwischen Bühne und Publikum stammt vom Volkstheater, mit dem die Salonoperette dann nichts mehr zu tun hat. Schon die Entrées bei Johann Strauß, trotz der Possenfigur des Zsupan etwa dessen Entrée im Zigeunerbaron, sind weniger direkt. Bei Lehár werden sie zum Ausdruck individueller Haltung, die zwar die Handlung unterbrechen, aber 10

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Dieter Zimmerschied, Operette. Phänomen und Entwicklung, in: Materialien zur Didaktik und Methodik des Musikunterrichts, Bd. IS, Wiesbaden 1988, S. 25 W. Kellerbauer, Die Operette als Kunstform, in: Neue Musik-Zeitung, 32. Jhg., Stuttgart/Leipzig 1911, Hft. 9 - Gegen die Wiener Operette II, S. 193 Carl Zeller, Der Vogelhändler, Operette in drei Akten (nach einer Idee des Biéville), von M. West und L. Held, Musik von — , Klavierauszug mit Text, Leipzig, o. J., S. 54 - Vgl. Papagenos Auftritt in Mozarts 'Zauberflöte'.

als Reminiszenz in sie einbezogen sind (z.B. Maxim-Lied in der Lustigen Witwe, Luxemburg-Lied im Graf von Luxemburg, Eva-Walzer in Eva). Als Einlage lösen sie den Handlungszusammenhang auf, als Reminiszenz stellen sie ihn wieder her. Trotz der Entwicklung seit der Posse bleibt selbst noch in Giuditta das Entrée erhalten, nicht mehr als 'mimische Visitenkarte', nicht mehr als Charakterbild oder Ausdruck individueller Haltung, sondern als Form ohne Inhalt, austauschbar allgemein, ohne jeden Kontakt zwischen Bühne und Publikum: "Freunde, das Leben ist lebenswert." (GIU 25)

Tänze Das musikalische Fundament der Operette bilden die nach dramaturgischer Bedeutung verschiedenen Tänze. Schon bei Johann Strauß haben die meisten Nummern einer Operette Tanzform, die regelrecht aus der Handlung entwikkelt wird. Der Tanz als musikalische Form wird dadurch zur szenischen Aktion. Im Bild der tanzenden Paare ist sie realisiert In der Salonoperette ist dies in ausgedehntem Maß der Fall: die entscheidenden Handlungsmomente des ersten Paares sind modifizierte Tänze (LW Nr. 6/ 10/ 15), die "zwingend, aber ungezwungen dem dramatischen Geschehen entspringen, um es weiterzuführen."13 - "Sie verleihen dem sprachlosen Ausdrucksverlangen ein deutlicheres Artikulationsvermögen."14 Daher rührt ihre Klassifizierung als Tanzoperette. Für Volker Klotz liegt darin gar die "neuartige Musikdramaturgie" 15 der Salonoperette. Die Tanzeinlage des zweiten Paares stellt dagegen eine isolierbare Nummer außerhalb des Handlungszusammenhangs dar. Dennoch wird auch sie szenisch umgesetzt. Typisch ist die rein instrumentale RefrainWiederholung als sogenannte Tanzevolution'. Der gesungene Tanz findet im getanzten seine Erfüllung. Zuerst taucht die Tanzeinlage als kollektive Form im Can-Can der Offenbachschen Operette auf, vom Chor gesungen und getanzt - eine Verbindung der Chor- und Ballettszenen der französischen Oper mit den aktuellen Tänzen der Straße. Bei Lehár ist der Grisettenchor der Lustigen Witwe ein letztes Beispiel dafür. Der vom Chor gesungene Tanz wird als Walzerintermezzo im zweiten Finale des Graf von Luxemburg wiederum zur reinen Ballettnummer. Sie trägt hier bereits den Ausstattungscharakter der 13 14 15

Volker Klotz, Operette, S. 177 Ebd., S. 205f. Ebd., S. 176

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Revueszene, wie sie die wiedelkehrende Balletteinlage des Spätwerks kennzeichnet. In den Tanzeinlagen der Buffofiguren werden seit dem Graf von Luxemburg neben dem Walzer, auf den nie verzichtet wird, die neuesten Modetänze verarbeitet. In den zwanziger Jahren werden sie zu den Jazzstiikken einer Operette. In den Tanzeinlagen integriert die Salonoperette die aktuelle Gebrauchsmusik in einen Bühnenzusammenhang.

Schlager I Der Widerspruch zwischen aktueller Einlage und dem Bühnenzusammenhang der Operette, zeigt sich im Phänomen des 'Schlagers'. Anfang des 20. Jahrhunderts, also gleichzeitig mit der Salonoperette, kommt diese Bezeichnung für populäre Lieder auf und wird zum festen Bestandteil der Operette. Die Operette wiederum wird zum Hauptschlagerlieferanten der Zeit. Die lose Dramaturgie der Salonoperette kommt dem Schlager entgegen, indem sie einzelne Nummern isolierbar macht, so daß "die Liedertexte im Libretto gar nicht mehr dramatisch entwickelt werden, sondern völlig die Form der Einlage erhalten."16 Das führt bei Lehár zu den handlungsfemen Buffonummem, in Graf von Luxemburg und Zigeunerliebe exemplarisch statuiert, und für die Komponistengeneration von Kálmán bis Abráhám vorbildlich. Daß sie in Tanzform gehalten sind, fördert ihre Verbreitung vor allem außerhalb der Operette als Gebrauchsmusik, von der sie eigentlich herstammen. Der Typus des Tanzschlagers diktiert nicht nur den Rhythmus der Tanzform, sondern auch ein dramaturgisches Schema. Indem Lehár den Schlager als Einlage des zweiten Paares ausgrenzt, bewahrt er den Nummern der ersten Paares die Möglichkeit dramaturgischer Integration, ohne auf den Vorteil populärer Gebrauchsmusik zu verzichten. Und wenn Victor Léon, "der Dichter der Lustigen Witwe, dessen Einfluß auf das Geistesleben der Gegenwart ja unbestritten ist,"17 behauptet, daß "die wirklich moderne Operette [...] eigentlich eine Form der Oper, ein Stück mit Musik darzustellen hat,"18 verleiht er dieser Bestrebung Lehárs Nachdruck. Dennoch zeigt die Tendenz zur Schlagerfolge, in den ersten Werken Robert Stolz' etwa bis hin zu Revueoperetten wie dem Weißen Rößl, daß die meisten Autoren, schon zur Blütezeit der 16 17 18

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W. Kellerbauer, a .a. 0., S. 192 Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, a. a. O., S. S Victor Léon, in: Neue Musik-Zeitung, 32. Jhg., Stuttgart/Leipzig 1911, Heft 9: Gegen die Wiener Operette. Eine Umfrage und ihre Antworten, von Dr. Erich Eckertz, S. 191

Salonoperette "Hauptnummern einer Operette direkt auf typische Schlagerwirkung hin"19 anlegen. Der Widerspruch zwischen dem Bemühen um Opemzusammenhang und der Tendenz der Schlager, ihn aufzulösen, ist ein objektiver zwischen Markt- und Kunstanspruch, den die Operette auszutragen und insbesondere Lehár zu vermitteln versucht. "Der Schlager muß [...] die Kluft zwischen Hochkunst und Volksbedürfnis überbrücken."20 Noch das Tauberlied des späten Lehár rekurriert deutlich darauf.

Stereotypen Die stilistische und formale Divergenz der Salonoperette zeigt sich gerade in den Tanzeinlagen. Umfassen sie stilistisch vom Walzer bis zu Jazztänzen die Tanzrhythmen ihrer Zeit, sind sie formal auf die Coupletform beschränkt Das Couplet gehört zu jenen Stereotypen, die der Operette als formale Muster gelten. Neben den Tanzduetten sind es vor allem Nummern mit Einlagecharakter, die diese Form erhalten, wie meist die Entrées der Protagonisten. Diese aber stellen eine Ausnahme dar, weist doch die Operette gerade der unteren Figurenebene die Coupletform regelrecht zu. Gegentypus zum zweiteiligen Couplet stellt auf der oberen Figurenebene das dreiteilige Rondolied dar. Die Wiederholung des ersten Teils im dritten erinnert an die Da capo-Arie' der italienischen Oper und verweist damit in der Formhieraichie der Operette auf seine gehobene Bedeutung. Dennoch wird das Rondolied nicht weniger stereotyp gebraucht wie das Couplet. Wie dieses ist es strophisch gegliedert, in der Regel mit nur geringfügigen Variationen. Daneben kennt die Lehársche Operette nur noch gleichmäßig periodisierte einteilige Formen inneihalb der Finali ("Bist du's lachendes Glück" im Graf von Luxemburg etwa), deren Melodik, ebenso wie bei Rondolied und Coupletrefrain, dem "Zauberbann der Symmetrie"21 verfallen, auf vier acht- bzw. viertaktigen Phrasen beruht. Der melodische Kern solcher Formen wird meist vermittels der Sequenz verarbeitet

" Karl Westermeyer, Die Operette im Wandel des Zeitgeistes von Offenbach bis zur Gegenwart, München 1931, S. 159 20 Ebd., S. 21 21 Theodor W. Adomo, Versuch über Wagner, Frankfurt a. M. 1974, S. 45

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Sie hält das Schema abstrakter, architektonisch überblickbarer Symmetrieverhaltnisse in der Zeit fest und sucht zugleich deren Inhalt durch Steigerung mit subjektiver Dynamik zu versöhnen.22

So hält beispielsweise "Lippen schweigen" zwischen Symmetrie und Ausdruckssteigerung durch Sequenzierung jene Mitte, die der Salonoperette ansteht. Alle geschlossenen Nummern sind solchen Stereotypen verpflichtet, deren Gliederung in wiederkehrende Strophen und überschaubare Perioden ihre Faßlichkeit, aber auch ihre Formarmut erklärt, wohingegen allein Rezitative, Melodramen und die Finali zwischen den Reminiszenzen durchkomponiert sind. In der Ordnung ihrer Stereotypen beschwört die Operette den vermittelnden Zauber des Orpheus, all dessen, was immer "ein Bodensatz der Geschichte [...] sich nicht in einzelmenschlichen Ausdruck verwandeln ließ und wiederkehrt."23 Lehár kompensiert solche stereotype Bindung, die leichte Musik kennzeichnet, durch die koloristische Expressivität harmonischer und instrumentaler Effekte, welche ihm die Sequenz einräumt. Dem entspricht die stilistische Vielfalt der Einzelnummern. Vom mondänen Schlagerton der Couplets zum Volkston des sentimentalen Lieds, vom Opemton des pathetischen Lieds zum ekstatischen Tanz reicht das Spektrum ihrer Stile, als wolle die Operette die Kargheit ihrer Stereotypen dadurch vergessen machen. Darin mag auch der Grund liegen, warum fast allen ihren Nummern Tanzrhythmen unterlegt sind. Nicht weniger als die stilistische, hat die rhythmische Vielfalt Kontraste vorzutäuschen, die die Operette durch die Typisierung ihrer Musik nicht anders hervorzubringen vermag.

Modelle Den Bühnenzusammenhang übernimmt die Operette in der Nummerndramaturgie von der Oper. Ermöglicht die Nummemdramaturgie einerseits Einlagen ohne Handlungsbezug, ermöglicht sie andererseits eine klare Strukturierung der Handlungsführung durch die Trennung von Gesangsnummem und rezitativischem oder gesprochenem Text. Modell sind der Operette hierfür vor allem Singspiel, opéra comique und Spieloper, Gattungen, die im übrigen, wie die Posse, mit Aufkommen der Operette verschwinden. Die Meister der klassischen Wiener Ära sind deutlich noch an diesem Modell orientiert. Suppés Boccacio, Millöckers Bettelstudent und Strauß' Zigeunerbaron gel22 23

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Ebd., S. 32 Theodor W. Adorno, Arabesken zur Operette (1932), a. a. O., S. 516

ten ihren Zeitgenossen als legitime Nachfolger der komischen Oper, die ihrerseits der großen Oper nachfolgt (Carmen!). Durch den energischen Ruck, den die komische Oper [...] nach der großen Oper hin macht, entsteht eine empfindliche Lücke. Und diese Lücke füllt ganz folgerichtig die [...] Operette aus.24

Die Werke der klassischen Ära bilden noch "umfangreiche, formale Einheiten"25 , deren Nummern zum einen musikalisch durch Rezitativ und Melodram, zum anderen durch kurze Zwischentexte miteinander verbunden sind. Auch eine stilistische Einheit der einzelnen Nummern bleibt innerhalb des Werkes, trotz gelegentlichen Lokalkolorits, gewahrt. Solche Einheit eines immanenten Zusammenhangs verbindet die Operette mit der Oper.26 Ihre Vertreter brauchen "sich von den zeitgenössischen Komponisten ernster Musik nicht beschämen zu lassen."27 Noch in den Werken des 19. Jahrhunderts ist "die Divergenz der beiden musikalischen Produktionssphären zureichend beherrscht,"28 trotz der beginnenden Wirkung des Wagnerschen Musikdramas. Um die Verbindung zur ernsten Musik nicht zu verlieren, muß die Operette des zwanzigsten Jahrhunderts deren Entwicklung sich stellen.

Verhältnis zur Oper Wie die "klassische Operette' es verstanden hat, "die Elemente, die die ernstgemeinte Kunst sich entgleiten ließ [...] (Melodik, Natürlichkeit des musikalischen Gedankens, Logik der Formgebung) aufzufangen,"29 so versteht es die 'moderne' Operette, ohne die genannten Elemente aufzugeben, vom Musikdrama und der zeitgenössischen Oper, das aufzunehmen, was

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Dr. Erich Urban, Die Wiedergeburt der Operette, in: Die Musik, Bd. 9,3. Jhg., Berlin/ Leipzig Nov. 1903, Hft .3, S. 183 Dieter Zimmerschied, S. 34 1900, unter Mahlers Direktion, wird die Fledermaus' als komische Oper das meistgespielte Werk der Wiener Hofoper. (vgl. Irmgard Bontink, Angebot, Repertoire und Publikum des Musiktheaters in Wien und Graz, Wien 198S, S. 33) Alfred Wolf, Der Operettenmoloch,in: Die Musik, Bd. 20,9. Jhg., Berlin/Leipzig Sept 1909, HfL 23, S. 259 Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, 1932, in: Ders., Gesammelte Schriften 18, Musikalische Schriften V, hrsg. von Rolf Tiedemann und Klaus Schulz, Frankfurt a. M. 1984, S. 771 Alfred Wolf, a. a O., S. 259

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deren erweiterten Ausdrucksgehalt ausmacht.30 Daneben verwendet sie als vereinfachtes Konstruktionsmittel das Leitmotiv. Als Korrektiv des zunehmenden Einlagecharakters der Einzelnummern in der Salonoperette soll es den sich auflösenden Zusammenhang wieder herstellen. Dabei handelt es sich selten um wirklichen leitmotivischen Gebrauch bestimmter Refrainzeilen, sondern meist um deren bloßes Zitat. Durch den Wiedererkennungseffekt erzeugen sie im Zuhörer einen scheinbaren Zusammenhang. Es ist eine Wirkung, die Adorno bereits am Wagnerschen Leitmotiv entdeckt: Unter den Funktionen des Leitmotivs findet sich denn neben der ästhetischen eine warenhafte, der Reklame ähnliche: die Musik ist, wie später in der Massenkultur allgemein aufs Behaltenwerden angelegt.31

Das Behalten eines Motivs schafft in der Wiederholung Zusammenhang. Analog zu Volker Klotz' Beschreibung des Verhältnisses von Oper und Operette in bezug auf die konstruktive Großform der Nummerndramaturgie, die Oper räume "das ästhetische Arsenal, das prompt von der Operette übernommen"32 werde, ließe sich im Fall der Salonoperette, insbesondere Lehárs, sagen, sie übernehme Ausdrucksgehalte und Formprinzipien des Musikdramas teilweise in ihr Schema oder ihr Material wäre, in den Worten Adornos, "das veraltete oder depravierte der Kunstmusik."33 Die Operette stellt sich so als nach zwei Seiten offene Gattung dar, zum einem gewährt sie Elementen der Posse, der Gebrauchsmusik und der Revue je nach Aktualitätslage Einlaß, zum anderen festigt sie ihr so aufgesplittertes Schema durch Anleihen bei der jeweils überkommenen Opernform. Solche Musikdramaturgie verdankt die Operette ihrer Methode "der epigonalen Lückenbüßerei."34

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Davon soll in der musikdramaturgischen Analyse des 'Graf von Luxemburg' des weitern die Rede sein. In diesem Kontext ist der folgende Satz eines konservativen Kritikers, 1912 formuliert, zu verstehen. "Die moderne Operette stammt sozusagen von derselben Mutter ab wie die Oper von Richard Strauß und Eugen d'Albert, nur die Väter sind andere." (Joseph Stolzing, Deutsche Tonkünstler der Gegenwart, in: Die Popyläen, Wochenschrift geleitet von Eduard Engels, (erscheint jeden Freitag) Beilage der 'Münchner' bzw. 'Bayerischen Zeitung', 9. Jhg., München, 9. Februar 1912, Nr. 19, S.295) Theodor W. Adomo, Versuch über Wagner, S. 26f. Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater. Komödie - Posse - Schwank - Operette, Reinbek 1987, S. 207 Theodor W. Adomo, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, 1932, a. a. O., S. 771 Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, S. 211

2. "Kein Wort, doch es tönt fort" (LW 143) Zur Rezeption der Salonoperette

Massenpublikum, Geschäft und Unterhaltung Was die Salonoperette von der klassischen Operette grundlegend unterscheidet, ist die Art ihrer Wirkung. Sie ist gekennzeichnet von einer neuen Dimension der Rezeption. Die Operette entwickelt sich nach Grünberg zur beliebig austauschbaren Ware, deren Gebrauchswert auf die Bedürfnisse eines sozial möglichst breiten Massenpublikums zugeschnitten ist [...]. Ein durch bestimmte Rezeptionsgewohnheiten sich auszeichnendes Operettenpublikum existiert kaum mehr.35

Ist das Publikum Johann Strauß' etwa nicht anders als gut situiert sich zu denken, ist das der Salonoperette ein sozial nicht mehr gebundenes, diffuses Publikum geworden.36 Da auch nationale Bindungen, wie vor allem in Wien, an Bedeutung verlieren, entsteht ein neuer internationaler Markt, der von der Operette organisiert wird. Den seriöseren Zeitgenossen erscheint er bereits 1912 "amerikanisiert und kapitalisiert."37 Die Operette als publikumsorientierte Gattung wird zum Produkt dieses Marktes. Die Produktionsbedingungen einer industrialisierten Epoche greifen auf die immer noch ästhetisch gedachten Produkte über. Ihre Schöpfer verfallen damit dem Betrieb. "Die arrivierten unter ihnen haben dann schon vor dem Krieg, sich zu Kompositionstrusts zusammengeschlossen, die im Salzkammergut sich niederließen."38 Gemeint ist Bad Ischl, dessen 'Café Esplanade' zur Operettenbörse wurde, wo während des Sommers Librettisten und Komponisten die Werke der kommenden Saison vorbereiteten. Das fuhrt gerade unter den Librettisten zu einer Monopolisierung, die im dramaturgischen Schema der Salonoperette sich niederschlägt.39 Auch Lehár unterliegt diesem Schema gerade im Bemü-

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Ingrid Grimberg, a .a. O., S. 64f. Karl Kraus kommentiert die Umschichtung des Publikums bissig als Demokratisierungstendenz: "Was mich an dem Enthusiasmus für die Operettenschande am tiefsten berührt hat,ist die demokratisierende Wirkung, die von ihr auszugehen scheint." (Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, a. a. O., S. 14) Joseph Stolzing, a. a. O., S. 295 Theodor W. Adomo, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a. a. O., S. 772 Noch 1929 beklagt Jean Gilbert, daß die Komponisten "immer denselben Quatsch komponieren müssen! - Immer wieder die umgedrehte Lustige Witwe'." (Jean Gilbert,

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hen, es musikalisch zu sprengen, wie er es seit Zigeunerliebe (1910) versucht. Die Schematisierung einer Massenmedium gewordenen Gattung wie der Operette ist ein mit den Rezeptionsbedingungen einhergehender Prozeß, dessen Resultat, "aus dem Massenbedürfnis geboren [...], darum schon im voraus die Allgemeinresonanz mitzubringen pflegt."40 Trotz Lehárs Versuch autonomer Komposition, die aber weitgehend aufs Detail sich beschränkt, muß er diesem inneren Gesetz seiner Gattung, die an Rezeptionszusammenhänge gebunden bleibt, unterliegen. In der zeitgenössischen Kritik wird als "sein Arbeitsfeld [...] die Unterhaltungsmusik"41 angesehen,42 zu welcher die Operette mittlerweile zählt. Obwohl die GEMA, 1915 gegründet, erst in den Zwanziger Jahren zur Tantiemenabrechnung die Trennung von Unterhaltungs- (U-) und ernster (E-) Musik einführt, hat sie sich bereits mit Aufkommen der Salonoperette vollzogen. Das Jahr 1905 macht mit den in beiden Bereichen bahnbrechenden Werken des Musiktheaters den Abstand deutlich: mit Lustiger Witwe und Salomé. Trotz seiner ambitionierten Haltung wird gerade Lehár zum Exponent der Unterhaltungsmusik und der Salonoperette überhaupt. Eine repräsentative Statistik aller deutschen Bühnen des Jahres 1910 beispielsweise zeigt ihn trotz 1994 Aufführungen Wagnerscher Werke mit 2200 Auffuhrungen unangefochten an der Spitze. Zum Vergleich: Puccini als erfolgreichster lebender Opemkomponist hat 776, Oscar Straus als erfolgreichster lebender Konkurrent auf dem Gebiet der Ope-

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Das Libretto ist schuld!, in: Die Scene, 19. Jhg., Berlin Februar 1929, HfL 2 - Die Krisis der Operette, S. 33) Karl Westermeyer, S. 18 Wr., Frankfurter Theater, in: Volksstimme, Frankfurt a. M. 23.4.1914, zit. n. Otto Schneidereit, S. 162 Dazu Lehár selbst: "Für mich existiert der Begriff Unterhaltungsmusik nicht. Ich kenne nur gute oder schlechte Musik" (Franz Lehár, Brief vom 25.7.1941 an KarlErnst Schoetzan zit. n. ebd.). Schönberg hingegen erkennt sowohl diesen Begriff als auch seinen Wert uneingeschränkt an, wenn er ihn abzugrenzen versucht: "Unterhaltungsmusik spricht den Naiven an, diejenigen Menschen, die die Schönheit der Musik lieben, aber nicht dazu neigen, ihren Verstand anzustrengen. Was sie lieben, ist jedoch nicht Trivialität, Vulgarität und mangelnde Originalität, sondern verständlichere Darstellungsweise [Symmetrie]. [...] Das heiBt nicht, daß in der Unterhaltungsmusik notwendigerweise solche Melodien, Rhythmen und Harmonien, wie man sie in der höheren Musik erwarten würde, ausgeschlossen sein müssen." Siehe auch IV. 2. ( Arnold Schönberg, Kriterien für die Beurteilung von Musik, in: Ders., Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Gesammelte Schriften, hrsg. v. Ivan Voitech, Frankfurt a. M. 1976, S. 131)

rette 748 Aufführungen aufzuweisen. 43 Diese Breitenwirkung erkauft Lehár mit Konzessionen an Stereotyp und Schema. Die Operette zeigt sich darin abhängig von Rezeptionsbedingungen. Einer ihrer bedeutendsten Unternehmer, der Direktor des Theater an der Wien' und Verleger Lehárs, Wilhelm Karczag, formuliert denn auch ohne Skrupel, sie stehe, "im Zeichen des Geschäfts und [...], [sei] wie dieses den Moden des Tagesgeschmacks, den wechselnden Konjunkturen unterworfen."44 Steht für Karczag die Operette als Gattung 'im Zeichen des Geschäfts', schlägt für Adorno sich bereits in der Musik die "Industrialisierung der Produktion"45 und ihre dadurch bedingte Massenrezeption nieder: Der Walzer aus der Lustigen Witwe dürfte exemplarisch den neuen Stil statuiert haben und der Jubel, mit dem das Bürgertum Lehárs Operette begrüßte, ist dem Erfolg der ersten Warenhäuser zu vergleichen.46 Gerade an der Lustigen Witwe wäre dies näher zu untersuchen.

"Die Lustige Witwe steht auf der Grenze" Die Lustige Witwe steht auf der Grenze: eine der letzten Operetten, die noch etwas mit Kunst zu tun hat und eine der ersten, die sie unbedenklich verleugnet. Sie lebt noch nicht von Sequenzen, sondern von melodischen und auch rhythmischen Profilen, [...] sie hat eine gewisse individuelle Haltung und im leise angedeuteten südslawischen Ton sogar Geschmack; sie hat einen dramatischen Augenblick, wenn der enteilende Danilo das Maxim-Lied zitiert: dies Maxim-Lied, ein sonderbares Denkmal aus der Liebeswelt des Frou-Frou, das treuer die Züge seiner Epoche bewahrt als irgend einer der gegenwärtigen Schlager. Auch die Romanze der Glawari, so sentimental sie ist, läßt sich hören und vor allem: nicht verwechseln; es ist noch nicht am laufenden Band gemacht, sondern von einem Menschen; mögen auch die menschlichen Gehalte nicht der erlesensten Art sein: nämlich herabgesunkene Motive des Jugendstils. Von dessen Pathos geistert manches in dem sonderbaren Text, der einmal - Rätsel des Vergangenseins Sensation machte.

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Stan Czech, Schön ist die Welt. Franz Lehárs Leben und Werk, Berlin 1957, S. 158 Paul Wilhelm, Bei Direktor Wilhelm Karczag, in: Neues Wiener Journal, Wien, 21. September 1911, ziL n. Otto Schneidereit, S. 120 Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a a. O., S. 772 Ebd. Ders., Frankfurter Opem- und Konzertkritiken. Januar 1934, in: Ders., Gesammelte Schriften 19, S. 249 33

Marktlücke Lustige Witwe "Mit der Operette Die Lustige Witwe löst diese Gattung ihr Eintrittsbillet in die moderne Massenkommunikation."48 Sie stellt eine Zäsur in der Operettengeschichte dar. Mit ihr ist die damalige Operettenkrise überwunden und ein neues Modell über 20 Jahre hinweg etabliert: die moderne Salonoperette (bzw. Tanzoperette). "Sie war eine Revolution"49 - "der Welterfolg der österreichischen Operette überhaupt."50 Die Vorgeschichte der Wiener Uraufführung ist bekannt. Sie gehört zum Anekdotenschatz jeder LehárBiographie. Nach deren zögerlicher Erfolg vom 28. Dezember 1905 begann nach dem triumphalen vom 1. Mai 1906 in Berlin der internationale. 1907 eroberte Die Lustige Witwe London, New York, Stockholm, 1908 Kopenhagen, Moskau, Mailand,"51 - "war sie in Ceylon, in Manaus und in Tsingtau, erschien als Viuva alegra in Lateinamerika, als Merry Widow in Ostasien."52 Es folgten 1909 Madrid und Paris. Diese einhellige weltweite Verbreitung einer Operette war neu.53 Noch die Fledermaus war im 19. Jahrhundert außerhalb der deutsch-österreichischen Grenzen kaum populär geworden und auch Offenbachs außereuropäische Wirkung nimmt sich zu Lebzeiten eher bescheiden aus. Es ist Lehárs Verdienst, daß seine überragende kompositorische Fähigkeit einerseits und sein noch halbbewuBtes Gespür für die Bedürfnisse eines anbrechenden Medienzeitalters anderseits eine Marktlücke ausfüllen halfen, die 1905 erst im Begriff war zu entstehen.54

Intemationalisierung I Die Lustige Witwe löst eine der größten Theaterepedemien der Geschichte aus. Das Ausmaß ihrer Rezeption ist bereits das eines echten Massenmediums, sowohl die geographische als auch die quantitative Ausbreitung inner48 49 50 51

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Dieter Zimmerschied, S. 118 Stan Czech, Schön ist die Welt, S. 121 Dieter Zimmerschied, S. 110 Bernard Grün, Gold und Silber. Franz Lehár und seine Welt, München/Wien 1970, S. 134 Ernst Decsey, Franz Lehár, S. 9 ...und führte zu dem Vorschlag der 'Stunde' - " man solle ihn [Lehár] zum Außenminister ernennen." (Siegfried Geyer, in: Die Stunde, (Wien) 28.9.1930, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 206) Dieter Zimmerschied, S. 111

halb kurzer Zeit ist bezeichnend. Sie stellt den "Durchbruch zur internationalen Operette und ihren internationalisierten Rezeptionsbedingungen"55 dar. Sie zeigt sich darin als Vorläuferin des Films und seiner internationalen Wirkung. Die Lustige Witwe erlebt allein im Jahre 1910 nicht weniger als "18 000 Aufführungen in zehn Sprachen, an 142 deutschen, 154 amerikanischen und 135 englischen Bühnen."56 Es ist kein Zufall, daß gerade der amerikanische Erfolg entscheidend für den internationalen wird. Während in Europa sich kulturelle Tradtitionen und soziale Bindungen zu lösen beginnen, waren sie in Amerika bereits auf eigene Art überwunden. Daher riß eine moderne "Operette wie die Lustige Witwe von Lehár das Broadway-Publikum zu Begeisterungsstürmen hin und war der Anfang einer ganzen Reihe ähnlicher Operetten."57 Eine eigene Unterhaltungsindustrie war erst im Entstehen und noch an Europa orientiert. The American musical theater, as it existed on Broadway prior to World War I, was dominated by the importation of European operetta. [...] The Merry Widow has proven to be the most popular of any of the Central Europe operettas and has been revived successfully on numerous occasions.58 In it's initial New York presentation, The Merry Widow ran impressively fa 416 performances and grossed a million dollars - a smash hit by anybody's standards in those days.59

So wird Die Lustige Witwe in Amerika Mode. Es gibt Merry Widow-Hüte, -Schuhe, -Korsetts und -Parfüms oder Merry Widow-Restaurants, -Schnitzel und -Likör. Sie wird als Gegenstand der Reklame vermarktet, andererseits dient sie dem Identifikationsbedürfiiis eines Massenpublikums, indem Tanzkonkurrenzen veranstaltet werden, bei denen "das beste Danilo-Sonja*-Paar (*Hanna Glawari in der englischen Fassung) preisgekrönt wurde."60 Diese 55 56

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Ingrid Grünberg,a.a.O.,S. 61 Hans-Gerald Otto / Walter Rösler, Die Lehár Legende, in: Theater der Zeit, XXV. Jhg., (Berlin/Ost) April 1970, Heft 4, zit. n. Christian Marten, Die Operette als Spiegel der Gesellschaft: Franz Lehárs 'Die Lustige Witwe'; Versuch einer sozialen Theorie der Operette, in: Europäische Hochschulschriften, Reihe 36, Musikwissenschaft, Bd. 34, Frankfurt a. M./Bem/New York/Paris 1988, S. 55 Leonard Bernstein, Das amerikanische Musical. Fernsehsendung vom 7. Oktober 1956, in: Ders., Freude an der Musik, München 1963, S. 156 Geoffrey S. Cahn, Weimar culture and society as seen through American eyes: Weimar music - the view from America / Geoffrey S. Cahn, Ann Arbor (MI) [St. John's University, Diss.] 1982, S. 443. - 1947 noch sangen Jan Kiepura und Martha Eggert 360 Vorstellungen der Lustigen Witwe' am Broadway vor jeweils 18 000 [!] Zuschauern. (Maria von Peteani, S. 95) Geoffrey S. Cahn, S. 383, Anm. 22 Bernard Grun, Gold und Silber, S. 138

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Phänomene einer engen Verknüpfung von künstlerischen und kommerziellen Interessen machen die Salonoperette zum ersten Massenmedium und für Wien zu dem, "was heute der Film für Hollywood ist".61

Rezeption in Serie Aber auch in Europa verändern sich die Rezeptionsbedingungen. Die Jahre vor dem ersten Weltkrieg werden zur Zeit der ersten, mitunter jahrelangen Serien, die Lehárs Lustige Witwe eröffnet. Und es ist die große Zeit der Operettenbühnen, so daß beispielsweise in Berlin [...] ein halbes Dutzend Theater von der Operette leben könnte, während ihr in Wien vier Musentempel, ganz die Volksoper sowie zwei Varietés wenigstens teilweise geweiht sind.62 Noch in der klassischen Ära genügte "das eine Theater an der Wien"63 der Nachfrage. Doch es wird keineswegs mehr komponiert als zu jener Zeit - im Gegenteil - das Repertoire beschränkt, aufgrund langlaufender Serien, sich eher auf einige Zugstücke. So werden Lehárs "Zigeunerliebe,

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Fürstenkind

Rudolf Bemauer, Das Theater meines Lebens. Erinnerungen, Berlin 1955, S. 210, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 171. - Auch Jérôme Savary "...erinnert die Lustige Witwe' in erster Linie an Hollywood." (Jérôme Savary, Randbemerkungen zu einer Inszenierung, in: Programmheft: Lehár, Die Lustige Witwe, Volksoper Wien, Saison 1987/88). Und in der Tat steht Die Lustige Witwe' für die Verbindung von Operette und Hollywood in einem ganz wörtlichen Sinn ein. Von den fünf Verfilmungen wurden die drei bemerkenswertesten in Hollywood produziert. Die erfolgreichste war paradoxerweise Erich von Stroheims Stummfilm von 1925 mit Mae Murray und John Gilbert. Lehár selbst dirigierte das große Orchester der europäischen Erstaufführung in Paris, was den Wert einer amerikanischen Filmversion für Lehár eindrücklich belegt. Doch erst im Tonfilm konnten Operette und Hollywood ihre adäquate Verbindung eingehen. " Der Metro-Goldwin-Mayer-Film Die Lustige Witwe' mit Maurice Chevalier und Jeanette Mac Donald in den Hauptrollen [...], ein grandioses Prunkfilmwerk, ein amerikanischer Spitzenfilm ersten Ranges"(Weltspiegel, Illustrierte Nachrichten aus dem Weltspiegelkino. Lehár Festnummer, Wien Sept./Okt. 1935) löst dies ein. "La double version (française et anglaise) dirigée par Ernst Lubitsch en 1934 avec le couple mythique formé par Maurice Chevalier et Jeanette Mac Donald rend justice à l'operette de Lehár." (Robert de Laroche, Les Veuves au cinéma, in: L'Avant Scène. Opéra / Operette / Musique, La Veuve Joyeuse, Paris Novembre 1982, Nr. 45, S. 99). Noch 1952 realisiert Hollywood eine auf Lana Turner zugeschnittene Musicaladaption mit großem Aufwand. Joseph Stolzing, a. a. 0., S. 294 Ebd., S. 295

und Graf von Luxemburg [...] in drei Wiener Theatern im gleichen Jahr (1910) je 200 Mal gegeben."64 Die Lustige Witwe läuft im "Theater an der Wien" 400 mal en suite. Dieser quantitative Zuwachs der Nachfrage ist nicht nur durch ein breiteres Publikum, sondern vor allem durch dessen verändertes Rezeptionsverhalten zu erklären. Wenn eine Operette "ziehen soll, muß es in den ersten 50 Aufführungen Leute geben, die sechs-, sieben- bis achtmal hineingehen."65 Schönberg erwähnt gar einen Mann, der "Die Lustige Witwe mehr als hundert Mal gehört habe."66 Die Operette wird zum Ritual ihrer Zeit und eines völlig gemischten Publikums.

Schlager Π Deutliches Phänomen der veränderten Rezeption ist der Schlager. Die Isolierbarkeit der Musiknummern, welche die Dramaturgie der Salonoperette kennzeichnet, ermöglicht erst die Rezeption dieser Nummern als Schlager. Im Gegensatz zur 'klassischen Operette' beginnt sich das Rezeptionsverhalten zugunsten der Einzelnummern zu ändern. Die Verwertung derselben als Gebrauchsmusik nimmt hier ihren Anfang. Ein zeitgenössischer Kritiker wirft der Operette vor, "daß die Schlager darin mit einer Schnelligkeit Gemeingut werden, die dem Zeitalter der Kilometerfresserei alle Ehre macht"67 Die Beschleunigung der Rezeption geht einher mit ihrer Verbreitung und Internationalisierung. Das 'Zeitalter der Kilometerfresserei', als Bild der technisierten Welt, ist Karl Kraus der Grund, weshalb Offenbachs Operette "nicht entfernt das Entzücken verbreitet hat, das heute ein bosniakischer Gassenhauer findet"68 Gerade Die Lustige Witwe ist Beispiel dafür. Allein "jene berüchtigte Vilja"69 war bis 1909 über dreimillionenmal70 verkauft worden und hat, wieder Karl Kraus zufolge, "als Waldmägdelein des Okupationsgebietes uns Erwachsenen fünf Jahre lang den Aufenthalt in jedem

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Emst Decsey, Franz Lehár, S. 60 Karl Kraus, Zwei Meister, in: Ders., Die Fackel, Bd. 6, ΧΙΠ. Jahr, 23. November 1911, Nr. 336-337, S. 26 Arnold Schönberg, S. 365 Joseph Stolzing, a a. O., S. 294 Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, a. a. O., S. 2 Ders., Glossen, Notizen, Aphorismen, in: Ders., Die Fackel, Bd. 5, X. Jahr, 27. Februar 1909, Nr. 274, S. 18 Stan Czech, Schön ist die Welt, S. 158 37

Nachtlokal verleidet."71 Karl Kraus wird geradezu zum Chronisten der Wirkung Leharscher Werke und der Lustigen Witwe im Besonderen. Allein anhand der in "Die Fackel' veröffentlichten Beiträge ließe sich ihre Rezeption beim Publikum seiner Zeit ablesen. So berichtet er von einem Kapitän P., der in Peking auf verzweifelter Suche nach Original-Chinesischem ein Lokal betrat, das seinen Vorstellungen zu entsprechen schien. "Endlich etwas Nationales hoffte er. Aber was bekam er zu hören? Den Walzer aus der Lustigen Witwe."12

Kunstferne und Publikumsnähe Für ihn ist die Salonoperette "Symptom wirtschaftlicher Hochkonjunktur",73 oder Lehár, wie es von anderer Seite heißt, "zehnmal mehr Geschäftsmann als Musiker."74 Die Verflechtung wirtschaftlicher und künstlerischer Interessen muß in der zeitgenössischen Kritik dazu führen, daß die Operette "die simpelsten Grundbegriffe der Kunst über den Haufen wirft."75 Die 1909 in Oie Musik' erschienene Polemik gegen den Operettenmoloch' sieht jedoch in den gesellschaftlichen und ästhetischen Rezeptionsbedingungen bereits die Ursache des Widerspruchs von Kunstferne und Publikumsnähe, wie er gerade im Schlager offenbar wird. Einerseits habe "die allgemeine Hast in der Erledigung der Geschäfte im Verkehr der Menschen untereinander [...] das Geistesleben zersetzt,"76 andererseits "begann die Kunst, den Zusammenhang mit dem Volke zu verlieren. Ihrer Impotenz müde, wendet es sich denen zu, die an Bekanntes anknüpfend, ihm entgegenkommen."77 Eine Kritik, die der ernsten Musik den Mangel an dem vorhält, was die Operette betreibt, gesteht der Operette zumindest jenen 'Zusammenhang mit dem Volke zu', der aus einem veränderten Rezeptionsverhalten sich ergibt. In der Tat ermöglicht die

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Karl Kraus, Glossen, Notizen, Aphorismen, a. a. O., S. 18 Ders., Sturz aus allen himmlischen Reichen, in: Ders., Die Fackel, Bd. 6, XII. Jahr, 23. November 1911, Nr. 336-337, S. 12 Karl Kraus, Eine Musik- und Theaterausstellung, in: Ders., Die Fackel, Bd. 4, IX.Jahr, 31. Dezember 1907, Nr. 239^0, S. 40 Paul Marsop, in: Neue Musik-Zeitung. 32. Jhg., Stuttgart/Leipzig 1911, HfL 9: Gegen die Wiener Operette - Eine Umfrage, S. 191 Felix Günther, a. a. O., S. 839 Alfred Wolf, a. a. O., S. 259 Ebd., S. 263

moderne Salonoperette ihrem Publikum, "Kunst ohne Anstrengung zu genießen."78 Krenek spricht gar von der Bildung eines spezifischen Operettenpublikums, das die Operette nicht mehr als Ergänzung, ja nicht einmal als gegensätzliche, aber entspannende Unterbrechung des Opemgenusses betrachtet, sondern so gut wie nichts mehr anderes als Operette will.79

Ein solches Publikum erst macht die Lehärsche Ästhetik plausibel. Indem Lehár Opemmittel als solche in sein Werk einbezieht, ersetzt er den verlorenen 'Operngenuß' ohne daß er als Verlust realisiert werden müßte. Diese immanente Verschleierungstendenz der Operette ließe sich auf jene "neue Gestalt der Verblendung"80 zurückführen, die Adorno als "Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes zu hören,"81 bezeichnet

Chaos von Stilgebärden Die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts waren eine "Zeit in Bewegung: Anschwellen von Themen, Chaos von Stilgebärden."82 Die Salonoperette ist ihr treuer Spiegel. Sie wird zum Medium verschiedenster Themen und Stile. Auch hierin erweist Die Lustige Witwe sich als exemplarisch. Sie lebt vom Kontrast. Dramaturgische Belege dafür sind die Einlagen. Musikalisch wechselt ihr Stil vom reißerischen Couplet des Maxim-Lied es (Nr. 4) zur opernhaften Arie der Pavillonszene (Nr. 11). Das Weiberseptett (Nr. 9) hat den Schlagerton, das Reiterduett (Nr. 8) den mondänen. Der Volkston des ViljaLiedes macht die Funktion der benutzten Stile deutlich. Sie sind Zitat. Im Vilja-Lied (Nr. 7) hat "die Folklore ihre Wurzeln verloren [...], denn die Musik erklingt ja nicht an ihrem Ursprungsort, sondern meilenweit weg in Paris."83 Folklore, bisher konstitutiv für die Operette, wird verfügbar und durch den offenen Charakter einer kosmopolitischen Figur wie Hanna Glawari motiviert. Das von ihr organisierte pontevedrinische Fest des zweiten Aktes ist ebenso Inszenierung innerhalb der Operette, wie das Maxim des dritten Aktes. Im simulierten Milieu zitiert sich die Operette selbst. Der Illusionscharak78

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Emst Krenek, Operette, in: Ders., Zur Sprache gebracht. Essays über Musik, München 1958, S. 52 Ebd. Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 59 Ebd. Gottfried Benn, Kunst und Drittes Reich, in: Ders., Das Hauptwerk, hrsg. von Marguerite Schlüter, Bd. 2, Essays. Reden. Vorträge, Wiesbaden/München 1980, S. 183 Dieter Zimmerschied, S. 114

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ter des Theaters wird konstruktiv. Durch das ausdrücklich zitierte Ambiente thematisiert, bleibt er, leicht ironisiert, dennoch ungebrochen rezipierbar. Indem die Salonoperette den geschlossenen dramatischen Zusammenhang dergestalt sprengt, weist sie über ihn hinaus, ohne ihn zu verleugnen. So erst wird sie zum Medium der Themen und Stile ihrer Zeit, zum Spiegel der Projektionen ihres Publikums. Die Lustige Witwe wird zum Modell, denn, wie Paul Bekker schon 1907 schlüssig folgert, mit beispiellos glücklichem Geschick sind hier all die Motive zusammengetragen, welche Massentriebe zu reizen vermögen, Publikumsinstinkten schmeicheln. Hier sind Lolo, Dodo, Frou-Frou, dort ist eine 'anständige Frau', hier ist Maxim, dort der "Zauber stiller Häuslichkeit.' Ballsirenen, Pontevedriner, Grisetten, trottelhafte Gesandte, heiratslustige Männer und verschmitzte, gut pomadisierte Kanzlisten feiem einen bunten Karneval.84

Modernität Was das diffuse Publikum der Lustigen Witwe verbindet, ist der Eindruck von Modernität, den das Werk vermittelt. Sie wird als 'moderne' Operette rezipiert, als deutlicher Bruch mit der Wiener Tradition der klassischen Operette empfunden. Wie aus der ästhetischen Kategorie 'modern' ein aktuelles Etikett wird, zeigen die sechs 'Szenen aus dem modernen Pariser Leben' von Henri Laredeau, die das Theater in der Josefstadt im Jahr der Lustigen Witwe herausbringt - mit dem paradigmatischen Titel: Immer modern. Hinsichtlich der Haltung und des Themas, worin sie vor allem sich niederschlug, wäre solche Modernität in Zusammenhang mit dem Sujet der Salonoperette (II.3.) näher zu bestimmen. Es mag hier der Hinweis genügen, daß in der Salonoperette die Handlung in der Gegenwart spielt So treten für Emst Decsey, den ersten Lehár-Biographen, in der Lustigen Witwe "zum ersten Mal auf Operettenboden moderne Menschen [...] auf, [...] alles vibriert von Wirklichkeit [...] Der Naturalismus des neuen Dramas auf die Operette übertragen."85 Der Verweis auf den Naturalismus demonstriert das Rezeptionsverhältnis von Salonoperette und ihrem frühen Publikum über einen Oberflächenreiz, ihre Modernität nicht als ästhetisches, sondern als gesellschaftliches Phäno84

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Paul Bekker, Oie Lustige Witwe' und ihre Familie, in: Allgemeine Musik-Zeitung, 34. Jhg., Berlin, 20. September 1907, Nr. 38, S. 614f. Beziehungsreich schließt der Artikel: "Uns bleibt das Haupt des Jochanaan." Um u.a. zu äußern: "Man wurde Intelligenzler genannt, wenn man sie besuchte." (Emst Decsey, Franz Lehár, S. 48f.)

men, das Produkt und Rezipient verbindet. Felix Saiten, der Freund Bahrs, Schnitzlers und Hofmannsthals, schreibt: Unsere Melodie - in der Lustigen Witwe wird sie angestimmt. Alles, was so in unseren Tagen mitschwingt und mitsummt, was wir lesen, schreiben, denken, plaudern und was für moderne Kleider unsere Empfindungen tragen, das tönt in dieser Operette, klingt in ihr an [...]. Lehár trifft den Zeitton, unbewußt [...]. Lehár ist mehr allgemein modern als wienerisch, er ist mehr durch die Zeit als durch einen Ort zu bestimmen. Er ist von 1906, von jetzt, von heute, gibt den Takt an zu unseren Schritten [...]. Lehárs Musik ist heiß von offener Sinnlichkeit, ist wie erfüllt von geschlechtlicher Wollust - man konnte moderne Verse zu ihr singen.86

Erlebnis, Psychologie und Unsinn Die selbstverständliche Verknüpfung von Modernität und Sinnlichkeit ist signifikant für die zeitgenössische Rezeption, der "die schwüle Erotik [...] Kennzeichen des zwanzigsten Jahrhunderts ist" 87 In diesem Sinn hat Lehár "mit der Lustigen Witwe dem zwanzigsten Jahrhundert seine Operette gegeben"88 , in diesem Sinn wird sie zur "erotischen Operette"89 und in diesem Sinn werden Hanna und Danilo zum mythischen Paar ihrer Epoche. Trotz verschiedener Abkunft gibt es keine Gesellschaftshindernisse wie in früheren und vor allem späteren Operetten. Im Gegenteil ist ihre Verbindung der Gesellschaft erwünscht. Die Hindernisse sind in die Personen selbst verlegt. Ihr Konflikt ist ein privater und trifft den erotischen Nerv der Zeit im angedeuteten Kampf der Geschlechter. Das gewendete Minna von Bamhelm-Motiv "Weigerung des stolzen Kavaliers, der wohlhabenden Dame seine Liebe zu gestehen, um von ihr nicht als Mitgiftjäger angesehen zu werden,"90 verleiht ihnen ein inneres Moment, das den geschlechtsspezifischen Projektionen des Publikums von 1905 entspricht: so, wie Danilo, hatte ein Mann um die Frau zu kämpfen, so, wie Hanna vorführt, waren die Waffen der Frau. Die offene und zeittypische Zeichnung kommt einem Identifikationsbedürfnis entgegen, das die Typisierung der klassischen Operette auf dieser Ebene nicht zuließ. 86

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Felix Saiten, Die neue Operette, in: Die Zeit, Wien 1906 zit. n. Otto Schneidereit, S. 107 Ferdinand Scherber, Franz Lehár Feuilleton, in: österreichische Rundschau, Bd. LXIII, Wien/München April/Juni 1920, S. 90 Ebd. Ο. Α., Franz Lehárs Operette 'Der Graf von Luxemburg', in: Neue Freie Presse, Wien 15.11.1909, zit. n. Otto Schneidereit, S. 130 Bernard Grün, Gold und Silber, S. 121f. 41

"Der Zuschauer soll ein Erlebnis haben und nicht bloß Unsinn sehen und hören." 9 1 Mit solchem Erlebnis kommt die Psychologie in die Operette. Orpheus, Helena und Eisenstein hatten keinen psychologischen, sondern kollektiven Hintergrund, wie noch in der Salonoperette das zweite Paar. Die Innigkeit und Ausdrucksintensität der Musik ist ihr musikalisches Korrelat. Lehárs "Ziel ist es, die Operette zu veredeln." 9 2 Karl Kraus polemisiert dagegen: Es war der Augenblick, da man das kolossale Defizit an Humor, das die moderne Salonoperette belastet, als einen Überschuß an Psychologie zu deuten begann [...]. Die alten Operettenformen, die an die Bedingung des Unsinns geknüpft blieben, werden mit neuer Logik ausgestopft [...]. Die Forderung, daß die Operette vor der reinen Vernunft bestehe, ist die Urheberin des reinen Operettenblödsinns.93

Mode K o m m t die Anlage der Figuren in der Salonoperette dem Identifikationsbedürfnis ihres Publikums entgegen, weiden ihre Figuren zum Repräsentanten des Publikums. Fand doch das Publikum "seine eigene Lebewelt, seine Person oder ihre Wunschvorstellung als [...] Danilo oder René, Graf von Lu-

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Franz Lehár, Vom Schreibtisch und aus dem Atelier. Bis zur 'Lustigen Witwe', a. a. 0 . , S . 114 Ebd. - Paradigma des gemeinten Erlebnisses sind sowohl Musik und Text als auch dramaturgische Funktion des berühmten Walzers aus der 'Lustigen Witwe' (Nr. 10/15). Er gilt nicht mehr, wie bei Johann Strauß nicht anders zu denken, einem tanzenden Kollektiv, sondern der Zwiesprache zweier Individuen. In ihm prägt Lehár den eigenen Typus des Valse moderato, den Zweitanz der Protagonisten. Er ist Ort "einer inneren Handlung - jenseits der Intrige." (Carl Dahlhaus, Zur musikalischen Dramaturgie der •Lustigen Witwe', in: Österreichische Musikzeitung, 40. Jhg., Wien 1985, HfL 12, S. 662) In ihm "liegt Bekennen des Unbekennbaren. Das war neu: der Tanz als Sprache der letzten Ekstase" (Emst Decsey, Franz Lehár, S.51). Seine Subjekte sind bereits sprachlos geworden in einer Welt der Sprachfloskeln, deren sie gerade im Operettendialog sich bedienen. Es klingt etwas vom Sprachskeptizimus der Epoche an. Bei seinem Auftauchen (Nr. 10) ist der Walzer "gerade darum beredt, weil er textlos bleibt; und der Text, den er als Duett im dritten Akt (Nr. 15) erhält ("Lippen schweigen..."), besteht nicht aus Worten, die Hanna und Danilo sagen, sondern aus einem Kommentar über den Inhalt ihres Schweigens. Bereits mit seinen ersten Worten verleugnet der Text, paradox genug, sich selbst," (Carl Dahlhaus, a. a. O., S. 62). Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, a. a. O., S. 4ff.

xemburg, widergespiegelt."94 So werden Hanna und Danilo als mythisches Paar ihrer Epoche zum Idol "der zahlenden Darsteller, die das Publikum stellte."95 Zuschauer und Figur verbindet dieselbe Lebenshaltung. Daß sie solcher Art auf derselben Ebene stehen, wird als modern rezipiert. Doch erst durch ihre Darsteller stellt die Operette diesen Zusammenhang her. Ähnlich wie beim Film treten sie weniger durch ihre Fähigkeiten, als durch Entsprechung eines 'Zeittypus' hervor. Der Darsteller der Salonoperette ist seine Verkörperung über die Rolle hinaus, die ihm Anlaß dazu bietet, so daß "im Bild der Öffendichkeit der Star von der Rolle ebenso personalisiert"96 werden kann wie umgekehrt. Auf jener imaginären Ebene, wo Zuschauer und Figur sich treffen bleibt der Darsteller bloßes Medium der Projektion. Die Figuren aber bezeichnen gegen die Psychologisierung der Salonoperette, die ihnen scheinbar Individualität verleiht, keine Individuen mehr, sondern bloße "Verkehrsknotenpunkte der Tendenzen des Allgemeinen."97 Eine Mizzi Günther oder Ilka Palmay, ein Marischka, ein Treumann trafen und prägten den Zeitgeschmack. [...] Die Haltung in der Bewegung, Anmut und Eleganz waren wichtiger als gesangliche Perfektion.98

Im Optischen veräußerlicht der Darsteller die Figur zum Bild der Zeit. Die dramaturgische Öffnung hin zur Revue stellt den entsprechenden Rahmen. Die Ausstattung gewinnt verglichen mit der klassischen Operette an Bedeutung. In ihr erkennt die Salonoperette "das Recht einer Dingwelt"99 an, die in Verbindung mit der Persönlichkeit des Darstellers, im Kostüm zur Mode wird. Gerade die Gaderobe der Hauptdarsteller, welche "die Konfektionsfirmen [...] aus Reklamegründen sehr gern übernahmen,"100 wird als Ausdruck der neuesten Mode rezipiert. Aber erst in Verbindung mit dem DarstellerStar wird sie zum Fetisch des Publikums.

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Arthur Maria Rabenalt, Der Operettenbildband. Bühne. Film. Femsehen, Hildesheim/New York 1980, S. 23 Ders., Operette als Aufgabe, Berlin/Mainz/Raststatt 1948, S. 26 Christian Marten, S. 63 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 182 - Adorno folgert weiter: "Massenkultur entschleiert damit den fiktiven Charakter, den die Form des Individuums im bürgerlichen Zeitalter seit je aufwies." (Ebd.) Arthur Maria Rabenalt, Der Operettenbildband, S. 12 Theodor W. Adomo, Arabesken zur Operette (1932), S. 519 Karl Neisser, Die Operette ist tot, es lebe die Operette!, in: Die Scene, 19. Jhg., Berlin Februar 1929, HfL 2 - Die Krisis der Operette, S. 44 - Die Firmennamen waren auf jedem Theaterzettel verzeichnet 43

Wie Treumann den Schlips band [...], wie Marischka den Spazierstock wirbelte [...], machte Mode. In der Operette wurde die jeweilige Moderichtung nicht nachgebildet, sie wurde dort Vorbild [...] - von Hortense Schneider bis zu Fritzi Massary stellte die Operettenprimadonna den vollendeten Frauentyp ihrer Zeit dar.101

Kult In der Salonoperette machen die ersten Anzeichen eines "lärmenden Personenkults"102 sich bemerkbar, in denen der Starkult der künftigen Unterhaltungsindustrie sich ankündigt. Louis Treumann, der Danilo der Wiener Uraufführung, ist

frühes

Beispiel

dafür. Wenn

Karl Kraus

sarkastisch

formuliert: "In Herrn Treumann gar tanzte Dionysos selbst über die Bretter"103 - wird die Dimension solchen Kultes in einer Epoche erster Nietzsche Rezeption und Sigmund Freuds sichtbar. So versichern die Autoren der Lustigen Witwe, wiederum Karl Kraus zufolge, es sei ihnen "nicht so sehr um die Tantiemen, als um die Enthüllung des Triebhaften' zu tun gewesen." 104 Klaus Pringsheim, Thomas Manns Schwager, berichtet anläßlich der 400. Aufführung der Lustigen Witwe in Wien von einer Jubelfeier von wahrhaft heidnisch-religiösem Charakter, damals als orgiastische Begeisterungswut sich aller Teilnehmer bemächtigt hatte [...] , [war] die künstlerische Herrschaft der Operette besiegelt 105 Die Operette ist in einer Zeit der Renaissance ritueller Theaterformen der wirklich "letzte Rest kultischen Theaters [geworden], dem eine gänzlich ent101 102

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Arthur Maria Rabenalt, Operette als Aufgabe, S. 34ff. Klaus Pringsheim, Operette, in: Süddeutsche Monatshefte: unter Mitwirkung von Josef Hofmiller, Friedrich Neumann, Hans Pfitzner, Hans Thoma, Karl Voll, hrsg. von Paul Nikolaus Cossmann, 9. Jhg., München 1912, Bd. 2, S. 185 Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, a. a. O., S. S Ebd. Klaus Pringsheim, Operette, a. a. O., S. 185. - Seine Schilderung gibt ein beeindruckendes Bild der damaligen Situation. Er beschreibt den "Lehártaumel' wie folgt "Keiner, der nicht in spontanen Enthusiasmus ausbrach, und jeder, vom Schauspiel des allgemeinen Jubels gepackt, überwältigt, zu immer erneuten Kundgebungen hingerissen; und der schlichte, bescheidene Meister, umtost von so elementaren Beweisen des Dankes und Vertrauens: jedermann fühlte, dies waren seltene, unvergeßliche Stunden." (Ebd.) - Noch zwölf Jahre später kann Ludwig Hirschfeld Ähnliches beobachten: "Aus dem großen Premieren-Hallo rang sich der Unisono-Ruf: 'Lehár!' durch. Der Meister erschien mit seinem berühmten Lehär-Lächeln, das zur Hälfte Berufs-, zur Hälfte Erfolgslächeln ist." (Ludwig Hirschfeld, Cloclo, in: Neues Wiener Tagblau, 9. März 1924, o. S.)

götterte Welt noch frönen darf."106 Angesichts solcher Wirkung rät 1910 Ludwig Thoma der Theaterreformbewegung, abzuwarten, "ob Sophokles oder Lehár der Stärkere ist."107

3. "Heute ist heute" (ZL 72) Zum Sujet der Salonoperette

Warenhaus Operette I Das Warenhaus als Bild der Salonoperette faßt ihre Eigenart in der Epoche zusammen. All die Aspekte, die sie als neues Medium kennzeichnen, sind in ihm versammelt: ihre schematische Dramaturgie, die musikalische Stilmischung und die Verfügbarkeit, mit der sie seit der Lustigen Witwe über ihre Bestandteile gebietet. Vor allem aber kennzeichnet es den Charakter ihrer Libretti. Die These vom Warenhaus Operette1 beschreibt solche Phänomene als für das letzte Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg gattungstypische.108 Sie reichen bei den Texten von Sujet und Milieu, das sie darstellen, von Themen und Haltungen, die sie zur Sprache bringen, bis in Details. So müssen die Bücher der Salonoperette

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Hans F. Redlich, Zur Typologie der Operette, in: Anbrach, 11. Jhg., Berlin März 1929, Hft. 3, S. 97 Ludwig Thoma, Männer von Berlin!, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 8 Ausgewählte Gedichte und Aufsätze, München 1956, S. 430 - Es ist Ironie des Schicksals, daß das 'Große Schauspielhaus' in Berlin, um das es hier geht, in den 20er Jahren tatsächlich zum Revue- und Operettentheater wird. Die Bücher der Salonoperette lassen ihre Autoren nicht mehr erkennen. Sie sind von solcher Anonymität, daß eine Unterscheidung zwischen ihnen hinfällig wird. Dies trifft sowohl auf Victor Léon und Leo Stein als auch auf Alfred Maria Willner und Robert Bodanzky zu, Lehárs bevorzugten Librettisten dieser Zeit. Daher kann im Folgenden nicht individuell auf sie eingegangen werden (siehe III.). Dennoch haben die Bücher der Salonoperette phänomenologischen Reiz und sind darüber hinaus nach einem von Victor Holländer zitierten Wort ausschlaggebend für den Erfolg: "Wenn das Buch gut ist, kann die Musik dreist etwas schlechter sein; ist die Musik himmlisch und das Buch schlecht, kräht kein Hahn nach solcher Operette." (Julius Fritzsche, zit. n. Victor Holländer, in: Die Scene, 19. Jhg., Berlin Februar 1929, Hft. 2 - Die Krisis der Operette, S. 61)

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sich's gefallen lassen zu jenen Gebrauchsartikeln gerechnet zu werden, welche dem Bürger zur behaglicheren Ausstattung des täglichen Lebens dienen [...] wie Warenhäuser, Automobile, sexuelle Aufklärung [...], wie all jene wohlfeilen Surrogate, welche in unseren Tagen die Illusion von Bildung und Luxus unter die Massen tragen.109

Internationalisierung Π In den Sujets der Salonoperette macht sich jene Intemationalisierungstendenz, die Musikdramaturgie und Rezeption kennzeichnete, am deutlichsten bemerkbar. Lokales und Folkloristisches wird an den Rand gedrängt, und wo es zum Stoff einer Operette wird, wie in Lehárs Zigeunerliebe von 1910, bleibt es lose Hülle über der unveränderten Handlungsschablone. Der Zigeuner Józsi hat mehr mit den Außenseiterfiguren aus Lehárs Spätwerk als mit klassischen folkloristischen Typen zu tun. Auch die gesellschaftlichen Beziehungen ändern sich gegenüber der klassischen Operette. Die Helden der Operette begeben sich scheinbar weltmännisch aufs internationale Parkett, ihre Residenzen sind nunmehr die der 'oberen Zehntausend', ganz gleich ob mit oder ohne Adelsprädikat [...]. Der Grond dafür mag in dem sich bereits Anfang des Jahrhunderts abzeichnenden politischen und gesellschaftlichen Umbruch in Europa zu . . 110 suchen sein.

Beispiel eines solchen Helden ist der Graf von Luxemburg, der seinen Adelstitel für Geld verkauft und in der Bohème lebt. Trotz der zeitgemäßen Abkehr von der aristokratischen Fixierung ihrer Figuren bleibt die Salonoperette den alten gesellschaftlichen Werten verhaftet. Sie stellt sie jedoch als offen dar: Angèle Didier, eine Opernsängerin, kann René, einen Graf von Luxemburg, ehelichen. "Was gilt jetzt Name, was Rang und Stand?"111

Schwankthematik Die adligen Helden erweisen sich als Idol ihres bürgerlichen Publikums, das in der Salonoperette sich in ihnen wiederfinden kann. Der bürgerlich sich gebende Graf von Luxemburg ist Sympathieträger, nicht der dem alten Ari109 110 111

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Klaus Pringsheim, Operette, a. a. 0., S. 185f. Ingrid Grimberg, a. a. O., S. 64 Franz Lehár, Schön ist die Welt!, Operette in drei Akten von Ludwig Herzer und Fritz Löhner, Musik von — , Klavierauszug mit Text, Originalausgabe des Komponisten, Leipzig/Wien/New York o. J., S. 70

stokratentypus der klassischen Operette entsprechende Fürst Basil. Das Sujet der Operette verbindet sich mit dem bürgerlichen des zur gleichen Zeit in Blüte stehenden Schwanks. Mit der Salonoperette hat er "gemeinsame thematische Schwerpunkte [...] - erotische und geldliche Vermögenszwiste."112 So stellt das zweite Finale der Lustigen Witwe eine typische Schwanksituation dar: Der sich betrogen wähnende Ehemann, das versteckte Liebespaar, der heimliche Tausch der beiden Frauen, der sich dadurch wiederum betrogen fühlende Liebhaber gehören zu den Bestandteilen der großen 'scène à faire' des Schwanks. Die Fledermaus bringt diese Thematik zum ersten Mal in der Operette auf. Das ihr zugrunde liegende Stück ist nicht zufallig der Schwank Le Reveillon der Offenbach-Librettisten Meilhac und Halévy.113 Von nun an beziehen die meisten Operettenbücher ihren Stoff aus französischen Lustspielen. Die Handlung der Lustigen Witwe etwa basiert auf der Komödie L'Attaché desselben Meilhac. Ganz richtig ist denn auch Karl Kraus Die Fledermaus, als "reales Lustspiel mit Gesang, der eigentliche Ausgangspunkt der Richtung, die über den Opernball zur Lustigen Witwe, zum Greuel der Salonoperette geführt hat."114

Salon und Fest Auch der Begriff Salonoperette stammt gattungsgeschichtlich vom Schwank. Von ihm ist ihr (nach oben und unten) offenes gesellschaftliches Milieu übernommen, das der Salon repräsentiert. Ein Publikum, "dem die Welt des vornehmen Salons stets als feines Lebensideal vorschwebte,"115 kann in solchem Milieu sich wiederfinden. Es entspricht seinem Rezeptionsverhalten, die Operette als Spiegel seiner selbst zu betrachten. Die gesteigerte Fortsetzung des Salons aber ist das Fest. Wie schon Die Fledermaus hat jede Salonoperette einen Akt mit Fest. Er bietet den Rahmen für die entscheidenden "Drehpunkte, Höhepunkte und Zielpunkte des musikdramatischen Geschehens durch Tanzsituationen"116 - wie sie die Salonoperette darüber hinaus als Tanzoperette kennzeichnen. Daß "jeder Akt ein Ballfest"117 ist, macht die 112 113 114 115 116 117

Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, S. 186 Offenbachs 'Pariser Leben' kommt hier nicht in Betracht. Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, a. a. O., S. 12 Karl Westermeyer, S. 98 Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, S. 239 Volker Klotz, Wann reden - wann singen - wann tanzen sie? - Zur Dramaturgie der Tanzoperette bei Lehár, Kálmán, Künneke und anderen, in: Drama und Theater im

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Lustige Witwe "zum Musterstück unter ihresgleichen im zwanzigsten Jahrhundert."118 Die Gesellschaft des Salons vermittelt den Eindruck, es "wäre das Leben nichts anderes als eine Folge von Festen [...]. Es sind sehr rührende Wesen, eine Art von Nachtvögeln, die Angst vor der Wirklichkeit haben, den Tag scheuen."119

Innere Handlung I Ehe vom Verhältnis der Salonoperette zur Wirklichkeit die Rede sein kann, wäre die romantisch-sentimentale Grundhaltung ihrer - nach Carl Dahlhaus 'inneren Handlung' zu beleuchten. Beispiel dafür wäre das Vilja-lied (Nr. 7) der Lustigen Witwe. Seine volkstümliche, romantische Erzählung soll "inmitten der mondänen Turbulenz des Festes den Bereich sichtbar machen, in dem die eigentliche Handlung, das Märchen vom Landmädchen und dem Grafen, spielt"120 In ihm kommt die Scheu der Figuren vor der Wirklichkeit als Märchen zum Ausdruck. Diese Scheu erstreckt sich bis in den emotionalen Kem der Figuren, das sogenannte 'Herz', von dem zu reden, die Operette nie müde wird. Es ist der eigentliche Gegenstand der 'inneren Handlung', die von nichts anderem erzählt, als vom Weg, auf dem zwei Herzen sich treffen. Dies Herz' ist mit der Figur noch nicht im Einklang. "Noch ist das Subjekt nicht in sich fest, identisch gefügt. Unabhängig von ihm regen sich Affekte, Mut und Herz."121 Das Gebot: "Schweig, zagendes Herz",122 dem die Lyrische Operette ihre Figuren verpflichtet, bleibt in der Salonoperette ungehört. Im Liebesgeständnis zweier Herzen hält sie die Utopie fest, Märchen und 'innere Handlung' zu realisieren. In der Lustigen Witwe wird dies thematisiert, wenn weder Hanna noch Danilo den schweigenden Lippen ein wechselseitiges Ich hab dich lieb' zu entringen vermögen. Die Scheu, dies Wort, um das die ganze Operette kreist, auszusprechen, überwindet auf einer anderen Ebe-

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20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hink, hrsg. v. Hans Dietrich Irmscher und Werner Keller, Göttingen 1983, S. 112 Ebd. Jérôme Savary, a. a. O. Carl Dahlhaus, Zur musikalischen Dramaturgie der "Lustigen Witwe', a. a. O., S. 662 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 71 Franz Lehár, Fürstenkind, Operette in einem Vorspiel und zwei Akten (teilweise nach einer Erzählung About's) von Victor Léon, Musik von — , Klavierauszug mit Text, London/Leipzig/Wien/Paris o. J., S. 88

ne erst die Musik. In einer entfremdeten Welt liegt in solchem Wort die klingende, doch unausprechliche Magie einer noch möglichen Identität. Das Vilja-Lied ist die Erzählung seiner Realisierung im Märchen.

Märchen Das Märchenmotiv in Form eines Liedes der Protagonistin durchzieht das gesamte Lehársche Oeuvre bis hin zum "Einer wird kommen" (Nr. 3) des Zarewitsch. Als Märchen antizipiert die 'innere Handlung', was die äußere im Happy-End einzulösen hat. "Die Texte sind voll von Märchenzügen wie jenem, daß das Wirkliche aus dem Bild [...] hervortritt."123 Explizit macht das Entrée der Protagonistin (Nr. 2) in Eva dies zum Thema. "Wie im Fieber" (EVA 12) stellt sie sich ihre Mutter vor. Sie erscheint ihr "wie eine Märchenkönigin" (Ebd.) und zieht den Schluß, von dem aus die 'innere Handlung' ihren Ausgang nimmt: "So möcht' ich sein, / umstrahlt von des Märchens lockendem Schein" (EVA 14). Entsprechend der Wunschstruktur des Märchens tritt dies nach schwerer Prüfung und der Dramaturgie der Salonoperette auch tatsächlich ein. Eva weiß das, wenn sie ihren Prinzen fragt: "Wem gleich ich? - Dem Aschenbrödel im Königsaal. / So wird das Märchen wirklich wahr" (EVA 94f.). Wie aus dem Fabrikmädel Aschenbrödel, aus dem Fabrikbesitzer ein Märchenprinz wird, ist Stoff der 'inneren Handlung'. Auch in der Lustigen Witwe ist es einer der Protagonisten, der die 'innere Handlung' durch ein Märchenzitat beschriebt. Danilos Lied von den Königskindern, die "zusammen nicht kommen" (LW 112) können, übersetzt das Märchen in die eigene unglückliche Situation, der es überraschenderweise unterliegt. Die Wunschstruktur des Märchens mündet raffiniert in den Konflikt des 'tragischen' zweiten Finales. In der Salonoperette jedoch fordert das ins Reale transportierte Märchen sein Recht, indem die Verhältnisse sich umkehren: die scheinbar wirklich unglückliche Situation entpuppt sich als märchenhaft glückliche, das Märchen als die echte Operettenwirklichkeit. Das Grundmotiv der "zwei Königskinder [...], die [...] zusammen nicht kommen" (LW 112) können, durchzieht von da an deutlich die Operettengeschichte, wiederholt als 'innere Handlung' sich in jedem Sujet und bezeichnet antagonistisch jenes entscheidende Illusionsmoment, das der Schwankthematik der Salonoperette seine Richtung erst gibt und den dramaturgischen Konflikt der

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Theodor W. Adomo, Versuch über Wagner, S. 117

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Handlung erst motiviert. Das scheint im Widerspruch zur Internationalisierungstendenz ihres Sujets zu stehen, doch gerade in der Durchkreuzung von gefühlvoller Einfalt und ausgepichter Urbanität, von Hinterwäldlertum und demier cri der Mode, liegt einer der ausschlaggebenden Griin. 124 de

des Erfolgs bei einem in sich diffusen Publikum. Dennoch wird "kein imaginäres Traumland [...] gefordert, sondern die Wirklichkeit, aber nicht die tatsächliche Wirklichkeit, sondern die der Klischees."125

Gegenwartscharakter Wie in der 'Schaubühne' 1913 zu lesen, begann "der Niedergang der Operette [...], als einige Librettisten den Schauplatz der Handlung in die Gegenwart verlegten."126 Tatsächlich kennzeichnet die Salonoperette nicht nur, daß sie Gegenwartsstoffe verwendet, sondern daß sie darüber hinaus aktueller Zeitthemen sich annimmt, als 'moderne' Operette. Unter jedem Personenverzeichnis ist vermerkt - Zeit der Handlung: Gegenwart. In fast jedes Sujet der Lehárschen Salonoperette ist ein Gegenwartsthema einbezogen. So behandelt Der Mann mit den drei Frauen (1908) den Massentourismus oder Endlich allein (1914) den alpinen Sport als damals aktuelle Modeerscheinungen. Noch in Frühling (1922) bildet die Wohnungsnot der zwanziger Jahre die Handlungsgrundlage. Sogar politische Zeitgegebenheiten kommen vor, bleiben allerdings in ihrer schlagzeilenartigen Behandlung bloßer Anlaß modischer Aktualität, so in der "Damenwahl' des ersten Finales der Lustigen Witwe (Nr. 6), wenn St. Brioche verkündet: "Es kämpfen die Damen schon lange / um das nämliche Recht mit dem Mann. / Jetzt haben Madam' hier das Wahlrecht / und fangen damit gar nichts an," (LW 41) Hanna Glawari antwortet: "und gibt mir das Ballrecht das Wahlrecht, / erfüll ich die Ballbürgerpflicht," (LW 43) - und Danilo diesen Wahlkampf "fast nach den Regeln der Marktwirtschaft [gewinnt]. Erster Zug: Konkurrenzkampf, [...] zweiter Zug: Überreizung des Tauschwerts."127 124 125

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Ebd., S. 664 Dorothee Bayer, Falsche Innerlichkeit, in: Trivialliteratur, hrsg. von Schmidt-Henkel, Berlin 1964, S. 223, zit. n. Robert Dressler, Die Figuren der Wiener Operette als Spiegel der Gesellschaft [Diss.], Wien 1986, S. 15 Felix Günther, a. a. O., S. 840 Volker Klotz, Wann reden - wann singen - wann tanzen sie?, a. a. O., S. 108

Weiter geht das beinahe Brechtsche Motiv einer Räuberbande, die längst schon in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, im Fürstenkind (1909). Eva (1911) thematisiert schließlich in der sozialen Frage ein aktuelles politisches Sujet, wie es "vom Gesichtspunkt der music-hall zu verstehen war."128 Die sich aus einem solchen Gegenstand ergebenden Widersprüche zu den gesellschaftlichen und thematischen Konstanten der Operette wären in einem anderen Zusammenhang zu beschreiben. Die Integration von Zeitthemen jedoch hat in der Salonoperette die Funktion, Nähe zum Publikum zu suggerieren, einem Publikum, das "unvermittelt aus den Tagesgeschäften gekommen ist, und nicht Lust hat, sich nun in eine ungewohnte Geisteswelt zu versetzen - darum: Alltäglichkeit."129

Die Operette als Ort der Alltäglichkeit Die Operette als Ort der Alltäglichkeit? Das scheint paradox genug. Aber gerade daß Alltäglichkeit in ihr gehobenes Milieu einbezogen wird, kennzeichnet die 'moderne' Salonoperette. Analog zur Vielfalt der musikalischen Stile ist auch ihr Sujet gemischt. Das Warenhaus Operette thematisiert die 'Tagesgeschäfte' seines Publikums, indem es sie ihm als Nebensache hinstellt. Ihr Geschäft ist die Banalisierung der Realität. Der Ernst einer Berufswelt, die keinen Spaß mehr versteht, wird hier kompensiert. Die Operette hilft dem Zuschauer, "die durch das Prinzip der Arbeitsteilung gewordene Monotonie seiner gewohnten Beschäftigung zu ertragen."130 Der Operettenalltag steht im Zeichen dessen, was der Berufsalltag unterdrückt, eines Spiels mit der Wirklichkeit; sein Schlagwort ist Amüsement. Wo die Arbeit gar keine Freude mehr macht, muß die Kunst herhalten, Spaß zu sein, fröhlicher Schwindel, aufgesetztes Happy-End. Das hält den Hörer bei der Stange; am Ende [...] wird jeder etwas kriegen und zwar, ohne daß das geringste an der vorliegenden Wirklichkeit geändert werden müßte, [...] rosarote Aufstiege, als wären sie in der gegenwärtigen Gesellschaft die Regel, und nur der Zufall hätte sie fur den zufälligen Beschauer verhindert.131

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Arthur Maria Rabenalt, Operette als Aufgabe, S. 19 Klaus Pringsheim, Operette, a. a. O., S. 182 Ferdinand Scherber, Die Operette, in: Neue Musik-Zeitung, 26. Jhg., Stuttgart/Leipzig 10. November 1904, Nr. 3, S. 46 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1978, Bd. 1, S. 513 51

In der Operette spielt der Zufall Schicksal, wenn sie frivol zum Prinzip erhebt, man müsse "das Schicksal biegen, bis sich beide kriegen."132 Das im Zufall begründete Spiel mit der Wirklichkeit sieht über deren Ernst hinweg. Der Operettenheld dieser Zeit ist nichts als Repräsentant solcher Haltung. Zwar schon immer hat er Realitäten nicht ernst genommen, doch indem er mit konkreter Wirklichkeit wie Büro, Fabrik etc. konfrontiert wird - und das ist wirklich neu an den 'modernen' Operetten - wird der einst befreiende Akt zwanghaft, da er solche Realität nicht mehr zu verändern vermag. Zwang wird nicht mehr aufgehoben, indem Operette, wie bei Offenbach noch, seine Ursachen lustvoll beseitigt; was ihr einzig bleibt, ist, ihn vergessen zu machen, unter dem Schlagwort der Fledermaus: "Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist"133 Indem aber die Salonoperette den Zwang des Realen vergessen machen will, muß sie seine Ursachen banalisieren. Das kann ihr im Zeichen des Amüsements nur dadurch gelingen, daß sie spielerisch "das Leben dutch's Champagnerglas betrachtet."134

Exkurs I: Banalisierung des Alltags vermittels Maxim Als Muster solcher Haltung kann das Maxim-Lied (Nr. 4) der Lustigen Witwe gelten. Seine Coupletstrophen vollziehen genau solche Banalisierung des Alltags, wenn Danilo singt: "Um eins schon bin ich im Büro" (LW 32) - als ob es eine Arbeitszeit nicht gäbe - um dann "gleich drauf anderswo" (Ebd.) zu sein, "weil man den lieben langen Tag / nicht immer im Büro sein mag"(Ebd.). So wird Amüsement als Moment selbst im Bürodienst gerettet und Adornos Satz, dies "Amüsement [...] [sei] die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus"135 frivol umgedeutet Und weiter bemerkt Danilo: Erstatte ich beim Chef Bericht, So tu ich's meistens selber nicht, Die Sprechstund halt ich niemals ein,

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Franz Lehár, Schön ist die Welt!, S. 58f. Johann Strauß, Die Fledermaus, Operette in drei Akten nach Meilhac und Halévy von Carl Hafner und Richard Genée, Musik von — , Vollständiger Klavierauszug mit Text von Anton Paulik, Wiesbaden/Bruxelles/London 0 . J., S. 47 Emmerich Kálmán, Die Zirkusprinzessin, Operette in drei Akten von Julius Brammer und Alfred Grünwald, Musik von - - , Klavierauszug mit Text, Wien/Leipzig 1926, S. 30 Theodor W. Adomo / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 162

Bin Diplomat muB schweigsam sein. Die Akten stapeln sich bei mir, Ich find', es gibt zuviel Papier (Ebd.).

Chef, Akten, den ganzen Alltag so mit einer Floskel erledigen, führt dem Zuschauer Lebenskunst als Banalisierung vor. Die folgende Strophe liefert den Kommentar zu solcher Wirkung: Kein Wunder, wenn man soviel tut, Daß man am Abend gerne ruht Und sich bei Nacht, was man so nennt, Erholung von der Arbeit gönnt (Ebd.).

Danilo geht "zu Maxim" (Ebd.), der Zuschauer erlebt Maxim im dritten Akt der Lustigen Witwe selbst - mit demselben Resultat: "Sie [die Grisetten von Maxim] lassen mich vergessen..." (Ebd.). Die Operette verschafft so dem Zuschauer Zutritt in eine Lebewelt, den ihm sein Alltag meist verwehrt. Aber indem sie diesen Alltag thematisiert, stellt sie eine Verbindung zwischen ihrer und der Welt des Zuschauers her. Für Karl Kraus verbirgt sich denn hinter der Figur des Danilo "der sieghafte Übericommis, [...] der tanzende Prokurist,"136 der Repräsentant einer Angestelltengesellschaft "des Weltwarenhauses unserer Kultur."137 Er ist "die Figur, die beim Bleigießen unserer Lebenswünsche zustande kam."138

Exkurs II: Gesellschaft und Fabrikmädel Dieser Gesellschaft am nächsten kommt Lehárs Eva. Als 'soziale' Operette, die erste ohne aristokratische Beteiligung, spielt sie unter kapitalistischer Lebewelt, Angestellten und Arbeitern. Der Protagonist ist Fabrikbesitzer, der, dem von Karl Kraus zitierten Programmheft zufolge, "in seinem zweiten Buchhalter Prunelles einen Mann von großstädtischen Sehnsüchten findet, der oft nach Paris heriiberreist und die neuesten Schlager der Varietes

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Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, a. a. O., S. 2ff. "'Ebd. 138 Ebd. - Entzauberte die Operette Offenbachs ihre Götter, indem sie sie in Zeitgenossen verwandelte, verwandelt Lehárs Operette Zeitgenossen in Götter einer säkularisierten Lebewelt - Prokuristen in Grafen, Prinzen ... etc.. Aus der Banalisierung des Alltags wächst solche Veredelung.

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kennt."139 Er entspricht genau der Leitfigur des 'tanzenden Prokuristen' "unter Larven also die einzig fühlende Brust."140 Der von beiden vertretenen Welt steht die Titelgestalt entgegen. Eva, die Arbeiterin, bringt, wie bereits erwähnt, das Märchenmotiv in die Operette. Der Widerspruch zwischen sozialen Verhältnissen und Märchen trennt die Protagonisten, Fabrikherr und Fabrikmädel; "das neue Aschenbrödel wie der neue Prinz führen ein zwiespältiges Leben, aus dem sie einander wechselseitig erlösen."141 So führt der Prinz das Aschenbrödel ein in "das elegante Milieu" (EVA 75) seines Operettenlebens: "Qeidenschaftlich [ruft er]: Eva' [...], dann zündet er sich gelassen eine Zigarette an" (EVA 51). Umgekehrt weiht sie ihn in Wonne und Leid echter Operettenliebe ein: "Wärst wohl bei mir das erste Weib, / das mir mehr als galanter Zeitvertreib" (EVA 84). Noch ist er dazu nicht fähig - das Eheversprechen, das er ihr gab, um die aufgebrachten Arbeiter zu beruhigen, war nur "Effekt. [...] [Eva] weicht vor ihm wie vor einer Natter zurück." (EVA 123ff.) Allen Konflikten zum Trotz muß auch in der 'sozialen' Salonoperette das Märchen im Happy-End triumphieren: "Beide müssen sich angleichen, um sich zu kriegen".142 Der innerlich gereifte Fabrikherr heiratet das arme Fabrikmädel, nachdem es sich in eine Pariser Lebedame verwandelt hat. Die soziale Frage wird zum Groschenroman banalisiert. Aber die Diskrepanz von Sujet und Genre rächt sich. Die Banalisierung der Realität schlägt in ihr Gegenteil um. Die gesellschaftlichen Verhältnisse kompromittieren das Märchenmotiv. Deutlich kommt gegen alle Verklärung der soziale Hintergrund zum Vorschein. Wenn Octave Flaubert, der Fabrikbesitzer, seinen Arbeitern verkündet: "Arbeit macht das Leben süß, so heißt hier die Parole / und dient sie, das ist ganz gewißy dem allgemeinen Wohle" (EVA 59f.), um seinem 'seelenvollen' Buchhalter zu gestehen: "Naja, das sieht man mir doch an, / ich hab noch nie etwas getan" (EVA 78) - dann läßt er keinen Zweifel am Hintergrund solchen Wohls. Indem sie feststellt "schwach gestellt, / ist ein Held / ohne Geld" (EVA 88), demontiert die Operette in Eva ihr eigenes Märchen: "Bettler sind reich, / Königen gleich" (ZL 25). Ungewollt verfällt sie gesellschaftlichen Realitäten, wie sie Eva von Octave als unversöhnlich mit dem Märchen vorgehalten weiden: "kein Märchen, nein, das Leben" (EVA 100). Der Grund des Scheitems eines Experi-

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Karl Kraus, Der gelehrte Musikgelehrte, in: Ders., Die Fackel, Bd. 6, XIV. Jahr, März 1913, Nr. 370-71, S. 19 Ebd. Volker Klotz, Operette, S. 453 Ebd., S. 451

ments 'soziale' Operette ist weniger im Sujet zu suchen, das in Wildenbruchs Haubenlerche Jahre zuvor ein sehr erfolgreiches trivialnaturalistisches Drama abgab, als vielmehr in der Diskrepanz zur Tendenz der Salonoperette Zeitthemen als bloße Folie ihres Milieus, als Anlaß zur Banalisierung und als Demonstrationsobjekt ihrer Lebenshaltung zu benutzen. Gerade aber als Mißverständnis erweist Eva sich als aufschlußreich für die Thematik ihrer Gattung zwischen Märchen und Gegenwartscharakter.

"Legitim, anders nicht" oder "Ganz egal scheint Moral" / Operettenfrivolität Und löst nicht zuletzt deshalb bei den Zeitgenossen eine der heftigsten Operettendebatten aus. Während dies Mißverständnis für die "Freie Neue Presse' gar zum Propagandamittel der Sozialdemokratie wird, beschwichtigt Direktor Karezag sein Publikum folgendermaßen: Immer und immer lese ich, daß Franz Lehár in seiner Operette Eva sozialistische Probleme lösen wollte - Ja, um Gottes Willen, wo kommt in diesem musikalischen Werk nur ein einziges Wort von sozialistischen Problemen vor? Weil Arbeiter revoltieren ist das Sozialismus? [...] In Eva wollen die Arbeiter ihre Eva gegen den jungen Fabrikherrn schützen, der sie verführen will. Das ist doch eine einfache menschliche An143 gelegenheit und hat mit Sozialismus nichts zu tun.

Auch die Liebe ist schließlich eine - wenn auch minder einfache - menschliche Angelegenheit, die der Operette keineswegs einer Arbeiterrevolte nachsteht, ist doch "die Liebe [...] der größte Bolschewik!"144 Der in Eva zum Vorschein gekommene Widerspruch zwischen der aus dem Märchenmotiv romantisch entwickelten Handlung und der aus der Banalisierung der Realität gewachsenen Haltung der Figuren durchzieht die Texte sämtlicher Salonoperetten Lehárs. Entspricht die Handlung der Salonoperette den Mustern bürgerlicher Moral, werden ihre Grenzen in den Gesangseinlagen oft überschritten - "schamlose Spekulation auf der einen Seite, auf der anderen schamhafter Selbstbetrug."145 Ist das Märchenmotiv bei Lehár dem weiblichen Protagonisten vorbehalten, repräsentiert der männliche die genießerische Haltung, welche die Salonoperette ihrem Publikum vermitteln will. Ihre Maxime heißt Amüsement. Sie prägt der Banalisierung der Realität das Zei-

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Wilhelm Karezag, a. a. O., S. 13 Franz Lehár, Schön ist die Welt!, S. 89 Klaus Pringsheim, Operette, a. a. O., S. 186

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chen jener Operettenfrivolität ein, die ein Spiegel bürgerlicher Doppelmoral geworden ist. So findet die Salonoperette in der "Verquickung von Kunst und Zote die denkbar glücklichste Methode,"146 moralische Werte zu ironisieren, ohne sie zu leugnen. Die frivole Haltung ihrer Figuren schlägt nie in Handlung um - sie äußert sich allein in den Gesangstexten. Mögen sie sich noch so freizügig ihrer erotischen Phantasie ergeben, der Dialog holt die Figuren zurück auf den Boden bürgerlicher Moral. Die Operettenhandlung kennt sexuellen Kontakt nur "legitim, anders nicht"(GVL 148).147 Dem widerspricht die sexuelle Freiheit, der ihr Text frönen will. Der Operettentext arbeitet mit Andeutungen innerhalb der Grenzen eines Spiels mit dem moralischen System, das den Zuschauer miteinbezieht. Was angedeutet wird, mag der Zuschauer ergänzen. "Gerade weil er ein solches System anerkennt, darf er sich freuen, es insgeheim zu übertreten; dazu lädt ihn die Operette auf charmante Weise ein."148 Ist der Kuß als einzige erotische Handlung auf der Bühne darstellbar, bildet er eine Grenze dieses Spiels, über die hinaus alles andere angedeutet werden muß, wird er schließlich zum Synonym des angedeuteten Geschlechtsakts selbst. Wenn Lehárs Paganini die Frauen gem geküßt hat, weiß der Zuschauer, daß es beim Kuß nicht blieb. "Gegen Lieder Küsse tauschen" (ZL 89) wird dem Operettenhelden Verpflichtung, denn "diese Lippen wollen küssen, / müssen küssen"149 und auch die "Weiber sind bekanntlich nur zum Küssen da."150 Was die Operette so "feurig titanisch, / ganz polygamisch, / vulkanisch, satanisch"151 propagiert, steht zwischen den Zeilen des Dargestellten, "nicht um das Publikum durch den vorgehaltenen Spiegel zu bessern, sondern ihm durch anzügliche Schilderungen geheime Sehnsüchte zu befriedigen."152 Aufgrund solcher Haltung ist die Salonoperette nach Karl Kraus' Dictum "Vorwort zu den grölenden Freuden des Nacht146 147

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Ebd. Adomo spricht im Zusammenhang der Lustigen Witwe' von jener schmunzelnden "Zweideutigkeit, die ein namenloses Unheil anrichtete, indem sie weithin jede freimütige erotische Fragestellung diskreditierte." (Theodor W. Adomo, Frankfurter Opern- und Konzertkritiken. Januar 1934, a. a. O., S. 249f.) Maitin Lichtfuss, S. 105 Franz Lehár, Cloclo, Operette in drei Akten von Béla Jenbach, Musik von — , Klavierauszug mit Text, Berlin/Wien/München 1924, S. 41 Franz Lehár, Frasquita, Komische Oper in drei Akten von Alfred Maria Willner und Heinz Reichert, Musik von , Neufassung nach der Aufführung an der Opéra comique in Paris, Vollständiger Klavierauszug, Berlin/Leipzig/Wien o. J., S. 96 Ebd., S. 97 Hartmut Gromes, Vom Alt-Wiener Volksstück zur Wiener Operette [Diss.], München 1967, S. 71

lebens"153 geworden. Findet die Verbindlichkeit bürgerlicher Moral des Alltags in der Operettenhandlung ihre Entsprechung, so jenes freizügig sich gebende Nachtleben in der Operettenfrivolität des Festes. Die Nacht wird zum Freiraum einer organisierten Welt, zum Ort der Verwandlung: Bei Tag bin ich nicht zu sehn, Meine Sterne leuchten in der Nacht [.·. ]. Um halb zehne Werd ich zur Hyäne

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Und stürz mich ins ewig Weibliche hinein.

Der Bürger wird zum Lebemann Folgend seinen wilden Trieben, Ist er auf das Weib erpicht. Bestenfalls kann er noch lieben, Aber treu sein kann er nicht. Denn das Fleisch ist leider schwach.133

In der Operettenhandlung aber wird er konträr vom Lebe- zum Ehemann. Der Held muß jene ersehnte Welt verlassen, "und g'rad die halbe, die so gefällt" (EVA 21), um zu heiraten. Er wird - in den Worten der Operette solid. Zwar ist schon in der Lustigen Witwe "die Ehe ein Standpunkt, der längst überwunden" (LW 108), gilt noch in Cloclo (1924) die Parole: "Gegen Damen sei galant/ und vergiß den Ehestand."156 Die Handlung der Salonoperette aber erzwingt das Happy-End allgemeiner Verheiratung. Ohne seine frivole Haltung geändert zu haben, geht ihr Held zur reinen Liebe über. "Ganz egal / scheint Moral / in dem Fall"157 - doch sie scheint es nur. Von diesem Schein einer im Erotischen begründeten, privaten Freiheit läßt sich das selbst darin gebundene Operettenpublikum gerne trügen.

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Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, a. a. O., S. 12 Franz Lehár, Die blaue Mazur, Operette in zwei Akten und einem Zwischenspiel von Leo Stein und Béla Jenbach, Musik von — , Klavierauszug mit Text, Leipzig/Wien/ New York o. J..S.22 Ebd., S. 16ff. Franz Lehár, Cloclo, S. 25 Ders., Frasquita, S. 145

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"Morgen geht vielleicht in Trümmer die Welt" / Operettenfatalismus Die von den Figuren der Salonoperette zur Schau gestellte Frivolität ist ihnen ebenso zwanghaft wie der unvermeintliche Gang der Handlung. Der Schein von Freiheit, den die Operette in Haltung und Handlung zu wahren versucht, stellt sich als Zwang von Realitäten heraus (Beispiel: Eva). Wenn Eva beinahe verzweifelt bittet: "Herrgott, laß mir meinen Leichtsinn nur, / mach mich bitte nicht zu g'scheid, [...] laß mich denken nur ans Heut" (EVA 144), spricht sie die Haltung einer Epoche aus, die u.a. in ihrer Operettenrezeption vor der Wirklichkeit bewußt die Augen verschließt: Bestimmung, Fatum, das ist alles, Wer kann etwas dagegen tun. Das Beste ist's, sich treiben lassen Und mit dem eig'nen Willen ruhn(EVA 16).

Der Fatalismus einer Gesellschaft, die ihrem Untergang zutreibt, gewinnt vor dem Hintergrund der Geschichte, die sie ausschalten will und die sie selbst im Schein der Operette einholt, apokalyptische Dimension: Die Operetten "managen den Weltuntergang."158 In der Zigeunerliebe formulieren sie ihr eigenes Motto: "Heute ist heute. / Morgen vielleicht geht in Trümmer die Welt. / Frag nicht! Genieße!" (ZL 72)

Textfaktur Der Text der Salonoperette zerfallt in zwei Teile: den gesprochenen Dialog, der meist sehr umständlich die Handlung voranbringt (Beispiel: Graf von Luxemburg), und die pointierten Gesangstexte. Letztere wären mit Thema und Haltung der Operetten in Verbindung zu bringen.159 Sie sind nach bestimmten Mustern geschrieben, die einen individuellen Autor nicht mehr erkennen lassen. Je anonymer sie sind, desto besser erfüllen sie ihre Funktion, nämlich ihr Thema und die Haltung der Figur sichtbar zu machen. Die Gesangstexte sind - weitaus deutlicher als die Musik - schematisch nach Strophe und immer gereimten Versen gearbeitet. Wie die Musik von der Oper

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Karl Kraus, Ritter Sonett und Ritter Tonreich, a. a. O., S. 8 Ungeachtet der Polemik von Karl Kraus, derzufolge "eine vielleicht physiologisch nachweisbare Idiotie berufen ist, dem Operettengedudel den Text anzumessen." (Karl Kraus, Offenbach-Renaissance. Zum Vortrag von "Pariser Leben', in: Ders., Die Fackel, Bd. 10, XXIX. Jahr, April 1927, Nr. 757/58, S. 39)

zum Schlager, von der Kunst zur Massenkultur versuchen sie den Bogen von der dichterischen zur Umgangssprache zu spannen. Diese 'dichterische' Sprache besteht vornehmlich aus zitierten Klischees der Triviallyrik. Ihre Methaphorik ist dürftig - und blumig: "Wie eine Rosenknospe im Maienlicht erblüht, / so ist in meinem Herzen die Liebe aufgeblüht..." (LW 93). Gerade an der Umgangssprache regenerieren sich ihre Floskeln. Wie ihre aktuellen Zeitthemen die Verbindung zum Publikum herstellen, suggerieren die modischen Sprachwendungen der Salonoperette 'Modernität' im rezeptionsbedingten Sinn. Diese Sprache paßt sich zwar den unterschiedlichen Sujets an, bleibt aber im Charakter unverändert. Analog zur musikalischen Stilmischung bietet sie dem Zuschauer die Illusion der Verfügbarkeit ihrer Gegenstände, wenn z.B. von Paris, Ostende, Monte Carlo die Rede ist, von kostbaren Toiletten, Brillantenen, prachtvollen Soupers, Tennispartien, livrierten Dienern J„.] und sonst von Dingen, die ein meskines Parfum von Allerweltseleganz verbreiten.

Schlagworte Die Aura der Gegenstände, über die er verfugen möchte, sucht der Text im einzelnen Wort. Worte enthalten ihm bereits den Inhalt seiner Gegenstände. "Damit aber wird das Wort, das nur noch bezeichnen und nichts mehr bedeuten darf, so auf die Sache fixiert, daß es zur Formel erstarrt" 161 , zum Schlagwort verkommt, als Aufhänger einer weiter aufzurollenden Assoziationskette, wie in der Musik der Refrain. Das Wort 'Maxim' etwa in Danilos Entrée drückt eine ganze Lebenshaltung aus, die in den Coupletstrophen erst ausgebreitet und vermittelt wird, ehe sie im Refrain schlagend zum Ausdruck kommt. "Solch ein Wort ist der konkrete Kristallisationspunkt des" 162 Gesangstextes. Ein solcher Kristallisationspunkt aller Operettenprojektion ist bis zum Ersten Weltkrieg das Wort Paris: Olala Paris, das fasziniert, Spricht man's aus,

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Klaus Pringsheim, Operette, a. a. O., S. 181 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 192 Theodor W. Adorno, Schlageranalysen (1932), in: Ders., Gesammelte Schriften 18, S. 782

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Wird daraus Ein Cancan.163

Die Operette verleiht dem ausgesprochenen Wort die Macht der Verwandlung - und es erklingt sein tönendes Abbild. Im Text von Eva, paradigmaüsch für die Lehár-Operette dieser Zeit, vereint im Wort Paris' sich der Assoziationsgehalt einer ganzen Epoche. Allein schon "wenn die Pariserin spazierenfährt, [...] so smart und leger in ihrem Wagen, / daß allen Bummlern gleich die Herzen höher schlagen" (EVA 127) - lockt der Text durch Reizworte wie: "Toilett ist hyperchic, [...] wie ein verbot'ner Roman, [...] alles sei rätselhaft, [ ...] denn kompliziert sein, ist pikant" (EVA 131ff.). Im Klischeebild, das genau dem Erwartungshorizont seiner Rezipienten entspricht und ihn dadurch bestätigt, malt der Operettentext eine Wunschvorstellung. Jenem sich anzunähern, wird zur Haltung: "Und ist's auch nur 'ne kurze Chose, / Pariser Mädel, du bist patent" (EVA 68) - denn "Eh'bruch nach Pariser Stil / bringt moralisch [... ] an's Zie1" (EVA 73). Unter dem Schutz des Pariser Klischees entfaltet sich unterdrückte Phantasie, um die damit gemeinte Haltung - wie ausgeführt - zum Idol überhöht, im Pariser Pflastermarsch' (Nr. 8) hymnisch zu beschwören: O du Pariser Pflaster, O du Pariser Luft, O du Pariser Laster, Das uns so lockend ruft Und wenn auch der Philister Den Stab darüber bricht, Was Schön'res als die Sünde Gibt's doch auf Erden nicht (EVA 62).

Was so beschworen wird, ist - meist auch inneihalb der Handlung - ein Entferntes, nicht Gegenwärtiges. Paris wird so zum Glücksversprechen einer vom Alltag unterschiedenen Welt. Ein 'verbot'ner Roman', Eh'bruch', "Laster' und 'Sünde' sind in ihm enthalten. Als Aufhänger einer Assoziationskette trägt es all die Modewörter, die mit ihm zusammenhängen: 'smart', leger', Tiyperchic', 'pikant', 'chose', 'patent', etc... . Die Salonoperette verbreitet solche Wörter als Aktualitäten, fuhrt sie als Haltung vor in flotten Sprüchen wie: "Hab ich dich, du süße Puppe, / ist mir alles and're schnuppe"164, oder witzelt von Andalusien und vielen "Gespusien".165 Solche Verbindung von 163

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Franz Lehár, Die Ideale Gattin, Operette in drei Akten von Julius Brammer und Alfred Grünwald, Musik von - - , Klavierauszug mit Text, Leipzig/Paris/Bukarest o. J., S. 88 Ebd., S. 96 Ebd.

Umgangssprache und Reim ist eine der charakteristischen Methoden des Operettentextes. Durch den Reim, als verbindliche poetische Form, wird Umgangssprache gleichsam objektiviert. Sie wird durch ihn legitimiert und erscheint neu. So erhält sich die Salonoperette Gegenwartscharakter. Indem sie die Umgangssprache ihres Publikums spricht, verleiht sie ihr die Aura von Aktualität und bestätigt auch sprachlich dessen Erwartungshorizont.

Warenhaus Operette II Die im Text standardisierten Inhalte der Salonoperette gehören zum Repertoire der im Bild des Warenhauses zusammengefallen Phänomene, einer "Art Masseninvasion neuer Vorstellungen."166 Sujet, Thema und Haltung treffen sich im Schlagwort der Salonoperette mit der Logik der Reklame. Sie werden zur austauschbaren Ware des "Warenhauses Operette'. Die beschriebene Methode des Textes ist der der Reklame nicht unähnlich. So formuliert die Salonoperette die Maximen ihrer Lebenshaltung in Ubereinstimmung mit zeitgenössischen Werbeslogans. "Nimm deinen Frack und Claque / und mach die Nacht zum Tag" (EVA 32). - Oder: "Auf dem Tanz moderne Liebe fußt. [... ] Daß die Waden man zeigen kann / - darauf kommt's an!"167 Sie verleiht ihrem Schlagwort gewordenen Gegenstand magische Qualität: "Sport und immer Sporty so heißt das große Zauberwort"(EA 40). Und selbst ihr Gegenstand kann der von Reklame sein: "Ich hab meine Zigarette, / ich kenne kein Ach und Weh."168 Handelt es sich gar um Champagner, potenziert der Markenname die Konkretion: "Stimmung, Stimmung! / Champagner her, / wir haben keinen Heidsik mehr" (EVA 110). - Oder: "Das kann doch gar nichts and'res sein / als Veuve Cliquot allein." 169 Und selbst das Küssen erhält Warencharakter, "macht es doch stets Reklame" (EVA 55). Muster der Reklame dringen bis in die dramatische Situation. Das Wiedereikennen einer Frau durch ihr Parfum in der Trèfle incamat'-Szene des Graf von Luxemburg ist derart. Vollends die erste Liebesszene zwischen der Titelheldin und Octave Flaubert, dem Protagonisten, in Eva:

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Egon Friedell, Hermann Bahrs Katholizismus, in: Neues Wiener Journal, Nr. 73S0, (Wien) 12. April 1914, S. 6 Franz Lehár, Frasquita, S. 32 Ebd., S. 56 Ders., Die Ideale Gattin, S. lOOf.

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Octave:

Statt dieser Bluse ein Négligée, ganz duftig schimmernd und spinnwebdünn. [...] Eva (visionär): Reich flutend gleich gesponnenem Gold ... (EVA 48f.).

Das Négligée als Gegenstand einer Vision des Glücks, "vorgegaukelt als absolute Erscheinung",170 entspricht der Logik des Warenhauses, die verspricht mit der Ware das Glück selbst zu kaufen - "wo der Traum am höchsten, ist die Ware am nächsten".171 Die Symbole des Glücks depravieren zu Fetischen einer Warenwelt, die im Text der Salonoperette erstmals zum Vorschein kommt, deutlich in der Haltung ihrer Figuren sich äußert und ihre Handlung mit Märchenimplikation verrät.

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Theodor W. Adomo, Versuch über Wagner, S. 85 Ebd.

ΠΙ. Verinnerlichung zum Ausdruck gebracht Der unbekannte Lehár

"... die seltene Gabe [...], zugleich einen Fort- und einen Rückschritt zu machen."1

1. "Halb versteckt, der Knalleffekt" (EVA 112) Operettenästhetisches

Selbstreflexionen Eine Operettenästhetik gibt es nicht Am wenigsten wird sie von einem Operettenkomponisten erwartet. Und dennoch war da der eine Franz Lehár, der sein Schaffen theoretisch zu reflektieren suchte. Diesen Reflexionen wäre auf Spuren des 'unbekannten Lehár' nachzugehen. Hatte er als Opernkomponist begonnen, als Operettenkomponist mit der Lustigen Witwe ein verbindliches Modell geschaffen, war es fortan sein Bestreben, nicht selbst dem eigenen Modell zu verfallen. Der für die Salonoperette festgestellte Schematismus trifft Lehárs Oeuvre ebenso wie das seiner Zeitgenossen, die ihm wie im Fall Emmerich Kálmáns bis in die dreißiger Jahre verpflichtet blieben. Der Unterschied besteht in den Freiräumen, die Lehár in seinem Bestreben nach künstlerischer Autonomie sich schafft. Schon in der Lustigen Witwe sind sie deutlich vorhanden (Pavillonszene). In den Werken seit Fürstenkind (1909) kommt ihnen dramaturgische Bedeutung zu, bis beinahe übergangslos die Lyrische Operette des Spätwerks entsteht. Es fällt somit die Hälfte der Operetten Lehárs zwischen die Kategorien, was der Meister als Resultat seiner Auseinandersetzung mit dem Genre verstanden wissen will. Für ihn ist dies ebenso Kriterium künstlerischer Qualität, wie er sich andererseits von den Produktionsmechanismen des Genres öffentlich distanziert, indem er den Arbeitsaufwand und die sorgfältige musikalische Faktur seiner Werke betont. Anders als die meisten seiner Kollegen, die nicht selbst arrangierten, hat Lehár jede Note seiner Operetten selbst geschrieben, vom Entwurf bis zur

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ο. Α., Lehár als Satiriker, in: Neuigkeitsweltblatt, Wien 9.1.1912, zit. n. Otto Schneidereit, S. 255

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vollständigen Instrumentierung, seiner "Lieblingsarbeit: den Partituren seine klanglichen Ideen anzuvertrauen."2 So kann er sich ohne weiteres die etwas kühne Bemerkung [erlauben], da [...] [er] vielleicht überhaupt nicht durchfallen kann, weil [...] [er] jede [...] [seiner] Arbeiten mit peinlicher Gewissenhaftigkeit durchführe und jede Notedurchdenke.3

Der gewissenhafte Künstler ist immer auch der kühne Neuerer Lehár.

Opernmittel "So suchte ich immer Neues, immer irgend neue Aufgaben. Ich habe, wenn ich so sagen kann, immer experimentiert, nach etwas Neuem gegriffen,"4 gibt er in Zusammenhang mit Giuditta zu erkennen und sieht folgerichtig in der "Schablone [...] die größte Gefahr für jedes künstlerische Schaffen."5 Am Ende seines Lebens hält er selbst Rückschau auf sein künstlerisches Schaffen in der Bekenntnis' betitelten Schrift, welche die Summe von Lehárs Einsichten in die Operettenästhetik darstellt. Sie beginnt mit dem Rastelbinder von 1902, der dramaturgisch bereits ungewöhnliche Wege einschlägt: zwei Akte mit einem Vorspiel, ein Aufbau, der im Fürstenkind (1909) wiederkehrt. Nun folgte jedes Jahr ein neues Werk und am 28. Dezember 1905 kam die Lustige Witwe im Theater an der Wien heraus. Es war ein Experiment, denn in dieser Form war es etwas ganz Neues. Der Direktor hatte kein Vertrauen zu der Sache, aber der Riesenerfolg war einmal da und die Lustige Witwe trat ihre Reise um die Welt an. Ich schrieb nun fast jedes Jahr eine neue Operette [...]. Ich will alle die Werke nicht nennen, die ich schrieb. Das würde zu weit führen. Nun will ich aber von meinem Schaffen erzählen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, den Rahmen der Operette zu sprengen.6

Schon damals also ein Revolutionär der Operette, beginnt Lehár die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Genre, das bisher vor allem von Offenbach und Johann Strauß geprägt war und einem wie ihm dennoch mißfiel. Er "grübelte darüber nach"7 - warum. Seine Kritik setzt am Sujet an, den für ihn

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Max Schönherr, Die Instrumentation bei Lehár, Referat zum Kongreß "Franz Lehár' (Bad Ischl 14.-16. Juli 1978), Baden bei Wien 1978, S. 11 Franz Lehár, Militärkapellmeister und "Lustige Witwe', in: Neues Wiener Tagblatt, Wien 24.12.1911, zit. n. Otto Schneidereit, S. 152 Ders., in: Wiener Zeitung, (Wien) 4.3.1933, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 25 Ders., in: Volkszeitung, (Wien) 19.6.1934, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 79 Ders., Bekenntnis, S. 3 Ebd.

stets entscheidenden Gegenstand seiner Musik. Bisher, in der traditionellen Operette, befindet der Meister, waren "die Menschen auf der Bühne [...] lieb und nett, aber es fehlte ihnen das Herz, die Seele.'" Den Operettenfiguren fehlte Psychologie - der Operettenkonflikt mußte heran und in diese Figuren hinein. Die 'innere Handlung', das Märchen von den Königskindem, die 'zusammen nicht kommen' können und endlich doch zusammenkommen, ist aus diesem Geiste geboren. Hier aber ist der Komponist gefordert, der also folgert: "Natürlich mußte ich diese Verinnerlichung in der Musik zum Ausdruck bringen. Ich mußte unbewußt, wenn es die Handlung forderte, mit Opemmitteln kommen."9 Der Verinnerlichung mit Opernmitteln zu kommen, trifft das Wesen der Lehárschen Ästhetik. War in der Musikdramaturgie der Salonoperette dies bereits angelegt, steckt das Neue auch hier im Detail. Lehárs Waffe war, vom Orchester immer mehr zu verlangen. Holzbläser doppelt, wenn nicht dreifach. Vier Hörner, drei Posaunen und Tuba [...]. Die Harfe wurde als unerläßlich gefordert.10

Der Graf von Luxemburg wird es erweisen.

Vom Musikfeldwebel zum Psychologen Vorab sei diese Waffe des Neuerers mit der provokanten These gekreuzt, die Karl Kraus zum Thema ins Feld führt: "Dieser Lehár schreibt eine Musik, daß man meinen könnte, vom Musikfeldwebel zum Psychologen sei nur ein Schritt."11 Tatsächlich begann sein Ringen um opernhaften Wohlklang mit den dürftigen Mitteln einer Militärkapelle, die jedoch in der Donaumonarchie kein reines Blasorchester, sondern mit Streichern vollständig besetzt war. Hier lernte Lehár, "mit quantitativ und qualitativ geringen Ansprüchen auskommen: das Orchester mußte trotzdem gut klingen."12 Aus diesem Widerspruch zwischen Mittel und Zweck, der bei Lehár stets produktiv wird, stand ihm "als Militärkapellmeister in seiner Phantasie eine latifunde klangliche Palette bereit."13 Und er, der ja am Orchester komponierte, nutzt sie konse-

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Ebd. Ebd., S. 4 Ebd. Karl Kraus, Ernst ist das Leben, heiter war die Operette, in: Oers., Die Fackel, Bd. 5, XII. Jahr, 31. Dezember 1910, Nr. 313/14, S. 13 Max Schönherr, Die Instrumentation bei Lehár, S. 10 Ebd., S. 8

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quent zur Realisierung seiner Partituren, kommt daher mit der Besetzung der Fledermaus, die dem klassischen Sinfonieorchester entspricht, ohne weiteres aus, d.i.: zwei Flöten (auch Piccolo), zwei Oboen, zwei Fagotte, vier Hörner (bereits hier!), zwei Trompeten, drei Posaunen (ebenfalls schon hier vorhanden), Schlagzeug, bestehend aus kleiner und großer Trommel, Glockenspiel und Pauken, sowie Streichern. Das Orchester der Lustigen Witwe ist demgegenüber nur um die 'unerläßliche' Harfe, die Triangel und die für Folklore zuständige Bühnenmusik aus Tamburizza, Tamburin und Gitarre erweitert. Mit den im Graf von Luxemburg hinzukommenden Becken und Celesta sowie der seit Zigeunerliebe verwendeten Tuba ist das Lehár-Orchester komplett, sieht man von dem für das jeweilige Lokalkolorit erforderlichen exotischen Instrumentarium ab, Tárogáto, Zimball, Glocken, Orgel oder Harmonium in Zigeunerliebe, in Paganini zwei Mandolinen, entsprechend eine Balalaikagruppe im Zarewitsch oder das große Aufgebot von Schlagwerk (zusätzlich Holztrommel, Becken, Tamtam, Gong, große Glocken) im Land des Lächelns. In den zwanziger Jahren kommen seit Cloclo (1924) Saxophon und Banjo (Schön ist die Welt und Zarewitsch) hinzu. Doch bleiben die aufgebotenen Mittel Farbtupfer eines seit dem Graf von Luxemburg in der Substanz unveränderten, in sich geschlossenen Klangköipers. Auch hinter dem für die Wiener Philharmoniker aufgefächerten Orchester der Giuditta ist das der Fledermaus als Modell deudich erkennbar. Hier sind vor allem die Bläser verstärkt: drei statt zwei Flöten, davon zwei auch als Piccolo, Englischhorn , Baßklarinette, Kontrafagott, drei statt bisher zwei Trompeten, Baßtuba und als Lokalfarbe Kastagnetten.

Orchestersatz Dennoch unterscheidet sich bereits in der Lustigen Witwe der Orchesterklang wesenüich von der Fledermaus, "ist unbedingt als neu zu bezeichnen,"14 wie Max Schönherr bemerkt; ein Berufener, der noch unter Lehár am Theater an der Wien dirigierte und Lehárs Instrumentation, die er eine "berauschend wirkende mixtura considerata"15 nennt, eine Studie aus der Auffiihrungspraxis widmet. Für ihn ist Lehárs gleitende Melodik, seine schwebende Kantilene das Geheimnis des neuen Klanges, entwickelt aus dem Gegensatz zur akzentuiert rhythmischen Musikalität eines Johann Strauß. 14 15

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Ebd., S. 1 Ebd.

Bei Lehár gibt es deshalb einen anderen Orchestersatz, der soweit geht, daß z.B. alle Streicher die Melodie unisono, bzw. in Oktaven spielen, die Begleitung von den Hörnem allein übernommen wird [ZL Nr. 8, S .94],16

Dies Prinzip einer breit aufgefächerten Streichermelodie mit gegenläufigen Bläserstimmen, ist bereits in der Lustigen Witwe ausgebildet, so in den vierfach geteilten ersten Geigen des Vilja-Liedes — und in "Lippen schweigen": "hochgelegene Streicher und weich dahinfließende Sextolen der Flöten und Klarinetten und welch bezaubernde Gegenmelodie umgarnen die Verszeilen 'Bei jedem Walzerschritt' [LW 157]."17 Dieser Valse moderato, ebenso wie "Bist du's lachendes Glück" (GVL 60) im Graf von Luxemburg, bietet Gelegenheit für instrumentale Effekte in den Mittelstimmen, von den Zeitgenossen gar als "impressionistische Polyphonie"18 empfunden. Wieder diene die Nr. 8 der Zigeunerliebe als Beispiel: Das in drei Einleitungstakten vom Violoncello gespielte Thema kehrt in der Vorstrophe ("War einst ein Mädel') in seiner rhythmischen Form (Viertel mit folgender Trióle) gleichbleibend, jedoch dem harmonischen Gefüge angepaßt, fünfzehnmal in anderen Instrumenten wieder [ZL 93].19

Was diese Beispiele gemeinsam charakterisiert, ist die Methode des gemischten Klangs, der den einfachen tonalen harmonischen Zusammenhängen ein glänzendes Gewand scheinbarer Vielfalt erst verleiht. So gewinnen einzelne Akkorde allein durch ihre Instrumentierung Brillanz und Ausdruckswert, zu deren Realisierung sie einzig ersonnen scheinen - Lehárs Waffe, der Verinnerlichung 'mit Opernmitteln zu kommen'. So z. B.: zwölf Takte vor dem begehrlichen erotischen Duft zerstäubenden 'Sieh dort den kleinen Pavillon' ... man bemerke, daß im 5. Takt, zum Nonenakkord vier Hömer diese Insinuation (Einflüsterung) [brünstig] noch eindringlicher beschwören [LW 89, Τ .2], [...] vier gestopfte Hörner, chorisch gesetzt, unterstützen die Verlockung, der MaryAnn dann bald erliegen wird [Fürstenkind Nr. 9] [...]. Man notiere bewundernd 5 Takte vor animato ('Ja, man muß oft meiden, was man liebt*) die aufsteigenden geteilten Violinen [GVL Nr. IO]20

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Ebd., S. 5 - Was übrigens im Klavierauszug nicht ersichtlich ist. Nur in seltenen Fällen nämlich sind die handgeschriebenen lithographierten Orchesterpartituren der Bühnenverlage, wie anderes Aufführungsmaterial auch, zugänglich. Ebd., S. 6 Ferdinand Scherber, Franz Lehár Feuilleton, a. a. O., S. 90 Schönherr, Die Instrumentation bei Lehár, S. 6 Ebd., S. 11

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Diese Wirkungen fallen, als Effekte, aus dem eigentlichen musikalischen Zusammenhang. Sie verselbständigen sich und beziehen ihre Mittel aus wirklich operettenfernen Bezirken, vor allem deren - im Sinn Adornos chromatisch-koloristische Dimension [...]. Der gegen seine Produktion abgeblendete, verabsolutierte Klang, dessen Idee seine Instrumentationstechnik lenkt, hat Warencharakter nicht weniger als der triviale, zu dessen Vermeidung er ersonnen ward.21

Was bei Adorno Wagners 'Klangfarbe' charakterisieren soll, trifft auf anderer Ebene Lehár, der, auch hierin Wagner verpflichtet, dem epigonalen Verhältnis von Oper und Operette unterliegt. Im modernen gemischten Orchesterklang der Epoche liegt der Schnittpunkt von Opernmittel und Operettenzweck, von Oper und Massenkultur - so daß - wie Karl Kraus feststellt "die neue Operette auf der Höhe ihrer Verknödelung sich selbst des Operngestus bedient und einen Fünfkreuzertanz mit einem Posaunenfest der Instrumentation beschließt."22

Stellung zur Moderne Alle Operetten nach der Lustigen Witwe sind indessen ohne Lehárs erweitertes Orchester undenkbar. Die 'neue Operette', jenes Experiment' des Lehárschen Bekenntnisses', ist nicht nur in dieser Beziehung die nach-Wagnersche Operette: "Hier hat zum ersten Male der Naturalismus der modernen Musik in der Operette sein Echo gefunden. Es ist das, was Richard Strauss die alfresco Behandlung des Orchesters nennt"23 Der Neuerer Lehár hat von anderen Neuerern des Musiktheaters profitiert. Mit seiner beständigen 'Suche nach Neuem' stellt er sich selbst in die Tradition einer experimentierfreudigen 'Moderne'. Noch Frasquito, so bestätigt ihm 1922 zum Beispiel die Volkszeitung, sei "selbstverständlich [...] durchaus modern; [...] nun erscheint Richard Strauß [sie!] als sein Gott. Zu solch hohem Ehrgeiz hat sich die Wiener Operette noch nie verstiegen."24 Nicht umsonst steht hier Richard Strauss25 zum

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Theodor W. Adomo, Versuch über Wagner, S. 77 Karl Kraus, Grimassen über Kultur und Bühne, a. a. O., S. 13 Ferdinand Scherber, a. a. O., S. 90 St., Die Neue Operette Franz Lehárs im Theater an der Wien, in: Volkszeitung, (Wien) 13. Mai 1922, zit. n. Otto Schneidereit, S. 208 - dessen Musik Karl Kraus unterstellt, "ein Frauenzimmer [zu sein], das seine natürlichen Mängel durch eine vollständige Beherrschung des Sanskrit ausgleicht. " (Karl Kraus, Kehraus, in: Ders., Die Fackel, Bd. 4, Di. Jahr, 2. Juli 1907, Nr. 229, S. 13)

zweiten Male Pate für Lehárs Klangexperimente. Tatsächlich hat Lehár die Fühlung zur zeitgenössischen Musik nie verloren, ja es gehört zu seinem Selbstverständnis als Komponist, sich mit ihr auseinanderzusetzen und sie in den ästhetischen Diskurs der Operette miteinzubeziehen. Wenn auch keine diesbezüglichen Äußerungen des Meisters verbürgt sind, so liegt doch folgende Überlieferung vor: Moritz Rosenfeld, der große Pianist, besuchte einmal Franz Lehár in dessen Wiener Wohnung. Man führte ihn ins Musikzimmer, und während er wartete, blätterte er in den Stößen von Noten, die sich auf dem Klavier türmten. Da waren lauter Dinge, die man in der Werkstatt eines [Operettenkomponisten] nicht gesucht hätte: sämtliche Werke von Richard Wagner, Sinfonien von Liszt, Brahms, Bruckner, Tschaikowsky, Mahler, Opern von Weber, Lortzing, Verdi und vor allem Puccini, einiges von Schumann, die Auszüge von Salomé und Elektro, einiges von Debussy, Ravel, Strawinsky, Skrjabin, ein Heftchen Schönberg und schließlich der Klavierauszug des Rosenkavalier.26

Der zufällige Blick in die Werkstatt zeigt erneut den unbekannten Lehár

Der Bühnenkomponist Die Spuren der Auseinandersetzung mit dieser Literatur sind bis ins Spätwerk zu verfolgen, besonders aber in jenen Werken, die er selbst als Experimente' ansah. Läßt sich im Fall Schönbergs eine bewundernde Distanz feststellen (Vgl. V.l.), so erstreckt sich Lehárs tatsächlicher musikalischer Horizont von Wagner über Strauss und Puccini bis Debussy. Man kann nicht sagen, daß das ungewöhnlich starke Musikantentum Lehárs, das ihn so weit vor seinen meisten Konkurrenten auszeichnet, ihn über die Operette hinausdrängt. Wäre dem so, niemand würde ihn hindern, es mit einer Sinfonietta, einer Sinfonie oder sonstiger absoluter Musik zu versuchen."27

Ähnlich wie Puccini war Lehár vor allem Bühnenkomponist, auch wenn er instrumentale Konzerttänze und sinfonische Dichtungen schrieb, die nach Meinung seines Bruders "auch Franz Liszt nicht zur Unehre gereicht"28 hätten. Ahnlich wie Puccini nahm er den Stoff als Inspirationsquelle für sein

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K., Die blaue Mazur. Lehár-Premiere im Metropoltheater, in: BZ am Mittag, (Berlin) 29. März 1921, zit. n. Otto Schneidereit, S. ,204 Ebd. Anton von Lehár, S. 109

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Genre ungewöhnlich ernst, allerdings ohne dessen dramatischen Instinkt. Er maß den Libretti große Bedeutung zu, betrachtet sich in ihrer Auswahl nachgerade als Experimentator.

Keine Operntexte Obwohl die Mitwelt Lehárs ungewöhnlich starkes 'Musikantentum' anerkannte und von ihm seit der Lustigen Witwe die Erneuerung der komischen Oper erwartete, obwohl Maria Jeritza und Max Reinhardt ihm Stoffe für eine solche vorschlugen, und obwohl er selbst sich "nicht so sehr der Mitwelt als der Nachwelt"29 verpflichtet sah, blieb er dieser Nachwelt die Vertonung eines Operntextes schuldig. Der Mitwelt aber tat Lehár mit Experimenten innerhalb der Operettendramaturgie von Zigeunerliebe bis Giuditta Genüge. Wie Lehár die Errungenschaften seiner Instrumentaltechnik mit jenen Texten in Einklang bringt, bleibt Rätsel. Und doch stellen sie jene andere Seite der Lehárschen Ästhetik dar, welche nähere Beachtung durchaus verdient. Während jedoch der Meister auf musikalische Neuerungen sich beschränkt, grübeln seine Librettisten über eine 'Dramaturgie des Erfolges' erfolgreich nach. "Ihnen ist die tiefe Tantiemeneinsicht geworden, daß auf dem Theater nur der immer neue Erfolge hat, der nichts Neues bringt."30

Grübeleien der Bühnenschriftsteller Die Lustige Witwe hatte Erfolg. Also reproduziert das dramaturgische Schema der Salonoperette diesen Prototyp erfolgreich - als Csardasfürstin, als Dollarprinzessin, als Gräfin Mariza, unabhängig vom jeweiligen Komponisten. Vor solchem Schematismus verschwindet die Individualität der Schöpfer. In ihm findet der Komponist ebenso seinen Platz, wie das dichterische Subjekt, das in der Regel sich in zwei Librettisten aufspaltet nach dem alten Operetten-"Grundsatz: Der Starke ist am mächtigsten allein, Libretti aber schreibt man gut zu zwei'n."31 Das arbeitsteilige Prinzip, dem sich der 'jede

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Franz Lehár, in: Rundfìink Interview 1940, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 285 Ludwig Hirschfeld, in: Neue Freie Presse, 27. Februar 1926, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 69 Alfred Grünwald, in: Neues Wiener Journal, 31. Mai 1936, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 54

Note durchdenkende1 Lehar verweigert, ist zwar noch nicht, wie später im Musical, streng funktionalisiert, doch meist beschreibt die Reihenfolge der Namensnennung den schöpferischen Anteil: Erstgenannt wird in der Regel der Erfinder des 'Plots', der gewiegte Konstrukteur des im 2. Aktfinale fadenscheinig platzenden Handlungsknotens. An zweiter Stelle erscheint der Name des für die lyrics' Verantwortlichen, dem die geflügelten Worte der Gesangstexte aus der Feder fließen. Diese Reihenfolge entspricht ihrem Stellenwert für die Salonoperette. Bezeichnenderweise ändert sich derselbe für die Lyrische Operette: Hier kommt dem Lyriker Beda die entscheidende Bedeutung zu. Meist wechselten die Konstellationen, sowohl unter den Librettisten als auch zwischen ihnen und den Komponisten. Ein eingeschworenes Team über Jahre hinweg wie Willner und Bodanzky im Fall Lehárs oder im Fall Kálmáns Brammer und Grünwald - über die Karl Kraus stöhnt: "Wenn man nur wüßte, was von Brammer ist und was von Grünwald"32 - blieb selten und somit Karl Kraus ähnliches Rätseln erspart. Daß es diesen Herren nicht um Originaltät zu tun war, belegt Leo Stein, der mit Wiener Blut, Lustiger Witwe und Csardasfürstin so weit ausgesorgt hatte, daß er sich auf Lehárs Experimente, wie Die blaue Mazur einlassen konnte: Man lese recht fleißig manch Büchelein, Dann fällt einem plötzlich die Idee schon ein. Dann nehm man einen Vorschuß von der Direktion Und alles andere findet sich schon. Und ist man gewissenhaft, macht's mit Verstand, Schon wird's dann der übliche Blödsinn genannt.33

So konnte sich freilich nur einer äußern, der "von Anfang an die Kalkulation des Publikumseffektes"34 beherrschte. Und dies war auch die eingestandene literarische Ambition von Leuten, die, nach Karl Kraus' Definition, "vermöge eines spezifischen Untalents Villen haben."35 Wie weit entfernt ist solches vom Schöpfertum der Neueres Lehár. Während der die Nacht hindurch schuf, lag der Librettist meist friedlich im Bett seiner Villa, wenn er nicht gerade von einem Anruf des Komponisten aus süßen Tantiementräumen ge-

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Karl Kraus, Wien, in: Ders., Die Fackel, Bd. 10, XXVIII. Jahr, Mai 1926, Nr. 726, S. 30 Leo Stein, zit. n. Arthur Neisser, Vom Wesen und Wert der Operette. Mit 26 Bildnissen, Szenen-Bildern und Handschrift-Nachbildungen, in: Die Musik, begr. v. Richard Strauss, Leipzig 1923, S. 89 Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, S. 26 Karl Kraus, Die Welt der Bühne, in: Ders., Die Fackel, Bd. 9, XXVII. Jahr, Oktober 1925, Nr. 697, S. 141

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rissen und mit einem neuen musikalischen Einfall konfrontiert wurde, wie dies Meister Lehárs Art war. Oder man findet ihn "in einer der Operettenbörsen: im Café Bauer oder Imperial, wo zahlreiche Buchmacher und die bekanntesten Vertreter der Textilindustrie ihre Geschäfte abwickeln."36 Das Kaffeehaus als Ort dichterischer Eingebung hat in Wien durchaus literarische Tradition, in die auch Librettisten gern sich zu stellen beliebten. Vor Ort konnten sie sich dem Zweck ihres Sinnens hingeben: "Was das Publikum will und was es nicht will.' Unter diesem Titel gibt im "Neuen Wiener Journal' der Bühnenschriftsteller Fritz Grünbaum, nach dem satirischen Einakter Mitislaw der Moderne für Lehár mit Dollarprinzessin und Zigeunerprimas anderweitig erfolgreich, Einblick in die ästhetischen Reflexionen eines Librettisten: Überhaupt wir Librettisten! [...] Einmal das Blödsinnige, einmal das Weinerliche. [...] Wie soll man da als Lieferant vorbereitet sein? Die Schneider wissen ganz genau, im Frühjahr kommt eine neue Mode. Die Librettisten wissen es aber nie [...]. Wie soll man da seine Kundschaft bedienen, wenn sie so launisch ist? Die Schneider haben's gut [...]. Mich freut das ganze Geschäft nicht mehr [...]. Jahrelang bin ich ein reeler Geschäftsmann gewesen, der sich nach den vermeintlichen Wünschen der Kundschaft gerichtet hat. [...] Da mir alle Konzessionen an das Publikum den Erfolg nicht garantieren konnten, hab ich beschlossen, [...] ein wirklicher Dichter zu werden. Ich tu's nicht gern, aber vielleicht geht's so.37

Gewagte Stoffe Dem Manne wäre geholfen gewesen, hätte er sich noch einmal mit dem Meister zusammengetan, der aus anderen Gründen ähnlich dachte und dazu in seinem 'Bekenntnis' mitteilt: "Das Publikum hatte längst erkannt, daß ich es ehrlich meine, und das Anhören meiner Werke war für die Zuhörer ein Erlebnis. Manche unterdrückten heimlich eine Träne [...]. Ich [...] wählte mir stets gewagtere Stoffe aus."38

Trotz der Treue zur Nummemdramaturgie der Operette stellen im Vergleich zur gängigen Produktion, die von Lehar vertonten Stoffe wirkliche Ausnahmen im Rahmen eines fixen Schemas dar. Außer beim Graf von Luxemburg hat er nie den Erfolg der Lustigen Witwe zu wiederholen versucht. Ihm war 36 37

38

72

Heinrich von Waldberg, zit. n. Otto Schneidereit, Operettenbuch, Berlin 1961, S. 276 Fritz Grünbaum, Was das Publikum will und was es nicht will. Grübeleien eines Bühnenschriftstellers, in: Neues Wiener Journal, Nr. 7350, (Wien) 12. April 1914, S. 9 - Auch er ein Opfer des Nationalsozialismus (starb 1941 in Dachau). Franz Lehár, Bekenntnis, S. 4f.

es mit der Suche nach Neuem ernst und so wechseln mit jedem Werk, auch die Namen der Librettisten bis er mit Dr. Alfred Maria Willner und Robert Bodanzky Gleichgesinnte fand, bereit, Experimente zu realisieren zu einer Zeit, in der Lehár nach dem erfolglosen Mann mit den drei Frauen (1908) die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Genre beginnt, die schließlich mit der Lyrischen Operette Mitte der zwanziger Jahre zu ihrem Ende kommt. Noch zu dieser Zeit experimentiert er mit Der blauen Mazur, einer Operette in zwei Akten und einem Zwischenspiel, mit der Giuditta antizipierenden Frasquito, der auf einem Schwank basierenden und stark mit zeitgenössischen Tänzen durchsetzten, beinahe Offenbachschen Cloclo und dem satirischen Vaudeville Frühling. Es ist jene von Max Schönherr mit dem Begriff der "Romantischen Operette"39 gekennzeichnete Übergangsphase von der Salon- zur Lyrischen Operette, deren Grenzen fließend sind und in der Lehárs Ästhetik Gestalt annimmt Daß dabei zumeist der Rahmen der landes- und auslandsüblichen Operette gesprengt wurde, trug meinen Librettisten den Vorwurf ein, sie hätten mich zu waghalsigen Experimenten verlockt, während ich doch selbst diesen Vorwurf auf mich nehmen muß.40

2. "Ferne Klänge, Märchen gleich" (ZL 21 ) Experimente

Gewagtere Stoffe Lehárs Höhepunkt in dem Bestreben, seine Klangphantasien zu verwirklichen, beginnen mit Fürstenkind und Der Graf von Luxemburg und kulminieren in den Operetten Zigeunerliebe, Eva, Endlich allein.*1

Dieser Befund aus Max Schönherrs Studie über Lehárs Instrumentation sowie die Tatsache, daß mit Ausnahme von Fürstenkind (Viktor Léon) sämtliche Libretti der genannten Werke von Willner / Bodanzky stammen, legen den Schluß nahe, es bestehe zwischen kompositorischem Gehalt und literari39 40

41

Vgl. Max Schönherr, Franz Lehár. Bibliographie zu Leben und Werk Franz Lehár, Was ich gerne komponiere?, in: Neues Wiener Tagblatt, (Wien) 31. März 1918, ziL n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 158 Max Schönheit, Die Instrumentation bei Lehár, S. 8

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scher Gestalt einer Operette bei Lehár enger sachlicher Zusammenhang. In der Tat stellen Zigeunerliebe, Eva und Endlich allein sowohl in dieser als auch in jener Hinsicht die schlüssigsten und extremsten Experimente im Schaffen des Meisters dar. Da er nach eigenem Bekunden der Verinnerlichung mit Opernmitteln, d.h. mit den beschriebenen Klangwirkungen, da kommen mußte, "wo es die Handlung forderte"42, läßt sich die Wahl immer gewagterer Stoffe nur mit seiner kompositorischen Ambition in Verbindung bringen. Der Lehársche Klang und die ihn inspirierenden Vorlagen hängen unmittelbar zusammen. Im Fall von Eva ist zwar das Sujet ungewöhnlich, entspricht aber, wie zu sehen war, in seiner dramaturgischen Aufbereitung der Salonoperette geradezu mustergültig. Zigeunerliebe und Endlich allein hingegen schlagen auch in dramaturgischer Hinsicht neue Wege ein, denen auf den Spuren 'des unbekannten Lehár' zu folgen lohnt

Zigeunerliebe I / Dramaturgie Zigeunerliebe, 1910, zwei Monate nach dem Graf von Luxemburg uraufgeführt, erstaunt allein schon durch sein Personenverzeichnis: es gibt mit Zorika und Ilona von Kôroçhàza zwei Liebhaberinnen- (Sopran), als auch zwei Liebhaberrollen (obwohl als lyrischer bzw. Spieltenor bezeichnet): den Bojaren Jonel Bolescu und den Zigeuner Józsi; neben dem üblichen Buffopaar (jugendlicher Tenor und Soubrette) Jolán, Zorikas Cousine, und Kajetán Dimitreanu, Sohn des Bürgermeisters, ein als 'Baryton buffo' bezeichneter Baßbuffo, der Bojar Peter Dragotin, Zorikas Vater und in dieser Funktion schon außer der Regel. Auch die kleineren Gesangsrollen wie Julcsa (Alt), Zorikas Amme, Frau von Kerem (Sopran), eine Dame der Gesellschaft, der Wirt Mihály (Baßbuffo) und die drei Nixen (Sopran, Mezzosopran, Alt) nehmen mehr Raum ein als in der Salonoperette üblich. Dazu kommt der Chor, der in einem Drittel der achtzehn Musiknummem verwendet wird. Überhaupt kann die Aufteilung dieser Musiknummern als eigenwillig gelten. Bis auf die große Introduktionsszene der Zorika (Nr. 1), die in ihrer Art völlig aus dem Rahmen fallt, und Joneis Reminiszenz zu Beginn des dritten Aktes (Nr. 15) gibt es keine einzige Solonummer. Alle Sololieder der Operette sind in eine größere Szene mit mindestens zwei Mitspielern integriert, so Zorikas "War einst ein Mädel" aus Nr. 8 oder Józsis "Ich bin ein Zigeunerkind" aus Nr. 6, das darüber hinaus bemerkenswert als Entrée erst im zwei42

74

Franz Lehár, Bekenntnis, S. 4

ten Akt seinen Platz findet. Dies Lied ist andrerseits Hinweis, wie hier vorgegebene Formen (das Entrée) umgangen und doch nicht ausgeschlossen werden. Auch die Nummern des Buffopaares weichen von den gegebenen Besetzungsmustern ab. Zwar gibt es ein Duett (Nr. 10), doch teilen sie ihre übrigen Einlagen mit Dragotin (Nr. 16) und mit der Liebhaberin Dona (Nr. 4). Diese Dona bewegt sich zwischen allen festgelegten Figurenebenen. Außer dem Terzett mit dem Buffopaar hat sie mit dem 'Baryton buffo' (Nr. 9) und dem Liebhaber Józsi (Nr. 11) jeweils ein Duett, zwei um sie zentrierte Ensembles mit Józsi, Frau von Kerém, Damenchor (Nr. 17) und dem gesamten Personal (Nr. 13), sowie in den Finali wesentlichen Anteil: Die Protagonistin dagegen ist im 3. Akt nicht an einer musikalischen Szene beteiligt. Diese Abweichungen weisen auf die im Vergleich zur Salonoperette erweiterte Bedeutung der Musik innerhalb des dramatischen Geschehens hin. Die Figuren sind enger miteinander verknüpft, die Ebenen nicht streng getrennt und vor allem die Einlagen auf die Buffonummem beschränkt. Damit gewinnt die Musik Raum. Sowohl die musikalischen Formen als auch die Klangstrukturen sind freier gehalten.

Zigeunerliebe Π / Traumspiel Und so muß selbst Volker Klotz bescheinigen, es sei kaum eine zweite Partitur des Komponisten [...] melodisch so erfinderisch, harmonisch so verwegen und klanglich so farbenreich wie die der Zigeunerliebe [...], [obwohl] das Libretto [...] weit unterm aufbegehrenden Anspruch der Musik43

bleibe. Aber gerade diese Trennung von Text und Musik erweist sich hier als problematisch, gehen doch beide eine weit mehr als nur musikdramaturgische Bindung ein. Zwar folgt das Libretto dem Muster eines biedermeierlichen Besserungsstückes, in dem wie in Grillparzers Der Traum ein Leben (1834) der Held durch den Wahrtraum seiner Sehnsüchte desillusioniert wird, doch öffnet sich einem solchen Traumspiel achtzig Jahre später die Hintertür zum 'Unbewußten' einen Spalt weiter, als der Operette bisher vergönnt war. Zorika, die ganz ihrer Phantasie hingegebene Protagonistin, ein Naturkind romantischer Sorte, soll mit dem zivilisierten, sanften Jonel verlobt werden. Da begegnet ihr am Verlobungstag Józsi, der wilde Spielmann mit der Zaubergeige. In seinen "Adern rollt Zigeunerblut" (ZL 22). Sie muß sich entschei-

43

Volker Klotz, Operette, S. 449

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den. Ein Märchenmotiv kommt "mysteriös geisterhaft"44 zu Hilfe. "Wenn sie einen Becher aus den Wellen der Czema trinkt,"45 darf sie träumend in die Zukunft schauen, für die sie unbewußt bereits den Zigeuner erwählt hat. Dona bemerkt dazu: "Die Braut träumt und der Bräutigam fallt ihr nicht einmal im Schlaf ein."46 Der zweite Akt führt Zorikas Zigeunerliebe, die nach zwei Jahren wilder Ehe abzukühlen beginnt, als wahren Alptraum vor, so daß, als sie im dritten erwacht, der Verlobung mit Jonel nichts mehr im Wege steht. Die moralisierende Tendenz solchen Erwachens, die Volker Klotz dem Text anlastet, ermöglicht erst das Überschreiten der ungeschriebenen moralischen Grenzen der Operette, die bezeichnenderweise im Zigeunermilieu schon einmal überschritten wurden. Die wüde Ehe von Saffi und Barinkay im Zigeunerbaron wird nicht vollzogen, aber legitimiert Die vollzogene Zigeunerliebe hingegen kann nicht legitimiert werden. Ihr folgt die Strafe auf den Fuß. Zorikas Untreue gegen Jonel kehrt sich gegen sie selbst. Józsi betrügt sie sowohl in der Traum- als auch der Rahmengeschichte mit Ilona von Kôrôçhàza, von der Dragotin schwärmt, sie sei "ein kapitales Weib: diese Statur, diese Figur, diese Frisur [...] - Alles Natur!"47 und die, sich als "kolossal liebesfähig"4® erweisend, "in der Liebe [...] Raketen"49 verlangt. Dennoch ist die 'wüde Ehe' Józsis und Zorikas im zweiten Akt nur als erträumte möglich. Entschärft wird durch solch dramaturgischen Kniff, den die Geschehnisse nicht erfordern und der sie auch nicht weiter ändert, die erotische Brisanz des sonst in der Operette nur Denkbaren. Erschöpft sich die erotische Betriebsamkeit der Salonoperette in verbaler Frivolität - "nur Operetten [...] stellen den Sexus mit schallendem Gelächter vor"50 - "dreht sich in ihnen, gerade weil er nie passieren darf, [...] alles um den Koitus."51 Das Spiel mit dem moralischen System, das die Salonoperette genüßlich treibt, wird in der Zigeunerliebe geträumter Ernst. Ohne Andeutung 'passiert' der Koitus - im Traum, "gerade

44

45 46 47 48 49 50 51

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Franz Lehár, Zigeunerliebe, Romantische Operette in drei Akten von A. M. Willner und Robert Bodanzky, Musik von — , Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, Wiesbaden 1938, S. 79 Ebd., S. 14 Ebd., S. 98 Ebd., S. 17 Ebd., S. 18 Ebd., S. 62 Theodor W. Adomo / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 166 Ebd., S. 167

weil er nie passieren darf."52 Dies Paradox wird, ins Unbewußte verlegt, zur Natur selbst verklärt, deren magische Kräfte, die Wellen der Czema, es erst ermöglichen. Die entfesselte Natur entfesselt ihr ästhetisches Abbild: die Musik. Lehárs stets erotisch empfundene Klangphantasien erschließen der Operette Natur als Neuland.

Zigeunerliebe III / Naturklang Daß dieser Zusammenhang sachlich besteht, zeigt das echte Experiment 'Introduktion und Auftritt' der Zorika (Nr. 1). Natur, "von fast tropischer Pflanzenpracht"53 erscheint hier hörbar als Bild triebhaften Innenlebens der von unbewußten erotischen Phantasien umhergetriebenen Protagonistin. Das Regiebuch beschreibt die scheinbar Naive als "malerisch derangiert"54, die Partitur als Windsbraut eines alle Elemente entfesselnden Sturmes. Die Szene, ein Dialog mit den Naturgewalten, steht dramaturgisch, vor allem aber musikalisch in der gesamten Operettenliteratur einzig da - exterritorial, konnte Naturschildening doch nie ihr Gebiet sein. Mit "Sturmwind, Blitz, Vorhang auf, Donner" (ZL 11) exponieren Trompeten und Posaunen mächtig einen Oktav-Quint-Fall, ausgefüllt von einer zigeunerhaften Figur, die die ganze Szene durchzieht. Eine chromatisch abfallende Achtelkette in den Streichern mit Paukenwirbel markiert den Donner. Solch traditioneller Lautmalerei ist die Windmaschine beigesellt, ganz im Geist des beginnenden 20. Jahrhunderts, von Richard Strauss bereits in Don Quijote und später in Alpensinfonie verwendet. Von ähnlichem Naturalismus ist, daß der Blitz als Leuchtsignal bloßes optisches Phänomen bleibt und nicht wie noch von Wagner im Rheingold in der Tradition des 19. Jahrhunderts (Beethovens Pastorale, Rossinis Wilhelm Teil, aber auch Strauss' Alpensinfonie) vertont wird. Um so mehr Wagner verpflichtet sind dann Text und Komposition von Zorikas 'Walküren'-Auftritt: (mit phantastischer Geberde [...]) Heissa, heissa! Heissa, juchei! Heja! Heja! Hei! (Zorika läuft über den Steg auf die Bühne. Ferner Donner. Blitz.) Wie's leuchtet und wettert! Tralalala! (Stärkerer Donner.) Braust und schmettert. Tralalala! (Dreht sich in übermütig wildem Tanz.) Ah! Hui! Blas zu! Heissa, holla! (Blitz.) Tralalala! (Ganz entfernt Donner. Blitz.) Schon wird's hell, der Sturm verbraust, die Wolken fliehn (ppp Donner)." (ZL 12-14) 52 53 54

Ebd. Franz Lehár, Zigeunerliebe, Vollständiges Regie- und Soufflieibuch, S. 3 Ebd. 77

In dieser musikalischen Darstellung eines Gewitters über 62 Takte wird Zorika als Naturwesen exponiert, im Naturlaut den Wagnerschen Rheintöchtern verwandt. Im Überleitungsteil nach dem Gewitter, "moderato", (ZL 15-17) setzt sie den mit der Natur begonnenen Dialog fort. Allein, sprach sie im vorhergehenden 9/8-Takt musikalische Prosa, nimmt sie hier symmetrische Phrasierung und 3/4-Takt der Operette auf. Sie 'imitiert' (ZL 15) den von Oboe und Klarinette vorgegebenen Kuckucksruf, deutet ihn in liedähnlichen Strophen als Metapher des unberechenbaren Glücks (ZL 16). Im Orchester durchläuft parallel dazu ein aus den ersten 62 Takten stammendes Triolenmotiv das Instrumentarium (Kontrabaß [ZL 15, T. 3/4], Hörner [T. 5/6], Fagott [T. 7/8]). Es hat Signalcharakter, Echo des Sturmes und noch ungeklärter innerer Unruhe. "Sie versinkt in Träumerei" (ZL 17). Was folgt, antizipiert den Traum des zweiten Aktes: "Czerna sprich, wann wird er kommen, den ich träumend immer sehe" (ZL 17). Die Sextolen-Figur der tiefen Streicher malt das Fließen des Flusses. Ein "Violinsolo hinter der Szene" (ZL 17) ertönt. Das Triolenmotiv aus dem Gewitter erscheint verstörend im Kontrabaß (ZL 18, T. 3/4). Schließlich schweigt das Orchester für die Kadenz der Solovioline (ZL 19, T. 7ff.), die im tempo rubato "feme Klänge, Märchen gleich..." (ZL 20) verströmt. Zur Wiederholung von "Czema sprich ..." (ZL 21, T.4) verschränken sich Triolenmotiv des Sturms in der Klarinette und Violinsolo zu "Liebeslust und Weh" (ZL 21). Die in die Natur getragene und in ihr zum Ausdruck gebrachte Sehnsucht Zorikas nimmt im Violinsolo musikalische Gestalt an, tritt als naturhafter Zigeuner 'märchengleich' aus ihr heraus: "Józsi tritt, auf der Geige spielend, hervor" (ZL 21). In der Natur versöhnt die Musik erotische Phantasie und Realität, Unbewußtes und Bewußtes, den Menschen mit sich selbst. So trivial dies Märchen sich auch erfüllen mag - so verwegen klingt es bei Lehár an.

Endlich allein I / Erotische Phantasie Die Frage aus Zigeunerliebe: "Soll dich der Freier im Freien frei'n?"55, stellt sich, als sie im zweiten Akt 'endlich allein' sind, auch den Protagonisten der gleichnamigen Operette - Dolly Doverland, der reichen exzentrischen Amerikanerin und dem Baron Frank Hansen. Dieser zweite Akt ist ein fast durchkomponiertes, einziges Liebesduett. Wieder ist Natur Freiraum erotischer Phantasie, Spiegel des Unbewußten, Abbild eines seelischen Wahrtraums. 55

78

Ebd., S. 17

Andererseits belegt gerade dieser zweite Akt die in der Dialektik der Aufklärung aufgestellte These, es gebe "keine erotische Situation, die nicht mit Umspielung und Aufreizung den bestimmten Hinweis vereinigte, daß es nie und nimmer so weit kommen darf."56 Dies wird im Finale II offenkundig thematisiert. Die von solcher Konvention eines Operettenlibrettos unterdrückte Natur kommt jedoch in der Musik zu ihrem Recht. Sie erfüllt, was den Figuren bis zum Schluß des dritten Aktes verwehrt bleiben muß. Auf solchen Widerspruch baut die Spannung dieses überdimensionalen Duetts. Unterteilt ist es in drei Nummern, deren mittlere (Nr. 10), ein Lied mit rezitativischer Einleitung, zwei Strophen und Refrain, Coupletform hat. Auch Nr. 9 und Nr. 11 weisen in sich geschlossene Stereotypen auf, die in der Salonoperette größere Komplexe wie die Finali gliedern; so die einfache Liedstrophe, einmal dem Protagonisten zugeordnet (EA 78, 87, 122f., 125), dann als Duett (EA 89, 116f.) und wiederum die Coupletform als Sololied (EA 11 If., 114f.) oder als Duett (EA 90ff.). Das thematische Material dieser Einzelteile ist neu und gewinnt leitmotivische Bedeutung, ebenso wie die ersten vier Takte von "Schön ist die Welt" aus dem ersten Akt. Es wird analog dem im Graf von Luxemburg beispielhaften Prinzip in den Überleitungspassagen verarbeitet. Und doch stellt hier die mit Zigeunerliebe begonnene musikalische Naturschilderung einen neuen Zusammenhang her.

Endlich allein Π / Der zweite Akt Ein vom Fagott über Englisch Horn und Flöte zur Klarinette gleitendes Hirtenmotiv' (EA 71) gibt in Erinnerung an Tristan die Atmosphäre vor.57 Der Vorhang öffnet sich. Frank zieht Dolly zu chromatisch aufsteigenden Sechzehntelketten der Hörner (EA 76, T. 6/7) auf "den Gipfel eines hohen FelsenPlateaus " (EA 71). Das Orchester verstummt zu naturhafter Stille. Dolly "blickt ihn an: Das sah ich gleich: Ihr seid ein Mensch aus Stahl·" (EA 77). Das Hirtenmotiv wird vom Englisch Horn bestätigend intoniert (EA 77, T. 9/10) und verleiht dem vermeintlichen Bergführer die Aura eines echten, als den ihn "ein kleines Brot mit Speck" (EA 85) ausweist. Doch die Konvention ist damit noch lange nicht gefallen. Dolly "richtet sich kokett her" (EA 87), derweil Franks "Märchen, wundersam mit ihr allein" (EA 86) zu sein, wie in 56 57

Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 165 Vgl. Richard Wagner, Tristan und Isolde, Handlung in drei Aufzügen. Orchesterpartitur, London/Ziirich/Mainz/New York o. J., S. 721 f.

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Zigeunerliebe die Solovioline als Naturlaut zugeordnet wird. Konventionell und kokett beschließt denn auch ein Couplet 'Introduktion und Duettszene' (Nr. 9) - "der nachdenkliche, der gütige, der innerste Mensch Lehár komponiert aus den Tiefen seiner Künstlerseele"5' - ganz im Sinne seines Refrains: "Es steht vom Lieben so oft geschrieben" (EA 92f.). Nachdem Dolly im folgenden Lied sich mit einem Edelweiß - "am Pelzchen so weich, da kennt man es gleich" (EA 99) - verglichen, sich also mit einem Naturwesen erotisch identifiziert hat, bricht Frank kurz darauf im Finale II unter Lebensgefahr und Tuttischlägen geballter Naturgewalt des Orchesters ein solches "Riesenedelweiß" (EA 104) - und wieder bestätigt das Hirtenmotiv solche Naturverbundenheit (Englisch Horn - EA 104, T. 11) - "Was gilt jetzt Name, was Rang und Stand?" (EA 106). Ist die Eindeutigkeit solcher Symbolik offenbar, findet das dadurch entfesselte Innenleben der Protagonistin sein Abbild in der Natur. Von tiefen Streichern eingeleitet, malen Geigentremoli unter fließenden Triolen der Klarinetten aufsteigenden Nebel, der sich zum Gewitter verdichtet (EA 108). Piccolo und Posaunen markieren Blitz und Donner (EA 108, T. 7), alterierte Streicherakkorde (EA 108, T. 8f.) die Gefahr: "Frank (visionär): Wir sterben hier oben"' (EA 108). Sein Liebesgeständnis - "Euch mit verweg'nem Griff die Meine heißen" (EA 111) - wird in diesem Kontext (musikalisch: Sturm; textlich: Edelweißmetaphorik) zur Bedrohung, die Dolly, solcher Todessehnsucht fremd, "zum Abgrund" (EA 111) treibt. Frank kann sie nur mit der Versicherung, "ein Gentleman" (EA 113) zu sein, ein Mann also der Beherrschung innerer Natur,59 zurückhalten. Und so kommt auch deren Spiegel, die äußere Natur, zur Ruhe. "Der rückwärtige Prospekt zeigt Gletscherspitzen" (EA 71). Anders als Zorika scheut Dolly das Aufgehen in Natur und die Hingabe an sie. Und doch verheißt ihr, was sie "nie, noch nie empfand" (EA 116), die friedliche Dämmerung: "Es gibt ein Paradies" (EA 115f.). Nachdem es tiefe Streicher (EA 115, T.8) und Hömer (T.13) durchlaufen hat, erblüht das "Schön ist die Welt"-Motiv in der Solovioline, mündet in eine Kurzkadenz (EA 116, T. lOff.): "Hell wie die Sonne aus wolkigem Flor / strahlt die göttliche Liebe hervor, / Alles blüht, / in die Seele ein wonniger Frühling dir zieht" (EA 116). Für einen Augenblick sind Mensch und Natur in Einklang. Das "Schön ist die Welt"-Motiv löst nach bombastisch triumphierendem Alpenglühen sich in Triolenfiguren gestopfter Horner und Trompeten auf (EA 117, T. 17ff.). Diese Welt ist zwar schön, aber "schon ist es Nacht" (EA 118). Die sequenzierten Signale der 58 59

80

Maria von Peteani, S. 127 Vgl. Theodor W. Adomo / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 55

Hömer verhallen, als ferne Zeichen der Außenwelt (EA 118, T. 2ff.). Die Nacht wird zur imaginären Innenwelt. Dies gleichsam schwebende Durchschreiten von Klangräumen zitiert bis in die Uberblendungstechnik verhallender Homsignale den zweiten Akt Tristan.60 Doch anders als dort ist dies noch keine Nacht der Liebe, nicht Brangäne, sondern der Liebhaber selbst hält Wacht über die Geliebte in einem zarten Ständchen, das, von der Solobratsche (!) pp begleitet61, Frieden im Naturbild ("volles Mondlicht" - EA 119) beschwört: "Die Berge steh'n im Silberlicht" (EA 122). Wieder wird die gefahrliche erotische Situation umspielt, der Kuß auf den Mund zum Handkuß entschärft, während Dolly zu einer Harfenkadenz (EA 125, T. 1) sanft entschlummert. "Es liegt was in der Luft wie ein Skandal" (EA 159), aber auch hier im Gegensatz zur analogen 7>isra«-Situation - er findet nicht statt. Die Geigen flimmern in Zweiunddreißigstel-Tremoli Mondstimmung und "die Liebe wacht" (EA 125f.).

Endlich allein ΙΠ / Der Wagner der Operette Wenn es eine der großen Leistungen Richard Wagners ist, in zehn Welken wagnerisch und doch wieder jedesmal anders zu sein, so ist Lehár eben - man muß es einmal aussprechen - der Wagner der Operette.62

Und wenn Lehár der Wagner der Operette ist, dann wäre Endlich allein der Tristan Lehárs. Nicht nur Hirtenmotiv im Englisch Horn, das Signal gestopfter Hörner und die Solobratsche, sondern die ganze Anlage des zweiten Aktes als großes Liebesduett, deuten es an. Ein des Neuerers Lehár würdiges Experiment, dessen musikalisch freiere Gestaltung sowohl Anstoß als auch Grenzen im Libretto finden mußte. Vor allem die Rahmenhandlung des ersten und dritten Aktes, die in der Zweitfassung von 1930, Schön ist die Welt, einfach ausgetauscht wurde, stellt die Grenze des Experiments einer in die Natur gestellten erotischen Situation dar, das als Ganzes hinter Zigeunerliebe zurückbleibt. Dennoch möchte in der Zeitungsumfrage: Was ich geme komponiere?' - der Meister selbst "als Rekord [diesen zweiten Akt von] Endlich allein anführen, der lediglich zwischen zwei Personen spielt, ein in der Ope60

61 62

Vgl. Richard Wagner, Tristan und Isolde, 2. Aufzug, T.10/11 und 14/15 (Hömersignale), S.311 ff. Vgl. ebd., S. 577 ff. ο. Α., Beilage des Metropoltheaters zum Programmheft 'Schön ist die Welt!', Berlin 1930, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 250 81

rette einzig dastehendes Faktum, das allgemein als ein Wagnis bezeichnet wurde."63 Die zeitgenössische Kritik bestätigt dies Wagnis und orakelt, "daß, wenn Lehár sich entschlossen hätte, den ersten und letzten Akt so zu halten wie den zweiten, eine charmante heitere Oper entstanden wäre."64 Statt dessen entstand kurz darauf Giuditta. Eine wenig heitere Angelegenheit, zielte doch der zweite Akt von Endlich allein schon in andere Richtung als die einer 'heiteren Oper'. Worum all seine Experimente kreisen, ist ein neues "Genre, das keine Oper und keine Operette ist, sondern ein musikalisches Schauspiel [...] sein will,"65 wie Wilhelm Karczag, der Direktor des Theaters an der Wien die Ästhetik seines Hauskomponisten umreißt Er berichtet: Beim letzten Werke von Franz Lehár Endlich allein haben wir viel darüber debattiert, ob wir es nicht 'Ein Liebesroman mit Musik' benennen sollen? [...] Hat es einen künstlerischen Wert? Enthält es leichte und populäre Melodien? Versucht es, wo es notwendig ist, dramatisch zu illustrieren? Ja oder nein? - Das nur ist die Frage!66

Abgesehen davon, daß jede Operette 'ein Liebesroman mit Musik' ist, erweist sich eine Gattungsästhetik des Musiktheaters im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert grundsätzlich als problematisch, zumal bei einem so integrativen und wandelbaren Modell wie der Operette. Die Wandlungen, denen sie Lehár in seinen Experimenten unterzieht, ließen ihn nach den Worten des Freiham Lehár schließlich zu jenem Schöpfer werden, dessen "Wirken und Schaffen [...], weil es so ganz aus der Schablone fällt, viele [...] noch immer rat- und verständnislos gegenüberstehen."67

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Franz Lehár, Was ich gerne komponiere ?, a. a. O., S. 158 Rudolph Lothar, Lehár-Premiere in Berlin. Großer Erfolg seiner Oper 'Schön ist die Welt', a. a. O., S. 252 Wilhelm Karczag, Operette und musikalische Komödie, a. a. O., S. 13 Ebd. Anton von Lehár, Lehár-Geschichten, S. 108

IV. Orpheus wandert ab ... Lehárs Graf von Luxemburg

Seit Offenbach ist der wahre Orpheus in die Operette abgewandert und hat unsere Unterwelt in Besitz genommen.1

Diese Edeloperette, das Schulbeispiel der großen Wiener Operette mit Scharm [sie!], tragischem zweiten Finale und vielen süB-schwebenden Walzern. [...] Einfall - Einfall - Einfall und eine liebenswürdige Menschlichkeit, das wird den Luxemburg noch frisch halten, auch wenn die letzte Säule längst gestürzt.2

Der Graf von Luxemburg gilt nach der Lustigen Witwe als Lehárs zweite große Salonoperette und ist, obwohl er hinter deren epochaler Bedeutung zurückbleibt, vielschichtiger und damit einer Weikanalyse geeigneter. Vor allem musikalisch erweist sich Der Graf von Luxemburg durch Vorwegnahme von Formtypen der Lyrischen Operette als Summe des Lehárschen Oeuvres. Eingehender Untersuchung waren der Wissenschaft bisher nur Die Lustige Witwe und Das Land des Lächelns wert. Während Zimmerschieds Betrachtung beider Werke sich auf Lehárs Finaltechnik konzentriert, Grünberg am Land des Lächelns eine Rundfunkdramaturgie darzustellen versucht, Volker Klotz am Beispiel der Lustigen Witwe die dramaturgische Funktion des Tanzes erläutert und Christian Marten musikalische Aspekte 'im Spiegel der Gesellschaft' aus den Augen verliert, bezieht allein Carl Dahlhaus in seiner Skizze 'Zur musikalischen Dramaturgie der Lustigen Witwe' formale Kriterien ein. Diese verschiedenen Ansatzpunkte zusammenfassend wäre im Gegensatz zu den Experimenten' Zigeunerliebe und Endlich allein gerade das Stereotype des Werks herauszuarbeiten anhand: 1. des Sujets und der Dramaturgie, 2. der musikalischen Formtypen, 3. der Musikdramaturgie. 1 2

Theodor W. Adorno, Arabesken zur Operette, a. a. O., S. 517 sehr., Der Graf von Luxemburg, in: BZ am Mittag, Berlin 25.2.1928, ziL n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 232 83

1. "Wie's nur ein Luxemburger kann! " (GVL 12) Zu Sujet und Dramaturgie des Graf von Luxemburg

Zwischen Oper und Straße I Es ist Eigenart Lehárscher Operetten, sich zwischen Oper und Straße, zwischen Schlagerton und musikdramaturgischer Ambition zu bewegen. Ihr Ort in der Musik, zwischen unten und oben in der Schwebe, bietet sowohl subjektiven als auch kollektiven Gehalten Platz. Aus dieser Spannung lebt ihre Dramaturgie. Thematisch war das schon immer Gebiet der Operette - "les deux pôles entre lequels l'operette n'a cessé d'osciller: le rêve et la parodie."3 Allein war es in den Offenbachschen Anfängen ihr um die Parodie des Oben durch das Unten zu tun, war ihr die Oper Gegenstand des Spotts zugunsten der Straße, so hat Lehár diese Wertigkeit gewendet. Der Graf von Luxemburg vollzieht den Weg dieser Wendung nach, in der bereits der späte Lehár ganz enthalten ist. Deutlicher als in anderen Werken nehmen die Gegensätze hier Gestalt an, sind noch nicht völlig getrennt, zum Schema erstarrt, sondern lassen dramaturgisch Platz zur Entwicklung. Zwischen 'rêve' und 'parodie' entfaltet sich die Handlung, ähnlich der Lustigen Witwe.

Entstehung und Erfolg Den wahrscheinlich französischen Stoff des Graf von Luxemburg hatte, allerdings erfolglos, 1897 bereits Johann Strauß als Die Göttin der Vernunft vertont. Der damalige Librettist, Dr. A. M. Willner, hat ihn dann mit R. Bodanzky überarbeitet und Lehár angeboten, der den Graf von Luxemburg zwischen Fürstenkind und Zigeunerliebe komponierte. Er hatte sich verpflichtet, dem Theater an der Wien' bis Ende 1909 eine Operette, nach Direktor Karczags Formulierung, 'aus dem Armel zu schütteln'. "Lehár also schüttelte. Es machte ihm sogar Spaß. Innerhalb von drei Wochen war der Graf von Luxemburg fix und fertig. Eine schlampige Arbeit, gar nichts dran', sagte er."4 Gerade das Flüchtige der Arbeit aber deckt Lehárs musikalisches Verfahren auf, wie ja auch im Fall Rossinis Der Barbier von Sevilla nicht zuletzt 3

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Robert Pourvenyeur, Rêve et parodìe, in: L' Avant Scène. Opéra / Operette / Musique, La Veuve Joyeuse, Paris Novembre 1982, Nr. 45, S. 10 Maria von Peteani, S. 104

aus diesem Grund so charakteristisch ausfiel. "Even if haste may be held responsible for some rough edges, it would also help to explain, why Lehár's invention generally runs so fteely."5 Wie es Johann Strauß nicht mehr möglich war, hat Lehár "sich in diese moderne Taumelwelt des Genießens hineingelebt, ohne doch in's OrdinärDuljähmäßige verfallend auszuarten."6 Er hat den inneren Rhythmus des Stoffes unmittelbar musikalisch erfaßt, darum steht für die Kritik sein "Luxemburg besonders hoch, weit höher noch als die lustige in alle Welt hinausflatternde Witwe."7 Diese Einheit von Stoff und Musik hob den Graf von Luxemburg beim Publikum "auf das Piedestal der Lustigen Witwe."* Einen Eindruck vom Ausmaß des Erfolgs gibt eine Besprechung der Wiener Uraufführung: "Fast jede Gesangsnummer wurde wiederholt, manche sogar zweimal. Es gab viele Hervorrufe, nach dem dritten Akt 46, wie gewissenhafte Statistiker zählten."9 Die Spielzeit 1909/10, in der neben dem Graf von Luxemburg Fürstenkind und Zigeunerliebe herauskamen, machte Lehár endgültig zum führenden Operettenkomponisten. Seitdem ist, Karl Kraus zufolge, die Welt und leider auch Frankreich von diesem Zwetschgenmus eines musikalischen Schönpflug überzogen [...]. Sie haben eine 'Grande Duchesse de Géroldstein' und spielen den 'Comte de Luxembourg'!10

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Andrew Lamb, Léhar's 'Count of Luxemburg', in: The Musical Times, 114. Jhg., London Januar 1983, Nr. 1679, S. 23. - 1937 hat Lehár Hand an 'die schlampige Arbeit' gelegt, ohne allerdings in die Struktur des Werkes einzugreifen. Er hat zwei Gesangsnummern (Nr. 13, Nr. 19), einige instrumentale Tänze neu komponiert, ansonsten es bei Umstellungen belassen. Am Wesentlichsten dürfte die Integration des Entrées der Titelfigur (vormals Nr. 4) in die Introduktionsnummer des Werks (Nr. 1) ausgefallen sein. Da hier weniger eine Schaffensperiode als der Personalstil im Vordergrund steht, gehen die folgenden Ausführungen von der verbindlicheren 2. Fassung aus. Arthur Neisser, Vom Wesen und Wert der Operette, S. 86 Ebd. Bernard Grün, Kulturgeschichte der Operette, München 1961, S. 415 ο. Α., Franz Lehárs Operette 'Der Graf von Luxemburg', in: Neue Freie Presse, Wien 13.11.1909, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 128 Karl Kraus, Wiener Musik im Ausland, in: Ders., Die Fackel, Bd. 11, XXXIV. Jahr, Mitte Oktober 1932, Nr. 876-84, S. 124

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Gesellschaftliche Sphären Paris und seine Lebewelt machen ebenso den Reiz aus fur das Publikum jener Zeit, wie das aristokratische Milieu - nach dem Wort Tucholskys: "Man amüsiert sich und ist doch in juter Gesellschaft.'"1 Beide Sphären bilden den Rahmen der Handlung, repräsentiert durch die zwei Paare; das Helden- und das Buffopaar. Hinzu kommt ein komischer Alter. Diese Aufteilung entspricht nicht mehr den gesellschaftlichen Sphären der Figuren. Das Buffopaar Juliette und Brissard gehört zwar der Bohème, als unterer Sphäre, an, aber auch der Aristokrat Basil Basilowitsch ist ihrer Handlungsebene zugeordnet. René und Angèle hingegen bewegen sich zwischen Bohème und Aristokratie im gesellschaftlichen Freiraum. Ihre Ungebundenheit verbindet sie: René, als Adliger unters Volk gestiegen, begegnet Angèle, weil sie aus dem Volk in die Aristokratie aufsteigen möchte. Die gesellschaftlichen Sphären begreifen sie als durchlässige, im Gegensatz etwa zu Basil, der nach alter Operettentradtion Angèle erst adeln muß, um sie heiraten zu können. Diese scheinbare Transparenz der Gesellschaft ist die eigentliche Handlungsbasis der Salonoperette. Alles muß möglich sein, vorausgesetzt zwei scheinbare Widersprüche finden zueinander: Gefühl und Geld. Der direkte Kapitalismus ist unter vertrotteltem Feudalismus schlecht versteckt und darin hat, wie auch die Lustige Witwe, der Graf von Luxemburg 1909 seine Wahrheit. Für Dressler ist eine Operette "nie zuvor bei der Ausschöpfung dieses Themas so weit gegangen."12 Dennoch benötigt die Salonoperette jene Relikte alter Operettendramaturgie wie Standesgrenzen etc. als movens der äußeren Handlung. Dieser setzt sie als neuen Wert Innerlichkeit entgegen, die eigene Dynamik entwickelt, um im zweiten Finale mit jener äußeren Handlung zusammenzustoßen, im dritten sich mit ihr triumphierend zu vereinen.

Innere Handlung II Von Bedeutung ist für Carl Dahlhaus diese "Idee einer inneren Handlung jenseits des Getriebes der Intrige - als Kernstück der Lehárschen musikalischen Dramaturgie."13 Die Intrige, als äußere Handlung, bestimmt die Kon11

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Kurt Tucholsky, Operetten (1914), in,: Ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Reinbek 1972, Bd. 1, S. 143 Robert Dressler, S. 24 Carl Dahlhaus, Zur musikalischen Dramaturgie der "Lustigen Witwe', a. a. O., S. 662

stellation aller Figuren. Allein das Buffopaar steht auch noch außerhalb dieses Zusammenhangs. Diese Konzeption eines zweiten Paares außerhalb der Handlung, welches dem ersten nur noch als Staffage beigesellt wird, ist eine unwillkürliche Errungenschaft des Graf von Luxemburg - die fortan alle Wiener Operetten durchtanzt. Valencienne und Camille in der Lustigen Witwe hatten ihre eigene, selbständige Geschichte, die im 2. Finale gewiegt mit der Hannas und Danilos verwoben ward. Das zweite Paar des Graf von Luxemburg hingegen ist mit seiner Situation identisch, die sich durch die Handlung kaum verändert. Im Gestus des "uns gehört die Welt" (GVL 11) zeigt es sich als Abspaltung vom Kollektiv des Chores. Es bezeichnet wie dieser ein Milieu und entzieht sich im "heute ist heute" (ZL 72) tautologisch der Handlung. Dim entspricht der Tanzschlager als kollektive Form. Während Figuren wie Basil und die Gräfin Kokozow ihre Funktion in der äußeren Handlung erfüllen - sie betreiben bzw. zerstören die Intrige - ist das erste Paar "in die Intrige als deren Träger und Opfer verstrickt."14 Gegen den Verlauf der äußeren, die sie auseinandertreibt, entwickeln die Protagonisten jene innere Handlung, die immer der Liebesroman von Annäherung und verborgenen Leidenschaften ist und das Paar schließlich zusammenführt. Im Märchenmotiv des Vilja-Liedes oder des Eva-Walzers ist dies angedeutet. Das "Erlebnis', auf das Lehár sich beruft, basiert auf dieser inneren Handlung, die ihren in die äußere verwickelten Subjekten Identität verleiht Die viel beschworene Psychologie der Salonoperette kommt so zu ihrem schein- und zweifelhaften Recht. Zugleich bietet die innere Handlung Raum für Illusionsgehalte, die thematisch beim Märchen, musikalisch bei der Oper aufgehoben sind. Die Salonoperette spricht ihren Protagonisten subjektiven Ausdruck zu, den ihnen die Typisierung klassischer Operetten noch verwehrte.15 Nur die Figuren der Buffoebene und der Intrige entsprechen noch den klassischen kollektiven Operettentypen. Nicht nur das Personal entfaltet am Gegensatz von innerer und äußerer Handlung seine Polarität, vor allem die Musik fin-

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Ebd., S. 661 Indem Lehár Psychologie und Illusion dann im Happy-End überhöht, stellt er Offenbach, die Operette überhaupt auf den Kopf. Vesuchte Offenbach das Illusionsmoment der Opernmittel durch eine von Tanz und Straße kommende Musik ironisch aufzuheben - in der Offenbachschen Operettenhandlung bleibt am Ende entsprechend alles beim Alten - so führt Lehár, im 'Graf von Luxemburg' noch mit Offenbachschen Mitteln (Basil!), die Operette in die 'lyrische' Sackgasse seines Spätwerks.

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det daran ihre typische Gestalt eines niederen bzw. höheren Stils. In der Salonoperette entsteht eine Dramaturgie, die deren "Stilbrüche dramatisch plausibel macht."16

Zwischen Oper und Straße Π In den Rezensionen des Graf von Luxemburg wird diese musikalische Polarität der Salonoperette, Resultat der dramatischen von innerer und äußerer Handlung, besonders deutlich. Nimmt Alfred Döblin in einer Berliner Kritik den kollektiven Konsens der Buffonummern als "negativ gute Kunst"17 wahr: "die Schlager seien gefallen und der Beifall gestiegen"18 - bemerkt ein anonymer Wiener Kritiker die subjektiven Gehalte des Werks: Man könnte die Operette, was den musikalischen Teil anbelangt, ebensogut eine komische Oper nennen [...]. Lehár hat [sie] in ein instrumentales Gewand gekleidet, das oft an Puccini erinnert [...]. [Ihr] Vorzug [liegt] ebenso in der Anmut und Frische der Erfindung als in der sauberen Technik, [...] die in diesem neuesten Werk noch höher steht als in der Lustigen Witwe.19

Empfindet Döblin den Schlager als dominierendes Element, der Wiener Anonymus die Nähe zur Oper, wäre dieser Widerspruch als signifikant für die Lehársche Salonoperette überhaupt darzustellen. Die Polarität solch widersprüchlicher Wirkung charakterisiert sowohl ihre Musikdramaturgie als auch ihr Sujet. Gerade von diesem wird nach einem Wort Klaus Pringsheims "Geschlechtsinn und Phantasie aufs Behaglichste angeregt; der Geist aber fühlt sich in den entrückten Fernen des Musikdramas."20 In der Vermittlung solcher Gegensätze, die unvermittelt so kaum mehr vermittelbar sind, besteht ihre Eigenart.

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Carl Dahlhaus, Zur musikalischen Dramaturgie der 'Lustigen Witwe', a. a. O., S. 675 Alfred Döblin, Der Graf von Luxemburg (Jan. 1910), in: Ders., Kleine Schriften, Bd. 1, hrsg. von Anthony W. Riley, Ölten 1985, S. 76 Ebd. ο. Α., Theater, Kunst und Literatur. 'Der Graf von Luxemburg', in: Deutsches Volksblatt, Wien 13.11.1909, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 130 Klaus Pringsheim, Operette, a. a. O., S. 186

Intrige Der erste Akt steht ganz im Zeichen der äußeren Handlung. Er ist ein klassischer Expositionsakt, dessen Verlauf die Personen durch die Intrige zueinander in Beziehung setzt. Träger der Intrige ist der reiche Fürst Basil Basilowitsch, der dem verarmten Titelgrafen und Lebemann vorschlägt, gegen ein Honorar von 500 000 Francs eine Scheinehe mit der Sängerin Angèle Didier einzugehen, die wiederum seinen Grafentitel benötigt, um ihren verliebten Förderer Basil heiraten zu können. Als Held ohne Geld' also, ist René erst Träger, dann Opfer der Intrige, die eben am Geld ihr treibendes Moment hat. Der adelige Fürst Basil Basilowitsch bringt den adeligen René, Graf von Luxemburg, unter allseitigem "Allright!" (GVL 47) dazu, seinen Titel gegen Geld zu verkaufen. Adel wird austauschbar mit "Fünfmal hunderttausend Francs" (GVL 43). Der Ausverkauf des Adels aber wird zum Geschäft der Operette. Und es ist ohne Zweifel kein schlechtes. Denn die Operette gewinnt dabei nicht nur die Möglichkeit eines Glücksversprechens, dessen Erfüllung ihren Illusionsgehalt rettet, sondern auch die Identifikationsbereitschaft des gewiß nicht adeligen Zuschauers. Die Offenheit jedoch, mit der sie dieses Geschäft betreibt, verschleiert jenem Zuschauer seine gesellschaftliche Situation in der falschen Identität mit dem Helden.

Kollektiver Held Die große Introduktionsnummer der 2. Fassung stürzt sich mitten ins Milieu. Im Chorteil steckt sie den Rahmen des ganzen Aktes ab: den Karneval, die "allerschönste Zeit" (GVL 4), der den Identitätentausch als Grundsituation der Handlung legitimiert. Renés Lied erfüllt darin die Bedingungen eines Operettenentrées: indem es sich an den Chor wendet, umreißt es dem Publikum die Situation des Helden, dessen Geld "verputzt, verspielt, vertan" (GVL 11) ist.21 Und indem der Chor dasselbe wiederholt, zeigt er an, daß die 21

Wie ein Vorbild dieses Auftritts wirkt die Anekdote, die Siegfried Kracauer in seiner Offenbach-Biographie überliefert: "'Mylord 1' Arsouille', wie Lord Seymour bei der Bevölkerung hieß, pflegte sich während des Faschings damit zu amüsieren, daß er wahllos Geld unter die Massen streute. Je nach Laune hatte er es in früheren Jahren bald aus dem Fenster geworfen, bald von einem großen Daumont herab verteilt, indem er von jungen Frauen und Männern umgeben, plötzlich aufgetaucht war. 'Vive Mylord Γ Arsouille!', hatte die Menge gejubelt." (Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, hrsg. von Karsten Witte, Frankfurt a. M. 1976, S. 35)

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Lage des Helden ein kollektiver Zustand ist: "Einzig dadurch gewinnt er eigenen Umriß, daß er besser und auffälliger das betreibt, was alle treiben. [...] Eigenart in dieser Gattung ist somit eine Sache des Perfektionsgrades."22 Sein Auftritt ist also nach außen gewendet, während etwa Angèles Entrée (Nr. 7) als eine Art Monolog nach innen sich richtet und Basils Auftrittslied (Nr. 5) beides parodistisch verbindet. Bis zu diesem steht die Handlung still. Wichtige Informationen, daß Renés Güter konfisziert sind, Basil mit Gräfin Kokozow bereits verlobt und Angèle Didier der Star der Pariser Oper ist, sind im Dialog enthalten.23

Buffopaar Das Buffopaar hat traditionell kein Entrée, sondern eine Art Vorstellungsduett, hier das sogenannte Bohème-Duett (Nr. 2), das immerhin noch ein Milieu beschreibt. Armand Brissard und Juliette Vermont sind Prototypen des Buffopaars späterer Operetten, das nichts mehr mit der Handlung zu tun hat, sich nicht entwickelt und in prästabilisierter Harmonie nur auf sich selbst noch verweisen kann: Der Maler Armand und seine Freundin Juilette haben wie alle 'zweiten Paare' keine wirklichen Probleme, Standesschranken existieren ohnehin nicht und zuviel Seelentiefe darf es nicht geben, damit das 'erste Paar' dadurch nicht an Wirkung verliert. 24

Ihre Nummern, meist Tanzduette, sind von der Art des Spiels im Spiel, d.h. sie stellen gegenseitig ihre eigene Situation scherzhaft sich dar (die sie selbst ja gut genug kennen), um sie fürs Publikum gleichsam in Musik aufzulösen. "Indem sie musizierend miteinander handeln, handeln sie miteinander vom Musizieren."25 Deutlicher als im Bohème-Duett ist dies in Juliettes Chanson (Nr. 3) der Fall, wo "als höchst modemer Trick: ein Picknick" (GVL 29) Gegenstand der meist aus der Perspektive geselliger Zweisamkeit geführten spielerischen Betrachtung ist - "überdeutlich werfen sie sich ins Als - Ob."26 Das Quintett Nr. 6 ist die erste echte Spielszene der Operette. In ihr wird der

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Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, S. 260 Franz Lehár, Der Graf von Luxemburg, Operette in drei Akten von Alfred Maria Willner und Robert Bodanzky, Musik von — , Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, Wien o. J„ S. 9, S. 15, S. 18 Dieter Zimmerschied, S. 67 Volker Klotz, Operette, S. 131 Ebd.

Grundstein der Intrige, Renés Scheinehe, in Anwesenheit eines Notars, eines Munizipalbeamten und des russischen Botschaftsrats gelegt. Davor und danach werden im Dialog noch die dafür nötigen Formalitäten erörtert. Der gesprochene Dialog ist für die Operettendramaturgie von ähnlich handlungsvermittelnder Bedeutung, wie in der Nummemoper das Secco-Rezitativ.

Angèle und Finale I Angèles Entrée, als reflektierender Monolog, bringt erstmals Innerlichkeit als Moment einer zweiten Handlungsebene ins Spiel. Zu diesem Zweck verschwindet das übrige Personal diskret in einen Nebenraum, um weiterhin die Intrige zu verhandeln.27 Zum ersten Mal steht bei Lehár eine Figur allein auf der Bühne - eine neue Operettensituation, die unterm Siegel der Diskretion Einblicke in das geheime Innenleben einer Figur gewährt und im Tauberlied zum Inventar Lehárscher Werke geworden ist. Wie aus diesem intimen Entrée zu sehen, denkt Angèle im Gegensatz zu René vor allem an die Zukunft, was im Verlauf des Stückes einige Fragen aufwirft - in Nr. 7 zu Beginn: "Wer wird mein Mann?" (GVL 49), in Nr. 8: "Bist du's lachendes Glück?" (GVL 60), in Nr. 9: "Soll ich, soll ich nicht?" (GVL 81), "Bin ich die Deine?" (GVL 140) schließlich im zweiten Finale. Unberührt von Phantasie, Frage und Illusion stellt sie sich selbst ganz desillusorisch unter der Maxime vor: "doch klüger ist's, man wird geliebt, / statt daß man selber Liebe gibt" (GVL 51). Angèle, deren Gefühle den Boden verlassen, verliert ihn doch nie unter den Füßen. So spielt sie souverän ihre Rolle bei der Scheinheirat, die im gesprochenen Text stattfindet. Das Brautpaar, durch "einen Paravent oder sonst etwas Spanisches"28 getrennt, kann sich nicht sehen. Nur beim Anstekken der Ringe wird die Hand für René zum Eikennungsmerkmal. Im ersten Finale (Nr. 8) wird die absurde Situation von beiden reflektiert. Dadurch, daß sie einander nicht wahrnehmen können, richtet sich ihr Blick nach innen. René beginnt Angèle "im Geist [...] als Idol" (GVL 56) sich zu malen. Die seit Angèles Entrée sich steigernde innere Handlung kulminiert in einer Vision ihrer Erfüllung, dem Valse moderato "Bist du's lachendes Glück?" (GVL 60), mit einem ungläubigen Fragezeichen noch ins Reich der Phantasie gebannt und dem Mißtrauen gegen den Zufall, denn "nicht zu jedem soll das

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Denn "wie's da drin aussieht, / geht niemand was an." (LDL 21) Franz Lehár, Der Graf von Luxemburg, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 24

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Glück einmal kommen, sondern zu dem, der das Los zieht"29 Nach Abgang der Gesellschaft, zum ersten Mal allein, verfällt auch der bisherige Repräsentant äußerer Lebewelt, René, dem selbstreflexiven Monolog innerer Handlung. Er beginnt, sich zu besinnen: "Sah nur die kleine Hand" (GVL 65) und endet, um die Besinnung erneut zu verlieren, mit der bittersüßen Frage: "Ist das der Liebe Macht, / die nur ein Traum erdacht?" (Ebd.). Erst jetzt kann der dramatische Konflikt der Salonoperette Gestalt annehmen.

Zweiter Akt / 'Scène à faire' Spielte der erste Akt auf der Straße und in der Mansarde der Bohème, Ort der unteren Figurenebene und des Karnevals, ist ein "Festsaal im Palais der Sängerin Angèle Didier"30 Spielort des zweiten. Ein Ball findet statt und bietet als kultivierte Verlängerung des Karnevals auch weiterhin Möglichkeit zu versteckter und neuer Identität. Der zweite Akt als Fest und Ort des Identitätentausches hat sein Vorbild in der Fledermaus. Der Tanz, der auch hier gefeiert wird, konzentriert sich jedoch vom Kollektiv der Fledermaus auf einzelne Paare. "Die Periode der Turbulenz hat sich individualisiert."31. Der jeweiligen Konstellation entsprechend vollzieht er sich unterm Zeichen der Verinnerlichung (Nr. 11), der Erinnerung (Nr. 16) und der Einlage (Nr. 12), wie schon in der Lustigen Witwe, dem Modell "eines permanten Festes".32 Hatte dort jeder Akt eine Tanzszene des ersten Paares (Nr. 6, 10, 15), zieht hier bereits die Dramaturgie der Tanzoperette alle andern in einer einzigen zusammen (Nr. 11). So muß dieser Akt leisten, was in der Lustigen Witwe noch die beiden ersten Akte zu leisten hatten: das Kennenlemen des ersten Paares, die Tanzszene, in der beide sich finden, und den nichtsdestoweniger unumgänglichen Konflikt im zweiten Finale. Der erste trägt Handlungscharakter nur als Prämisse des zweiten Akts, darin liegt seine Konsequenz als Exposition. Der zweite Akt entwickelt dann nach erfolgten Vorgaben der äußeren Handlung jene innere, deren Ort die Musik ist, um so konzentrierter, da sich aus dem Dialog jedes Handlungsmoment nun zurückzog. Die paradoxe Situation, daß der inneren Annäherung Renés und Angèles das äußere Ziel ihrer Annäherung, die Heirat, vorausging, verhindert, daß Inneres 29 30 31 32

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Theodor W. Adomo / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 171 Franz Lehár, Der Graf von Luxemburg, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 36 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 129 Carl Dahlhaus, Zur musikalischen Dramaturgie der 'Lustigen Witwe', a. a. O., S. 667

veräußerlicht wird. Zwar besteht die Möglichkeit dazu in Nr. 11 und Nr. 13, aber Angèle muß als Mitträgerin der Intrige Contenance wahren, noch mehr Basil, der als einziger die Zusammenhänge kennt. René schließlich muß erst Angèles Identität erkennen und obwohl es ihm in der Trèfle incamat'-Szene (Nr. 14) vergönnt ist, sie zu ahnen, darf er aus dramaturgischen Gründen erst im Konflikt des zweiten Finales Gewißheit erlangen. Der findet zwischen innerer Handlung, die in der Musik unbewußte Gestalt angenommen hat, und den Vorgaben der äußeren Handlung, die erst bewußt weiden müssen, statt. Renés Ehrenwort aus dem ersten Akt, die 500 000 Francs, die er von Basil dafür nahm, und sein Inkognito binden ihn an äußere Vorgaben - auch wenn die innere Handlung mit Angèle abgeschlossen ist, nachdem Angèle und René sich zu erkennen gaben. Das zweite Finale setzt als große 'scène à faire' diesen Konflikt auseinander, modellhaft für die Dramaturgie der Salonoperette.

Die Lösung des 'Gordischen Knotens' oder der dritte Akt Wie dieser Knoten der Widersprüche innerer und äußerer Handlung, von Liebes- und ökonomischen Verhältnissen gelöst wird, ist unerschütterliches Geheimnis der Operettenkonvention, welche in der Quadratur des Kreises versöhnt, was unversöhnbar geworden war. Das zweite Finale hat seine Berechtigung gerade im Zweifel daran. Das Korrelat dieses Zweifels an versöhnlicher Einheit ist seine musikdramatische Anlage, der die Einheit der Musik in motivische Fragmente zerfällt. Hat Der Graf von Luxemburg hier einen Zug ins Große, ist im Versöhnungswerk des dritten Aktes dafür kein Platz mehr. Der fällt zurück in eine lose Nummernfolge, die zur Hälfte aus Reminiszenzen (Nr. 19 là, 21, 22) besteht. Zum Schema des dritten Akts gehört nun dramaturgisch die Einführung einer neuen Person, fernes Echo eines Deus ex machina und der rituellen Wurzeln der Operette übers Volkstheater. Die Tradition will diese seit dem Frosch der Fledermaus, der ja eben noch keine dramaturgische Funktion zu erfüllen hatte, als komische Person. Als solche wird denn auch die Gräfin Kokozow in der Ballettszene Nr. 18 vorgestellt. Dieser bereits von der Revue geprägten Ausstattungsszene steht ihre Couplet-Einlage Nr. 19 entgegen, die das Wiener Volkstheater zitiert. Beide Nummern fehlen zudem in der ursprünglichen Fassung von 1909 und wurden erst 1937 dazukomponiert. Erst die Dialogszene vor dem Finaletto führt die Handlung, die seit dem zweiten Finale stagnierte, zu En-

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de." Indem durch die Gräfin Kokozow und Basils alte Heiratsverpflichtung der dramatische Konflikt hinfällig wird, kann der wieder flüssige René sein Ehrenwort zurückkaufen. Basil darf notgedrungen seine Stasa heiraten. Juliette und Brissard unterdessen waren bereits auf dem Standesamt. Die äußere Handlung entläßt René und Angèle ins lachende Glück'. Der "kollektive Schwung [des Finaletto III schließlich] reißt den Einzelnen aus seiner allzu privaten, nützlichkeitserpichten Eigensüchtigkeit [...]. Die momentane Eintracht"34 macht alle zu Bohémiens. Alle "denken eh bien - 's geht auch ohne Geld" (GVL 160), wenngleich ja René zuvor die konfiszierten Güter durch ebenfalls glückliche Fügung des Zufalls zurückgegeben wurden. In der Stretta taucht als verheißungsvolles Posaunenmotiv noch einmal das lachende Glück' auf.

2. "Man greift nicht nach den Sternen." (GVL 86) Zu den musikalischen Formtypen des Graf von Luxemburg

Formtypen Wie die Operette überhaupt steht auch Lehár unterm Diktat musikalischer Formtypen. Bieten in der Nummemdramaturgie Finali und Spielszenen noch Möglichkeit autonomer Gestaltung, so fällt sie in den Einzelnummern ganz aus. Heischt Melodik nach dem "Zauberbann der Symmetrie"35, verlangt deren Faßlichkeit faßliche Zusammensetzung der Einzelteile einer Musiknummer. Hierzu stehen der Operette einige wenige Stereotypen zur Verfügung, die sich bei Lehár am Beispiel des Graf von Luxemburg deutlich kri33

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Dies bewerkstelligt der Operettendialog auf eigene Weise. Er dient zur Unterbringung von Information und Pointe, holt damit nach, was die Musiknummern versäumen müssen. Nur selten entsteht eine Situation wie die Wiedersehensszene zwischen Basil und Gräfin Kokozow. (Franz Lehár, Der Graf von Luxemburg, Vollständiges Regieund Soufflierbuch, S. 78). Bezeichnend sind eher Äußerungen, wie die Renés, nachdem die Kokozow sich über die Anteilnahme an ihrer Verlobung mit Basil verwundert zeigte: "Ja, wir nehmen einen großen Anteil - wir nehmen sogar eine Aktie, wenn Sie wollen" (Ebd., S. 76). Oft ist der Dialog nur Gelegenheit zu derlei Wortspielen, anstatt Ort echten Spiels zu sein. Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, S. 260 Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, S. 45

stallisieren. Zu unterscheiden sind nach jeweiliger Provenienz höhere und niedere Formen. So sind Rezitativ und die dreiteilige Form, die von der Arie sich ableitet, der inneren Handlung als Modelle subjektiven Ausdrucks zugeordnet. Hier sucht Musik die Nähe zur Oper. Die Musik der äußeren Handlung und gerade solcher Nummern, die ganz außerhalb der Handlung stehen, bleibt dagegen kollektiven Mustern verpflichtet Als Modell dieser Form erweist sich das Couplet. Strophe und Refrain sind seine beliebig kombinierbaren Konstanten. Ob es sich um ein Chanson oder Tanzduett handelt, meist nehmen Einlagen und Schlager einer Operette Coupletform an. Aber nicht allein solche Formtypen unterscheiden die musikalischen Sphären, sondern vor allem ihre kompositorische Faktur: die Art der Melodik, ihr Verhältnis zur Harmonik etc. Hier, vielmehr als in den bis in die letzten Werke ausgeprägten Formtypen, liegt der Ausdrucksgehalt Lehárscher Musik, ihr spezifisches Moment

Kollektives und Subjektives Was an ihr schematisch im Sinne kollektiver Muster bleiben muß, ist ein Allgemeines, objektiver Gehalt ihrer Epoche. Es ließe sich im einzelnen durch Schönbergs Definition des Volkstümlichen' bestimmen, daß nämlich: 1. Alles Geschehen in der Melodie konzentriert ist. Dabei ist die zugrundeliegende Harmonie sehr einfach, [...] reicher Wechsel entsteht nur durch die Dissonanzen, die die Melodie mittels freier und vorbereiteter Durchgänge und Wechselnoten bildet [...]. 2. Die erfundenen Gestalten werden sehr oft und nur in unwesentlich variierter Form wiederholt 3. Erst, wenn durch diese Wiederholungen Auffassungsmöglichkeit garantiert ist, beten neue weiter abliegende Gestalten auf. 4. Treten sie früher auf, so wird nachher oft wiedaholt. 5. Zudem wird jeder Teil an sich wiederholt.36

Gerade wo Lehar dieser Regel nicht entspricht, behauptet sich Subjektivität als Abweichung von der Regel. Entsprechend erfüllt sich die Regel dort, wo die Operette seit jeher ihren Figuren Subjektivität verwehrt - außerhalb der Liebesgeschichte, jener inneren Handlung, die dem ersten Paar vorbehalten bleibt Ihm dient die Typisierung des Kollektivs als Kontrast eines Erlebnisses' außerhalb der Regel. Die Entsprechung der Regel aber zeitigt das Sche36

Arnold Schönberg, Beschreibung Johann StrauB', in: Musikkonzepte. Sonderband Arnold Schönberg, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehm, München 1980, S. 10

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ma. Die Buffonummem bestätigen das. Allein schon, daß sie meist Tanzduette sind, beschwört die kollektive Macht der Musik, vereint doch der Tanz hier zum mindesten zwei Menschen. Im Graf von Luxemburg gibt es drei solcher Tanzduette: einen Marsch (Nr. 2), einen Walzer (Nr. 12) und eine Polka (Nr. 16). Daß der Walzer bereits hier seine Vorherrschaft einbüßt, zeigt das Schwinden kollektiver Gehalte aus ihm. Die Hauptwalzer der Operette (Nr. 8,9, 11) sind keine Tanzwalzer, vielmehr Valse moderato mit dem Ausdruck intimer Subjektivität, allein oder zu zweit gesungen. Dieser Valse moderato ist eine Lehar-Schöpfung, während seine Tanzwalzer von traditionellen Schemata zehren. Der Tanzwalzer im Graf von Luxemburg (Nr. 12), zweifellos ein Schlager, ist dafür exemplarisch;37 ebenso wie für den Valse moderato der aus dem ersten Finale (Nr. 8): "Bist du's lachendes Glück?" (GVL 60). Beide böten sich zum Vergleich an, prägen sie doch typisch jene Formen aus, die der Walzer bei Lehár annimmt Sie sind Endpunkte einer Skala vielfaltiger Möglichkeiten. (Allein im Graf von Luxemburg gibt es 11 Walzer, davon 5 Valse moderato.)

"Mädel klein, Mädel fein" oder Tanzwalzer Der Valse moderato ist 'etwas' langsamer und weist eine 'etwas' reichere harmonische Gestaltung auf als der Tanzwalzer, dennoch macht dies nicht den eigentlichen Unterschied aus. Der erste Eindruck, daß der Valse moderato 'schwebe', der Tanzschlager jedoch fest 'auf dem Boden stehe', hat nicht darin seine Ursache. Ganz im Sinn von Schönbergs Definition des Volkstümlichen' ist der Tanzwalzer dem Diktat seiner Melodie unterworfen, die Harmonik ist ihr verpflichtet. Stets bleibt in ihr die Melodie transparent. Der Drang zu häufigen Wechseln in der Vertikalen rührt daher. Die Funktionen wechseln taktweise. Sie folgen der Horizontalen im Sinne eines lockeren Akkompagnements. Die Musik 'fließt'. Fiele die Harmonik auf, störte sie diesen 'Fluß'.

"Bist du's lachendes Glück" oder Valse moderato Im Valse moderato "Bist du's lachendes Glück" stellt Lehár große Melodiebögen von bis zu acht Takten in den Raum einer einzigen Funktionalität. In 37

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Die Rede ist im folgenden nur vom Refrain: "Mädel klein, Mädel fein.." (GVL 95f.)

ihm bewegt die melodische Linie frei sich fort, ohne ihn zu verändern. Trotzdem kann jeder Ton der Melodie einen eigenen Akkord beanspruchen. Allein, diesem fehlt die Potenz, Funktionalitäten zu versetzen. Derartige Akkorde, meist alterierte Zwischendominanten (GVL 60, T. 25/26), chromatische Durchgangs- (GVL 60, T. 31.3 - 61, T. 10.3) oder Vorhaltsakkorde (GVL 60, T. 30.2+3), eröffnen zwischen Melodie und der melodieimmanenten Funktionalität eine dritte Dimension. Sie erst verleiht dem Valse moderato seinen spezifischen Ausdruckswert. Wider den determinierten Strom der Funktionalität simulieren sie die Möglichkeit, diesem zu entrinnen. Sie bleiben jedoch Ornament. Als solches können sie Mittel zum Zweck instrumentaler Effekte werden: Die chromatische Auflösung eines alterierten Durchgangsakkordes z.B. in T.31.3 - 32 (GVL 60) hat Streichercharakter. ("Unter der reicheren Oberfläche liegt [...] kahl, unverändert, deutlich ablösbar das primitivste harmonisch-tonale Schema."38 ) Zwischen harmonischem und funktionalem Verlauf also unterscheidet der Valse moderato. Diese scheinbare "Weite' Lehárscher Musik evoziert Freiheit. Die Freiheit der Melodie ist die ihres Subjekts. Dieses Subjekt aber bleibt eingebunden in einen festen Zusammenhang, "so daß sich der Hörer zugleich harmonisch auf sicherem Boden und melodisch in der Schwebe gehalten fühlt" 39 Dies Gleichgewicht von Bindung und Freiheit hält die Operette als ihren eigentlichen Konfliktstoff durch die Dramaturgie äußerer und innerer Handlung, für Volker Klotz "eine Musikdramaturgie des Konjunktivs, [deren Gegenstand] Glückszustände [sind], die irgendwann irgendwo sich erfüllen werden"40, im Gegensatz zum kollektiv und im Augenblick erzielten halben Glück der Buffofiguren. In "Bist du's lachendes Glück" wird für einen Augenblick die Außenwelt ausgeblendet und die Protagonisten öffnen "nachdenklich für sich" (GVL 60) ihr Inneres. Für diesen Augenblick sind sie als Subjekte sichtbar. Es ist wie der Einbruch einer anderen Welt hinter der sichtbaren der Figuren. "Wie von einer momentanen Eingebung erfaßt, betrachtet jeder seinen Ehering und wird sich plötzlich des Ernstes der Situation bewußt" (Ebd.). Der Zustand, in dem sie sich befinden, ist jedoch gerade ein unbewußter. Die chromatisch durchtränkte Harmonik und vor allem die Celli, die in hoher Tenorlage die Melodie führen (GVL 60, T.9-16), erinnern von ferne an die Tristan- Atmosphäre, wie sie in den letzten Worten des Walzers sich ausspricht: "Lieb in Lust und Leid" (GVL 61). Darüber 38 39 40

Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a. a. O., S. 774 Carl Dahlhaus, Zur musikalischen Dramaturgie der 'Lustigen Witwe', a. a. O., S. 660 Volker Klotz, Operette, S. 454

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hinaus gemahnt die Führung der Singstimmen zum einen an die Eigenart der Puccinischen Kantilene, die Norbert Christen zufolge darin besteht, "daß eine Phrase mit einer relativ langen Note beginnt, aus der sich die Melodie gewissermaßen herauslöst, sich entfaltet."41 Zum andern übernimmt Lehár hier die von Puccini oft an dramatischen Höhepunkten als Ausdruck der Emphase benutzte Manier, Sopran und Tenor in Oktavparallelen zu führen.42 Scheinen die Wagner-Anklänge eher adaptiert, besteht zwischen Lehár und Puccini durchaus eine enge Beziehung, die andern Orts zu erörtern wäre (s. V.l. sowie VI.l.). "Man nennt ihn [Lehár] nicht umsonst den Puccini der Operette."43

Antithesen Daß solche Opernbezüge Subjektivität und Innerlichkeit bezeichnen sollen, zeigt ihre Qualität im dramaturgischen wie musikalischen Kontext des Graf von Luxemburg. Der Valse moderato bildet eine Gegenwelt zum Tanzwalzer, eine individuelle Antithese zum Kollektiv. Die Opernzutaten distanzieren ihn vom Schlager und dem gemeinsamen harmonisch-tonalen Schema, das er dennoch nicht leugnet. Auch der symmetrische Phrasenbau (bei Nr. 12 - 4x4/ bei Nr. 8 - 4x8+8) ist hier von ähnlicher Ambivalenz, bricht doch die leicht veränderte Wiederholung der letzten Phrase jene Symmetrie scheinbar auf. Die Instrumentierung hingegen unterscheidet die Sphären deutlich. Die kulturelle Spaltung von Oper und Schlager wird so zur immanenten der Operette selbst. Trotzdem hat in den beiden Walzertypen am Graf von Luxemburg musikalisch Anteil das Individuum von avant guerre, das seine Psychologie hat und Stimmung und sogar eine Seele - und das genaue Korrelat solchen Individuums: die Gemeinschaft der fröhlich Tanzenden, die über einen sicheren Boden schweben.44

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Am Beispiel von "In quelle trine morbide" ('Manon Lescaut1) erläutert in: Norbert Christen, Giacomo Puccini. Analytische Untersuchung der Melodik, Harmonik und Instrumentation. (Schriftenreihe zur Musik 13), Hamburg 1978, S. 44 Vgl. z.B.: Giacomo Puccini, Tosca, Opera in three acts, Libretto by G. Giacosa e L. mica, based on a drama by V. Sardou, Reduction for voice and piano by C. Carignani, Milano 1980, S. 318 T. 2; S. 320 T. 4 Otto Keller, Die Operette in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Musik - Libretto Darstellung. Mit 54 Tafeln, Leipzig/Wien/New York 1926, S. 301 Theodor W. Adorno, Schlageranalysen, a. a. O., S. 781

Wiener-Walzer-Intermezzo Zu unterscheiden ist der Tanzschlager Lehárscher Prägung noch vom klassischen Walzer, z. B. eines Johann Strauß. Im 1937 nachkomponierten Walzer-Intermezzo des zweiten Finales sind sie zusammengefaßt. Beim "Wiener Walzer'-Thema des ersten Teils (GVL 123 [1]) ist im Widerspruch zum Walzerschwerpunkt die 3 zur 1 synkopisch überbunden. Darin könnte sich gleichsam ein Dialog zwischen dem ausdrücken, was beim Tanz die Augen sagen (der Augenschlag als Synkope) und der Konvention, der die Füßen folgen (der Schwerpunkt 1), zwischen Subtext und Text. Daß dies Thema des staccato-Teils Wiener Eigenart entspricht, zeigt sich darin, daß die Wirkung des guten "Wiener Walzers' auf seiner 'antaktigen' - statt wie anderweit üblich, 'auftaktigen' Phrasierung wohl beruht, die dem eigentümlichen Schleifer auf dem schlechten Taktteil in der Taktmitte Nachdruck und Schwung erst mitverleiht.45

Im Graf von Luxemburg kann er nur ein Zitat sein und bleibt es dramaturgisch gerade als Balletteinlage. Als epigonale Form hat er sich in der Salonoperette überlebt und taucht entsprechend erst wieder in Zusammenhang mit dem nostalgischen Spätwerk auf (vgl. Balletteinlagen in Paganini, Zarewitsch). Desto mehr entspricht der Mittelteil dem Lehár-typischen Tanzwalzer (GVL 124 [3]). Das Thema (legato) ist pentatonisch, geprägt von der Tonika mit der 'sixte ajoutée'. Es besteht aus Terzketten, die in der klassischen Melodik so nicht verwendet werden. Mehr als zwei, höchstens drei Terzsprünge nacheinander kennt diese meist nicht, weil solche Themenbildung gegen Entwicklung sich sträubt.

Exkurs: Pentatonik Der Gebrauch pentatonischer Gebilde verleiht Lehárs Melodik auch in den Buffonummern Leichtigkeit, die sich mit Textzeilen trifft wie: "Was schert uns das Ziel" (GVL 22). Dieser Satz aus dem Bohème-Duett (Nr. 2) kennzeichnet die Haltung seines Refrains. Er formuliert textlich und musikalisch für einen Augenblick eine kollektive Haltung der Zeit. Dieser Augenblick ist dramaturgisch isolierbar im Sinn des Schlagers. Er hat wie der Tanzwalzer Nr. 12 die Kraft des echten 'Reissers', den Augenblick als kollektives Moment festzuhalten, indem er so allgemein gehalten ist, daß jeder in ihm sich

45

Arthur Neisser, S. 54

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wiederfinden kann. Seine Leichtigkeit befreit Figuren und Zuhörer vom Druck der Individualität, der Handlung bzw. des Alters.44 Es ist eine Schlaraffenmusik und gleicht der Wirkung des "wir brausen dahin" (GVL 25), die es in den Schlagworten: "Auto" (GVL 24) und "Zeppelin" (GVL 25) beschwört. Statt von romantischer Traum- und Gegenwelt, wie das erste Paar, spricht das Buffopaar in der Assoziationskette der Reklame von allem, "was gut und neu" (Ebd.). Und immerhin mag das Gute hier noch neu sein.

Verbindungen Derselben Sphäre gehört auch der im ersten Finale dem "Bist du's lachendes Glück" vorausgehende Walzer an: "Sie geht links, er geht rechts" (GVL 55). Er hält sich in den ersten vier Takten an ein rhythmisches Grundschema des Walzers: zwei auftaktige Achtel, die auf dem Halbton (Schlag 1 und 2) sich ausruhen. Der Abschluß dieses Walzers ist symptomatisch für Lehárs Personalstil: Eine auf dem Quartsextakkord aufbauende, pentatonisch anmutende Staffette ruft den Eindruck von Leichtigkeit hervor, den der Text schon evoziert: "leicht erträgt man solch ein Los, / lebt dabei famos" (GVL 56). Obwohl als Valse moderato bezeichnet, widerspricht dieser Walzer dem aufgestellten Modell ("Bist du's lachendes Glück").

"Am besten schmeckt's dem Bübchen", Zwischenformen Der Valse moderato, der den Refrain von Juliettes Chanson (Nr. 3) bildet, stellt eine Zwischenform dar, ähnlich dem Mittelteil des Walzer-Intermezzos. Wie bei jedem Valse moderato liegt im Bereich des Übergangs vom dritten zum vierten Abschnitt der harmonische Höhe- und Wendepunkt, gewissermaßen eine musikalische Peripetie. In der moll-Subdominante verdichtet sich das Geschehen (GVL 31 T. 12/13), im Quartsextakkord (GVL 31, T. 14+16) löst es sich auf. Von der Lösbarkeit aller Konflikte erzählt solche Musik, wie es einer Soubrette ziemt, als wolle sie sagen: "Kinder, macht euch nichts draus" (GVL 161).

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Analog zum im subjektiven Moment aufgehobenen Kollektiv der Umgebung (z.B. "Bist du's lachendes Glück") hebt der kollektive Schwung dieser Nummer die Individualität ihrer Figuren auf. Sie werden mit der Außenwelt identisch.

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Subtext der Soloinstrumente Zum ersten Mal bringt das Auftrittslied des Basil (Nr. 5) die dreiteilige Form ins Spiel. Es stellt formal und als solches eine Ausnahme in seinem Fach dar. Als Form subjektiven Ausdrucks will es sich unterscheiden von der kollektiven des Couplets, der alle bisher behandelten Nummern, "Bist du's lachendes Glück?" ausgenommen, verpflichtet waren. Aber bereits der Text des A-Teils mit dem unsinnig oft wiederholten "verliebt" (GVL 37) macht ihm diesen Ausdruck streitig - vollends die Komposition: die pikante pizzicatoBegleitung der Streicher, das "lala-lala-lala-lala" ("mit Kopfstimme" - GVL 38) und der zugespitzte alteriate Akkord in Takt 21 (Blech gestopft - GVL 37) auf Basils Textmotto "Ich bin verliebt", vom Chor auf demselben alterierten Akkord bestätigt. Der russisch sich gebenden Tiefe des B-Teils schließlich ist ein 'Subtext' unterlegt, in welchem die Soloinstrumente parodistisch Basils Gesang kommentieren: Klarinettenläufe, staccato-Triller der Flöte, gestopfte Hörner und Trompeten sowie Nachschläge der Pauke. Dieses Verfahren eines Subtextes der Soloinstrumente, von Lehár etwa in der "anständigen Frau"(LW 18, T. 7) der Lustigen Witwe verwendet, führt beanspruchte Subjektivität ad absurdum und ist durchaus noch im Geiste Offenbachs. So ist der Nachgesang des Chors hier keine kollektive Bekräftigung, sondern Hinweis auf mangelnde Glaubwürdigkeit solchen Subjekts. Ihm wird sowohl das kollektive Einverständnis entzogen als auch eine Form abgesprochen, die ihm als kollektiver Figur nicht ansteht. Basil befindet sich wohl im gesamten ersten Akt stets auf der Höhe der Helden, sein Auftrittslied jedoch gibt zu verstehen, daß er dort fehl am Platz ist.

"Knöpschen klein, Knöpschen fein" oder Parodie Sein Falterlied im zweiten Finale (Nr. 17) bewegt sich, indem es die 'Spiel im Spiel-Situation der Buffofiguren aufnimmt, bewußt auf dieser parodistischen Ebene. Eingeleitet wird es durch eine Variante des Ε-dur Vorspiels des Entrées Angèles, an die es ja gerichtet ist. Es ist ganz offensichtlich im Volksliedton gehalten, steht also in krassem Gegensatz zu dem, was Basil "in verliebtem Schäferton, neckisch" (GVL 119) zum Ausdruck bringen will. Das Pathos eines Wechsels in die Paralleltonart cis-moll ("Knöpschen klein, Knöpschen fein" - ebd., T. 28) verstärkt diesen Gegensatz noch. Genauso das "Surre, surre, summ, summ, summ" (GVL 120, T. 13ff.), dessen Diktion 101

Basil vollends zum klassischen Baßbuffo und Operettenkomiker stempelt Sein Versuch, die langausgehaltenen Töne Angèles (Nr. 7) für sich in Anspruch zu nehmen, gerät zur Parodie. Ebenso unartikuliert wie der Text muß solch versuchter subjektiver Ausdruck bleiben: "Oh - oh - ach - ach - " (GVL 120, T. 21ff.) - erst trifft er den Ton nicht (Vorschlag), dann kann er ihn nicht halten, als wolle er Angèles Befürchtung in einem anderen Zusammenhang bestätigen: "Ich nehme den Willen für die Tat! So denke ich mir auch unsere Ehe."47 In der Figur des Basil gibt Lehár dem Spott preis, was er im ersten Paar überhöht: "Genug der Poesie" (GVL 121).

Inneres Objekt und Couplet I Ebenso wie ihm die Handlung Glück verweigert, verweigert ihm die Musik Subjektivität. Zwangsläufig sind seine übrigen Nummern kollektiven Typen verpflichtet: Ensembles und Tanzschlagem. Die Operette weist ihn diesen zu, "indem sie ihm alle Spuren der Persönlichkeit ausmerzt."4" Basil erkennt dies an, wenn er sich von den Buffofiguren ins Marschterzett Nr. 20 integrieren läßt, in dem die Musik jede Individualität verloren hat und ein akzentuierter Marschrhythmus die simple Melodie über das Auf und Ab einfacher Harmonik vorantreibt, der Refrain schließlich die Liebe als inneres Objekt besingt, das nichts als banalste kollektive Projektion ist: "Liebe, ach du Sonnenschein, / du bist so zu- zu- zu- zuckersüß" (GVL 154). Dieses innere Objekt, kennzeichnend für die Buffosphäre, definiert Volker Klotz für die Operette tautologisch: Die "Figuren lieben die Liebe, leben das Leben. Und: sie tanzen das Tanzen."49 Basils Tanzduett Nr. 16 unterscheidet sich allein durch die überkommene Form der Polka vom Typus des Buffoschlagers. Ansonsten unterliegt es wie dieser dem Schema des Couplets. Gerade in ihm verdeutlicht sich das dialogische Prinzip der Strophenteile solcher Couplet-Refrain-Duette. Basils in moli überhöhtes Bild der Vergangenheit ("Ein Löwe war ich im Salon" G V L 114) im ersten Teil der ersten Strophe, bricht Juliette durch das gegenwärtige in dur ("Doch schütter wurde mit der Zeit..." - ebd.). Erst im kollektiven Schwung des Refraintanzes (in Juliettes dur) weiden sie sich einig. In der zweiten Strophe übernimmt dann Juliette Basils moll und dieser

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Franz Lehár, Der Graf von Luxemburg, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 43 Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, S. 210

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Ebd., S. 190

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ihr dur. Von ähnlich dialogischer Struktur sind sämtliche Coupletstrophen der Tanzschlager (Nr. 2, 12, 20), die im kollektiven Moment des Refrains erst die Partner vereinen.

Couplet II Führt Basils Entwicklung von individuellen zu kollektiven Formtypen, ist die Renés eine umgekehrte. Die ausgedehnte Eröffiiungsnummer weist seinem Entréelied den zentralen Platz zu im Rahmen des Kamevalstrubels der Straße. Dieses Lied appelliert an die kollektive Macht der Musik. Ist doch dies "Volk von Paris" (GVL 8), das es anspricht, nichts anderes als ein Spiegel des Operettenpublikums. Als Marschlied ist es exemplarisch für den Typus des Couplets. Wie die Figur Renés aus dem Chor heraustritt, tritt dieser im Refrain wieder in Erscheinung, um jenen zurückzuholen als Repräsentant seiner selbst. Bedenkt man hier die Methode des Textes, im Couplet gleichsam die Geschichte des eigenen Refrains zu erzählen, so ergibt sich als wahrscheinliche Auslegung, es wollte in ihrer stereotypischen Gestalt die leichte Musik die Tatsache der Entfremdung meistern, indem sie das berichtende, zuschauende, abgelöste Individuum, sobald es den Refrain anstimmt, in ein fiktives Kollektiv aufnimmt.50 Nicht umsonst stammt der Refiain von der Gepflogenheit, den Chor die prägnanten Schlußzeilen des Sololiedes wiederholen zu lassen und damit zu objektivieren.31

Und so erzählt Renés Couplet die Geschichte seiner Haltung im Refrain, den der Chor wiederholt und der ihm in Nr. 4 allein zufällt Die Coupletform bietet dem Publikum die Möglichkeit, "vom Kollektiv umfangen oder selber eine gehobene Persönlichkeit zu sein."52 Der Aufbau der ganzen Eröffiiungsnummer schließt beide Möglichkeiten ein. Der Kamevalschor des Anfangs reißt den Zuschauer sogleich ins kollektive Geschehen, welches eben durch den Karneval legitimiert wird: Leichtsinn ist die Parole, Die heute jung und alt regiert. Wer kein Philister ist, Mit uns marschiert. Und wer kein Ducker ist, Nicht lang sich ziert. (GVL 5)

50

Theodor W . Adomo, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a. a. O., S. 775

51

Ders., Schlageranalysen, a. a. O., S. 780

52

Ders., Zur gesellschaflichen Lage der Musik, a. a. O., S. 775

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Also marschiert das Publikum mit Eine "Vokalfanfare' (GVL 8 [4] - a capella) bereitet Renés Entrée vor. Die Coupletstrophen beschreiben ihn als "adelige[n] Demokratien]" (GVL 10), der Geld und Herkunft als Mittel der Unterscheidung selbst aufgegeben hat. Die Haltung des Refrains überliefert ihn als Subjekt denn auch dem Kollektiv: So liri liri lari, Das ganze Moos ging tschari, Verjuxt, verputzt, verspielt, vertan, Wie's nur ein Luxemburger kann. Mich plagen keine Zweifel, Drum ruf ich, hol's der Teufel. Das Leben liri lari lump, Ist nur ein Pump. (GVL 11)

René, als Identifikationsfigur der 'gehobenen Persönlichkeit1, ist vom Kollektiv umfangen. Er vereinigt beide Rezeptionsmöglichkeiten in sich.

"Trèfle incarnat", eine erweiterte Szene Die große Trèfle incamat'-Szene (Nr. 14)53 zeigt ihn dann endlich als Persönlichkeit mit eigener Sprache. Zum zweiten Mal steht René allein auf der Bühne. Wie beim ersten Mal, in Nr. 8, bildet das große Liebesmotiv der Operette den musikalischen Mittelpunkt. (Dort: "Sah nur die kleine Hand" GVL 65 - hier mit verändertem Text: 'Einmal, wo war es nur?" - GVL 109). Dieses Liebesmotiv bildet den Raum von Renés Subjektivität. Diese prägt im Typus der Soloszene sich aus. Kennzeichnend ist ihre offene Form, obwohl sie entfernt an Rezitativ und Arie der Opernszene erinnert, die sich im 19. Jahrhundert aufzulösen begann, bis sie gänzlich ins Musikdrama einging und in der Operette erneut ihren Platz fand.54 Der Α-Teil beinhaltet das Liebesmotiv (moderato - GVL 109) und seine Wiederholung (GVL 112, T. 22ff.), B-Teil wäre "Es duftet nach Trèfle incarnat" (GVL 111, T. Iff.). Das Liebesmotiv des Α-Teils stellt protzig das 53

54

Sie hatte 1909 andere, wenn auch ähnliche Gestalt. 1937 änderte Lehár vor allem den Aufbau, indem er Wiederholungen, besonders der Trèfle incarnat'-Passage selbst, strich. Für Volker Klotz gehört sie "zu den markantesten in der Geschichte der Gattung Operette." (Volker Klotz, Operette, S. 447) Bei Lehárs Vorbild Puccini noch rudimentär erkennbar - vgl. Giacomo Puccini, Madama Butterfly, Tragedia giaponese in due atti, Libretto di Giuseppe Giacosa e Luigi Illica (da John L. Long e David Belasco), Partitura, Milano 1980, S. 230 [12] -"Un bel di, vedremo..."

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männliche Gegenstück der charakteristischen Solonummern Angèles, vor allem ihres Ständchens in Nr. 9 ( G V L 80f.), vor - ein Tenorbravourstück. Chromatische Vorhalte ( G V L 109, T. 18.1 - 110, T. 1.1+7.1) intensivieren seinen Ausdrucksgehalt. Eine besondere Finesse stellt der dominantische Quintsextakkord auf g, eigentlich der fünften Stufe der Grundtonart C-dur, dar, der die Tonart des unmittelbar folgenden 'Trèfle incarnat'-Teils (As-dur) antizipiert (gesteigert durch decrescendo, forzato und glissando der Harfe G V L 110, T. 12/13). Der Akkord scheint im 'Trèfle incarnat', dem Duftkomplex des Klees (Triflonium incarnatimi) "mit der narkotischen Komponente, einen ausgesprochen schwülen Geruch"55 und dessen Wirkung zu beschreiben. René ist "berauscht" ( G V L 110), er wird "ganz nachdenklich" (Ebd.). Die chromatische Schwüle des tonartfremden As-dur Akkords in Takt 12/13 löst sich im weihevollen As-dur56 des B-Teils auf ( G V L 111), wie die betörende Duftwolke in einen erkennbaren Duft. Der zuvor als 'falsch' identifizierte Klang erweist sich als 'richtig'. Das flimmernd impressionistische Gepräge dieses 'Trèfle incarnat'-Teils entspricht dem. Diesen Klangeindruck ruft z. B. der Sept-Sext-Durchgang beim ersten und zweiten "wie damals" (Ebd., T.3/4) hervor oder die Terzsextenkette über dominantischem Baß "lockt so berauschend und süß" (Ebd., T.9). Die Parfumwolke entfaltet sich schwebend zur Erinnerung. Anderen Charakter haben das folgende Allegretto, bzw. Allegretto moderato, ebenso der Beginn der Szene bis zum Liebesmotiv des Α-Teils. Es handelt sich hier, wie Maria von Peteani euphorisch feststellt, um eine typische Lehàr-Spezialitât, mehr als das, eine Lehár-Erñndung: die redende oder erzählende Musik [...]. Es ist kein Rezitativ, auch kein Melodram, sondern die ins Melodische erhobene Rede.57

Und wirklich bewahrt diese Art des Rezitativs, hier den natürlichen Sprachfluß im Gesang, wenn z.B. die Stimme zu Anfang chromatisch geführt wird ( G V L 108, T. 9-11 + 11-13), oder ein musikalischer Bruch Empfindungsgehalte illustriert, so bei "Donnerwetter ist das klein" (Ebd., T.19 - Tonartfremder Klang über dominantischem Orgelpunkt, Ganztonschritte - plötzliche Verkleinerung der Notenwerte, plötzliches Animato, plötzlicher dynamischer Akzent: mf). Die eigentlichen Ausdrucksgehalte liegen jedoch im Orchester, das hier mehr als in den geschlossenen Nummern ein sprechendes ist.

55

Paul Jellinek, zit. n. Programmheft zu Der Graf von Luxemburg', Städtische Bühnen Nürnberg, Spielzeit 1982/83

56

Vgl. Richard Wagner, Tristan und Isolde, S. 550, T. 7ff.

57

Maria von Peteani, S. 62

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Zum einen wird es lautmalerisch eingesetzt, wie etwa die Triolenschleier nach der "kleinen Hand" (Ebd., T. 13/14), vor allem aber enthüllt es affektiv sein Subjekt. So in der Orchestereinleitung: "René betrachtet den Handschuh Angèles" (Ebd.). Ein geheimnisvoll bewegter Holzbläserklang ertönt, der in Takt 7/8 in ein synkopisch ansetzendes Triolenmotiv übergeht. Dieses erinnert an die nachhallenden Signale im Vorspiel des zweiten Tristan-Aktes (identischer Akkord bei ähnlicher Besetzung).58 Lautmalerisch beschreiben des weiteren den psychologischen Hintergrund der übermäßige Dreiklang auf "Phantasie" (GVL 109, T. 11) oder der Nonakkord nach "Donnerwetter ist das klein" (GVL 108, T. 21), der bereits vor "Bist du's lachendes Glück" und in Nr. 7 (GVL 49, T. 12) Signal der inneren Handlung und subjektiver Momente war. Einen Ausbruch solcher Momente bereitet im Allegretto moderato nach dem B-Teil ("Unmöglich ist's, es kann nicht sein" - GVL 112) folgender harmonischer Prozeß vor: der Wechsel von C-dur zur Subdominante F-dur, die dann im Allegretto molto (Ebd., T. 14ff.) zum As-dur des B-Teils zurückfindet. Die Α-Teil Wiederholung wird nach As-dur "verrückt" (Ebd.), der Subdominantgrundton f zur triumphalen Sexte, bzw. None des neuen dominantischen Klangs (Ebd., T. 14). As-dur ist die Zieltonart der Szene. Nachdem sie zweimal angedeutet (GVL 108, T. 19 - 110, T. 12/13) und im B-Teil (GVL 111, T. Iff.) ausgekostet wurde, verbindet sie sich hier mit Renés Liebesmotiv. Der anfangs fremde Duft wird mit Renés Empfindung identisch - "eine klingende Anagnorisis."59 Die Musik ist hier der Handlung voraus. Sie schließt den Bund Renés und Angèles in i h r e m Parfüm und s e i n e m Motiv, bevor sie auf der Bühne sich finden.

"Nicht minder interessant", die ABA-Form Eigentlich ist dieser Formtypus von Anfang an Angèle zugeordnet. Ihr Entrée (Nr. 7) ist der Opernsängerin schon als Opernszene im traditionellen Sinn angelegt. Geschlossener als in Nr. 14 lassen Rezitativ und Arie als Vorbild sich ausmachen (Instrumentales Vorspiel: T. 1-12; Rezitativ: T. 13-36; ATeil der Arie: T. 37-67; B-Teil: T. 68-84; Α-Teil Wiederholung: T. 85-114 und Coda: T. 115-121). Die Orchestereinleitung bereits umschreibt ihr Sub-

58 59

Richard Wagner, Tristan und Isolde, 2. Aufzug, T. 10/11 und 14/15, S. 311 ff. "Hier füllt sich der spöttisch zärtliche Rückblick von Offenbachs übermütigster Soubrette Gabrielle aus 'La Vie Parisienne' [...] mit den zarten Assoziationsspielen des Zeitgenossen Marcel Proust." - (Volker Klotz, Operette, S. 447)

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jekt in einer Art Charakterskizze. Sie erinnert an den Feuerzauber der Walküre.60 Ein durch die hohe Lage des Orchesters und der Instrumentation (Picc., Fl., Ob., Kl., VI.) flimmerndes Motiv steigt vom e"" ab in einer chromatischen Bewegung, deren Rasanz in Takt 7 von weichen Akkorden gebremst wird. Rasanz und Weichheit polarisieren musikalisch Angèles Charakter. Koketterie und Sehnsucht sind seine inhaltlichen Entsprechungen. So charakterisieren die Flötenläufe (GVL 49, T. 13/14) und -triller (Ebd., T. 16+18) in der "Rezitativbegleitung' diese Koketterie. Der Konversationston des Rezitativs setzt sich zwanglos in den 'Arienteilen' fort. Typisch dafür sind die Achtelpausen der Singstimme in Takt 2 und 4 der Mazurka. Sie setzen nach den selbstbewußten Vierteln auf "Unbekannt" bzw. "interessant" (GVL 50, T. 5+7 - drei gis) rhythmische Zäsuren. Das Orchester füllt diese Pause mit einem Glockenschlag kokett aus. Dem entspricht, daß die folgenden Achtelphrasen (Ebd., T. 6+8) nur in Sekundenschritten sich bewegen, gleichsam unentschlossen auf der Stelle treten. Nach der Wiederholung entlädt sich die durch Zäsuren zurückgehaltene Emotion in großen Intervallen und breiten Notenwerten (drei punktierte Halbe - ebd., T. 9f.). Dies sehnsüchtige Aussingen zeichnet in Verbindung mit den Achtelpausen ein typisches Bild des gemeinten Subjekts. Die acht Takte setzen sich also aus drei Einheiten zusammen, von denen die ersten zwei wiederholt werden, ehe die dritte folgt Die ersten beiden Einheiten geben den Konversationston wieder. Die drei gleichen Viertel sind wie drei Schritte nach vorn, die Pause wie ein Schritt zurück. Die Achtel treten in Sekundenschritten auf der Stelle, erst die punktierten Halben bewegen sich fort, werden opernhaft in übertriebenen Intervallen ausgesungen (Vgl. GVL 50, T. 20/21 - die erste Einheit und damit die innere Sperre fällt weg). Die Tonspanne, die Angèle hier ausfüllt, entspricht dem Stimmumfang des Opemsoprans - in der Höhe ebenso wie in der Tiefe ("da, hätt' ihn" - ebd., T. 28-30). Da Angèle tatsächlich Opemsängerin ist, verrät die Tonspanne hier über den sängerischen Effekt hinaus ihre Situation, die Situation einer Frau, die emphatisch in der Kunst aufgeht u n d einer gegenüber dem Leben skeptischen, etwas zu kurz gekommenen Karrierefrau. Die ausgesungenen punktierten Halben wären als ihre Sehnsucht nach Leben, die Achtelketten und -pausen als ihre Enttäuschung zu deuten. Der Text belegt das. Als Beispiel mag die Phrase "Liebe? Nie war der Rechte da" (Ebd., T. 26-28) genügen. Den inbrünstig langen hohen Noten von "Liebe" folgt eine absteigende Achtelkette auf "Nie war der Rechte 60

(u.a. die Tonart Ε-dur) Vgl. Richard Wagner, Die Walküre, Vollständiger Klavierauszug von Karl Klindworth, Mainz 1908, S. 311, T. 4 und S. 312, T. 1

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da". Was zu Beginn der Mazurka als Koketterie sich ausgab, steht im Zeichen der Resignation. Die Heirat mit Basil ist deren Resultat. Zugleich aber enthält Angèles Sehnsucht als Moment der inneren Handlung die Utopie echter Liebe, ihrer späteren Verbindung mit René. Der B-Teil (GVL 51, T. 5ff.) spinnt das motivische Material des Rezitativs ebenso charakteristisch weiter. Koketterie, bzw. Resignation und Sehnsucht sind nichts anderes als Zurückhaltung und Ausleben von Emotion in der Musik.

Charakterisierende Melodik Der Konflikt zwischen Zurückhaltung und Überschwang wird im Valse, quasi Allegretto der Nr. 9 thematisiert. Jener ist ein innerer, subjektiver und erweist sich als spezifisch Lehárscher. Seine Sehnsucht meint das Ausleben einer zurückgehaltenen Emotion. Dieser Walzer ist wie die Nummern 7 und 14 monologisch: Angèle singt trotz Publikums "für sich, visionär".61 Trotzdem hat er dialogische Struktur durch den Konflikt, den er aufwirft. Die Fragen, die er stellt, und die Antwort, die Angèle sucht, sind solch dialogische Momente. Dem entspricht die melodische Gliederung. Das formale Gerüst gleicht dem des Valse moderato. Wie "Bist du's lachendes Glück" taucht er fremd aus dem Zusammenhang auf. Im melodischen Bau aber bleibt er dem Prinzip der Mazurka Nr. 7 verpflichtet Wie dort stehen lange Noten in großen Intervallen Achtelpausen mit folgender Achtelkette, meist in Sekundschritten, gegenüber, im Sinne des in Nr. 7 beschriebenen Konflikts. Dem Sextsprung "Soll ich" (GVL 81, T. 1/2) - wieder in punktierten Halben - und dem ganztaktig entschlossenen, aber gerade in seinen Sekundschritten (abwägende Wechselnoten) zaghaften "soll ich nicht" (Ebd., T. 3), folgt wie ein großes Fragezeichen die Achtelpause auf den Schlag 1 (Ebd., T. 4). Lag aber in der Mazurka die Betonung auf dem dritten Taktteil, war die Pause auf dem ersten also marginal, liegt sie beim Walzer gerade auf dem Schwerpunkt. Die nach dieser Pause in Sekundschritten sich hochschraubende Achtelkette (Ebd., T. 4) beschreibt in sich den emotionalen Kampf ihres Subjekts. Das durch Intervall und Rhythmus gezügelte Gefühl treibt die Tonhöhe bis zur ganztaktig ausgehaltenen Dominante (Ebd., T. 5). Mit einem kleinen Septsprung abwärts beginnend, nicht nur bei Lehár Inbegriff der Sehnsucht,62 61 62

Franz Lehár, Der Graf von Luxemburg, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 37 Vgl. Richard Wagner, Tristan und Isolde, S. 2, T. 4 (Ve.) - S. 3, T. 2+5 - sowie die Siegfried/Brünhilde-Szene aus dem Vorspiel der 'Götterdämmerung' (Richard Wag-

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werden die ersten vier Takte nur leicht variiert wiederholt. Nun jedoch führt die analoge Achtelkette (Ebd., T. 8) zur Sexte (fis). Zum dritten Mal erscheint variiert die Anfangsfigur (Ebd., T. 1/2): kleiner Septsprung abwärts (Ebd., T. 9/10). Angèle benötigt mehrere Anläufe, um die inneren Widersprüche zu überwinden. Der Text korrespondiert mit der Melodie, mit dem anfänglichen Schwanken zwischen Überschwang und Zurückhaltung in den Fragen ("Soll ich, soll ich nicht?"), dem anschließenden Fragezeichen (die Achtelpause - ebd., T. 4), der vierfachen Verneinung, einem sich selbst Widersprechen, und dem Sturz vom emphatischen "Gott" (Ebd., T. 5) zum "Ich" (Ebd., T. 6). Dieses "Ich", das gefangene Subjekt, befreit sich in den letzten fünf Takten. Die sinnenden Fragezeichen zweier Viertelspausen beantwortet es nach einer letzten Steigerung in Takt 30 auf der Tonika mit dem entscheidenden "Ja" (Ebd., T. 31/32 - Grave, ff.), dem Zielpunkt des Walzers. Das eine "Ja" hebt die vorherigen "Nein" auf.

"In nebelhaften Femen", ein Duett Das Duett Nr. 11 erweitert solch dialektisches Modell, indem es darüber hinaus formal den Valse moderato-Typus und den Typus der Szene verbindet. (Rezitativ: T. 1-15; Orchestervorspiel, hier vor dem Walzerteü: T. 1623; Α-Teil: T. 24-55; B-Teil: T. 56-71; Α-Teil Wiederholung: T. 72-103; Nachspiel: T. 103-110). Es lehnt sich dabei eng an den Walzer aus Nr. 9 an. Dem Walzer des Α-Teils liegt ein ähnliches harmonisches Schema zugrunde wie jenem. Die Tonart (Α-dur) ist dieselbe. "Lieber Freund" (GVL 86, T. 13) ist mit "Soll ich nicht" motivisch verwandt und bei Wiederholung der Melodie ("Wenn man könnt, so wie man immer wollte" - GVL 87, T. 3ff.) wird sie vom Solocello mit der von "Soll ich, soll ich nicht" kontrapunktiert. Auch derselbe Konflikt wird in diesem Walzerduett ausgetragen, allein Angèle legt sowohl musikalisch als auch textlich größere Zurückhaltung sich auf. Sie trägt den Konflikt zwischen zwei Möglichkeiten nicht mehr aus, sondern bezieht scheinbar Position. Sie entscheidet sich kokettierend für die abweisende, um René die umwerbende überlassen zu können. Das direkte "Soll ich, soll ich nicht" weicht im Text dem konjuktivischen "Wenn man könnt, so wie man immer wollte"; die lang ausgehaltenen Töne dem Fragezeichen einer Viertelpause (GVL 86, T. 13) auf dem Schwerpunkt zu Beginn. Schon der ner, Götterdämmerung, Vollständiger Klavierauszug von Karl Klindworth, Mainz/ Leipzig/Brüssel/Paris o. J., S. 20, T. 21/22)

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nächste Takt leitet mit einer Achtelpause wieder - jene bewährte Kombination - eine Achtelkette ein. Insgesamt stehen zu Beginn von 15 der 32 Takte solche Pausen. Zudem verschiebt die umgekehrte Rhythmisierung der Phrasen (erst zwei kurz, dann zwei lang gehaltene Takte) den Akzent. Große Intervalle werden vermieden, mit der einen Ausnahme, wenn Angèle ihr floskelhaftes "Ja" (GVL 87, T. 15), den Quartsprung auf die Tonika, künstlich zur Undezim übersteigert, auf die Tonhöhe des befreienden "Ja" aus Nr. 9, im Angesicht Renés eine verräterische Andeutung ihrer dortigen Entscheidung. Renés Widerspruch zu Anfang des B-Teils (Ebd., T. 19) wird ebenso durch eine Viertelpause verzögert wie Angèles "Lieber Freund". Erst wenn René von der parallelen moll-Tonart (fis - Ebd., T. 19-22) zur Grundtonart zurückkehrt beim hymnischen "Liebe, sie trägt uns empor" (Ebd., T. 23-25), kann er sich für einen Moment von den rhythmischen Fesseln der Nummer befreien. In der Α-Teil Wiederholung nimmt er dann dialogisch Angèles Melodie auf, ehe sich beide in Oktavparallelen vereinigen (GVL 88). Der Konflikt ist in ihnen aufgehoben, aber nicht entschieden. Der emotionale Ausdruck bleibt gebunden. "Dabei stößt sich die kapriziöse tänzerische Unrast an der stur kreisenden Melodie. Sie offenbart wachsende Leidenschaft unterm souveränen Gehabe."63 Subjektivität unterliegt, ihrer eigenen Logik entgegen, noch immer der Form. Das Prinzip der geschlossenen Nummer läßt anderes nicht zu und weist Lehár in die formalen Grenzen der Gattung zurück, die er auch später nur überschreitet, um wieder in sie zurückzukehren. Der Zauber der Vermittlung vollzieht gerade in diesem Grenzbereich zwischen Ausdruck und Schema, Oper und Schlager sein illusionäres Werk.

3. "Versteh" das Meisterstück" (GVL 71) Zur Musikdramaturgie des Graf von Luxemburg

Widerstreit von Illusion und Desillusion Ermöglicht die Nummerndramaturgie die auseinandergefallene ästhetische Einheit im Schein der Operette zu wahren, so beschreibt sie im einzelnen gerade ihren Zerfall. Das Auseinandertreten von innerer und äußerer Hand63

Volker Klotz, Operette, S. 446

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lung entspricht dem von Subjektivem und Kollektivem innerhalb der Musik. Um diese festzuhalten, bedarf sie der beschriebenen Typologie. Ihr subjektiver Gehalt scheint durch solche Form nur noch von ferne, als Illusion von Freiheit, wie sie auch in den ornamentalen, alterierten Akkorden innerhalb des festen funktionalen Schemas eines Valse moderato anklingt Genau das spiegelt die Dramaturgie in der inneren Handlung wider - als Illusion. Die Vermittlung zur äußeren Handlung muß sich einer über die isolierten Einzelnummern hinausgehenden Form bedienen. Indem die Nummern zerlegt und damit verfügbar gemacht werden, versuchen die Spielszenen und Finali das Musikdrama als adäquate Form der Vermittlung. Die getrennten Sphären werden vermischt, dramaturgisch bedingt durch das zweite Finale. Hier kämpfen innere und äußere Handlung den "Widerstreit von Illusion und Desillusion."64 In den Rezitativen der Partitur aber zieht er sich durch die gesamte Musik, als Andeutung eines immerhin möglichen 'Musikdramas'. Die eigentliche Meisterschaft des Musikdramatikers Lehár zeigte sich [...] weniger in den geschlossenen Einzelnummern als weit ausgeprägter in den rezitativischen Einund Überleitungspartien sowie in den auskomponierten Finales.63

...In der Orchestereinleitung Dort leistet das Orchester die motivische Arbeit in ferner Tradition Wagners. Schon in den Orchestereinleitungen größerer Nummern findet sie statt. Gerade hier läßt sie sich exemplarisch verfolgen. Dafür steht das Orchestervorspiel der Introduktionsnummer des ersten Aktes (GVL 3). Anstelle einer Ouvertüre liefern seine 38 Takte eine Skizze der Operette. Es gibt sich kompositorisch avanciert: Über einem Orgelpunkt (fis) spinnt Lehár ein kontrapunktisches Gewebe, ausgehend von einer flüchtigen Triolenfigur, die in Sequenzen absteigt. Deren 'beschleunigte' Fortsetzung, das Triolenmotiv selbst eliminierend, leitet in Takt 12 zur ersten Variante des Kamevalsmotivs (GVL 4, T. Iff.) über. Von dieser Andeutung des Themenkopfes, in Takt 20-22 gesteigert, in Takt 31-34 den orchestralen Höhepunkt vorbereitend, bis zum Durchbruch des vollständigen Themas im Chor erreicht Lehár eine symphonische Klimax. Die Behandlung des Orchesters vollzieht diese nach, von einzelnen Registern bis zum Tutti erweitert. Die Introduktion steht in h-moll

64 65

Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, S. 201 Christoph Winzeier, Franz Lehár - ein 'Fanatiker der Kunst?', a. a. O., S. 232

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(später im Wechsel mit der Paralleltonart D-dur). In der Orchestereinleitung wird die Tonika nie erreicht. Erst nach Einsatz des Chores erscheint sie explizit, wobei selbst dieser volltaktig auf der Dominante einsetzt. Bis dahin befindet sich der Hörer in ständiger Erwartung. Er wird geradezu überfahren von der brodelnden Unruhe des musikalischen Geschehens dem "wilde[n] Tempo dieser Zeit" (GVL 147). Das Verfahren der Tonartverschleierung (in der Spätromantik weit verbreitet) wird hier, wie so oft in der Literatur, mit dem verminderten Septakkord (fis-a-c/his-dis) als 'vagierendem' Akkord betrieben. Er skandiert die chromatisch aufsteigende Linie (GVL 3, T. 13-31). In Takt 31 erscheint die Dominante. Der Vorhang öffnet sich. Eine harmonische Halbtonrückung (Ebd., T. 33) führt zu einer Über'-Steigerung der Dominante, als eigentlichem Endpunkt der Entwicklung. Der ambivalente Akkord (g-h-d-f) kann an dieser Stelle als Dominante von C-dur gehört werden, erweist sich jedoch in Takt 39 als übermäßiger Quintsextakkord, der seine Auflösung in der Dominante von h-moll (Einsatz des Chores) erfährt. Bezeichnete die Dominante in Takt 31 einen Spannungsmoment, wirkt sie in Takt 39 nach jener 'Über'-Steigerung ernüchternd. Sie ist entzaubert. Der Chor nimmt sich ihrer an. Das Material des Chors, Derivat eines Spannungsund Illusionsmoments, trägt das Mal der Desillusion. Sein Ort ist die Bühne. Was aber in Takt 31-39 über sich hinaus will, macht als momentane Befreiung vom Diktat der Dominante den Illusionsgehalt Lehárscher Musik aus. Es enthält das Glücksversprechen, das die Handlung erst einlösen muß.

Spielszenen Solches Glück wird in allen subjektiven Typen der Musik beschworen, deren Struktur immer monologisch ist: Die Handlung ruht, doch ihr Ziel wird utopisch sichtbar. In ihren kollektiven Typen dagegen ist die Musik völlig isolierbar geworden, ruht die Handlung ohne Ziel. Ausnahmen sind die Ensembles in Nr. 1 und Nr. 9, jeweils zu Beginn der ersten zwei Akte; ebenso das erste und zweite Finale. Echte Handlungsszenen inneihalb der Akte stellen nur das Quintett Nr. 6, das Terzett Nr. 13 und zum Teil das Duett Nr. 11 dar.

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Beispiel I: Intrigenspiel (Nr. 6) Das Quintett Nr. 6 zeigt die Schlüsselszene der Intrige. Basil als Motor der äußeren Handlung zieht René in jene hinein. Das geht ohne Widerstreit, weil René, wie in Nr. 1 zu sehen, sich ganz dem Kollektiv verschrieben hat. Und so arbeitet "Ein Scheck auf die englische Bank" (GVL 43) nicht umsonst mit dem variierten motivischen Material von "Mein Ahnherr war der Luxemburg" (GVL 9). Der finanzielle Aspekt wird zum Aufhänger der Szene. Der Mittelteil (GVL 44, T. 5-47, T. 12), ein Dialog zwischen René und den vier Herren, ist rezitativisch angelegt. Renés Fragen werden vom Orchester ironisch kommentiert. Auf dieselbe Weise wie in Nr. 5 werden die Instrumente solistisch eingesetzt. Die Solooboe etwa begleitet die Singstimme unisono, bis sie bei "Süße" (GVL 46, T. 3) durch einen Schleifer den von ihr beschriebenen Inhalt lächerlich macht. Oder das Orchester übertreibt das Bild, das René als Karikatur seiner Braut in spe malt, indem über einen massiven Baß (Pk., Pos., Hr. - Ebd., T. 9) Triller der Violine, Klarinette und des Fagotts gesetzt sind. Diese ironische Auseinandersetzung mit der Identität der Braut, als solche der ernsten in der Trèfle incamat'-Szene gegenüberzustellen (dieselbe Tonart As-dur), behandelt ihren Gegenstand distanziert als Bestandteil der äußeren Handlung.

Beispiel Π: 'Rêve et parodie' (Nr. 13) Im Terzett Nr. 1366 ist der Widerstreit zwischen äußerer und innerer Handlung Gegenstand der Szene geworden. Sie ist deshalb eher Spielszene im Sinne einer ganz bestimmten Situation als Handlungsszene im Sinne der Intrige. Die Situation beruht auf der Dreieckskonstellation der Operette: René und Basil wollen jeweils mit Angèle allein sein. Um René loszuwerden, unterstellt ihm Basil einen Migräneanfall. René geht zum Schein darauf ein, Angèle greift sein Spielangebot auf und schickt Basil fort, 'Abhilfe' zu schaffen. Basil muß notgedrungen gehen. Angèle und René sind 'endlich allein'. Doch Basil stört zweimal die Annäherung zwischen den beiden, um Angèle schließlich tanzend an sich zu reißen. Die Musik arbeitet mit charakterisierenden Motiven. So steht für Basils Unterstellung der Migräne das Motiv von "Ach, seh'n Sie doch, er ist ganz 66

Es wurde erst 1937 eingefügt und löst das ein, was Lehár an 'musikalischer Komödie' einmal versprochen hatte.

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blaß" (GVL 99, T. If.), dafür daß er René loswerden will, das von "So geh'n Sie doch schon endlich weg" (GVL 100, T. lf.). Diese Motive kündigen im Folgenden stets Basils Anwesenheit an. Für die Abschnitte, in denen René und Angèle allein sind, steht der Hinterbühnenwalzer (GVL 102, T. Iff.), der die Handlung transparent macht und seine Variationen (GVL 103 [2]), ferner ein Maestoso-Motiv (GVL 105, T. 13ff.), eingeleitet von einem Zitat des großen Liebesmotivs (vgl. GVL 65, T. 12). Dieses Maestoso-Motiv zehrt ebenso wie der Hinterbühnenwalzer vom Material des "Bist du's lachendes Glück". Der zweite Auftritt Basils (GVL 104, T. 2f) erinnert an das "Lirilari"-Motiv und schließlich lehnt Basils zweites Motiv ("So geh'n Sie doch schon endlich weg" - GVL 100) an das erste aus Nr. 6 sich an ("Ein Scheck auf die englische Bank") - auch die Pralltriller im Orchester stammen von daher (vgl. Renés Beschreibung der Braut - GVL 46, T. 9). All das sind Andeutungen motivischer Arbeit, wie sie diese Operette vor allem im zweiten Finale kennzeichnet Die originären Motive des Terzetts unterliegen ähnlichen Variationen. Neben der kommentierenden hat die Begleitung stark lautmalerische Funktion. Die chromatische Überleitungsfigur vor "Was hat er denn" (GVL 100, T. 6.3/4) etwa malt das zur "Fieberphantasie" (Ebd.) gehörige Schwindelgefiihl übertrieben und damit ironisch. Im selben Zusammenhang steht der Klang (Dominantnonakkord mit Quartvorhalt - GVL 101, T. 1), der Renés 'Schmerz' pointiert zum Tönen bringt, als meine er nicht "Ach, die Migräne" (GVL 104), sondern "Amfortas! Die Wunde."67 Solcher parodistischer Übertreibung enthält sich die Musik nur in Momenten innerer Handlung. Deren Illusion bleibt unangetastet, während die Orchesterkommentare Basil stets in das Handlungsgetriebe zurückstoßen. Der Gesang, ganz "die ins Melodische erhobene Rede",68 reicht von gesprochenem Text bis zu wenigen ausgesungenen Passagen, die aber Angèle und René vorbehalten sind, z.B. das Maestoso-Motiv wird von beiden oktaviert gesungen (wie noch einmal in Nr. 21). Die anschließende Tanzszene ist eine Travestie der vorhergehenden in Nr. 11. Als Moment der inneren Handlung zwischen René und Angèle wild sie durch Basil gewaltsam in die äußere versetzt

67

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Vgl. Richard Wagner, Parisfal. Biihnenweihfestspiel, Vollständiger Klavierauszug, eingerichtet von Karl Klindworth, Wien 1910, S. 212, T. 17 - S. 213, T. 5 Maria von Peteani, S. 62

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Beispiel ΙΠ: "Statt Sphärenklang eine Tanzmelodie" (Nr. 11) Die Tanzszene als dramatischer Kristallisationspunkt zwischen den Hauptfiguren der Tanzoperette bleibt in Nr. 11 nur angedeutet. Auch hier bildet ein Bühnenwalzer den Hintergrund, nach dem pathetischen Walzerduett "Lieber Freund, man greift nicht nach den Sternen" ertönt "statt Sphärenklang eine Tanzmelodie" (GVL 90). Als kollektive Form kann sie Angèle und René im Tanz nicht vereinen. Erst nach Renés "Bist du's lachendes Glück"Reminiszenz (GVL 92) nähern sich beide einander, wobei auffällt, daß der im ersten Finale gemeinsam gesungene Valse moderato bei Angèle keine Reaktion auslöst Als subjektives Moment hat er für beide keinen gemeinsamen Erinnerungswert. Nur dem Zuschauer verrät er den Zusammenhang. René und Angèle sprechen von ihrer Heirat und bevorstehenden Scheidung, als wüßten sie nicht, was die melodramatisch unterlegte Musik, die oktavierte Wiederholung von "Bist du's lachendes Glück" (GVL 93), längst offenbart Zwar behauptet Angèle, Renés "Illusion zerstören" (Ebd.) zu müssen, läßt aber von der Musik zu eben dieser Illusion sich hinreißen. Im rhythmisch akzentuierten und "più animato" (Ebd., T. 33) beschleunigten Walzer schlägt sein Illusionsgehalt als szenischer Tanz in Handlung um. Der Valse moderato realisiert sich für einen Moment zum Tanzwalzer.

Reminiszenzen-Finale I Die in Nr. 11 erweiterte Reminiszenztechnik, d.h. die gar nicht oder nur leicht veränderte Wiederholung einer geschlossenen Form, meist eines Refrains, ist auch die dramaturgische Methode des ersten Finales Nr. 8. Es ist die von Lehár bevorzugte Kompositionsweise, größere Zusammenhänge zu bewältigen und notdürftige Synthese von Nummerndramaturgie und Musikdrama. Von jener übernimmt sie geschlossene Formen, von diesem verbindende motivische Arbeit. Das von Schönberg konstatierte Prinzip der Wiederholung findet gerade hier seine Bestätigung. Es garantiert Faßlichkeit und erlaubt somit auch weiter abliegende Verbindungen. Erst indem ihr Material deutlich getrennt faßbar wird, ist es der Operette als leitmotivisches Bruchstück brauchbar. Mit anderen Worten: Das Schlagerprinzip des Einhämmems isolierbarer Mottozeilen, die Herstellung formaler Überschaubarkeit durch Repetitionen und Reminiszenzen, die

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ein Gegengewicht zur stilistischen Buntheit des Wechsels der Tonfälle bilden, und die dramaturgisch motivierte Zitattechnik sind [...] verschiedene Seiten derselben Sache.69

So läßt sich das erste Finale des Graf von Luxemburg in sechs Nummern zerlegen, die durch meist rezitativische Überleitungen im aus Nr. 13 und Nr. 14 bekannten Sinn verbunden sind. Die eine Hälfte davon enthält neues musikalisches Material, das wesentlich für den weiteren Verlauf der Operette sein wird, die andere Reminiszenzen. Der erste Abschnitt (GVL 54-58, T. 2) bringt den neuen Walzer "Sie geht links, er geht rechts" in geschlossener, einmal wiederholter Coupletform. Das folgende Ensemble (GVL 58 [1]) leitet zum ebenfalls neuen großen Walzer der Operette, "Bist du's lachendes Glück" (GVL 60 [2]-61) über. Das rezitativische Allegretto (GVL 61 [3]) und der folgende Valse moderato (GVL 62 [4]) bereiten die erste Reminiszenz vor. Es ist jedoch nur die chorische Wiederholung des Walzers "Sie geht links, er geht rechts" (GVL 63 [5]) aus dem ersten Abschnitt. Der vierte Abschnitt ist eine Monologszene Renés, bestehend aus einem Melodram (GVL 64 [6]) und dem hier zum ersten Mal erscheinenden großen Liebesmotiv der Operette (GVL 65 [7]). Die letzten beiden Abschnitte setzen sich aus Reminiszenzen zusammen. Davon zitiert der erste (GVL 66 [8]-71, T.6) leicht variiert Bruchstücke des Karnevalschors (GVL 66 [8]) aus der Introduktionsnummer und des Quintetts Nr. 6 (GVL 68 [9]), sowie unverändert den großen Liebeswalzer "Bist du's lachendes Glück" (GVL 69 [10]). Der sechste und letzte Abschnitt (GVL 71 [ll]-75) ist reine Reminiszenz von Strophe und Refrain des "Luxemburg-Liedes' aus Nr. 1. Mein hier entwickelt sich die Refrainwiederholung (GVL 74 [13]) zu einer Stretta. Seinen Gehalt bezieht das Finale aus dem dauernden, plötzlichen Wechsel zwischen innerer und äußerer Handlung, zwischen Illusions- und Desillusionsmomenten mit ihren korrespondierenden musikalischen Typen. So tauchen in diesem ersten Finale der exemplarische Valse moderato und das pathetische Lied mit dem großen Liebesmotiv zum ersten Mal auf. Die Regiebemerkungen kennzeichnen beide als subjektiven Ausdruck der inneren Handlung. Nach "Bist du's lachendes Glück" ist von René und Angèle vermerkt: "Wie aus einer Illusion zur Wirklichkeit zurückkehrend" (GVL 61). Als René diesen Walzer wiederholt, tut er es "ganz weltentrückt" (GVL 70). Der Chor "mit geschlossenem Mund" (GVL 71) summt die Wiederholung der letzten Phrase mit, als könne dieser Walzer kollektiv nicht artikuliert werden. Wenn mit "Lieb' in Lust und Leid" der Walzer enden müßte, bricht René nach "Lust" unvermittelt ab und "seine Stimmung schlägt plötzlich um, in übermütige Laune" (Ebd.). Ebenso 69

Carl Dahlhaus, Zur musikalischen Dramaturgie der Lustigen Witwe', a. a. O., S. 659

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die Musik von subjektiver Weltentrückung' zum kollektiven LuxemburgLied. Das Reminiszenzenfinale bewältigt solche Wechsel, da es nicht unter dem Zwang musikalischer Entwicklung steht. Es ist damit dramaturgisch adäquat und hat durchaus in den Überleitungen motivische Bezüge, wenn beispielsweise das "Lirilari"-Motiv aus Nr. 1 Renés "Trennungsschmerz" (GVL 62, T. 3) kontrastiert oder wenn Pawlowitschs, Mentschikoffs und Pelegrins "Es ist geglückt, der Plan gelingt" (GVL 58, T. 2-4) rhythmisch auf das Thema Basils aus Nr. 5 ("Ich bin verliebt" - GVL 37) zurückgreift. Aber gerade die nicht vermittelten Kontraste verleihen der Musik hier ihre Schlagkraft.

Finale Π oder 'Musikdrama' Das zweite Finale (Nr. 17) hingegen, obwohl es sich ebenfalls der Reminiszenz bedient, hat durchaus musikdramatischen Aufbau. Es kennt zwar ebenso wie das erste Finale abrupte Wechsel der Ebenen und Typologien, läuft jedoch auf einen Höhepunkt zu und muß daher anders disponieren. Der Konflikt zwischen Illusion und Desillusion erfordert hier Entwicklung, der das Material unterworfen wird. Es handelt sich um eine vereinfachte Leitmotivtechnik, um "dramaturgische Variationen".70 Der angestrebten Nähe zur durchkomponierten Oper, entspricht auch der 'tragische' Ausgang des zweiten Finales, wie er seit der Lustigen Witwe obligat wurde. Bis auf das Falterlied und das Walzerintermezzo zu Beginn wird im zweiten Finale ausschließlich vorhandenes Material der ersten zwei Akte verarbeitet. Als unveränderte Reminiszenz kommt der Walzer aus dem ersten Finale ("Sie geht links, er geht rechts" - GVL 131 [9]) und zweimal das große Liebesmotiv vor (GVL 139, 141 [20]). Spezifisch variiert dagegen die Reminiszenz des LuxemburgLiedes' (GVL 134 [12]). Von diesen Reminiszenzen abgesehen, verlieren die Motive der Operette ihren "Stichwortcharakter".71 Sie weiden zu dramaturgischen Andeutungen innerhalb größerer durchkomponierter Abschnitte, in denen melodramatische, rezitativische und ariose Passagen wechseln. Von den zahlreichen Motiven des Graf von Luxemburg ziehen sich nur wenige leitmotivartig durch dieses zweite Finale. Eine entscheidende Rolle spielt das "Lirilari"-Motiv aus dem Refrain von Renés Entrée, geht es doch bis zu dessen Auftritt vor allem um seine ungeklärte Rolle zwischen den Hand70 71

Ebd. Ebd., S. 658

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lungsebenen. Für die äußere Handlung steht dann das "Fünfmalhunderttausend Francs"-Motiv aus Nr. 6 als Aufhänger der Intrige; für das innere Handlungsmoment "Bist du's lachendes Glück". Andere Motive klingen nicht öfter als einmal an. Ferner sind die Abschnitte zwischen den Reminiszenzen von eigenen oder veränderten alten Motiven geprägt im Sinne illustrativer Musik, entsprechend dem Recitativo accompagnato der Oper und im Terzett Nr. 13 bereits verwendet. Obwohl in bezifferte Abschnitte gegliedert, bleibt so das zweite Finale in einem gleichsam musikdramatischen Fluß. Dieser Fluß, der mehr ein dramatischer denn ein musikalischer ist, empfiehlt, die bisherige symptomatologische Analyse aufzugeben, zugunsten einer chronologisch an der Handlung orientierten, die nach dem Walzerintermezzo einsetzt (GVL 127 ff). Illustrative Musik ist der chromatische Abstieg der Klarinette zu Basils Bekanntgabe seiner Verlobung mit Angèle: "Aufs Höchste erregt" (GVL 127, T. 1-4) und das dissonante es' der gestopften Trompeten bei: "Auf das Tiefste bewegt" (Ebd., T. 5-10). Ihr Material entstammt der Einleitung des Falterlieds (GVL 119) und wird durch besagte Instrumentaleffekte umgedeutet. Brissards ironischem Einwand (GVL 127, T. 22ff.) gegen die Verlobung, von einem synkopischen Vorhaltsmotiv begleitet (GVL 128, T. 1-9), antwortet im Orchester zum ersten Mal das "Lirilari"-Motiv (Ebd., T. lOff). Dem folgt in der Oboe das "Fünfmalhunderttausend Francs"-Motiv zu Basils Entgegnung (Ebd. [8]). Das Orchester verrät die Beweggründe der handelnden Personen. Das Orchester ist bei Lehár ein allwissendes, weiß, wie bereits in Nr. 14, mehr. Dieses leitmotivische Verfahren hat Ernst Decsey zufolge "aus dem Operettenorchester, das ein begleitendes, mittanzendes war, ein mitdenkendes gemacht, aus einer bloßen Gitarre einen tönenden Hintergrund."72 Tatsächlich erfährt das "Lirilari"-Motiv, als Renés Identitätsträger eine dramaturgische Durchführung, so bei Juliettes erstaunter Reaktion auf Basils Bekanntgabe des Namens, als Verkleinerung, d.h. es erscheint doppelt so schnell in Hörnern und Posaunen (GVL 130, T. 12/13). Nach der vom "Fünfmalhundertausend Francs"-Motiv eingeleiteten (GVL 130, T. 8-11) Reminiszenz "Sie ging links, er ging rechts" (GVL 131 [9]) und dem in den akzentuierten Streicherakkorden deutlich an ein Recitativo accompagnato gemahnenden Einwurf Brissards (GVL 133, T. Iff.) begleitet es Angèles spöttischen Kommentar in einer punktierten Variation (Ebd., [11]). In exponierten Akkorden unterstreicht die Begleitung dessen Ausdrucksgehalt, wenn sie dem C-dur Akkord bei "Mensch" (Ebd., T. 9) einen verminderten bei 72

Ernst Decsey, Franz Lehár, S. 56

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"verkauft" (Ebd., T. 11.3) entgegensetzt. Auch solche gleichsam koloristischen Wertungen gehören zum "mitdenkenden Orchester."73 Mit Renés Auftritt bricht dann das ganze Luxemburg-Lied hervor als stark veränderte Reminiszenz (GVL 134 [12]) in 'vermolltem' dur über dem Orgelpunkt d. Die dur/moll-Mischung (d-moll und D-dur, die Originaltonart des LuxemburgLiedes') wird zum Ausdruck des gemischten Gefühls zwischen Lachen und Weinen. Der "Lirilari"-Refrain folgt ebenfalls variiert "mit forzierter, bitterer Lustigkeit" (Ebd., T. 20ff.) und endet mit dem verminderten Septakkord auf "Pump". Sein Gehalt ist zerstört (GVL 135, T. 14). Erst gegen Ende des Finales gewinnt er wieder Kontur. Zwischen diesem vorläufigen und dem endgültigen Höhepunkt des Finales verdeutlichen drei Motive die Bezüge. Zum einen erinnert René Angèle an die vereinbarte "Scheidung" (Ebd., T. 17/18) aus dem ersten Finale (GVL 62, T. 5/6), dann Basil an die "Fünfmalhundertausend Francs" (GVL 135, T. 18.3ff.). Über den scheinbaren Verlust von Innerlichkeit bringt die Musik die Vereinbarungen der Intrige als Desillusionsmomente ins Spiel. Dazu gehört auch der motivische Verweis auf das "So gehen Sie doch endlich weg" aus Nr. 13, wenn Basil zu verstehen geben will, "der Graf möchte verduften" (GVL 137, T. 5ff.). Als René im Begriff ist, sich der äußeren Handlung zu fügen, bereitet ein Zitat des großen Valse moderato "Bist du's lachendes Glück" (Ebd. [17]) die Peripetie vor. "Die Ausdrucksregung, zum zweiten Mal auftretend, wird zum unterstreichenden Kommentar ihrer selbst"74 Vom ausgesungenen "Adieu, Angèle"75 fallt René ins gesprochene Wort des Melodrams. Der Widerspruch zwischen dem Illusionsgehalt der Musik und der Situation ist durch Gesang nicht mehr zu vermitteln. Dem dramatischen Gipfel des zweiten Finales bleibt nur noch der stammelnde Aufschrei des Melodrams: "Angèle, ich verkaufte mein Glück!" (GVL 138, T. 10). Das Orchester entfesselt dazu im Crescendo eine Häufung verminderter Akkorde, Ankündigung des nahen Ausbruchs der von der Handlung zurückgehaltenen Subjektivität. Sie nimmt, als hätte das Wort 'Glück' die Kraft der Konkretion, musikalische Gestalt an. Der Themenkopf von "Bist du's lachendes Glück", als Phantasmagoric des verlorenen Glücks, leuchtet über einem A-dur Quartsextakkord auf - grell, fortissimo, in drei- und viergestrichener Lage oktaviert. Dann rutscht die Oberstimme acht Takte über zwei Oktaven, nach 73 74 75

Ebd. Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, S. 34 Renés "Adieu" (e-cis1) ist die Umkehrung von Angèles "Soll ich" (cis"-e; GVL 81, T. 1/2) 119

der Hälfte beschleunigt (presto), zum neapolitanischen Sextakkord (GVL 138, T. 13-19), als fiele die beschworene Illusion in sich zusammen. Daß auf der Bühne Angèle von Basil sich losreißt und auf René zustürzt, ist dessen szenische Entsprechung. Nach dem Presto-Teil löst sich die musikalische Form analog den dramaturgischen Konstellationen auf (Ebd., T. 20-22). Tempo rubato und gesprochener Dialog belegen es. Noch immer können die Personen zum Gesang nicht finden. Ihre Affekte äußern sich unmittelbar im Schrei. Im Orchester ist nur ein Echo des vorherigen Sturzes zu vernehmen, unter dem klanglichen Einfluß des neapolitanischen Akkords. Die Bewegung kommt in der Dominante zum Stillstand. Der dominantische Nonakkord erklingt.76 "Angèle klammert sich an" (Ebd., T. 23/24) René. Die jetzt wieder aufsteigende Linie fuhrt zur Reminiszenz des Liebesmotivs. Das Wechselbad der Affekte, das den Ausbruch des Konflikts der ganzen Operette schildert, ist ausgestanden. Die Musik vollzieht sowohl gestisch als auch inhaltlich die Situation nach. Zwischen Illusion und Desillusion ist für einen Augenblick Vermittlung möglich. Die Reminiszenz des Liebesmotivs, bisher monologischer Ausdruck von Subjektivität, wird vom Kollektiv objektiviert. Der dramatische "Widerstreit zwischen Illusion und Desillusion"77 ist gelöst. Was folgt, ist dramaturgische Konvention der Salonoperette. In einem vom "Fünfmalhunderttausend Francs"-Motiv begleiteten Melodram (GVL 141, T. Iff.) hält Basil die äußere Handlung aufrecht, indem er René an sein Ehrenwort erinnert, das ihn an jene bindet. Zum "Lirilari"-Motiv muß er darauf eingehen (Ebd., T. 7ff ). Doch die Wiederholung der Reminiszenz des Liebesmotivs (Ebd. [20]) nimmt die Auflösung im Zeichen der Illusion, die dann der dritte Akt zu leisten hat, vorweg, wenngleich in der Stretta noch einmal original und forciert das "Lirilari"-Motiv erscheint (GVL 142, T. 8ff ), Symbol des früheren René. Dieses zweite Finale des Graf von Luxemburg, als Zentrum des Werkes, geht über die variierende Motivtechnik hinaus, wie sie die Lustige Witwe zum Muster macht und selbst im so opernnahen Spätwerk die Regel noch ist. Denn nicht nur, daß ganz auf neues thematisches Material verzichtet wird, es bleiben auch die obligaten Refrainreminiszenzen reduziert, um für das eigentliche dramatische Geschehen im Konflikt von äußerer und innerer Handlung Platz zu schaffen, das gerade in motivischer Arbeit sich ereignet. Diese bleibt der Verständlichkeit halber zwar immer der Horizontalen verpflichtet, ver76

77

Vgl. Nr. 7 (GVL 49, T. 11), "Bist du's lachendes Glück" in Nr. 8 (GVL 60, T. 1), 'Trèfle incarnat'-Szene Nr. 14 (GVL 112, T. 14) Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater, S. 201

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meidet also meist kontrapunktische Verbindungen oder Nebenstimmen, ist aber für die Operette ein Lehár-Spezifikum - "der Geist fühlt sich [...] in den entrückten Höhen des Musikdramas",78 wie es den Zeitgenossen schien. So wenig sie stilistisch mit Wagner zu tun hat, "so sehr zehrt die musikalische Dramaturgie von dessen Erbschaft".79

78 79

Klaus Pringsheim, Operette, a. a. O., S. 186 Carl Dahlhaus, Zur musikalischen Dramaturgie der Lustigen Witwe', a. a. O., S. 663

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V. Süße Lehár-gie Lehár und die Geschichte

Freude, schöner Götterfunken! Dir ward er ins Herz gesenkt Und wir lauschen wonnetrunken Tönen, die Du uns geschenkt. Weinen, jubeln, jauchzen, lachen Macht uns Deine Melodie. Und wir wollen nie erwachen Aus der süßen Lehár-gie.1

1. "Kunst bringt Gunst" (ZL 33) Im Spiegel der Zeitgenossen

Man hört eine Operette nicht ungestraft, denn sie ist suggestiv wie das Böse, man wird ein Medium für den [...] Komponisten, fühlt Tanzschritte im Leib.2

Alltagsreflexe Daß die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, ist bekannt. Ob sie mit Operettenkomponisten ähnlich verfahrt, sei dahingestellt Die Mitwelt jedenfalls bleibt, wie berichtet, nicht müßig: sie "überschüttet den Operettenkomponisten mit Kränzen."3 Dies Los aber teilen wenige nur und ein solcher ist Lehár gewiß. Bleibt in seinem Fall die Nachwelt auch nicht müßig, so doch hinter einer Mitwelt weit zurück, die getreu sein Bild festhält, das jener be-

1

2

3

Erwin Engel, An Meister Lehár, in: Weltspiegel. Illustrierte Nachrichten aus dem Weltspiegelkino, Wien SeptVOkt. 1935, o. S. August Strindberg, zit. n. S., Strindberg als Dramaturg. Sein Urteil über die Operette, in: Neues Wiener Journal, Nr. 8260,27. Oktober 1916, S. 8 L. U., Die große Lehár-Sensation, in: Wiener Allgemeine Zeitung, (Wien) 15. Januar 1934, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 271 123

reits ins Ungefáhre verblaßt. Große Ereignisse werfen ihre Schatten; und sind sie von längerer Dauer, verlängern sich auch ihre Schatten. Die Konturen beginnen dann zu verschwimmen und ein breiteres Spektrum verschiedenster Brechungen öffnet sich. Lehár überschattete ein halbes Jahrhundert. Eine Unzahl im weitesten Sinne journalistischer Dokumente belegt es. Deutlicher als in diesen aber, ist er im unmittelbaren Reflex der Zeitgenossen zu erkennen. Dieser Reflex zielt ins Unbewußte einer Epoche, die gerade das Unbewußte für sich zu entdecken beginnt - von der Psychoanalyse bis in versprengte Fetzen der leichten Musik. Im Alltag, der all diese Strömungen durcheinander wirbelt, hat jeder Anteil daran: Das flüchtig Gehörte bleibt haften. Das reicht bis in unsere Fehlhandlungen hinab, wir kommen unter Autos, weil wir's unachtsam summen, beim Einschlafen verwirrt es sich mit den Bildern unserer Begierde.4

Und so blieb auch keiner der Zeitgenossen von Lehár verschont, konnte es nicht bleiben, war er doch unumstritten der Meistzuhörende aller Vielzuhörenden, so daß Strindbergs protestanischer Rat - "Wer sich frei, selbständig, unberührt erhalten will, der hüte sich vor dem Gift"3 - vergebens war. Zumindest als kurze Notiz durchzieht Lehár Tagebücher, Briefe, Rezensionen, Essays, Romane und Anekdoten seiner weniger erfolgreichen, berühmteren Zeitgenossen, insbesondere der Kollegen von Schönberg bis Gershwin6, einschließlich eines jungen Philosophen, der, "Dein ist mein ganzes Herz" 'unachtsam summend', beinahe 'unter Autos' gekommen wäre - Herr Wiesengrund, der solches als Theodor W. Adorno überlebte.

Mahlers Heiterkeit Ahnliches, weniger drastisch, will Frau Alma Mahler-Werfel, eine gute Bekannte Meister Lehárs und eine eifrige Propagandistin seiner Wirkung dazu, in ihren Erinnerungen an Gustav Mahler berichten. Sie gewährt Einblick in

4 5 6

Theodor W. Adorno, Arabesken zur Operette, a. a. O., S. 517 S., Strindberg als Dramaturg, a. a. O., S. 8 "George Gershwin was one of the few younger composers who admired his music. Visiting Vienna in 1928, Gershwin met Lehár and came to know him well." (Geoffrey S. Cahn, S. 384)

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ihre Ehe mit dem Hofoperndirektor - und belegt, wie man "Tanzschritte im Leib"7 fühlt: Niemals in diesen fünf Jahren sind wir abends ausgegangen, nie in irgend eine heitere Gesellschaft, in ein Theater, nur in die Oper und nur, wenn er dirigierte, was allerdings mein Glück war, so daß ich gar nichts anderes wollte. Einmal aber waren wir in der Operette Die Lustige Witwe, die uns vergnügt machte. Mahler und ich haben nachher zu Hause getanzt und uns den Walzer von Lehár gleichsam nach dem Gedächtnis rekonstruiert. Ja, es geschah etwas Komisches. Eine Wendung konnten wir nicht finden, wie wir uns auch bemühten. Wir waren aber beide damals so 'verschmockt', daß wir es nicht über uns brachten, den Walzer zu kaufen. So gingen wir beide zur Musikalienhandlung Doblinger. Mahler begann ein Gespräch mit den Geschäftsführer über den Verkauf seiner Werke, und ich blätterte scheinbar achtlos in den vielen Klavierauszügen und Potpourris der Lustigen Witwe, bis ich den Walzer und die Wendung hatte. Dann trat ich zu ihm. Er verabschiedete sich schnell, und auf der Straße sang ich ihm die Wendung vor, damit sie mir nicht wieder entfalle. Dieses Beispiel und manches dieser Art von mir mit ihm Erlebte zeigte mir, daß Mahler Heiteikeit und Lustigkeit liebte, daß er aber aus irgend einem dunklen Prinzip dem allem aus dem Weg ging. Er konnte ungeheuer lachen...8

Was in Zusammenhang mit der Lustigen Witwe verwundert, berichtet doch Richard Strauss, nicht nur in diesem Punkt anderer Meinung als Mahlers Frau, von dessen Verhältnis zu diesem Walzer: "Ich kann heute [1940] mit meinen 75 Jahren über den Walzer der Lustigen Witwe (wie seiner Zeit Gustav Mahler) noch einen Tobsuchtsanfall kriegen."® Die zwei konträren Äußerungen schildern die Wirkung Lehárs charakteristisch. Mitwelt und Nachwelt mischen sich zum widersprüchlichen Bild von unbewußter Faszination und bewußter Distanz. Beides in eines zu denken, trifft den Punkt an Lehár, in dem er seine Zeit, und mit ihr Mahler, bewegt haben mag.

Der Operette Zauberring Im selben Brief an Clemens Krauss, übrigens jenem, der Giuditta fur die Wiener Staatsoper annahm, begründet Strauss seine heftige Reaktion:

7 8

9

S., Strindberg als Dramaturg, a. a. O., S. 8 Alma Mahler-Werfel, Erinnerungen an Gustav Mahler, hrsg. von Donald Mitchell, Frankfurt a. M/Berlin/Wien 1978, S. 148 Brief an Clemens Krauss vom 24. Januar 1940, in: Richard Strauss - Clemens Krauss Briefwechsel, ausgw. und hrsg. von Götz Klaus Kende und Willi Schuh, München 1964, S. 109

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Die Gefahr, die unserem Kultumiveau von Seiten des Films, Lehárs und seiner Spießgesellen droht, und der es zum großen Teil schon erlegen ist, ist mit vornehmer Nichtbeachtung nicht mehr abzutun.10

Nie hat Strauss einen Hehl aus seiner Abneigung Lehárs gemacht und so wirft er ihn gleich mit dem gleichfalls abgelehnten Puccini in einen Topf: "Anpassung der Bedürfiiisse [an den Publikumsgeschmack], dafür sorgt Puccini und Lehár."11 Und um beide ins rechte kulturhistorische Licht zu rücken, zeigt sich ihm hierin der "Verfall der Oper als Gattung: [...] Mozart, Puccini, Lehár (Shakespeare, Lessing, Kotzebue)."12 Verwundert dürfte er in einer Berliner Tageszeitung gelesen haben, Lehár dirigiere "so, wie Richard Strauss dirigiert, mit letzter Abklärung, mit äußerster Beruhigung der Temperamente"13, zu schweigen von anderen, erwähnten Parallelen. Vielmehr riecht ihm "der geigende Zigeuner [...] [den Hofmannsthal für Arabella vorschlägt] stark nach Lehár."14 - Worauf sich der Dichter im Antwortschreiben grundsätzlich zu werden genötigt sieht, was nämlich das Wienerische' an Arabella betrifft: Ich verstehe genau, was Sie mit der Atmosphäre meinen - die Ihnen ein wenig gegen den Strich ist. Aber ich bin nicht Librettist der Fledermaus sondern der des Rosenkavalier - das heißt: jenes gewisse Halb-Naive, Lumpige, das in dem französisch angehauchten Wienertum der Fledermaus das Element des Ganzen ist - kann bei mir immer nur Folie sein: und Arabella und Mandryka (der ja völlig als ein Fremder in diese Atmosphäre tritt, und als ein besonderer und opernmäßiger Gast), [...] all dies Wirkliche, von sehr ernstem Leben durchströmte, steht ja nur auf der Folie jenes anderen Elements.15

Die Debatte, die Hofmannsthal hier im Namen des Wienertums' führt, trifft den Kern einer ästhetischen Auseinandersetzung um die "Musikalische Komödie', auch wenn er den Begriff meidet und bereits 1910 feststellt, es seien "immer die Herrschaften dritten Ranges, die Lehár, Oscar Straus, WolfFerrari, die es lieben, sich mit diesen anspruchsvollen Bezeichnungen zu schmücken."16 Tatsächlich sollte Lehár ja erst vierundzwanzig Jahre später 10 11

12 13 14

15 16

Ebd., S. 108 zit. n. Walter Thomas, Richard Strauss und seine Zeitgenossen, München/Wien 1964, S. 347 Ebd., S. 101 sehr., Der Graf von Luxemburg, a. a. O., S. 232 Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 23. Juli 1928, in: Richard Strauss - Hugo von Hofmannsthal Briefwechsel. Gesamtausgabe, im Auftrag von Franz und Alice Stiauss hrsg. von Willi Schuh, Zürich 1964, S. 644 Brief an Richard Strauss vom 26. Juli 1928, ebd., S. 648f. Brief an Richard Strauss vom 10. September 1910, ebd., S. 103

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eine 'Musikalische Komödie' schreiben. Arabella jedoch wird Hoñnannsthal Gegenstand eingehender Reflexionen über eine Gattung, die er unverblümt Operette nennt und deren Repräsentant der erste jener Herrschaften' ist. Er gesteht dem in jedem Zigeuner Lehár riechenden Meister aus Gartnisch: Mit einem fast barbarischen, aber aufmerksamen und doch künstlerischen Sinn horche ich in alle Musik, die mir ein Orchester, ein Klavier oder Grammophon vormacht: Ob es Beethoven ist oder Lehár. [...]... nicht, daß ich meinte, Sie könnten schreiben 'wie Lehár'. Darüber haben Sie einmal vor Jahren in einem Berliner Restaurant Ihrer Gattin eine ganz erschöpfende Antwort gegeben: 'So wie der schreiben kann ich nicht, denn in ein paar Takten von mir liegt eben mehr Musik als in einer ganzen Lehárschen Operette.' Aber dies wohl verstanden, wohl begriffen (und es liegt darin dies, daß es eben zwei ganz unvergleichbare verschiedene Ebenen des musikalischen Kunstschaffens sind), so bleibt ein Etwas, das ich vielleicht mit folgenden ungeschickten Worten umschreiben kann: Wenn sich, als ein neuer Stilversuch, nicht absteigender Kräfte, sondern gesteigerter Kunsteinsicht, zu einem wenige' von Musik gelangen ließe wenn die Führung, die Melodie etwas mehr in die Stimme gelegt werden und das Orchester, mindestens auf große Strecken, begleitend und nicht sich in der Symphonie auslebend, sich der Stimme subordinieren würde (nicht in bezug auf Klangstärke, sondern in anderer Verteilung des führenden') - so wäre, für ein Werk dieser Art, der Operette ihr Zauberring entwunden, mit dem sie die Seelen der Zuhörenden so voll bezwingt!17 Dieser Zauberring wurde nicht entwunden und so mag noch einmal Alma Mahler-Werfel zu Wort kommen, die den Wunsch Hofmannthals fünf Jahre zuvor erahnte und entsprechend zur bekannten Anekdote formte: Wir nahmen einst Hugo von Hofmannsthal mit uns zum Libellentanz" von Franz Lehár. Hofmannsthal war so angetan, daß er sagte: 'Gott, wie schön wäre es, wenn Lehár doch die Musik zum Rosenkavalier gemacht hätte, statt Richard Strauss!' Ich erzählte diesen Ausspruch meinem Freund Egon Friedell, und er sagte: 'Und wenn dann noch ein anderer das Libretto geschrieben hätte - wie schön wäre die Oper erst geworden."9 Si non è vero, è bon trovato. Tatsächlich ist für viele Zeitgenossen der Rosenkavalier

soweit von der Operette nicht entfernt, wie es heute scheint

Alfred Döblin, nachdem er den Graf von Luxemburg

gesehen hatte, rezen-

siert 1911 'zwei Liederabende', wie folgt:

17 18

19

Brief an Richard Strauss vom 26. Juli 1928, ebd., S. 650f. Ein Werk, in dem Willner und Puccini-Librettist Lombardo u. a. dichten: "Bleibt mein Herz auf Null? / Or am I loving true and full?" - (Franz Lehár, Libellentanz, Operette in drei Akten von Carlo Lombardo und Dr. A. M. Willner, Musik von — , Klavierauszug mit Text, Leipzig/Wien 1923,S. 4) Alma Mahler-Werfel, Mein Leben, Frankfurt a. M„ 1981, S. 299 127

Es gab Richard StrauB [sic!]. Den Doktor sollte man Punkt acht selbst sehen, der eben mit seinem Rosenkavalier Lehár und Fall übertrumpft hatte als ein wahrer Überfall. Er erschien mit gänzlich ausverkauftem Lächeln...20

Schriftstellerisches am Rande Erscheint der Name Lehár hier aufs engste mit dem Schaffen Hofmannsthals und Strauss' verknüpft, taucht er wiederholt in Mahlers Biographie auf, durchzieht er den Alltag der Schriftsteller beiläufig als Randnotiz. Und wieder ist Frau Mahler-Werfel Angelpunkt unterschiedlichster Sphären. Gestern gabs einen musikalischen Nachmittag bei der Alma. Schönberg dirigierte seinen Pierrot Lunaire, der mir aufrichtiges Mißbehagen, mit kühler Bewunderung vermischt, einflößte [...]. Ein paar Abende vorher war ich mit Tharet und Seldes [...] bei der Gelben Jacke von Lehár; ganz erträglich, besonders schöne Costüme.21 Das findet im Februar 1923 Arthur Schnitzler, dem zwölf Jahre zuvor einer der ersten programmatischen Verehrer der Lustigen

Witwe, Freund Felix

Saiten, "komisch widerliche Geschichten von Fall und Lehár"22 erzählte. Stefan Zweig hingegen widerfährt im brasilianischen Exil folgendes: Besuch vor allem bei dem Präsidenten der Republik, Diktator Getulio Vargas. [..] Er sagt mir die freundlichsten Dinge über die Popularität meiner Arbeiten, erzählt von den Möglichkeiten Brasiliens, erkundigt sich sehr nach Wien und Lehár, es geht alles ohne Formalität.23 Wien und Lehár in einem Atemzug genannt zu hören, überrascht den Emigranten keineswegs. Ebenso war es selbst Carl Sternheim undenkbar, März 1907 Wien - mit Thea L. (incognito: Dr. Christian Sölden mit Frau) Stadt- und Museumsbesichtigungen, Konzert und Theaterbesuche: u.a. W. A. Mozart Don Giovanni (unter

20 21

22

23

Alfred Döblin, Zwei Liederabende (1911), in: Ders., Kleine Schriften I, S. 100 Arthur Schnitzler, Briefe 1913-31, hrsg. v. Peter Michael Braunwaith, Richard Miklin, Susanne Pertlik, Heinrich Schnitzler, Frankfurt a. M. 1984, S. 306 Ders., Eintrag vom 5. Dezember 1911, in: Ders., Tagebuch 1909-12, vorgelegt v. M. Werner Welzig, Wien 1981, S. 287 Stefan Zweig, Eintrag vom 25. August 1936, in: Ders., Tagebücher, S. 406, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden, hrsg. v. Ursula Michaels-Wentz, Frankfurt a. M. 1984

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Gustav Mahler in der Hofoper) - [...] [zu verlassen, ohne] Franz Lehár Die Lustige Witwe24

gesehen zu haben. Gottfried Benn wiederum, 1936 in Hannover, vertraut Tilly Wedekind an: "Ich gehe um 10 schlafen. Gestern abend wollte ich mal ins Mellini-Theater, Zarewitsch, Lehároperette, bekam aber keinen mir zusagenden Platz, schob wieder heim."25 Was er nicht hätte tun sollen, denn einige Monate später ist "die blaue Mazur im Mellini-Theater [...] nichts wert."26 Dennoch verdichten sich ihm solch flüchtige Eindrücke 'zum Thema Geschichte', wenn er feststellt: Der Held und der Durchschnitt - ein affektives Begegnen! Wo du nicht bist, kann ich nicht sein' - Lehársche Melodik und dies Land des Lächelns heißt Geschichte - ein Lächeln allerdings auf den Zügen von Leichen und eine Geschichte, erhellt allein vom Gold und Purpurrot geistig einfacher, gutbezahlter, moralisch undifferenzierter Generale.27

Gefälligkeitszauber Nicht ohne Ironie verarbeitet schließlich ein unbestrittener Meister Lehár zu hoher Literatur, wenn er die Lustige Witwe frei ins fragmentarische Romangeflecht ein- und weiterspinnt. "Nach dem geheimen Ursprüngen des Gefälligkeitszaubers"28 läßt Thomas Mann den Hochstapler Felix Krull' im funfiten Kapitel seiner Bekenntnisse forschen - und was anderes konnte ihm Gegenstand seines Hanges und Dranges sein als: ein Werte der leichtgeschürzten Muse, wie man wohl sagt, eine Operette, deren Namen ich zu meinem Leidwesen vergessen habe. Die Handlung begab sich zu Paris (was die Stimmung meines armen Vaters sehr erhöhte), und in ihrem Mittelpunkt stand ein junger Müßiggänger oder Gesandtsc haftsattaché, ein bezaubernder Schwerenöter und Schürzenjäger, der von dem Stern des Theaters, einem über aus beliebten Sänger na-

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Carl Sternheim, Eintrag vom 26. Februar-14. März 1907, in: Ders., Nachträge, Anmerkungen zu den Bänden 1-9, Lebenschronik, hrsg. von Wilhelm Endlich, Neuwied/ Darmstadt 1976, S. 1132 Gottfried Benn, Brief an Tilly Wedekind vom 5. Februar 1936, in: Ders., Briefe an Tilly Wedekind 1930-35, (Briefe IV), Nachwort von Margerite-Valerie Schlüter, Stuttgart 1986, S. 158 Ebd., S. 237 Ders., Zum Thema Geschichte, in: Ders., Das Hauptwerk, Bd. 2. Essays. Reden. Vorträge, hrsg. von Marguerite Schlüter, Wiesbaden/München 1980, S. 233 Thomas Mann, Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Roman, Stuttgart/ Zürich/Salzburg 1954, S. 30f.

129

mens MOller-Rosé, zur Darstellung gebracht wurde. [...] Allein wie er damals die Menge und mich zu blenden, zu entzücken verstand, das gehört zu den entscheidenden Hindrücken meines Lebens. [...] Bei seinem ersten Auftritt war er schwarz gekleidet und dennoch ging eitel Glanz von ihm aus. Dem Spiele nach kam er von einem Treffpunkt der Lebewelt und war ein wenig betrunken, was er in angenehmen Grenzen, auf eine verschönte und veredelte Weise vorzutäuschen verstand, [...] sozusagen nicht von dieser Welt. [... ] Elastisch taumelnd, wie man es in der gemeinen Wirklichkeit an Betrunkenen nicht beobachten wird, überließ er Hut und Stock einem Bedienten, entglitt seinem Mantel und stand da im Frack, mit reich gefältelt« Hemdbrust, in welcher Diamantknöpfe blitzten. Mit silberner Stimme sprechend und lachend, entledigte er sich auch seiner Handschuhe, und man sah, daß seine Hände außen mehlweiß und ebenfalls mit Brillanten geziert, ihre Innenflächen aber so rosig wie sein Antlitz waren. An der einen Seite der Rampe trällerte er den ersten Vers eines Liedes, das die außerordentliche Leichtigkeit und Heiterkeit seines Lebens als Attaché und Schürzenjäger schilderte, tanzte alsdann, die Arme selig ausgebreitet und mit den Fingern schnalzend, zur anderen Seite und sang dort den zweiten Vers, worauf er abtrat, um sich vom Beifall zurückrufen zu lassen und vor dem Souffleurkasten den 3. Vers zu singen. Dann griff er mit sorgloser Anmut in die Geschehnisse ein.29

Premierenfieber Ohne diesen Sinn für den Glanz der Oberfläche führt sich zur etwa gleichen Zeit ein ganz anders Gearteter einen ähnlich gearteten Operettenhelden zu Gemüte. Und ist hinter den Ausführungen Thomas Manns richtig der junge Attaché Danilo Danilowitsch zu vermuten, so erscheint bei Alfred Döblin der Graf von Luxemburg in Berlin erstmals auf der Bühne. In Begleitung des Dichters befinden sich Frau Psychologia und die kluge Dame Frau Ökonomie. Was sie mir zur Feier der Premiere von Lehárs Graf von Luxemburg sagten, ist rasch verdaut. [...] Das Theaterstück ist ein Vorwand, der Künstler Glied eines ökonomischen Trusts. Das Aufblühen der Automobilindustrie gehört zu den ureigensten Verdiensten eines echten Dramatikers. Und wie wird sich dies hier erfüllen! Soviel Küsse, soviel Tanz, soviel Kränze, soviel Schlager. Die unzüchtige Zote, die süße Geilheit in Wort und Spiel und Musik: mein Liebchen, was willst du mehr?30 Nun, verlassen von beiden charmanten Begleiterinnen, zieht der Dichter das daheimgebliebene Fräulein Ästhetik zu Rate. Die erklärt denn auch, die Musik, in mäßig gebildeter Haltung, sei bald in Plattheit ausgeartet; die Faktur stamme aus gediegenen Händen, besonders das Orchester; die Ein fälle nicht zu neu,

29 30

Ebd. Alfred Döblin, Der Graf von Luxemburg, a. a. O., S. 76

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aber manierlich aufgemacht; es wäre im übrigen eine negativ gute Kunst gewesen, das heißt gut durch Umgehen des Schlechten. Lehár, ein Talent, nicht verwechselbar mit den Industrierittern derselben Branche, sei aber sichtlich bemüht immer wieder ins Publikum gesunken; die Schlager fielen und der Beifall stieg. Dies sei alles Schuld der Theaterdirektoren. Das Gute müsse entweder verderben oder sich kompromittieren. Ein Anklagelied wolle sie singen! Es sei höchste Zeit, daß man diesen Verführern der Künstler und des Publikums den Schierlingsbecher reiche.31 Jahre später verschlägt es erneut einen, von dem man es nicht vermuten würde, in eine Berliner Lehár-Premiere. Kein Graf, kein Attaché - von derlei frivoler Lebewelt kann hier die Rede nicht sein - steht mehr im Mittelpunkt Immerhin erstaunlich, wie sich doch der zahlende Mob freut. Da hat ein besonders Süßer etwas für ihn gesungen. Friederike von Lehár, die Zeitungen schreiben glänzend darüber. Im Metropoltheater ist auch eine Orgel eingebaut. Damenwahl schallt's durch den Saal.... Niemals kennt man an Seele und Leib je das Weib, Weib, Weib, Weib. Auch das Heidenröslein hat der Mann komponiert. Und wie? Ja wie soll man das sagen? Die BZ am Mittag sagt: so, daß Lehárs Komposition 'vor Mozart bestehen kann'. (Da das Heidenröslein meines Wissens nicht von Mozart, sondern von Schubert komponiert wurde, kann Lehár also auch vor Schubert bestehen.) Die Berliner Presse löst einen Salut von 101 Schuß. Und das fast ausnahmslos, der Jubel ist auch noch echt. 'Gern hab ich die Frau'n geküßt', ja, das hat er gern gemacht, Lehárs Paganini. Jetzt aber singt Lehár Goethelieder, was vor Mozart bestehen kann.32 Das verschlägt Ernst Bloch die Sprache: "Für das reinste Wollen, die strengste Kunstübung hatten die Parasiten nichts als subjektivistische Unverschämtheit; für den Mozart-Lehár zeigen sie Hehlerblick."33 Doch die Tagespresse hilft dem Philosophen aus: "Glücklicher Lehár - glückliche Zeit, die einen solchen Jüngling im grauen Haar besitzt! [...] Wenn das nur einmal Arnold Schönberg im Tageblatt von sich hörte."34

Schönbergs Respekt Schönberg selbst konnte solches einem 'solchen Jüngling' nicht verübeln. Mit eigentümlichem Respekt vor dem leichten Genre erkennt Schönberg, der selbst Operetten instrumentiert hat, Technik und Erfolg Lehárs an. Diesen

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33 34

Ebd. Ernst Bloch, Lehár - Mozart (1928), in: Ders., Zur Philosophie der Musik, Frankfurt a. M. 1974, S. 192 Ebd., S. 194 Ebd., S. 193 131

Erfolg, den er seinem Werk so naiv wünschte, mißt er nicht nach eigenem Maß, sondern jovial nach dem des Erfolges. Er blieb der Tradition der "Wiener Musik' zeitlebens freundlich gesonnen "und zwar im Gegensatz zu Webern auch dort noch, wo sie - wie im Fall Lehárs - durch Kommerzialisierung bereits pervertiert war."35 Das ging soweit, daß Schönberg, nachdem er den "alten Bekannten aus der Wiener Zeit"36 in Baden-Baden getroffen hatte, ihm eine Partitur seines letzten Werkes zusandte, dessen Empfang Lehár am 20. März 1930 mit einem Telegramm aus Baden-Baden bestätigte: - 'fuer die liebe uebersendung ihrer juengsten hochinteressanten schoepfung herzlichen dank hatte riesenfreude wir muessen morgen leider direkt nach wien hoffen aber doch auf baldiges wiedersehn allerherzlichster getreuester = franz lehár'.37

Näheres von seiner Seite liegt nicht vor, handelt es sich doch bei der 'jüngsten hochinteressanten Schöpfung' um Schönbergs Einakter Von heute auf morgen — vom Komponisten durchaus als Beispiel einer dodekaphonen Operette gedacht. Der aufgeschlossene Lehár, stets in Kontakt mit der Musik seiner Zeit, dürfte sich wohl mit dem Werk beschäftigt haben, in sein Schaffen hat er die Anregung selbstverständlich nicht aufgenommen. Vielleicht hat es sein Interesse erregt, sein Herz aber nicht ergriffen, wie schon die Gurrelieder, nach deren Uraufführung er dem Bruder schreibt: Es steckt viel Kraft, Können und Talent in der Komposition. Allerdings, die unmittelbare Wirkung auf das Herz - wie Wagner es verstand zu wirken und zu packen, um uns nicht mehr loszulassen - ist ihm versagt. Vielleicht nur darum, weil die Form viel spröder ist: immer je eine Singstimme oder der Chor in Verbindung mit dem Riesenorchester. Jedenfalls war es ein ungemein interessanter Abend.38

Wieder interessant, zweifellos, aber die 'Wirkung auf das Herz - wie Wagner' haben schon die Zeitgenossen weniger bei Schönberg als beim Meister selbst gefunden. 35

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37 38

Horst Webern, "Melancholisch düstrer Walzer, kommst mir nimmer aus den Sinnen" - Anmerkungen zu Schönbergs 'Solistischer Instrumentation' des Kaiserwalzers von Johann Strauß (von 1925), in: Musikkonzepte 36, Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1984, S. 88 - Anton Webern schrieb an den Direktor der Universal Edition zur Einberufung Schönbergs (1915): "Für einen Lehár wurde es sofort erreicht, dass er vom Militärdienst befreit wurde. Das beweist, dass es möglich ist, Schönberg zu befreien." (ziL n. Eberhard Freitag, Schönberg, Hamburg 1973, S. 88) Hans Heinz Stuckenschmidt, Schönberg. Leben. Umwelt. Werk, mit 42 Abbildungen, München 1989, S. 306 Ebd. Franz Lehár, Brief an Anton von Lehár vom 24. Februar 1913, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 206

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Wie die meisten großen Operettenkomponisten hatte [ja] auch Lehár mit ernsten Werken begonnen. Schönberg sprach ihn brieflich mit 'Meister' an, und das war gewiß nicht nur eine leere Floskel.39

Dies ist Schwarz auf Weiß belegt, allerdings in einem Bittschreiben für den Mann seiner Schwester Ottilie, der wußte, daß Schönberg Franz Lehár gut kannte und [...] ihn [ bat ] eine Verbindung zu dem berühmten Mann herzustellen. Schönberg hatte diesem Wunsch am 8. Mai [1932] noch in Barcelona entsprochen: "Verehrter, lieber Meister Lehár, mein Schwager, Herr Oskar Felix, Ihnen wahrscheinlich als Textautor so mancher erfolgreichen Operette bekannt, bittet mich, ihm die Verbindung mit Ihnen herzustellen. Mit herzlicher Empfehlung Ihr ergebener Arnold Schönberg'.40

Trotz so hoher Protektion ist von einer Zusammenarbeit des Verfassers von Ihre Hoheit, die Tänzerin und dem Meister nichts bekannt. Die gewisse Verbundenheit beider Komponisten führte Hanns Eisler zufolge zu "Brechts Charakterisierung Schönbergs als 'gebrochener Lehár'"41 - desselben Brecht, der Lehárs "Hab ein blaues Himmelbett" in den zwanziger Jahren für eine Operngroteske mit dem Titel Auge um Auge, Zahn um Zahn vorsah,42 und dem "die Oper [..] bei weitem dümmer [scheint], wirklichkeitsferner und in der Gesinnung niedriger als die Operette."43 Nicht zuletzt deshalb schreibt Adorno zur gleichen Zeit den bemerkenswerten Satz: "Schönberg hat Lehár einen großen Komponisten genannt, vielleicht darf er ihn so nennen... ,"44

Ein Kino in London "Puccini - aha, das ist der, der dem Lehár alles vorgeäfft hat,"45 soll Schönberg einmal zu Alma Mahler-Werfel und Friedrich Torberg geäußert haben, als er übler Laune war. Später soll er korrigiert haben, "Puccini sei mehr als Verdi, denn er habe mehr gekonnt."46 Mit dieser Komponistentrias trägt dann, erstaunlicherweise, auch Kurt Tucholsky einen seltsamen Beziehungs-

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Hans Heinz Stuckenschmidt, S. 300 Ebd., S. 318 Hanns Eisler, zit. n. Musik bei Brecht, von Joachim Lucchesi und Ronald K. Shull, Frankfurt a. M. 1988, S. 81 Vgl. Ebd., S. 336 Bertolt Brecht, in: Die Scene, 19. Jhg., Berlin Februar 1929, Heft 2, S. 60 Theodor W. Adomo, Arabesken zur Operette, a. a. O., S. 516 Alma Mahler-Werfel, Mein Üben, S. 65 Ebd. 133

zauber aus, wenn er schreibt: "Puccini ist der Verdi des kleinen Mannes, und Lehár ist dem kleinen Mann sein Puccini"47 - um darunter folgenden Schlußstrich zu ziehen: "Und dieser Dreck ist international."411 Weil er nämlich, als er 1931 in einem Londoner Kino sitzt, eine irritierende Erscheinung hat, die, wie sich herausstellt, auch noch international ist. Er schaut also, entspannt zurückgelehnt, auf die Leinwand: ... und plötzlich, mitten in London, was wär denn jetzt dös? Da hätten wir den Herrn Lehár. [...] Da saß also ein ziemlich dicker, gemütlicher Mann an einem Klavier und die Wochenschau sprach mit seiner Stimme: 'Ich freie mich, daß mich, daß meine Melodien in der ganzen Welt gespielt werden, und ich heere, daß man mich nun auch mal sehen mechte... und daher ...'. Und daher spielte er uns zunächst [...] je ein paar Takte aus seinen alten Operetten, von denen ja die Lustige Witwe wirklich hübsche Musik enthält. Und dann spielte er dieses, und dann spielte er jenes, und warum soll er nicht, das wäre ja alles gut und schön. Nun aber kam das mit der neuen Operette - wir sollten einen Blick in die Werkstatt des Meisters tun. In der Werkstatt standen zwei Librettisten, [...] jetzt weiß ich endlich, wie die Leute aussehen, die in Lehárs Friederike den Satz aufgeschrieben haben: 'Ja, hier ist alles in Poesie getaucht!' Da standen die beiden Taucher [...] und sie taten so, als seien sie in der Werkstatt [...] und der Taucher sagte zu Lehár: 'Spiels amai, damit wir sehn, obs auch klappt'. Und Lehár spielte, und der Taucher sang mit... [...]: 'Wenn die Liebe will, stehn die Sterne still... '. Aber da unterbrach er sich und sprach: 'Ich deute nur an', und dann deutete er an: Und die ganze Welt wird ein Märchenland' - und Lehár paukte .. [...]. Es war erhebend. Man hörte ordentlich den Tenor, wie der das aber nun hinlegen würde. Ein männlicher Kritiker sollte niemals etwas über Tenöre aussagen49 und das tat der männliche Kritiker dann auch und überließ das Wort einem Berufenen. Also sprach Lehár, mitten in London, von der Kinoleinwand. Was aber war mit Puccini?

Eine Künstlerfreundschaft

Mindestens seit der großen schmelzenden Liebesmelodie des Graf von Luxemburg (nicht der Lustigen Witwe) hat sich Puccini ungeniert zu diesem ungarischen Könner der Trivialmusik bekannt.50 So kommt Puccini in Ernst Krauses Biographie mit Lehár in Berührung. Lehár seinerseits verehrt Puccini, spätestens seit KukuSka, deren Schluß Ma47 48 49 50

Kurt Tucholsky, Lehár am Klavier (1931), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 924 Ebd. Ebd., S. 922f. Ernst Krause, Puccini. Beschreibung eines Welterfolgs, Mit 39 Abbildungen und 82 Notenbeispielen, Überarbeitete Neuausgabe, München 1986, S. 219

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non Lescaut, die er 1894 in Budapest sah, eng verpflichtet ist. Auf dieser Basis wurde dem Operettenschöpfer eine große Künstlerfteundschaft zuteil. Die erste Begegnung fand 1913 anläßlich der Wiener Erstaufführung von La Fanciulla del West statt. Sie wird als Ursache für Puccinis gescheiterten Versuch auf dem Gebiet der Operette, La Rondine, angesehen, wenngleich Lehárs Rolle dabei ungeklärt ist. Puccini verpflichtete sich damals, dem Carltheater und dem Wiener Verleger Berté eine Operette nach dem Buch der Lehár-Librettisten Willner und Reichert zu schreiben. Die Arbeit zog sich bis in den 1. Weltkrieg hinein, als es unmöglich wurde das Werk eines Italieners in Wien aufzuführen, und gelangte nach Umarbeitung von Giuseppe Adami 1917 in Monte Carlo zur Uraufführung. Puccini hat die vergebliche Mühe hernach bereut - und sich von Tito Ricordi das Verdikt "schlechter Lehár"51 eingehandelt. 1913 in Wien jedenfalls hatte er, wie Maria von Peteani weiß, "einen seiner seltenen Frohsinnsanfälle, der Gedanke, etwas Leichtes, Schlankes, Elegantes zu schaffen, verlockte ihn."52 Aber auch in umgekehrter Richtung fand ein Austausch der Librettisten statt. Fernando Fontana, der Puccinis Erstling Le Villi schrieb, übersetzte die Lustige Witwe, und Giovacchino Forzano, der Verfasser von Suor Angelica und Gianni Schicchi, arbeitete 1926 mit Carlo Lombardo Lehárs Der Sterngucker zur italienischen Gigolette um. Zu einem näheren menschlichen Kontakt der auf diese Art Verbundenen kam es erst 1920 in Wien. Puccini schreibt Lehár, wenige Tage nach seiner Rückkehr, aus Torre del Lago: Lieber Freund! Zurückgekehrt in mein kleines und ruhiges Nest, seien Sie einer meiner ersten Gedanken. Noch stehe ich ganz unter dem Eindruck des bezaubernden Wien, jener Stadt, wo die Musik in der Seele jedes Menschen vibriert und auch leblose Dinge rhythmisches Leben zu haben scheinen. Lieber Meister! Ich kann Ihnen nicht sagen, wie glücklich ich war, Sie aus nächster Nähe kennenzulernen und ihre menschliche Güte und die Melodien welterobernder Musik bewundem zu dürfen. Ich danke Ihnen von Herzen für alles Gute, das Sie mir erwiesen haben, sowohl in meinem Namen als auch in dem meiner Frau. Empfangen Sie den innigsten Dank Ihres Freundes Puccini.33

Lehár antwortete umgehend mit einer Fotografie und der Widmung: 'Dem genialen Maestro Giacomo Puccini in aufrichtiger, herzlicher Verehrung zur Erinnerung an seinen treuesten Anhänger."54 Lehárs Porträt stellt der 51 52 53 54

Vgl. Bernard Grün, Gold und Silber, S. 168 Maria von Peteani, S. 151 Brief an Lehár vom Januar 1921, zit n. Emst Decsey, Franz Lehár, S. 89 Vgl. Jürgen Leukelt, Puccini und Lehár, in: Schweizerische Musikzeitung, 122. Jhg., Zürich Februar 1982, Nr. 2, S. 65 135

maestro neben Bilder Enrico Carusos, Maria Jeritzas, Franz Schalks und Gustav Mahlers auf einen Tisch neben sein Piano. Von nun an besucht er ihn häufig während seiner zahlreichen Aufenthalte in Wien, u.a. auch eine Vorstellung der Gelben Jacke (der ersten Fassung des Land des Lächelns), ein Jahr vor seinem Tod. Bei dieser Gelegenheit äußert Puccini am Freitag, 11. Mai 1923, Heim Desiderius Papp im "Neuen Wiener Journal': In Italien fällt es mir nie ein, irgendein Operettentheater aufzusuchen. In Wien versäume ich es nie, zwei bis drei Operettenaufführungen anzusehen. Diesmal werde ich einer Aufführung der Gelben Jacke, des Libellentanzes und der Katja beiwohnen. In [...] [dem] Komponisten Franz Lehár, der übrigens meinem engsten Freundeskreise angehört, [...] verehreich [...] [den] vortrefflichsten Meister der Operettenmusik.55

Lehárs Bruder Anton, der General, schildert einen gemeinsamen Abend mit beiden: Franz bat meine Frau und mich zu einem einfachen Abendessen. Der einzige Gast war Puccini. Franz sprach ziemlich gut italienisch, Puccini nur wenig deutsch. Schon während des Essens unterhielten sich die beiden Meister fast ausschließlich vermittels Zitaten aus ihren Werken, die sie leise singend andeuteten und erläuterten. Dann setzten sich beide an den Flügel. Eng umschlungen spielten Puccini mit der rechten, Franz mit der linken Hand abwechselnd oder sich gegenseitig begleitend die wunderbarsten Harmonien, Puccinismen und Lehárismen, sich in Klangwirkung und originellen Wendungen überbietend.56

Bei aller Skepsis gegen den Freiherr von Lehár läßt sich die wechselseitige musikalische und private Sympathie, die aus seinem Zeugnis spricht, nicht bezweifeln. So schreibt Puccini an Lehár: Teurer und berühmter Maestro! [...] Ich besitze Ihre neue köstliche Operette Wo die Lerche singt und kann nur sagen: Bravo, Maestro! Erquickend frisch, genial, voll von jugendlichen Feuer!57

Aus diesem Werk ließ Puccini sich von Lehár manche Weise vorspielen. Er selbst revanchierte sich mit etwas Seltenem: Teile der Turandot, an der er zu dieser Zeit arbeitet, erklingen in Lehárs Heim zuerst. Geza Herczeg wohnte als Gast diesem Ereignis bei:

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Giacomo Puccini, (Interview), in: Neues Wiener Journal, Nr. 10588, (Wien) 11. Mai 1923, S. 5 Anton von Lehár, in: Neue Züricher Zeitung, (Zürich) 20. Mai 1951, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 181 Giacomo Puccini, (Puccini und Wien). Ein Brief Puccinis an Franz Lehár, in: Neues Wiener Journal, (Wien) 18. November 1919, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 180

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Es war ein feierlicher Augenblick, [...] mit seinen langen feinen Fingern griff Puccini irgendeinen Akkord, wie wenn er das Klavier prüfen wollte. Bloß mit einer Hand, als wolle er nur Spaß treiben. Dann legte er seine Zigarette weg, verdeckte mit der rechten Hand die Augen, als ob er erst überlegen müßte, was er spielen solle. Dann wurde er sehr ernst, vertiefte sich in seine Gedanken, und schließlich spielte er gewissermaßen nur für sich, ganz unpersönlich einen Teil seiner neuen Oper... das Klavier sprach wie ein Orchester... es war die erste geschlossene Probe der Oper... . Wir schlossen ihn in diesem Augenblick alle in unsere Herzen... ,58 So nimmt nicht Wunder, daß es Lehár sich nicht nehmen läßt, der Uraufführung von Turandot

persönlich beizuwohnen. Mit den bekannten Worten

Toscaninis endet das Werk an diesem Abend, wie es Puccini unvollendet hinterließ. Der Operettenschöpfer erinnert sich: 'Als Toscani ni gesprochen hatte, wurde es für ein paar Sekunden lautlos still. Dann aber begann ein Schluchzen, das minutenlang anhielt. Im ganzen riesenhaften Zuschauerraum der Scala weinte alles, ob Mann, ob Frau... und ich selbst...'. Er brach ab. Seine Stimme versagte.59 Abschließend mag der Satz des Puccini-Biographen Richard Specht, dem sich Voreingenommenheit nicht nachsagen läßt, diese Freundschaft beleuchten: Die geradezu zärtliche Neigung, die Puccini für Franz Lehár empfand und die, bei aller verschiedenen Höhenlage der geistigen Ebenen beider Künstler, in einer nicht abzuleugnenden Wesensverwandtschaft ihres schwermütig, sinnlichen musikalischen Aromas, der erotischen Süße ihrer verführerisch mondänen und ein wenig verbuhlten Melodik begründet sein mag, war im Zusammensein der beiden erfolgreichsten Bühnenkomponisten unserer Epoche in einer fast rührenden Art zu spüren. Zwei Souveräne, die einander in vornehmer Bescheidenheit huldigten...60 Lehár, der im Brennpunkt der Zeitgenossen Stehende, der bei allem Erfolg Umstrittene wußte dies Zeit seines Lebens auf besondere Weise zu schätzen. Noch 1944 gesteht er in einem Interview, er sei bis auf die "innige Freundschaft mit Puccini, die auf tiefstem, gegenseitigen Verstehen beruhte, immer ein Einsamer geblieben."61

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Geza Herczeg, zit. n. Emst Decsey, Franz Lehár, S. 89 Franz Lehár, zit. η. Maria von Peteani, S. 202 Richard Specht, Giacomo Puccini. Das Leben, der Mensch, das Werk, Mit 28 Bildern, Berlin-Schöneberg 1931, S. 23 Franz Lehár, Musik - mein Leben, in: Neues Wiener Tagblatt, (Wien) 23. September 1944, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 180 137

2. "Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen" (LDL 21) Im Nationalsozialismus

"Kulturpolitisch ein strittiges Problem" Und in der Tat war der Meister im Jahre 1944 ein Einsamer geworden, bewegte er sich doch zuvor "fast ausschließlich in jüdischen Kreisen."62 Schließlich war ein Großteil der Operettenkomponisten Juden: Von Paul Abráhám, Leo Ascher, Jean Gilbert und Bruno Granichstaedten bis zu den Lehár-Freunden Edmund Eysler, Oscar Straus und Emmerich Kálmán reicht die Liste der aus diesem Grund Emigrierten, denen Ralph Benatzky und Robert Stolz sich anschlossen. Zudem stammten die Libretti sämtlicher LehárOperetten "ausnahmslos von Juden und zwar: Leo Stein, Béla Jenbach, Willner, Bodanzky, Reichert, Julius Bauer, Martos, Brammer, Grünwald, Löhner-Beda, Herzer"63 - nicht zu vergessen Viktor Léon und Paul Knepler. So wird in einem Schreiben der Dienststelle Rosenberg Franz Lehár, als Ungar einer der wenigen tragbaren Komponisten, für die Kulturpolitik des Dritten Reiches ein strittiges Problem. [...] Der Aufbau seiner Operetten zeigt eine gewisse internationale Kitsch-Schablone. Die von Lehár laufend vertonten Texte entbehren, von Juden geliefert, jeglichen deutschen Empfindens. Lehárs Können verschwendet sich an diese Sujets in kulturpolitisch bedauerlichem Sinne. [...] Lehár hat einen Walzer komponiert, den er Frankreich widmete. [...] Seine nach langjähriger Bekanntschaft vor einigen Jahren geheiratete Ehefrau soll jüdisch sein. Lehár selbst hat [...] seine arische Abstammung versichert. Trotzdem ist eine Annahme von Aufiuhrungswerken Lehárs für die NS-Kulturgemeinde nicht tragbar, [...] hat Lehár sich durch seinen ständigen Umgang mit Juden, seine Freundschaft zu Richard Tauber, nicht zuletzt durch hämische Bemerkungen über den Nationalsozialismus außerhalb des Kreises der Mitarbeiter an der Kulturpolitik des Dritten Reiches gestellt, soweit von einem Werturteil über sein musikalisches Schaffen abgesehen werden kann.64 Im Spiegel nationalsozialistischer Ideologie stellt Lehárs Werk sich als "Abstieg in die untersten Bezirke einer entarteten Kunstauffassung"65 dar.

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Brief der Dienststelle Rosenberg vom 27. November 1934 zit. n. Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M./Berlin/Wien, 1983, S. 437f. Ebd. Ebd. Herbert Gerick, Die leichte Musik und der Rassegedanke, in: Nationalsozialistische Monatshefte, Nr. 70, Januar 1936, zit. n. Joseph Wulf, S. 360

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Ähnliches soll, "bald grimmig, bald schalkhaft"66, Richard Strauss gegenüber dem Organisator der Düsseldorfer Ausstellung "Entartete Musik' im Sinn gehabt haben, als er meinte, dieser habe "den ganzen Franz Lehár (!!) vergessen - das sei die Entartung der Operette!"67, um ironisch die Zweideutigkeit solcher Etikettierung aufzudecken durch den Nachsatz: "und die vier Juden in seiner Salomé, die rein atonal sängen."68 Lehár war solcher Humor nicht gegeben. Verzweifelt versucht er, sein Werk zu rechtfertigen - und dies (ausgerechnet im Fall der schon 1928 nazistischen Protestkundgebungen ausgesetzten und nach 1933 teilweise verbotenen FriederiL·)69 mit den falschen Worten der Machthaber: ...das deutscheste unter meinen allen möglichen Nationen angehörenden Kindern (eines ist sogar ein Chinese geworden...). [...] Ehrlich, deutsch empfunden, in tiefster Ehrfurcht vor Goethe, mir vom Herzen geschrieben...70

Das ließ sich hören. Dennoch wurden nach dem Anschluß Österreichs Das Land des Lächelns und Giuditta zuerst vom Spielplan der Wiener Staatsoper entfernt. Aber "nicht jeder ist zum politischen Helden geboren. Genauso wie nicht jeder den Gold und Silber-Walzer [.. .] schreiben kann."71

"Einsam in eherner Zeit" Kurzzeitig spielte Lehár mit dem Gedanken zu emigrieren. Richard Tauber versuchte ihn zu überreden, konnte letztlich jedoch keine verbindlichen Vorschläge machen. Alma Mahler-Werfel, in deren Pariser Exilsalon Lehár oft zu sehen war,72 bemerkt dazu, er könnte nicht einen Monat von seinem Verdienst leben, denn es gibt in den USA kein einziges Operettentheater und Herumreisen, Tourneen erleiden - dazu ist er viel zu alt und müde und krank. Aber Lehár wollte um jeden Preis hinaus aus Deutschland.73

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Brief Hans Severus Zieglers an den Autor vom 18. Januar 1965, zit. n. Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt a. M. 1989, S. 212 Ebd. Ebd. Vgl. Boguslav Drewniak, Das Theater im NS-Staat. Szenarien deutscher Zeitgeschichte 1933-45, Düsseldorf 1983, S. 337 Franz Lehár, (Interview/1940), zit. n. Martin Lichtfuss, S. 294f. Maria von Peteani, S. 203 Alma Mahler-Werfel, Mein Üben, S. 248 Ebd., S. 277 139

Ein weiterer Grund war seine jüdische Frau. Sie war ständiger Überwachung durch die Gestapo ausgesetzt, bis sie schließlich von höchster Stelle 'arisiert' wurde. Als abschreckendes Beispiel stand Lehár das Schicksal seines Librettisten Dr. Fritz Löhner-Beda vor Augen. Als der Autor ausgerechnet jener boykottierten und 'deutsch empfundenen' Friederike, der es "mit Goethe leicht hatte"74, verhaftet wurde, reiste der Komponist umgehend nach Berlin, nur zu dem Zweck [..], bei Hitler die Freilassung seines Mitarbeiters [...] aus dem KZ zu erbitten. Hitler speiste Lehár mit der Bemerkung ab, er werde sich den Akt LöhnerBeda kommen lassen und dann weitere Mitteilungen machen.?s

Dieser Akt dürfte dem Urteil der Reichsdienststelle Rosenberg über den promovierten Germanisten entsprochen haben: Löhner-Beda gehört den Kreisen der Zionisten um Theodor Herzl an und ist Mitbegründer der jüdischen Sportklubs 'Hakoah' und Bar-Kochba'. Er ist ausgesprochener jüdischer Aktivist und verhöhnte durch satirische Gedichte seinerzeit den Nationalsozialismus.76

Damit war Lehárs Intervention gescheitert, Löhner blieb im KZ Buchenwald, wo der Verfasser so berühmter Schlagertexte der zwanziger Jahre wie "Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren", "Was machst du mit dem Knie, lieber Hans, beim Tanz", "In der Bar zum Krokodil" oder "Ausgerechnet Bananen" das 'Buchenwaldlied' schrieb. Er kam in Auschwitz ums Leben. Bei den Theatern aber, die auch von ihm textierte Werke Lehárs weiterhin aufführten, hatte sich zu dieser Zeit "die Gewohnheit eingebürgert, die Namen der jüdischen Mitarbeiter auf den Programmzetteln fortzulassen."77 Oder, wie der Operettenschöpfer selbst unfreiwillig makaber beklagt, die Autoren "würden einfach totgeschwiegen."78 Daß Lehár während des Dritten Reiches dennoch der meistgespielte Operettenkomponist blieb, hat andere Gründe. So war durch die rigorose Rassenpolitik gegen jüdische Komponisten gut die Hälfte des Operettenrepertoires ausgefallen. Diese Lücke konnte durch Neuproduktionen nicht geschlossen werden. Obwohl Lehárs Werk "einer Epoche angehört, deren Bestreben nur zu oft dahin ging, die Ideale des Staatsbürgers

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Emst Bloch, Lehár - Mozart, a. a. O., S. 192 Prof. Peter Herz, Die Ehrenarierin. Die Tragik im Leben der jüdischen Gattin Franz Lehárs, in: Die Gemeinde, Wien 10. April 1973, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 297f. Brief der Dienststelle Rosenberg vom 27. November 1934, a. a .0., S. 437f. Herbert Gerick, zit. n. Joseph Wulf, S. 360 Franz Lehár, Bekenntnis, S. 6

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zu verspotten,"79 wie es anläßlich der Neuinszenierung der Lustigen Witwe in Berlin heißt, bleibt seine Musik eine feste Größe im deutschen Spielplan. Die Kritik geht in erster Linie zu Lasten des Textes. Die Haltung der Salonoperette, die Frivolität der Figuren, ihr Zwielichtes Milieu wurden anstößig, so auch die Lustige Witwe. In besagter Berliner Neufassung wurde jeder harmlose politische Bezug getilgt, während die pontevedrinischen Staatsfiguren als in Paris lebende Pensionäre angenommen wurden. An Stelle der Anspielungen vaterländischer Art mußten familiäre Begebenheiten eingeflochten werden, die stets und immer einer lustvollen Spöttelei unterzogen werden können.80

"Hitler zur Operette" Der andere Grund aber war der persönliche Einsatz eines besonderen Bewunderers der Lustigen Witwe, dessen Bewunderung noch heute Schatten auf das Werk wirft. 1906 bereits besuchte der darüber hinaus glühende Verehrer Richard Wagners und angehende Künstler das Kaiser-Jubiläum-Theater in Wien. This theater [...] was host to nothing less than Franz Lehárs The Merry Widow; a servitor of Adolfs days of glory recalled that the chancellor loved to whistle Lehár's gay tunes [...]. Vienna was proveibally gay, sometimes risqué and Lehár's worldliness was matched by other light thearted shows.81 Dieser Adolf, der in Wien seine ersten Eindrücke von Lehar gewann und als Kanzler nicht verlor, wird zu jenem Hitler, der am 13. August 1920 im Hofbräuhaus in München also sprach: Wir erleben es, daß wohl ein Friedrich Schiller fur eine Maria Stuart 346 Taler erhalten hat, aber auch, daß man fiir die Lustige Witwe VA Millionen heute erhält, daß man für den größten Kitsch heute Millionen verdient.82

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Der Vorhang. Blätter des Deutschen Opernhauses Berlin, Heft 13, (Berlin) 1. Juni 1936, zit. n. Ingrid Grünberg, "Wer sich die Welt mit einem Donnerschlag erobern will...". Zur Situation und Funktion der deutschsprachigen Operette in den Jahren 1933 bis 1945, in: Musik und Musikpolitik im Faschistischen Deutschland, hrsg. v. Hanns-Wemer Heister und Hans-Günther Klein, Frankfurt a. M. 1984, S. 230 Ebd., S. 233 William A. Jenks, Vienna and the young Hitler, New York 1960, S. 14f. Aus einer Rede der NSDAP Versammlung im Hofbräuhaus / München am 13. August 1920, Warum sind wir Antisemiten?, zit. n. Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905141

Oder der zum selben Thema zwei Jahre später im Thomasbräu befindet: Schiller und Beethoven schaffen nicht ans Geschäftsinteressen, sondern aus inwendigem, unbändigem Drang. Heute betrachtet man das Dichten vom Standpunkt der Rentabilität. Die Folge ist dann z.B. nicht eine Maria Stuart, sondern eine Lustige Witwe. Diesen idealistischen Trieb hat der Jude nie besessen.83 Dies entspricht der angeführten offiziellen Kulturdoktrin seiner Partei, die er in öffentlichen Kundgebungen zu teilen scheint. Hitlers Vorliebe für die Lustige Witwe war außerhalb dieser Ideologie, ins Private verdrängt, angesiedelt. So berichtet ein Vertrauter im Buch mit dem fatalen Untertitel, Hitler wie er wirklich war, nachdem Vegetariertum und Tierliebe abgehandelt sind: Hatte Hitler über Tag viel Ärger gehabt, hörte er sich auf dem - ihm 1942 von Furtwängler84 zum Geburtstag geschenkten - Magnetophon-Standgerät Tonbänder mit Beethoven-, Bruckner-, bzw. Richard Wagner-Kompositionen an [...] und Franz Lehár CLustige Witwe)."5 Da von diesen Komponisten allein der Letztgenannte noch unter den Lebenden weilte, war Hitler, nachdem er am 27. November 1936 auf der 3. Jahrestagung der Reichskulturkammer in der Berliner Philharmonie "[...] sich u. a. mit Franz Lehár"86 unterhalten hatte, "Tage danach beglückt über dieses bedeutungsvolle Zusammentreffen."87 Lehár schickte Hitler daraufhin die Abschrift von "Lippen schweigen" mit einer Widmung, deren Text verschollen ist.88 Als er zwei Jahre später bei Hitler in der Sache Löhner-Beda vorstellig wird, mag er auf Hitlers Dankbarkeit für das originale Autograph spekuliert haben - wie gesagt, vergebens.

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1924, hrsg. von Eberhard Jäckel zusammen mit Axel Kuhn, in: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 21, Stuttgart 1980, S. 197 Aus einer Rede der NSDAP Versammlung im Thomasbräu / München am 2. November 1922, Positiver Antisemitismus der Bayerischen Volkspartei, zit. n. Der Völkische Beobachter, 4. November 1922, in: Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924, S. 718 Furtwängler debütierte am 8. Februar 1907 in Zürich mit der "Lustigen Witwe'. Dr. Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Hitler wie er wirklich war, Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe mit bisher unbekannten Selbstzeugnissen Adolf Hitlers, Abbildungen, Augenzeugenberichten und Erläuterungen des Autors, Stuttgart 1976, S. 252 Völkischer Beobachter Nr. 334, 29. November 1936, zit. n. Max Domarius, Hitler. Reden und Dokumentationen 1932-1945, kommentiert von einem Zeitgenossen, Band I. TRIUMPH, Zweiter Halbband 1935-1938, Wiesbaden 1973, S. 657 Albert Speer, Spandauer Tagebücher, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1975, S. 157 Vgl. Otto Schneidereit, Hinweise eines Regisseurs auf einen unbekannten Operettenkomponisten namens Franz Lehár, Unveröffentliches Typoskript eines 1978 beim Lehár-Symposium in Bad Ischl gehaltenen Vortrags, o. S.

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Hitler seemingly undisturbed by Lehár's association with Löhner, ranked his opera, Die Lustige Witwe (The Merry Widow) 'as the equal of the finest operas!' [...] In Berlin Hitler never missed a production of [...] The Merry Widow*9 Trotz Wahrnehmung solch offizieller Verpflichtungen stand der Komponist, im Fall Löhner ohnmächtig, im Fall seiner Frau scheinbar geschützt, unter dem Druck "eines drohenden Wohlwollens" 90 , wie Frau von Peteani Hitlers Verhalten treffend beschreibt. Ein derartiges Wohlwollen äußert sich auch in folgendem Presse-Rundschreiben des Propagandaministeriums: Anläßlich des 70. Geburtstages von Lehár am 30. 4. 40 soll ihm besondere Ehrung zuteil werden [...], soll in der Presse nicht etwa von dem 'ungarischen' Komponisten Lehár gesprochen werden, sondern von dem Meister der deutschen Operette. Jede Polemik in Bezug auf Lehárs Musik und Person ist selbstverständlich unerwünscht.91 In diesem Zusammenhang wird Gottfried Benn dieser Meister der deutschen Operette noch einmal zum Thema Geschichte: "Nein, es ist ganz Deutschland, alles eint sich in dieser Genesungsbewegung, dieser großen geistigen Bewegung, die nach Lodz den Graf von Luxemburg

[...] trägt."92 1943, als

dies Lodz noch nicht in Gefahr und Stalingrad verloren, wollte sich Hitler zu seinem Geburtstag eine besondere Freude machen und [...] die Lustige Witwe hören. Auf die Frage seines Sekretärs, ob er die Aufnahme mit Johannes Heesters und anderen Kräften des Gärtnerplatztheaters zu hören wünsche oder die Berliner Aufiiihning, die Lehár selbst für ihn dirigiert habe, erging sich Hitler in Erinnerungen und Vergleichen, ehe er abschließend befand, die Münchner Aufführung sei doch, wie er wörtlich formulierte 'zehn Prozent besser' gewesen.93 Johannes Heesters, der Danilo dieser Aufführung, steuert in seinen Memoiren ein weiteres Detail zum Thema bei, wenn er von einem Gespräch mit Hitlers Münchener Haushälterin, Frau Winter, berichtet. Einmal also sagte sie zu ihm: 'Ach, Herr Heesters, ich habe wieder mal was mitgemacht mit dem Chef.1 Ich fragte: 'Was denn?* - 'Also neulich, nach Ihrer Vorstellung im Gärtnerplatztheater, als er noch im Frack war, da hat er sich vor den großen Spiegel gestellt, der Arme...!' Wörtlich hat sie das gesagt: '...vor den großen Spiegel gestellt, der Arme, den Zylinder auf

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Miriam Sheree Zalampas, Adolf Hitler. A psychological interpretation of his views on architecture, art and music, Ann Arbor (MI) [St. John's University, Diss.] 1988, S .329 Maria von Peteani, S. 203 Presse-Rundschreiben des Propagandaministeriums, zit. n. Joseph Wulf, S. 437 Gottfried Benn, Zum Thema Geschichte, a. a. O., S. 240 Albert Speer, S. 101 143

gesetzt, sich einen Schal umgeworfen, so wie Sie das machen und mich gefragt: "Na, Winterin, was sagen Sie? Bin ich vielleicht kein Danilo?" [...] Mein Gott, dachte ich mir, wenn Hitler zur Operette gegangen wäre... nicht auszudenken.94

Rückzug Lehárs Rolle im Dritten Reich jedoch stellt keineswegs so ungebrochen sich dar, wie es die Überlieferung will. Zu denken gibt, daß der Komponist nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland, kein neues Werk mehr begann, sein über vierzigjähriges Schaffen abbricht und die letzten 14 Jahre in keineswegs Rossinischer Zurückgezogenheit und der Ahnung lebt, mit dem Nationalsozialismus wäre seine "Blüte-Zeit"95 abgelaufen, auch wenn er im Spiegel der Zeitgenossen weiterhin lächelt, als wäre er "zufrieden, wie immer sich's fugt"(LDL 21). Kurz nach dem Krieg bekennt er: "Um aber neue Werke zu schaffen, dazu gehört Begeisterung. Man muß die Welt um sich vergessen. Das ist natürlich in der jetzigen Zeit fast unmöglich."96

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Johannes Heesters, Es kommt auf die Sekunde an, München 1978, S. 127 Vgl. Franz Lehár, Bekenntnis, S. 5 Ebd., S. 7

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VI. Ausverkauf der Geschichte Lehárs Lyrische Operette

"Ein Herz ist kein Witz."1

War das Modell der Salonoperette für eine ganze Epoche und ihre Vertreter verbindlich, bleibt seine Erweiterung im Spätwerk Lehárs ein singulares Phänomen. Mit der Operettentradition des neunzehnten Jahrhunderts hat es nichts mehr zu tun und gerade die musikalische Verbindung, die es scheinbar mit dem Walzer hält, macht den Abstand deutlich. Die Schwierigkeit, dies Phänomen gattungstypisch einzuordnen, macht das bekannte Aperçu des Paganini- und Giuditta-Librettisten Paul Knepler deutlich, der Lehár als dritte Art des Musiktheaters zwischen Oper und Operette stellt.2 Schon die unterschiedliche Gattungsterminologie, welche die Autoren im Titel von Paganini bis Giuditta wählen, verweist auf diese Schwierigkeit3 Begriffe wie "Sängeroperette"4 oder gar Tragische Operette' sind entweder zu eng oder greifen zu hoch. Am ehesten wäre die späte Lehár-Operette als Lyrische Operette zu umschreiben, wie es ihre musikdramaturgische Anlage nahelegt Analog dazu verhält sich die veränderte Haltung ihrer Figuren und vor allem ihr verändertes Sujet. Von der modischen Modernität der Salonoperette rückt die Lyrische zugunsten 'ewiger Werte' und 'allgemeingültiger1 Stoffe ab, als erkenne sie mit Wilhelm Karezag an, "daß auf dem Operettengebiet von den alten Operetten nur die ernsten natürlichen, manchmal auch romantischen Werke Übriggeblieben sind."5 Gerade diese anachronistische Tendenz der Stoffe führt dazu, daß "die Gattung Operette in den zwanziger Jahren praktisch nur noch in der Leháriade - sieht man von wenigen Randerschei1 2

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s

Sprichwörtlich Vgl. Paul Knepler, Erinnerungen an Franz Lehár. Festrede anläßlich der DenkmalsEnthüllung am 6. Juli 1958, gehalten von — , (Wiener Stadt- und Landesbibliothek), o. O., o. J., o. S. Das reicht vom herkömmlichen Operette in drei Akten' (Paganini', "Zarewitsch") zu 'Singspiel' ('Friederike'), 'Romantische Operette' ("Land des Lächelns') und Musikalische Komödie' ('Giuditta"). Max Schönherr, zit. n. Christoph Winzeier, Franz Lehár - ein "Fanatiker der Kunst'?, in: Schweizerische Musikzeitung, 121. Jhg., Zürich April 1981, Nr .4, S. 229 Wilhelm Karezag, Operette und musikalische Komödie, a. a. O., S. 13 145

nungen ab - weiterbesteht."6 Was Ingrid Grimberg als "Randerscheinungen' bagatellisiert, war jedoch vor allem in Berlin alles andere als peripher. Revue und die Massary-Operette feiern Mitte der zwanziger Jahre ihre großen Erfolge, ehe sie zur Revueoperette sich verbinden. Die lyrische Lehár-Operette ist gerade als Gegenbewegung zu verstehen, ein letztes Bemühen um Zusammenhang, den die Operette in der Revue längst aufgegeben hat. Dies wäre darzustellen, wie schon im Fall der Salonoperette, anhand 1. der Musikdramaturgie, 2. der Rezeption, 3. des Sujets.

1. "Das ewige Lied von Lust und Leid" (GIU 163) Zur Musikdramaturgie der Lyrischen Operette

Versuch des Ausgleichs Der Antagonismus der Salonoperette zwischen Auflösung und Zusammenhang kann in den zwanziger Jahren mit ihren eigenen dramaturgischen Mitteln nicht mehr bewältigt werden. Die Diskrepanz von kollektiver Gebrauchsmusik, die zu integrieren wäre, und subjektivem Ausdruck, den die Operette unverändert behauptet, führt in der leichten Musik der Zeit zur Polarisierung von Jazz- und Opernelementen. Folgerichtig bilden sich zwei Formen aus: die jazznahe Revueoperette und die opernnahe Lyrische Operette, deren alleiniger Vertreter Lehár ist. Obwohl "die Möglichkeit des Ausgleichs geschwunden"7 ist, versucht ihn Lehár. Das führt zur paradoxen Musikdramaturgie der Lyrischen Operette, die auf das verengte Schema der Salonoperette zurückgeht: Einlagen der Salonoperette werden eingeschränkt und einzelne Szenen der Handlung erweitert. Doch werden die auf Zusammenhang angelegten Wiederholungstechniken unverändert übernommen. Wohl ist das Material innerhalb der Akte reicher an Bezügen, dennoch bleibt der Finalbau hinter dem der Salonoperette oft sogar zurück. Der Anspruch opemnaher Einzelnummern wird im Finale nicht eingelöst. Wirklich durch6 7

Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 68f. Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a. a. O., S. 741

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komponierte Teile, wie das erste Finale des Land des Lächelns, sind selten. Auch überwiegen noch immer Reminiszenzen hervorstechender Themen deren leitmotivischen Gebrauch. Ursache ist in erster Linie die beibehaltene Nummemdramaturgie: 1. kann sie dem Ausdrucksgehalt der Handlung nicht mehr gerecht werden; 2. muß sie Einlagen integrieren, die ihren Zusammenhang sprengen. Da die Musik an ihren Stereotypen festhält, muß sie 3. ein entsprechendes Schema ausbilden, das sie wiederum zum Gehalt der Handlung in Widerspruch setzt. Die Lyrische Operette bleibt als Form paradox.8

Konstellationen Π Das Schema der Nummemdramaturgie bestätigt die Lyrische Operette ausnahmslos in ihrem Besetzungsmuster. Erstes und zweites Paar werden mit derselben Aufteilung der Rollenfächer übernommen, doch bleiben die Gesangsrollen auf diese vier Personen reduziert. Anstelle der wenigstens teilweise gesungenen Nebenrollen (vgl. 'die ins Melodisch erhobene Rede') der Salonoperette treten Sprechrollen, die der reduzierten und verinnerlichten Handlung von außen Impulse geben. Sie repräsentieren die Außenwelt, an der das erste Paar scheitert,® beschreiben anekdotisch das Milieu10 oder dienen als komische Figuren der Auflockerung11 einer Handlung, der jede Komik abhanden kam. Überdies zeichnet für Komik wie in der Salonoperette das zweite Paar verantwortlich. Seine Musiknummern sind mehr noch als dort Einlagen ohne Handlungszusammenhang. Die Konstellation der Figuren 8

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Da 'Schön ist die Welt!' als versuchte Synthese von Lyrischer und Salonopeiette und 'Giuditta' ids für die Wiener Staatsoper geschriebene Zwischenform Ausnahmen darstellen und andernorts Erwähnung finden, beschränkt sich die folgende Untersuchung auf die vier erfolgreichen Repräsentanten des Spätwerks: Paganini' (1925),'Zarewitsch' (1927), 'Friederike' (1928) und 'Das Land des Lächelns' (1929). Wie Tschang im 'Land des Lächelns', der Großfürst im 'Zarewitsch' - bedingt Weyland in 'Friederike' und der Fürst in 'Paganini'. In diesen beiden Werken lösen Boten höherer Mächte (des Herzogs von Weimar und Napoleons) den Handlungskonflikt aus Knebel und Graf Hédouville. Das Pfarrerehepaar Brion und Madame Schöll in 'Friederike', Bartucci in 'Paganini' oder Graf Lichtenfels in 'Das Land des Lächelns'. Der Obereunuch in Oas Land des Lächelns', Bardolo und Lina in 'Zarewitsch' - und, als große Ausnahme gesungen, der krumme Beppo in Paganini'.

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steht ebenso fest wie in der Salonoperette, ebenso der Ausgang der Liebesgeschichte des ersten Paares: die Entsagung eines der Partner. Diese Entsagung am Ende der Operette hat ihre Ursache sowohl im veränderten Sujet als auch in der veränderten Rezeptionsweise, hauptsächlich aber in der Eigendynamik der dem ersten Paar zugeordneten Musik. Das fur die Salonoperette typische Happy-End war der Gattung nicht so selbstverständlich, wie es scheint. Offenbachs Operetten kennen es meist ebensowenig wie etwa noch Die Fledermaus. Bereits im zweiten Finale der Salonoperette wird es angezweifelt. Schon in Lehárs Zigeunerliebe und Wo die Lerche singt kommt es nur durch einen im Hintergrund gehaltenen Ersatz zustande. Das die Handlung bestimmende Liebesabenteuer mit einem Außenseiter (Zigeuner, Maler) scheitert. Die Protagonistin findet bürgerliches Glück in der am Ende unversehens auftauchenden Jugendliebe. Die sentimentale Note einer Operette ohne Happy-End fuhrt dann 1916 das Dreimädelhaus (Schubert / Berté) ein, nachdem es bereits 1906 in Jarnos Försterchristel präludiert wurde. Der Grund für den Entsagungsschluß wird Gegenstand der folgenden Kapitel sein.

Konflikt Aus jenem Entsagungsschluß resultiert die Umstrukturierung der Konfliktsituation der Operette. Der für die Salonoperette musterhafte Konflikt der Lustigen Witwe, in die Person verlegt und psychologisch motiviert, muß, wie in der klassischen Wiener Operette, wieder nach außen verlegt werden. Er wird vor allem wieder zum Konflikt unterschiedlicher Sozialisation. Hat die Verbindung der Sängerin Angèle Didier mit dem Grafen von Luxemburg programmatisch über die Standesschranken eines Basil Basilowitsch triumphiert, sind die gesellschaftlichen Schranken in Paganini, Friederike und Zarewitsch, sowie die kulturellen im Land des Lächelns nicht mehr zu überbrücken. Die Protagonisten gehören unterschiedlichen Sphären an und bleiben durch sie getrennt. Die Musik aber verbindet sie. Was im Konflikt sie trennt, kommt immer von außen, d.h. von außerhalb eines durch Musik bezeichneten Binnenbereichs, repräsentiert durch Sprechrollen (Hédouville, Großfürst, Knebel und Weyland, Tschang). Fiel die Aufwertung der Zwischentexte des Dialogs gegenüber der klassischen Operette bereits in der Salonoperette auf, spielt sich in der Lyrischen Operette die dramatische 148

Entwicklung fast ausschließlich in den gesprochenen Passagen ab.12 Gerade deshalb erweist sich der Gattungsterminus als berechtigt, hat die Musik doch nur noch lyrische Funktion, der Text dagegen die eigentlich dramatische, sofern bei der reduzierten Handlung in Lehárs Spätwerk von einer solchen die Rede sein kann. Folgerichtig verkommt der dramatische Höhepunkt der Entsagung zur Skizze des Finaletto III, das ganz (Friederike), wenigstens aber teilweise (Paganini, Zarewitsch, Land des Lächelns) in Form eines Melodrams gehalten ist. Einer Form also, die Sprache nicht mehr in die Musik zu integrieren vermag. Der Konflikt kommt kurz vor dem Finale des zweiten Akts in die Handlung, die bisher außer der Annäherung des ersten Paars und ihrem Glück wenig Entwicklung aufzuweisen hat. Das folgende zweite Finale hat seine verbindliche Form verloren. Nur im Zarewitsch wird der Konflikt direkt ausgetragen, in Paganini nur noch angedeutet. Doch handelt es sich bei beiden Werken noch um groß angelegte Szenen mit Chor und Balletteinlage. Beim zweiten Finale von Friederike und Land des Lächelns fallt alles szenische Beiwerk weg. Es konzentriert sich auf die zwei Protagonisten und läuft monologisch aus.

Aufteilung der Musiknummem Π "Je mehr in der Oper die dramaturgischen Forderungen berücksichtigt werden, desto mehr ziehen sie sich in der Operette zurück."13 Mehr noch als auf die Dramaturgie der Salonoperette trifft dieser Satz auf die der Lyrischen Operette zu, in der durch "die Zerstörung des strukturellen Gleichgewichts zwischen Text und Musik"14 Handlung und Musik auseinandertreten - sie ist nach einem Wort Decseys "mehr Mosaik als Bau."15 Der Aufbau der ersten Aktes entspricht beinahe völlig dem der Salonoperette. Mit Ausnahmen von Friederike beginnt er mit einer Chorszene, es folgt das Entrée der Protagonistin, das des Protagonisten, eine Buffoeinlage - in Friederike und Land des Lächelns kein reines Buffo-Duett! - und das Finale mit erneutem Duett der Protagonisten im Land des Lächelns und im Zarewitsch nur aus einem sol12

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Diese merkwürdige Strukturanalogie zur Opera seria (auf die den Verfasser Dieter Borchmeyer hinwies) wäre durchaus näherer Betrachtung wert, endete doch der Weg beider so komplementärer Gattungen in einer ästhetischen Sackgasse. Ferdinand Scherber, Die Operette, a. a. O., S. 48 Hans Redlich, a. a. O., S. 100 Ernst Decsey, Der Esel Aristoteles, in: Neues Wiener Tagblatt, Wien 27. Januar 1934, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 273

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chen bestehend. Dies erste Finale hat stets die Annäherung des ersten Paares - über alle Hindernisse hinweg - zu leisten und aus diesem Grund dramatischen Zug. Im Gegensatz zur Salonoperette spielt der Chor, wenn überhaupt, nurmehr eine untergeordnete Rolle. Auch der zweite Akt übernimmt im Großen die Abfolge der Salonoperette. Er beginnt mit einer Chor- oder kollektiven Tanzszene. Sein Mittelpunkt ist das Tauberlied, dem Sänger, für den Lehár diese Operetten konzipierte, zugeeignet. Es ist signifikant für die Lyrische Operette, da es, als reflexiver Monolog angelegt, Handlungsstillstand erfordert, und in der eigentlichen Salonoperette kein Vorbild hat - allenfalls die 'Trèfle incarnat'-Szene des Graf von Luxemburg käme in Betracht. Der Symmetrie entsprechend erhält auch die Diva ein solches, meist kürzeres Lied. Diese Lieder sind als lyrische Momente eigentliches Zentrum der Lyrischen Operette, nach Karl Westermeyer Manifestationen des Lehár "eigenen zur Lyrischen Oper (Puccini) tendierenden Operettenstil[s]"16 und somit Hauptargumente für den Begriff einer Lyrischen Operette. Weiter gehören zum zweiten Akt ein Duett des ersten und, als Einlage, ein Duett des zweiten Paares. Vom zweiten Finale war oben die Rede, als Ort der plötzlich gestörten Nähe der Protagonisten, als Ort des Konflikts. Der dritte Akt ist der Lyrischen Operette formlos geworden wie sein Finaletto bestätigt. Noch mehr als in der Salonoperette ist er, mit Ausnahme des Land des Lächelns, Anhängsel. Er kann ein Duett der Protagonisten, jeweils ein Lied beider, meist eine Reminiszenz, oder eine Choreinlage enthalten, obligat ist nur das Duett des zweiten Paares.

Einlage und bloßes Innen - die Nummerndramaturgie der Lyrischen Operette Bleibt in der Dramaturgie der Lyrischen Operette das Schema der Salonoperette erkennbar, trifft dies auch für den Charakter der Buffonummern zu. Es sind Tanzschlager, meist Duette, und ohne Handlungszusammenhang. Zwar gibt es noch immer die Walzerform {Paganini - Zarewitsch), es überwiegen aber die dem Jazz entlehnten Rhythmen. Hingegen sind die Tanzduette des ersten Paares verschwunden. Gleichwohl sind ihren Duetten Tanzrhythmen unterlegt, zum Beispiel der Foxtrott dem "Niemand liebt dich so wie ich" (PAG 64). Tanzszenen aber bleiben dem zweiten Paar überlassen oder tauchen in besagten Balletteinlagen auf. Diese Balletteinlagen haben wie der Chor nur noch milieuschildernde Funktion. Kollektives, wie es der Chor der 16

Karl Westermeyer, S. 115

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Salonoperette repräsentiert, greift in die Handlung nicht mehr durch diesen ein, sondern bleibt anonym, umso mächtiger als unsichtbare Macht. Der die Figuren störende Konflikt muß daher von außerhalb der Handlung stehenden kollektiven Autoritäten ausgehen, die in den Sprechrollen figurieren. Die durch sie gestörte innere Handlung, die die Lyrische Operette zu ihrem einzigen Thema macht, spielt allein in und zwischen den Protagonisten sich ab. Ihr Ort ist die Musik. Haben die Entrées zumindest Mitteilungscharakter, beschreiben gar wie "Immer nur Lächeln" (LDL 21) eine Situation, schaltet das erste Duett bereits die Außenwelt aus, zieht sich in die "Ungestörtheit des bloßen Innen [zurück], [...] die zur Etablierung einer Ideologie des Unbewußten soviel beiträgt"17 und in der Salonoperette bereits durch Psychologisierung ihrer Figuren vorbereitet war. Die Aufgabe der Musik wird es, die Kämpfe des Unbewußten, von denen die Handlung zehrt, affektiv darzustellen. Die szenische Aktion wird durch emotionale ersetzt. Daran fällt Ingrid Grünberg "die Drastik und Heftigkeit der dargestellten Gefühlsumschwünge" auf.18

Drastik der Affekte: "zu einem orgiastischen, betäubenden Gipfelpunkt hinauf' Offensichtlich beschreiben dies im zweiten Finale des Zarewitsch die Regiebemerkungen: Erst reißen "Tanzgruppen [...] in bacchantischen Kostümen [..] die Stimmung zu einem orgiastischen, betäubenden Gipfelpunkt hinauf' (ZAR 81). Mit dem Auftritt des Großfürsten wird sie "jäh unterbrochen [...], kurze stimmungsvolle Pause" (ZAR 82). Nachdem dieser dem Zarewitsch mitteilt, Sonja sei eine Dirne, bleibt der "Zarewitsch [..] wie betäubt zurück [..], in ihm kämpfen Zorn und Enttäuschung" (ZAR 84). Als Sonja erscheint "zerrt [er sie] über die ganze Bühne" (Ebd.). Sonjas Bitten lassen ihn kalt sie "rutscht auf den Knien ihm nach" (ZAR 86). Erst als sie schwört, sie habe "noch keinem Mann gehört" (ZAR 87), schlägt seine Stimmung um und "sie finden sich in einem glühenden Kuß" (ZAR 88). Die Musik vollzieht durch "schroffe Aneinanderreihung einander sich widersprechender seelischer Si-

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Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a. M. 1962, S. 61 Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 71

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tuationen"19 den Ausdrucksgehalt der Regiebemerkungen nach. Die Oberfläche der Figuren, birgt als veräußerlichtes Innenleben die Unterwelt der Musik.20

Distanz und Nähe - Historismus, Exotismus und Jazztänze Diese innere Perspektive wird von den Nummern mit Einlagecharakter gebrochen. Wie erwähnt, sind sowohl die Buffoschlager als auch die Chorbzw. Balletteinlagen dazu zu zählen. Im Gegensatz zur expressiven Unmittelbarkeit der Nummern des ersten Paares, sind sie stilistisch eindeutig einzuordnen. Sie stellen den Zuschauer in die Spannung von Nähe und Distanz. Nähe schaffen die Nummern des zweiten Paares durch die Einbeziehung zeitgenössischer, moderner Tanzformen. (Die Integration aktueller Gebrauchsmusik ist bereits ein Verfahren der Salonoperette.) Neu ist der eklektizistische Umgang mit historischen und exotischen Formen in den Chor- und Ballettszenen der Lyrischen Operette. Sie weisen hin auf die Distanz des Geschehens, erfüllen die Funktion des 'Es war einmal' des Märchens. Wie in den Buffonummern Jazzrhythmen der Gegenwart, liegen ihnen rhythmische Modelle der 'erzählten' Zeit, bzw. des Handlungsorts zugrunde. Diese Methode der Stilmischung übertrifft jene der Salonoperette, vergrößert die Spannweite zwischen Nähe und Distanz durch Verwendung von Jazz- u n d historischen, bzw. exotischen Formen. Exotisch in Verbindung mit impressionistischer Harmonik sind die Balletteinlagen der zweiten und der Chor des dritten Aktes aus dem Land des Lächelns gehalten, ebenso - unter Verwendung russischer Folklore - die Tscherkessen-Chöre und das orientalische Ballett im Zarewitsch. Die Wirkung wird verstärkt durch Einsatz von Originalinstrumenten: chinesisches Schlagwerk im Land des Lächelns, eine Balalaika-Kapelle im Zarewitsch. Historisch meinen es hier die Militärmärsche. Im Paganini wird dann statt der geographischen Distanz die geschichtliche zum musikalischen Mittel. Das Trompetensignal des Hofs von Lucca, welches das Entrée Anna Elisas einleitet und das ganze Werk leitmotivisch

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Ebd. Einzuwenden wäre, daß ähnlich abrupte Wechsel bereits das Reminiszenzen-Finale der Salonoperette, etwa des 'Graf von Luxemburg', kennzeichnen, doch handelt es sich dort weder um äußerliche 'Gefühlsumschwünge' noch um ungebrochene Darstellung des "bloßen Innen', sondern noch um ernste Handlungsumschwünge.

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durchzieht - es steht bezeichnenderweise am Ende aller drei Finali - ist Anspielung auf Gebräuche der Zeit. Der sich ihm anschließende Hofmarsch, im ersten Finale vom Chor gesungen, läßt auf die Choraufzüge der Grand Opéra, etwa in der Art des Meyerbeerschen Krönungsmarsches sich zurückführen. Auch das Menuett im zweiten Finale soll wirken, als wäre es aus der 'erzählten' Zeit, wird es doch von der Sängerin und dem Corps du Ballett eines Theaters ausgeführt, das laut Zwischentext gerade "Fanisca - die neue Oper von Cherubini"21 einstudiert. Das anschließende Violinsolo des Paganini zeigt die Grenzen solchen Eklektizismus' - es hat mit den PaganiniOriginalen außer der virtuosen Attitüde nichts mehr gemein.22 In Friederike ist Lehár dagegen besonders genau um historische Formen bemüht, sei es wegen des Anspruchs, den die Figur Goethes und die musikgeschichtliche Nähe zu Mozart stellt, sei es wegen des erstrebten Singspielcharakters. Mag das Orgelstück zu Beginn des ersten Aktes dem noch nicht gerecht werden, tut es das Menuett zu Beginn des zweiten gewiß. (Was Ernst Bloch unter anderem zu seiner Glosse Lehár - Mozart veranlassen wird.) Es fallt darüber hinaus auf, daß in Friederike alle Buffonummem in historischer Tanzform gehalten sind: Ländler, Pfälzertanz und Rheinländer werden bemüht. Das bleibt Ausnahme, denn gerade den Einlagen des zweiten Paares ist es in der Lyrischen Operette vorbehalten, die geschichtliche Distanz durch Verwendung von Modetänzen zu überbrücken und damit den für sie typischen musikalischen Anachronismus herzustellen. Zwar ist einer der jeweils drei buffonesken Tänze in Paganini, Zarewitsch und Land des Lächelns, wie noch in der Salonoperette ein Walzer, doch kommen in den übrigen Elemente23 und rhythmische Muster des Jazz zur Geltung. In den Buffonummeni des Land des Lächelns (Pagodenlied, Nr. 9 / "Meine Liebe, Deine Liebe", Nr. 10) nur angedeutet, sind die Tanzschlager des Paganini und des Zarewitsch deutlicher Jazztänzen verpflichtet: 'Einmal möcht' ich was Närrisches tun" (Paganini, Nr. 11) und "Heute abend komm ich zu dir" (Zarewitsch, Nr. 10) sind Anlehnungen an One-Step, "Ich bin 21

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Franz Lehár, Paganini, Operette in drei Akten von Paul Knepler und Béla Jenbach, Musik von — , Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, Wien 1936, S. 49 Wie überhaupt alle Exotismen oder Historismen in den Nummern der Protagonisten bloß koloristisch gemeint sind, während die besprochenen Einlagen geschlossene historische oder folkloristische Formen suggerieren. Im übrigen bestätigt dies zweite Finale des 'Paganini' die These von Volker Klotz, es werde "die dramatische Spannung geschwächt durchs Überangebot an Lokalkolorit." (Volker Klotz, Operette, S. 94) Wie "synkopische Pikanterien [...], Blue notes... ." (Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 74) 153

bereit" (Zarewitsch, Nr. 16) an Foxtrott und "Heut gehn wir in's Theater" (Paganini, Nr. 18) gar an den damals hochaktuellen Shimmy. Charakteristisch ist das Verschwinden "der vulgären Physiognomik des jeweiligen Tanzes [...] [hinter] seiner eleganten Maskierung durch den unverwechselbaren LehárTon."24 Derart geglättete 'Jazzschlager1 sind gewiß nicht mit zeitgenössischen aus Amerika zu vergleichen, stehen aber durchaus für jene - in Instrumentation und Rhythmik gemäßigte - Form ein, die im Europa der zwanziger Jahre eine Verbindung mit der bestehenden Salonmusik einging und die von den genannten Beispielen über Kálmáns Herzogin von Chicago (1928) bis zum dezidiert jazzigen Weißen Rößl (1930) reicht. Selbst die Jazzpassagen aus Kreneks Jonny spielt auf gehen nicht viel über jene Form des 'Salonjazz' hinaus. Lehár selbst macht 1924 mit Cloclo einen unverhohlenen Schritt in diese Richtung.

Formtypen Zur stilistischen Vielfalt der Nummern kontrastiert die formale Armut der verwendeten musikalischen Typen. Sie haben sich im Vergleich zur Salonoperette in der Lyrischen nicht verändert. Allein die Gewichtung ihrer Verwendung hat sich verschoben. Die Buffonummem sind nach wie vor der Coupletform verpflichtet, allen stilistischen Unterschieden zum Trotz. Neu ist die Angleichung der Typen an ihre historischen Muster in den Chor- und Balletteinlagen. Neu sind auch die frei erweiterten, meist aus einem Motiv entwickelten, Orchestervorspiele und -Zwischenmusiken. Die Nummern des ersten Paares sind, wie in der Salonoperette, meist der dreiteiligen Form verpflichtet - mit Ausnahme einiger Entrées, die nach wie vor Coupletform aufweisen.25 Sie sind wie das Rondolied oder die "Da capo-Arie', gleichgültig ob Duett oder Solo, stets im ΑΒΑ-Schema gehalten. Aus denselben Gründen wie die Salonoperette behält die Lyrische den Strophenbau und die symmetrisch überschaubare Periodisierung bei. Erweitert wird das Schema höchstens um einen rezitativischen Teil, wie schon im Graf von Luxemburg zu sehen. Das erste Duett aus Friederike (Nr. 5 1/2) kann als Beispiel eines erweiterten Rondolieds gelten: Einem Melodram (FRI 25 T. 1-18) schließt sich eine Variation verschiedener Liedtypen über einen Grundgedanken an: eine 24 25

Volker Klotz, Operette, S. 458 Etwa "Immer nur Lächeln" (LDL, Nr. 3) , reduziert in "L'empéreur Napoléon" (PAG, Nr. 2) oder, um ein kurzes Arioso erweitert, das Wolgalied (ZAR, Nr. 5).

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balladeske Episode (Ebd., T. 19-26, T. 8), ein liedhaftes Intermezzo, gleichsam rudimentäre Strophe eines eigenständigen Liedes (FRI 26, T. 8-28, T. 6) und ein Rezitativ (FRI 28, T. 7-10) - schließlich das Titellied in ABA-Form (Ebd., T. 1 Iff.), dessen allerdings sehr kurzer B-Teil (FRI 29, T. 1-8) auf die vorhergegangenen Teile rekurriert. In Friederike findet sich als historischer Typus überdies das im Volkston gehaltene strophische Lied ("Heidenröslein", Nr. 7). Der in der Salonoperette für das Liebesduett obligat gewordene Valse moderato kommt in Paganini explizit nur noch als Sololied ("Liebe, du Himmel auf Erden", Nr. 13) vor - zum Valse Boston abgewandelt im Zarewitsch ("Hab nur dich allein", Nr. 8) - ebenso im Land des Lächelns ("Wer hat die Liebe uns ins Herz gesenkt", Nr. 8). Das große Liebesduett ist in Paganini bereits ein Foxtrott ("Niemand liebt dich so wie ich", Nr. 12). Der Valse moderato stirbt. Er verliert in der Lyrischen Operette seine dramaturgische Bedeutung. Das pathetische Lied, in "Sah nur die kleine Hand" des Graf von Luxemburg (Nr. 14) angelegt, hat in der Lyrischen Operette vom Valse moderato der Salonoperette die zentrale Stellung übernommen, ein Lied, das in extrem langsamem Tempo gesungen wird und bei dem die Frage, in welchem Takt es steht oder gar welchen Tanz es repräsentiert, nicht mehr von Interesse ist.26

(Deutlicher kann sich die Operette von ihren Anfangen nicht entfernen.) Es ist in der Lyrischen Operette stereotyp ein Rondolied und als Tauberlied repräsentativ für Lehárs Spätwerk.

Tauberlied: Aufbau, Melodik, Haltung Das Tauberlied, stets zentral im zweiten Akt piaziert, hat stereotype Gestalt. Es ist ein Lied - "eher Arie als Lied [...], in variierter Reprisendreiteiligkeit,"27 - dem ΑΒΑ-Schema der Da capo-Arie', bzw. des Rondoliedes2*

26 27

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Dieter Zimmerschied, S. 51 Elisabeth Rockenbauer, Paganini, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper. Operette. Musical. Ballett, hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring, München 1986, Bd. 3, S.457 Es "entsteht durch Wiederholung des 1. Teils nach einem unterschiedlichen 2. bzw. Mittelteil." (Ulrich Michels, dtv-Atlas zur Musik. Tafeln und Texte, Bd. 1 Systematischer Teil. Historischer Teil: Von den Anfängen bis zur Renaissance. Mit 120 farbigen 155

verpflichtet: Es besteht aus Orchestereinleitung', Α-Teil, B-Teil, Α-Teil Wiederholung. Jeder dieser Teile kann unmittelbar wiederholt werden. Diese Binnenwiederholungen weisen nur unwesentliche Veränderungen auf. Die Teile bestehen aus jeweils 16 Takten, die symmetrisch in viertaktige Phrasen aufgeteilt sind. Es ist jene "regelmäßige, quadratische Periodenstruktur, die im 19. Jahrhundert die Grundlage der Opernmelodik und das Hauptmerkmal populärer Kantabilität bildete."29 Die wechselnden Teile lösen einander (durch Überschneidung) ab, in der Regel, indem der letzte Takt des einen Teils den ersten des anderen überlagert, so z.B. in "Gern hab ich die Frau'n geküßt" aus Paganini beim Übergang vom B- zum Α-Teil (PAG 52, T. 10). Die Orchestereinleitungen' sind auffallend kurz. Dennoch verstehen sie es, den Ausdruck der Nummer prägnant zu umreißen: in "Gem hab ich die Frau'n geküßt" (PAG 50) etwa durch eine stereotype, die Kadenz zweimal durchlaufende Floskel. Oder sie antizipieren die Melodie des Liedes; wirkungsvoll geschieht dies in "Dein ist mein ganzes Herz" (LDL, Nr. 11) durch Vorwegnahme der letzten drei Takte des Α-Teils (Anfang des Liedes = Ende des Themas, LDL 57, T. 1-3 und T. 16-18). Die Einleitung von "O Mädchen, mein Mädchen" (FRI, Nr. 13) verbindet beide Prinzipien (Abspaltung des Kopfmotivs). Der Α-Teil ist melodisch profiliert und Aufhänger des Tauberliedes. Er übernimmt gleichsam die Funktion des Refrains der Coupletform und macht aus dem Tauberlied einen Schlager. Der B-Teil übernimmt auch textlich die Funktion der Coupletstrophe. Er hat keine bestimmte Struktur, kann schematisch gehalten ("Gern hab ich die Frau'n geküßt") oder expressiv aufgeladen sein, durch harmonische und instrumentale Effekte, wie in "Dein ist mein ganzes Herz" (Flötensolo: LDL 58, T. 6ff. - Kette von Quintparallelen, zuständig für chinesisches Kolorit: LDL 57, T. 19ff. - Solovioline: ebd. chromatische Rückung bei "trinken": LDL 58, T. 3). Das eigentlich Charakteristische am Tauberlied ist die Melodik. Die Gestaltung der Gesangslinie erfolgt (Ausnahme: "O Mädchen, mein Mädchen") in ihm häufig nach der am Beispiel von "Bist du's lachendes Glück" erläuterten Eigenart eines Beginns mit einer relativ langen Note, aus der sich die folgenden kurzen entwickeln - mit wiederum einer langen Note als Aus-

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Abbildungsseiten. Graphische Gestaltung der Abbildungen: Gunter Vogel, München 1987, S. 109). Carl Dahlhaus, Mussorgskij in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Boris Godunow und das Problem des musikalischen Realismus, in: Ders., Vom Musikdrama zur Literaturoper. Aufsätze zur neueren Operngeschichte, München/Salzburg 1983, S. 46

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klang. Dieses Phrasenmodell erstreckt sich über vier Takte. Sie enthalten die melodische Substanz des Α-Teils. Es entsteht ein melodisches Schema. Die folgenden Abschnitte verhalten sich symmetrisch. Es kommt zu rhythmischen Analogien: In "Gern hab ich die Frau'n geküßt" etwa fällt auf jeden ungeraden Takt eine ganze Note, auf jeden geraden, im zweiten Taktteil, eine punktierte Viertel- mit Achtelnote, so daß sich folgende rhythmische Grundfigur ergibt: f p I ° . Zur 'freien Gestaltung' bleiben nur noch zwei Viertelwerte in jedem zweiten Takt. Die ganze Note wird entweder zu einer Achtelkette ( ° I C t t & ) oder länger übergebunden. Ist dies nicht der Fall, folgt eine Viertel- oder halbe Pause. Nach diesem auffallend stereotypen Muster wird das Thema der ersten Phrase in der zweiten vollständig, in der dritten und vierten rudimentär sequenziert. Der melodische Fluß verebbt Eine abgespaltene Figur ( £ | ° ) überlebt. Es prägen sich in diesem Lied die Charakteristika des Schlagers aus, wie ihn Adorno kritisch kennzeichnet: die völlige Beseitigung aller Kontraste innerhalb der Melodien und die Alleinherrschaft der selbstverständlich schon früher als Mittel zur Einprägung gehandhabten Sequenz.30

In "Dein ist mein ganzes Herz" wird der ungebrochene Schlagerton des Paganiniliedes dann modifiziert. Zwar kommt wieder ein Grundmotiv ( f' £ $ ) zu Beginn jeder der vier viertaktigen Phrasen vor - in der dritten gar noch einmal in deren dritten Takt (LDL 57, T. 14) - doch wird es in der zweiten nicht als Sequenz fortgeführt. Die vierte ist eine Variation der ersten Phrase. Die dritte bringt als scheinbar neues Element Triolen auf dem Schwerpunkt des zweiten und vierten Taktes, die jedoch nichts anderes sind als eine Variation der Figur aus Takt 5.1. Burkhard Koebner deutet im lesenswerten Kommentar zum Land des Lächelns (PEM) das tendenzielle Absinken der melodischen Linie, die am Ende der 4. Phrase "in den Aufschwung hineingetrieben [werde, folgendermaßen: es] sei die Skepsis selbst in dieser Konfession nur solcherart zu bezwingen."31 "O Mädchen, mein Mädchen" schließlich nimmt eine gewisse Ausnahmestellung ein. Es beginnt nicht wie alle anderen Tauberlieder mit einer langausgehaltenen Note32 - natürlich enden die Phrasen mit einer solchen 30 31

32

Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a. a. O., S. 772 Burkhard Koebner, Das Land des Lächelns. Kommentar, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 3, S. 452 Die Fermate in T. 4 ist deren entfernte Andeutung.

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sondern vom rhythmisch einprägsamen Grundmotiv absteigend. Dieses zieht sich, von der Einleitung ausgehend, durch das ganze Lied. Die ersten beiden wiederum viertaktigen Phrasen sind nahezu identisch. Sie bilden eine Einheit (FRI 65, T. 4-12). Erst die folgenden Takte lösen sich. Nach den T/DWechseln der Takte 4-12 setzt die Subdominante (Ebd., T. 14/15 - signifikanter Hömerdurchgang, T. 14 - man beachte: "voll Zärtlichkeit" - ebd.) das Lied logisch fort; ein häufiges Verfahren Lehárs, die Subdominate aufzusparen, um sie nach wiederholtem T/D-Wechsel umso prächtiger aufblühen zu lassen (Text!). Der Α-Teil kann als zweiteilige Liedform angesehen werden. Die Quartole in der ersten Α-Teil Wiederholung (FRI 67, T. 2) ist wie die Trióle in "Dein ist mein ganzes Herz" (LDL 53, T. 13.1/15.1) ein von Lehár bevorzugtes Kontrastmittel der Lyrischen Operette überhaupt. Solche hemiolische Bildungen sollen nach Grünberg den Eindruck erwecken, als sprenge das singende Subjekt mit seiner Gefühlsintensität das starre metrische Raster.33

Text: "Dazu seid ihr ja da" Das Moment des scheinbaren Ausbrechens aus einem vorgegebenen Rahmen kehrt in Führung der Singstimmen, insbesondere in den Tenorpartien, die sich stellenweise bis zum h" bewegen und nur noch mit der Kopfstimme zu bewältigen sind, wieder.34

Letzteres zeigt sich am deutlichsten in den Schlußtakten der Tauberlieder, die immer auf einen tenoralen Effekt hin angelegt sind, den Lehár zusammen mit Tauber konzipierte. Berühmt waren Taubers Da capo-Variationen', die jedoch nicht erhalten sind. Notiert sind meist langaushaltene Töne, mit einer höheren Variante in Stichnoten. Bei "Gern hab ich die Frau'n geküßt" ist die Altemativfassung, "von Kammersänger Richard Tauber gesungen" (PAG 52), vermerkt: der vorletzte Ton ist statt eines a ein hohes c, das in Sechzehntelschleifern zum Schlußton übergeht. Solche Verzierungen kennzeichnen als tenorale Schnörkel den gesanglichen Effekt des Tauberliedes. Weiter bemerkenswert ist dabei die Veränderung des Textes. Es heißt von Tauber, er singe "auf die Frauen deutend - 'dazu seid Ihr ja da'" (Ebd.). Anstelle der eigentlichen dritten Person ("dazu sind sie ja da" - ebd.), in der das 33 34

Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 73 Ebd. (Fortsetzung des obigen Satzes)

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Lied noch gehalten ist, wird die zweite verwendet. Seit Zarewitsch richtet sich dann der Text des Tauberliedes immer an eine imaginäre 2. Person, an ein imaginäres Du': "Willst du? Willst du?"35 im Zarewitsch, "O Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich Dich" in Friederike, "Dein ist mein ganzes Herz" im Land des Lächelns, "Liebste, glaub an mich" in Schön ist die Weif6, "Du bist meine Sonne" in Giuditta (GIÙ 91). Da beim Tauberlied der Sänger immer allein auf der Bühne steht, hat der Text keinen bühnenimmanenten Bezug mehr, sondern meint, ins Publikum gesungen, jeden einzelnen Zuschauer. Steht [...] der Komponist der Hörerschaft [...] lyrisch entfremdet gegenüber, so tendiert [...] [er] dahin, diese Entfremdung zu verkleistern, indem sie ins Werk als Element von dessen "Wirkung' das Publikum einbegreift.37

Das T)u' des Schlagers, das hier aufkommt, scheint durch seine individuellen Adressaten die Anonymität des Publikums aufzuheben. Dem entspricht der Text des Liedes, dessen Inhalt - im Gegensatz zu seinem Vorläufer in Frasquito - "Hab ein blaues Himmelbett"3", keine Geschichte mehr erzählt, sondern so allgemein gehalten ist, daß jeder darin sich wiederfinden kann. Die in ihm bemühte Metaphorik ist nur noch Zitat der Gemeinplätze einer sinnentleerten Triviallyrik und hat jede Individualität , die sie gerade behauptet, verloren. Exemplarisch steht der Text des berühmten "Dein ist mein ganzes Herz" dafür: Dein ist mein ganzes Herz, Wo du nicht bist, kann ich nicht sein. So wie die Blume welkt. Wenn sie nicht küßt der Sonnenschein. Dein ist mein schönstes Lied, Weil es allein aus der Liebe erblüht Sag mir noch einmal, mein einzig Lieb, O sag noch einmal mir: ich hab dich lieb... (LDL 54)39

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zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 227 Franz Lehár, Schön ist die Welt!, Operette in 3 Akten von Ludwig Herzer und Fritz Löhner, Musik von — , Klavierauszug mit Text. Originalausgabe des Komponisten, Leipzig/Wien/New York o. J„ S. 64 Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, S. 26 Franz Lehár, Frasquita, S. 92 Hier ist die aus der "Lustigen Witwe' bekannte Forderung eines Liebesgeständnisses des Partners ohne dramaturgische Bedeutung, bereits zur Floskel verkommen ("O sag noch einmal mir: ich hab dich lieb..." - vgl. die entsprechende Stelle aus "Lippen schweigen", wo zwei Liebende füreinander singend dies Schweigen brechen: "Er [der Druck der Hände] sagt klar: 's ist wahr, 's ist wahr, du hast mich lieb!" - LW 144). Das lyri159

Widersprüche Das Tauberlied zeigt deutlich den Widerspruch der späten Lehár-Operette: zwischen der Weite des angestrebten Ausdrucks und der Enge der stereotypen Formen, die ihn festhält. Die gemeinte Subjektivität wird gleichsam objektiviert, das geheime Innen nach außen gekehrt. Nur so kann das Tauberlied zum Schlager werden, zum Schlager allerdings mit dem Schein, kein Schlager, sondern Lied mit individueller Haltung zu sein. Hier setzt Adornos Kritik der Lehárschen Operetten mit Niveau [an], die sich um Psychologie bemühen, die den Typen nicht ansteht, und um eine kompositorische Form, die schon wegen der Rücksicht auf Faßlichkeit, der Gliederung in Strophe und Refrain sich nicht realisieren läßt.40

Adorno spricht hier den stereotypen Formen das Wort, "denn alles Recht der Operette liegt in der objektiven Gewalt vorgezeichneter Formcharaktere."41 Tatsächlich kann sie selbst die ambitionierte Lyrische Operette Lehárs nicht aufgeben. Sie weiß um die kollektive Gewalt ihrer Stereotypen. Diese jedoch hat die Operette mit dem Schlager gemein. Um nicht in einzelne Schlager zu zerfallen und um den Bühnenzusammenhang zu wahren, aus dem sie hervorging, bedarf sie verbindender Mittel. Die findet sie nach wie vor in abgelegten Techniken ernster dramatischer Musik: in Rezitativen, durchkomponierten Finali (Leitmotiv) für die Konstruktion; für den Gehalt in der spätromantischen und impressionistischen Harmonik. Um nicht der Revue zu verfallen, muß die Operette sich an der Oper orientieren. Insofern ist der Weg Lehárs, obgleich Irrweg, konsequent. Trotz unvermindert hoher Aufführungszahlen zeigt schon die Art der Rezeption des Lehárschen Spätwerkes als eine Folge von Schlagern das Scheitern seines Versuchs der erstrebten Mitte. Und um auf Kreneks Definition solchen Ausgleichs als Kitsch zurückzukommen, erfüllt dieser nach Adorno seine dialektische Funktion als "Niederschlag entwerteter Formen und Floskeln [...], gleichsam ein Behälter

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sehe' Subjekt ist ohne Gegenüber. "Die entfremdete Äußerlichkeit und die Inwendigkeit [...] lassen sich nicht miteinander versöhnen." (Theodor W. Adomo, Versuch über Wagner, S. 31) Ders., Arabesken zur Operette, a. a. O., S. 517 - Dies definiert nach Kifenek den Kitsch- nämlich "daß Ausdrucksmittel formelhafter Art [...] in ernster Absicht auf Gegenstände einer niedrigen Sphäre angewendet werden." (Ernst K?enek, Zur Sprache gebracht. Essays über Musik, München 1958, S. 49) Theodor W. Adorno, Frankfurter Opern- und Konzertkritiken. Nov. 1930, in: Ders., Gesammelte Schriften 19, S. 191

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mythischer Grundstoffe der Musik"42 zu sein. Nach Giuditta (1934) ist nicht nur Lehárs Bemühen um das Musiktheater gescheitert, sondern das der Oper überhaupt, behauptet doch, wie Adorno Puccinis Turandot - immmerhin eine der letzten Repertoireopera - noch zugesteht, "der Rührkitsch immer noch die echteste Opernrealität".43

Verhältnis zur Oper "Hat Lehár wirklich Operetten geschrieben?"44 Diese in bezug auf sein Spätwerk häufig gestellte Frage hat Lehár selbst in die Diskussion gebracht, als er über die Zukunft der Operette äußerte, "daß es zwischen Oper und Operette, was künsderische Qualität anlangt, keine Scheidewand mehr geben wird."45 Der - im übrigen schon seit Zigeunerliebe erhobene - Vorwurf, daß seine Werke "sich zuweilen ganz ins Opernhafte verlieren"46, fällt auf ihn selbst zurück. Schon der Widerspruch, der sich aus der Verwendung von Formstereotypen mit dem erstrebten Ausdrucksgehalt ergibt, zeigt die Grenze der Lehárschen Operette zur geschlossenen Oper, ebenso wie die Stildivergenz der einzelnen Nummern und das Schema der Nummerndramaturgie überhaupt. Dennoch hat der Verweis auf die Oper sein Recht. Wie schon die klassische Operette ein Nachfolger der Nummernoper ist, wird der späte Lehár zum eklektizistischen Epigonen Wagners und Puccinis, entnimmt er deren Werk doch allein einzelne Elemente, die er in einen fremden tradierten Zusammenhang stellt. Daß diese Entwicklung keine zufallige, sondern eine historische ist, war angedeutet worden. Charakterisiert es nach Adorno doch "gerade die Vulgärmusik, daß sie eine autonome Technologie nicht ausbildete."47 Das Verhältnis von Oper und Operette war, was ihre Technologie be42 43

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Ders., Kitsch, in: Gesammelte Schriften 18, S. 791 Ders., Frankfurter Opem- und Konzertkritiken. Juli 1927, in: Ders., Gesammelte Schriften 19, S. 97 Ferdinand Scherber, Lehárs 'Giuditta'. (Uraufführung in der Wiener Staatsoper), besprochen von Prof. — , in: Signale für die musikalische Welt, 92. Jhg., Berlin 31. Januar 1934, Nr. 5, S. 66 Franz Lehár, zit. n. Karl Kraus, Ernst ist das Leben, heiter war die Operette, in: Ders., Die Fackel, Bd. 5, XII. Jahr, 31. Dez. 1910, Nr. 313/14, S. 16 - bs - , in: Neues Wiener Journal, Wien 9.1.1910, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 132 Der Adornosche Begriff der Vulgärmusik, für den Schlager geprägt, trifft hier auch auf Lehár zu, da er sich derselben Mechanismen wie der Schlager bedient (Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a. a. O., S. 769)

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trifft, immer epigonal. Entsprachen sich ihre Gehalte im 19. Jahrhundert noch, ist ihr Abstand im zwanzigsten unüberbrückbar geworden. Gerade das Lehársche Spätwerk mit seinem Anspruch der Vermittlung steht dafür ein. Es unterliegt damit einer objektiven Tendenz im Verhältnis von Oper und Operette, die sich als Gattungen um 1930 in einer Krise befinden, die beide nicht unbeschadet überstehen sollten. Während für Adorno schon 1924 im Fall Schrekers die Opera sería im süBen Kitsch heimisch wird, fühlt der süße Kitsch sich unwohl bei sich selber und möchte Oper tragieren: Zeichen der Verrücktheit aller Haftpunkte musikalischen Formens.4®

Zu untersuchen blieben die Mittel, mit denen die Lyrische Operette von ihrer Haltung der Innerlichkeit und ihrer veränderten Handlung des Verzichts abgesehen, tatsächlich Oper tragiere.

Lehár und Puccini - Puccini und Lehár Zunächst Puccini: Lehárs Verhältnis zu ihm ist eng und vielschichtig. Der ihm gewidmete Aufsatz Jürgen Leukelts zeigt neben den biographischen drei kompositorische Verbindungen auf: Erstens die augenscheinliche in der Gestaltung von Kantilenen, wie an "Bist du's lachendes Glück" (GVL, Nr. 8) und "In quelle trine morbide" (Manon Lescaut - II, 6, T. 6) nachgewiesen, und die in den Tauberliedern sich deutlich ausspricht. Zweitens die Verwandtschaft "ins Melodische erhobene[r] Rede"49 Lehárs und "innerlich erlebter Melodik"50 Puccinis in der Behandlung rezitativischer Teile, ebenfalls am Graf von Luxemburg exemplifiziert Drittens gewisse rhythmische Vorlieben beider Komponisten: So für die Trióle51 oder die Synkope, von Puccini oft, von Lehár seltener benutzt - etwa in "Niemand liebt dich so wie ich" (PAG, Nr. 12), dessen Melodie der Puccini-Biograph Ernst Krause gar zum Plagiat aus La Bohème stempelt52 Alle von Leukelt hergestellten Verbindungen ziehen lediglich einen Vergleich der musikalischen Mittel, ohne sie allerdings näher zu bezeichnen. 48

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Ders., Frankfurter Opem- und Konzertkritiken. Dezember 1924, in: Ders., Gesammelte Schriften 19, S. 44 Maria von Peteani, S. 62 Richard Specht, S. 62 Besonders häufig im Trittico' (Vgl. Jürgen Leukelt, a. a. O., S. 70). Emst Krause, S. 219

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Aber gerade auch innerhalb des musikdramaturgischen Zusammenhangs trifft Lehárs Nummerndramaturgie zumindest eine Tendenz Puccinischer Opern zur "mosaikhafte[n] Anlage"53. Wenn Wolfgang Marggraf in seiner Untersuchung von La Botóme feststellt, der rasche, oft übergangslose Wechsel von kurzen Abschnitten, deren jeder von einem bestimmten Motiv beherrscht wird, ist ein wichtiges Merkmal Puccinis musikalischer Formung54 -

so entspricht das Lehárs Prinzip der drastischen Gefühlsumschwünge in den Finali vieler Operetten, wie am Beispiel des zweiten Zarewitsch-Finales demonstriert, dessen Ausdrucksgehalt nicht zuletzt aus diesem Grund an Puccini erinnert. Solches Verfahren dramatischer Zuspitzung, sofern beabsichtigt, übernimmt Lehár von Puccini. Adorno wirft denn auch der Musik des Land des Lächelns vor: "Sie borgt das Pathos von Puccinis Turandot, das selber schon zur Operette gehört, hat auch ihren Elan mit rhapsodischmelodisierenden Bögen aus Italien bezogen."55 Tatsächlich ist beides, trotz aller Niveauunterschiede, Puccini und Lehár, bei dem es schließlich in Giuditta seine späte Erfüllung findet, gemein. Schon 1909 wird das beiden in den Augen seriöser Kritik zum Verhängnis: Recht so, Herr Lehár. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, daß Sie niemand Besseren zur Ausbeutung gefunden haben als Puccini. Auf Ihrem Wege mußten Sie ja dem Mann ins Gehege kommen, der in seinem Territorium Ihrer Art am verwandtesten ist.56

Musikdrama? Wie oben ausgeführt, hält auch die Lyrische Operette formal an der alten Nummerndramaturgie fest. Obwohl Lehár "mit einem bedeutenden Aufwand von orchestralen Mitteln große Steigerungen erzielt"57 und sich damit "die Mittel der spätromantischen Kunstmusik zu eigen"58 macht, sprengen dieselben nie die vorgegebene Form, sondern bleiben bloße Ausdruckssteigerung -

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Wolfgang Marggraf, Giacomo Puccini, Wilhelmshaven 1979, S. 69 Ebd. Theodor W. Adomo, Frankfurter Opern- und Konzertkritiken, Feb. 1930, in: Ders., Gesammelte Schriften 19, S. 170 Alfred Wolf, a.a.O.,S. 271 - bs - , in: Neues Wiener Journal, Wien 9.1.1910, zit n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 132 Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 72

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meist als Instrumentaleffekte - so zum Beispiel: "Wo die Leidenschaft hervorbricht, stützt sich Lehár gern auf das schwere Blech, das Melodie führt, auf wild auf- und abrollende chromatische Tonleitern."3* Oder: er "verwendet teilweise tiefe Instrumente in hohen Lagen und umgekehrt,"60 was ihm den Vorwurf der "'Krach-Dramatik' des Verismo"61 einbringt Dennoch wäre der von Grünberg für die Lyrische Operette aufgestellten These von "der Abkehr vom alten Nummern-Prinzip zugunsten motivischthematisch durchkomponierter Akte und untermalender Szenenmusik"62 zu widersprechen. Zwar spielt die melodramatisch begleitende Musik in der Lyrischen Operette gegenüber der Salonoperette eine größere Rolle, auch ist das motivisch-thematische Material stringenter als dort durchgeführt, die Musik jedoch zerfallt ebenso in einzelne Nummern wie in der Salonoperette. Im Vergleich zur motivischen Vielfalt des Graf von Luxemburg ist das motivische Material der Lyrischen Operette stark reduziert. Das macht sie musikdramatisch geschlossener, musikalisch aber ärmer. Sogar innerhalb der Entwicklung von Paganini zum Land des Lächelns läßt sich das feststellen. Kennen Paganini und Zarewitsch in Ansätzen die alte Vielfalt der Salonoperette noch, ist das musikalische Material in Friederike und Land des Lächelns auf wenige leitmotivisch gebrauchte Melodiefragmente konzentriert. Das zeigen besonders die Finali, als einzig wirklicher Ort musikalischer Durchführung, auch in der Lyrischen Operette. Obwohl noch immer Reminiszenzen vorkommen, sind sie doch zurückgedrängt. Dennoch ist das Finalproblem nur selten so schlüssig gelöst wie im ersten Finale des Land des Lächelns. Zimmerschied formuliert zu seiner aufschlußreichen Analyse dieses Finales folgende Thesen der durchkomponierten Szenen und Finali [...]: - Einsatz des Wiederholungsprinzips der 'Silbemen Operette' zur bis ins einzelne durchdachten Formbildung. - Deutung innerer Vorgänge durch Verwendung differenzierter Erinnerungsmotive und überraschender Modulationen. - Verwendung von Dissonanzen als interpretierende Farbwerte [...]."

Die beschriebenen Mittel sind Erbe des Musikdramas, das im Vergleich zur

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Ferdinand Scherber, Lehárs 'Giuditta', a. a. O., S. 67 Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 72 Κ., Die blaue Mazur'. Lehár-Premiere im Metropol-Theater, in: BZ am Mittag, Berlin 29. 3.1921, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 204 Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 72 Dieter Zimmerschied, S. 128

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Salonoperette in der Lyrischen einen breiteren Raum einnimmt "Während das Musikdrama in der großen Kunst verfällt, hält es seinen nachträglichen Einzug in die Operette; der es ja nun wieder gerade angemessen sein mag."64

"O Mädchen" - einem Leitmotiv zu Friederike gefolgt: 1. Akt, Material / 2. Akt, Drama / 3. Akt, Erinnerung Erweist sich das Verfahren durchkomponierter Teile in der Lyrischen Operette als bloße Verfeinerung der in der Salonoperette angewandten Technik, fällt der Beschränkung des thematischen Materials in der Lyrischen Operette eine eigene musikdramaturgische Bedeutung zu. Einige Motive, eigentlich als Erinnerungsmotive gebraucht, gewinnen so leitmotivische Funktion. Deutlichstes Beispiel hierfür ist Friederike. Anhand der Verwendung der ersten Phrase des zentralen Tauberlieds "O Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich Dich", wäre Lehárs musikdramatisches Verfahren zu beschreiben. Das Kopfmotiv des Liedes (FRI 65, T. 4) wird zum Grundmotiv des Werks. Durch die einprägsam rhythmisierten Sekundwechsel eignet es leitmotivischem Gebrauch. Es fügt sich in zahllose harmonische Strukturen (klingt beispielsweise, unverändert, über sämtlichen diatonischen Dreiklängen und Septakkorden)63. Bereits im Vorspiel taucht es auf als Sext-Quintwechsel über der Tonika, bzw. Non-Oktavwechsel über der Dominante (FRI 3) - ehe das vollständige Thema ertönt (FRI 4, T. 5). Im weiteren Verlauf kontrapunktiert es das Liebesmotiv (Flötensolo - FRI 4, T. 15ff.). In Nr. 1 kontrastiert das "Mädchen"Motiv (Oktavparallelen der geteilten Geigen) zum Klang der Orgel. Als rhythmische Figur durchzieht es den ersten Akt. Aber erst in dessen Finale übernimmt es musikdramatische Funktion: zum Liebesgeständnis des abschließenden Duetts Friederike / Goethe erscheint es erstmals erweitert (FRI 44, T. 6ff.): Goethe singt die ersten beiden Phrasen des Hauptthemas. (Man beachte die im Vergleich zu Nr. 13 hinsichtlich der dramatischen Funktion veränderte Tonart: Statt unbeschwertem G-dur bedeutungsvolles As-dur). Vor der in Nr. 13 beschriebenen Subdominante (FRI 65) "schreckt [Goethe] aber zurück: Ό dieser unselige Fluch!'" (Ebd.) 64

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Theodor W. Adorno, Frankfurter Opern- und Konzertkritiken, Nov. 1930, in: Ders., Gesammelte Schriften 19, S. 191 Und hat darüber hinaus frappierende Ähnlichkeit mit dem Walkürenritt, vgl. Richard Wagner, Die Walküre, S. 188ff.

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Nach dem Kuß (FRI 48, T.8) erklingt im Orchester nur noch das Kopfmotiv (in der Oberstimme - FRI 49, T. 6, 7, 8, 9,). Im triumphalen Schluß (Ebd., T. lOff.) wird das Anfangsmotiv aus Nr.5 1/2 (FRI 25) verarbeitet, dessen Sechszehntelfigur (Ebd., T. 11.1 / 13.1 / 15.1) eine Variation des "Mädchen"-Motivs darstellt. Im zweiten Akt ist es weiter präsent: In der Stammbuchszene (Nr. 11) bezeichnenderweise bei den Worten "geküßter Mund" (FRI 58, T. 9) und wenn Goethe Friederike sich zuwendet (FRI 59, T. 9). Im zweiten Finale fallt ihm schließlich echte leitmotivische Bedeutung zu; so in der Begleitfigur der Gavotte (FRI 73, T. 2, 4, 6), als wolle es deren Unbeschwertheit brechen. Desweiteren schildert es Friederike nach ihrem ersten Gespräch mit Goethe, "dem Umsinken nahe" (FRI 75, T. 18). In Goethes anschließendem Arioso "Liebe, seliger Traum", dessen Melodie ein variiertes Zitat des "Wie lieb ich Dich" aus dem Lied Nr. 13 darstellt, untermalt es als Trióle die Attribute dieses Traums: "seliger" (FRI 77, T. 1) und "goldener" (Ebd., T. 5). Goethes "visionärer Verklärtheit" (Ebd.) entsprechend steht sein Arioso im selben As-dur, wie das "Mädchen"-Motiv im ersten Finale (FRI 44). Auch sein "Das kann ja nicht sein" (FRI 78, T. 19) ist dessen Variation. Der durch Friederikes "forciert helles Auflachen" (FRI 79) beim Tanz mit Lenz ausgelöste dramatische Höhepunkt des Finales wird musikalisch ausschließlich mit dem "Mädchen"-Motiv bestritten. In den Takten 1-3 (Ebd.) liegt es drohen d (f-moll) im Baß (Ebd., T. 1-3). Danach (Ebd., T. 4-6) scheint die harmonische Eindeutigkeit gesprengt. Das Motiv leuchtet grell (Instrumentation: Trompeten!) auf. Der hohe Dissonanzgrad dieser Takte zeichnet ein plastisches Bild der inneren Situation Goethes: "Sie tanzt und lacht, während ich mich hier quäle" (Ebd.). Wie auch im Graf von Luxemburg ist auf dem emotionalen Höhepunkt den Figuren Gesang verwehrt. Es bleibt ihnen nur die Sprache des Melodrams. Haben bei Wagner die Dissonanzen den Charakter der selbstherrlichen Subjektivität angenommen: "Sie protestieren wider die regelsetzende gesellschaftliche Instanz"66, kommt ihnen hier der Charakter zerbrochener Subjektivität zu: der Protest zerbricht an der regelsetzenden gesellschaftlichen Instanz - seinem Subjekt verschlägt das Melodram musikalisch die Sprache. Die Dissonanz bleibt ohne Konsequenz - "die entfremdete Äußerlichkeit und die Innerlichkeit [...] lassen sich nicht miteinander versöhnen."67

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Theodor W. Adomo, Versuch über Wagner, S. 60 Ebd., S. 31

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Für Lehárs Behandlung des Orchesters als "mitdenkendes"68 sind die Takte 12-15 (FRI 79) beispielhaft. Sie versinnbildlichen die Trennung der Liebenden als Auseinanderklaffen von Innen und Außen - der Klangkörper wird 'gespalten'. Das auf den Rhythmus reduzierte "Mädchen"-Motiv (Pauke, Kontrabaß - leere Ε-Saite) verschmilzt nicht mit dem reinen Dreiklang der Hörner, der den düster pulsierenden Repetitionen der Bässe statisch gegenübersteht ("Die Bühne bleibt leer" - ebd. - bezeichnenderweise !). Im piano-Ausklang des Finales schließlich erklingt, hinter einem Triolenschleier des "Mädchen"-Motivs, das ganze Motiv noch einmal69 in gestopften Trompeten und Hörnern wie ein Echo seiner selbst (FRI 83, T. 19ff). Das Zwischenspiel Nr. 16 verarbeitet das Motiv ähnlich dem Vorspiel. Auch die Orgeleinleitung des dritten Aktes lehnt sich an die Technik der analogen Stelle im ersten Akt an. Zur Rückkehr Goethes in der Szene Nr. 19 gewinnt das Motiv wieder dramaturgische Funktion: erst in Flöte, Piccolo und Celesta (zu unerreichbarer Höhe entrückt - FRI 98, T. 5ff ), dann im Solocello (mit sentimentaler Gebärde; vor Goethes Einsatz - FRI 99, T. Iff). Die modale Klanglichkeit verleiht dem "Mädchen"-Motiv hier die nostalgische Aura des längst Vergangenen, als setze sie es in den Imperfekt des Märchens. Ebenso wenn Goethe dies ausspricht ("vorbei, vorbei" - FRI 100, T. 1,2). Ein Bild der Erinnerung Goethes entwerfen die Takte 7-9 (FRI 99). Das "Mädchen"-Motiv wird im Lauf der Piccoloflöte (Vogelgezwitscher) zum Naturlaut. Das Finaletto-Melodram (Nr. 19 3/4) greift Naturlaut und Märchenton auf. Die Solovioline zitiert das Liedthema vollständig, als wäre es unbeschädigt geblieben, ehe es sich in den Begleitfiguren der letzten Takte verflüchtigt. Das Motiv, zu Anfang des Vorspiels ebenfalls bloße Begleitfigur, schließt, wie es begonnen hat (vgl. Tonart: C-dur), "den Raum der inneren Handlung [...], einer Handlung, in der eigentlich alles seit jeher feststeht."70

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Ernst Decsey, Franz Lehár, S. 56 Leiser zweiter Aktschluß, vgl. musikalische Parallele z.B. zu: Alban Berg, Georg Büchners Wozzeck, Oper in drei Akten (15 Szenen), von — , Opus 7, Partitur, nach den hinterlassenen endgültigen Korrekturen des Komponisten, revidiert von Hans Erich Apostel, Wien 1955, III/5 T. 389-392, S. 485f. - (Flöten-/Celesta-Triolen). Carl Dahlhaus, Zur musikalischen Dramaturgie der "Lustigen Witwe', a. a. O., S. 662

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2. "Man sieht ja doch das fade Leben Tag für Tag"71 Zur Rezeption der Lyrischen Operette

Negative Ewigkeit Die Bedeutung der Operette in den zwanziger Jahren und wiederum die Rolle Lehárs in der Operettenszene der Zeit ist angesichts des Klischees von den Wilden Zwanzigern' nicht zu unterschätzen. Zwar weiden die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gesetzten Maßstäbe nicht mehr erreicht, doch das damals veränderte Rezeptionsverhalten trägt die Operette noch über Jahrzehnte. Grundsätzlich geändert hat sich vor allem ihr Verhältnis zum Publikum. Der Gegenwartscharakter der Salonoperette hat sich verloren und ist einem nostalgischen gewichen. Statt die Gegenwart zu überhöhen, verklärt die Operette der zwanziger Jahre die Vergangenheit, oft genug ihre eigene. Unterm Personenverzeichnis der meisten Operetten der Zeit findet sich die Zeitangabe: "vor 1914".72 Indem sie so die Vergangenheit gegenwärtig hält, wird sichtbar: die negative Ewigkeit der Operette: das ist allemal die des Gestrigen. Was gestern verging, kommt hier heute als Gespenst zurück und in der Zukunft gibt es sich als Zeichen der Ewigkeit.73

Diese Verschiebung der Schwerpunkte ist Resultat der gesellschaftlichen Unsicherheit seit Ende des Ersten Weltkriegs. Die eindeutige Lebenshaltung des Vorkriegspublikums, die in der Salonoperette sich spiegelte, ist einer Orientierungslosigkeit gewichen, die auf das Rezeptionsveihalten sich niederschlägt. Das Operettenpublikum ist in viel stärkerem Maße diffus als sich 'vor 1914' andeutete - es ist wirkliches Massenpublikum geworden, in dem Sinn, "daß sich eine eindeutige soziale Trägerschaft der Operette nicht mehr be71

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Franz Lehár, Die Gelbe Jacke, Operette in 3 Akten von Victor Léon, Musik von - - , Klavierauszug mit Text, Leipzig/Wien o. J., S. 111 Vgl. z.B. Ralph Benatzky, Im weiBen Rößl, Singspiel in drei Akten, frei nach dem Lustspiel von Blumenthal und Kadelburg von Hans Müller und Erik Charell, Texte der Gesänge von Robert Gilbert, Musik von — , vier musikalische Einlagen von Robert Gilbert, Brano Granichstaedten und Robert Stolz, Klavierauszug mit Text, München o. J., S. 2 - Emmerich Kálmán, Gräfin Manza, S. 2 - Paul Abráhám, Viktoria und ihr Husar, Operette in drei Akten und einem Vorspiel. Aus dem Ungarischen des Emmerich Földes von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda, Musik von — , Klavierauszug mit Text, München (1930), S. 2 Theodor W. Adorno, Arabesken zur Operette, a. a. O., S. 519

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stimmen läßt."74 Geht ihre Theaterbedeutung nach 1918 auch zurück, nimmt ihr Gebrauchswert, vor allem als Schlagerlieferant, dagegen zu. "Der Schlagerverbrauch in Kaffee- und Tanzlokalen und in den Kinos ist derartig groß und gewinnbringend,"75 daß Formen wie die Revueoperette geradezu daraufhin angelegt sind Das Spätwerk Lehárs scheint solchen Tendenzen zuwiderzulaufen. Indem es der Oper sich annähert, schlägt es gerade die Gegenrichtung zur Revueoperette ein, die, wie vormals die Salonoperette, die zeittypische Ausprägung der Gattung darstellt. 'Einem gespenstischen Anachronismus gleich, ragt es weit in die Zwischenkriegszeit hinein."76 Gegen alle Sachlichkeit der Epoche treibt es das Werk der Illusion, die gerade zu dieser Zeit der Film dem Theater streitig macht, wie auch der zeitgenössische Film das "Repertoire an Gestaltungsmitteln weitgehend von der Operette"77 bezog. Die ungeheure Konjunktur des Films wirkt in den Sujets von Lehárs Spätwerk auf die Operette zurück. Gerade ihr Illusionsmoment zieht gegen alle Mode das Publikum an. Es kommt seinen "Zeitfluchttendenzen, dem Eskapismus entgegen."78 Gerade daß Lehár nicht mit der Zeit geht, sichert ihm den großen Erfolg.

Schein des Inwendigen Der fortschreitenden Technisierung der Alltagswelt, der die moderne Ästhetik in der Neuen Sachlichkeit' ein Denkmal errichtet, setzt die Lyrische Operette eine davon unberührte intakte Welt des "Menschlichen"79 entgegen. Statt der banalisierenden Integration des Alltags in der Salonoperette (Eva) bleibt Reales in der Lyrischen Operette ausgespart. Denn "der Mensch von heute, der zum Teil tagsüber sich mit sehr unerfreulichen Dinge befaßt, ist dankbar, wenn er abends den Alltag vergessen darf.'"0 Die Scheinwelt der späten Lehár-Operetten läßt den Alltag nicht mehr durch "Lolo, Dodo, Frou74 75 76

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Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 78 Karl Westermeyer, S. 161 Christoph Winzeler, Kunst im Krebsgang - Lehárs 'Land des Lächelns' und die Gesetze der Operette, in: Programmheft zu Das Land des Lächelns', Stadttheater Bern 1983/84, o. S. Martin Lichtfuss, S. 38f. Arthur Maria Rabenalt, Operette als Aufgabe, S.9 Bernard Grün, Gold und Silber, S. 232 Emst Stern, in: Die Scene, 19. Jhg., Berlin Februar 1929, Hft 2, S. 60

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Frou' vergessen. Das besorgen in den vergnügungssüchtigen zwanziger Jahren Kabarett und Revue. Von der veräußerlichten Lebewelt der Salonoperette wendet sich Lehár verlorenen inneren Werten zu, deren Größe vor allem in der Entsagung des Operettenschlusses erkennbar weiden soll, in einer Zeit, in der an ihnen nicht anders als entsagend festzuhalten ist. Der Verzicht auf ein Happy-End, der zumindest ein Verzicht auf die Realisierung einer Illusion ist, wird zum Gewinn an Innerlichkeit, an Subjektivität umgedeutet. Es sind Werte "einer Zeit, die just eben das Inwendige verlor, aber im Schein doch noch halten möchte."81 Nach den durch Nachkriegswirren und Inflation gekennzeichneten frühen, kommt mit den stabilisierten Verhältnissen der späten zwanziger Jahren dies Bedürfnis nach Inwendigem1 auf. Die Lehár-Renaissance seit der Berliner Paganini-Aufführung (1926) geht auf ihr Konto. Die Verlagerung des Betriebs von Wien nach Berlin, der Metropole der zwanziger Jahre, macht den Rang deutlich, der Lehár noch in dieser Epoche zusteht: Lehár, der glücklichste unter den Operettenkomponisten der Gegenwart, eilt von Erfolg zu Erfolg. Ob heiter oder sentimental, ob dezent oder geschmackslos, stets findet er den Weg zum Herzen seiner Hörer.82

Realitätsverlust Die Berufung auf das Herz des Hörers kennzeichnet die Wirkung des Lehárschen Spätwerks. "Es liegen Tausende von Beweisen vor für [...] [dessen] Wirkung auf Herz und Gemüt."83 Das Herz als Bild des Inwendigen stellt die Übereinkunft zwischen Zuschauer und Darsteller her ("Dein ist mein ganzes Herz").84 Die schon in der Salonoperette angestrebte Vermittlung eines Erlebnisses' ist hier intensiviert. Die Introversion der Musik vermittelt eine emotionale Äquivalenz von Zuschauer und Figur, hergestellt durch Darstellung eines naturhaften Glückszustandes der Protagonisten, "indem sie mit der Triebbefiiedigung, die sie den Menschen gewährt, [...] von der Wirklichkeit 81 82

83 84

Theodor W. Adorno, Schlageranalysen, a. a. O., S. 781 a. Α., in: Das Theater, Berlin November 1929, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 241 Anton von Lehár, Lehár-Geschichten, a. a. O., S. 108 Karl Kraus glossiert: "Lassen's Herz sprechen, gehen's in 'Friederike'.'' (Karl Kraus, Der Offenbach-Biograph schreibt, in: Ders., Die Fackel, Bd. 10, XXX. Jahr, Anfang August 1929, Nr. 811-819, S. 74) Dieser "Nachdruck auf dem goldenen Herzen ist [für Adomo] die Weise, wie Gesellschaft das von ihr geschaffene Leiden eingesteht." (Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 178)

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sie abdrängt."85 Die gemeinte, aufs Private beschränkte Triebbefriedigung verdeckt Adorno zufolge eine dissoziative Realität. Die Psychologie der Lyrischen Operette führt vom Realen ins Unbewußte, von der Außenwelt in eine Innenwelt, deren ungestörte Gehalte die Musik repräsentiert. Weniger die Figuren selbst als ihre von der Musik beleuchtete Befindlichkeit sind die Identifikationspunkte der Lyrischen Operette. Zerbricht schließlich der Glückszustand der Protagonisten am 'Realen', das in die Handlung eindringt, wird dieses Scheitern als Verzicht verklärt. Die Identifikation wird dadurch nicht gestört, da jenes 'Reale' ohne echten Realitätscharakter fur das Publikum ist - "entpolitisiert, vermenschlicht und von aller überflüssigen Historie gereinigt"86 Eine Auflehnung gegen die als schicksalhaft erfahrene Wirklichkeit findet nicht mehr statt. Die Unterwerfung wird umgedeutet zu seelischer Größe. Die 'Katastrophe' der Lyrischen Operette hat die kathartische Wirkung eines Mitleids ohne Schrecken. Die Niederlage ihrer Figuren wird als Resignation überhöht.

Stabilisierung der Gemüter Der Triumph "einer Scheinrealität, die versucht, ihren Illusionscharakter zu verbergen",87 und doch gerade ihm ihren Erfolg verdankt, hat verschiedene Ursachen. Nach den Auflösungstendenzen der frühen haben sich in den späten zwanziger Jahren die Verhältnisse gefestigt. Es gibt "wieder eine Ordnung, frisch genug, daß man in ihr in die Höhe möchte, und schlecht genug, daß einem der Kitsch Chancen dazu gewährt."88 Also eine Zeit für Operetten. Das Muster der Salonoperette aber hat sich selbst überlebt. Lehárs Experimente zwischen Die blaue Mazur (1920) und Cloclo (1924) ist kein Erfolg beschieden. In Konkurrenz zu Jazz und Revue muß die Operette sich annähern oder distanzieren. Oscar Straus und Kálmán, Komponisten der Salonoperette, entscheiden sich für Annäherung an Jazz und Revue. Sie schei-

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Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a. a. O., S. 768 Bernard Grün, Gold und Silber, S. 232 Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 63 Theodor W. Adorno, Schlageranalysen, a. a. O., S. 786

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tern trotz der einen gelungenen Synthese der Gräfin Mariza

weitgehend."

Lehár jedoch erkennt rechtzeitig, daß Mitte der zwanziger Jahren sich ein großer Umschwung in der mitteleuropäischen Seele vollzogen hat. Man könnte von einer Stabilisierung der Gemüter sprechen, [...] wir hatten Zeit, unser Inneres aufzubauen. Das sind wohltätige Epochen für die Musik. [...] Darauf führe ich den [...] Welterfolg meiner Friederike zurück.90

Opernersatz Die Annäherung an die Oper, Lehárs Gegenbewegung zur Annäherung an Jazz und Revue, erwies musikdramaturgisch sich als äußerlich. Dennoch hat sie die Rezeption seines Spätwerks geprägt. Der ästhetische Bruch innerhalb der ernsten Opernproduktion, vor dem Ersten Weltkrieg bloß angedeutet, vollzieht sich in den zwanziger Jahren und führt gegen deren Ende zur allgemeinen Opernkrise. Die Veränderung der Oper hat ihr Publikum verunsichert." "Zwischen der ernsten Produktion und dem bürgerlichen Konsum zeigt sich allerorten offen das Vakuum."®2 Dieses Vakuum auszufüllen, schickt Lehár sich an, denn "die moderne Oper ist auch für den Halbgebildeten zu schwer, die moderne Nummernoper ist ihm zu leicht" 93 Abgesehen von der Frage, was Lehár unter einer modernen Nummernoper versteht, macht er folgerichtig "die Lücke zwischen beiden"*4 zu seinem Aufgabenfeld. 89

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Die weiteren Erfolge regelrechter Operetten der zwanziger Jahre wie Falls Madame Pompadour' und Künnekes Vetter aus Dingsda' stellen Sonderfälle einer geradezu kammermusikalischen Aneignung aktueller Gebiauchsmusik dar. Franz Lehár, Der neue Weg der Operette, in: Neues Wiener Journal, Wien 19.10.1929 zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 236f. "Je mehr nämlich die gesellschaftliche Bedeutung einer Kunst sich vermindert, desto mehr fallen [...] die kritische und die genießerische Haltung im Publikum auseinander. Das Konventionelle wird kritiklos genossen, das wirklich Neue kritisiert man mit Widerwillen." (Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M. 1977, S. 33). Nur so ist der Triumph der Konvention in Lehárs Spätwerk rezeptionssoziologisch zu verstehen; nur so aber auch jener eng mit ihm zusammenhängende Kult der Innerlichkeit, der umso unbedingter zelebriert wird, "je schwächer das Ich gesellschaftlich und damit zugleich als ästhetisches Konstitutionsprinzip ward, je weniger es sich zur Objektivität eines Formzusammenhangs zu entäußern vermag." (Theodor W. Adomo, Versuch über Wagner, S. 40) Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a. a. O., S. 768 Franz Lehár, in: Der Tag, (Wien) 11. März 1924, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 78 Ebd.

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Nicht zufällig gilt ihm dabei 'der Halbgebildete' als Repräsentant seiner diffusen, aus früheren Opernbesuchern und einer neuen Schicht von Aufsteigern bestehenden Zielgruppe, der die Ablehnung ernster moderner Richtungen gemeinsam ist. Die Offenheit, mit der Lehár sich dieser Klientel annimmt, ist verräterisch. Nicht ohne spekulativen Instinkt kommt er den Anforderungen eines verprellten Opernpublikums entgegen, durch verinnerlichten, gesteigerten Orchesterglanz und vor allem 'schöne Stimmen'. "Denn nun muß die Operette Ersatz bieten für alle Emotionen, die die Oper tatsächlich oder eingebildet geboten haben mochte."95 Der Lehár vorgeworfene Anachronismus ist auch der seines Publikums. Die Operette als Opernersatz hat, indem sie epigonal "vergangene Formwesen den Menschen als gegenwärtig aufredet, [...] soziale Funktion: sie über ihre wahre Lage zu täuschen, ihre Existenz zu verklären."96 Lehár wird jetzt, wie u.a. die Rezensionen Adornos97 zeigen, von den Opembühnen nicht nur in der Provinz gespielt. Auch die gegen die finanzielle Krise kämpfenden großen Opernhäuser Europas, ohne die Konkurrenz gleichwertiger Operettenbühnen, setzen zur Sanierung ihres Haushalts Lehár auf ihr Programm. So auch renommierte Häuser wie das Théâtre de la Monnaie' in Brüssel oder die Pariser 'Opéra comique' im Salle Favart, deren Direktor Gheusi 1931 anläßlich der Uraufführung der Opernfassung von Frasquito. verkündet: Unsere Komponisten werden, wenn sie Lehár ohne Servilità! studieren, das Geheimnis finden, auf welche Weise sie die Menge für ihr individuelles Genie interessieren können, eben die Menge, ohne welche ein Theaterkomponist keinen Anspruch erheben kann, zu reüssieren und fortzuleben.98

Derselbe Direktor bringt 1937 eine Postkarte mit Lehárs Bild und folgendem Wortlaut heraus: "En souvenir de la millième representation du Pays de Sourire à Paris."99 Abschluß dieser Entwicklung bildet die Uraufführung von 95 96 97

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Ernst Kïének, Zur Sprache gebracht, S. 52 Theodor W. Adorno, Kitsch (1952), in: Ders., Gesammelte Schriften 18, S. 792 Gerade Adorno setzt sich angesichts der finanziellen Situation der Theater für ein gemischtes Programm mit Operette und Neuer Musik ein: "Ein Verfahren, das mit Lehár und Kálmán die Kassen füllt, um 'Mahagonny' und "Wozzeck' möglich zu machen, ist einem solchen vorzuziehen, das mit 'Mignon' und 'Margarethe' die Hör» im Winterschlaf läßt." (Theodor W. Adorno, Frankfurter Opern- und Konzertkritiken. November 1930, a. a. O., S. 190) Brief P. Gheusis aus dem Jahre 1931 (Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriften J. N. 177864) Postkarte aus Lehárs Besitz vom 17. April 1937 (Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriften o. Nr.) 173

Giuditta 1934 an der Wiener Staatsoper. Gerade die Zeit, zu der Lehár anachronistisch sich stellt, rezipiert ihn. Je mehr Uriverständlichkeitsopem sie gebar, je mehr Atonalität ihrem kreißenden Schoß entstieg, desto sicherer arbeitete sie ihm in die Hände; denn er, Lehár, besitzt die betörende, süßschmeckende, nachsummbare, dreimal nach Wiederholung verlangende, häuserfüllende Lehár-Melodie.100

Angesichts der so durcheinandergeratenen kulturellen Maßstäbe sehnt sich Ernst Bloch in seiner Glosse über die Presse von Friederike, "Lehár - Mozart', nach der Zeit zurück, "als noch die Rubriken zwischen Lehár und Mozart getrennt waren, der Schund beim Fettpuder, die große Kunst bei den Feuilletonisten stand."101 Aber gerade Lehárs Strategie der gehobenen Operette stellt sich Ende der zwanziger Jahre als erfolgreich heraus, zu einer Zeit also, da viele Operettenhäuser schließen mußten oder bereits in Kinos umgewandelt waren. Bei einer Operettenkrise' überschriebenen Umfrage der 'Scene' vom Februar 1929 kann Lehár "beim besten Willen nicht von einer 'Krisis der Operette' sprechen."102 Der Grund hierfür liegt seiner Meinung nach darin, daß "die Operette [...] sich an die gesamte Bevölkerung"103 wendet. Dieser beabsichtigten Breitenwirkung trägt die abwechslungsreiche Musikdramaturgie mit ihrer Stilvielfalt und ihren Einlagen Rechnung. Doch waren dies bereits und in größerem Maße Mittel der Salonoperette, die keineswegs die Lehárschen Erfolge, "die z.B. bei Friederike [...] bisher noch nicht erreichte Rekoidziffern ergaben,"104 erklären. Dies widersprüchliche Bild der Operette der zwanziger Jahre kommt vorzüglich durch Auftreten eines neuen Mediums zustande, das die Schwerpunkte der Rezeption entschieden zu verlagern beginnt: des Radios. 100 101 102 103

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Emst Decsey, Der Esel Aristoteles, a. a. O., S. 274 Ernst Bloch, Lehár - Mozart (1928), a. a. O., S. 192 Franz Lehár, in: Die Scene, 19. Jhg., Berlin Februar 1929, Hft. 2, S. 36 Ders., zit. n. Kurt Tucholsky, Lehár am Klavier, a. a. O., S. 924 - Ein Satz, den Lehár vor dem 1. Weltkrieg so nicht gesagt hätte und der eine gewisse Anpaßung an die Weimarer Republik verrät. Dazu Karl Kraus in 'Lehár und die Sozialdemokratie': "Die Kruppnikisierung der Kulturgenüsse als lethargisches Vorliebnehmen mit dem bürgerlichen Pofel [...] stellt sich als pure Sozialpolitik heraus." (Karl Kraus, Lehár und die Sozialdemokratie, in: Ders., Die Fackel, Bd. 11, XXXII. Jahr, September 1930, Nr. 838-844, S. 53). Worin ihn Freiherr Anton von Lehár nur bestätigen kann, wenn er schreibt, die Musik seines Bruders sei "vor allem volksverbunden. [...] Die schwer arbeitenden Menschen, denen nach des Tages Sorgen und Mühe seine Melodien Entspannung, erhöhte Freude, Trost im Leiden bringen, sind seine eifrigsten Bewunderer." (Anton von Lehár, Lehár-Geschichten, a. a. O., S. 108) Kurt Pinthus, in: Die Scene, 19. Jhg., Berlin Februar 1929, Hft. 2, S. 56

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Rundfunk Die Operettenbühnen verlieren durch den Rundfunk ihr Monopol der Verbreitung von leichter, insbesondere von Operettenmusik. "Im Paganini-Jahi gab es in Deutschland bereits eine Million eingetragener Rundfunkhörer."105 Daß die Operettenmusik darunter nicht leidet, zeigen "die am meisten gehörten Rundfunkprogramme - es sind Operettenübertragungen."106 Gerade Lehár profitiert von der neuen Entwicklung. Schließlich "ist die erste vollständige Operette, die überhaupt im Rundfunk übertragen wird, Lehárs Frasquita",107 In dem Maße, wie die Operette weniger als Bühnen- denn als Rundfunkmusik rezipiert wird, verliert ihre Dramaturgie den Bühnenzusammenhang. Der Widerspruch zwischen traditioneller Form und modemer Technik wird produktiv. Ingrid Grünberg widmet in ihrer Untersuchung 'Operette und Rundfunk' dem Verhältnis beider Medien in den zwanziger Jahren eine eingehende musiksoziologische Analyse. Sie setzt die innere Haltung der Musik und die szenische Armut der Handlung in Verbindung mit der Beschränkung des Rundfunks aufs Akustische. Am Beispiel des Land des Lächelns kann dies Grünberg bis in die musikdramaturgische Struktur und den Gestus der Musik selbst pausibel nachweisen. Ihre Betrachtung beschränkt sich konsequent auf das Werk Lehárs, dessen Lustige Witwe und damit das Modell der Salonoperette sie miteinbezieht Im Wesentlichen geben die vier von ihr formulierten Thesen ihre Ergebnisse wieder: 1. Die Herausbildung einer Dramaturgie, die sich den medienspezifischen Bedingungen des Rundfunks angleicht. 2. Die ideologische Funktion des musikalischen Eklektizismus. 3. Ästhetische und ideologische Abgrenzung zum Gegentyp der Revue. 4. Mechanismen der Identifikation.10*

Auf die erste These war bereits eingegangen worden, die zweite meint die auf Breitenwirkung angelegte Stilvielfalt Dritte und vierte These treffen sich in der Möglichkeit des Rezipienten für "Projektionen eigener Wünsche und

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Otto Schneidereit, Richard Tauber. Ein Leben - eine Stimme, Berlin (Ost) 1976, S. 74 Karl Neisser, in: Die Scene, 19. Jhg., Berlin Februar 1929, Hft. 2, S. 44 Maria von Peteani, S. 156 Ingrid Grimberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 68

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Gefühle, so daß er schließlich den Eindruck hat, das soeben Gehörte träfe individuell auf ihn zu."109 Muster hierfür sind Text und Musik des Tauberliedes.

"O Tauber, mein Tauber": Tauber und Lehár, Tauber und Massary, Tauber und Goethe Das Tauberlied aber ist Hinweis auf das eigentliche rezeptionsgeschichtliche Phänomen der späten Lehár-Operette: Richard Tauber, der Sänger, auf den die Lyrische Operette zugeschnitten ist. Seine Stimme erst verschafft Lehár die massenhafte Verbreitung seiner Musik in Rundfunk und auf Schallplatte. Er erst macht sie wieder zum gesellschaftlichen Ereignis und ist der Grund, daß Lehár-Uraufführungen nicht mehr in Wien, sondern in Berlin stattfinden und somit ins Zentrum der zwanziger Jahre rücken. Tauber war Opernsänger, an renommierten Häusern - Dresden, Berlin und Wien - engagiert. Er gehörte schon damals zu Deutschlands gefeierten Tenören, aber er war noch nicht der internationale Star seiner Epoche. Doch kaum je hatte er hier die enormen Erfolge wie als Sänger in den Spätwerken Lehárs. Wahrhaftig: Lehár hatte Tauber finden müssen - und dieser Lehár; er wäre sonst nicht, das steht außer allem Zweifel, d e r Richard Tauber geworden.110

Mit Paganini begann die Zusammenarbeit. Komponist und Sänger entwerfen ein gemeinsames Konzept. Die Musikdramaturgie der Lyrischen Operette ist deren Resultat. Wie sehr Tauber an der Entstehung dieser Operetten beteiligt war, machen seine eigenen Äußerungen in einem Interview von 1928 deutlich, die folgendermaßen beginnen: "Lehárs Zarewitsch, der noch mehr als Paganini den Stempel meiner künstlerischen Eigenart trägt, da fast jeder Takt meine 'Zensur' passierte, war fast fertig."111 Aber es fehlte das Tauberlied. Lehárs erster Vorschlag ist ihm "zu gekünstelt und harmonisch zu kompliziert, um populär werden zu können."112 Er möchte "wie in Paganini [...] einen Gesang in Rondoform,"113 die von nun an jedes Tauberlied hat. Lehár komponiert, Tauber korrigiert: ein ans 18. Jahrhundert gemahnendes 109 110 111 112 113

Ebd., S. 75 Otto Schneidereit, Richard Tauber, S. 75 Ebd., S. 80 Ebd. Ebd.

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Verfahren. Von den Schlußvarianten des Tauberliedes war bereits die Rede. Gerade sie zeigen seine Funktion. Es wird Anlaß zu tenoralem Stimmzauber, verbindet die gehobenen Mittel der Kunstmusik mit dem einfachen Aufbau des Schlagers. Ein neuer Schlagertypus entsteht. Er wäre als Kunstschlager zu beschreiben. Anders als die gefeierten Operettendarsteller früherer Zeiten verkörpert Tauber nicht mehr den Idealtypus einer Epoche, dessen Aussehen, Haltung und Gebärden repräsentativ waren, sondern wirkt allein durch seine Stimme. Es ist kein Zufall, daß er gerade mit Beginn der Rundfunkära seine großen Erfolge hat. Zudem ist "Taubers Stimme [...] in ihrer Durchbildung, Beherrschtheit und Modulationsfähigkeit geradezu für die technische Fixierung prädestiniert."114 Die visuellen Elemente, in der Salonoperette noch von großer Bedeutung, sind längst von Revue und Film vereinnahmt. Tauber, als Repräsentant eines neuen Operettentypus, muß ihnen nicht mehr entsprechen. Die Bedeutung des Gestischen geht mit ihnen zurück. Als Tauber nach langer schwerer Krankheit als Sou-Chong wieder auf der Bühne steht, sich aber nur linkisch und steif bewegen kann, tut der Mangel an schauspielerischer Darstellungsfähigkeit dem Erfolg keinerlei Abbruch. Schauspielerische Theatralik hat dem nichts mehr hinzuzufügen.115

Das unterscheidet Tauber auch vom anderen großen Operettenstar der zwanziger Jahre: Fritzi Massary, die gerade durch ihr Auftreten, ihr Spiel und ihre Garderobe wirkte. Die Massary-Operette war durch eine choreographische Inszenierung geprägt, "die jeden Schritt, jede Kopf- und Handbewegung aus dem Geist der Musik festlegt und unabänderlich bis zur 500. Aufführung festhält."116 Bezeichnenderweise aber trat "die Massary [...] gerade ab, als Taubers Stern aufging."117 Das Operettenidol, als Verkörperung seiner Zeit, wird vom Filmidol abgelöst. Daher konnte Tauber sich trotz aufwendiger Versuche im Film nicht durchsetzen. Seine Wirkung war eine andere. Seine Rollen in Lehárs Operetten entsprechen nicht mehr den Leitbildern ihrer Zeit. Weiche, verinnerlichte Typen wie Sou-Chong im Land des Lächelns oder Alexej im Zarewitsch haben nichts von den Heldenfiguren des Genres, angefangen beim Lebemann der Salonoperette. Man identifiziert sich nicht mehr mit Figuren, die stets umrißhaft bleiben, sondern mit der Emotionalität und Gefühlswelt, die hinter ihnen steht und über ihren Gesang sich mitteilt. War

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Paul Dessau, zit. n. ebd., S. 146 Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 72 Ernst K&nek, Zum Problem der Oper, in: Programmheft zu 'Der Diktator', 'Märchen', 'Schwergewicht oder die Ehre der Nation', Staatstheater Stuttgart 1990/91, S. 17 Otto Schneidereit, Richard Tauber, S. 75

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in der Salonoperette die Individualität der Figuren bereits ins Allgemeine veräußerlicht, wird sie in der Lyrischen Operette zum bloßen Medium einer Innerlichkeit, die der Außenwelt lyrisch entfremdet' gegenübersteht und gesellschaftliche Relevanz damit verlor. In solcher Zeit wird der Schein des Inwendigen, den diese Figuren hervorrufen, zur Rezeptionsbasis. Dies Innen muß sich nicht mehr veräußerlichen.

Tauberkult Ein plastisches Bild vom Ausmaß des Kultes, der sich um Tauber entspann, gibt vor allem das Umfeld der Frieden^-Aufführung 1928. Zum ersten Mal brachte das einstmals renommierte, durch seine Voikriegsrevuen berühmte Metropol-Theater ein Werk Lehárs heraus. Aus diesem Anlaß unterzogen die Direktoren das Haus einer völligen Renovierung. Diese Direktoren, die Brüder Rotter, waren die damals erfolgreichsten Theaterunternehmer Berlins und betrieben eine an amerikanischen Maßstäben orientierte Geschäftspolitik. Sie kamen als junge Leute von der Literatur, von Brahm, von Strindberg und Kayser und sie witterten ganz genau den Augenblick, wann das wirkliche Berlin, das premierenfeme, operettenfreudig wurde. Sie haben die Nase für das Ewig-Banale.118

Daß sie mit Lehár und Tauber ihre Stellung ausbauen, beweist ihr Kalkül, ebenso die umfangreiche Reklame, durch die sie Friederike in aller Munde zu bringen verstanden. Zur Premiere waren "die großen Namen der Stadt versammelt: der Kronprinz [...], der Geheimrat Hugenberg, Henny Porten, Heinrich Mann [...], Albert Einstein."119 Die Zeitungen berichten: Die Premiere der neuen Lehár-Operette bietet wieder das nun schon gewohnte Bild eines gesellschaftlichen Ereignisses. Es beginnt mit einer fünffachen Autoreihe in der Behrenstraße; und, wie dereinst bei den Metropol-Premieren der Vorkriegszeit, genießt ein Spalier von Schaulustigen die große Modenschau. Höchst elegante Abendtoiletten, die unter kostbaren Pelzen hervorlugen und nichts von schlechten Zeiten erkennen lassen. 120

Im Mittelpunkt dieser Aufführungen steht das Tauberlied, das vier- bis fünfmal zu wiederholen sich eingebürgert hat. An ihm entzündet sich das

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Stefan Großmann, Die Brüder Rotter. Feuilleton, in: Freie Presse. Morgenblatt, Nr. 24561, (Wien) 28. Januar 1933, S. 2 Stan Czech, Schön ist die Welt, S. 244 Dieser Bericht bezieht sich zwar auf 'Schön ist die Welt', trifft aber genauso auf "Friederike' zu. (Moritz Loeb, ziL n. Otto Schneidereit, Richard Tauber, S. lOOf.)

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"Tauberfieberdelirium".121 Karl Kraus bemerkt dazu die Geschichte einer Zuschauerin, die nach der fünften Wiederholung des Tauberliedes im Zarewitsch Blumen vor die Füße des Schmalztenors [wirft], worauf er sich zu ihr wendet, direkt zu ihr empor und für sie ein sechstes Mal "Willst du' macht. [...] Kotzenswürdigeres hat es nie in einem Theaterraum gegeben.122

Taubers Popularität ist um diese Zeit ungeheuer. Für die erste Auffiihrungsserie des Land des Lächelns im Metropoltheater, Berlin, werden bereits ein halbes Jahr vorher 150 Vorstellungen angesetzt und vertraglich ausgehandelt, die dann tatsächlich alle ausverkauft sind Anläßlich Friederikes glossiert wiederum Karl Kraus, "man werde einmal wissen, daß Goethe der war, den Tauber gesungen hat."123 Gerade Tauber als Goethe polarisiert Kritik und Zustimmung. Immerhin wird Friederike in Deutschland zum meistaufgefuhrten Bühnenstück der folgenden Spielzeit124 und das trotz der Dreigroschenoper im selben Jahr.123 Friedrich Holländer zeichnet in einem boshaften Chanson über Tauber und das Tauberlied aus Friederike ("0 Mädchen, mein Mädchen") eindruckvoll die Umrisse der Wirkung Taubers: Wer war schon Goethe? Ein kleiner Poete! Wer hat erweckt ihn? Wer hat entdeckt ihn? Wen hört man aus sämtlichen Lautsprechern schrei'n? Ei, wer kommt denn da? Ei, wer kann denn das sein? - O Tauber, mein Tauber. [...] Wer prangt auf der Zeitung im Titelblatt, Weil man ihn eben geschieden hat? Wen hat Emil Ludwig mit heißem Bemüh'n Gesammelt in tausend Photographien?

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Friedrich Holländer, zit. n. ebd., S. 89 Karl Kraus, Mer lächelt, in: Ders., Die Fackel, Bd. 10, XXX. Jahr, Ende Oktober 1929, Nr. 820-26, S. 52 Ebd. Bernard Grün, Kulturgeschichte der Operette, S. 425 Ernst Bloch registriert diese Gleichzeitigkeit beim Publikum der Dreigroschenoper' als "eigentümlich [...]. Jeden Abend das Haus ausverkauft. Niemand zischt und auch die Friederiken Besucher sind zufrieden." (Ernst Bloch, Brief vom 4.11.1928, in: Ders., Briefe 1903-1975, hrsg. voi Karola Bloch u.a., Gesamtredaktion Uwe Opalka, Frankfurt a. M. 1985, Bd. 2, S. 412)

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Urtauber, Großtauber, Tauber als Kind, Im dumpfen Buche beisammen sind! Fleck auf der Schleife? Nimm Tauber-Seife! Kleine Erfrischung? Trink Tauber-Mischung! Es strahlt wie ein Leuchtturm im Autogewiihl Sein Nam' vom Himmel wie einstmals Persil! O Tauber, mein Tauber.126

3. "Eingelullt in süßen Worten" (LDL 71 ) Zum Sujet der Lyrischen Operette

Geisterfahrt wider die Geschichte Im Sujet der Lyrischen Operette vollziehen sich die Veränderungen, die ihre Musikdramaturgie seit dem Modell der Salonoperette durchlaufen hat, am deutlichsten. Der Introversion des musikalischen Gestus entspricht die geänderte Haltung der Figuren. Den Verlust des Gegenwartscharakters der Gattung, der Haltung des "Heute ist Heute" (ZL 72), wie sie sich in der Salonoperette aussprach, macht die Lyrische Operette in der "Darstellung des vermeintlichen Realgeschichtlichen'"27 wett. Die Autoren greifen, um ein vermittelbares Verhältnis zur Realität zu wahren, auf biographische Stoffe zurück. Die Situation der zwanziger Jahre ist mit den Mitteln der Salonoperette nicht mehr greifbar; "so müssen sie das Konkrete, ohne das sich nicht leben läßt, draußen suchen; im Kitschbilde"128 einer scheinbar konkreten Vergangenheit. Während Kálmán aber nostalgisch seine soeben untergegangene Epoche in Gräfin Manza noch einmal zum Leben erweckt, wird Lehár "eine imaginäre Historie"129 zum Thema. Er nutzt "den öffentlichen Kredit großer und berühmter Stoffe, um sich [endgültig] aus dem Abseits einer un-

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Friedrich Holländer, zit. n. Otto Schneidereit, Richard Tauber, S. 88f. Ingrid Griinberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 69 Theodor W. Adorno, Schlageranalysen, a. a. O., S. 781 Ebd.

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erheblichen Kleinkunst"130 ins Zentrum allgemeingültiger Kunst zu retten. Darüber hinaus soll die Distanz der Sujets die vom modernen Standard entfernten Mittel legitimieren. Sie macht jedoch "Lehárs Geisterfahrt wider die Geschichte"131 als doppelten Anachronismus umso ersichtlicher.

Historische Distanz Die Distanzierung mittels historischer Stoffe rechtfertigt die Realitätsfeme der Lyrischen Operette und den Anachronismus ihrer Mittel. Daß ihre Sujets meist auch folkloristische bzw. exotische Implikationen aufweisen, unterstreicht dies nur. Auf die Lyrische Operette ließe sich also übertragen, was Carl Dahlhaus bei der Oper des 19. Jahrhunderts feststellt: Das Historische bildet [...], kaum anders als der Exotismus oder die Folklore, ein Kolorit: eine Couleur locale. Die geschichtliche Feme erfüllte eine ähnliche Funktion wie die ethnische oder die soziale Distanz,132

nämlich die einer außerhalb des Bereichs der Rezipienten liegenden, gleichsam objektiven Instanz. Die historische Distanz autorisiert den Charakter der Figuren, den Gang der Handlung und endlich die gewählten musikalischen Mittel. Die Dissonanzenhäufung auf dem Höhepunkt des zweiten Finales in Friederike z.B. erhält so ihren höheren Sinn. Der Protest "gegen die Enge eines objektiven Geistes [bleibt ungehört, da] dessen gesellschaftliches und ästhetisches Subjekt zum privaten Individuum schrumpfte"133, als welche die Lyrische Operette ihre Figuren einzig begreift. Sie rechtfertigt das private Scheitern an solcher Enge als objektives Gelingen über unumstößliche Historizität. Im Nachhinein behält die Geschichte immer recht - durch Zahlen, Daten, Fakten. Beschränkten die Zeitangaben der Salonoperette sich auf die 'Gegenwart', weil diese ihre Rezeptionsbasis war, ist die Handlung der Lyrischen Operette daher genau datierbar: Paganini und Zarewitsch spielen "zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts" (PAG 2), bzw. "Ende des neunzehnten Jahrhunderts" (ZAR 3). Näher bestimmt ist die Zeit dann beim Land des Lächelns - "1912" (LDL 2), auf den Tag genau bei Friederike, dessen Sujet solche scheinbare Genauigkeit nahe legt: "1. Akt: [...] am Pfingstsonntage 130 131 132

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Volker Klotz, Operette, S. 150 Christoph Winzeier, Kunst im Krebsgang, a. a. O., o. S. Carl Dahlhaus, Die Historie als Oper, in: Ders., Vom Musikdrama zur Literaturoper, S. 52 Theodor W. Adomo, Versuch über Wagner, S. 95 181

1771, 2. Akt: [...] am 6. August 1771, 3. Akt: [...] am 25. September 1779" (FRI 2). Das Bemühen um Authentizität, das hinter solcher Bestimmtheit sichtbar wird, macht sich in den Exotismen bzw. Folklorismen der Musik ebenso bemerkbar wie in der Faktur des Textes, etwa von Friederike. Zwar kannte auch die Salonoperette schon folkloristische Bezüge, doch hatten sie vor allem assoziativen Charakter eines Stilzitats, waren nicht konstitutiv für das Milieu der Operette. Rußland, Italien oder China aber werden der Lyrischen Operette zum geschichtlichen Rahmen.

Zusammenhang mit dem Menschlichen Das Bild einer "Weltgeschichte, die es sich zur vornehmsten Aufgabe gemacht zu haben scheint, die Operette mit Stoff zu versorgen,"1®4 verliert jedoch aus der auf einen "Zusammenhang mit dem Menschlichen"133 zielenden Perspektive der Lyrischen Operette, was ihre Figuren betrifft, seine objektive Distanz und damit seinen Realitätsgehalt. Die historischen Figuren werden nicht historisch begriffen, sondern anekdotisch als Menschen. Aus objektiver Distanz, die gewahrt bleibt, schrumpfen sie zu Privatpersonen heran. Ihre biographisch motivierte Menschlichkeit verweist auf psychologische Konstanten, nicht auf gesellschaftliche Bedingungen oder gar politische Zusammenhänge. Übrigens waren bereits bei Meyerbeer die politischen Sujets zu bloßen Schaustücken neutralisiert, etwa wie in den Farbfilmen oder den Biographien berühmter Leute, welche [...] die Kulturindustrie auf den Markt bringt.136

Die Distanz des Sujets wird durch die Nähe der Figuren überbrückt, die Geschichte mit dem Einzelnen versöhnt. Friederike spricht dies aus, wenn sie von Goethe, dem Privatmann, den sie als historische Figur begreifen gelernt hat, sagt: "Goethe gehört der ganzen Welt, also auch mir."137 Diese Welt ist im Publikum der Lyrischen Operette angesprochen. Die affektiv beteiligten Zuschauer werden zur objektiven Instanz über die Geschichte selbst erhoben. Als Nachwelt müssen sie Friederikes Einsicht verifizieren, so viel Mitleid sie 134

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Arthur Kahane, Die moderne Operette. Eine geisteswissenschaftliche Untersuchung, a. a. O., S. 73 Franz Lehár, zit. n. Ingrid Grünberg, Operette und Rundfunk, a. a. O., S. 68 Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, S. 107 Franz Lehár, Friederike, Singspiel in drei Akten von Ludwig Herzer und Fritz Löhner, Musik von - - , Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, Wien o. J., S. 79

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auch mit ihr empfinden mögen. Ihr Urteil über die Geschichte muß affirmativ ausfallen, auch wenn es im Widerspruch zur eigenen Realität steht, da die Operette ihre Rezipienten affektiv "von der Wirklichkeit [...] abdrängt, sie aus der Geschichte, der musikalischen wie der gesellschaftlichen herauslöst."13* Die Rührung aus Mideid als kathartisches Erlebnis eines Entsagungsschlusses steht dafür ein. Leistet in der Salonoperette noch "Amüsement die Reinigung des Affekts, die Aristoteles"139 so nicht meinte, begreift sich hier die Lyrische Operette als durch Rührung besser legitimierter Nachfolger. Als Wirkung von Mideid und Genuß spürt Adorno noch in Rührung und Amüsement ein Gemeinsames auf, das Salon- und Lyrische Operette zugleich als zwei Seiten derselben Sache entlarvt: "In der Hingabe an Natur entsagt der Genuß dem, was möglich wäre, wie das Mitleid der Veränderung des Ganzen. Beide enthalten ein Moment der Resignation."140

Entsagung In keinem Werk aber wird Resignation so sehr zum durchgängigen Thema, Entsagung so sehr zur verinnerlichten Haltung der Figuren wie im Land des Lächelns, dem - nach Zimmerschied - "eigentlichen Höhepunkt der Operettengeschichte."141 Hier unterliegt ihr nicht nur das erste, sondern auch das zweite Paar. Bereits das versöhnende Glück des ersten Aktes scheint getrübt: durch gegenseitige Fremd- und Andersartigkeit, die, schon hier real nicht mehr vermittelbar, durch falsche Identität bloß affektiv verdeckt wird, wenn die Wienerin Lisa nach des Chinesen Sou-Chong Frage: "Was meinen Sie damit, daß wir ganz anders sind?" (LDL 26) ins Unverbindliche ausweicht: Sie sind aus einer anderen Welt! Sou-Chong: In meinem Wesen, in meiner Art? Lisa: Sie sind mit einem Wort apart. Sou-Chong: Ich passe nicht in Ihre Welt hinein. (LDL 26)

Der Ausgang der Operette bestätigt dies, auch wenn Lehár selbst versichert, er "habe schon mehrere Chinesen kennen gelernt, die überaus wertvolle Men-

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Theodor W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a. a. O., S. 768f. Ders. / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 170 Ebd., S. 129 - Daß dies ein entschiedener Zug der Operette ist, wird kaum bestreiten, "wer je in tiefster Ergriffenheit der Resignation im 'Fürstenkind' gelauscht hat" (Anton von Lehár, Lehár-Geschichten, a. a. O., S. 119) Dieter Zimmerschied, S. 125 183

sehen sind."142 Trotzdem können Lisa und Sou-Chong, dessen "Wert' sich gegen ihn selbst kehrt, kein Paar sein, wie es von Goethe und Friederike immerhin denkbar wäre, obwohl sie es in der Gelben Jacke einmal waren. Die Lyrische Operette hat in der Entsagung solcher Veränderung ihre Realität gefunden. Hinter der kulturellen Differenz zwischen West und Ost sieht Burkhard Koebner eine innenpolitische Konstellation: der schüchtern-trotzige Bürger auf Freiersfüßen, der um die Braut aus der Oberschicht wirbt, [...] [gewohnt,] Triebe und Wünsche zu verstecken, wie es der disziplinierte Bürger gelernt hat. [...] [So befällt ihn, als er scheitert,] die stumme Verzweiflung nach zerplatzten Aufstiegsillusionen. [...] Die Erfahrungen des Verlusts und des Verzichtenmüssens, die in diesem Werk vorherrschen, lassen erkennen, welcher Mentalität und welcher Epoche Kind es ist.143

Die Exotik, welche die gesellschaftliche Situation umhüllt, hat distanzierende und verklärende Funktion. Sie rückt das Geschehen in weite Ferne, liefert dem 'ruinierten' Bürger das gehobene Spiegelbild seines Schicksals: "Der Illusion wohnt ihre Desillusionierung inne."144 Diese Erfahrung bleibt den Figuren der Lyrischen Operette ebensowenig erspart wie ihren Zuschauem und lehrt sie, "immer nur lächeln, [...] wie immer sich's fügt" (LDL 21). Doch dies "Pathos der Gefaßtheit rechtfertigt die Welt, die jene notwendig macht,'"43 anstatt sich über sie zu erheben, wie sie es im Schein der damals tatsächlich so genannten 'tragischen Operette' vermeint In Wahrheit ist solche Tragik längst "in das Nichts jener falschen Identität von Gesellschaft und Subjekt vergangen,"144 der alle Helden der Lyrischen Operetten unterliegen. Mit dem Verzichtsschluß verschwinden die subjektiven Regungen SouChongs oder des Zarewitsch hinter ihrer gesellschaftlichen Funktion. Beide nehmen ihr politisches Amt wahr, steigen entgegen Koebners These auf, indem sie mit ihrer Liebe ihre Persönlichkeit opfern. "Die Liquidation der Tragik bestätigt die Abschaffung des Individuums"147 nicht nur als musikalisches Subjekt, sondern bereits im Sujet selbst. War für Wagner noch die "Entsagung die höchste heroische Kraft"14* innerhalb eines tragischen Zu-

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Franz Lehár, in: Neue Freie Presse, 21. September 1930, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 212 Burkhard Koebner, Das Land des Lächelns. Kommentar, a. a. O., S. 451f. Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, S. 87 Ders. / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 178 Ebd., S. 181 Ebd. Cosima Wagner, Die Tagebücher, Ed. und kom. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, München 1976, Bd. IV / 1881-83, S. 1004

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sammenhangs, ist sie im Land des Lächelns auf "das auswendige Schema für die Verinnerlichung des Opfers"149 reduziert. Solche Verinnerlichung aber ist der Preis einer nicht realisierbaren Liebe, einer Messalliance, die umso leuchtender als Gegenstand der Operette hervortritt, je dunkler ihr Ende Schatten wirft. Während das Opfer, das er bringt, glorifiziert wird, wacht man eifersüchtig darüber, daß dem Liebenden das Opfer nicht erspart bleibe. Gerade in der Liebe selber wird der Liebende ins Unrecht gesetzt und bestraft Die Unfähigkeit, zur Herrschaft über sich und andere, die seine Liebe bezeugt, ist Grund genug, ihm die Erfüllung zu verweigern. Mit der Gesellschaft reproduziert sich erweitert die Einsamkeit.190

Innen- und Außenwelt Der Doppelcharakter von Nähe und Distanz, den die Lyrische Operette ihren Sujets durch historische bzw. geographische Ferne und affektive Identifikation in der Musik verleiht, ist Resultat einer genealogischen Verlagerung ihres Themas vom Schwank zum Rührstück. Sind bei der Salonoperette, wie ausgeführt, Gegenwärtigkeit des Sujets und Schwankthematik eins, so bei der Lyrischen Operette historisches Sujet und Thema des Rührstücks. Zwar scheint Α. M. Rabenalt generell "das einzige Thema der Operette [...] die Messalliance"151 zu sein, doch zeigen deren unterschiedliche Behandlung in Lyrischer und Salonoperette veränderte Wertigkeiten. So kann in der Lustigen Witwe und im Graf von Luxemburg von Messalliance eigentlich die Rede nicht sein. Auch in Eva sind es weniger soziale Schranken als die Opposition von Märchenmotiv und frivoler Haltung, die eine Verbindung der Protagonisten gefährdet. Erst die Lyrische Operette macht die Messalliance zum eigentlich thematischen Schwerpunkt. Zentrum der Handlung aber bleibt das Märchenmotiv, das, ungebrochen von konträren Haltungen, die Figuren leitet. Der erste Akt fuhrt solche Ungebrochenheit in der Vereinigung des Heldenpaares vor. Daß dieses Märchen, das, ungebrochen, seinen expliziten Märchencharakter verlor, kein Happy-End mehr findet wie in der Salonoperette, hat seine Ursache in der Verlagerung des Konflikts nach außen. Der Konflikt ist nicht mehr in den Figuren, sondern in der Außenwelt begründet.

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Theodor W. Adomo / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 81 Ebd., S. 96f. Arthur Maria Rabenalt, Operette als Aufgabe, S. 13 185

Das im "bloßen Innen"152 verschlossene Märehen kann sich nicht mehr veräußerlichen. Innen und Außen sind getrennte Sphären, getrennt vor allem in den Figuren. Die Lyrische Operette verleiht der Außenwelt, die sie nicht mehr beschreiben kann, schicksalhafte Züge mit entweder politischer oder ästhetischer Implikation, die ihr Autoritätscharakter zuspricht. Die Staatsräson, der sich die Helden des Land des Lächelns und des Zarewitsch fügen, entspricht der Berufung zum hehren Künstlerleben in Paganini und Friederike. Die historische Distanz bestätigt beide als Schicksalsmächte. Die Geschichte wird in der Lyrischen Operette zum Schicksal selbst verklärt. Die Leiden an solchem Schicksal werden ausführlich geschildert, doch sie enden wirkungslos in der Entsagung. Das Pathos der echten Tragödie ist unter ihnen verschüttet. Eine Haltung, die von der Wirklichkeit nichts mehr erwartet, "nur im Traum [...] selig sein" (LDL 21) kann, erhält im Land des Lächelns ihren gültigen Abgesang: Immer nur Lächeln und immer vergnügt, Immer zufrieden, Wie's immer sich fügt, Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen. Doch wie's da drin aussieht, Geht niemand was an. (LDL 21)

Und doch ist, 'wie's da drin aussieht', der Musik einziges Thema. Die Aussenwelt ist, ihr nicht mehr darstellbar, in die gesprochene Prosa verbannt. "Jeder Bezug, selbst auf die scheinhaft vorgespiegelte Realität, ist da getilgt; übrig sind nur Bruchstücke von Bildungsgut, erotischen Vokabeln, Kolportage."155

Rührstück Adornos Wort von den 'Bruchstücken des Bildungsguts' verweist noch einmal auf die Rührstückthematik der Lyrischen Operette. Er spricht weiter vom "Fetischcharakter der leichten Musik"154 und setzt ihn in Verbindung zu ihrer Faktur.

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Theodor W. Adomo, Einleitung in die Musiksoziologie, S. 61 Ders., Schlageranalysen, a. a. O., S. 784 Ders., Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, a. a. O., S. 773

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Die Industrialisierung der leichten Musik und der Verschleiß von bürgerlichem Bildungsgut, den sie vollzieht, sind äquivalent. [...] Friederike und Das Land des Lächelns mit seiner Exotik sind Schwestemwerke.155

Doch nicht nur Milieu und Sujet der Lyrischen Operette nehmen eklektizistisch Bildungsgut in sich auf, sondern auch Thema und Handlungsgang. Ubernahm die Salonoperette Handlungsmuster des Schwanks, integriert die Lyrische Operette Lehárs "Bruchstücke von versprengten, diskreditierten Gattungen (darunter vom bürgerlichen Schauspiel)."156 Die großmütige Entsagung eines der Protagonisten im Verzichtsschluß der Lyrischen Operette ist fernes Echo der Vergebungsszenen im bürgerlichen Trauerspiel seit Miss Sara Sampson™. Auch die moralische Implikation solcher Entsagung als edle Einfalt, stille Größe ist ähnlich. Die bürgerlichen Werte, im 18. Jahrhundert relevant, sind in der Operette des 20. Jahrhunderts zu nostalgischen verkommen. Wie die musikalischen Muster verraten die literarischen ihr epigonales Verhältnis zu vergangenen Formen. Als Vorbild für die sentimentalen Sujets mit Verzichtsschluß der Lyrischen Operette darf denn auch d a s deutsche Rührstück des zwanzigsten Jahrhunderts schlechthin, Altheidelberg von Wilhelm Mayer-Förster, gelten, 1901 uraufgeführt und "in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das meist aufgeführte deutsche Drama."158 Reinhard Stenzel führt in einem beim Lehár-Symposium gehaltenen Vortrag die Bezüge von Friederike zu dieser Geschichte der Messalliance eines unverstandenen Fürsten namens Karl-Heinz und der Kellnerin Käthie aus, die selbst schon Operettenstoff genug ist, wie Siegfried Romberg mit seiner in Amerika sehr erfolgreichen 'musical romance' nach diesem Stück, The Student Prince, unter Beweis stellt. Bereits in Altheidelberg führt die Einsicht in

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Ebd. Ebd. Nicht mehr bereits begangene Grenzüberschreitungen sind, wie im bürgerlichen Trauerspiel, zu verzeihen. Sie werden vielmehr gerade noch rechtzeitig verhindert. Geblieben ist das "Ritual der Selbstlosigkeit" (Dieter Borchmeyer, Die Weimarer Klassik. Eine Einführung, Königstein/Ts. 1980, Bd. 2, S. 256), dessen Kern nicht Selbstüberwindung, sondern Resignation ist. Reinhard Stenzel, Erwartungshorizont und Klischee: Lehárs Operetten und ihr Publikum, unveröffentlichtes Typoskript eines 1978 beim Lehár-Symposium in Bad Ischl gehaltenen Vortrags, S. 3. - Dazu Brecht; "Das Personal [des Augsburger Theaters] stellt fest, daß 'Altheidelberg' das Lieblingsstück des deutschen Volkes ist. Gleichzeitig stellt es fest, daß die Stimme des Volkes Gottes Stimme sei, und also ist 'Altheidelberg' das Lieblingsstück Gottes." (Bertolt Brecht, Erwiderung auf den offenen Brief des Personals des Stadttheaters, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. IS [Schriften zum Theater I], Frankfurt a. M. 1967, S. 30) 187

die Unveränderbarkeit der Verhältnisse zu besagter, allerdings im Gegensatz zur Lyrischen Operette beiderseitigen, Entsagung. In der Handlung der Lyrischen Operette wird das edel auf sein Glück verzichtende Personal des Rührstücks aus "Kotzebues und Ifflands Hand nach Alt-Heidelberg [sie!] und in die Gegenwart geführt."159

Der Mann mit dem Einglas oder Alltag und Kult Die Annäherung der Figuren, welche die Lyrische Operette ihrer distanzierenden, historischen Größe entgegensetzt, wird nicht nur mit den Mitteln des Rührstücks erreicht, sondern ist ein Phänomen der Zeit, das vor allem auch an den großen historischen Filmen festzustellen ist Die Dinge sich räumlich und menschlich 'näherzubringen' ist ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie ihre Tendenz einer Uberwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist.160

Und wirklich formuliert Lehár in einer von Tucholsky überlieferten Wochenschau dies Anliegen selbst: "Die Personen des Stückes [...] müssen dem Verständnis des Publikums nahe gebracht werden."161 Dieses Näherbringen der Figuren bedeutet aber immer ihre 'Vermenschlichung', eine Verkleinerung zum Zweck der Identifikation. Am deutlichsten wird das am Fall Goethes, dessen präsente literarische Wirkung ihn dem Publikum nach wie vor entrückt, in Friederike: "Jeder Mann wird Goethe, jede Frau Friederike. Es gibt keine Literatur, keine Schranken mehr."162 Die Beseitigung der Schranken soll den Menschen, hier Goethe, hinter der Literatur sichtbar machen. Das erreicht die Lehársche Operette durch ihren Text (s.u.) und ihr vertrautes musikalisches Idiom. Diesem Zauber von Nähe und Distanz gibt sich die

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Reinhard Stenzel, S. 5 - Da die Lyrische Operette jedoch dies Personal aus der privaten Sphäre des Rührstücks durch ihre geschichtliche Größe verkörpernden Helden in eine historische versetzt, möchte Adorno gar "von Supra-Historismus reden, womit freilich das Schicksal der Operette besiegelt wäre. Die Operetten haben das Erbe der Jamben-Dramen angetreten, und in ihnen erst ist das Pathos einer Weltgeschichte erloschen, die so hartnäckig sich fürs Weltgericht ausgab, bis es über sie erging." (Theodor W. Adorno, Arabesken zur Operette, a. a. O., S. 518) Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 15 Franz Lehár, zit. n. Kurt Tucholsky, Lehár am Klavier, a. a. O., S. 923 Emst Decsey, Franz Lehár, S. 75

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Wiener Feuilletonistin Mizzi Neumann hin, wenn sie 1929 'aus der Zeit der Romantik' berichtet. Für sie wandelt Meister Lehár [...] im Schatten des Titanen [ - zurecht, denn] [...] manch ehrlich gemeintes Tränlein sah [...] [man] hold erglänzen. [...] [Auch] Rieckchen führt ein intensives Innenleben. [...] Sie ist das Weibchen. [...] [Goethe entzückt mehr durch sein 'Äußeres1] - wie prunkvoll und ritterlich sich die Herzallerliebsten damals präsentierten. [...] Damals gab es eben noch Unterschiede. [...] [Doch:] Welch unnützes Träumen! [...] Das hat mit seinen Melodien Meister Lehár getan.163

Die historisierende Verwendung der 'couleur locale' soll die Gegenwartsnähe dieser Melodien nur kontrastieren. Dennoch wird dank Menuett, Gavotte und Ländler aus Friederike Lehár z.B. von der Presse zu einem "neuen Mozart"164 stilisiert Die Annäherung spiegelt sich im Rezeptionsverhalten - "aus Mozart Lehár, aus Goethe Karlheinz."163 Ernst Bloch glossiert diese anachronistische Mischung der Epochen und Ebenen, wenn er bemerkt: "Lehár, der ewige Jüngling, wie ihn Hegel nannte, als er aus Weimar kam."166 Wenn eine Berliner Rezension von Friederike feststellt, Tauber sei "im 1. Akt etwas geniert, als wolle er sagen: 'Pardon, mein Name ist Goethe"'167 - illustriert das ebenso deutlich den Zwiespalt solcher Annäherung einer im Publikum noch lebendigen historischen Figur, wie eine von Karl Kraus zitierte Äußerung des Wiener Darstellers, er scheue sich "keineswegs, im 1. Akt als Goethe sogar das Tanzbein zu schwingen."16" Da Sou-Chong aus dem Land des Lächelns und selbst der Zarewitsch trotz eines historischen Vorbilds mehr oder minder fiktive Gestalten sind, stellt sich dies Problem nur noch bei Paganini, der aber im Vergleich zu Goethe gerade nicht auf Authentizität hin angelegt ist, sondern als "irgendein liebenswürdiger junger Mann, der ausgezeichnet Geige spielt, die Frauen bezaubert und zufällig Paganini heißt. Er könnte auch Vása Pfihoda sein."169 Die Verkörperung historischer Figuren bedarf dennoch gerade eines Darstellers, dessen persönliche Aura der histo-

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Mizzi Neumann, Aus der Zeit der Romantik. Zu Lehárs Singspiel 'Friederike' (Johann Strauß Theater), in: Neues Wiener Journal, (Wien) 17. Februar 1929, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 50 Emst Bloch, Lehár - Mozart, a. a. O., S. 194 Ebd. (Also jener 'unverstandene Fürst' aus 'Altheidelberg'.) Ebd., S.193 Erich Urban, zit. n. ebd., S. 192 Hans Bollmann, zit. n. Karl Kraus, Was es jetzt gibt, in: Ders., Die Fackel, Bd. 10, XXXI. Jahr, Anfang Mai 1929, Nr. 806-809, S. 24 Erich Urban, Paganini' in Berlin, in: BZ am Mittag, Berlin, 31.1.1926, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 221

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lisch geglaubten seiner Rolle entspricht. Der Kultus des historischen Helden findet im Starkult sein Äquivalent Mit dem impotenten Versagen der naturalistischen Dramenhelden gehen alle Heidenver ehrungstriebe des unerlösten Publikums auf jene zum Mythos gewordenen Figur 'des Mannes mit dem Einglas' über. [Dieser Mann ist Richard Tauber.] Wenn er als verzuckerter Paganini die Frauen geme küßt, [...] oder das Publikum seines hinlänglich blauen Himmelbetts versichert, wenn er als Goethe, Chopin, Schubert oder Bruckner sein Herz in Sesenheim verliert oder dasselbe in Rinden einschneidet - dann geht es bei dieser Aktion wie ein religiöser Schauer durch die entgötterte Theatergemeinde, die feierliche Handlung wird zum häuslich imitierbaren Kult, Radio und Grammophon erleichtem den feierlichen Dienst, der mit hypnotischer Magie Traum und Wachen, Kaffee und Nachtmahl, Liebesspiel und Hochzeit, Rausch und Selbstmord erfüllt 170

Der Kult des Helden begleitet den Alltag, die Geschichte selbst aber wird zum Alltag reduziert. Ihre Formen sind leere Hüllen geworden, ausgefüllt von musikalischen und theatralischen Funktionen der Gegenwart, die ihrer bedürfen als Surrogat eines zusammenhängenden Sinns [...], den Kulturindustrie ihren Produkten beizugeben sich versteift und zugleich augenzwinkernd als bloßen Vorwand zum Erscheinen des Stars mißhandelt.171

Die Historie als Surrogat sinnstiftenden Zusammenhangs, welcher Lehárs Dramaturgie notwendig ist, dient Tauber, der Operette überhaupt, als Folie jeweils eigener Darstellung, die schließlich von jener nicht mehr zu unterscheiden ist. - "Die Operette leistet den Ausverkauf der Geschichte. Die Dämonen der Vorzeit präsentiert sie handlich als Stoffpuppen."172

Textfaktur Handlich macht die Lyrische Operette ihr historisches bzw. exotisches Personal auch im Text. Dieser Text unterteilt die musikdramaturgische Einheitlichkeit der vier behandelten Spätwerke Lehárs in zwei Hälften. Deutlich noch stammt seine Faktur von der Salonoperette in Paganini und Zarewitsch der Librettisten Paul Knepler und Heinz Reichert (unter jeweiliger Mitarbeit von Béla Jenbach). Einen adäquaten Text ertiält die Lyrische Operette erst 170 171

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Hans F. Redlich, a. a. O., S. 98 Theodor W. Adomo / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 168 - Nach Adorno flicken "biographische und andere Fabeln [...] die Fetzen des Unsinns zur schwachsinnigen Handlung zusammen." (Ebd.) Theodor W. Adorno, Arabesken zur Operette, a. a. O., S. 519

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mit Friederike und Das Land des Lächelns des promovierten Autorengespanns Ludwig Herzer und Fritz Löhner. Sie gleichen die oft gewaltige Inkongruenz von Wort und Musik in den früheren Werken aus, glätten sie dezent und verleihen vor allem dem Tauberlied seine textliche Prägung. Besonders wird dies beim Land des Lächelns sichtbar, wenn aus den chinesischen "Kosenamen [...] Kröte, Otter, Drache"173 der Léonschen Vorlage "das höchste Kompliment [...], / du bist der Traum einer Frühlingsnacht" (LDL 35) wird. Löhner und Herzer heben ihre Texte ins Allgemeine. Am deutlichsten legt Friederike davon Zeugnis ab. Dieser Text und Kneplers und Jenbachs Paganini wären gegenüberzustellen als Beispiel zweier Stilrichtungen auf der gemeinsamen thematischen Grundlage einer Künstlerbiographie.

"Den Frau'n will ich die Geige weih'n", z. B. Paganini Die Annäherung der Figur des Paganini verläuft noch ganz nach dem Muster der Salonoperette. Schon die erste Regieanweisung macht das deutlich: "auf Portraitähnlichkeit [...] ist unter allen Umständen zu verzichten [...]. [Paganini] hat als interessanter, sympathischer Liebhaber zu wirken."174 Als solcher stellt er sich dann in seinem Entrée (Nr. 3) auch vor, wenn er als echter Lebemann der Salonoperette bemerkt: "Wie's auf der Welt schon geht, / alles um's Weib sich dreht" (PAG 11). Die Künstlerproblematik, die zwischen Liebe und Kunst den tragischen Konflikt der Operette beschreibt, bleibt noch ausgespart. Vielmehr versöhnt Paganini Kunst und Liebe, wenn er kundgibt: "Den Frau'n will ich die Geige weih'n" (PAG 15) - und ihm Anna Elisa, Fürstin von Lucca, bestätigt: "Du bist ein Virtuos, / nicht auf deiner Geige bloß" (PAG 18). Schließlich weiß Paganini um den Vorteil solcher Versöhnung: "Zu der Liebe und zum Glück / führt am schnellsten die Musik" (PAG 28). Wenn im ersten Finale (Nr. 7) der Konflikt, den die sich anbahnende Messalliance von Fürstin und Künstler heraufbeschwört, seine ersten Schatten wirft, kehrt sich das Verhältnis von Kunst und Liebe um - denn, ganz Torquato Tasso, erkennt Niccolo Paganini: Will Mißgunst rauh den Künstler kränken, Wird's nie so tief zu Herzen gehn, Wenn edle Frauen sein gedenken... (PAG 27)

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Franz Lehár, Die Gelbe Jacke, S. 40 Ders., Paganini, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 4

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Ganz frei von solchem, sich aus dem Künstlertum ergebenden Konflikte stellt das Buffopaar sich dar. Pimpinelli, der zweite Tenor, bekennt treffend für das ganze Genre: Niemals habe ich mich interessiert, Für Kunst und Literatur. Nur für Weiber bin ich inflammiert....etc. (PAG 19)

Dennoch treffen im zweiten Akt sich beide Paare in ihrer Haltung gegenüber der sogenannnten Außenwelt. Während das zweite Paar zum One-Step (Nr. 11) singt: "Was kümmern uns die Leut', uns die Leut', / wir denken nur an's Heut, / nur an's Heut" (PAG 60) - möchte das erste "vergessen, daß es eine Welt noch gibt" (PAG 54). Doch diese Weitabgewandtheit ist hier noch nicht verinnerlicht, noch nicht zur moralischen Haltung geworden, wie dann in den reifen Werken seit Zarewitsch. Paganini durchbricht sogar die schematische Trennung der Figurenebenen und umwirbt die Soubrette.175 Dies und nicht seine Künstlerexistenz bringt ihn zu Fall, obwohl gerade sein Geigenspiel im zweiten Finale ihn noch einmal vor Verhaftung bewahren kann. Anna Elisa, die ihn verhaften wollte, ist "tief bewegt [...]: In seinen Augen, welch ein Glanz. / Mir war's, als war's ein Hexentanz" (PAG 89).176 Der vorgegebene Konflikt von Liebe und Kunst wird in Paganini nicht genutzt. Die Figur Paganinis gerät vielmehr nur als "Liebhaber' in Kollision. Die Faktur der zitierten Textfloskeln verrät die Diskrepanz von neuem Thema und alter Durchführung des Librettos, das deutlich noch von den Klischees der Salonoperette geprägt ist. So bleibt auch die Entsagung des dritten Finaletto (Nr. 20) unmotiviert, wenngleich das Thema der Friederike bereits anklingt: "Nur die Kunst soll Dich betören. / Du gehörst der ganzen Welt" (PAG 110f.).

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Daß dies noch der moralischen Haltung der Salonoperette entspricht, macht der an Paganini gerichtete Kommentar seines Impresarios deuüich: "Daß Sie dem Fürsten die Frau wegschnappen, ist in Ordnung - [...] Daß sie ihm jetzt aber noch seine Geliebte eskamotieren wollen, das läßt sich kein Ehemann gefallen. [...] Eine Skandalaffaire. [...] Das macht Reklame! Das ist gut fürs Geschäft." (Ebd., S. 69) Wie die Operette solch dämonische Wirkung hervorbringt, verrät die betreffende Regieanweisung: "Unter dem Griffbrett von Paganinis Geige ist ein elektrisches Lämpchen geschickt angebracht, wodurch sein Gesicht geisterhaft beleuchtet wird" (PAG 86) - während ihn mit Schleier bekleidete weibliche Wesen umflattern, deren Darstellung jedoch "höchster künstlerischer Takt anzuraten [ist], denn jede Erinnerung an ein Nacktballett gefährdet die Situation." (Franz Lehár, Paganini, Vollständiges Regieund Soufflierbuch, S. 90)

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"Weggeküßt", ζ. Β. Goethe Ernst genommen wird die Künstieiproblematik dann in Friederike, ist doch hier immerhin Goethe ihr Gegenstand. Im Gegensatz zu Paganini beansprucht das Libretto Authentizität. Die Autoren waren sich der "Verantwortung [...] dem geheiligten Namen Goethes gegenüber"177 wohl bewußt. Die meisten Motive der Handlung sind daher Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit entnommen. Allein die um vier Jahre vorverlegte Berufung Goethes nach Weimar, die für den Konflikt von Liebe und Kunst im zweiten Finale zu sorgen hat, ist Konzession an das Schema der Operette. Oder um es, mit den Librettisten selbst ganz handwerksmäßig auszudrücken: [...] [der] Konflikt am Schluß des zweiten Aktes [...] [ist] eine licentia poetica, für die [...] Goethe selbst in manchem seiner Stücke Vorbild und mithin Entschuldigung bot.178

Ausspruch eines Germanisten, den Tasso im Hinterkopf. Hingegen hat ihm und seinem Partner "den dritten Akt [...] Goethe selbst [....] in die Feder diktiert."179 Auch die Bezeichnung Singspiel trägt solcher Verantwortung Rechnung. So wird das einzige wirkliche Handlungsmotiv des ersten Aktes, der über Goethes Kuß verhängte Fluch aus Dichtung und Wahrheit, in der gesprochenen Prosa von Friederike exponiert,180 und im ersten Finale "weggeküßt" (FRI 48) - allerdings in einer Szene von wahrhaft Wagnerschen Fluchdimensionen, die deutlich zur entsprechenden Pfänderspielsituation aus Dichtung und Wahrheit in Kontrast steht.181 Und tatsächlich wird ja dieser schicksalschwere Fluch Friederike schließlich treffen. Im zweiten Akt wild sie dann von Weyland zum Verzicht gestimmt durch das zu diesem Zwecke vereinfachte Märchen von der Neuen Melusine, das Goethe nach eigenem Bekunden in Sesenheim zuerst erzählt hat.182 Auch das Ambiente des zweiten Aktes, ein französischer Salon in Straßburg, greift auf eine Episode aus 177

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181 182

Ludwig Heizer und Fritz Löhner, in: Die Bühne, 6. Jhg., Heft Nr. 224, (Wien) 21. Februar 1929, S. 16-17, zit. n. Martin Lichtfuss, S. 293 Ebd., S. 294 Ebd. Franz Lehár, Friederike, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 13 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, [Werke] - Goethes Werke, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimarer Ausgabe, Fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Weimar/ Böhlau 1887-1919, München 1987,1. 27, S. 292 Vgl. Goethes Werke, 1.28, S. 21 Franz Lehár, Friederike, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 52 Vgl. Goethes Werke, I. 27, S. 372 193

Dichtung und Wahrheit zurück,183 ebenso der am Rande behandelte Gegensatz von Stadt und Land, französischer und deutscher Mentalität. Die Gesangstexte des ersten Paares haben denn auch Goethesche Verse zur Grundlage: so Friederikes zweites Lied (Nr. 3) die ersten drei Strophen aus "Mit einem gemalten Band"184; ihre Erwiderung im ersten Duett mit Goethe (Nr. 5Vi) eine sehr freie Variante von "Nähe des Geliebten"185; Goethes Lied vor dem ersten Finale (Nr. 7), das den Dichter beim Dichten zeigt: "der Einfall quillt"186 - die ersten zwei Strophen der zweiten Fassung des "Heidenröslein"187, denen mit deutlichem Bezug auf Friederikes Schicksal im zweiten Finale der erste, zweite und fünfte Vers der dritten Strophe folgen (FRI 83). Die Stammbuchszene bietet dann Lehárs Goethe Gelegenheit zu gleich drei kurzen Gedichten: "Liebe schwärmt auf allen Wegen" (FRI 56 - aus Claudine von Villabellä)™, "Wenn dir's in Kopf und Herzen schwirrt" (FRI 57)189 und "Neumond und geküßter Mund" (FRI 58)190. Das Tauberlied gibt zur sechsten Strophe des Goetheschen Mailieds "O Mädchen, mein Mädchen" (FRI 65)191 - allerdings ist "blinkt" durch "leuchtet" ersetzt - Coupletfortsetzungen: "die Stillage läßt [scheinbar] nicht alle Formulierungen Goethes zu".192 In sein letztes Lied "Ein Herz wie Gold so rein" (Nr. 19V4) schließlich ist die fünfte Strophe von "An den Mond" integriert (FRI 101).193 Zudem verweist Friederikes "Warum hast du mich wachgeküßt" (Nr. 14Vi) thematisch auf "Erwache, Friederike" von Goethe (FRI 70).194 Ein weiteres Gedicht (ebenfalls aus Claudine von Villabella) wird im Chor der Studenten ("Mit Mädchen sich vertragen" - Nr. 4) verwendet (FRI 13).195 Das in solch germanistisch gesicherter Fülle sich bekundende Streben nach Authentizität spekuliert auf den Wiedererkennungseffekt beim Publikum und erreicht so die erstrebte Annäherung der Figuren. Das dem Zuschauer geläufige Gedicht 183

184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195

Franz Lehár, Friederike, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 39f. - Vgl. Goethes Werke, 1.1, S. 74 Vgl. Goethes Werke, 1.1, S. 74 Vgl. Ebd., S. 58 Franz Lehár, Friederike, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 20 Vgl. Goethes Werke, 1.1, S. 16 Vgl. Goethes Werke, 1.11, S. 216 Vgl. Goethes Werke, I. 2, S. 282 Vgl. Ebd., S. 226 Vgl. Goethes Werke, 1.1, S.73 Martin Lichtfuss, S. 291 Vgl. Goethes Werke, 1.1, S. 100 Vgl. Goethes Werke, 1.4, S. 355 Vgl. Goethes Werke, 1.11, S .216

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wird durch sein Zitat auf der Bühne noch einmal gegenwärtig, der Anspruch, den die Einbeziehung "einer ganz großen Persönlichkeit historischen Formats"196 wie Goethe stellt, gerechtfertigt. Der "Klassiker, den man zur Aussteuer schenkte"197, wird der Bürgerwelt vorgeführt, wie sie es erwartet und damit nähergebracht Karl Kraus kommentiert: Sie zahlt für die Beschmutzung und Verhunzung von Goetheversen mehr als sie für das Original bezahlt hat. [...] Die Absurdität dieser Dinge geht über alles, was sonst zur bürgerlichen Entartung gehört.198

Martin Lichtfuss ist dieser 'Verhunzung' textkritisch nachgegangen. Er stellt ihr die jeweilige Vorlage gegenüber und kommt zu dem Befund: "Goethes originaler Wortlaut wurde offenbar den Erfordernissen eines professionellen Operettentextes nicht immer gerecht."199 Auch die Handlung selbst nähert sich Goethe auf diese Weise an. Pfarrer Brion bringt gleich zu Beginn die bürgerliche Haltung zum Menschen Goethe auf den Nenner: "Goethe ist ungemein sympathisch und nicht unbegabt, nur etwas... leicht., und...."200 (Ein Letztes muß eben doch unausgesprochen bleiben). Aber er entspricht keineswegs dem herkömmlichen Typus des Liebhabers' wie noch Paganini. Allein schon die zitierten Gedichte bürgen dafür. Noch mehr sein Verhalten zum Angebot Knebels, nach Weimar zu gehen - mit der Einschränkung allerdings, sich nicht zu verheiraten.201 Der Konflikt von Kunst und Liebe wird auch ihm kein innerer. Eindeutig gibt er der Liebe den Vorzug. Erst Friederikes von Weyland herbeigeführte Einsicht in sein Künstlerschicksal, läßt es ihn über unverhältnismäßige Vermittlung der Eifersucht (Friederikes Tanz mit Lenz) ergreifen. Friederike, die Titelfigur, ist denn auch die wahre Heldin der Operette. In ihrer Entsagung fuhrt sie vor, wie der Konflikt von Liebe und Kunst zu lösen ist - als Opfer der Liebe für die Kunst202 Die Operette steht damit auf dem Kopf. Sie hat ihre 196

197 198

199 200 201

202

Franz Lehár, Der neue Weg der Operette, in: Neues Wiener Journal, Wien 19.10.1929, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 237 Emst Bloch, Lehár - Mozart, a. a. O., S. 193 Karl Kraus, Was tut sich in Ischl ?, in: Ders., Die Fackel, Bd. 10, XXXXI. Jahr, Ende Oktober 1929, Nr. 820-26, S. 50 Martin Lichtfuss, S. 287 Franz Lehár, Friederike, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 7 Knebel begründet dies so: "Seitdem er [Wieland] verheiratet ist, [...] ist er ein Erzphilister geworden [...]. Glauben Sie, wir wollen einen Philister, der zufällig Goethe heißt? ... Nein! Wir wollen den Dichter Goethe." (Ebd., S. 50) Ihr Zimmer ist Abbild und Lohn dieser Haltung: "Einen Altar hat sie sich da errichtet! An der Wand Goethes Bild und darunter... Werthers Leiden... Clavigo... und was weiß ich, was noch alles! [...] Ja, ja... Das sitzt zu tief in der Seele. Und er? Er ist

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Werte verraten, ihre Haltung verloren. Lenz scheint dies anzudeuten, wenn er auf Friederikes "Wer Goethe geliebt hat, kann keinen anderen mehr lieben"203 - antwortet: "Goethe, Goethe und kein Ende!"204 Auffällig ist letztlich vor allem die Zurückhaltung des Textes vor üblichen Operettenfloskeln. Statt der stilistischen Entgleisungen des Paganini herrscht Allgemeingültigkeit. "Die Passionen bleiben von der Konvention umfangen."205 Auch "das zweite Paar [...] macht nicht die herkömmliche Scherze, sondern dient dem ersten als Gegensatz, Parallele."206 (Dies träfe wohl zu, wenn es nicht gerade Lenz wäre, der den Operettenbuffo zu spielen hätte - "ein Clown, so wie sich dieses Parkett einen Dichter vorstellt."207 )

Danilo "brauchte nicht dezent zu sein" Aber die Dezenz, mit der Musik und Text versehen sind, nimmt der Operette ihr Eigenstes, dessen "Wirkung ohnehin keine Logik kennt, sondern einzig im unbewußten Assoziationsspiel liegt."208 Solche Seriosität ist der eigentümliche Zielpunkt einer Entwicklung, die Lehárs Werk von Anfang an innewohnt. Schon in der Lustigen Witwe ist sie musikalisch angedeutet. Daß ihr Schöpfer darum noch nicht weiß, macht ihre Unmittelbarkeit aus. Aus der lebendigen Form einer zeittypischen Gattung wird Lehárs Operette zum anachronistischen Produkt einer dezenten Künstlichkeit. "Der junge Attaché Danilo in der Lustigen Witwe brauchte nicht dezent zu sein."209

203 204 205 206 207 208 209

heute Geheimrat und ein großer Mann. [...] - Unerforschlich sind die Wege des Heim." (Ebd., S. 63) Ebd., S. 67 Ebd. Theodor W. Adomo, Schlageranaìysen, a. a. O., S. 785 Emst Decsey, Franz Lehár, S. 80 Emst Bloch, Lehár - Mozart, a. a. 0., S. 193 Theodor W. Adomo, Arabesken zur Operette, a. a. O., S. 518 Emst Bloch, Lehár - Mozart, a. a. 0., S. 193

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VII. Dramatische Musik der dritten Art Lehárs Giuditta. Epilog

"Es gibt drei Arten dramatischer Musik: Opa, Operette, Lehár."1

"Müßige Frage..." "Er hat drei Opern geschrieben, die der Welt viel zu sagen haben"2 - befand nach Lehárs Tod sein Bruder. Die Frage, ob Giuditta, sein letztes Werk, eine davon ist, hält der Meister selbst für "müßig".3 Er läßt die Frage offen, und beantwortet sie wie folgt: Die Giuditta [ist] mein liebstes Kind; in sie habe ich etwas hineinlegen können, was aus meinem tiefsten Innern geschöpft worden ist...[...]. Mit Giuditta habe ich mein Bestes gegeben.4 Das Werk, als Endpunkt einer Reihe von Experimenten, bürgt also für die Kontinuität im Oeuvre des Komponisten, das mit einer Oper beginnt und über dreißig Operetten umfaßt. Daß Ende und Anfang sich berühren, kennzeichnet nicht nur Lehárs Entwicklung, sondern die der ganzen Gattung, deren Schwanengesang er in Giuditta

anstimmt.5 War einst Operette - als

Travestie der Oper bei Offenbach - entstanden aus dem schlechten Gewissen

1 2

3

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5

Paul Knepler, Erinnerungen an Franz Lehár, o. S. Anton von Lehár, Lehár-Geschichten, a. a. O., S. 108 - Der General zieht auBer TCukuäka' und 'Giuditta' wohl noch 'Garabonciás Diák' in Betracht. Franz Lehár, Über seine Giuditta, in: Neues Wiener Tagblau, Wien 17. Januar 1934, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 228 - Und so lautet die Gattungsbezeichnung 'musikalische Komödie' im Klavierauszug, im Textbuch 'Spieloper'. (Franz Lehár, Giuditta, Spieloper in S Bildern von Paul Knepler und Fritz Löhner, Musik von — , Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, Wien/Leipzig o. J.) Franz Lehár, entnommen aus: Erich Müller, Da geh ich ins Maxim, in: GroBe österreichische Illustrierte, Wien 9. Januar 1955, zit. n. Otto Schneidereit, Franz Lehár, S. 274 "Jede wahrhafte, originelle Musik ist Schwanengesang." (Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, in: Ders., Richard Wagner in Bayreuth - Der Fall Wagner - Nietzsche contra Wagner, StuUgart 1973, S. 135) 197

ernster Musik; travestiert in Giuditta Operette schließlich zur Oper: das schlechte Gewissen der leichten Musik ereilt sich selbst. Das Telos der Operette scheint ihr Verschwinden.

Weihe des Hauses Unterm extremen Blickwinkel solcher Gattungsgeschichte wären bei näherer Betrachtung die Unterschiede , besonders zur Lyrischen Operette, zu verfolgen und anhand der als 'summum opus' konzipierten Giuditta ein Resümee des Lehárschen Schaffens zu ziehen. Schon die Umstände seiner Entstehung stellen das Werk außerhalb des Operettenbetriebs. Die Uraufführung erhielt, wie erwähnt, ihre Weihe in der Wiener Staatsoper von den Wiener Philharmonikern. Erstmals in der Operettengeschichte erscheint zu diesem Anlaß eine gedruckte Orchesterpartitur. Nicht nur aus diesem Grund bekennt Lehár - als spräche aus ihm das schlechte Gewissen der leichten Musik - er habe sich bei der Giuditta eine besonders sorgfältige Instrumentierung, wie sie das reiche und so wundervolle Orchester der Staatsoper auch verlangt, ebenso angelegen sein lassen wie wirkungsvolle Behandlung der Singstimmen und Gewähltheit der Thematik.6

Angesichts der "Weihe des Hauses' sind es diese drei Kriterien, die Lehárs Opemanspruch legitimieren sollen. Allein sie bedeuten keine neue Qualität im Schaffen des Komponisten. Weder betreffen sie die musikalische noch die dramaturgische Gestalt des Werkes, beschreiben viel mehr unverblümt dessen wirkungsästhetische Intentionen.7

"Gewähltheit der Thematik" Was die 'Gewähltheit der Thematik' betrifft, legen die fiinf Bilder der 'musikalischen Komödie' reiches Zeugnis eines im Lehárschen Sinne 'gewagten Stoffes' ab. Paul Knepler und Dr. Fritz Löhner, alias Beda, verstanden es, 'Milieu und Handlung' in einer Weise zu gestalten, daß der Komponist nach 6 7

Franz Lehár, Über seine Giuditta, a. a. O., S. 268 Immerhin rangiert 'Giuditta' für Faßbinder bei einer Umfrage nach seinen 'favourite operas' an siebenter Stelle. (Vgl. Rainer Werner FaBbinder, Faßbinder's Favourites. Beste Opern, in: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur, Herausgeber Heinz Ludwig Arnold, Heft 103. Rainer Werner Faßbinder, München Juli 1989, S.87 )

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der Lektüre "gleich so gepackt [war und] in der Nacht darauf so ziemlich die wichtigsten Hauptmotive [...], wenn auch in flüchtigster Skizzenform, festgehalten"8 hat. Neben den Einblicken in den Schaffensprozeß, die der Meister hier gewährt, und die ein wenig kalkuliertes Vorgehen verraten, fällt auf, daß das "Milieu' noch vor der Handlung1 Quell Lehárscher Inspiration zu sein scheint. Eindringlicher Beleg dafür, wie für den Zauber der Regiebemerkungen bei Lehár allgemein, ist bereits die ausführliche Szenenanweisung zum 1. Bild: Marktplatz in einer südlichen Hafenstadt [...]. Hinter den Häusern sieht man Hügellandschaft mit Pinien, darüber azurblauer Himmel. Im Hintergrunde das Meer [...].[Ein] Barbier, der einen Bauern einseift [...]. Frauen waschen Wäsche [...]. Der Wirt und einige Gäste lümmeln an den Tischen, Wein trinkend. (GIU 5)

Entsprechend zum Postkartencharakter entfaltet die Musik (Nr. 1) präzise Genreszenen eines südlichen Milieus: "fahrende Straßenmusikanten (ein Leierkastenmann, zwei Mandolinenspieler, zwei Sänger, eine Tänzerin)" (Ebd.) preisen, mitten auf Sizilien, in einer Tarantella die "schwarze Etonna Antonia [...], die Schönste von Aragonia" (GIU 7). Inbrünstig stimmen die lümmelnden Gäste in den Gesang ein. Vom anschließenden Obstverkauf (Nr. 1), der choralhaft anhebt, als handele es sich dabei um eine Staatsaktion (GIU 12 [10]), bis zu Octavios Auftrittslied (Nr. 4), dessen Valse moderato-Teil touristisch neapolitanert (GIU 26 [2]), verfügt Lehár über folkloristische Floskeln, wie sie der Operette seit der Lustigen Witwe zu Gebote stehen. Die Aufteilung in fünf Bilder bietet die Möglichkeit reicher Abwechslung. Zeigt das erste Bild ein sizilianisches Fischerdorf, entfuhren zweites und drittes Bild ins ferne Afrika als "Land der Träume" (GIU 50). Dort lagern der zwischen Naturalismus und Theateipraktikabilität schwankenden Szenenanweisung zufolge Soldaten (Eingeborene) in ihrer bunten Tracht, teils am Boden, teils auf Sätteln, [um] ein offenes Feuer, an dem Kaffee gewännt wird. [...] Im Hintergründe (Prospekt) die Silhouette einer kleinen afrikanischen Stadt [...], links um das Zelt herum Palmen, [...] Mondschein. (GIU 84)

Wird hier exotische Natur der 'musikalischen Komödie' zur Kulisse, sind es im vierten und fünften Bild die mondänen Seiten des schwarzen Kontinents: das Zimmer eines offenkundig europäischen Hotels und ein "Nachtlokal nach Pariser Muster, jedoch mit orientalischem Einschlag" (GIU 116). Lehár und seine Librettisten schöpfen noch einmal aus dem vollen Fundus der Operette,

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Franz Lehár, Über seine Giuditta, a. a. O., S. 267

199

der in Paul Abráháms etwa zur gleichen Zeit entstandenen Erfolgsoperetten eine wahre Inflation erlebt9 In jenem Etablissement 'Alcazar' [...] von gewollter, aufdringlicher Eleganz [gibt es] [...] kitschige Bilder mit erotischen Sujets [...], Séparées [...], Matrosen, Zuhälter, neugierige Welt [...], Pariser Halbweltdamen neben braunen halbnackten Tanzerinnen. Das Lokal ist rauchgeschwängert, Wein fließt in Strömen. Sinnlich schwüle Stimmung. (Ebd.)

Solch üppige Szenerie gibt, wie der Meister selbst anläßlich der Uraufführung ausführt, "eine reiche Palette [vor], mit deren Farben die Ausstattungskünstler und das Operntheater nicht gekargt haben."10 Wo sich in früherer Zeit die Salonoperette heimisch fühlte, bequemt sich auch die 'musikalische Komödie'. Ihr bleibt nichts Sündiges fremd.

Opernheldin im Lichte Nietzsches Äußert sich die 'Gewähltheit der Thematik' im Überangebot exotischen Milieus noch genretypisch, findet die Handlung in einer Paraphrase von Bizets Carmen ihre Opernrealität. Einem ähnlichen Versuch des Meisters, Frasquito, waren 1922 noch die Grenzen der Salonoperette gesetzt. In Giuditta gewährleistet bereits der unverhohlen epigonale Zugriff der Librettisten die gesuchte Nähe zum Vorbild. So ist die Titelheldin, mit dem Namen "so schön wie sie selbst" (GIU 34), zwar keine Zigeunerin, profitiert aber von Nietzsches Ca/TO£rt-Inteipretation: "Ihre Heiterkeit ist afrikanisch; sie hat das Verhängnis über sich, ihr Glück ist kurz, ohne Pardon."11 Der Gang der Handlung bestätigt es, schließlich fließt "afrikanisches Blut [...] in ihren Adern, südliches, heißes Blut [...], die ganze wilde, sinnliche Glut des Südens" (GIU 86f.). Davon ist zu Beginn noch nichts zu ahnen. Giuditta wird als Gefangene ihrer Ehe mit Manuele eingeführt. Er repräsentiert jenes kleine Glück, das dem Buffopaar der Salonoperette heilig war, das es sein Weib aber zu fliehen drängt. Als Vogelfänger und später Nachfahre Papagenos steht er einerseits in der viel älteren Tradition der Selbstgenügsamkeit komischer Figuren, andererseits in der Symbolik des Librettos für deren Enge. Das Idyll als einstiges Operettenziel ist zum Käfig geworden. Der Ausbruch Giudittas führt sie zu ihren Wurzeln zurück, nach Afrika, zu sich selbst. Hier erfüllt sich ihre Bestimmung. Hier erst wächst sie zu jener Größe, die Lehár 9 10 11

Auch an diesen war Lehárs Leiblibrettist Löhner beteiligt. Franz Lehár, Über seine Giuditta, a. a. O., S. 267 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, a. a O., S. 91

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mit Carmen beschwört: eine Frau, deren "Liebe als Fatum, als Fatalität"12 die erstrebte dramatische Höhe des Werkes markiert. Auch dies bestätigt die Handlung: "Verflucht ist [...] jeder, der [...][sie] liebt" (GIU 109).

Operettenheld im Schatten des Faschismus Der da verflucht ist, Octavio, ein " etwa dreißigjähriger Offizier" (GIU 25), ist ebenfalls Nietzscheaner. "Molto espressivo" (Ebd.) verkündet er sein Motto, von 'Zarathustra'-Pauken tatkräftig unterstützt: "Freunde, das Leben ist lebenswert" (Ebd.). Ihm beschert " jeder Tag ein neues Erleben" (Ebd.), er kennt die ewige Wiederkehr: Sinkt die Sonne Abends nieder, Strahlend steht sie morgen wieder Auf dem blauen Himmelszelt (Ebd.).

Auffällig am auftrumpfenden dreitaktigen musikalischen Motto ist seine zitathaft isolierte Stellung am Anfang, in der Mitte, und am Ende der simplen Coupletform dieses Entrées. Es hat keine musikalische Konsequenz, sein Pathos wird nicht eingelöst. Beißt sich sein Text tautologisch in den Schwanz, straft er die weitere Handlung Lügen. Bezeichnenderweise steht ihm auch keine dramaturgische Bedeutung zu. Es wird in der gesamten Partitur nicht einmal mehr zitiert. Gesteht Giuditta der Titelheldin immerhin Grösse zu, wird ihr Partner demontiert. Für ihn ergibt "der szenische Gesamtablauf [...] eine Antiklimax."13 Im dritten Bild, von Giuditta vor die Entscheidung gestellt schwankt er zwischen ihr und seinem Diensteid, ehe er diesem folgt. Dies Schwanken hält an, wenn er im vierten Bild als Deserteur zu ihr zurückkehren will, sie aber in Gesellschaft eines andern antrifft. Nicht einmal einzugreifen will ihm mehr gelingen. Unfähig zum dramatischen Konflikt zwischen Neigung und Pflicht, wie er dem schwankenden Opernhelden des späteren 19. Jahrhunderts, Don José in Bizets Carmen, noch zukam, bleibt seinem Nachfahren Octavio jede Tragik verwehrt. Mit der Resignation des Schlußbilds hat er seine Individualität ebenso verloren wie den kollektiven Rückhalt zuvor durch seine Fahnenflucht.14 Die für die Operette konstitutive 12 13

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Ebd. Elisabeth Rockenbauer, Giuditta. Kommentar, in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters (PEM), Bd. 3, S. 461 Das Motiv des Deserteurs taucht bei Lehár schon in seinem Ersüing KukuSka', in der Gestalt des Wolgasoldaten Alexis auf. Ihm steht dafür noch ein Liebestod mit dem

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Opposition von Individuum und Kollektiv zugunsten des Kollektivs, in der Lyrischen bereits gebrochen, ist in Giuditta hinfällig geworden, das Motto ihres Helden, " Freunde, das Leben ist lebenswert" (GIU 25), zum Hohn. Durch die Handlung ad absurdum gefuhrt, lohnt die erneute Hinterfragung dieses Mottos. Schon die musikalische Faktur ist verräterisch. Hat es ursprünglich einfachen rezitativischen Charakter, wird es durch künstlich gedehnte Rhythmisierung und großen Orchesteraufwand zur fetten Schlagzeile. Sein aufbrausender Gestus wirkt bedrohend, die Lebensfreude verordnet. Aus dem individuellen Bekenntnis eines Rezitativs wird Propaganda, deren erstes Opfer das sie verkündende Individuum ist. Der Doppelleitton in Takt 3.1 (GIU 25), auf der rhythmisch überbetonten ersten Silbe von 'lebenswert' verrät die harmonische Gefährdung der A-dur-Phrase, indem er zum unheimlichen d-moll des Α-Teils (GIU 25 - Allegretto) überleitet. In dessen von einer Skala übermäßiger Sekundschritten geprägten Zigeunermoll, für das jener Doppelleitton typisch ist, sowie im 6/8 Siziliano-Rhythmus kündigt sich als Verhängnis die Giuditta zugeordnete musikalische Sphäre an. Daß sich Octavio ihr rückhaltlos hingibt, wie er dann auch Giuditta selbst völlig verfallt, macht sie zur Formel längst unterdrückter eigener Schwäche. Das aufgemachte Rezitativ aber kennzeichnet im Helden ein Individuum, daß seine Individualität nur noch mit Mitteln behaupten kann, die keine solche mehr zulassen; das seine Gefährdung in sich trägt, weil es die Schwäche gegen die es scheinbar energisch angeht, zielstrebig aufsucht; ebenso wie die Rhythmisierung des Textes sich verzweifelt gegen das bessere Wissen wert, daß solches Leben längst nicht mehr lebenswert ist. Dies ist weder für die Geschichte der Gattung noch die der Zeit zufällig. Zeit der Handlung ist schließlich "die Gegenwart" (GIU 2). Bedenkt man deren Ort, das Italien des Jahres 1934, gewinnt das Schicksal Octavios als eines faschistischen Offiziers tiefere Bedeutung.15

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Grund seiner Fahnenflucht zu. Der thematische Bogen belegt die Schwere des Vergehens für den ehemaligen Militärkapellmeister, der seinen Abschied ehrenvoll nahm - für eben jene 'KukuSca'. Die bisher, außer von Mussolini, übersehen wurde. In der Identifikation mit seinem Helden war Lehár der Annahme, die Sympathiefigur finde auch Mussolinis Gefallen. So trug er sich mit der Absicht, ihm sein liebstes Kind' zu widmen. 'Giuditta' wurde "mit dem Ausdruck tiefster Ergebenheit nach Rom expediert" (Bernard Grun, Gold und Silber, S. 260). Doch schon bald kehrte dies Kind aus Italien zurück - mit dem rüden Vermerk, "daß seine Exzellenz das Ansinnen einer Widmung mit Empörung ablehne. Die Hauptfigur des Stückes - ein Offizier, der eines Weibes wegen fahnenflüchtig wird - sei im faschistischen Italien völlig undenkbar." (Ebd.)

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Sein Scheitern am eigenen vitalistischen Anspruch seines Mottos, durchaus als Ergebnis trivialer Nietzsche-Rezeption im Faschismus zu sehen, seine Unfähigkeit, den Widerspruch verinnerlichter Pflicht und der Veräußerung seiner selbst in der Liebe zu erkennen, sein daraus folgendes Schwanken zwischen noch behaupteter Individualität und deren Abhängigkeit vom kollektiven Rückhalt, schließlich die gewaltsame Hypertrophie des ihm zugeordneten musikalischen Gestus', der über sich hinaus will und doch in seinen Grenzen verbleibt, stempeln ihn zum Repräsentanten einer Zeit verlorener Identität. Das "Land der Träume" (GIU 50), in das er mit Giuditta aus Bürger-, bzw. Soldatenwelt flieht, ist nicht mehr zu realisieren wie in der Salonoperette. War dies bereits in der Lyrischen Operette der Fall, hatte sein Verlust im verklärten Licht der Entsagung einen höheren Sinn. In Giuditta bleibt der Resignation selbst dieser verwehrt. Übrig bleibt die Entfremdung vereinzelter ihrer Individualität beraubter Individuen, ausgestoßen von einem Kollektiv, das jenen höheren Sinn nicht mehr hergibt Damit sind endgültig der Operette die gesellschaftlichen Gehalte entschwunden. Die Gattung hat sich nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch erschöpft. Lehár beschreibt 1933, dem Jahr der Machtergreifung Hitlers, im Ende Octavios sein eigenes Verstummen vor der Geschichte: er bleibt klavierspielend zurück; ohne - ebensowenig wie seine jüdischen Librettisten - zu ahnen, daß damit sein Schicksal besiegelt ist. Ein Lebenstraum im "Zeichen des Verschwindens.'"6

Disparate Musikdramaturgie Stößt die Zeichnung der Protagonisten im Sujet an die Grenzen der Gattung, bleibt dessen musikdramaturgische Zurichtung ihr verpflichtet Hinter den fünf Bildern der 'musikalischen Komödie' scheint deutlich sichtbar das dreiaktige Schema der Salonoperette, bzw. dessen Metamorphose in der Lyrischen durch. Das erste Bild weist mit Abweichungen, die zu untersuchen wären, alle Bestandteile eines ersten Operettenakts auf: milieuschildernde Chorintroduktion, Buffoduett, Entrée des Protagonisten... etc.. Zweites und drittes Bild ergeben ohne weiteres einen zweiten Operettenakt, samt 'tragischem' Finale, das fünfte Bild entspricht geradezu mustergültig dem dürftigen 3. Akt der Lyrischen Operette. Einzig das vierte Bild bringt nach klassischer 16

Franz Lehár, Giuditta, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 42 - Schließlich waren es die Nazis, die das Werk nach 42 ruhmvollen Vorstellungen 1938 vom Spielplan der Wiener Staatsoper absetzten.

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Dramaturgie ein retardierendes Moment ins Spiel, daß dem üblichen Operettenaufbau abgeht. Der Konflikt Octavios aus dem Finale des dritten Bilds wird in dem des vierten variiert - dasselbe Thema in veränderter Beleuchtung unterschiedlichen Milieus. Die Möglichkeiten einer Carmen-Paraphrase werden dramaturgisch nicht genutzt, ebensowenig wie dem veristischen Stoff sein tragisches Ende zugestanden wird.17 Diesen Mangel versucht der Komponist durch verstärkt leitmotivischen Gebrauch des musikalischen Materials wettzumachen, hier durchaus bemüht auf den Spuren Bizets. Ist es in der Lyrischen Operette, wie in Friederike exemplifiziert, vor allem ein Motiv, daß dramaturgisch den roten Faden spinnt, ist in Giuditta die musikalische Verflechtung dichter. So öffnet sich der Vorhang zu Beginn schon vom Schicksals-Motiv düster umschattet, ehe es im dritten Bild explizit auftaucht. Im großen Duett Nr. 5, zugleich Auftrittsszene Giudittas,18 nimmt die Musik erstmals diesen Faden auf. Drei im weiteren Verlauf wesentliche Motive klingen hier an: "Liebestraum"-Motiv (GIU 30 [2]), "In einem Meer von Liebe"-Motiv (GIU 37), "Schönste der Frau'n"-Motiv (GIU 40). Das erste ist Antwort von Giudittas für LehárHeroïnen typischen Auftrittsfrage19 : "Wohin, wohin will es mich treiben,/ wohin, wohin zieht mich mein Los?" Sie wird wirkungsvoll eingeleitet durch eine Vokalise über einer orientalischen Baßfigur und einer sehnsüchtig gezogenen Sondermelodie der Streicher (GIU 29, T. 3ff). Diese drei Element antizipieren Verlockung, Ausbruch und Ziel dieses Ausbruchs - das "Land der Träume', Afrika. Die beschworene Gelegenheit dazu findet sich sogleich: Octavio, unterm "Fenster des Palazzo" (GIU 26) - wie in seinem Entrée verkündet, bittet ahnungsvoll: "enthülle mit doch ohne Bangen dieses Rätsel um dich" (GIU 37). Mit ihrem zweiten Motiv antwortet sie "(wie traumverloren): in einem Meer von Liebe / möcht [...] [sie] so ganz versinken" (GIU 37). Für Octavio hat es ein Doppelgesicht. Zum einen erinnert es in seiner rein rhythmischen Notation (Sechszehnteltriole und zwei Achtel auf einer Tonhöhe) an ein Militärsignal, somit an seine baldige Abreise zum andern leitet es über zu jener dur/moll-Mischung, die bereits im Α-Teil seines Entrées lockte und der er ohne Zögern erliegt. Auch er "will [...] lieben glühend heiß, wie noch nie ein Mann geliebt" (GIU 39) und fuhrt damit das ihm zu-

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Während Don José nach der Konfrontation mit seinem Rivalen Escantillo die Geliebte ermordet, verfällt Octavio in ähnlicher Situation der Verzweiflung. Lehár verwehrt hier der Titelheldin ausdrücklich ihr Entrée, analog zu ihrer späteren Entwickling. Vgl. Angèle Didier im 'Graf von Luxemburg'.

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geordnete dritte Motiv ein, in das Giuditta unverzüglich einstimmt und in ihrem Uebestraum' überführt (GIU 41 [12]). Die bisher erwähnten Motive tauchen in liedhaft geschlossener Form auf, verbunden von rezitativischen Passagen von zum Teil ungewöhnlicher Länge, die jedoch seltsam kurzatmig bleiben. Der erstrebte Fluß stellt sich nicht her, zumal er von der Liedform unterbrochen wird, und die verwendeten Motive dieser verpflichtet bleiben. So wird Octavios Angebot zur Flucht am Ende der Szene ausschließlich mit Bruchstücken des "Schönste der Frau'n"-Moüvs bestritten (GIU 43 T. 4, 8, 12), deren Weiterführung durch Quartsextakkorde (Ebd., T. 6, 10) scheinbar offengehalten wird, ehe das vollständige Motiv die vokale Vereinigung der Protagonisten mit vollem Orchester beschließt Die große Duett-Szene findet im veristisch aufgeladenen Rezitativ, das dem Text und damit, wie in diesem Fall, einer spannungsarmen Situation zu sehr verhaftet bleiben muß, keine Form, ebensowenig wie zuvor das Auftrittsmotto Octavios. Der subjektive Ausdruck ist aus den Mitteln des musikalischen Verismus gewichen. Im Stereotypen der Motive hingegen ist die Musik noch bei sich, nicht mehr im mit großem Stimm- und Orchesteraufwand betriebenen Pathos vermeintlicher Oper.

Stereotypen im Zwielicht Daß die Stereotypen selbst auf der Ebene des ersten Paares unverstellt walten, zeigt nicht nur Octavios Entrée (Nr. 4) in leicht variierter Coupletform, sondern gerade das folgende Duett des Heldenpaares im zweiten Bild (Nr. 8). Zitiert es einerseits rhythmisch die Habanera aus Carmen, fällt es formal ins Stereotype des Couplets zurück. Auch Octavios Lied im dritten Bild, "Du bist meine Sonne" (Nr. 11) bleibt der bewährten Rondoform des Tauberlieds, bezeichnenderweise mit rezitativischem Vorspann, ebenso verpflichtet wie Giudittas großes Walzerlied im vierten Bild, "Meine Lippen, sie küssen so heiß" (Nr. 16) der Coupletform. Ungebrochen herrscht das Schema schließlich auf der Ebene des übrigen Personals, das seine Herkunft aus der Operette nie verleugnen kann. Es fehlt weder die Einlage des komischen Alten Martini, "halb Philosoph, halb Bänkelsänger" (GIU 125), der in Nr. 14 die Neuigkeit darzulegen hat, daß die "Liebe [...] so wie ein Schaukelbrett" (Ebd.) sei, noch das obligatorische Buffopaar mit ihren ebenso obligatorischen drei Duetten samt obligatorischer Tanzevolution. Dem Stereotyp verpflichtet seit je, bleibt deren Exekution selbst einer 'musikalischen Komö205

die' nicht erspart. Im Marsch (Nr. 2), im Walzer (Nr. 7), in der Marschpolka (Nr. 15) schlägt 'die besonders sorgfältige Instrumentierung' Lehárs unerbittlich zu. Der spärliche Gehalt dieser Duette wird vom Orchesterklang geradezu erdrückt und gemahnt an den unverhältnismäßigen Obstveikauf des Buffos in Nr. 1, wo die birhythmische Gegenüberstellung des Blechs durch choralhafte Verbreiterung in halbem Tempo und der Streicher, die das bisherige Tempo beibehalten, einen pathetischen Kontrast schuf, dem jeglicher Anlaß fehlte - Musterbeispiel für Wagners Effekt-Definition (GIU 12 [10]). Dieser Widerspruch von Mittel und Zweck zeugt vom unwiederbringlichen Schwinden kollektiver Gehalte aus Lehárs Musik, wie sie sich ihm bis ins Spätwerk noch fügten. Zumal er sich in den Duetten erstens wahrhaft überholter Tanzrhythmen bedient, zweitens nur noch tautologisch Klischees zitierende Texte des sonst originellen Löhner zu vertonen hat, wie: "Rund ist die Welt / und Glück oder Geld ist zweierlei" (GIU 18f.). Mühsam nur ist die Geschichte des Buffopaars Pierrino und Anita mit der eigentlichen Fabel verbunden. Ebenso wie ihre Musik fällt sie heraus, findet einzig im Schema ihre Berechtigung. Noch parallel zum ersten Paar unternehmen auch sie einen Ausbruchsversuch nach Afrika, um dort eine künstlerische Karriere einzuschlagen. Ihr sofortiges Scheitern weist sie unvermittelt in die überschrittenen Schranken zurück. Signifikanterweise nehmen sie ihr Schicksal in der exotischen Fremde mit einem Wienerwalzer hin. Grotesker konnte das zweite Bild, ein "Garten von südlicher, tropischer Pracht" (GIU 62), nicht eröffnet werden. Die Selbstbeschränkung des Buffopaars, jenes kleine Glück in unveränderten Verhältnissen, wird in Manuele, dem Vogelfänger und Ehemann Giudittas, wirkungsvoll kontrastiert - "eine Figur, die in Lehárs Schaffen neue Momente bringt"20 Ihn ereilt als ersten Giudittas Fluch, ihm gesteht die Musik im Gegensatz zum Buffopaar ein Schicksal zu, indem sie seine durch bescheidene Fügung scheinbar intakte Welt zerstört. Sein im Spielduett Nr. 3 mühsam gegen die Zweifel des Wirts an der Treue seiner Frau behauptetes Weltbild, das in kleinen Intervallschritten, die "Müh" und Plag'" (GIU 22) für sein "schönes Weib" (Ebd.) repetierende Lied21, gewinnt im ersten Finale (Nr. 6) leitmotivische Bedeutung. Im Streit mit Giuditta stößt es mit deren "Liebestraum"-Motiv zusammen. Beim Anblick des leeren Vogelkäfigs, aus 20 21

Maria von Peteani, S. 193 Manueles Gesangsfigur an dieser Stelle ("schönes Weib") ist übrigens motivisch mit Octavios "Schönste der Frau'n" verwandt und nimmt somit als Ironie des Schicksals das Manueles vorweg.

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dem sie vor ihrer Flucht mit symbolischem Bezug einen kleinen Vogel befreite, verebbt die schlichte Weise und muß im anschließenden Melodram jenem 'Liebestraum' weichen. "Das Seelische rückt in den Vordergrund."22 Jetzt erst begreift der "verzweiflungsvolle" (GIU 61) Manuele sein Geschick zwischen Papageno und Wozzeck. Das so beharrlich auftretende Stereotyp löst sich hier auf, um im zweiten Bild unverrichteter Dinge wieder auf den Plan zu treten. Von den 20 Nummern der 'musikalischen Komödie' bleiben dreizehn in dessen engeren Grenzen.

Konsequenzen Im dritten Bild versucht Lehár diese Grenzen noch einmal zu überschreiten. Mit seiner Konfliktsituation stellt es den Mittelpunkt der 'musikalischen Komödie' dar und belegt den Opernanspruch des Komponisten nachdrücklich. Ähnlich wie der zweite Akt von Endlich allein ist es fast durchkomponiert, bestehend aus drei Nummern, deren mittlere das Tauberlied bildet Hier wird der Konflikt des faschistischen Hauptmanns zwischen Neigung und Pflicht vorgeführt. Orientalische Melismen verfremden den Schauplatz, ein Zeltlager des italienischen Afrika-Feldzugs, im Soldatenchor zu Beginn von Nr. 10. Er bildet den klanglichen Hintergrund des folgenden Melodrams und zieht sich mit der Textzeile "Wirst du aber scheiden müssen" (GIU 86) als AbschiedsMotiv durch die Partitur. Sein Charakter ist ambivalent, verbindet er doch die militärische Sphäre, die Octavio fremd geworden ist, durch Ganztonmelodik und Kolorit (Flötensolo) mit der Giudittas. Dieser Soldatenchor scheint eher der feindlichen Armee als der eigenen zuzugehören. Wie in Nr. 5 lockt eine hohe Sondermelodie der Streicher (GIU 85, T. 3ff., llff.) - Ausdruck der Hitze, die Octavios Persönlichkeit aufzulösen scheint Schon daß er sich diesem Motiv durch melodramatische Rede, in der Salonoperette ausschließlich bei emotionalen Höhepunkten verwendet, überläßt, zeigt seine gebrochen Widerstandskraft - "den Kopf in die Hand gestützt, Zigaretten rauchend" (GIU 84) und unschlüssig angesichts des Marschbefehls noch für diese Nacht Giudittas familiäre Verhältnisse wecken in ihm Zweifel an ihrer Treue: "Der Vater Spanier ... die Mutter eine marokkanische Tänzerin" (GIU 86). Für ihn selbst ist "aus einem flüchtigen Abenteuer [...] eine Leidenschaft geworden" (Ebd.).

22

Maria von Peteani, S. 193

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Diese Leidenschaft nimmt im folgenden Duett mit ΑΒΑ-Form musikalische Gestalt an. Octavio stilisiert seine Schwäche zum Nietzsche'schen 'amor fati': "Nein, es ist kein Rausch, es ist kein Traum, der mich betört, es ist des Schicksals Macht" (GIU 87 [4]). Wie schon sein Motto in Nr. 4 ist die an sich sechzehntaktige zweiteilige Liedform des Α-Teils durch agogische Mittel (Tempoverzögerungen, Fermaten) und 'besonders sorgfältige Instrumentierung' expressiv aufgeladen und damit rezitativisch. Der pendelnde Triolenrhythmus, dem "Schönste der Frau'n"-Motiv verwandt, verrät die Instabilität Octavios, dessen Partner Antonio, ebenfalls Offizier, in der Α-Teil Wiederholung (GIU 89 [6]) die Liedform flüssiger zu halten, ihr damit Halt zu geben versucht (veränderte Tonart Des-dur). Raffiniert ist im B-Teil der Soldatenchor verarbeitet, als Kontrast der Außenwelt zu Octavios Innenschau. Seine mühsam erkämpfte Zuversicht, wie schon in Nr. 4 gefährdet, fallt mit dem Auftritt Giudittas im Finale Nr. 12 in sich zusammen. Entschlossen von ihr Abschied zu nehmen, bricht das "Liebestraum"-Motiv aus Nr. 5 seinen zaghaften Widerstand - "wenn nicht die Pflicht, die Ehre es verlangten..." (GIU 98) - kalt in Giudittas Wendung des "Schönste der Frau'n"Motivs: "Pflicht... Ehre... / Alles mußt du vergessen in jauchzender Lust" (Ebd.). Seine Drohung, sie einzusperren, beantwortet sie mit dem Schicksals(GIU 100 [6]) und mit dem Ausbruchs-Motiv (GIU 99, T. 8ff.), das im ersten Finale die Befreiung des Vogels begleitet hat (Vgl. GIU 49 [1]). Und nachdem in der Reminiszenz des Tauberlieds (GIU 101 [8]) der Schein der Versöhnung beide noch einmal umfangt, liefert das instrumentale Zitat des Soldatenchors in Trommel und Flöte (GIU 103 [9]) die Klangkulisse für das anschließende Melodram mit Antonio (Vgl. Nr. 10), in dem der Protagonist vollends den Boden unter den Füßen verliert. Als er dem Freund mitteilt, daß er mit Giuditta flieht, der aber seine "Hand nicht einem Deserteur" (Ebd.) reichen will, zuckt Octavio "wie von einem Peitschenhieb getroffen zusammen. Nach kürzerem inneren Kampf rafft er sich auf, nimmt Käppi und Mantel" (GIU 104). Erstmals versagt ihm die Musik eigenen Ausdruck. Einzig die Trommeln des Soldatenchors, denen er ohne Bewußtsein folgt, verhallen mit seinem Verschwinden. Seiner inneren Leere entspricht die Stille auf der Bühne,23 auf der Giuditta allein zurückbleibt. Für sie entfesselt das Orchester den zuvor beschworenen Sturm der Leidenschaft, den es Octavio nicht mehr zugestand: nach Tosca-naher Akkordhäufung über einem Orgelpunkt (GIU 104 [10], T. 1), bestehend aus Bruchstücken des "Meer von Liebe"-Motivs, und diatonisch aufsteigenden 23

Vgl. die entsprechende Stelle im zweiten Finale von 'Friederike' (FRI 79).

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Dieiklangsketten (Ebd., T. 2-4) wechseln jähe Akkorde grell die Orchesterfarben (Blech, Picc. - ebd., T. 4-5), ehe diese Klangschichtung in sich zusammenfällt (Ebd., T. 6 ff.). Was sie "nie für möglich hielt, ist geschehen: Sein Pflichtgefühl war stärker als seine Liebe zu ihr" (GIU 104f.) - kommentiert die Regiebemerkung Giudittas Katastrophe. Nun erst spricht sie jenen Fluch, der als Schicksals-Motiv von Anfang an gegenwärtig war: "verflucht ist [...] [ihr] Blut [...], so wie [...] jeder, der [...] [sie] Hebt (GIU 108 f.). Ihr Ausbruchs-Motiv (GIU 107 [15]) aus ähnlicher Situation im ersten Bild steigert sich rhythmisch verbreitert (doppelte Notenwerte) zum Tanz, der über sie kommt wie ein Naturereignis: "ihrer Sinne kaum mächtig, gleichsam in Trance, beginnt sie wie unbewußt rhythmische Tanzbewegungen zu machen, die sich bis zur Ekstase steigern" (GIU 105). Der Aufbau dieses Finales entspricht in der Aneinanderreihung und zeitweiligen Durchdringung einzelner, von jeweils einem Motiv beherrschter Abschnitte einerseits dem in zweiten Finale des Graf von Luxemburg virtuos gehandhabten Verfahren zitathaft variierter Leitmotivik, andererseits jener "mosaikhafte[n] Anlage"24 Puccinischer Opern, die bereits an der Lyrischen Operette auffiel. Anders als in Nr. 5, die im szenischen Leerlauf des Textes an ihre rezitativischen Grenzen stieß, hat das gesamte dritte Bild, wie schon der zweite Akt von Endlich allein, an den es deutlich anknüpft, eine musikalische Form gefunden, die durch sinnvollen dramaturgischen Bau jenen Fluß zwischen rezitativischen und liedhaften Teilen hält, der ihr im erstrebten Grenzbereich zur Oper noch ansteht, ohne sich im veristisch hypertrophen Rezitativ zu verlieren, dessen Bann Giuditta nie ganz entrinnt

Inkonsequenz Die im Sinne der Autorenintention konsequente Architektur des dritten Bildes wird im vierten wieder zurückgenommen. Als retardierendes Moment fällt es dramaturgisch aus dem Rahmen der Operettenkonvention, musikalisch in jenen zurück. Isoliert wie seine Musiknummem steht es im Zusammenhang der Handlung, die erst im Finale mit dem Auftritt Octavios fortschreitet. Wie ein Revuebild zehrt es vom Ausstattungszauber des üppigen, oben beschriebenen Milieus, dessen Mittelpunkt Giuditta bildet Ihre Dämonie, deren Verhängnis im dritten Bild scheinbar naturhaft noch 'des Schicksals Macht' beschwor, findet wie sie in Nr. 16 freimütig bekennt (s.u. - GIU 24

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137), im Rotlicht des Nachtlokals ihre Heimat. Ausgestellt und angeboten entpuppt sie sich als Ware, die sie schon immer gewesen sein mochte. Dies ist Giudittas wahres Verhängnis. Zwangsläufig führt ihr ekstatischer Tanz aus Nr. 12 zu seiner Vermarktung in Nr. 13;25 zwanghaft präsentiert sie ihr Leben einer anonymen Masse zur Animation, groß aufgemacht mit Chor, "während das Ballett Tanzbewegungen macht" (GIU 117). Das einst 'traumverlorene' "Meer von Liebe"-Motiv aus Nr. 5 wird zum Motto in der vom Chor kollektiv bekräftigten Funktion eines Refrains, der Anfang und Ende dieser Nummer markiert. Im "rhythmisch freien Parlando"26 des Mittelteils zitiert sie die Stationen ihrer Liebe zu Octavio im Ausbruchs-Motiv bei "heiß schlägt Giudittas Herz" (GIU 120 [6]) und wörtlich im Soldatenchor (GIU 121 [9]): "dann muß sie einen anderen küssen / kann ja nichts dafür." Mit der Mechanik der Revue stellt der sich unversehens ein - es ist Lord Barrymore, das Abziehbild früherer Lebemänner der Salonoperette, "eine interessante Erscheinung im Smoking."27 In Nr. 16, einem Operettenstereotyp mit aufdringlich spanisch gefärbtem Coupletteil und Valse moderato-Refrains, beantwortet sie ihm die Frage, warum "nicht nur die Männer, auch die Frauen [...] verliebt"28 in sie sind - sie "weiß es selber nicht" (GIU 136). Das Tamburin erzittert. "Doch wenn das rote Licht erglüht [...], dann wird [...] klar der Grund: [,..][Ihre] Lippen, sie küssen so heiß [...], [ihre] Glieder sind schmiegsam und weiß, in den Sternen, da steht es geschrieben" (GIU 137). Die Kastagnetten der folgenden Tanzevolution geben die tiefere Erklärung: In ihren "Adern drin, da rollt das Blut der Tänzerin, denn [...] [ihre] schöne Mutter war des Tanzes Königin" (GIU 138 f.) - zu süßen Flötenläufen teilt sie "das gleiche Los" (GIU 139). Mit dem Auftritt Octavios im Finale Nr. 17 ändert sich der Ton. Er "trägt einen dunklen Zivilanzug"29 und ein Arioso vor, in dem er das Wiedersehen mit Giuditta "sieghaft" (GIU 145) sich ausmalt. Diese Vision des Glücks steht sowohl musikalisch als auch szenisch fremd im Rotlichtmilieu und auf verlorenem Posten. Schwankend wie ihr Subjekt schweift dies Arioso assoziativ in der für jenes signifikanten Form eines expressiven Rezitativs. Mitfühlend wuchert das Orchester im Tempo rubato, findet Halt nur in den liedhaften Anklängen an die versäumte Versöhnung im dritten Bild, dem Tauberlied 25

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Ebenso zwangsläufig kehrt Lehár vom geschlossenen dritten zum nummernhaften vierten Bild - und somit zur reinen Operette zurück. Maria von Peteani, S. 197 Franz Lehár, Giuditta, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 40b Ebd. Ebd., S. 43

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"Du bist meine Sonne", das erst flüchtig ("Doch jetzt wirst du ja kommen" GIU 144 [1]), dann triumphal ("Schön, so wie die Sonne" - GIU 145 [3]) zitiert wird. Doch auch hier bricht es nach sechs Takten ab und aus dem Liedhaften aus. In einer ebenfalls sechstaktigen Steigerung (GIU 145, T. 14146, T. 3) möchte es über sich selbst hinaus. "Molto animato" (GIU 145) und "crescendo" (Ebd.) steigt ein aus dem Tauberlied stammendes fanfarenhaftes Motiv (Vgl. Nr. 11 - "du bist ein Traum" - GIU 91, T. 9/10) sequenzierend auf (GIU 145, T. 14, 15, 16 - 146, T. 1) - bekräftigt vom gleichfalls aufsteigenden Echo eines Posaunensignals (GIU 145 T. 15, 16 - 146 T. 1). Nach einer Verbreiterung im vierten und fünften Takt ("meno" - GIU 146, T. 1/2) und einer Akkordfolge ohne erkennbaren Zielpunkt landet es auf dem Dominantseptakkord (GIU 146, T. 3.1), um dort deklamatorisch auszuklagen. Octavios Glücksvision, deren Text, ähnlich wie "Freunde, das Leben ist lebenswert", nur noch leere Parolen behauptet, findet musikalisch keine Form mehr. Die imperative Geste des Rezitativs, die das Orchester zum 'accompagnato' unterwirft, verbirgt die eigene Schwäche schlecht. Auch sie hat kein Ziel. Was sich in Octavios Motto (Nr. 4) ankündigte, wiederholt sich hier über vierundfünfzig Takte in großem Maßstab als Zeugnis des Realitätsverlusts der Figur. Dessen Widerschein ist das folgende Melodram zwischen Giuditta und Lord Barrymore, wenn dem beiseite eifersüchtig die Szene beobachtenden Octavio das Orchester mit "Schönste der Frau'n"- (GIU 146 [4]) und "Sonnen"-Motiv (GIU 147, T. 2) seine vergangene Liebe vorgaukelt. Beide Motive, ineinander verschränkt (GIU 147, T. 6-10), münden in Giudittas Ausbruchs-Motiv aus dem ersten Akt (GIU 147 [5]), zynischer Kommentar der dargestellten Situation. Erst in der Reminiszenz von "Meine Lippen, sie küssen so heiß" (GIU 148 [7]) kehrt die Musik zur Gegenwart zurück. "Das Auto des Lord BaiTymore" (GIU 146 f.) ist vorgefahren. Giudittas Abgang, unter pompösen Hoch'-Rufen der Konfetti werfenden Belegschaft eine Operettenkonvention, nimmt in der verzerrten Optik Octavios gespenstische Züge an. Traumatisch hält er dem fahnenflüchtigen Helden vor Augen, daß er sich einer Phantasmagorie geopfert hat. Er betrachtet die Szene stumm, "voll Entsetzen [...], macht eine Handbewegung, als wolle er nach dem Säbel greifen [...]. Da kommt ihm plötzlich zu Bewußtsein, daß er das Offizierskleid und die Waffen nicht mehr trägt" (GIU 148), daß er "kein veristischer Opernheld, sondern der jugendliche Liebhaber einer musikalischen Komödie"30 ist. "Kraftlos läßt er seine Hand sinken. Nun erkennt er die ganze Tragik seines Schicksals" (GIU 148). Die Musik jedoch verwehrt sie ihm 30

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endgültig. Ebensowenig wie er zur Aktion findet sie zum Ausdruck. Vielmehr erinnern die Röten höhnisch an die umgekehrte Situation im Finale des vorigen Bildes (GIU 151, T. 1 Iff.: Soldatenmarsch in Terzen - vgl. GIU 103f.), mithin an seine eigene Handlungsunfähigkeit, bevor das schon dort drohende Schicksals-Motiv fff sich erfüllt (Ebd., T. 18ff.), in das Octavio nur noch affirmativ unisono einstimmen kann - "Mein Glück, mein Leben zerstört" (Ebd.).

"Im Zeichen des Verschwindens" Der in Nr. 17 vorgeführte Verlust der Individualität Octavios, von seinem orientierungslos vazierenden Arioso zu Beginn bis zur Sprachlosigkeit am Ende, als Verlust subjektiven Ausdrucks, findet seine Fortsetzung im 5. Bild. Lehár verzichtet folgerichtig auf jeglichen Opemanspruch. Die Banalität in Milieu, Sujet und Musik macht sich breit, die Katerstimmung des dritten Fledermaus-Aktes, der auch noch hier Pate steht. So situiert ganz ohne musikalische Umstände die komische Figur in Gestalt zweier Kellner den "sehr elegantefn] Gesellschaftsraum in einem mondänen Großstadthotel."31 Sie wissen zu berichten, daß Giudittas Fluch im verstrichenen "Zeitraum von vier Jahren" (GIU 2) Lord Β anymore ereilte, "der sich ihretwegen umgebracht hat."32 Octavio ist hier - "irgendwie muß man sich seinen Lebensunterhalt verdienen"33 - als Pianospieler angestellt. Zwar ist sein "Hemd [...] ein wenig zerknittert; man sieht, daß er es heute nicht zum ersten Male trägt,"34 doch ist er seelisch geläutert: "sein temperamentvolles Wesen ist stiller Resignation gewichen."35 Im Lied Nr. 18 setzt er die "Schönste derFrau'n" als musikalische Reminiszenz aus Nr. 5 ins Imperfekt: "Es war ein Märchen" (GIU 157). Doch was die Figur dergestalt zum Utopieverlust verklärt, erweist sich als Realitätsverlust der Figur selbst. Seine nachträgliche Entsagung im selben Lied - "still will ich sein y will dem Schicksal verzeihn', / alles wagen allein" (GIU 156 f.) - hat ihren Sinn verloren. Denn nicht mehr eine höhere Macht äußerer Verhältnisse wie sonst in der Lyrischen Operette nimmt hier die Stelle des Schicksals ein, sondern die eigene innere Brüchigkeit, eben die

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Franz Lehár, Giuditta, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 47 Ebd., S. 48 Ebd., S. 50 Ebd., S. 49 Ebd., S. 48

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Unfähigkeit, 'alles allein zu wagen'. Der Klavierspieler in einer Hotelhalle zeigt das wahre Gesicht der Selbstentfremdung im unfreiwilligen Exil eines desertierten faschistischen Offiziers.36 Bezeichnenderweise kehrt er in Nr. 18 zur liedhaft symmetrischen Form zurück, die er im expressiven Rezitativ über die ganze 'musikalische Komödie' hinweg zu sprengen versuchte. Selbst als plötzlich Giuditta auftaucht, verharrt er in diesem Stereotyp. Auch musikalisch bleibt ihm einzig, die unfreiwillige Entsagung zu einer gewollten zu machen - er "spielt die folgende Szene [Nr. 19] in abgeklärter Ruhe" (GIU 158). Daher begegnet er der einstigen Geliebten nicht mit eigener, sondern mit deren Musik, ihrem Tanz mit gesungenem Fluch aus dem dritten Bild (GIU 158 [1]) - vom "Meer von Liebe"-Motiv in gestopften Trompeten ironisch kommentiert (GIU 159, T. 5, 7) - den sie im weiteren Verlauf der Szene aufnimmt und als Schicksal bestätigt (GIU 161, T. 8). Über ihr Ausbruchs-Motiv (GIU 160 [3]), jetzt von seinem "Schönste der Frau'n"-Motìv (Ebd., T. 10) kontrapunktiert, versucht sie noch einmal die erfüllte Vergangenheit für die ernüchterte Gegenwart zu mobilisieren, bis sie schließlich sein "Sonnen"-Motiv (GIU 162 [6]), als Zeichen gescheiterter Versöhnung, für eine mögliche in der Zukunft ins Feld führt. Der utopische Ausblick ist vergebens - "sein totes Herz, es liebt nicht mehr" (GIU 163). Das Herz, einst imaginäres Zentrum der Operette, schlägt kaum noch, wenn im "Sonnen"-Motiv ihr Schwanengesang pp ertönt: "Nun ist verklungen [...] das ewige Lied von Lust und Leid" (GIU 163, T. 10-18). Die Operette formuliert ihr Verschwinden und nimmt dem Ende zu ihren geschäftsmäßigen Lauf. Giuditta entschwebt am Arm eines Herzogs "in den besten Jahren."37 Octavio bleibt klavierspielend, das Finaletto Nr. 20 bis auf den kurzen Orchesterschluß allein bestreitend, zurück und - um es mit Frau von Peteani zu sagen - "seine Affekte verklimmen in bittersüßer Wehmut."38 Auch dieser angesichts des sonstigen Orchesteraufwands spärliche Ausklang der 'musikalischen Komödie' bezeichnet die ästhetische Erschöpfung der

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Aber gerade diese "Fähigkeit zum Durch- und Unterschlupfen selber, zum Überstehen des eigenen Untergangs, von der die Tragik überholt wird, ist die der neuen Generation" (Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 181) abgeschafft er, bis vor kurzem mühsam behaupteter Individualität und meint nach Adomo den Faschismus. Wie ein ironischer Kommentar auf Octavio fährt er folgendermaßen fort: "sie sind zu jeder Arbeit tüchtig, weil der Arbeitsprozeß sie keiner verhaften läßt. Es erinnert an die traurige Geschmeidigkeit des heimkehrenden Soldaten, den der Krieg nichts anging." (Ebd.) Franz Lehár, Giuditta, Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, S. 53 Maria von Peteani, S. 199

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Gattung. Der sich selbst zu längst verklungenen Reminiszenzen am Klavier begleitende Operettenheld kann nur noch abtreten. Tatsächlich "nimmt [er daraufhin] seinen Hut" (GIU 165).

Resümee Die werkimmanente Entwicklung der zuletzt untersuchten drei Bilder von der Oper (im dritten Bild) zurück zur Operette (im fünften Bild) zeigen die Schwierigkeiten der von Lehár erstrebten Mitte zwischen den Gattungen. War deren Vermittlung in der Salonoperette noch produktiv, wie am Graf von Luxemburg deutlich zu sehen, fand sie in der Lyrischen Operette ihr Grenze, so ist sie in Giuditta vollends brüchig geworden. Es ist der objektive Widerstand ihres Materials, der die 'musikalische Komödie' zum Scheitern verurteilt. Die an sich liedhafte Form weigert sich subjektivem Ausdruck auch dort, wo sie wie im rapsodischen Rezitativ aufbricht Die scheinbar offene Gestaltung hat keine eigene neue Struktur zur Verfügung, fällt stets ins Stereotyp, als ihrem Ausgangs- und Zielpunkt, zurück. Dieser Zwangscharakter seiner Bestandteile fallt auf das Werk selbst zurück. Die musikalischen Stereotypen verwehren den Figuren ihnen zugedachte Subjektivität, die Dramaturgie gesteht ihnen keine Entwicklung zu. Vollends zu schweigen vom epigonalen Sujet und seiner klischeehaften Aufmachung bis in die das ganze Stück durchziehenden Textfloskeln hinein, die keines Kommentars mehr bedürfen. Und dennoch verleiht gerade solche Disparatheit der 'musikalischen Komödie' ihre Bedeutung als kulturelles Phänomen. Dessen Scheitern an den Widersprüchen seines ästhetischen Konzepts steht für das Ende einer von Beginn an widersprüchlichen Gattung ein, deren Zeit abgelaufen ist. Ihr jenseitiger Charakter scheint durch Giuditta hindurch. Zerfallend bewahrt sie die Wahrheit ihrer Epoche. Hat in den dreißiger Jahren die ernste Musik ihr schlechtes Gewissen längst verloren, ist das schlechte Gewissen der leichten Musik in Lehárs Giuditta ein rührender Anachronismus.39 Die Kulturindustrie hat kein schlechtes Gewissen mehr nötig.

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Die Schlageroperetten der Zeit verdienen nicht einmal mehr ihre Gattungsbezeichnung.

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Nachschrift Gerade Giuditta zeigt, daß Lehár vom Standpunkt der Wissenschaft vor allem als Kulturerscheinung betrachtet weiden muß. Eine ästhetische Wertung steht nicht mehr zur Debatte. Denn gerade im Kontrast zu ihren schärfsten Kritikern gewinnen Lehár und die Operette Kontur. Nicht um gute oder schlechte Operetten, wie Volker Klotz vermeint, kann es gehen, sondern um das Jenseitige dieser Gattung gegenüber ästhetischen Kategorien. Es wäre eine vergebliche Ehrenrettung eines Genres, das seit jeher im Zwielicht gedieh. Eine solchermaßen schlechte Operette ist immer die bessere Operette ihre Qualität, wie in Giuditta, eine falsche. So unerbittlich Lehár von der Musikgeschichte entlarvt wurde,40 findet er in ihr seine zweite Heimat: festgehalten für die Nachwelt, wie in Winnies Schlußvision Glücklicher Tage bei Beckett - eine Fliege im Bernstein.

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Wie in Adornos Ästhetik, die durch die Intensität der Kritik ihrem Gegenstand sein wahres Gewicht erst verleiht.

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Literaturverzeichnis

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Cloclo, Operette in drei Akten von Béla Jenbach, Musik von — , Klavierauszug mit Text, Berlin/Wien/München 1924 Paganini, Operette in drei Akten von Paul Knepler und Béla Jenbach, Musik von — , Klavierauszug mit Text, Wien o. J. [1925] Paganini, Operette in drei Akten von Paul Knepler und Béla Jenbach, Musik von — , Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, Wien o. J. [1925] Der Zarewitsch, Operette in drei Akten von Heinz Reichert und Béla Jenbach (Frei nach Zapolska-Scharlitt), Musik von , Vollständiger Klavierauszug mit Text, Originalausgabe des Komponisten (Neue Fassung), Wien/New Yoik o J. [1927/1937] Friederike, Singspiel in drei Akten von Ludwig Herzer und Fritz Löhner, Musik von - - , Klavierauszug mit Text, Berlin o. J. [1928] Friederike, Singspiel in drei Akten von Ludwig Herzer und Fritz Löhner, Musik von - - , Vollständiges Regie- und Soufflierbuch , Wien o. J. [1928] Das Land des Lächelns, Romantische Operette in drei Akten nach Victor Léon von Ludwig Herzer und Fritz Löhner, Musik von — , Klavierauszug mit Text, Originalausgabe des Komponisten, Wien o. J. [1929] Schön ist die Welt!, Operette in drei Akten von Ludwig Herzer und Fritz Löhner, Musik von — , Klavierauszug mit Text, Originalausgabe des Komponisten, Leipzig/ Wien/New York o .J. [1930] Giuditta, Musikalische Komödie in 5 Bildern, Buch von Paul Knepler und Fritz Löhner, Klavierauszug mit Text, Originalausgabe des Komponisten, Wien o. J. [1934] Giuditta, Spieloper in 5 Bildem von Paul Knepler und Fritz Löhner, Musik von — , Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, Wien/Leipzig o. J. [1934] Notizbuch 1928, (Stadt- und Landesbibliothek Wien / Handschriftenabteilung) Postkarte vom 17. April 1937, aus dem Besitz von — , (Stadt- und Landesbibliothek Wien / Handschriftenabteilung) Bekenntnis, Zürich 1947

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