Tibet und das Selbstbestimmungsrecht der Völker [Reprint 2018 ed.] 9783110871333, 9783110161090


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German Pages 375 [376] Year 1998

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Schreibweise chinesischer und tibetischer wörter
A. Einführung
B. Zum Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts
C. Grundlagen zum Selbstbestimmungsrecht
D. Fallgruppen des Selbstbestimmungsrechts im Bezug zu Tibet
Nachwort
Anhang
Literaturverzeichnis
Menschenrechtsberichte und Konferenzen
Stichwortregister
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Tibet und das Selbstbestimmungsrecht der Völker [Reprint 2018 ed.]
 9783110871333, 9783110161090

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Gerald Schmitz Tibet und das Selbstbestimmungsrecht der Völker

Tibet und das Selbstbestimmungsrecht der Völker von

Gerald Schmitz

W DE

G 1998

Walter de Gruyter • Berlin • New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Schmitz, Gerald: Tibet und das Selbstbestimmungsrecht der Völker / von Gerald Schmitz. - Berlin : de Gruyter, 1998 ISBN 3-11-016109-5 DBN: 95.331590.8 SM SG: 19

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck und Bindung: WB-Druck, Rieden am Forggensee

Vorwort Tibet und China, selten lösen Regionen in westlichen Gesellschaften derart vielfältige und exotisch-mystische Assoziationen aus, wie diese beiden. Jedes dieser Länder steht für eine alte Kultur, in die vielfältige Sehnsüchte und Wunschbilder hineinprojiziert wurden. China steht für frühe wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfindungen ebenso, wie für philosophische Schulen, deren Lehren im Westen gerade in den letzten Jahrzehnten zunehmend rezipiert werden. Tibet ist lange Zeit als "Shangrila" zu einem geheimnisvollen Ort vollkommener Harmonie und mystischer Erfahrungen idealisiert worden. Dabei will ich nicht verhehlen, daß die persönliche Begegnung mit der Bevölkerung Tibets sowie der beeindruckenden Landschaft auch bei mir tiefe Eindrücke hinterlassen hat. Aber gerade dort, wo diese beiden Namen in Beziehung zueinander erscheinen, stehen sie auch für ganz andere Sachverhalte und Emotionen. So stehen beide Regionen dann für ein Problem, das sowohl politische, rechtliche als auch moralische Dimensionen hat. Dementsprechend erscheint dieses Thema auch regelmäßig unter einem dieser Aspekte im öffentlichen Bewußtsein. Dabei muß zugestanden werden, daß diese Aspekte in der Diskussion häufig miteinander vermischt werden und sich wohl auch nicht ganz trennen lassen. Die Wissenschaften, die sich dieses Sachverhaltes angenommen haben sind vielfältig: Sinologie, Tibetologie, Politikwissenschaften, um nur einige zu nennen. Das Feld, auf dem vor allem der politische und der juristische Aspekt ineinandergreifen ist das Völkerrecht, dessen Grundlagen in dem Willen und der Praxis der Staaten selbst wurzeln. Die Regeln und Wertungen des Völkerrechts sind auch die Maßstäbe, an denen das Tibet-Problem in dieser Untersuchung erörtert werden soll. Dabei wird der historische Kontext ebenso berücksichtigt, wie die dogmatischen Grundlagen des Völkerrechts, aufgrund derer die gefundenen Ergebnisse erst nachvollziehbar werden. Bei der Abfassung dieser Erörterung stand mir das Leitbild vor Augen, daß beide Seiten ihre jeweilige Sicht in den behandelten Fragestellungen und Themen wiedererkennen können sollten. Dabei galt für den Verfasser der Grundsatz, selber eine neutrale Position zu wahren und dadurch -soweit möglich- den Argumenten beider Parteien gerecht zu werden. Allerdings liegt es in der Natur dieser in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht komplexen Problematik, daß die Ergebnisse dieser Untersuchung voraussichtlich nicht immer den Beifall der beiden Seiten finden können. Die Erarbeitung der hier abgehandelten Problematik hat einige Zeit in Anspruch genommen. Die Arbeit wurde begleitet von einigen Personen,

VI

Vorwort

die maßgeblich zum Gelingen beigetragen haben. Für die gewährte Unterstützung soll an dieser Stelle Dank gesagt werden. Der Dank gilt insbesondere Herrn Prof. Dr. Tomuschat für seine ergänzenden Hinweise und Anregungen, die bereits die inhaltliche Gestaltgebung beeinflußt und in der Endphase an verschiedenen Stellen zu entscheidenden Verbesserungen beigetragen haben. Dank geht auch an Trude Pfeiffer für Ihre Unterstützung bei der redaktionellen Abfassung sowie in anderer Hinsicht. Die kontinuierliche Arbeit an diesem Werk wurde ferner gefördert durch den beständigen Zuspruch, dessen ich in der zurückliegenden Zeit des öfteren bedurfte. Der Dank dafür gilt hier ganz besonders Guste und Daniela. Schließlich haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Walter de Gruyter Verlages auch durch ihr persönliches Engagement wesentlichen Anteil daran, daß sich diese Untersuchung in der aktuellen Gestalt präsentieren kann.

Braunschweig, den 10. Februar 1998

Gerald Schmitz

Inhaltsverzeichnis Vorwort Abkürzungsverzeichnis Schreibweise chinesischer und tibetischer Wörter

V XI XIV

A . Einführung I. Fragestellung und Aufbau der Arbeit II. Annäherung an die Tibet-Frage 1. Tibets Verhältnis zu China bis 1950 1.1. Traditionelle sino-tibetische Beziehungen bis 1911 1.2. Die Zeit tibetischer Autarkie (1912-1950) 1.3. Fragestellungen zum Status Tibets 2. Tibet - geographischer, ethnischer und politischer Begriff 3. Aktuelle Situation Tibets 3.1. Die Eingliederung Tibets in die Volksrepublik 3.2. Autonomie und Freiheitsrechte für die Tibeter? 3.3. Die politischen Forderungen der Tibeter III. Das Selbstbestimmungsrecht und die Tibet-Frage 1. Die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts 2. Die bisherige Diskussion zur Selbstbestimmung der Tibeter 3. Das Votum der Internationalen Juristenkommission 1997 IV. Die Tibet-Frage im Spiegel der UNO 1. Tibets Verhältnis zur UNO in der Zeit seiner Autarkie 2. Behandlung der Tibet-Frage innerhalb der UNO

1 1 2 2 3 5 6 7 11 11 12 16 17 17 21 23 25 25 26

B. Z u m Rechtscharakter d e s Selbstbestimmungsrechts I. Rechtsquellen des Völkerrechts 1. Die traditionellen Rechtsquellen 2. Unbeachtlichkeit anderer Rechtsquellentheorien 3. Schlußfolgerung II. Das Selbstbestimmungsrecht als Vertragsrecht 1. Das Selbstbestimmungsrecht in der UN-Charta 2. Das Selbstbestimmungsrecht in den Menschenrechtspakten 2.1. Rechtsnormqualität innerhalb der Pakte 2.2. Zur vertraglichen Bindung Chinas an die Pakte III. Das Selbstbestimmungsrecht als Rechtsgrundsatz IV. Das Selbstbestimmungsrecht als Völkergewohnheitsrecht 1. Meinungsstand in Lehre und Judikatur 1.1. Diskussion in der Lehre 1.2. Das Selbstbestimmungsrecht vor dem IGH 2. Methodik zur Herleitung von Völkergewohnheitsrecht 2.1. Die Frage nach Rechtscharakter und Rechtsträger 2.2. Die Elemente des Völkergewohnheitsrechts

29 29 29 30 32 32 33 33 33 34 35 36 36 36 39 40 40 42

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.3. Der Stellenwert von Verträgen und UN-Resolutionen 3. Geltung des Selbstbestimmungsrechts als Gewohnheitsrecht 3.1. Opinio iuris zum Selbstbestimmungsrecht 3.2. Grundlagen der allgemeinen Übung 3.3. Das Selbstbestimmungsrecht - mehr als bloßer "Standard" 4. Bindung der Volksrepublik an das Selbstbestimmungsrecht 4.1. Die Rechtsfigur des persistent objector 4.2. Die Praxis Chinas zum Selbstbestimmungsrecht C. Grundlagen zum Selbstbestimmungsrecht I. UN-Grundsätze 1. UNO-Formel zum Selbstbestimmungsrecht 2. Abgrenzung zur Praxis im Minderheitenschutz 3. Schlußfolgerungen II. Interpretationen in der Völkerrechtsdoktrin 1. Enger Volksbegriff 1.1. Das Selbstbestimmungsrecht nur für Staatsvölker 1.2. Das Selbstbestimmungsrecht in Kolonialanalogien 2. Weiter Volksbegriff 2.1. Ethnischer Ansatz 2.2. Subjektiver Ansatz 3. Das "föderale" Selbstbestimmungsrecht III. Zum Grundproblem der Sezession 1. Selbstbestimmungsrecht und Sezessionsproblematik 2. Selbstbestimmungsrecht und territoriale Integrität 2.1. Abspaltung ohne entgegenstehenden Gebietstitel 2.2. Selbstbestimmung und territoriale Integrität D. Fallgruppen des Selbstbestimmungsrechts im Bezug zu Tibet I. Das Selbstbestimmungsrecht bei Staatendismembration 1. UdSSR 2. Jugoslawien 3. Folgerungen für das Selbstbestimmungsrecht 4. Die gegenwärtige Situation in der Volksrepublik China II. Das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht 1. Staatsvölker als Träger des Abwehrrechts 2. Die Tibeter als Staatsvolk 2.1. Der Mythos sino-tibetischer Kontinuität 2.2. Die Perioden im sino-tibetischen Verhältnis 2.3. Die Staatlichkeit Tibets in der Zeit von 1913 bis 1950 2.4. Erlöschen des tibetischen Staates nach 1950 3. Fazit zum Abwehrrecht der Tibeter III. Das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch 1. Der Restitutionsanspruch als Recht ehemaliger Staatsvölker 1.1. Eigene Rechtsposition von Völkern im Völkerrecht

45 48 48 59 64 67 67 68 75 75 75 77 79 80 80 80 81 82 82 86 86 88 88 88 88 89 93 94 95 97 102 103 105 105 108 108 113 123 139 158 159 159 160

IX

Inhaltsverzeichnis

1.2. Selbstbestimmung trotz konsolidierter Annexion 1.3. Der Restitutionsanspruch in der Völkerrechtspraxis 2. Der Restitutionsanspruch für die Tibeter 2.1. Die allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen 2.2. Intertemporales Recht 2.3. Demographische Veränderungen 3. Territoriale Reichweite des Restitutionsanspruchs

162 163 168 168 169 178 182

IV. Der Restitutionsanspruch für die Tibeter in Rest-Tibet

183

1. Umfang des tibetischen Staates von 1913 und Rest-Tibet 2. Die Bevölkerung Rest-Tibets als eigenständiges Staatsvolk? 2.1. Territoriale Differenzierung für Rest-Tibet 2.2. Der Status Amdos (Qinghais) 2.3. Der Status Ost-Khams 2.4. Wirksamkeit "historischer Titel" über Rest-Tibet 3. Fazit für die Bevölkerung Rest-Tibets

V. Das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht 1. Dogmatische Herleitung des Notwehrrechts 1.1. Das Notwehrrecht für Minderheiten 1.2. Diskussion des Notwehrrechts in der Literatur 1.3. Die Deklaration 2625 als Ansatzpunkt 1.4. Vom "Standard" der Deklaration zum Sezessionsrecht 1.5. Die Abspaltung Bangladeschs 1.6. Zusammenfassung und Würdigung 2. Notwehrlage im Sinne des Selbstbestimmungsrechts 2.1. Allgemeine Voraussetzungen für das Notwehrrecht 2.2. Notwehrlage durch Menschenrechtsverletzungen 3. Notwehrlage der Tibeter 3.1. Vorgaben für die Untersuchung 3.2. Menschenrechte in Tibet im internationalen Focus 3.3. Genozid oder genozidähnliche Akte an den Tibetern? 3.4. Polizeiwillkür und Mißstande in der Strafrechtspflege 3.5. Diskriminierungsproblem im Vielvölkerstaat China 3.6. Demographische Veränderungen in Rest-Tibet 3.7. Notwehrlage durch Eingriffe in die Religionsfreiheit 3.8. Personaler und territorialer Umfang des Sezessionsrechtes 3.9. Ergebnis zum Notwehrrecht der Tibeter

183 183 185 185 193 198 203

204 204 204 205 208 210 218 226 227 227 229 248 248 252 257 270 276 288 292 312 3 21

VI. Zusammenfassung der einschlägigen Fallgruppen

322

1. Das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch 2. Das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht 3. Das Selbstbestimmungsrecht bei Staatendismembration

322 322 323

Nachwort Anhang: Tibet-Karten

325 327

Literaturverzeichnis Menschenrechtsberichte und Konferenzen Stichwortregister

329 351 355

Abkürzungsverzeichnis Allgemeine Abkürzungen a.a. a.A. aa.O. Abs. AEMR ai BMfAA ca. CCPR CESCR Diss. Op. ECOSOC EG etc. EU GA GUS h.L. h.M. Hrsg. IGH ILC KPC KSZE lit. MR MRK m.w.N. NATO OAU Red s. Sbr S. H. sog. UdSSR

aber anders anderer Ansicht am angegebenen Ort Absatz Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 amnesty international Österreichisches Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten circa Covenant on Civil and Political Rights vom 19.12.1966 Covenant on Economic, Social and Cultural Rights vom 19.12.1966 Dissenting Opinion Economic and Social Council der UNO Europäische Gemeinschaft et cetera Europäische Union General Assembly (Generalversammlung der Vereinten Nationen) Gemeinschaft Unabhängiger Staaten herrschende Lehre herrschende Meinung Herausgeber Internationaler Gerichtshof International Law Commission Kommunistische Partei Chinas Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa litera Menschenrechte Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen mit weiteren Nachweisen North Atlantic Treaty Organization Organisation of African Unity Redakteur siehe Selbstbestimmungsrecht (der Völker) Seine(r) Heiligkeit sogenannte (r) Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

XII UN UNITAF UNPROFOR UNO UNOSOM USA v. Chr. Vgl. VGR VRC WEU WVK Zif. Zit.

Abkürzungsverzeichnis United Nations Unified Task Force United Nations Protection Force United Nations Organisation United Nations Operation in Somalia United States of Amerika vor Christus Vergleiche Völkergewohnheitsrecht Volksrepublik China Westeuropäische Union Wiener Vertragsrechts-Konvention vom 23.5.1969 (Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge) Ziffer Zitierweise

Quellenabkürzungen AcanDi AJIL ArchdG ArchVR AustrYBIL BR BVerfGE BYIL EA EJIL EPIL FAZ FEER FS GAOR GJICL HarvILJ HRLJ HRQ ICJ Reports ICLQ IndYBia JIR

Annuaire canadien de Droit international American Journal of International Law Archiv der Gegenwart Archiv des Völkerrechts Australian Yearbook of International Law Beijing Rundschau Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (mit Angabe des Bandes) British Yearbook of International Law Europa-Archiv European Journal of International Law Encyclopedia of Public International Law Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland Far Eastern Economic Review Festschrift für... General Assembly Official Records Georgia Journal of International and Comparative Law Harvard International Law Journal Human Rights Law Journal Human Rights Quarterly International Court of Justice. Reports of Judgements, Advisory Opinions and Orders International and Comparative Law Quarterly Indian Yearbook of international affairs Jahrbuch für Internationales Recht

Abkürzungsverzeichnis

NethYBIL QIL RdC RIAA RUDH VJIL VN Y B I. L. C Y. U. N. ZaöRV ZStW

Netherlands Yearbook of International Law Questions of International Law Recueil des Cours Reports of International Arbitral Awards Revue Universelle des Droits de l'Homme Virginia Journal of International Law Vereinte Nationen Yearbook of the International Law Commission Yearbook of the United Nations Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift fur die gesamte Strafrechtswissenschaft

XIII

Schreibweise chinesischer und tibetischer Wörter Für die Umschreibung chinesischer Schriftzeichen in lateinische Buchstaben werden insbesondere zwei Transkriptionsmethoden verwendet. Zum einen die ältere Wade-Giles-Transkription, die sich noch in vielen, vor allem englischsprachigen Werken findet. Zum anderen die Pinyin-Umschrift, die seit 1979 offiziell von China verwendet wird. Da diese Arbeit von einem NichtSinologen geschrieben wurde und in erster Linie auch von Nicht-Sinologen gelesen werden wird, hat sich der Verfasser für eine Methode entschieden, wie sie auch in anderen Werken zu China und Tibet Anwendung findet. Danach werden die Eigennamen von Autoren so wiedergegeben und zitiert, wie sie in den jeweiligen Werken geschrieben werden. Geographische Bezeichnungen werden dort, wo sich die neue Umschrift bereits eingebürgert hat, in der Pinyin-Transkription wiedergegeben. So insbesondere die Namen der chinesischen Provinzen. Z. B. "Sichuan" statt der früher gebräuchlichen Form "Szechwan". Demgegenüber wird die alte Umschrift noch dort verwendet, wo sie einen größeren Wiedererkennungswert für den Leser besitzt. So z. B. "Yangtze-Fluß" statt "Changjian-Fluß" oder "Peking" statt "Beijing". Die Wiedergabe der tibetischen Namen und Bezeichnungen orientiert sich nicht an den phonetischen Lauten, sondern ebenfalls an der Schreibweise, die sich überwiegend in der ausgewerteten Literatur etabliert hat.

A. Einführung I. Fragestellung und Aufbau der Arbeit Thema der vorliegenden Untersuchung ist das Aufbegehren der Tibeter gegen die chinesische Herrschaft mit ihrer Forderung nach Unabhängigkeit und die damit verbundene Frage, inwieweit und mit welchen Konsequenzen das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die Tibeter anwendbar ist. Ausgangspunkt für die tibetischen Forderungen ist Tibets gegenwärtige politische Lage. Sie geht zurück auf den Einmarsch chinesischer Truppen im Jahr 1950. Seit diesem Zeitpunkt ist das traditionelle tibetische Siedlungsgebiet faktisch vollständig in die Volksrepublik China (VRC) eingegliedert. Es wird sich jedoch zeigen, daß auch die historischen Beziehungen beider Nationen vor 1950 für die völkerrechtliche Beurteilung des tibetischen und des chinesischen Standpunktes von erheblicher Bedeutung sind. Die Thematik der einzelnen Kapitel gliedert sich wie folgt: In Teil B. wird zunächst auf die Diskussion zum Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts eingegangen. Danach werden die Grundlagen zum Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts in Teil C. dargestellt. An diese allgemeinen Teile schließt sich Kapitel D. mit dem eigentlichen Problem der Arbeit an, der Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts auf die Tibeter. Dabei wird die Antwort nicht durch eine pauschale Subsumtion unter allgemeingültige Kriterien, sondern durch Aufspaltung des Selbstbestimmungsrechts in verschiedene Anwendungsbereiche gesucht. Dies geschieht durch die Bildung von Fallgruppen und ihre Projektion auf entsprechende Aspekte des Tibet-Problems. Zuvor soll in dieser Einführung eine kurze Beschreibung der beiden Pole stattfinden, zwischen denen sich diese Arbeit entfaltet, nämlich der Tibet-Problematik einerseits und der Doktrin zum Selbstbestimmungsrecht andererseits. Daher ist zuerst die Geschichte und Geographie Tibets und das darin zum Ausdruck kommende komplizierte Verhältnis zu China darzulegen. Daran schließt sich eine Skizzierung des Selbstbestimmungsrechts und seiner Bedeutung für die Tibet-Frage, unter Bezugnahme auf die bisherige Literatur zu diesem Thema, an. Als verbindendes Glied zwischen diesen beiden Polen ist an dieser Stelle aber auch die UNO zu berücksichtigen, deren Organen, insbesondere dem Sicherheitsrat (SichR) und der Generalversammlung (GA), durch ihre

2

Einführung

Resolutionen besondere Bedeutung für die Ausgestaltung des Völkerrechts zukommt. Daher endet die Einfuhrung mit einem Überblick über die Behandlung des Tibet-Problems innerhalb der UNO. Da diese Einführung nur zur Orientierung dienen soll, mag vorweg für weitere Einzelheiten auf die einschlägigen Stellen im weiteren Verlauf der Untersuchung verwiesen werden.

II. A n n ä h e r u n g a n die Tibet-Frage 1. Tibets Verhältnis zu China bis 1950 Der völkerrechtliche Status Tibets vor der im Jahre 1913 erstmals erfolgten Unabhängigkeitserklärung wirft bereits Fragen auf, die noch in der heutigen Diskussion eine Rolle spielen. Sowohl die tibetische als auch die chinesische Seite führen ihre Position auf die Interpretation jahrhundertelanger gegenseitiger Beziehungen zurück, jedoch mit sehr unterschiedlichen Schlußfolgerungen. Nach chinesischer Lesart hat China seit dem 13. Jahrhundert kontinuierlich Souveränität über Tibet ausgeübt. 1 Die tibetische Position geht demgegenüber von der ununterbrochenen Staatlichkeit Groß-Tibets seit dieser Zeit aus. 2 Die Einschätzung des tibetischen Status schwankt demnach zwischen den zwei Extremen, Tibet sei ein besetzter beziehungsweise annektierter Staat einerseits, sowie Tibet sei schon seit dem 13. Jahrhundert ein Bestandteil des chinesischen Territoriums gewesen, der 1950 rechtmäßig wieder eingegliedert wurde, andererseits. Zum Verständnis dieser Widersprüche erscheint es daher erforderlich, dem Leser einen kurzen Abriß des geschichtlichen Prozesses zu geben. 3

1 So Brief des chinesischen Botschafters in Bonn an Petra Kelly in Kelly/Bastian/Ludwig S. 37 ff; Tibetweißbuch S. 3 ff; Tang Chi 'an in Tibet Studies 1/1989, 62-69; Dorje Tsedain in BR 9/1992, 27. 2 So nach ausführlicher Herleitung v. Walt (1) S. 140, 188; ebenso Shakabpa in seiner Darstellung der einzelnen Perioden; ebenso der Dalai Lama in seiner Autobiographie S. 75. 3 Die Darstellung der historischen Abläufe beruht im wesentlichen auf Standardlehrwerken zur übetischen Geschichte: Zur allgemeinen Geschichte Tibets aus tibetischer Sicht die Werke von Shakabpa und v. Walt (1). Aus europäischer Sicht: Bell (1) und Richardson. Aus chinesischer Sicht: Tieh-tseng Li\ Shen/Liu: Tibetweißbuch der VRC. Für das 18. Jahrhundert insbesondere Petech. Für die Zeit zwischen 1912 und 1950 Goldstein und Avedon. Zur Frage des Status auch der Tibetbericht der Internationalen

Einführung

3

Dabei ist der Dissens über historische Fakten und ihre Auslegung zu berücksichtigen. Ohne die juristische Bewertung vorwegzunehmen wird durch die bloße Darstellung dieser Hintergründe das Verständnis für die Problemlage und den heutigen Diskussionsstand erleichtert. 1.1. Traditionelle sino-tibetische Beziehungen bis 1911

Die Beziehungen zwischen Tibet und China reichen bis in die Anfänge der tibetischen Geschichte zurück. Die erste Vereinigung tibetischer Nomadenstämme wird auf das 7. Jahrhundert datiert. In den nachfolgenden Jahrhunderten gab es einerseits eine Eheschließung zwischen dem tibetischen und dem chinesischen Herrscherhaus, andererseits aber auch machtpolitische Rivalitäten, die zu militärischen Auseinandersetzungen führten. Im 13. Jahrhundert eroberten die Mongolen unter Chingis Khan große Teile Zentral- und Ostasiens und gründeten auf dem okkupierten chinesischen Thron die Yuan-Dynastie (der chinesische Name darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß es sich um eine Fremdherrschaft handelte). Unter Abwendung eines militärischen Übergriffes auf Tibet wurde zwischen Tibet und den dem tibetischen Buddhismus zuneigenden Mongolen ein System errichtet, dessen äußeres Merkmal eine Tributpflicht Tibets gegenüber dem von den Mongolen beherrschten China war. Daneben hatte das Verhältnis aber vor allem einen religiöspolitischen Inhalt, der von beiden Parteien jeweils unterschiedlich interpretiert wird. 4 Nach tibetischer Auslegung lag in der damals begründeten Beziehung keine Unterordnung beziehungsweise kein Souveränitätsverlust Tibets. Vielmehr habe lediglich ein spirituell geprägtes Band zum jeweiligen chinesischen Herrscherhaus bestanden, aufgrund dessen für die chinesischen Kaiser lediglich militärische Schutzpflichten entstanden seien. Nach chinesischer Ansicht war Tibet seit dem 13. Jahrhundert ein Vasall und damit unter Chinas Souveränität. Beide Seiten unterlegen ihre jeweiligen Interpretationen mit der Prämisse einer Kontinuität dieser Beziehungen bis in das 20. Jahrhundert. Doch bereits die Kontinuitätsidee wird von den meisten westlichen Autoren nicht geteilt. Dadurch entsteht ein Problem für die zeitliche Anknüpfung zur Beurteilung der Statusfrage. Darauf wird unter D. II. 2.1. einzugehen sein. Juristenkommission von 1959 S. 75 ff, sowie von 1960 S. 139 ff. Im übrigen sei auf die Werke und Aufsätze in den jeweiligen Fußnoten verwiesen. 4 Dazu ausfuhrlich mit Nw. unter D. II. 2.1. S. 108 ff.

4

Einführung

Für zusätzliche Verwirrung sorgte der Anfang des 20. Jahrhunderts von britischen Diplomaten benutzte Begriff der Suzeränität (im Deutschen oft als "Oberhoheit" übersetzt).5 Ab 1907 wird dieser Begriff immer wieder in offiziellen Dokumenten für das sino-tibetische Verhältnis verwendet.6 Allerdings lassen weder der historische Sprachgebrauch noch die britische Umschreibung einer "tibetischen Autonomie" beziehungsweise "Selbstregierung unter chinesischer Suzeränität" eine eindeutige Statusfestlegung zu.7 Auf der Simla-Konferenz von 1913/14 wurde die chinesische Anregung, den Begriff Suzeränität zu definieren, von dem britischen Verhandlungsleiter McMahon sogar mit der Begründung zurückgewiesen, daß selbst in der Völkerrechtsdogmatik keine Definition dieses Begriffes zu finden sei.8 Im übrigen wurde der Begriff, obwohl er schließlich Eingang in die Simla-Konvention fand, sowohl von tibetischer wie chinesischer Seite abgelehnt.9 Zutreffender für das sino-tibetische Verhältnis während dieser Zeitspanne scheint die heutige Einordnung einiger westlicher Autoren zu sein. Danach werden die äußerlich vom Tributsystem geprägten Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarvölkern als Verhältnis sui generis bezeichnet, die einer Einordnung unter heutige Völkerrechtskategorien nicht zugänglich sind. Gleichwohl haben viele Autoren eine zumindest annähernde Einordnung der sino-tibetischen Beziehungen vorgenommen, indem sie die verschiedenen Phasen der wechselhaften tatsächlichen Machtverhältnisse einzuordnen versuchten.10 Hier ist insbesondere 5

Zum ersten mal verwendet vom britischen Vizekönig Indiens Lord Curzon: vgl. Tiehtseng Li S. 83; 1904 aufgegriffen von Younghusband: Younghusband S. 305; vgl. auch Tieh-tseng Li S. 96, 104. 6 So: im britisch-russischen Vertrag von 1907 (Text bei v. Walt (1) S. 307 f); in der Simla-Konvention von 1914 (Text bei v. Walt (1) S. 322 ff). 7 Vgl. dazu die allgemeinen Ausfuhrung bei Alexandrowicz-Alexander in AJIL 48/1954, 265 ff einerseits und v. Walt (1) S. 106 f, 138 andererseits. Vgl. zur Umschreibung ein britisches Schreiben von 1912 an den Dalai Lama bei Bell (1) S. 136 sowie ein britisches Memorandum an China von 1921 bei v. Walt (1) S. 64. Allerdings kommen verschiedene Autoren zu dem Ergebnis, daß die britische Haltung die Staatlichkeit Tibets intendierte: Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S. 151 f; RamaRao S. 227, 240; ähnlich Richardson S. 123. 8 N. N. (Boundary Question) S. 102. 9 Zur tibetischen Ablehnung vgl. den Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1959 S. 92; Richardson S. 103, 123; Bell (1) S. 125 f. Zur chinesischen Haltung bei: Tieh-tseng Li in AJJL 50/1956, 394 f; Yü Fan bei Cohen/Chiu S. 399; Internationale Juristenkommission a.a.O. S 92. 10 Vgl. dazu im einzelnen mit Nachweisen S. 113 ff.

Einführung

5

die Phase vom 18. bis 19. Jahrhundert von Interesse. Während dieser Zeitspanne hatten die Manchus den chinesischen Thron unter dem Namen Ching-Dynastie inne. Für diesen Zeitraum kann festgestellt werden, daß das Ausmaß der tatsächlichen Einflußnahme der Manchus auf die tibetische Politik Schwankungen unterlag: Insbesondere im 18. Jahrhundert konnte China seinen Einfluß infolge einer inneren Schwächung Tibets durch die Einsetzung zweier Hochkommissare (Ambane) in Tibet mit weitreichenden Machtbefugnissen ausbauen. Allerdings mußte China in diesem Jahrhundert insgesamt viermal intervenieren (1721, 1728, 1751 und 1793), um seine zwischenzeitlich geschwächte Einflußmöglichkeit wieder zu stärken. Das 19. Jahrhundert wurde dann durch den Einfluß der britischen Kolonialmacht unter gleichzeitigem Verlust chinesischer Einflußmöglichkeiten auf Tibet geprägt. So erkannte Großbritannien im Rahmen seiner Außenpolitik gegenüber China und Rußland zwar formal die Oberhoheit (Suzeränität) Chinas über Tibet an, mußte aber zugleich in direkte Vertragsverhandlungen mit Tibet treten, um einen Zugang zum tibetischen Territorium zu erhalten. In dieser Zeit schloß Großbritannien in bezug auf Tibet mehrere einander teilweise widersprechende Verträge mit Rußland, China und auch Tibet selbst. Da diese Verträge jedoch in erster Linie die kolonialen Interessen Großbritanniens in Indien absichern sollten, ist ihr Wert für die statusrechtliche Beurteilung Tibets zweifelhaft. 11 Trotz vieler Unterschiede stimmen die meisten Autoren in ihrer Bewertung der letzten Phase der traditionellen sino-tibetischen Beziehungen vor 1911 überein. Demnach ähnelte der Status Tibets dem eines Protektorates unter chinesischer Schutzherrschaft. 12 1.2. Die Zeit tibetischer Autarkie (1912-1950)

Der Beginn des 20. Jahrhunderts markiert die vorletzte Phase sinotibetischer Beziehungen. Im Jahr 1910 marschierten chinesische Truppen in Lhasa, der Hauptstadt Tibets, ein. Sie wurden aber 1911 wieder

11

Zu Inhalt und Bewertung dieser Verträge fur die Frage nach dem Status Tibets vgl. S. 116 ff. 12 So Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1959 S. 83; Petech S. 226, 234, 260; Alexandrovicz-Alexander in AJIL 48/1954, 270; Richardson S. 50, aber einschränkend S. 76; Tieh-tseng ¿/spricht vom Status eines Pufferstaates: S. 124.

6

Einführung

von den Tibetern vertrieben. Im Jahre 1912 proklamierte der Dalai Lama die tibetische Unabhängigkeit. Auch nach 1912 hielt China an seinen Ansprüchen auf Tibet fest .13 Eine vertragliche Regelung zwischen Tibet und China unter Vermittlung Großbritanniens auf der Simla-Konferenz von 1913/14 scheiterte an den Gebietsansprüchen Chinas.14 Einer militärischen Aktion Chinas standen jedoch innenpolitische Hindernisse entgegen. Zunächst war China durch die Konstituierung als Republik mit sich selbst beschäftigt. Ab 1916 begann die Periode der Warlords, die durch den Abfall zahlreicher chinesischer Provinzen unter jeweiliger Führung von Warlords (Kriegsherren) gekennzeichnet war. Später mußte sich das wieder geeinte NordChina ab 1937 japanischer Invasionen erwehren und wurde so auch in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen. Daher kam es nur zu sporadischen Grenzkonflikten Tibets mit den weiterhin selbständigen früheren Ostprovinzen Chinas. So entstand eine Phase der Konsolidierung, die bis 1950 andauern sollte. Die politische "Einigung" Chinas durch die Kommunisten brachte die Wende. Von 1946-49 herrschte in China Bürgerkrieg. Aus diesem gingen die Kommunisten als Machthaber hervor und riefen am 1.10.1949 die Volksrepublik China (VRC) aus. In den darauffolgenden Monaten brachten ihre Truppen auch die äußersten Ostprovinzen Sichuan und Qinghai unter ihre Kontrolle. Damit hatte das wieder geeinte China erneut eine direkte Grenze zu Tibet. Mit der anschließenden Militärintervention im Jahre 1950, die zur faktischen Eingliederung Tibets führte, begann die moderne und vorerst letzte Phase der sino-tibetischen Beziehungen. 1.3. Fragestellungen zum Status Tibets

Zumindest in der Zeit von 1912 bis 1950 übte China keine Kontrolle über Zentral-Tibet aus. Der gegenwärtige Status wurde in den fünfziger Jahren mit militärischen Mitteln von Seiten Chinas herbeigeführt. Jedenfalls im Verhältnis zwischen Staaten wird die Gewaltanwendung aber vom Völkerrecht geächtet. Die rechtliche Beachtlichkeit einer so entstandenen Situation ist daher sehr strittig. Unter der Prämisse eines 11

Nw. bei v. Walt(l) S. 49 ff, Vgl. dazu insbesondere die Monographie von Pochhammer. Im Übrigen auch: Richardson S. 107 ff; Bell (1) S. 174 f; Goldstein S. 68 ff; v. Walt (1) S. 54 ff. 14

Einführung

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konsolidierten Zustandes wird eine Legalisierung solcher Situationen jedoch für zulässig erachtet. Allerdings sind auch hier die Voraussetzungen im einzelnen umstritten. Die Frage der Reichweite des Gewaltverbotes sowie der Wirksamkeit von Annexionen wird daher bei der späteren Erörterung des Selbstbestimmungsrechts als Abwehrrecht und Restitutionsanspruch eingehend zu behandeln sein. Das Problem völkerrechtswidriger Gewaltanwendung liegt im übrigen aber nur dann vor, wenn die chinesischen Truppen bei ihrem Einmarsch in Tibet 1950 die Souveränität eines anderen Staates beziehungsweise Völkerrechtssubjektes mit staatsähnlichen Rechten verletzt haben. Die Alternative wäre, daß Tibet keine solche völkerrechtlich geschützte Rechtsposition erlangt hat. In letzterem Fall wäre die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts zumindest nach der klassischen Doktrin zu diesem Institut zweifelhaft. Auch auf diese ursprüngliche Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts und seine Ausweitung in Doktrin und Praxis wird im Verlauf der Untersuchung unter C. und D. noch näher eingegangen werden. Die juristische Bewertung der gegenwärtigen Situation hängt demnach maßgeblich von der Vorfrage ab, ob Tibet in der Zeit vor 1950 ein unabhängiger Staat war oder nicht. Diese Frage wirft wiederum neue Probleme auf, die in dieser Einfuhrung nur kurz skizziert werden können. So wird dem Regime in Zentral-Tibet nicht nur von chinesischer Seite her bestritten, daß Tibet vor 1950 die Attribute eines Völkerrechtssubjektes mit eigener Staatlichkeit besaß. Damit entsteht zugleich die Frage, ob nicht bereits die tibetische Unabhängigkeitserklärung von 1913 ihrerseits die territoriale Souveränität Chinas verletzt hat und daher selbst als völkerrechtswidriger und damit unbeachtlicher Akt anzusehen ist. Die Anforderungen an eine tibetische Eigenstaatlichkeit nach 1913 und die Erfüllung dieser Voraussetzungen werden daher ebenfalls zu den Problemfeldern dieser Arbeit gehören. 2. Tibet - geographischer, ethnischer und politischer Begriff

Tibet liegt in Zentralasien auf dem Gebiet der VRC an der Grenze zu Indien. Eine nähere Eingrenzung bedarf jedoch der Differenzierung, denn der Begriff Tibet bezeichnet sowohl ein geographisches und ethnisches als auch ein politisches Territorium.

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Das geographische Tibet wird zum größten Teil durch die Ausdehnung eines Hochplateaus im Himalaja definiert.15 Die tibetische Hochebene wird nahezu vollständig von Bergketten eingegrenzt, nur im Osten ist die geographische Abgrenzung schwieriger. Die zusätzliche Unterscheidung zwischen einem ethnischen und einem politischen Tibet wird auf Charles Bell zurückgeführt.16 Sie ist von den meisten nachfolgenden Autoren übernommen worden.17 Das ethnische Tibet umfaßt das gesamte traditionelle Siedlungsgebiet der Tibeter. Dieses Areal ist größer als die geographische Region Tibet. Zum einen werden davon Gebiete jenseits der südlichen Grenze zu Indien erfaßt. Insbesondere dehnt sich dieses Gebiet aber sehr viel weiter nach Osten aus.18 Das politische Tibet ist in seinen Grenzen nur schwer zu bestimmen, da die rechtliche Wirksamkeit der gegenwärtigen und früheren Grenzfestlegungen durchaus Zweifeln ausgesetzt ist. Die Geschichte Tibets als politische Einheit geht vermutlich bis in das 7. Jahrhundert n. Chr. zurück, in dem die tibetischen Stämme zum ersten Mal geeint worden sein sollen. Zwischen dem 7. und dem 20. Jahrhundert wechselte mit der Stärke der jeweiligen Einflußmöglichkeit auch die Ausdehnung der tibetischen und der chinesischen Einflußzonen. Allein die Vorgänge im 20. Jahrhundert bieten mehrere Möglichkeiten, eine territoriale Grenzziehung zu treffen: Zunächst kommt eine Anknüpfung an die Grenzen der heutigen Autonomen Region Tibet in Betracht. Allerdings handelt es sich dabei um rein administrative Grenzen innerhalb des chinesischen Staatsverbandes.19 Sodann besteht die Möglichkeit, an die Grenzen des Gebietes anzuknüpfen, das die tibetische Regierung nach Ausrufung der tibetischen Unabhängigkeit 1913 bis zum Einmarsch chinesischer Truppen 15

Dazu bei Shen/Liu S. 9 f. Bell (1) S. 6. 17 So Richardson S. 1 ff (mit Karte); Shen/Liu S. 10 f; Karan S. 5 Fn. 1; v. Walt (1) S. 3 (Karte). 18 Vgl. die Karten bei v. Walt (1) S. 3; Richardson S. 2; Peissel S. xi. Bei den Regionen südlich der jetzigen Grenze handelt es sich um Gebiete, die erst durch Verträge in den Jahren 1886 und 1914 an Britisch-Indien fielen. Heute herrscht um diese Gebiete Streit zwischen Indien und der VRC, die diese Abtretungen nicht anerkennt. Vgl. dazu unten S. 130 Fn. 143. 19 Vgl. dazu Karte (1) im Anhang. 16

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1950 faktisch regierte. Es handelt sich dabei um eine durch mehrere Waffenstillstandsverträge konsolidierte Grenzlinie, die von 1918 bis 1950 Bestand hatte. Der Umfang dieses Gebiets deckt sich nahezu vollständig mit dem der heutigen Autonomen Region Tibet. 20 Im Jahr 1914 sollte auf der Simla-Konferenz zwischen Tibet, China und Großbritannien unter anderem auch eine Festlegung der Grenzen Tibets vereinbart werden. Die damals Tibet zugeordnete Region ähnelt in ihrem Ausmaß der geographischen Gebietsbezeichnung. Allerdings sollte dieses Gebiet ähnlich der Mongolei in ein inneres- und ein äußeres Tibet getrennt werden. Eine autonome Regierung unter der "Oberhoheit" (Suzerainty) Chinas wurde aber nur dem äußeren Tibet zugestanden, bei weitergehenden Rechten Chinas für das innere Tibet. Diese Vereinbarung wurde jedoch nur von britischer und tibetischer Seite unterzeichnet. Somit blieb es im Verhältnis zu China bei der faktischen Grenzlinie. 21 Das sog. historische Tibet schließlich ist dasjenige Gebiet, das die Tibeter selbst unter dem Begriff Tibet verstehen. 22 Es wird in dieser Arbeit auch als Groß-Tibet bezeichnet. Dieses Gebiet war in drei Provinzen (Ü-Tsang, Kham und Amdo) unterteilt. 23 Ein kartographischer Vergleich dieses Gebietes mit dem des ethnischen Tibet ergibt, daß diese Areale nahezu identisch sind.24 Das historische Tibet wäre damit etwa doppelt so groß wie die heutige autonome Region Tibet, die nur noch die Provinz Ü-Tsang sowie das westliche Kham umfaßt. Für die Provinz Ü-Tsang wird auch der Begriff Zentral-Tibet verwendet. 25 Die von pro-tibetischer Seite erhobenen Statusforderungen beziehen sich immer 20

Vgl. zum tibetischen Staatsgebiet nach 1913 S. 130 ff. Vgl. zum Grenzvorschlag von 1914: Karte (2) im Anhang. Vgl. im einzelnen zu Inhalt und Wirksamkeit der Simla-Konvention S. 118 f sowie S. 124, 130. 22 Vgl. Karte (1) im Anhang Die Bezeichnung historisches Tibet findet sich zum Beispiel bei v. Walt (1) S. xxv (Karte übernommen von Avedon) und S. 264 Fn. 2. Da die Frage der völkerrechtlichen Gebietszuordnung problematisch ist, bezeichnet die Karte (1) im Anhang diese Region als sog. historisches Tibet. Im Text wird im folgenden diese Region als Groß-Tibet bezeichnet. 23 So: Shakabpa S. 2, v. Walt (1) S. xxv; Peissel S. xi. Eine andere Provinzaufteilung findet sich aber bei Petech S. 254 und Shen/Liu S . l l . Letzteres liegt wahrscheinlich an der unterschiedlichen Auffassung über das Ausmaß der tatsächlichen Kontrolle Lhasas über die nördlichen- und westlichen Grenzgebiete. 24 So bei v. Walt (1) ein Vergleich zwischen den Karten S. xv und 3; exlizit so Peissel S. xi. 25 So Shen/Liu S. 11; v. Walt (1) S. 158; ffool S. 35 f. Zum tibetischen Wortpendant v. Walt (1) S. 5. Bell bezeichnet die Region Ü-Tsang als das eigentliche Tibet: (1) S. 15. 21

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auf Groß-Tibet. 26 Begründet werden diese Gebietsansprüche damit, daß diese Gebiete vor dem 20. Jahrhundert von der tibetischen Regierung regiert wurden. 27 Tatsächlich ist von tibetischer Seite kontinuierlich Anspruch auf diese Gebiete erhoben worden, so in der 1913 vom Dalai Lama proklamierten Unabhängigkeitserklärung 28 , auf der Simla-Konferenz im Jahre 191429, gegenüber der Republik China 194530 sowie während informeller Kontakte der Exiltibeter zur Regierung der VRC 1981 und 198431. Allerdings wird ein historischer Gebietsanspruch Tibets über diese Regionen von zahlreichen Autoren bestritten. 32 Die VRC betrachtet die an die Autonome Region Tibet angrenzenden Gebiete als außerhalb Tibets gelegen. Nach ihrer Geschichtsinterpretation hat sich im Zuge historischer Veränderungen dort eine Bevölkerung tibetischer Ethnizität niedergelassen. 33 Wie sich aus der Karte (1) im Anhang ergibt, sind die in dieser Arbeit als Rest-Tibet bezeichneten Regionen administrativ in die Provinzaufteilung der VRC aufgegangen. Das von den Tibetern Amdo genannte Gebiet ist unter den Chinesen fast vollständig als eigenständige Provinz Qinghai organisiert worden. Das Gebiet des östlichen Kham wurde verschiedenen angrenzenden chinesischen Provinzen zugeschlagen. Allerdings wurden diese angrenzenden Gebiete in den Jahren 1951-1967 als "autonome" Bezirke und Kreise innerhalb der jeweiligen Provinzen organisiert, so daß die ge-

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Der Dalai Lama bezieht seine Vorschläge schlicht auf "ganz Tibet", meint damit aber das historische Tibet. Sowohl in dem von ihm vor dem US-Kongreß 1987 vorgetragenen 5-Punkte-Plan, als auch in seiner Erklärung vor dem EG-Parlament 1988 hat er sich auf dieses Gebiet bezogen: vgl. Autobiographie des Dalai Lama S. 304, 316. Entsprechend auch in der Botschaft Seiner Heiligkeit des Dalai Lama zum 36. Jahrestag des Aufstandes vom 10.3.1959 vertrieben vom Office of Tibet (Zürich). So auch der Außenminister der tibetischen Exilregierung in einem Interview: Tibet-Forum 1/1996, 8. Vgl. auch v. Walt (1) S. 156; ders. (2) S. 295 Fn. 95. 11 So v. Walt (2) S. 295 Fn. 95; Tibetan Young Buddhist Association: Tibet-The Facts S. 1, 5, 27 sowie die Karte im Einband; International Alert Tibet-Deklaration 1990 S. 13; vgl. auch Peissel S. xi. 28 Text bei v. Wa/t(l) S. 318 f. 29 Zu der chinesischen und tibetischen Position in der Grenzfrage vgl.: N. N. (Boundary Question) S. 4, 14 f, 23 ff; Richardson S. 107 f; Bell (1) S. 174; Shakabpa S. 252; Goldstein S. 68 und Karte 6. 30 Vgl. v. Walt (l)S. 83. 31 Zu den Forderungen nach administrativer Wiedervereinigung innerhalb der VRC vgl. Dawa Norbu in Tibetan Review 4/1992, 14. 32 Vgl. zum Status dieser Regionen eingehend unter D. IV. 2.2. und 2.3. 33 Tibetweißbuch S. 57.

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schlossenen Siedlungsgebiete der Tibeter administrative Sonderrechte genießen. 3 4 3. Aktuelle Situation Tibets 3.1. Die Eingliederung Tibets in die Volksrepublik Zur formellen Legitimation des militärisch herbeigeführten Anschlusses Tibets w u r d e 1951 zwischen Vertretern Tibets und Chinas das sog. 17P u n k t e - A b k o m m e n unterzeichnet. Darin w u r d e die "Rückkehr Tibets zum chinesischen Mutterland" festgestellt, den Tibetern aber auch eine, zumindest auf d e m Papier, weitreichende A u t o n o m i e in inneren Angelegenheiten zuerkannt. Wie noch aufzuzeigen sein wird, ist j e d o c h die Wirksamkeit dieses A b k o m m e n s in mehrfacher Hinsicht zweifelhaft. 3 5 Im M ä r z 1959 k a m es zum ersten g r o ß e n Aufstand der tibetischen Bevölkerung g e g e n die chinesischen Machthaber, in dessen Verlauf der Dalai Lama mit ca. 85.000 Tibetern nach Indien ins Exil floh. In der nachfolgenden Zeit wurden von beiden Seiten einschneidende M a ß n a h men getroffen: N o c h 1959 w u r d e Zentral-Tibet in acht neue Verwaltungszonen unterteilt, und diese wurden wiederum in dreiundsiebzig Bezirke untergliedert. 3 6 Mit dieser Dezentralisierung ging eine starke V e r ä n d e r u n g des Sozial- und Wirtschaftssystems in diesen Z o n e n einher, die unter dem Schlagwort "demokratische Reformen" durchgeführt wurde. 3 7 Im September 1965 w u r d e formell die heutige " A u t o n o m e Region Tibet" errichtet, die neben den zahlreichen Provinzen nur eine von f ü n f a u t o n o m e n Regionen innerhalb der V R C ist. Als Rechtsgrundlage f ü r die in diesen Regionen praktizierte Politik dient inzwischen das Gesetz über die Gebietsautonomie der Nationalitäten der V R C vom 31. Mai 1984. 3 8 Die an die A u t o n o m e Region Tibet angrenzenden Gebiete

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Vgl. auch S. 184 f. Anzahl und Namen der Regionen bei Jing Wei: 100 Fragen S. 102; kartographische Darstellung in: Times-Atlas of China S. xxxvif. Zur zeitlichen Entstehung: ai-Report (1) S. 15, 18 ff sowie Report (2) S. 9, 13. Entsprechende Regionen sind auch für andere Gebiete eingerichtet worden, in denen mehrheitlich Angehörige sonstiger nationaler Minderheiten leben; vgl. ebenfalls Times-Atlas of China a.a.O. 5 Zu Inhalt und Wirksamkeit des Abkommens S. 139 ff. 36 Dazu Hool S. 41; Avedon S. 223; Tomson S. 233. 37 Vgl. Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 749; Hool S. 42 f. 38 Text und Kommentar bei Heberer in China aktuell, Oktober 1984, 601 ff. Nach dem Bericht der österreichischen Expertendelegation S. 15 Zif. 30 soll es zu diesem Gesetz

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mit mehrheitlich tibetischer Bevölkerung sind als autonome Bezirke innerhalb der Provinzen organisiert, in denen sie liegen. In diesen Regionen wurde bereits 1950 mit einer Umstrukturierung der Gesellschaft nach sozialistischem Modell begonnen. Nach seiner Flucht 1959 rief der Dalai Lama abermals die tibetische Unabhängigkeit aus und gründete eine Exilregierung, die auch eine neue Verfassung für Tibet nach demokratischen Grundsätzen ausarbeitete. Soweit unter den Bedingungen des Exils möglich, haben die neuen Organe ihre Tätigkeit in der Folgezeit aufgenommen. Sie treffen Entscheidungen für die tibetischen Exilgemeinden in Indien. Allerdings hat bislang kein Staat die Exilregierung anerkannt. 39 3.2. Autonomie und Freiheitsrechte für die Tibeter ?

Im Jahr 1980 fand eine Neubestimmung der chinesischen Tibetpolitik statt. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) und sein Generalsekretär gaben neue Richtlinien bekannt, mit denen politische und wirtschaftliche Fehler wiedergutgemacht werden sollten. 40 Chinesische Autoren sprechen von einer Vorzugspolitik gegenüber Tibet. 41 Auch westliche Kritiker räumen ein, daß die chinesischen Investitionen größer sind als die Rückflüsse. 42 Dennoch wird die Tibetpolitik im Ergebnis eher schlecht beurteilt. Denn "was nützt es schon, wenn die Mägen halbwegs voll, die Seelen aber leer sind?"43 Als Grund für die negative Beurteilung wird zum einen auf Mängel bei der Umsetzung der Autonomiepolitik verwiesen. 44 Aber bereits das Autonomieverständnis der VRC selbst begegnet der Kritik. Allerdings muß hier einschränkend vermerkt werden, daß das Völkerrecht keine auch eine Durchführungsverordnung geben, die der Delegation jedoch trotz entsprechender Bitte nicht zur Verfugung stand. 39 Vgl. zur Exilsituation mit Nachweisen S. 153 ff. 40 Dazu insbesondere Schier in China aktuell, Juni 1980; 481 ff; auch Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 750 f. 41 So zur Politik der Selbstverwaltung: Soinam Norbu in BR 15/1992, 17 ff; Tibetweißbuch S. 37. Zur Wirtschaftsförderung: Dorje Tsedain in BR 9/1992, 25; Tibetweißbuch S. 61 und 63; Zheng/Xeirab in BR 8/1992, 26. 42 Weggel in China aktuell, Juni 1991, 361; Hool S. 66, 93, die aber auch für die Wirtschaftsentwicklung Tibets eine negative Bilanz zieht: S. 72 f. 43 Weggel in China aktuell, Dezember 1973, 759. 44 So Hool S. 94.

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Legaldefinition des Begriffes "Autonomie" kennt. Als Wesensimmanent wird man aber die alleinige Entscheidungskompetenz eines lokalen Organs über bestimmte, rein lokale Fragen ansehen müssen. Die Internationale Juristenkommission nennt hier als Beispiele Fragen des Schulwesens, der Sprache und der Landnutzung. 45 Die chinesische Verfassung bestätigt in Artikel 4 Absatz 4 das Recht aller Nationalitäten auf eigene Sprache, Schrift, Sitten und Gebräuche. Für die "Autonomen Regionen" sowie die Autonomen Bezirke und Kreise innerhalb der Provinzen enthält das Autonomiegesetz von 1984 weitere Regelungen, die jedoch zum Teil lediglich als "Soll-Bestimmungen" formuliert sind und zugleich in Relation zum Grundprinzip der nationalen Einheit gestellt werden. 44 Für die in China praktizierte "Autonomie" ist dabei auf das in Artikel 3 Absatz 1 der chinesischen Verfassung von 1982 verankerte Prinzip des demokratischen Zentralismus zu verweisen. Dieses Prinzip beinhaltet die Unterordnung der unteren unter die höhere Staatsebene sowie des Einzelnen unter die Organisation. Dies bedeutet auch eine Subordination der Autonomie unter die Interessen des Gesamtstaates und der KPC. 47 Von daher bedarf jede abweichende Regelung der Bestätigung durch das nächsthöhere Staatsorgan und die lokalen Selbstverwaltungsorgane sind den Organen des Gesamtstaates „ verantwortlich und rechenschaftspflichtig",48 Unter der in China praktizierten Autonomie darf man sich somit keine Selbstverwaltung im föderalen Sinn vorstellen. Entsprechend dem oben dargestellten Verfahren ist die Politik der Selbstverwaltung immer auch Politik des Zentralstaates. Auf dieser Grundlage ist auch der Autonomiestatus Tibets zu beurteilen. Der Bericht der österreichischen Expertendelegation, die 1992 auf Anregung der chinesischen Regierung die Autonome Region Tibet bereiste, kommt in ihrer Analyse zu dem Schluß, den Rechtsvorschriften sei nicht zu entnehmen, daß Tibet eine separate Entwicklung zur Wah45

Tibetbericht von 1997 S. 83. Text des Autonomiegesetzes bei Heberer in China aktuell, Oktober 1984, 601 ff. Vgl. zu weiteren Einzelheiten auch S. 278. 47 Dazu Heberer in China aktuell, Oktober 1984, 608. 48 So: Artikel 116 und 110 der chinesischen Verfassung von 1982. Vgl. dazu auch die Artikel 15, 19, 20 des Gesetzes über die Gebietsautonomie (Text bei Heberer in China aktuell, Oktober 1984, 601 ff). 46

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rung seiner kulturellen und ethnischen Identität erfahren soll.49 Die Internationale Juristenkommission hebt als weiteren Faktor den fehlenden Einfluß von Tibetern in der Kommunistischen Partei hervor, der noch wichtiger sei als eine Beteiligung an Staatsämtern. Tatsächlich sei das Ausmaß, in dem die Tibeter ihre eigenen Angelegenheiten regeln können sehr eingeschränkt. Dies zeige sich an der Machtlosigkeit der Tibeter, der Erosion ihrer Sprache, Kultur, Religion und Umgebung entgegenzuwirken. 50 Zumindest für Zentral-Tibet, das im wesentlichen mit der heutigen Autonomen Region Tibet identisch ist, ist noch auf die Garantien des 17Punkte-Abkommens von 1951 zu verweisen. Allerdings hat diese Vereinbarung die chinesische Seite nicht davon abgehalten, die von ihr jeweils für erforderlich gehaltenen "Reformen" in Tibets Verwaltung und Gesellschaft durchzufuhren. Die Internationale Juristenkommission stellte daher fest, daß China seine Verpflichtungen aus dem Abkommen in einem so großen Umfang verletzt hat, daß die tibetische Seite allein deswegen schon zu der später erklärten Kündigung des Abkommens berechtigt war. 51 Auch die individuellen Freiheitsrechte der Tibeter unterliegen starken Beschränkungen. Allerdings handelt es sich dabei teilweise um ein systemimmanentes Problem, von dem alle Nationalitäten in der Volksrepublik betroffen sind. Auf dieses Thema wird noch ausfuhrlich in Kapitel D. Abschnitt V. einzugehen sein. Besonderes Augenmerk verdient dabei das Recht auf Religionsfreiheit. Gerade auf diesem Gebiet ist es im Anschluß an das in Peking abgehaltene "Dritte Forum über die Arbeit in Tibet" 1994 zu verschärften Restriktionen und Eingriffen gekommen, die seit 1996 noch ausgeweitet wurden. 52 Es scheint derzeit so, als wenn im Anschluß an die behutsamere Vorgehensweise nach 1980 nun erneut eine offizielle Wende in der Tibet-Politik Chinas vollzogen wird, diesmal jedoch in die entgegengesetzte Richtung. 49

Bericht S. 16 Zif. 32, vgl. auch Bericht S. 26 Zif. 9. Zu einem negativen Ergebnis bei dem Vergleich zwischen dem de jure- und de facto-Status der Autonomen Region Tibet kommt auch der Bericht des Ausschusses fiir auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit der EG über die Lage in Tibet vom. 16.11. 1992, DOC-DE/RR/217331 S. 16 ff. 50 Tibetbericht von 1997 S. 98. 51 Tibetbericht von 1959 S. 99 und Tibetbericht von 1960 S. 165. Vgl. auch fiir die chinesischen Rechtfertigungen gerade in Bezug auf das Abkommen den Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 90 f. Vgl. zum Inhalt unten S. 139 f. 52 Dazu der Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 80 f.

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Ein offenes Eintreten der im Land verbliebenen Tibeter f ü r mehr A u t o nomie oder sogar Unabhängigkeit wird von der chinesischen Staatsgewalt als konterrevolutionäres Verbrechen beziehungsweise V e r s t o ß gegen die Staatssicherheit bestraft. 5 3 D e n n o c h gibt es genügend Anzeichen dafür, daß sich die Tibeter mit der chinesischen M a c h t ü b e r n a h m e noch immer nicht abgefunden haben. So k a m es insbesondere 1987, 1988 und 1989 zu g r o ß e n Unruhen in Lhasa, die 1989 zur Verhängung des Kriegsrechts über die Stadt bis Mai 1990 führten. 5 4 V o m 24 2 6 . 5 . 1 9 9 3 demonstrierten Tausende in Lhasa gegen die schlechten Lebensbedingungen und f ü r die tibetische Unabhängigkeit. Die D e m o n strationen sollen sich im Juni auch in ländlichen Regionen der A u t o n o men Region Tibet fortgesetzt haben. 5 5 G e r a d e in den Jahren 1993 und 1994 soll es zu einem Wiederaufleben der Unabhängigkeitsbewegung g e k o m m e n sein, die sich in zahlreichen D e m o n s t r a t i o n e n auch außerhalb Lhasas manifestiert hat. 5 6 Daneben finden ständig D u r c h s u c h u n g e n und V e r h a f t u n g e n wegen der Verbreitung politischer Schriften statt, in denen f ü r die Unabhängigkeit Tibets eingetreten wird. 5 7 Von chinesischer Seite wird bestritten, d a ß diese Unruhen g r o ß e n Rückhalt in der einfachen B e v ö l k e r u n g hätten. 5 8 Augenzeugenberichte lassen demgegenüber auf eine breite U n t e r s t ü t z u n g in der B e v ö l k e r u n g schließen, wobei die P e r s o n des Dalai Lama immer noch der B e z u g s p u n k t f ü r die M e n s c h e n ist. Auch die Meldungen über die Massendemonstrationen im Mai 1993 zeigen ein anderes Bild. 5 9 Chinesische Funktionäre beklagten

53 So ai-Report (1) S. 15, 18 ff, sowie Bericht (2) S. 9, 13; vgl. aus chinesischer Sicht Jing Wei: 100 Fragen S. 132. Die chinesische Rechtsordnung vebietet in Artikel 4 der Verfassung und in dem bisherigen Artikel 92 des Strafgesetzes Handlungen und Verschwörungen, die gegen die Einheit des Landes gerichtet sind. Auch im Zuge der Abschaffung des Begriffes der "konterrevolutionären Vebrechen" wird es bei der Strafbarkeit der davon erfaßten Handlungen bleiben: vgl. zur Neuregelung des Strafrechts in China: FAZ vom 15.03.1997 S. 6. Vgl. dazu auch S. 272 f und 296. 54 Eine Chronologie der Unruhen seit 1958 findet sich bei Sharma S. 40 ff; zu den früheren Unruhen vgl. Peissel S. 58 ff; auch Hool S. 50. 55 Vgl. FAZ vom 24.5.1993, 1.6.1993, 2.8.1993; Generalanzeiger für Bonn vom 26.5 1993. 56 Vgl. dazu ai-Report (6) S. 12 f. 57 Einzelheiten können den ai-Berichten entnommen werden, vgl. dazu die Nw. unten S. 272. 58 So in BR 15/1992 17 f; Jing Wei: 100 Fragen S. 136 f; vgl. auch den Bericht in der FAZ vom 2.9.1995, S 1. 59 Vgl. die Augenzeugenberichte bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 78 ff sowie die oben zitierten Zeitungsmeldungen über die Unruhen im Mai 1993.

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sich schon 1992 über "Wendehälse" unter den tibetischen Parteimitgliedern, die sich wieder dem Dalai Lama zuwendeten. Im Sommer 1996 berichtete die Zeitung "Tibet Daily" über die Entmachtung eines ranghohen Politiker Tibets wegen "separatistischer Tendenzen". 60 Beobachter der chinesischen Innenpolitik sowie chinesischer Zeitungen stellen dementsprechend in den letzten Jahren eine zunehmende Tendenz fest, die politische Anspannung in dieser Region einzugestehen und Berichte über Unruhen in Tibet offiziell zuzulassen. 61 Diese Verhaltensweise paßt jedoch nicht zu der zitierten offiziellen Sprachregelung, nach der in Tibet nur einige vom Ausland beeinflußte Separatisten ihr Unwesen treiben. Es ist demnach gerechtfertigt, nach wie vor von einem Willen der Tibeter zur Erlangung der Unabhängigkeit auszugehen. 3.3. Die politischen Forderungen der Tibeter

Wegen der beschränkten Meinungsfreiheit innerhalb der VRC ist nur die Exilregierung in der Lage, detailliertere Positionen zu beziehen und Vorschläge auszuarbeiten. Nach der 1963 in Indien ausgerufenen und 1991 revidierten provisorischen Verfassung ist der Dalai Lama das Oberhaupt der tibetischen Exilregierung. Daher sind die vom Dalai Lama der Weltöffentlichkeit vorgestellten Positionen der Fixpunkt für die Darstellung der tibetischen Forderungen. Die Haltung des Dalai Lama unterlag allerdings je nach der gegebenen politischen Situation Schwankungen: 62 Am 21.09.1987 stellte der Dalai Lama vor dem US-Kongreß seinen 5-Punkte-Plan vor, den er am 15.6.1988 vor dem EG- Parlament in Straßburg näher erläuterte. 63 Die Vorschläge beinhalteten eine Assoziierung Groß-Tibets mit der VRC. Sie vermieden den Begriff Unabhängigkeit, umfaßten jedoch die Forderung nach Mitgliedschaft Tibets in internationalen Organisationen. Der Verzicht auf volle Unabhängigkeit zugunsten weitreichender Autono60

Vgl. bereits FAZ vom 29.7.1992, S. 8 sowie FAZ vom 1.6.1996, S. 1. Vgl. über die interne Einschätzung Tibets als instabile Region bereits China aktuell, Dezember 1991, 747 sowie die Darstellung des chinesischen Präsidenten Jiang Zemin „stabil, aber mit einigen Faktoren der Instabilität": Beilage der FAZ vom 12. 11.1994. In einer Gesamtschau darauf hinweisend zum Beispiel der Kommentar in FAZ vom 1.6.1996 S. 12. 62 Vgl. auch die Gesamtdarstellung des chinesisch-tibetischen Dialogs in der 80er Jahren bei Davea Norbu in Tibetan Review Nr. 4 und 5 1992. 63 Texte z.B. bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 153 ff, 157 f; vgl. auch die Erleuterungen des Dalai Lama in seiner Autobiographie S. 303 ff. 61

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mie wurde jedoch von vielen Exiltibetern und später sogar vom Exilparlament abgelehnt. 64 Die vermittelnde Position des Dalai Lama war zwischenzeitlich einer kompromißloseren Haltung gewichen. Danach traten sowohl das Exilparlament als auch der Dalai Lama wieder für die volle Unabhängigkeit Groß-Tibets von China ein. 65 Zugleich betonte der Dalai Lama, jeder Zeit ohne Vorbedingungen zu Verhandlungen mit China bereit zu sein. 66 In jüngster Zeit begegnet der Dalai Lama der wachsenden innertibetischen Kritik an seiner Kompromißhaltung, insbesondere zur Frage der völligen Unabhängigkeit, indem er einen verstärkten Akzent auf die Abhaltung eines Referendums in allen Teilen Tibets und den Exilgemeinden legt. Darin solle über den weiteren Kurs abgestimmt werden. 6 7 Persönlich scheint der Dalai Lama derzeit unter pragmatischen Gesichtspunkten nach wie vor eine freiwillige Konföderation oder Föderation Groß-Tibets mit China zu favorisieren. 6 8 Der Außenminister der Exilregierung hat jedoch klargestellt, daß bei einem entsprechenden Ausgang des Referendums auch der Wunsch der Bevölkerung nach voller Unabhängigkeit zum Maßstab der offiziellen Exilpolitik werde. 6 9

III. Das Selbstbestimmungsrecht und die Tibet-Frage 1. Die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts

Das Völkerrecht kannte ursprünglich und kennt auch heute noch überwiegend nur Staaten als Rechtssubjekte, das heißt als Träger von Rechten und Pflichten. Ausgangspunkte sind dabei der Grundsatz staatlicher Souveränität und die Unverletzbarkeit der territorialen und politischen Einheit eines Staates. Die Frage, wie ein Staat auf den Willen einer Bevölkerungsgruppe, sich abspalten und einen unabhängigen, ei-

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Vgl. Dawa Norbu in Tibetan Review 4/1992 S. 16 Fn. 15 m.w.N., sowie 5/1992, S. 17. 65 Dazu: von Erffa in der FAZ vom 7.2.1992; vgl. auch die vom Office of Tibet in Zürich vertriebenen Guidelines for future Tibet's polity and the basic features of ts Constitution S. 4 ff sowie das Interview des Dalai Lama in der SZ vom 12 /13.6.1993 S. 10. 66 Generalanzeiger für Bonn vom 16.6.1993 S. 4. 6 So zum Beispiel in der Botschaft Seiner Heiligkeit des Dalai Lama zum 36. Jahrestag des Aufstandes vom 10.3.1959, vertrieben vom Office of Tibet (Zürich). Vgl. auch FAZ vom 7.7. 1994. 68 Interview mit der Internationalen Juristenkommission, abgedruckt in ihrem Bericht von 1997, Annex 1 S. 350 f; zuvor schon im Magazin der FAZ vom 7.7.1995 S. 26 f. 69 Interview mit Tashi Wangdi in Tibet-Forum 1/1996, 9.

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genen Staat gründen zu wollen, reagiert, liegt daher grundsätzlich in seiner alleinigen Entscheidungskompetenz. 70 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz macht das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das Konzept umfaßt zunächst zwei sehr unterschiedliche Aspekte: Es beschreibt sowohl die Rechtsposition eines Staatsvolkes gegenüber seiner Regierung in Fragen innerer Mitbestimmung als auch das Recht eines Volkes zur freien Bestimmung seines Status im Verhältnis zu anderen Völkern oder Staaten. Entsprechend der unterschiedlichen Zweckrichtung unterscheiden sich diese Alternativen auch in ihren Anwendungsvoraussetzungen. Für den ersten Aspekt hat sich der Begriff internes, für den zweiten Aspekt die Bezeichnung externes Selbstbestimmungsrecht durchgesetzt. 71 Die Darstellung zu den politischen Forderungen der Tibeter ergab, daß sich ihr Anliegen primär nicht auf größere Mitbestimmung innerhalb des chinesischen Staatsverbandes richtet. Vielmehr pochen sie auf die Anerkennung eines eigenen Status gegenüber der chinesischen Regierung mit dem Recht auf freie Wahl des zukünftigen Status, gleich ob dieser in der Unabhängigkeit oder einer föderalen Lösung liegt. Daher beschäftigt sich die vorliegende Arbeit nur mit der Anwendbarkeit des externen Selbstbestimmungsrechts auf die Tibeter. Im folgenden ist daher ohne Nennung des Zusatzes immer dieser Aspekt gemeint. Die Funktion und Bedeutung, die dem Selbstbestimmungsrecht vor diesem Hintergrund für das Tibet-Problem zukommt, wird an seinem Inhalt deutlich. Kraft des Selbstbestimmungsrechts haben alle Völker das Recht, frei über ihren politischen Status zu entscheiden. 72 Für den möglichen Inhalt dieser Statuswahl wird allgemein auf die UN-Deklaration 2625 von 1970 Bezug genommen. 73 Danach steht es einem Volk frei,

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Vgl. Thürer (Das Sbr) S. 189; Partsch bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 63; Heidelmeyer S. 244. Vgl. aber auch die Ausführungen unten S. 90 ff. 71 Vgl. die General Recommendation XXI (48) vom 8.3.1996 des UN-Komitees zur Beseitigung von Rassendikriminierung. Vgl. auch Kiss in HRLJ 7/2-4, 1986, 171; Novak Artikel 1 Rn 32, 34; Simma/Doehring nach Artikel 1 Rn. 32, 34; Cassese S. 97 ff; eine abweichende Begriffsverwendung findet sich bei Hannum S. 49; kritisch zum Aspekt des internen Selbstbestimmungsrechts: Partsch in VN 5/1986, 154 ff. 72 Artikel 1 CCPR; Resolution 1514 (XV) v. 14.12.1960, Zif. 2; Deklaration 2625 (XXV) v. 24.10.1970, Sbr-Abschnitt Absatz 1. 73 Vgl. zum Beispiel Cristescu S. 46 ff; Gros-Espiell S. 59 § 109; Ermacora in FS Heraud S. 118; ICJ Reports 1975, S. 31 f.

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sein Recht auf Selbstbestimmung insbesondere durch folgende Formen zu verwirklichen: - Errichtung eines souveränen unabhängigen Staates, - freie Vereinigung oder Verschmelzung mit einem unabhängigen Staat, - sowie durch die beliebige Wahl eines sonstigen Status. 74 Die Untersuchung, ob das Selbstbestimmungsrecht im konkreten Fall einschlägig ist, muß sich mit zwei Grundproblemen auseinandersetzen: Zunächst ist immer noch umstritten, ob das Selbstbestimmungsrecht überhaupt eine für Dritte verbindliche Norm des Völkerrechts ist. Es wird daher darzulegen sein, ob sich die Tibeter mit der von ihnen geforderten Selbstbestimmung tatsächlich auf einen Rechtsanspruch stützen können. Ausgangspunkt der Arbeit bildet daher in Kapitel B. die Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht ein subjektives Recht darstellt. Die zweite Besonderheit des Selbstbestimmungsrechts als Rechtsinstitut liegt in der Zuordnung seines Anwendungsbereichs. Träger des Selbstbestimmungsrechts sind per definitionem Völker. Umstritten ist jedoch immer noch, wer als Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts anzusehen ist. Daher wird in dem anschließenden Kapitel C. erörtert, inwieweit unter Rückgriff auf UNO-Praxis und Lehre eine abstrakte Begriffsbestimmung entwickelt werden kann. Wie noch aufzuzeigen sein wird, stößt diese Vorgehensweise jedoch auf Schwierigkeiten. Als Alternative wird daher unter Kapitel D. erörtert, in welchen Situationen einer Bevölkerungsgruppe das Selbstbestimmungsrecht zusteht. Auf diese Weise können dann Fallgruppen festgelegt werden, unter die das Tibet-Problem subsumiert werden kann. Je nach Fallgruppe kann sich dabei die Erörterung auf unterschiedliche geographische Regionen erstrecken, zum Beispiel wenn auf das Selbstbestimmungsrecht bei Staatenannexion oder das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht einer ethnischen Volksgruppe abgestellt wird, da (ehemaliges) Staats- und Siedlungsgebiet nicht identisch sein müssen. Im Hinblick auf das Thema der Arbeit erübrigt sich allerdings die Erörterung der Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht auch ein Recht zu

74

Resolution 2625 (XXV) v. 24.10.1970, Sbr-Abschnitt Absatz 4. Einige Autoren wollen im Einzelfall nur bestimmte Verwirklichungsformen zulassen, um damit den Umfang der Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts zu vergrößern. Dazu S. 83 ff.

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gewalttätigen Maßnahmen gibt. 75 Aktive Guerillaaktionen größeren Ausmaßes fanden in Tibet lediglich in den fünfziger und sechziger Jahren statt. 76 Wie oben dargestellt, äußert sich der Unmut der Tibeter über die chinesische Herrschaft in immer wieder stattfindenden Demonstrationen und Unruhen sowie der geheimen Verbreitung politischer Schriften. Entgegen chinesischer Darstellung bezeugen westliche Touristen und andere Berichte, daß die Demonstrationen zumindest bis zur gewaltsamen Auflösung durch die Polizei völlig gewaltfrei waren. 77 Auch für die Exilbewegung unter der Führung des Dalai Lama steht die Gewaltfreiheit nicht zur Disposition. 78 Die Situation in Tibet gibt somit zumindest derzeit keinen Anlaß zur Problematisierung dieser Frage. Allerdings gibt es ein noch überwiegend latentes Potential an Gewaltbereitschaft insbesondere junger Tibeter. So gibt es in den letzten zwei Jahren wieder Berichte über vereinzelte Bombenanschläge vor öffentlichen Einrichtungen oder Regierungsgebäuden in Lhasa, die nur zum Teil von chinesischer Seite dementiert werden. Nachdem die vormals letzten Anschläge im Jahr 1985 stattfanden soll mit dem Anschlag vom 24.12.1996 nach tibetischen Berichten von sieben weiteren im Zeitraum von Juni 1995 bis Ende 1996 auszugehen sein.79 Insoweit kann die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen werden, daß die bislang ganz überwiegend gewaltfreien Unmutsäußerungen gegen die chinesische Herrschaft in Tibet möglicherweise eines Tages in eine andere Form des Widerstandes umschlagen können. Für den gegenwärtigen Zeitpunkt ist jedoch davon auszugehen, daß es sich bei diesen Anschlägen um Ausnahmefalle handelt, die nicht charakteristisch für die tibetische Situation sind.

75

Vgl. zu diesem Problem z.B. Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 130 ff einerseits und SimmaIDoehrirtg nach Artikel 1 Rn. 54 ff andererseits. 76 Zum sog. Kanting-Krieg vgl. Peissel S. 58 ff. Vgl. auch die Ausführungen S. 172 f. 77 Für den chinesischen Standpunkt: Jing Wei: 100 Fragen S. 131. Vgl. dagegen die Augenzeugenberichte bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 78 ff; ai-Report (1) S. 44 ff; Bericht der FAZ vom 24.5.1993 und 1.6.1993; Generalanzeiger für Bonn vom 26.5.1993. 78 Dies hat der Dalai Lama in seiner Botschaft zum 36. Jahrestag des tibetischen Aufstandes vom 10.3.1959 nochmals ausdrücklich klargestellt (vertrieben vom Office of Tibet - Zürich). 79 Vgl. für eine Auflistung der Anschläge; Lismann in Tibet Forum 1/1996, 17; zu dem Anschlag vom 25.12.1996 sowie zur Reaktion der tibetischen Exilregierung: FAZ vom 31.12.1996 S. 2. Zum wachsenden Druck des Tibetischen Jugendkongresses auf den Dalai Lama auch FAZ vom 10.3.1995 und 7.7.1995.

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2. Die bisherige Diskussion zur Selbstbestimmung der Tibeter Die bisherigen Erörterungen zur Tibet-Frage in der Literatur oder auf internationalen Foren behandeln zum Teil s c h w e r p u n k t m ä ß i g die Frage der f o r t d a u e r n d e n Staatlichkeit Tibets und nehmen somit auf die verletzte staatliche Souveränität Bezug. 8 0 Solche Überlegungen thematisieren die Wiederherstellung der staatlichen Rechte und weniger die R e c h t e der Tibeter als Volk. Diese A r g u m e n t e betreffen somit nicht das Selbstbestimmungsrecht im eigentlichen Sinn, da sie nicht v o m Volk als Rechtssubjekt, sondern vom Staat als Rechtsträger ausgehen. Wie noch aufzuzeigen sein wird, m u ß aber zwischen staatlichen Abwehrrechten und denen des Volkes unterschieden werden. Letztere erlangen gerade dann Bedeutung, wenn die Schutzmechanismen des Staates gegen Okkupation und Annexion versagt haben. Soweit die Tibet-Problematik in B e z u g zum Selbstbestimmungsrecht gesehen wird, wird dessen Anwendbarkeit primär mit der ethnischen Verschiedenheit von Tibetern und Han-Chinesen begründet. Die Autoren gründen ihre Überlegungen dabei auf die sehr strittigen Kriterien geschichtlicher Gemeinsamkeiten und ethnischer Eigenständigkeit einer Bevölkerungsgruppe. 8 1 Gleichzeitig wird betont, daß die Frage des Selbstbestimmungsrechts unabhängig v o m vormaligen Status Tibets sei. 82 Aus diesen beiden Ansätzen folgt auch, daß mit der Bejahung der abstrakten Kriterien die A n w e n d barkeit des Selbstbestimmungsrechts ohne Differenzierung nach Regionen automatisch auf Groß-Tibet bezogen wird. 8 3 Die Autoren, die eine Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts verneinen, begründen ihre Ansicht insbesondere damit, daß es generell nicht auf Bevölkerungsteile innerhalb eines Staates a n w e n d b a r sei. In diesen Fällen sei der Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts

80

So v. Walt (1) S. 140, 187 f; Sharma S. 31 ff. So der Bericht der österreichischen Expertendelegation S. 12 Zif. 24 f; Kirby S. 5 f: Statement der Londoner Tibet-Konferenz 1993, Zif. 4.3.; v. Walt (1) S. 193 ff, ders. (2) S. 299 ff; Sharma S. 29 f, 38 ff insbesondere S. 45. Sowohl v. Walt als auch Sharma beziehen sich dabei auf die allgemeinen Überlegungen von Suzuki. 82 So v. Walt (1) S. 189; ders. (3) S. 38. 83 Dies ergibt sich daraus, daß die Autoren von 6 Millionen Tibetern ausgehen, diese Zahl wird aber allenfalls für das ethnische Tibet vertreten. Vgl. Sharma S. 126; v. Walt (1) S. 194; International Alert Tibet-Deklaration 1990 S. 13. 81

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durch das Interventionsverbot und den völkerrechtlichen Schutz der territorialen Integrität des Gesamtstaates eingeschränkt. 84 Der zuvor beschriebene methodische Ansatz der Fallgruppenbildung fuhrt gegenüber diesen bisherigen Darstellungen zu einer stärkeren Differenzierung. Insbesondere wird damit der Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechts durch Lehre und Praxis Rechnung getragen, nach der gerade das Element ethnischer Eigenständigkeit eine untergeordnete Rolle spielt. Über die Bildung von Fallgruppen wird sich zeigen, daß Völker im Sinne des Selbstbestimmungsrechts sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen sein können, die aufgrund verschiedener Umstände eine vom Völkerrecht geschützte Rechtsposition unter dem Institut des Selbstbestimmungsrechts erhalten. Aus diesem Ansatz folgt zugleich eine geographische Differenzierung für die Regionen Tibets. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit verfolgte Differenzierung verdient eine neue Tendenz in der Tibet-Diskussion Beachtung. Danach wird versucht, das Selbstbestimmungsrecht für die Tibeter aus einer alternativen Argumentation herzuleiten. Beispielhaft für diese Tendenz ist eine Studie des International Committee of Lawyers for Tibet. 85 Die Argumentation ist im Dreiklang aufgebaut: Erstens, den Tibetern steht das Selbstbestimmungsrecht zu, weil sich die VRC durch die begangenen Menschenrechtsverletzungen an den Tibetern ihrer eigenen Legitimität beraubt hat. Auf den vormaligen Status Tibets kommt es insofern nicht an. Zweitens, selbst wenn die VRC ein Recht auf territoriale Integrität gegenüber den Tibetern geltend machen könnte, wird dieses Recht durch das Recht des von China annektierten tibetischen Staates auf Wiederherstellung seiner Souveränität überlagert. Drittens, selbst wenn die ersten beiden Argumente nicht durchgreifen, steht den Tibetern das Selbstbestimmungsrecht zu. Dies folgt aus der Abwägung zwischen den Folgen einer Ausübung des Selbstbestimmungsrechts und den Folgen, die eine Verweigerung der tibetischen Forderungen nach sich zöge. Die Abwägung soll im Lichte der grundlegenden Werte und Interessen der internationalen Gemeinschaft erfolgen, namentlich des internationalen Friedens und der Sicherheit sowie der Menschenrechte. Soweit diese 84

So Zhi Yun in China's Tibet, Winter 1991, S. 3 ff; Partsch bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 63, ders. eingeschränkt bei McCorquodale/Orosz S. 103 ff, insbesondere S. 107. 85 Als Zusammenfassung mit Bezugsquelle abgedruckt bei McCorquodale/Orosz S. 110 ff.

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Argumentation die vorweg dargestellten Einzelansätze aufgreift, gelten die dazu aufgeführten Bedenken auch hier. Insbesondere die Problematik des ersten und dritten Argumentes wird in dieser Arbeit durch die Erörterung des Selbstbestimmungsrechts als Notwehrrecht deutlich werden. 3. Das Votum der Internationalen Juristenkommission 1997

Die International Commission of Jurists (ICJ), eine Vereinigung mit beratendem Status bei der U N O und Sitz in Genf, hatte sich bereits jeweils in den Jahren 1959 und 1960 in einem umfangreichen Bericht mit Tibet befaßt. Auf diese Berichte wird noch verschiedentlich zurückzukommen sein. Im Dezember 1997 veröffentlichte die Kommission ihren dritten Bericht zu Tibet, der in einem gesonderten Kapitel auch zum Selbstbestimmungsrecht Stellung bezieht. In dem Bericht von 1997 wird ausdrücklich klargestellt, daß darin die Frage des Selbstbestimmungsrechts unabhängig von dem früheren Status Tibets behandelt wird. Damit erübrigt sich dann zugleich eine geographische Differenzierung, so daß die Aussagen auf die Tibeter auf dem gesamten Siedlungsgebiet bezogen werden können. 8 6 Darin liegt jedoch zugleich schon eine Beschränkung der Perspektiven, indem der am wenigsten umstrittenste Anwendungsfall des Selbstbestimmungsrechts, nämlich der auf annektierte Staaten, ausgeklammert wird. Demgegenüber will das vorliegende Werk gerade auch die Völkerrechtspraxis zum Selbstbestimmungsrecht annektierter und sogar untergegangener Staaten in Bezug auf die Tibeter erörtern. Ferner stützt die Internationale Juristenkommission ihre Untersuchung zur Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts nicht in einer so klar definierten Weise auf Fallgruppen, wie dies in dieser Arbeit geschehen soll. Vielmehr bezieht sich die Kommission auf die zwar allgemein anerkannte, aber in ihrer Auslegung umstrittene Formel, daß das Selbstbestimmungsrecht "Völkern unter fremder Herrschaft, Unterjochung und Ausbeutung" zusteht. 8 7 Die Frage, ob die Tibeter ein Volk seien wird von der Kommission unter ethnischen Kriterien bejaht. Hier übergeht der Bericht allerdings das Problem, daß nach der restriktivsten Auslegung nur Staatsvölker als "Volk" im Sinne der Selbstbestim86 87

Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 320. Bericht S. 324 ff.

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mungsformel anzusehen sind. Das weitere Kriterium der Fremdherrschaft wird von der Kommission ebenfalls als erfüllt angesehen. Dazu verweist sie auf die Staatenpraxis, daß heißt insbesondere Statements von Staatenvertretern vor der UNO in den Jahren 1959 bis 1966. Dabei handelte es sich jedoch um Stellungnahmen im Zusammenhang mit dem Einmarsch Chinas in Tibet 1950 und der Flucht des Dalai Lama 1959. Durch die Hintertür schleicht sich damit zumindest mittelbar die Statusfrage ein, da die Frage tibetischer Autonomie vor dem Einmarsch ein wichtiger Gegenstand der Statements war. Damit kann sich der Bericht der Juristenkommission jedoch nicht begnügen. Dies hat seinen Grund darin, daß die Kommission die Statusfrage Tibets ausdrücklich nicht im Rahmen der Selbstbestimmungsfrage aufgreifen will, andererseits aber auch dem völkerrechtlichen Schutz der territorialen Integrität Rechnung tragen muß, auf den sich China im Zusammenhang mit Tibet immer wieder beruft. Dementsprechend stützt sich die Kommission im weiteren lediglich auf den Aspekt des Selbstbestimmungsrechts, der in dieser Arbeit als Notwehrrecht bezeichnet wird und eine Durchbrechung des staatlichen Integritätsschutzes auch gegenüber bloßen Minderheiten im eigenen Land darstellt. 88 Bei diesem Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts handelt es sich jedoch um den innovativsten und dementsprechend umstrittensten Aspekt. Der Bericht stützt sich hier lediglich auf einige Aussagen bekannter Völkerrechtler, ohne die dogmatischen Grundlagen und Einschränkungen darzulegen, mit denen das Notwehrrecht auch gegenüber seinen Kritikern verteidigt werden kann. Insbesondere vermeidet es die Kommission, sich mit ihren früheren Aussagen zu diesem Aspekt des Selbstbestimmungsrechts auseinanderzusetzen. 89 Der Versuch, diese dogmatischen Grundlagen darzulegen und nach Möglichkeit zu bereichern, soll in dem vorliegenden Werk unternommen werden. In diesem Sinn sind die Ausfuhrungen unter Kapitel D. V. als Ergänzung und Untermauerung zu den knappen Feststellungen der Juristenkommission zu verstehen. 88

Bericht S. 337 f. Die Kommission stützt sich in dem Tibetbericht 1997 insoweit auf Absatz 7 der UNDeklaration 2625. Allerdings hatte die Internationale Juristenkommission noch in ihrer Publikation ICJ-Review 8/1972, 45 f dem Absatz 7 ein eigenes Selbstbestimmungskonzept gegenüber Absatz 1 entnommen, indem sie lediglich von einem Selbstbestimmungsrecht auf Autonomie innerhalb eines Gesamtstaates ausging. Das Problem läßt sich indes lösen, indem man den Absatz 7 der Deklaration lediglich als "Standard" begreift. Vgl. dazu unter D. V. 1.3 und 1.4. 89

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D e r Bericht der Internationalen Juristenkommission geht schließlich in einem Punkt wesentlich über die bisherigen Abhandlungen zum Selbstbestimmungsrecht f ü r die Tibeter hinaus. D e r Bericht behandelt erstmals die Frage, auf welche Weise das Selbstbestimmungsrecht in Tibet umgesetzt w e r d e n kann. Die Kommission schlägt dafür die Abhaltung eines R e f e r e n d u m s vor. Dabei wird auch das Problem des zwischenzeitlichen Z u z u g s einer erheblichen Anzahl von Han-Chinesen berücksichtigt. 9 0 Allerdings leben in einigen Regionen Tibets ebenso viele Angehörige anderer Minderheiten (insbesondere Hui und M o n g o l e n ) wie Tibeter. Ferner ist das Plebiszit in der Völkerrechtspraxis nicht der einzige M o d u s um zu bestimmen, für welches Territorium das Selbstbestimmungsrecht ausgeübt w e r d e n kann. Mit diesen Fragen wird sich die vorliegende Arbeit z u m Schluß beschäftigen.

IV. D i e T i b e t - F r a g e im S p i e g e l d e r U N O 1. Tibets Verhältnis zur U N O in der Zeit seiner Autarkie Im Hinblick auf eine aktive Politik der U N O z u m Tibet-Problem ist zunächst festzustellen, daß Tibet in der Zeit seiner Autarkie selbst zur Schwächung seiner Position in dieser Organisation beigetragen hat. So unterließ es Tibet infolge seiner auf Isolation gerichteten Außenpolitik, sich um die UN-Mitgliedschaft zu bemühen. Immerhin scheint die tibetische Regierung die B e d e u t u n g ihrer Repräsentanz in dieser Organisation im Anblick der äußeren Gefahr doch noch erkannt zu haben. So sandte das tibetische Außenministerium zum Zeitpunkt der sich abzeichnenden Intervention Chinas im D e z e m b e r 1949 an die U S A ein Schreiben, das auf Unterstützung des Begehrens um A u f n a h m e in die U N O gerichtet war. Dieses Anliegen ist j e d o c h unter Hinweis auf das Vetorecht Chinas und der U d S S R abschlägig beschieden worden. 9 1 Nach der Offensive der chinesischen T r u p p e n im O k t o b e r 1950 sandte die tibetische Regierung noch im N o v e m b e r und Dezember des gleichen Jahres Appelle an die U N O . 9 2 Schließlich b e f a ß t e sich das General

90

Bericht S. 340 ff. Dazu Bericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 44. Vgl. auch Weggel in China aktuell, Juni 1991, 362; v. Walt (1) S. 91. 92 Dazu: Bericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 45; Shakabpa S. 302; Richardson S. 185 f; Tieh-tseng Li S. 205; v. H alt (1) S 145. 91

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Committee der Generalversammlung 1950 mit einem Antrag El Salvadors, der die Ergänzung der Tagesordnung der Generalversammlung um den Punkt "Invasion Tibets durch ausländische Kräfte" zum Inhalt hatte. Auf seiner 73. Sitzung entschied das Gremium ohne Gegenstimmen, die Beratung über den Antrag zu vertagen. 93 Auch ein weiterer Appell des Dalai Lama an die UNO nach seiner Flucht im Jahr 1959 blieb ohne Erfolg. 94 2. Behandlung der Tibet-Frage innerhalb der U N O

In der UNO wurden durch die Generalversammlung nach der Flucht des Dalai Lama lediglich drei Resolutionen zu Tibet verabschiedet. Sie stammen aus den Jahren 1959, 1961 und 1965.95 Danach wurde die Tibet-Frage lange Zeit nicht mehr von der UNO aufgegriffen. Erst in den letzten Jahren befaßte sich die Menschenrechtskommission der UNO (MRK) mit der Menschenrechtssituation in Tibet, ohne allerdings eine Resolution zu verabschieden. Auf diese Bemühungen wird unter Kapitel D. im Rahmen der Darstellung zur aktuellen Menschenrechtslage in Tibet noch näher einzugehen sein. Allerdings ist es kein Zufall, daß die späteren Erörterungen im Gremium der Menschenrechtskommission (MRK) angesiedelt sind. Bereits die drei frühen Resolutionen der Generalversammlung beschäftigten sich hauptsächlich mit der Menschenrechtslage in Tibet. Daneben wurden aber auch Passagen aufgenommen, die unter dem Aspekt des Selbstbestimmungsrechts von Interesse sind. In Absatz 3 der Präambel zur Tibet-Resolution von 1959 wies die Generalversammlung auf das eigenständige kulturelle und religiöse Erbe der Bevölkerung Tibets hin, sowie auf die Autonomie, die sie traditionell genossen habe. Demgegenüber forderte sie in ihrer Resolution von 1961 unter Zif. 2 die Einstellung von Praktiken, durch die der tibetischen Bevölkerung ihre grundlegenden Menschenrechten und Freiheiten einschließlich ihres Rechtes auf Selbstbestimmung vorenthalten würden. In der Resolution

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Vgl. United Nations General Assembly Fifith Session, Official Records, General Committee S. 17 ff: 73rd Meeting am 24.11.1950. 94 Dazu Bericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 58 ff., 66 ff und 70 f. 95 Resolution 1353 (XIV) v. 21.10.1959; 1723 (XVI) v. 20.12.1961 und 2079 (XX) v. 18.12.1965. Vgl. dazu den Bericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 58 ff.

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von 1965 wird unter Zif. 1 nur noch allgemein die Verletzung der grundlegenden Rechte und Freiheiten des tibetischen Volkes verurteilt. Für den Gegenstand dieser Arbeit ist daher festzuhalten, daß die U N O den Tibetern nur in einer Resolution der Generalversammlung das Selbstbestimmungsrecht explizit zuerkannte. Der U N - S i c h R beschäftigte sich bislang gar nicht mit der Tibet-Frage. Letzteres ist ohne eine gravierende V e r ä n d e r u n g der Sicherheitslage in dieser Region auch kaum zu erwarten. D e r Umstand, daß es sich bei der auf das Selbstbestimmungsrecht verweisenden Resolution um eine einmalige Erklärung handelt, die z u d e m schon über dreizig Jahre zurückliegt, schmälert bereits an sich schon den Wert dieser Resolution f ü r die heutige Diskussion. Z u d e m ist zu bedenken, daß nach der faktischen Eingliederung Tibets ein P r o z e ß der Konsolidierung eingetreten ist, der möglicherweise über den das Völkerrecht mitgestaltenden G r u n d s a t z der Effektivität Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung hat. Gros-Espiell schließt aus der nachfolgenden Nichtbeachtung der Tibet-Frage durch die Generalversammlung sogar, daß sich das Problem der U m s e t z u n g des Selbstbestimmungsrechts f ü r Tibet inzwischen erledigt habe! 9 6 Den U N Resolutionen zu Tibet kommt somit nur beschränkte Aussagekraft zu. Dies gilt insbesondere f ü r die einmalige Z u e r k e n n u n g des Selbstbestimmungsrechts an das tibetische Volk. Die B e d e u t u n g der U N O - P r a x i s f ü r die Tibet-Diskussion liegt daher in dem völkerrechtsgestaltenden Einfluß, den diese Organisation durch ihre Resolutionen, insbesondere auf den Gebieten des Selbstbestimmungsrechts und der individuellen M R , ausübt. Auf welchen dogmatischen W e g e n die Beeinflussung des Völkerrechts durch diese Akte erfolgt, wird exemplarisch am Beispiel des Selbstbestimmungsrechts in Kapitel B. dargestellt. Jedenfalls sind damit allgemeine Grundlagen geschaffen worden, anhand deren k o n k r e t e Fälle wie die Tibet-Frage zu erörtern sind.

96

Studie zum Selbstbestimmungsrecht Doc. E/CN.4/Sub.2/390 S. 76 in Verbindung mit S. 96.

B. Zum Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts Die tibetische Forderung nach Unabhängigkeit richtet sich automatisch gegen die von China geltend gemachten Souveränitätsrechte. Sie bedarf daher der völkerrechtlichen Legitimation durch das Selbstbestimmungsrecht. Diese Legitimationswirkung ist aber nur gegeben, wenn das Selbstbestimmungsrecht den Tibetern ein subjektives Recht gibt, dessen Rechtsfolge der Rechtsanspruch auf freie Statuswahl einschließlich Sezession ist. Da der Gegner dieser Forderungen hier die VRC ist, muß dieser Anspruch gerade auch gegenüber China bestehen. Es ist jedoch durchaus nicht unumstritten, daß das SelbstbestimmungsrecÄi der Völker entsprechend seinem Wortlaut ein Recht im juristischen Sinn vermittelt. Daher muß im Vorfeld der weiteren Untersuchung die Rechtsverbindlichkeit des Selbstbestimmungsrechts insbesondere auch für die VRC festgestellt werden. Die Verbindlichkeit völkerrechtlicher Rechtssätze geht auf verschiedene Rechtsquellen zurück. Das Selbstbestimmungsrecht müßte über eine dieser Rechtsquellen zum bindenden Rechtssatz geworden sein. Daher sollen zunächst die in Betracht kommenden Rechtsquellen dargestellt werden. In einem zweiten Schritt wird für jede Rechtsquelle gesondert untersucht, ob sich das Selbstbestimmungsrecht als bindendes Recht auf diese zurückfuhren läßt. Da das Völkerrecht aber auf dem Grundsatz der Souveränität jedes Staates beruht, erstreckt sich die Bindungswirkung eines Völkerrechtssatzes nicht zwingend auf alle Staaten. Vielmehr unterliegt jede Rechtsquelle spezifischen Einschränkungen hinsichtlich ihrer Bindungswirkung, die für die Frage nach der Bindung eines konkreten Staates berücksichtigt werden müssen. Deshalb muß für die hier behandelte Tibet-Frage zu jeder Rechtsquelle jeweils im Zusammenhang erörtert werden, ob sich die Bindungswirkung auch auf die VRC erstreckt.

I. R e c h t s q u e l l e n des Völkerrechts 1. Die traditionellen Rechtsquellen Die traditionelle Völkerrechtslehre lehnt sich für die Bestimmung der das Völkerrecht speisenden Rechtsquellen an Artikel 38 Absatz 1 IGH-

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Rechtscharakter

Statut an.1 Damit ist sichergestellt, daß auch in der Lehre das bindende Recht auf den gleichen Grundlagen ermittelt wird, die auch der IGH seiner Rechtsprechung zugrundelegt. Diese Rechtsquellen sind gemäß Artikel 38 Absatz 1 Iit. a) bis c): völkerrechtliche Verträge, Völkergewohnheitsrecht sowie allgemeine anerkannte Rechtsgrundsätze. Artikel 38 IGH-Statut fuhrt in Absatz 1 lit. d) noch die Lehrmeinungen der fähigsten Völkerrechtler als Hilfsmittel auf. Die Lehre stellt somit keine eigenständige Rechtsquelle dar, sondern ist bei der Ermittlung von Normen innerhalb der zuvor genannten Rechtsquellen zu berücksichtigen. 2. Unbeachtlichkeit anderer Rechtsquellentheorien

In der Völkerrechtsliteratur wird zur Zeit kontrovers diskutiert, ob neben diesen traditionellen Rechtsquellen noch andere Arten der Rechtserzeugung anzuerkennen sind. Auch die neueren Theorien bedürfen eines Substrats, an dem die neu aufgestellten Rechtsquellenerfordernisse zu messen sind. Solche Substrate stellen häufig UN-Resolutionen dar. Für das Selbstbestimmungsrecht wird in diesem Zusammenhang oft auf die GA-Deklaration 2625 von 1970 zurückgegriffen, die in mehreren Absätzen Aussagen zum Selbstbestimmungsrecht trifft. Vereinzelt wird der Deklaration 2625 eine eigenständige Rechtswirkung beigemessen. So wird sie teilweise als authentische Interpretation der UN-Charta angesehen, die an deren Rechtsbindung Teil habe. Danach sollen die eher unbestimmten Aussagen der Charta zur Selbstbestimmung durch die Deklaration ergänzt worden sein. Eine andere Ansicht sieht in der einstimmigen Verabschiedung der Deklaration einen (formlosen) Konsens, der als Vertrag oder Rechtsquelle sui generis verbindliche Normen erzeuge. Eine weitere Theorie greift auf die völkerrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes zurück. Danach sollen die an der Abstimmung beteiligten Staaten im Wege der Selbstbindung über das estoppel-Prinzip an die Inhalte gebunden sein, unbeteiligte Staaten könnten mangels Protest durch die Rechtsfigur der acquiescence ge-

1

Das ist unstrittig, vgl. für alle: Verdross/Simma Wolfrum S. 44 m.w.N.

§§ 516, 517 und

Dahm/Delbrück/

Rechtscharakter

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bunden werden. Z u m Teil findet sich auch eine Vermischung dieser Theorien. 2 Die verschiedenen Wege, die Rechtsnormqualität des Selbstbestimmungsrechts über die Deklaration herzuleiten, sind bereits in ihren Grundlagen fraglich. Alle genannten Ansätze fuhren im Ergebnis zu einer Entstehung von Völkerrecht außerhalb der in Artikel 38 des I G H Statutes genannten und international anerkannten Rechtsquellen. Vertrags- und Gewohnheitsrecht sowie allgemeine anerkannte Rechtsgrundsätze. Damit ist die grundsätzliche Frage gestellt, ob es im Völkerrecht einen numerus clausus der Rechtsquellen gibt o d e r ob unter bestimmten V o r a u s s e t z u n g e n auch andere Rechtsquellen anzuerkennen sind. Diese Frage ist im G r u n d s a t z umstritten, 3 bedarf aber hier keiner ausfuhrlichen Erörterung. N a c h ganz h.M. kommen jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt Deklarationen und Resolutionen der U N O nicht als mögliche Kandidaten f ü r eine neue Rechtsquelle in den beschriebenen Formen in Betracht. V o r a u s s e t z u n g dafür w ä r e nämlich entweder eine entsprechende in der U N - C h a r t a verankerte formale Rechtsetzungsbefugnis der Generalversammlung oder aber ein darauf gerichteter Staatenkonsens. Diese Vorbedingungen sind j e d o c h nicht gegeben. 4 Die Herleitung einer Rechtsverbindlichkeit des Selbstbestimmungsrechts aus der Deklaration 2 6 2 5 wird daher zu Recht überwiegend abgelehnt. 5 Dies schließt eine Berücksichtigung des rechtsfortbildenden Einflusses zumindest bestimmter Resolutionen auf das universelle Völkerrecht nicht aus. Dieser Einfluß entfaltet sich j e d o c h innerhalb der bereits aufg e f ü h r t e n traditionellen Rechtsquellen und zwar speziell im Rahmen des Gewohnheitsrechts. Darauf wird an geeigneterer Stelle im Z u s a m m e n hang mit der E r ö r t e r u n g dieser Rechtsquelle noch einzugehen sein. 6 2

Vgl. dazu bei: Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 73 m. zahlr. Nw.: Frowein in ZaöRV 36/13, 1976, 154 f; Buchheit S. 31. 3 Zum IGH-Statut als abschließender Aufzählung vgl. Thürer (Das Sbr) S. 54 m.w.N. Dagegen Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 48, 69 ff; Verdross/Simma S. 323 § 518; Tomuschat in ZaöRV 36/1-3, 1976, 489 f. Kritisch WiiAhumlVitzthum S 93 ff. 4 Vgl. Verdross/Simma S. 407 ff; Pomerance S. 64 f; Tomuschat in ZaöRV 36/1-3. 1976, 467 ff; Ipsen/Heintschel v. Heinegg S. 197 Rn. 23; Arangio-Ruiz S. 57 ff. 5 So. Crawford in BYIL 1976-1977 S. 151 f; Arangio-Ruiz S. 95 f; Tomuschat in ZaöRV 36/ 1-3, 1976, 471 ff; Verdross/Simma S. 274 § 453, S. 407 § 634; Pomerance S. 64 ff. Zu entsprechenden Erklärungen von Staaten zur Deklaration vgl. Frowein in ZaöRV 36/1-3 1976, 150. 6 Vgl. S. 46 f.

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Rechtscharakter

3. Schlußfolgerung

Im Ergebnis bleibt es daher dabei, daß die Normqualität des Selbstbestimmungsrechts an den traditionellen Rechtsquellen zu messen ist. Im folgenden ist daher zu erörtern, ob das Selbstbestimmungsrecht als Rechtsnorm, die ein subjektives Recht beinhaltet, auf eine dieser Rechtsquellen zurückgeführt werden kann. Für das Rangverhältnis der Rechtsquellen wird grundsätzlich die lex posterior-Regel herangezogen, nach der eine spätere Norm die frühere derogiert. Im übrigen verweist die Literatur darauf, daß dem Vertragsrecht in der Regel als lex specialis Vorrang gegenüber dem allgemeinen Völkergewohnheitsrecht und den allgemeinen anerkannten Rechtsgrundsätzen zukommt. 7 Ob zwischen den beiden letzteren ein Rangverhältnis besteht, ist demgegenüber umstritten. 8 Nachfolgend wird zuerst auf eine mögliche vertragsrechtliche Bindung an das Selbstbestimmungsrecht eingegangen. Daran schließt sich aus Gründen der Übersichtlichkeit eine Stellungnahme zum Selbstbestimmungsrecht als allgemeiner anerkannter Rechtsgrundsatz an. Wegen seiner Bedeutung für die nachfolgenden Kapitel wird der gewohnheitsrechtliche Charakter des Selbstbestimmungsrechts als letzter Punkt behandelt.

II. Das Selbstbestimmungsrecht als Vertragsrecht Die Frage nach vertragsrechtlichen Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts wird in dieser Arbeit nur im Hinblick auf einen Rechtsanspruch der Tibeter gegenüber der VRC gestellt. Daher können Verträge, denen China nicht als Vertragsstaat beigetreten ist, außer Acht bleiben. In Betracht kommen danach nur die UN-Charta und die internationalen Menschenrechtspakte. Letztere sind jedenfalls von der Republik China (Taiwan) unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert worden.

7

So: Verdross/Simma §§ 533, 643; Ipsen/Heintschel v. Heinegg S. 222 Rn. 2; differenzierend: Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 45 f. 8 Differenzierend: Verdross/Simma §§ 644, 645; für Subsidiarität der Rechtsgrundsätze: Ipseo/Heintschel v. Heinegg S. 223 Rn. 5; für Gleichrangigkeit zum Völkergewohnheitsrecht: Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 46.

Rechtscharakter

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1. D a s Selbstbestimmungsrecht in der U N - C h a r t a

Die Charta nennt in Artikel 1 Zif. 2 die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker als Grundsätze, deren Beachtung zu den Zielen der UN gehört. Einige Autoren vertreten die Ansicht, daß diese in Artikel 1 formulierten zielorientierten Grundsätze in ihrer Rechtsverbindlichkeit mit den in Artikel 2 aufgezählten Handlungsgrundsätzen gleichzustellen seien. Alle UN-Mitgliedsstaaten seien somit über die Charta als multilateralen Vertrag dem Selbstbestimmungsrecht verpflichtet. Zudem müsse die Charta wie nationale Verfassungen aktuell nach objektiven Merkmalen ausgelegt werden, wozu insbesondere die zahlreichen UN-Resolutionen zum Selbstbestimmungsrecht gehörten. 9 Dem wird jedoch mit der h.M. entgegenzuhalten sein, daß die Charta die Selbstbestimmung gerade nicht als ein Recht bezeichnet, sondern als Grundsatz, dessen Beachtung zu den Zielen der Organisation gehört. Eine wörtliche Auslegung legt somit eher die Absicht künftiger rechtlicher Verfestigung als die Kodifikation bereits geltenden Rechtes nahe. Zudem ist bei der Auslegung der Charta wegen ihres Charakters als multilateralem Vertrag vorrangig der Wille der Vertragspartner erheblich. Umstände außerhalb der Charta sind demgegenüber nur sekundär zu berücksichtigen. Eine vertragliche Rechtsnormqualität des Selbstbestimmungsrechts über die Charta ist daher abzulehnen. 10 2. D a s Selbstbestimmungsrecht in den Menschenrechtspakten 2.1. Rechtsnormqualität innerhalb der Pakte

Die beiden internationalen Menschenrechtspakte über bürgerliche und politische Rechte (CCPR) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) enthalten in ihrem gleichlautenden Artikel 1 das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung. Dabei ist unbestritten, daß durch diese Artikel echte völkerrechtliche Anspruchsnormen begründet

9 So: Doehring (Das Sbr) S 16 ff; SimmaIDoehring nach Artikel 1 Rn. 1; Hu Chouyoung S. 66 f. 10 Ebenso zum Beispiel: Thürer (Das Sbr) S. 82 ff. 93: \pxnlpsen S. 643 Rn. 40; Kiss in HRLJ 7/2-4, 1986, 174; Dinstein in ICLQ 25/1976, 107, F. Klein S. 9 f; Ermacora S. 42; Nowak Artikel 1 Rn. 14, Rn. 2 Fn. 5.

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wurden. 1 1 Die Pakte wurden 1966 von der UN-Generalversammlung verabschiedet und sind nach Hinterlegung der erforderlichen Anzahl von Ratifikationsurkunden 1976 in Kraft getreten. Damit haben Völker unter Fremdherrschaft gegen den Staat, der diese Fremdherrschaft ausübt, jedenfalls dann einen Rechtsanspruch, wenn dieser Staat einem der beiden Verträge beigetreten ist. 2.2. Zur vertraglichen Bindung C h i n a s an die Pakte

Die VRC ist keinem der beiden Menschenrechtspakte beigetreten. Am 5.10.1967 unterzeichnete zwar die Republik China (Taiwan) den CCPR Eine Ratifikation erfolgte jedoch nicht. 12 Gemäß Artikel 48 Absätze 2 und 4 des Paktes ist der Beitritt aber von der Hinterlegung einer Ratifikationsurkunde abhängig. Damit erübrigt sich an dieser Stelle die Frage, ob der VRC das Handeln der Republik China zuzurechnen ist. Mangels Ratifikation ist für keinen von beiden eine vertragliche Bindung entstanden. Damit scheidet auch eine vertragliche Bindung der VRC an das Selbstbestimmungsrecht über die Menschenrechtspakte aus. Einen Sonderfall bildet hier die Fortgeltung der Pakte fiir Hongkong. 1 3 Immerhin hat China den Sozialpakt im Oktober 1997 unterzeichnet, jedoch zugleich mitgeteilt, daß vor der Ratifizierung noch eine Phase der Prüfung liege. 14 Eine andere Frage ist die, ob die Menschenrechtspakte nicht zumindest hinsichtlich einiger Kernregelungen wegen ihrer Verabschiedung durch die Generalversammlung und infolge der hohen Anzahl der erfolgten Vertragsbeitritte zu Völkergewohnheitsrecht erstarkt sind. Dieses Problem wird noch bei der Rückführung des Selbstbestimmungsrechts auf die Rechtsquelle des Völkergewohnheitsrechts zu erörtern sein.

" Zum vertraglichen Anspruch von Völkern gegenüber Vertragsstaaten vgl. Nowak: Einführung Rn 14; zum Anwendungsbereich beziehungsweise Rechtsträger: ders. Artikel 1 Rn. 3. 12 Nowak S. 792. 13 Großbritannien hatte die Pakte für seine damalige Kronkolonie mit ratifiziert. Die Gemeinsame Erklärung Großbritanniens und Chinas zur Übergabe Hongkongs enthält einen Passus über die Fortgeltung der Pakte. Vgl. zu dem Problem aus völkerrechtlicher Sicht Fastenrath in FAZ vom 1.7.1997 S. 10. 14 Vgl. dazu Übersicht (9) in China aktuell, Oktober 1997, 962.

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III. Das Selbstbestimmungsrecht als Rechtsgrundsatz Vom Standpunkt der herrschenden Völkerrechtsdoktrin aus gesehen, ist die Einordnung des Selbstbestimmungsrechts als allgemeiner anerkannter Rechtsgrundsatz bereits im Ansatz abzulehnen. Danach sind unter Rechtsgrundsätzen im Sinne von Artikel 38 IGH-Statut nur Rechtsnormen des nationalen Rechts zu verstehen, die grundlegende Wertentscheidungen verkörpern und in fast allen Rechtsordnungen der Welt zu finden sind. 15 Dieser Materie kann das Selbstbestimmungsrecht jedoch nicht entnommen werden. Nach neuerer Auffassung sollen sich die Staaten durch Deklarationen auch zu neuen Rechtsgrundsätzen bekennen können. Diese hätten ihren Ursprung dann nicht in nationalen Rechtssätzen, sondern im universellen Völkerrecht. 1 6 Dieser Ansicht ist aus zweierlei Gründen nicht zuzustimmen: Erstens wird durch die Bezugnahme auf relativ neue und situationsspezifische Regelungen die Schleuse für ein unüberschaubares Potential möglicher Völkerrechtsnormen geöffnet. So konnte bislang die Beschränkung des Begriffes der allgemeinen Rechtsgrundsätze auf im nationalen Recht verankerte Prinzipien, wie zum Beispiel den Grundsatz der Billigkeit, das für eine Rechtsquelle erforderliche Maß an Akzeptanz in der Staatengemeinschaft gewährleisten. Diese Voraussetzung wäre nach der neueren Auffassung nicht mehr erfüllt. Zweitens wird mit dem so definierten Rechtsgrundsatz die Grenze zur bloßen Rechtsauffassung im Sinne der opinio iuris verwischt, die doch nur ein Element des Völkergewohnheitsrechts neben der Übung darstellt. Somit könnte dann eine Regel als allgemeiner Rechtsgrundsatz bindendes Völkerrecht werden, die mangels Übung nicht die restriktiveren Voraussetzungen des Völkergewohnheitsrechts erfüllt. Insoweit führt die neue Auffassung lediglich zum Unterlaufen der an die Bildung von Völkergewohnheitsrecht gestellten Anforderungen. Wie noch bei der Erörterung des Völkergewohnheitsrechts als Rechtsquelle aufzuzeigen sein wird, ist jedoch das Korrektiv der Staatenpraxis unverzichtbar. Im Ergebnis ist somit eine Verbindlichkeit des Selbstbestimmungsrechts als allgemeiner Rechtsgrundsatz abzulehnen. 1 7

15

Vgl. Thürer (Das Sbr) S. 54 m.w.N. So Verdross/Simma S. 386 ff. 411 ff: Dahm/DelbrückWol/rum S. 65 f; einschränkend F. Klein S. 23. 1 Ebenso: Doehring (Das Sbr) S. 19 f: Thürer (Das Sbr) S. 54: allgemein: Tomuschat in ZaöRV 36/1-3, 1976, 473 f. 16

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IV. Das Selbstbestimmungsrecht als Völkergewohnheitsrecht Die hier behandelte Frage, ob sich das Selbstbestimmungsrecht als Rechtsnorm auf die Quelle des Völkergewohnheitsrechts zurückfuhren läßt, war in der Literatur lange Zeit das am heftigsten umstrittene Problemfeld des Selbstbestimmungsrechts. Auch wenn sich der Diskussionsschwerpunkt inzwischen dahingehend verlagert hat, den Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts zu bestimmen, ist der ursprüngliche Streit noch von Bedeutung. So wird sich zeigen, daß auch die heute vertretenen Ansichten zum Anwendungsbereich noch von den zum Rechtscharakter eingenommenen Positionen bestimmt werden. Daher ist zunächst der Meinungsstand zur gewohnheitsrechtlichen Geltung des Selbstbestimmungsrechts anhand Lehre und Rechtsprechung darzustellen. Anschließend sind die im einzelnen nicht unumstrittenen Grundlagen des Völkergewohnheitsrechts herauszuarbeiten. In einem dritten Schritt sind diese Grundlagen als Voraussetzung für ein gewohnheitsrechtliches Selbstbestimmungsrecht zu prüfen. 1. Meinungsstand in Lehre und Judikatur 1.1. Diskussion in der Lehre Im folgenden wird lediglich die "westliche" Literatur zum Selbstbestimmungsrecht erörtert, die sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in weiten Teilen der Welt als absolut herrschend behauptet hat. Zudem hat sich die sozialistische Lehre zur Selbstbestimmung nicht unter Ablehnung der UNO-Praxis entwickelt. Vielmehr wurde der Begriff der Selbstbestimmung in der sozialistischen Doktrin in die Ideologie des Klassenkampfes eingefugt, während sich die Idee der Selbstbestimmung auf internationaler Ebene zu einem Institut des universellen Völkerrechts entwickelte. 18 An diesem Prozeß waren aber auch die sozialistischen Staaten beteiligt. 19 Auch diese müssen sich somit an der von ihnen mitgetragenen UNO-Praxis festhalten lassen. Es stellt sich lediglich die Frage, ob die VRC in bezug auf eine gewohnheitsrechtliche Verfestigung des Selbstbestimmungsrechts in nicht-sozialistischer Aus-

18 Zur Haltung der klassischen sozialistischen Völkerrechtsdogmatik allgemein: Meissner in Nation und Selbstbestimmung S. 25-40; Bracht S. 9-20, Pomerance S. 40. Zur Frage des Rechtscharakters vgl. Meissner a.a. O. S. 32. 19 Zur Beteiligung der UdSSR an der Formulierung des Selbstbestimmungsrechts in den UNO-Gremien vgl. Bracht S. 13; Heidelmeyer S. 229 f; Nowak Artikel 1 Rn. 8 f.

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prägung die Stellung eines persistent objector für sich in Anspruch nehmen kann. Darauf wird im Anschluß an diese Erörterung noch einzugehen sein. Die Diskussion in der Lehre ist zum Teil von der historischen Entwicklung des Selbstbestimmungskonzeptes geprägt. Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, diese Entwicklung nachzuvollziehen. Auch ist zu diesem Thema bereits hinreichend Literatur vorhanden. 20 Ausgangspunkt der meisten nachfolgend dargestellten Ansichten ist jedoch der Umstand, daß die Selbstbestimmungsidee erstmals und am umfangreichsten im Rahmen der Entkolonialisierung zur Rechtfertigung herangezogen wurde. Als Markstein auf diesem Weg wird die GA-Resolution 1514 (XV) vom 14.12.1960 über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker angesehen. 21 Die Resolution nennt in Artikel 2 das Selbstbestimmungsrecht als das Recht aller Völker. In nachfolgenden Resolutionen, insbesondere der Deklaration 2625 (XXV) vom 24.10. 1970 wird ebenfalls von einem Recht ausgegangen, allerdings ohne speziell auf den kolonialen Kontext abzustellen. Nur vereinzelt wird der Rechtsnormcharakter des Selbstbestimmungskonzeptes generell bestritten. Dafür werden zwei verschiedene Begründungen vorgetragen. So weisen Pomerance und Klein darauf hin, daß bereits die Entkolonialisierungspraxis uneinheitlich gewesen sei. Die Verdichtung zu Völkergewohnheitsrecht wird von ihnen somit schon für den historisch eindeutigsten Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts abgelehnt. Arangio-Ruiz und Rabl gehen bei ihren Überlegungen dagegen von einem grundsätzlich unbeschränkten Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts über Kolonialfälle hinaus aus. Für diesen weiten Rahmen kommen sie zu dem Schluß, daß Inhalt und Reichweite dieses Konzeptes zu unbestimmt für eine verbindliche Norm seien. 22 Aufgrund dieser Überlegungen wird das Selbstbestimmungsrecht zum Teil nur als Norm in statu nascendi eingeordnet. 23 20 Zum Beispiel. Heidelmever. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker 1973; Pomerance'. Self-Determination in Law and Practice 1982; Rabl. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker 1973; Sureda: The Evolution of the Right of Self-Determination 1973; Thürer (Das Sbr) 1976. 21 So auch der IGH in ICJ Reports 1975. 31. 22 Pomerance S. 66 ff. insbesondere 68, 67.72 f; F. Klein S. 18; Rabl S. 478 ff. 485. 489; Arangio-Ruiz S. 133, 144; ablehnend auch Jennings S. 78; Heidelmever S. 258 f. 23 So F. Klein S. 27; Rabl S. 479. 485. m. weiteren Nw. S. 479 Fn. 1869; ähnlich Jennings S. 21.

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Die absolut h.M. mißt dem Selbstbestimmungskonzept jedenfalls auf dem Gebiet der Entkolonialisierung den Charakter von Völkergewohnheitsrecht zu. Der eigentliche Streit entzündet sich an der Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht über diese Fälle hinaus als verbindliche Norm anwendbar ist. So betrachtet ein Teil der Literatur das Selbstbestimmungsrecht nur als Entkolonialisierungsrecht unter Einschluß der sog. abhängigen Gebiete. 24 Sie verweist darauf, daß ein eigenständiger völkerrechtlicher Status nur für Gebiete unter kolonialer und Fremdherrschaft vorgesehen sei.25 Eine erweiterte Anwendung müßte zu einem Sezessionsrecht fuhren, das mit dem Grundsatz der Souveränität unvereinbar wäre. Zudem wird grundsätzlich in Zweifel gezogen, ob das Völkerrecht ein subjektives Recht für Völker kenne. Außerhalb der Kolonialfälle sei die Selbstbestimmung daher nur als allgemeines Prinzip oder als "Standard" ohne normative Verbindlichkeit zu berücksichtigen. 26 Teilweise wird eine Ausweitung des Selbstbestimmungsrechts auf analoge Situationen zu Kolonialfällen befürwortet. Eine solche Analogie wird von einigen Autoren insbesondere bejaht, um das Selbstbestimmungsrecht auf konkrete Fälle außerhalb des traditionellen kolonialen Kontextes anzuwenden. 27 In der jüngeren Literatur wird ganz überwiegend ein erweiterter Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts vertreten. Hinsichtlich der Rechtsträgerbestimmung herrscht dabei im einzelnen noch keine Einigkeit. Bei allen Unterschieden in der Ausformung wird aber der Rechtsnormcharakter auch für einen erweiterten Rechtsträgerkreis nicht mehr in Frage gestellt. Nach dieser Auffassung stellt die Entkolonialisierungspraxis lediglich ein selbständiges Anwendungsgebiet innerhalb des Selbstbestimmungsrechts dar. Die Verdichtung zu Völkergewohnheitsrecht als Recht aller Völker über Kolonialfälle hinaus wird dabei auf Faktoren zurückgeführt wie den CCPR, die Deklaration 2625 und sonstiges Staatenverhalten außerhalb der Entkolonialisierung. 28

24

So Wolfrum/Partsch

Zif. 101 Rn. 19, 24; Saxena S. 19; Shaw in NethYBIL 13/1982,

71. 25

Vgl. GA-Resolution 3103 (XXVIII) v. 12.12.1973 und Absatz 6 des Selbstbestimmungsabschnittes der Deklaration 2625 (XXV) v. 24.10.1970. Als "Standard" bei Schachter (1) S. 194; ders. (2) S. 9; Saxena S. 18 f. Zur Kritik an der Einordnung als "Standard" siehe unter B. IV. 3.3. 21 Zur Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts auf Analogiefälle sowie für Nw. aus der Literatur siehe unter C. II. 1.2. 28 So: VHzÜmm/Hailbronner S. 214 f; Kiss in HRLJ 7/2-4, 1986, 167, 174; Nowak Artikel 1 Rn. 3; Dinstein in ICLQ 25/ 1976, 106; Murswiek in Der Staat 23/1984, 533, 546 Fn. 66; Ermacora in FS Heraud S. 118 f; Cremford in BY1L 1976-1977, 157 ff,

26

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Die Literatur zum Selbstbestimmungsrecht weist somit eine sehr große Divergenz zwischen der engsten und der weitesten Meinung auf. Allerdings ist eine sehr starke und hinsichtlich des Rechtscharakters einheitliche Ausweitungstendenz festzustellen. Diese Tendenz hat sich inzwischen zur ganz herrschenden Lehre verdichtet. 1.2. Das Selbstbestimmungsrecht v o r d e m IGH

Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat erstmals in seinen Gutachten zu Namibia und der West-Sahara Anlaß gehabt, sich zum Selbstbestimmungsrecht zu äußern. Das Gericht hat sich in beiden Gutachten dahingehend eingelassen, daß die Entwicklung des Völkerrechts dazu gefuhrt habe, daß das Prinzip der Selbstbestimmung auf alle non-self-governing territories anwendbar sei.29 Ferner hat der IGH ausdrücklich festgestellt, daß die Gültigkeit des Selbstbestimmungsrechts nicht davon beeinträchtigt werde, daß die Generalversammlung in bestimmten Fällen die Bevölkerung eines fraglichen Territoriums nicht zu einer Statusänderung konsultiert hat. Das Gericht erblickte in diesen Vorkommnissen keine Gegenpraxis, da das Selbstbestimmungsrecht in diesen Fällen jeweils aus spezifischen Gründen als nicht einschlägig erachtet wurde, ohne als solches in Frage gestellt worden zu sein.30 In seinem Ost-Timor Fall hat der IGH erneut zum Selbstbestimmungsrecht Stellung genommen. Das Gericht hat die Einlassung Portugals, „ that the right of peoples to self-determination, as it evolved from the Charter and from United Nations practice, has an erga omnes character" als „irreproachable" bezeichnet und fährt fort it is one of the essential principles of contemporary international /aw ".31 Richtig ist, daß auch der Ost-Timor Fall einen kolonialen Kontext betraf, da auch dieses Gebiet vom IGH, jedenfalls im Verhältnis zu den streitenden Parteien Portugal und Australien, als non-self-governing territory eingeordnet wurde. Insofern ist der abweichenden Meinung des Richters Weeramantry zuzustimmen, daß das Gericht nicht mit der Frage 159 f; Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 123 ff, 126 f; Tomuschat in FS Partsch S. 209, 212; Buchheit S. 32 ff insbesondere 34, 41 f, 221; Doehring (Das Sbr) S. 14 f; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 743 ff, insbesondere 749 ff; Veiter S. 262 f, 266. Im Ergebnis ebenso, ohne Einordnung in die Rechtsquellenlehre: Eide bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 153; Kimminich bei Tomuschat a.a. O. S. 83. 29 ICJ Reports 1971, 31; 1975, 31 f. 30 ICJ Reports 1975,33. 31 ICJ Reports 1995, 102, Zif. 29.

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konfrontiert war, wer als Träger des Selbstbestimmungsrechts anzusehen ist. 32 Eine Analyse der IGH-Entscheidungen fuhrt jedoch eher zu der Schlußfolgerung, daß das Gericht das Selbstbestimmungsrecht als allgemeinen Rechtssatz über den kolonialen Kontext hinaus versteht. 33 Der IGH hat in den beiden oben genannten Gutachten geäußert, die Entwicklungen des Völkerrechts berücksichtigen zu müssen, wie sie durch die UN-Charta und das Völkergewohnheitsrecht entstanden seien. 34 Insbesondere hat das Gericht für die Fragen, auf welche Weise die Selbstbestimmung zu verwirklichen sei und inwiefern andere Staaten zur Verwirklichung beizutragen haben, auf den diesbezüglichen Inhalt der Deklaration 2526 (XXV) zurückgegriffen. 35 Wenn der IGH diesem Teil der Deklaration einen fortbildenden Einfluß auf das Völkerrecht einräumt, so werden all jene Autoren beweispflichtig, die dem IGH eine entgegenstehende Wertung für den ersten Absatz des Selbstbestimmungsabschnitts der Deklaration unterstellen wollten. Dort wird aber die Selbstbestimmung als Recht aller Völker unter Fremdherrschaft bezeichnet. Auch die oben zitierte Passage aus der Ost-Timor Entscheidung nimmt neben der Charta auf die UN-Praxis Bezug. Bemerkenswert ist auch, daß die Passage zum Selbstbestimmungsrecht als Verpflichtung erga omnes keine Einschränkung auf den kolonialen Anwendungsbereich enthält, obwohl das Gericht diese Feststellung im Jahr 1995 getroffen hat, also in einem Zeitpunkt, in dem das Selbstbestimmungsrecht in dieser Form kaum noch Relevanz besaß. Bemerkenswert ist auch, daß das Selbstbestimmungsrecht in Sondervoten sogar als Satz des unabdingbaren Völkerrechtsechts (ius cogens) bezeichnet wird. 36 2. Methodik zur Herleitung von Völkergewohnheitsrecht 2.1. Die Frage nach Rechtscharakter und Rechtsträger

Die Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit einer Aussage, insbesondere ob durch sie Rechtspositionen im Sinne von Ansprüchen oder 32

Dissenting opinion Weeramantry in ICJ Reports 1995, 193. Zum Status Indonesiens als Grundlage des Rechtsstreits vgl. ICJ Reports 1995, 102 Zif. 31. 33 A. A. bezogen auf die beiden ersten Gutachten: Pomerance S. 69 f. 34 ICJ Reports 1971, 31, 1975, 31. 35 ICJ Reports 1971, 33. 36 Separate Opinion Ammoun in ICJ Reports 1971, 89 f; Dissenting opinion Skubiszewski in ICJ Reports 1995, 266, Zif. 135.

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Pflichten erzeugt werden, ist ein Problem des Rechtscharakters. Davon ist grundsätzlich die Frage zu trennen, wem dieses Recht beziehungsweise dieser Anspruch als Rechtsträger zustehen soll. Andererseits gehört es zum Wesen einer Rechtsnorm, daß sie Rechtsfolgen, wie zum Beispiel Ansprüche für den Rechtsträger, setzen kann. Dies setzt die Bestimmbarkeit eines solchen Rechtssubjektes voraus. Andererseits kann ein Rechtsträger grundsätzlich erst nach vorheriger Feststellung einer Rechtsnorm ermittelt werden. Insofern besteht also eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen beiden Aspekten. Gerade für das Selbstbestimmungsrecht mit seinem unbestimmten Rechtsträgerbegriff "Volk" ist daher zunächst zu klären, wie die Interdependenz zwischen beiden in einem methodischen Ansatz bezogen auf die Rechtsquelle des Völkergewohnheitsrechts aufgefangen werden kann. 2.1.1. Die methodische Trennung beider A s p e k t e

Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht zum Selbstbestimmungsrecht ist die Frage nach Inhalt und Reichweite eines Rechtes nicht von der Frage nach dessen Existenz zu trennen. In den Worten von Pomerance. „it is perhaps immaterial whether one affirms the existence of a legal "right" with an indeterminate content, or denies the existence of the "right" because of its indeterminate content"}1 Die h.L. läßt diese Einwände jedoch zu Recht nicht gelten. Sie verweist darauf, daß das Völkerrecht auch andere unbestimmte Rechtsbegriffe enthalte, deren Rechtsverbindlichkeit nicht in Frage gestellt werde. Als Beispiele werden das Gewaltverbot oder sogar die Menschenrechte genannt. Auch die Frage, unter welchen Bedingungen eine völkerrechtswidrige Intervention in innere Angelegenheiten eines Staates vorliegt, kann im Einzelfall ebenfalls schwer zu beurteilen sein. Außerdem sei eine Konkretisierung des Selbstbestimmungsrechts durch UNResolutionen und Entscheidungen des Sicherheitsrates möglich. Als ausschlaggebendes Kriterium wird die Ermittelbarkeit von entscheidbaren Evidenzfällen betrachtet. Die Aufzeigbarkeit solcher Evidenzfälle wird für das Selbstbestimmungsrecht bejaht. 38

3

Pomerance S. 67; vgl. auch F. Klein S. 18 f; Jennings S. 78. So Doehring (das Sbr) S. 10 f; Murswiek in Der Staat 23/1984, 526 f; Thürer noch mit negativem Ergebnis in Das Sbr S. 82, 95, 195 ff, aber positiv in ArchVR 22/1984, 125; im Ergebnis ebenso Brownlie (1) S. 596.

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2.1.2. Ermittlung des Rechtsträgers über Fallgruppen

Die in dieser Arbeit vorgenommene Trennung zwischen dem Problem der Normqualität und dem der Rechtsträgerbestimmung ist aber nicht nur grundsätzlich zulässig. Vielmehr ist eine vorangestellte Erörterung des Rechtscharakters gerade für die Rückführung des Selbstbestimmungsrechts auf Völkergewohnheitsrecht auch methodisch sinnvoll. Der Nachweis einer gefestigten Rechtsauffassung nebst Praxis enthält nämlich zugleich einen Verweis auf konkrete Beispiele. Damit läßt die Erörterung der Fakten, die zur Ausbildung von Völkergewohnheitsrecht führen, zugleich Rückschlüsse auf den Anwendungsbereich zu. Diese Relation soll für die vorliegende Arbeit nutzbar gemacht werden, indem die Erörterung zum gewohnheitsrechtlichen Charakter des Selbstbestimmungsrechts zugleich die Grundlagen schafft, auf denen in Kapitel D. Fallgruppen herausgebildet werden können, die einen Vergleich mit dem Tibet-Problem ermöglichen. Insoweit werden die Staatenpraxis in konkreten Situationen sowie fallbezogene Rechtsauffassungen allerdings erst im Rahmen der Fallgruppen unter D. erörtert. In diesem Teil C. sind zunächst nur die allgemeinen Rahmenbedingungen für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht zu erörtern. Diese bieten dann die Grundlagen für eine konkrete Darstellung der Praxis differenziert nach dem Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts, den sie betrifft. Die Erörterung des Selbstbestimmungsrechts anhand standardisierter Situationen findet sich teilweise auch in der Literatur. 39 2.2. Die Elemente des Völkergewohnheitsrechts

Nach absolut h.M. entsteht Völkergewohnheitsrecht durch gleichförmige Übung (consuetudo) in Verbindung mit entsprechender Rechtsüberzeugung (opinio iuris). Dabei herrscht im Grundsatz Einigkeit darüber, daß beide Elemente vorliegen müssen und getrennt zu ermitteln sind.40 Eine opinio iuris gilt als nachgewiesen, wenn sich aus der Praxis oder 39

Ähnlich wie hier, aber zum Teil mit anderen Kategorien arbeitend: Thürer in ArchVR 22/2, 1984, S. 125 ff; ders. in EPIL (8) S. 473 f; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 749 ff; allgemein für die Verlagerung des Diskussionsschwerpunktes auf spezifische Situationen auch Kimminich bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 90. Vgl. auch zum Problem von Rechtsträger und Inhalt: Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 389 f. 40 Vgl. für den IGH: ICJ Reports 1985, 29, 1986, 97 ff; Verdross/Simma S. 347 f m.w.N.; Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 56 f; Ipsen/Heintschel v. Heinegg S. 191 Rn. 2, 197 f.; Vitzthum/W/z/Aum S. 84.

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Äußerung von Staaten ihre Überzeugung ergibt, zu einem bestimmten Verhalten rechtlich verpflichtet zu sein, oder die Einsicht in die Notwendigkeit einer entsprechenden Rechtspflicht gegeben ist. 41 Als Übung kommt grundsätzlich jedes staatliche Handeln in Betracht. 4 2 Dabei genügt es, wenn diese Praxis von einer repräsentativen Mehrheit der Staaten getragen wird. 43 Außerhalb dieser Grundsätze ist vieles streitig. Dementsprechend werden diese Grundlagen im folgenden näher ausgestaltet. Gerade im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht ist zunächst das Verhältnis von Übung und Rechtsauffassung von Interesse. 2.2.1. D a s Verhältnis von opinio iuris und Übung 2.2.1.1. Die Frage der zeitlichen Reihenfolge

Das Verhältnis der beiden konstitutiven Elemente wurde ursprünglich als zeitliche Aufeinanderfolge angesehen. Danach wurde Völkergewohnheitsrecht durch konstante Staatenpraxis in Verbindung mit allmählich hinzutretender Rechtsüberzeugung gebildet. Im Anschluß an das Urteil des IGH im North Sea Continental Shelf Case hat sich in der Völkerrechtsdogmatik jedoch eine flexiblere Auffassung durchgesetzt. Danach kann der Rechtserzeugungsprozeß insofern umgekehrt werden, als eine geäußerte opinio iuris durch nachfolgende konstante Staatenpraxis bestätigt wird. 44 2.2.1.2. Die Frage des U m f a n g s

Aus dem hier untersuchten externen Aspekt des Selbstbestimmungsrechts folgt, daß die Zuerkennung dieses Rechtes zugleich die Möglichkeit einer Statusänderung für die Bevölkerung eines Gebietes eröffnet. Im Gegensatz zu der Zeit vor dem 2. Weltkrieg sind aber sowohl die internationalen Verhältnisse als auch das gegenwärtige Völkerrecht auf 41

Verdross/Simma S. 353 § 560; Ipsen/Heintschel v. [leinegg S. 194 Rn. 12 ff. Verdross/Simma S. 353 § 559, 369 § 584; \pxn flemtschel v. Heinegg S. 200 Rn. 41. " Arangio-Ruiz S. 51; Dahm/Delbrück Wolfrum S. 59; Ipsen/Heintschel v. Heinegg S. 193 Rn. 10 f; Turp in AcanDi 1982, 57. Für noch geringere Anforderungen bei fehlender Gegenpraxis: Akehurst in BYIL 1974-1975, 18. 44 ICJ Reports 1969, 42 f; Verdross/Simma S. 368 § 583; Pomerance S. 65; Ipsen/Heintschel v. Heinegg S. 197 Rn. 23; Arangio-Ruiz S. 49; Vitzthum/F;7r/Awm S. 86 f; Tomuschat in ZaöRV 36/1-3, 1976, 468 f mit zahlreichen Nw. Noch weiter gehend Akehurst in BYIL 1974-1975, 8: Änderung des Völkergewohnheitsrechts durch abstrakte Äußerung einer Rechtsauffasung durch die Staaten. 42

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Schutz und Erhalt des status quo ausgerichtet. Daher kann eine solche Statusänderung nur als Ausnahme von der Kontinuität staatlicher Strukturen in Erscheinung treten. Demnach ist in der Ausübung dieses Selbstbestimmungsaspektes nur eine geringe Praxis zu erwarten. Damit stellt sich die Frage, ob die allgemeine Dogmatik zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht ein solches quantitatives Auseinanderfallen von Rechtsauffassung und Übung zuläßt. Der IGH hat bereits in seiner oben genannten Entscheidung festgestellt, daß Völkergewohnheitsrecht in Anknüpfung an eine vertragliche Norm auch ohne das Verstreichen einer besonderen Zeitspanne entstehen könne. Unter der Bedingung einer weitreichenden Teilnahme an dem Vertrag hat das Gericht sogar eine nachfolgende Staatenpraxis für verzichtbar erklärt. 45 Allerdings hat der IGH diese Rechtsprechung später dahingehend korrigiert, daß gleichwohl primär beide Elemente des Völkergewohnheitsrechts vorliegen müssen. 4 6 Dieser Judikatur hat sich inzwischen auch ein großer Teil der Literatur angeschlossen. Danach genügt bei vorangegangener starker Manifestation einer opinio iuris auch eine verhältnismäßig geringe Übung, um Völkergewohnheitsrecht entstehen zu lassen. 47 Lediglich die Existenz eines Gewohnheitsrechts, das gänzlich ohne Praxis entstehen soll, das sog. instant custom, wird von der h.L. explizit abgelehnt. 48 Die geschilderte dogmatische Entwicklung läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß zwischen Rechtsüberzeugung und Übung kein fixes Verhältnis besteht. Vielmehr ist bereits eine geringe Praxis ausreichend, wenn sich bereits zuvor eine starke opinio iuris gebildet hat.

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ICJ Reports 1969, 42 f: Lediglich für den Fall, daß keine weitreichende Vertragsteilnahme vorliegt, stellt der IGH das Erfordernis einer extensiven und einheitlichen Übung auf. 46 ICJ Reports 1985, 29. 47 So ausdrücklich: Kirgis in AJIL 81/1987, 149 ff nach vorangehender Auswertung weiterer IGH-Entscheidungen; Arangio-Ruiz S. 47 ff, insbesondere S. 52; Tomuschat in ZaöRV 36/1-3, 1976, 469. Generell für eine Vernachlässigung der Zeitfrage und Relativierung des erforderlichen Umfanges: Akehurst in BYIL 1974-1975, 15 f, 18. Lediglich das vom IGH alternativ genannte Kriterium extensiver und einheitlicher Praxis betonend: Ipsen/Heintschel v. Heinegg S. 192 f Rn. 8 f; Verdross/Simma S. 361 f § 571. 48 Verdross/Simma S. 358 f; Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 56 Fn. 30, S. 72 f; Ipsen/ Heinischel v. Heinegg S. 192 Rn. 7; einschränkend: Arangio-Ruiz S. 47 Fn. 18, S. 53.

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2.3. Der Stellenwert von Verträgen und UN-Resolutionen

Die vorgenannte Entwicklung bietet zugleich die Möglichkeit, den zunehmenden Einfluß von multilateralen Verträgen und GA-Resolutionen auf das Völkerrecht auch in das System der Bildung von Völkergewohnheitsrecht einzubeziehen. Nach überwiegender Ansicht bleibt es für den Nachweis der Übung bei dem Erfordernis der Staatenpraxis im konkreten Fall. 49 Obwohl GA-Resolutionen und Verträge teilweise unter dem Begriff Staatenpraxis behandelt werden, ist ihre Einordnung als Übung im Rahmen des Völkergewohnheitsrechts fraglich, da sie häufig keinen konkreten Fall betreffen oder keine konkrete Handlung darstellen. 50 Anders steht es mit dem Verhältnis von Resolutionen und Verträgen zur opinio iuris. Unter bestimmten Voraussetzungen wird ihnen zumindest ein indizieller Wert für die Feststellung einer Rechtsüberzeugung zugemessen. 2.3.1. Verträge im Völkergewohnheitsrecht

Für die Einordnung internationaler Verträge in die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht wird allgemein auf die IGH-Entscheidung zum North-Sea-Continental-Shelf-Case (Festlandsockelurteil) zurückgegriffen. 51 Unter der herrschenden Auffassung, daß eine zu Völkergewohnheitsrecht führende Übung nur in einem konkreten fallbezogenen Verhalten liegen kann, wird demnach durch einen multilateralen Vertrag unter bestimmten Voraussetzungen eine starke opinio iuris manifestiert, an die sich die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht anknüpfen kann. 52 Die Vorgaben des IGH lassen sich wie folgt zusammenfassen:

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So ist wohl auch der IGH in ICJ Reports 1985. 29 und 48 zu verstehen. Ebenso 1 erdross/Simma arg. ex. S. 353 § 559, 368 § 583, 409 f § 637; IpsenJHeintschel v. Heinegg S. 191 Fn. 5 u. 6, 195 Rn. 17. A. A. Akehurst in BYIL 1974-1975, 4 ff. 50 Für die weite Verwendung des Praxisbegriffes vgl. zum Beispiel: IGH in ICJ Reports 1974, 195, ICJ Reports 1985, 38; Sep. Op. Ammoun in ICJ Reports. 1970, 102; ArangioRuiz S. 39 der aber zugleich differenziert zwischen staatlichem Verhalten im konkreten Fall und allgemeiner Rechtsauffassung ( so S. 46 ff). Kritisch zu dieser "paper practice" Simma'Alston in AustrYBIL 12, 1988/1989, 89 f. 51 ICJ Reports 69. 42 ff. 52 So ausdrücklich auch IpsenJHeintschel v. Heinegg S. 196 f Rn. 22. S. 201 f Rn. 45 f. A. A. Akehurst in BYIL 1974-1975, 43 f: Verträge als Staatenpraxis, die von einer opinio iuris begleitet sein muß. Auch soweit keine Einordnung unter die Elemente Übung und opinio iuris erfolgt, wird in der Literatur in Anknüpfung an das Festlandsockelurteil des IGH davon ausgegangen, das multilaterale Verträge als Anknüpfungspunkt für die

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a) In qualitativer Hinsicht muß die fragliche Regelung einen „fundamentally norm-creating character such as could be regarded as forming the basis of a general rule of law" besitzen, also die Grundlage für eine allgemeine Regel des Völkerrechts bilden können. b) Ein Verstreichen längerer Zeit nach Inkrafttreten des Vertrages hält das Gericht ausdrücklich nicht für erforderlich. Statt dessen stellt es quantitative Anforderungen an die Anzahl der Vertragspartner oder Umsetzung dieser Regelung auf. Danach ist es erforderlich, daß dem Abkommen Staaten in weitreichendem und repräsentativem Umfang beitreten. Dabei wird insbesondere Wert auf eine Teilnahme der am Regelungsgegenstand besonders interessierten Staaten gelegt. Im übrigen wird das Fehlen lang andauernder Übung durch erhöhte Anforderungen an die Qualität der Übung kompensiert. Die Staatenpraxis muß dann umfassend sein und praktisch einheitlich im Sinne des Abkommens erfolgen. Außerdem muß auch diese Praxis auf die Anerkennung einer entsprechenden Verpflichtung schließen lassen, um die notwendige opinio iuris aufzuweisen. Gerade hier gilt die Teilnahme von Staaten, deren Interessen besonders berührt werden, als unerläßlich. 2.3.2. UN-Resolutionen im Völkergewohnheitsrecht

Auch aus der Zustimmung zu Resolutionen der UN-Generalversammlung hat der IGH auf eine opinio iuris geschlossen. 53 Welche Resolutionen hier gerade für das Selbstbestimmungsrecht in Betracht kommen, soll später bei der Untersuchung zur opinio iuris im Sinne eines Selbstbestimmungsrechts aller Völker dargelegt werden. Die h.L. verweist darauf, daß Resolutionen grundsätzlich nur unverbindliche, allgemein gehaltene Willensbekundungen darstellen, läßt UNResolutionen unter bestimmten Voraussetzungen aber ebenfalls als Nachweis einer opinio iuris zu, der eine Staatenpraxis folgen muß. 54 Die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht dienen können: Verdross/Simma S. 350 ff § 556; Thürer (Das Sbr) S. 118, 122 f. 53 ICJ Reports 1986, 100, 101 Zif. 191, 102 Zif. 193, 106 Zif. 202. Auch im FisheriesJurisdiction-Case hat der IGH auf Resolutionen zum Nachweis von Staatenpraxis zurückgegriffen: ICJ Reports 1974, 195; vgl. auch die Ausführungen bei Frowein in ZaöRV 36/1-3, 1976, 155 f. 54 So Arangio-Ruiz S. 41 ff; Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 60 f, 72; Verdross/Simma S. 368 § 583, 409 § 637; IpseniHeintschel v. Heinegg S. 197 Rn. 23; Frowein in ZaöRV 36/1-3, 1976, 150, 166; Pomerance S. 65; Kirgis in AJIL 81/1987, 148 Fn. 9; Thürer

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Inhalte dieser Lehre lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Staaten müssen sich nach dem Wortlaut der Resolution zu einer N o r m mit bindendem Charakter und nicht nur zu einer moralischen Zielbestimmung bekennen. Die Resolution muß mit g r o ß e r Mehrheit a n g e n o m m e n w o r den sein. Auch hier kann die notwendige Repräsentativität nur durch die Beteiligung der besonders betroffenen Staaten gewährleistet w e r den. Schließlich bleibt festzuhalten, daß den Resolutionen dann um so mehr B e d e u t u n g z u k o m m t , j e stärker sie die angegebenen Voraussetzungen erfüllen. Eine einheitliche und beständige Bestätigung durch die Staatenpraxis fuhrt dann zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht. B e s o n d e r s problematisch ist die B e w e r t u n g von Resolutionen, die im Konsensusverfahren verabschiedet wurden. Soweit die fragliche R e s o lution j e d o c h das Ergebnis langer Verhandlungen und gegenseitiger K o m p r o m i s s e ist, m u ß auch der so entstandenen Erklärung ein zumindest indizieller Wert f ü r die Feststellung einer opinio iuris zuerkannt werden. 5 5 Zu unterscheiden von den bislang behandelten Empfehlungen sind die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII U N - C h a r t a . Diese Akte zeichnen sich durch zwei Besonderheiten aus. Z u m einen entfalten sie f ü r die UN-Mitglieder verbindliche Wirkung mit zum Teil erheblicher Reichweite. Im Vergleich zu GA-Resolutionen haben diese Erklärungen daher eine konkrete Gestaltungswirkung, indem sie, zum Beispiel in F o r m bindender Sanktionsbeschlüsse, unmittelbar auf die Staatenpraxis Einfluß nehmen. Sie stellen somit mehr dar als bloße Willensbekundungen. Z u m anderen ist zu unterstellen, daß die an der Abstimmung beteiligten Staatenvertreter gerade wegen dieser Wirkungen mit b e s o n d e r e m Rechtsbewußtsein handeln. Resolutionen des U N Sicherheitsrates, die imperativ an bestimmte Staaten adressiert sind, stellen nach Ansicht des Verfassers daher eine Ü b u n g und nicht nur eine Manifestation von opinio iuris dar. 5 6 (Das Sbr) S. 105; Tomuschat inZaöRV 36/1-3, 1976, 467 f. m. zahlr. Nw„ 469 f. A. A„ wenn auch ähnliche Anforderungen an Resolutionen stellend Akehurst in BYIL 19741975, 5 ff, 53. GA-Resolution als Staatenpraxis die von einer opinio iuris bgleitet werden müsse. ss Tomuschat in ZaöRV 36/1-3, 1976. 485 f; Dahm/DelbrüchWolfrum S. 60 f; Pomerance S. 66, Arangio-Ruiz S. 51. sfl In diesem Sinn auch Verdross/Simma S. 368 § 583. wonach diese Übung dadurch zu einer "allgemeinen" wird, daß sie von anderen Staaten ausdrücklich oder widerspruchslos hingenommen wird; einschränkend Pomerance S. 68; kritisch auch Frowein in ZaöRV 36/1-3, 1976, 164 f allerdings unter der Frage nach einem Weltgesetzgeber.

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3. Geltung des Selbstbestimmungsrechts als Gewohnheitsrecht

Im folgenden soll zunächst dargelegt werden, inwieweit sich die für eine gewohnheitsrechtliche Verfestigung des Selbstbestimmungsrechts erforderliche opinio iuris in internationalen Dokumenten manifestiert. Demgegenüber beschränken sich die Überlegungen zur Praxis darauf, welche Anforderungen gerade an den Nachweis für die Übung zum Selbstbestimmungsrecht zu stellen sind, da die konkreten Praxisnachweise erst im Rahmen der Fallgruppenbildung erfolgen soll. Da diese Untersuchung lediglich eine Vorfrage für die Subsumtion der TibetFrage unter das Selbstbestimmungsrecht darstellt, muß sie sich auf den Nachweis einer gewohnheitsrechtlichen Geltung außerhalb der Entkolonialisierung konzentrieren, da sich das Tibet-Problem außerhalb dieser historischen Fallkonstellation befindet. 3.1. Opinio iuris zum Selbstbestimmungsrecht

Bei der Erörterung der Grundlagen des Völkergewohnheitsrechts wurde festgestellt, daß insbesondere internationale Verträge und UNResolutionen als Nachweis einer opinio iuris in Betracht kommen. Daher erfolgt hier eine kurze Darstellung der wichtigsten Verträge und Resolutionen, die vom Selbstbestimmungsrecht als Rechtssatz über Kolonialfalle hinaus ausgehen. 3.1.1. Selbstbestimmungsrecht und internationale Abkommen

Für die nachfolgende Erörterung kommen nur multilaterale Verträge in Betracht, die sowohl hinsichtlich ihrer Formulierung zum Selbstbestimmungsrecht als auch hinsichtlich des Kreises der Vertragsstaaten den Anforderungen des IGH gerecht werden können. Danach müssen sie normbildenden Charakter haben sowie über einen weitreichenden und repräsentativen Kreis von Teilnehmerstaaten verfugen. Als vertraglicher Anknüpfungspunkt für eine gewohnheitsrechtliche Verfestigung des Selbstbestimmungsrechts kommen insbesondere die internationalen Menschenrechtspakte von 1966 (CESCR und CCPR) in Betracht. Die 1976 in Kraft getretenen Pakte bezeichnen in ihrem gleichlautenden Artikel 1 das Selbstbestimmungsrecht als Recht aller Völker. Artikel 1 Absatz 1 der Pakte lautet:

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Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechtes entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. Auch wird in ihnen die freie Entscheidung über den eigenen politischen Status als Ausfluß dieses Rechtes genannt. Die folgenden Ausfuhrungen beschränken sich auf den Pakt über bürgerliche und politische Rechte (CCPR), da sich die Literatur zum Selbstbestimmungsrecht im wesentlichen mit dieser Konvention auseinandersetzt. Zunächst ist festzustellen, daß der CCPR die für die Bildung von Völkergewohnheitsrecht aufgestellten zeitlichen Anforderungen in weit höherem Maß erfüllt als das der IGH Entscheidung zugrunde liegende Festlandsockel-Abkommen. Bestand jenes im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung erst seit 10 Jahren und war erst seit 5 Jahren in Kraft, so liegen beim CCPR bereits zwischen der Verabschiedung durch die Generalversammlung im Jahr 1966 und dem Inkrafttreten 10 Jahre. Auch im Hinblick auf einen weitreichenden und repräsentativen Teilnehmerkreis wird er den Anforderungen weit eher gerecht. Der Ratifikationsstand lag am 1.1.1997 bei 135 Vertragsstaaten. 5 7 Dabei ist gerade der CCPR von vielen Staaten ratifiziert worden, die selbst unter ihrer Bevölkerung potentielle Anwärter auf die Anerkennung als Volk und damit Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechts haben, so Frankreich, Indien, Jugoslawien, Spanien, die damalige CSfR und die ehemalige UdSSR. Zudem ist der Text 1966 von der Generalversammlung einstimmig angenommen worden, womit eine Zustimmung über den Kreis der Vertragsparteien hinaus gegeben ist. 58 Der normbildende Charakter des Selbstbestimmungsartikels steht außer Frage. So nennt der CCPR das Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich als ein Recht aller Völker, kraft dessen sie zur freien Statusbestimmung legitimiert sind. Die Wortwahl ist insofern eindeutig. 59 Im übrigen ergibt sich aus Artikel 1 Absatz 3 und Artikel 2 Absatz 1, daß mit dem Selbstbestimmungsrecht ein für die Staaten verbindlicher Rechtssatz festgeschrieben wurde. 6 0 Dabei geht der Menschenrechtsausschuß in " Marie in HRLJ 18/1-4. 1997. 84. GA-Resolution 2200A-C (XXI) v. 16.12.1966. 59 Nowak: Artikel 1 Rn. 14 auch unter Hinweis auf die travaux préparatoires 60 Vgl. Nowak Artikel: 1 Rn. 20 ff. 58

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seiner Kommentierung davon aus, daß das Selbstbestimmungsrecht des CCPR auch auf Völker außerhalb der Vertragsstaaten anwendbar ist. 61 Der Vertrag geht somit von einem universellen Selbstbestimmungsrecht aus. Zwar konnten sich auch die Vertragsstaaten des CCPR nicht über eine exakte Definition des Volksbegriffes einigen, doch gehen Wortlaut und Intention klar über Kolonialfälle hinaus. 62 Im Unterschied zum Vertrag im Festlandsockelfall des IGH enthält der Pakt keine besondere Bestimmung über die Rechtswirkung von Vorbehalten. 63 Allerdings hat der unter dem CCPR konstituierte Menschenrechtsausschuß einen general comment zu diesem Problem verfaßt. Darin erklärt der Ausschuß insbesondere die Regelung des Artikel 19 lit. c) der Wiener Vertragsrechts-Konvention für anwendbar. Vorbehalte sind danach nur zulässig, sofern sie nicht mit Ziel und Zweck des Vertrages unvereinbar sind. Die Rechtsfolge einer solchen Unvereinbarkeit soll nach Ansicht des Ausschusses darin bestehen, daß der Pakt vorbehaltlos für den betreffenden Staat gilt. Beispielhaft hat der Ausschuß ausgeführt, daß ein die Rechte aus Artikel 1 CCPR negierender Vorbehalt mit Ziel und Zweck des Paktes unvereinbar sei. 64 Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß in Artikel 1 CCPR eine starke opinio iuris zum Ausdruck kommt, die als Teil einer gewohnheitsrechtlichen Verfestigung des Selbstbestimmungsrechts über Kolonialfälle hinaus anzusehen ist. 65 Auch im 1. Teil der Helsinki-Schlußakte von 1975 wird unter Ziff. VIII festgestellt, daß alle Völker Kraft des Prinzips der Gleichheit und des 61

General comment 12/21 Zif. 6, Text bei Nowak S. 885. So Nowak: Artikel 1 Rn. 31; ders. zu dem gescheiterten Versuch einer genaueren Bestimmung durch den mit der Ausarbeitung betrauten Ausschuß: Artikel 1 Rn. 6 und zu den Möglichkeiten näherer Auslegung: Artikel 1 Rn 7. 63 Dazu Nowak-, Einfuhrung S. XXIII Rn. 22. 64 General Comment No. 24 (52) relating to reservations, Text in HRLJ 15/11-12, 1994, 464 ff, insbesondere Ziff. 6, 9 und 18. Eine Stellungnahme zur eingeschränkten Auslegung des Volksbegriffs hat Indien beim Vertragsbeitritt abgegeben. Diesem wurde aber explizit seitens Frankreichs, der Bundesrepublik Deutschland und der Niederlande widersprochen: Wortlaut der Erklärungen bei Horn S. 288 f. 65 Von einer Verdichtung der Selbstbestimmungsformel in den Pakten zu Völkergewohnheitsrecht ausgehend: Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 123 unter Hinweis auf die Annahme durch die GA; Ermacora in FS Heraud S. 118 f. Vgl. auch Turp in AcanDi 1982, 70 und 74: der Pakt (damaliger Ratifikationsstand von 66 Staaten) nur als potentielle gewohnheitsrechtliche Quelle für das Selbstbestimmungsrecht als Sezessionsrecht. 62

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Selbstbestimmungsrechts der Völker das Recht zur freien Bestimmung ihres internen und externen politischen Status besitzen. 66 Als Beitrag zur opinio iuris kommt ihr indizielle Bedeutung zu, da sie als Abschlußdokument der KSZE auch nach ihrer späteren Erweiterung um die Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR zwar einen beschränkten aber großen geographischen Entfaltungsbereich hat. Die Akte wird durchweg als außerrechtliche Abmachung eingestuft, die keine Vertragsverpflichtungen erzeugt. 67 Allerdings hat der IGH der Schlußakte in seinem Nicaragua-Fall eine besondere Bedeutung für die Ermittlung der von den Vereinigten Staaten geteilten opinio iuris zum Gewaltverbot beige68 messen. Ähnlich verhält es sich mit der Afrikanischen Charta der Rechte der Menschen und der Völker von 1981. Sie stellt in Artikel 20 fest, daß alle Völker ein unbestreitbares und unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung haben. Die Charta wurde im Juni 1981 einstimmig durch die Staats- und Regierungschefs der OAU angenommen. Ihr Ratifikationsstand lag am 01.01.1995 bei 49 Vertragsstaaten. 69 Die Charta deckt damit, ebenso wie die Helsinki-Schlußakte, einen begrenzten, jedoch großen geopolitischen Raum ab. Das Zusatzprotokoll vom 12.12.1977 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I zu den Rotkreuzkonventionen) hat ebenfalls das Selbstbestimmungsrecht in sein Regelungswerk integriert. Gemäß Artikel 1 Absatz 4 gehören auch bewaffnete Konflikte, in denen Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regime in Ausübung ihres Rechtes auf Selbstbestimmung kämpfen, zum Anwendungsbereich des Protokolls. Das Protokoll setzt damit den Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts voraus, da die Rechtsträger demnach eine gewisse Völkerrechtssubjektivität besitzen und die Beeinträchtigung und Wahrnehmung ihrer Rechte demzufolge dem innerstaatlichen domaine réservé entzogen ist. Allerdings beschränkt das Protokoll den Anwendungsbereich auf den 66

So Teil la) Zif. VIII Absatz 2, Text zum Beispiel in EA 17/1975, D 437 ff, insbesondere 442. 67 So Verdross/Simma S. 342 § 545 m.w.N.; eingehend zur Bedeutung der Akte für das Selbstbestimmungsrecht als Sezessionsrecht: Turp in AcanDi 1982, 71 ff. 68 ICJ Reports 1986, 100 Zif. 189 und 133 Zif. 264. 69 Zum Ratifikationsstand: Marie in RUDH 7/1-3, 1995, 69. Allgemein zur sog. BanjulCharta vgl. Mbaya in VN 4/1984, 132 ff; fur weitere Literaturhinweise siehe die Besprechung in HRQ 17/1995, 807.

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Kampf gegen Kolonialisierung, Rassismus und militärische Besetzung. Der Kreis der erfaßten Rechtsträger ist somit enger definiert als bei den vorgenannten Verträgen. 3.1.2. Selbstbestimmungsrecht und UN-Resolutionen

Im Wortlaut gleich mit dem CCPR, aber schon sechs Jahre früher, nennt die Resolution 1514 (XV) vom 14.12.1960 in Artikel 2 das Selbstbestimmungsrecht als Recht aller Völker. Wenn auch der Titel und viele Aussagen in der Präambel der Resolution auf die Dekolonialisierung verweisen, so war die Formulierung in Artikel 2 schon der erste Schritt darüber hinaus. Der IGH hat sowohl im West-Sahara- als auch im Namibia-Gutachten die Deklaration 1514 (XV) vom 14.12.1960 als wichtigen Schritt in der Entwicklung des Völkergewohnheitsrechts bezeichnet.70 Nachfolgend sollen einige spezielle Resolutionen betrachtet werden, die in besonderem Maß zur Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechts über Kolonialfalle hinaus beigetragen haben. Mit Bezug auf die oben genannten Kriterien ist unter den Resolutionen insbesondere die Deklaration 2625 (XXV) vom 24.10.1970 hervorzuheben. Diese Deklaration behandelt das Selbstbestimmungsrecht in ihrem 5. Abschnitt in 8 Absätzen. Absatz 1 lautet: Kraft des in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Grundsatzes (principle) der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker haben alle Völker das Recht, ohne Eingriffe von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung zu verfolgen und jeder Staat hat die Pflicht, dieses Recht in Obereinstimmung mit den Vorschriften der Charta zu achten. Ferner wird anstelle der früheren Formulierung Völker unter Kolonialherrschaft die allgemeinere Bezeichnung der Völker unter Fremdherrschaft verwendet, indem es in Absatz 2 unter lit. (b) heißt, (...) daß die Unterwerfung von Völkern unter fremder Unterjochung, Herrschaft und Ausbeutung sowohl eine Verletzung dieses Grundsatzes (principle) als auch eine Nichtachtung fundamentaler Menschenrechte bedeutet und der Charta widerspricht.

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ICJ Reports 1971, 31; ICJ Reports 1975, 32.

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Nach dem Verständnis der Rechtsabteilung des Generalsekretärs der UNO folgt aus der Bezeichnung als Deklaration, daß von den UNMitgliedern eine stärkere Befolgung erwartet wird als bei sonstigen Resolutionen. Dies geht aus einem Memorandum des Legal Office aus dem Jahr 1962 hervor. 71 Gerade für die Deklaration 2625 ist allgemein anerkannt, daß ihr entscheidende Bedeutung für die Bestimmung und Auslegung von Völkergewohnheitsrecht zukommt. So hat der IGH in seinem Nicaragua-Fall gleich mehrfach auf die Deklaration für die Auffindung von opinio iuris zu verschiedenen Völkerrechtsprinzipien Bezug genommen und dargelegt, daß die Zustimmung zu derartigen Resolutionen als Übernahme der darin enthaltenen Regeln verstanden werden darf. 72 In der Literatur wird betont, daß von der Einsetzung des mit der Deklaration befaßten Sonderausschusses im Jahre 1963 bis zu ihrer Fertigstellung 1970 ein sehr langer Reifungsprozeß stattgefunden hat. Daher kann die Deklaration als gefestigtes und repräsentatives Ergebnis ausfuhrlicher Diskussionen gelten. 73 Die Bedenken, die allgemein gegen Resolutionen erhoben werden, die ohne förmliche Abstimmung im Konsensusverfahren verabschiedet wurden 74 greifen fiir die Deklaration 2625 daher nicht. Neben der langen Ausarbeitungszeit ist hervorzuheben, daß das Konsensprinzip bereits während der Arbeiten innerhalb des Spezialkomitees befolgt wurde. Die so erzielte Ausgewogenheit spricht fiir eine auch faktisch breite Akzeptanz, selbst wenn die Deklaration von der Generalversammlung nur durch das Ausbleiben förmlichen Widerspruchs angenommen wurde. 75 Sowohl aus der GA-Resolution 1815 (XVII), die die Arbeiten an der Deklaration in Gang setzte, als auch aus der Präambel der Deklaration selbst folgt, daß nicht nur eine Kodifikation des bereits geltenden Rechts, sondern auch seine Fortentwicklung durch die Deklaration beabsichtigt war. 76 Aber auch wenn man die Eingangs erwähnten Passa-

71

Text zum Beispiel bei Verdross/Simma S. 409 Fn. 41; Pomerance S. 64 f.

72

ICJ Reports 1986, allgemein S. 99 f Zif. 188 und S. 133 Zif. 264; Vgl. auch S.101 Zif. 191, 102 Zif. 193, 106 Zif. 202, 107 ff Zif. 203 ff. 73

So Thürer (Das Sbr) S. 178; Heidelmeyer S. 239; Tomuschat in ZaöRV 36/1-3, 1976,

449. 14

Dazu Dahm/DelbrückAVolfrum S. 60 f; Verdross/Simma S. 90 §122; Pomerance

S. 66. 75 So Thürer (Das Sbr) S. 178 f; allgemein zum Stellenwert solcherart entstandener Deklarationen in diesem Sinn: Tomuschat in ZaöRV 36/1-3, 1976, 480. 76

Dazu Arangio-Ruiz

S. 90 ff; Thürer (Pas Sbr) S. 178.

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gen als de lege ferenda-Ausfuhrungen betrachten wollte, 77 ist gerade diese Willensbekundung im Rahmen der Entwicklung des Völkerrechts zu berücksichtigen, da sich darin eine Rechtsauffassung widerspiegelt die Geltung beansprucht. 78 Nachfolgend haben viele Autoren den Inhalt der Deklaration 2625 zur Bestimmung des aktuellen Gehalts des Selbstbestimmungsrechts herangezogen. 79 Der Menschenrechtsausschuß unter dem CCPR will für die Auslegung des Selbstbestimmungsartikels ebenfalls die Deklaration berücksichtigt wissen. 80 Im Ergebnis kann gesagt werden, daß sich die Passage zum Selbstbestimmungsrecht der Deklaration wegen ihrer starken Rezeption zumindest relativ kurz nach ihrer Verabschiedung zu einer aktuellen Rechtsauffassung entwickelt hat. Die Deklaration bezeichnet als Rechtsträger "alle Völker". In dem mit der Ausarbeitung befaßten Spezialkomitee konnte keine Einigung auf eine genaue Begriffsbestimmung erzielt werden. 81 Gleichwohl folgt aus der beispielhaften Aufzählung in Absatz 2 (b) des 5. Abschnittes, nach der das Selbstbestimmungsrecht insbesondere durch äußere Unterjochung, Fremdherrschaft und Ausbeutung verletzt wird, daß keine Beschränkung auf bloße Kolonialfalle intendiert war, zumal dieser Prozeß 1970 größtenteils abgeschlossen war. 82 Die Wandlung des Selbstbestimmungsrechts von einem Instrument der Dekolonialisierung zum darüber hinausgreifenden Recht kam auch in einer Ausweitung der alljährlichen GA-Resolution zum Selbstbestimmungsrecht zum Ausdruck. So wurde in Ergänzung zu dem bisherigen Text das Selbstbestimmungsrecht nicht mehr nur als Recht von Kolonialvölkern, sondern auch als Recht von Völkern unter Fremdherrschaft bezeichnet. Zudem kam die Trennung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht als Recht aller Völker und der Entkolonialisierungspraxis in der getrennten Behandlung beider Komplexe durch die Generalversammlung zum Ausdruck. So wurden parallel zu allgemeinen Resolu77 Vgl. Arangio-Ruiz S. 132 f, 93, 173 der den Selbstbestimmungsabschnitt als de lege ferenda-Formulierung bewertet. 78 Zum Stellenwert der Deklaration im Ergebnis ebenso: Verdross/Simma S. 264 § 453; Frowein in ZaöRV 36/1-3, 1976, 153 f; Tomuschat in ZaöRV 36/1-3, 1976, 480 f. 79 So: Die Internationale Juristenkommission in ICJ-Review 1972, 44; Thürer (Das Sbr) S. 124; Cassese S. 108, 110; Cristescu S. 10; Ermacora in FS Héraud S. 116. 80 General comment 12/21 Zif. 7, Text bei Nowak S. 885. 81 Zur Diskussion vgl. Thürer (Das Sbr) S. 182. 82 Ebenso Arangio-Ruiz S. 135 ff; Cassese S. 109.

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tionen über den Stand der Implementierung des Selbstbestimmungsrechts auch Resolutionen zur Implementierung der Resolution 1514 mit rein kolonialem Kontext verabschiedet. 83 Im Jahr 1980 finden sich erstmals zwei Resolutionen zum Selbstbestimmungsrecht nebeneinander, von denen nur noch eine den Bezug zum kolonialen Kontext hervorhebt. 84 Ausgehend von diesen beiden Resolutionen verabschiedet die Generalversammlung seit 1981 jährlich im Konsensusverfahren eine gleichlautende Resolution unter dem Titel "Universal realization of the right of peoples to self-determination" 85 Die Resolution bezieht sich in Absatz 1 der Präambel unter anderem auch auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschenrechtspakte. Zwar nennt die Resolution neben fremdbestimmten auch Kolonialvölker als Rechtsträger, bezieht sich jedoch ansonsten insbesondere auf Fälle militärischer Okkupation und Folgeproblemen wie Flüchtlingsströme und Menschenrechtsverletzungen. Diese Resolution steht seitdem selbständig neben einer jährlichen Resolution mit dem Titel "Importance of the universal realization of the right of peoples to self-determination and of the speedy granting of independence to colonial countries and peoples for the effective guarantee and observance of human rights" 8 GA-Resolutionen, die Aufforderungen oder Verurteilungen zu konkreten Fällen beinhalten, werden in der Literatur seltener als Ausdruck einer opinio iuris eingestuft. Dies wird zum Teil damit begründet, daß derartige an Adressaten gerichtete Resolutionen der Generalversammlung häufig nur von rivalisierenden Staatengruppen forciert werden. Deren Handeln sei rein politisch motiviert und bringe daher keine über den konkreten Fall hinausgehende Rechtsauffassung zum Ausdruck. 87 83 Zum Beispiel die Resolution 3070 v. 30.11.1973 einerseits und die Resolution 3164 v. 14.12.1973 andererseits. Vgl. für die umfassende Resolutionspraxis der GA zum Selbstbestimmungsrecht in der nachfolgenden Zeit die Nachweise bei Gros-Espiell S. 60 fT für den Zeitraum von 1974-1977. 84 GA-Resolutionen 35/35A und 35/35B v. 14.11.1980. 85 Beginnend mit den Resolutionen 36/10 v. 28.10.1981; 37/42 v. 3.12.1982 bis zu den jüngeren Resolutionen 48/93 v. 20.12.1993; 49/148 v. 23.12.1994. 86 Beginnend mit den Resolutionen 36/9 v. 28.10.1981, 37/43 v. 3.12.1982 bis zu den jüngeren Resolutionen 48/94 v. 20.12.1993; 49/151 v. 23.12.1994. Zu dieser bewußten Trennung: Tomuschat in FS Partsch S. 202 f. Vgl. daneben auch noch die Resolution 36/88 v. 1.12.1981: "Implementation of the Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples". 87 So Pomerance S. 67. Vgl. allgemein zum Problem der Dominierung einer Staatengruppe durch eine andere in der GA: Tomuschat in ZaöRV 36/1-3, 1976, 470.

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Anders muß aber eine Resolutionspraxis beurteilt werden, aus der sich deduktiv aus einer Mehrzahl situationsspezifischer Texte ein allgemeines Rechtsverständnis ableiten läßt. Ein solches allgemeines Rechtsverständnis läßt sich nach Ansicht des Verfassers sogar aus Resolutionen ableiten, für die ein blockorientiertes Abstimmungsverhalten kennzeichnend ist. Voraussetzung ist in diesem Fall, daß die Resolutionspraxis in ihrer Gesamtheit eine Beteiligung aller Staatengruppen widerspiegelt. Da sich jede Partei ihrerseits auf die fragliche Norm berufen hat, kann sie ihre Existenz dann später nicht mehr leugnen. Für die Frage nach einer grundsätzlichen Einschlägigkeit des Selbstbestimmungsrechts über Kolonialfälle hinaus sind diese Voraussetzungen erfüllt. Insbesondere ist hier auf die Resolutionspraxis zur Palästina-Frage zu verweisen. Das Abstimmungsverhalten muß insoweit jedoch differenziert betrachtet werden. Zum Beispiel hat die Generalversammlung in der Resolution 34/44 vom 23.11.1979 das Selbstbestimmungsrecht für das palästinensische Volk und die Völker Afrikas anerkannt. Gegen diese Resolution opponierten vor allem die westeuropäischen Staaten. Ähnliche Abstimmungsmuster finden sich auch für die vielen anderen GA-Resolutionen, die sich mit dem Palästina-Problem beschäftigen und den Palästinensern das Selbstbestimmungsrecht zuerkennen. Allerdings ist anzumerken, daß sich diese Staaten in den Diskussionen vor Verabschiedung der Resolutionen lediglich allgemein gegen die jeweiligen Formulierungen wandten und nicht gegen die Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts als solche. 88 So finden sich auch Resolutionen die das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser beinhalten und von den westlichen Staaten ebenfalls mitgetragen wurden. 89 In ihrer Resolution 1723 (XVI) vom 20.12.1961 hat die Generalversammlung die Einstellung von Praktiken gefordert, die den Tibetern unter anderem ihr Recht auf Selbstbestimmung vorenthielten. Hier zählten nun insbesondere die westlichen Staaten zu den Befürwortern,

88

Vgl. für die Diskussionen zum Beispiel: Y. U. N. 1974, 219 ff; Y. U. N. 1979, 835 f. Vgl. zum Selbstbestimmungsrecht für die Palästinenser zum Beispiel: erstmals in Resolution 2672C (XXV) v. 8.12.1970, Zif. 1. Später zum Beispiel: Resolution 2792D (XXVI) v. 6.12.1971, Zif. 1,2; Resolution 3236 (XXIX) v. 22.11.1974, Zif. 1; Resolution 46/47CV. 11.12.1991, Präambel Absatz 4; Resolution 46/82A v. 16.12.1991, Zif. 3. 89 So zum Beispiel bereits Resolution 2972 D (XXVI) vom 6.12.1971.

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wohingegen der damals sog. Ostblock dagegen stimmte und sich viele afrikanische Staaten der Stimme enthielten. 90 Die Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts in nicht-kolonialen Fällen wurde somit von allen politischen Blöcken mitgetragen. In der Gesamtschau indizieren diese Resolutionen daher ebenfalls eine opinio iuris mit dem genannten Inhalt. Demgegenüber spiegelt das blockorientierte Abstimmungsverhalten weniger einen Dissens über die Existenz dieses Rechtes wieder. Allenfalls kann daraus der Rückschluß auf unterschiedliche Ansichten über die Anwendbarkeit im konkreten Fall gezogen werden. Auch diese Schlußfolgerung ist jedoch nicht zwingend, da auch andere Motive eine Rolle gespielt haben können, wie sich anhand der Resolutionspraxis zum Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser gezeigt hat. 3.1.3. SpezialStudien der U N O zum Selbstbestimmungsrecht

Ein Bild von der herrschenden Rechtsauffassung vermitteln auch zwei Spezialstudien zum Selbstbestimmungsrecht, die von H. Gros-Espiell und A. Cristescu im Auftrag einer Unterkommission der MRK in den Jahren bis 1978 erstellt wurden. Ihre Autorität gewinnen diese Studien zum einen dadurch, daß vom ECOSOC ihre größtmögliche Verbreitung beschlossen wurde und dieser Beschluß von der Generalversamlung formell in ihrer Resolution 34/44 vom 23.11.1979 Ziff. 19 zur Kenntnis genommen wurde. Zum anderen gründen sich die Studien vor allem auf die einschlägigen Resolutionen der UNO unter Einbeziehung von Stellungnahmen einzelner Staaten. 91 Sie basieren damit auf Ansichten, die sich auf dem internationalen Forum als konsensfähig erwiesen haben. Wenn auch beide Studien hinsichtlich der Rechtsträgerschaft zu unterschiedlichen Akzentuierungen und Wertungen kommen, so stimmen sie doch darin überein, daß über die Kolonialfälle hinaus auch andere Situationen das Selbstbestimmungsrecht verletzen. 92 Bei Gros-Espiell wurde die Doppelbezeichnung der "Völker unter Kolonial- und Fremdherrschaft" bereits in den Titel der Arbeit aufgenommen. Schließlich

90

Zur Diskussion vgl. Y. U. N. 1961, 139. Vgl. Gros-Espiell S. 11 ff, im übrigen kommt die Bindung beider Studien an die UN-Praxis bereits in ihren Titeln zum Ausdruck. 92 Vgl. Gros-Espiell S. 28 § 57, S. 55, S. 17 § 43; Cristescu S. 39 ff. 91

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kommen beide Studien zu dem Ergebnis, daß sich das Selbstbestimmungsrecht zu Völkergewohnheitsrecht verdichtet hat.93 3.1.4. Das Selbstbestimmungsrecht in anderen UN-Aktivitäten

Die UNO hat wiederholt auch bei Aktivitäten auf anderen Gebieten auf das Selbstbestimmungsrecht zurückgegriffen. So fuhrt der ILC-Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit in Artikel 19 Ziffer 3 (b) die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts als ein mögliches Beispiel für ein internationales Verbrechen an.94 In der Aggressionsdefinition der Generalversammlung wird der Kampf eines Volkes für sein Selbstbestimmungsrecht von der Angreiferdefinition ausgenommen.95 In beiden Texten wird die Kolonialherrschaft lediglich als konkretes Anwendungsbeispiel genannt. Die Aggressionsdefinition nennt in Artikel 7 als Rechtsträger ausdrücklich auch "Völker ... unter anderen Formen der Fremdherrschaft" und verweist für den Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts im übrigen auf die Deklaration 2625. Da auch der ILCEntwurf erst nach dem Niedergang des Kolonialismus entstanden ist, muß für den Geltungsbereich des Selbstbestimmungsrechts im Sinne des Entwurfs ebenfalls auf eine zukunftsorientierte Intention der Verfasser geschlossen werden, die auch andere Fallgestaltungen einschließt. Die Inbezugnahme des Selbstbestimmungsrechts durch die UNO auf anderen Feldern des Völkerrechts bezeugt somit ebenfalls das Vorhandensein einer Rechtsauffassung, nach der das Selbstbestimmungsrecht als subjektives Recht von Völkern über den Bereich von Kolonialfällen hinaus Eingang in das Völkerrecht gefünden hat. 3.1.5. Schlußfolgerung für die opinio iuris

Als ihrem Wesen nach gewichtigste Manifestationen einer opinio iuris sind der CCPR und die Deklaration 2625 zu bewerten. In Verbindung mit den anderen genannten Quellen ergibt sich danach das Bild einer gefestigten opinio iuris, die das Selbstbestimmungsrecht nicht nur Kolonialvölkern zugesteht, sondern es als dynamisches Recht losgelöst 93

So explizit Cristescu S. 23 §§ 141 ff; weniger eindeutig Gros-Espiell S. 23, 29 § 60, 201 § 281 einerseits, der den ius cogens-Charakter des Selbstbestimmungsrechts aber auf Naturrecht zurückfuhrt: S. 35 f § 80, S. 37. 94 Vgl. den Text in Y. B. I. L. C. 31/1980 Vol. II. Teil 2 S. 32. 95 GA-Resolution 3314 (XXIX) v. 14.12.1974: Aggressionsdefinition Präambel Absatz 6, Artikel 7.

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von diesem historischen B e z u g im Sinne eines Rechtes aller Völker unter Fremdherrschaft auch in der Gegenwart anerkennt. 9 6 Die noch bestehenden Unklarheiten über den Rechtsträger hindern diese Feststellung nicht. 3.2. Grundlagen der allgemeinen Übung Wie bereits ausgeführt, sind an dieser Stelle nur grundsätzliche Betrachtungen anzustellen, da die einzelnen N a c h w e i s e der Ü b u n g entsprechend d e m A u f b a u dieser Arbeit erst in Kapitel D. zur Herleitung der Fallgruppen darzustellen sind. 3.2.1. Übung durch Erfüllung vertraglicher Pflichten Die obige Untersuchung zum Völkergewohnheitsrecht folgte den Grundsätzen, die in der Völkerrechtslehre im Anschluß an die Entscheidung des I G H im Continental Shelf Case entwickelt wurden. In dieser Entscheidung erklärte der I G H einen großen Teil der ihm vorgetragenen Praxisfälle f ü r untauglich zum Nachweis von Völkergewohnheitsrecht. Z u r B e g r ü n d u n g verwies er darauf, daß die daran beteiligten Staaten bereits Vertragsteile des in Frage stehenden A b k o m m e n s waren und somit lediglich ihre vertraglichen Pflichten erfüllt hätten. 9 7 Übertragen auf das hier behandelte Problem, würden danach f ü r die Untersuchung eines gewohnheitsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts zahlreiche Praxisnachweise herausfallen, da viele der beteiligten Staaten zugleich an der vertraglichen Bindungswirkung des C C P R teilhaben. Die Aussage des I G H m u ß j e d o c h im Kontext zur gesamten Entscheidung und zum behandelten Fall gesehen werden. Der I G H hatte es in seiner Entscheidung nicht mit einem weltumspannenden Vertragswerk zu tun, wie es der C C P R mit seinen weit über 100 Vertragsstaaten darstellt. Angesichts einer derart weiten Verbreitung und dem nicht alltäglichen Gegenstand externer Selbstbestimmung w ü r d e eine Beschränkung auf die Ü b u n g von Nichtvertragsstaaten eine unüberwindliche H ü r d e darstellen. Vielmehr muß, wenn man den Vertrag selbst als Ausdruck einer opinio iuris wertet, auch das Verhalten dieser Vertragsstaaten als faktische Umsetzung der opinio iuris Gewicht erlangen 96

Diese Entwicklung wird auch hervorgehoben von Michalska in Rights of Peoples S. 39 f. 97 ICJ Reports 1969. 43 f.

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3.2.2. Übung trotz Widerstandes der herrschenden Macht

Der gewohnheitsrechtliche Charakter des Selbstbestimmungsrechts wird von Pomerance auch unter dem Hinweis in Frage gestellt, bereits die ehemaligen Kolonialstaaten hätten der Entkolonialisierung eher aus Zweckmäßigkeitserwägungen zugestimmt, denn in Anerkennung einer entsprechenden Verpflichtung.98 Allerdings wird nur selten erwartet werden können, daß ein Staat Teile seines Herrschaftsbereiches mit der dort ansässigen Bevölkerung ohne zumindest innerem Widerstand aus seinem Verband entläßt. Die über ein anderes Volk errichtete und ausgeübte Fremdherrschaft wird in der Regel wirtschaftlich, strategisch oder anderweitig motiviert sein. Es liegt daher im natürlichen Interesse des vom dominierenden Volk gelenkten Gesamtstaates, den Status Quo beizubehalten" Vom IGH und von der h.L. wird jedoch alternativ auch nur eine opinio iuris sive necessitatis verlangt. Danach genügt bereits die Einsicht eines Staates in die unabdingbare Notwendigkeit. 10 Bereits unter diesem Ansatz genügt daher auch das Einlenken eines Staates, das erst unter dem Einfluß internationalen Drucks oder anfänglichem Widerstand zustande kommt. Zudem muß eine behauptete Norm des Völkergewohnheitsrechts nicht von den im konkreten Fall unmittelbar betroffenen Staaten angenommen sein. Vielmehr genügt eine Anerkennung durch eine repräsentative Anzahl der Staaten. Diese Grundsätze werden allgemein aus einem Vergleich von Artikel 38 Absatz 1 b) mit Absatz 1 a) IGHStatut sowie aus verschiedenen IGH-Urteilen abgeleitet.101 Wesentlich ist, daß die Nichtbefolgung der fraglichen Norm im Einzelfall als völkerrechtswidrig angesehen wird.102 Folgerichtig wird für Kolonialfälle fast ausnahmslos die Ansicht vertreten, daß das Selbstbestimmungsrecht trotz des Widerstandes einiger Kolonialstaaten zu Völkergewohnheitsrecht erstarkt ist.103 98

Pomerance S. 68. Nach Heidelmeyer S. 251 läßt sogar die effektive Gewährung der Unabhängigkeit nicht den Schluß auf einen entsprechenden Rechtsanspruch zu. 99 Dies betonen auch: Dinstein in ICLQ 25/1976, 108; Saxena S. 9. 100 ICJ Reports 1986, 108 f Zif. 207; IpsenJHeintschel v. Heinegg S. 194 Rn. 12. 101 Verdross/Simma S. 349 ff §§ 553 ff, 352 § 557; IpsenIHeintschel v. Heinegg S. 191 Rn. 4; Verdross S. 100 ff mit Nw. aus der Judikatur; noch liberaler: Akehurst in BYBIL 1974-1975, 16 ff. 102 ICJ Reports 1986, 98; Ipsen/Heintschel v. Heinegg S. 193 Rn. 10. 103 So ausdrücklich unter Hinweis auf den Widerstand der Kolonialmächte: Tomuschat in ZaöRV 36/1-3, 1976, 484 Fn. 147. Vgl. im übrigen die Nw. unter B. IV. 1.1.

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Als Beispiel f ü r eine akzeptierte B e r u f u n g auf das Selbstbestimmungsrecht k o m m e n daher auch Fälle in Betracht, in denen sich der Gesamtstaat den F o r d e r u n g e n von Teilen seiner B e v ö l k e r u n g nach Selbstbestimmung verschlossen hat. Erst recht kann nicht maßgeblich aus der V e r w e i g e r u n g des Selbstbestimmungsrechts durch b e t r o f f e n e Staaten an bestimmte B e v ö l k e r u n g s g r u p p e n auf die Nichtexistenz eines solchen Rechtes geschlossen werden. 1 0 4 3.2.3. Die Praxis zur Anerkennung neuer Staaten W e g e n der dargestellten Interessenlage wird die Anerkennung einer Selbstbestimmungsforderung durch Drittstaaten den Normalfall im R a h m e n des Praxisnachweises bilden. Ein solcher Nachweis kann aber nicht nur in der expliziten Billigung o d e r F ö r d e r u n g einer auf das Selbstbestimmungsrecht gestützten F o r d e r u n g liegen. Eine implizite Z u s t i m m u n g ist insbesondere auch in den Fällen anzunehmen, in denen die Reaktion der Drittstaaten überhaupt erst unter dem Selbstbestimmungsaspekt als legitim erscheint. Der typische und auch meist diskutierte Fall eines solchen V o r g e h e n s ist die vorzeitige A n e r k e n n u n g eines neuen Staates. Die Anerkennung selbst hat nach absolut h.L. nur deklaratorischen Charakter, beinhaltet also lediglich die Feststellung, daß alle völkerrechtlichen V o r a u s s e t z u n g e n eigener Staatlichkeit vorliegen. 1 0 5 Fehlt es indes auch nur an einer dieser Voraussetzungen, so wird die gleichwohl erfolgte Anerkennung durch andere Staaten als vorzeitig bezeichnet, da sie sich über völkerrechtliche Hindernisse hinwegsetzt. 1 0 6 B e d e u t u n g gewinnt dieser Praxisnachweis hier in den Sezessionsfällen, in denen sich eine Gebietsbevölkerung gegenüber ihrem derzeitigen Souverän auf das Selbstbestimmungsrecht beruft und einen eigenen Staat proklamiert, ohne zum Beispiel das konstitutive Merkmal eigener Souveränität über das beanspruchte Gebiet zu erfüllen. Dies ist häufig wegen des Widerstandes des bisherigen Souveräns der Fall. Die Anerkennung m ü ß t e sich in diesem Fall daher über den Makel fehlender E f fektivität der neuen Staatsgewalt hinwegsetzen und bedarf schon inso-

104 Diese Überlegung vernachlässigt Turp in AcanDi 1982, 57 ff, der insbesondere auf die Praxis und das nationale Recht föderaler Staaten gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung abstellt. ,05 Vgl. zu den völkerrechtlichen Voraussetzungen für Eigenstaatlichkeit S. 126 ff sowie zur Bedeutung der Anerkennung S. 137 f. 106 So zum Beispiel Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 766.

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weit einer Legitimation. Im übrigen bezieht der anerkennende Staat gleichzeitig auch automatisch Position in einem noch nicht abgeschlossenen Sezessionskonflikt, indem er mit der Anerkennung den vom bisherigen Souverän geltend gemachten Titel mißachtet. Eine Mißachtung des bisherigen Titelinhabers in diesem Stadium verstieße aber gegen das Interventionsverbot und wäre somit völkerrechtswidrig. 107 Wegen der genannten völkerrechtlichen Anerkennungshindernisse ist Oeter zuzustimmen, daß der gleichwohl zur Anerkennung schreitende Staat gar nicht umhin kann, die völkerrechtliche Legitimität der Sezession zu bewerten. 108 Dies gilt zum einen im Hinblick auf das Fehlen effektiver Staatsgewalt als Vorbedingung für Staatlichkeit. Als Beispiel aus der Praxis wird in der Literatur auf die frühzeitige Aufnahme Guinea-Bissaus in die UNO verwiesen. Im Falle Guinea-Bissaus und in ähnlichen Fällen kann diese Legitimität nur auf das seinerseits auf das übrige Völkerrecht ausstrahlende Selbstbestimmungsrecht zurückgeführt werden. "Die von der Staatengemeinschaft als legitim anerkannte Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht vermag also in der Praxis Effektivitätsmängel zu überbrücken." 109 Das Selbstbestimmungsrecht als Legitimationsgrund der Sezession ist auch der einzige Umstand, der die Mißachtung des Interventionsverbotes rechtfertigen könnte. Somit müssen sich diese Staaten auf ein schon vor der Unabhängigkeitsproklamation bestehendes Selbstbestimmungsrechts des neu gebildeten Staatsvolkes stützen. 110 Damit enthält die vorzeitige Anerkennung zugleich die Aussage, daß diese Bevölkerung nach Ansicht des anerkennenden Staates Träger des Selbstbestimmungsrechts ist.111 107

Dazu: Verdross/Simma S. 602 § 961; Doehring in EPIL (7) S. 71; Dahm/Delbrück/ Wolfrum S. 200 Anm.l; Ipsen/Gloria S. 241 f Rn. 33; auch Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 767 m.w.N. 108 Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 767, ders. S. 769 kommt sogar zu dem Schluß, daß die frühzeitige Anerkennung rechtsgestaltende Züge trägt. Rieh in EJIL 4/1, 1993, 56, 65 geht noch weiter und sieht in der Anerkennungspraxis zu Kroatien und Slowenien sogar die Tendenz, Staaten durch Anerkennung zu schaffen. 109 Zit.: Verdross/Simma S. 228 § 385; ähnlich Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 768. Ebenso, allerdings nur im Sinne geringerer Anforderungen an die Effektivität: Crawford S. 261 f, ders. in BYIL 1976-1977, 161; Doehring in EPIL (7) S. 71; Haverland in EPIL (10) S. 387. 1.0 Crawford S. 257 ff, insbesondere 261 f; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 767 f. Allgemein zur Einwirkung des Selbstbestimmungsrechts auf das Interventionsverbot: Thürer (Das Sbr) S. 184 f, 197 ff, insbesondere S. 198 f zu Fragen der Anerkennung. 1.1 Ebenso: Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 768 f; Frowein (Das de-facto Regime) S. 12; Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 129 Fn. 40, 134; Murswiek bei Tomuschat (Modern Law

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3.2.4. Gleichförmigkeit der Übung

Einige Autoren bestreiten bereits die k o n s e q u e n t e A n w e n d u n g des Selbstbestimmungsrechts w ä h r e n d der Entkolonialisierungsphase. In dieser Arbeit w u r d e bereits dargelegt, d a ß die Entkolonialisierungspraxis f ü r die hier v o r g e n o m m e n e U n t e r s u c h u n g eines weitergehenden Selbstbestimmungsrechts keinen M a ß s t a b abgeben kann. D a h e r sei insoweit auf weiterfuhrende Literatur verwiesen. 1 1 2 Aber auch außerhalb der ursprünglichen Entkolonialisierungspraxis wird die Einheitlichkeit der U N - P r a x i s in Frage gestellt. So wird auf Fälle hingewiesen, in denen einer B e v ö l k e r u n g im G e g e n s a t z zu gleichgelagerten Situationen nicht das Selbstbestimmungsrecht zugesprochen wurde. D a r a u s wird von einigen Autoren der Schluß gezogen, daß f ü r die U n t e r s t ü t z u n g des Selbstbestimmungsrechts im jeweiligen Fall vor allem politische, ö k o n o m i s c h e und ähnliche F a k t o r e n bedeutsam seien. Daher wird der V o r w u r f erhoben, in der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts herrsche ein "double Standard".113 D e r Verweis auf scheinbar ungerecht behandelte Fälle überzeugt j e d o c h nicht. Die Anzahl der Regionen innerhalb von Staaten, die nach einem mehr oder weniger hohen M a ß an A u t o n o m i e streben, wird derzeit auf bis zu vierzig geschätzt. In dieser S u m m e sind sicher viele miteinander wenig vergleichbare Fälle enthalten. Eine vergleichende E r ö r t e r u n g w ü r d e den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Aber selbst w e n n eine eingehende U n t e r s u c h u n g zu dem Ergebnis käme, daß gleichgelagerte Fälle von der Staatengemeinschaft unterschiedlich behandelt wurden, so w ä r e damit noch nicht der Beweis einer gegenläufigen Praxis geführt. Schließlich kann eine k o n f o r m e Praxis nur dort erwartet werden, w o die Staaten das Selbstbestimmungsrecht im konkreten Fall f ü r a n w e n d b a r halten. Irrtümer über die Anwendbarkeit einer N o r m begründen demgeof Self-Determination) S. 29, 32; auch Crcrwford S. 421 in Verbindung mit 258 ff, der davon ausgeht, daß die Anerkennung eine Bewertung des Status enthält. 1,2 Zur kritischen Haltung vgl. Pomerance S. 20; Heuser in ZaöRV 40/1, 1980, 43 Fn. 37, 72 der dennoch vom Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts ausgeht. Zur Betonung einer lediglich differenzierteren Praxis vgl. ICJ Reports 1975, 34 ff; GA-Resolution 2428 (XXIII) von 1968. 113 So Mojekwu bei Alexander/Friedlander S. 228 f; in diesem Sinn auch Pomerance S. 68; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 746 ff meint, daß Phasen starker Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts mit entgegengesetzten Phasen abwechselten, so daß eine zyklische Wellenbewegung vorliege.

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genüber noch keine Gegenpraxis. Im übrigen schließen selbst Fälle einer evidenten Verletzung des Selbstbestimmungsrechts seine Verfestigung zu Völkergewohnheitsrecht nicht aus. So wurde vom IGH klargestellt, daß es ausreicht, wenn das Verhalten der Staaten "in general" mit der Norm in Einklang steht und wenn abweichendes Verhalten als Bruch der Norm angesehen wird und nicht als Anzeichen der Anerkennung einer neuen Norm.114 3.2.5. Unbeachtlichkeit der Entkolonialisierungspraxis

Ebenso wie für den Nachweis der opinio iuris zum Selbstbestimmungsrecht gilt auch hier zu beachten, daß die Tibet-Frage klar außerhalb der historischen Kolonialproblematik liegt. Daher ist hier nur die Praxis zum Selbstbestimmungskonzept in seiner neueren Ausprägung von Interesse, die das Selbstbestimmungsrecht Völkern außerhalb des kolonialen Anwendungsbereichs zuerkennt. 3.3. Das Selbstbestimmungsrecht - mehr als bloßer "standard" 3.3.1. Die Lehre von den "Standards"

Gelegentlich wird der Standpunkt vertreten, daß das Selbstbestimmungsrecht lediglich den Charakter eines "standard" habe.115 "Standards" sind generell umschriebene Kategorien deren Anwendung jedoch nur dazu fuhrt, daß bestimmte Umstände als entscheidungserheblich im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu berücksichtigen sind.116 Der Unterschied zur rechtlichen Norm liegt somit darin, daß sich aus einem "standard" keine strikten Rechtsfolgen, sondern nur Vorgaben für eine Wertung im Einzelfall ergeben. Als ursprüngliche Beispiele für solche "standards" werden der Begriff der ungerechtfertigten Bereicherung oder der Maßstab des vernünftigen und verständigen Menschen in der Fahrlässigkeitshaftung genannt.117 114

ICJ Reports 1986, 98 Zif. 186. So Saxena S. 18 ff; Schachter (1) S. 194; ders. (2) S. 9 ff. Einen "standard" für die Zulässigkeit des Selbstbestimmungsrechts entwerfen jeweils auch Buchheit S. 217 f und Suzuki in VJIL 16/4, 1975-1976, 861 f. Auf beide Konzepte wird noch im Rahmen des Volksbegriffs einzugehen sein. 116 Dazu Schachter (1) S. 193; ders. (2) S. 8 ff.; Vitzthum/Vitzthum S. 97 Rn. 156. 117 Vgl. zur ursprünglichen Lehre Pounds bei Saxena S. 18 f und die Beispiele bei Schachter (1) S. 193. 115

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Eine weitere Form sollen aber auch sog. concepts sein, bei denen aufgrund ihrer generellen Fassung ebenfalls nur eine Anwendung nach Gesichtspunkten des Einzelfalles möglich sei. Darunter sollen auch der Grundsatz der territorialen Integrität sowie das Selbstbestimmungsrecht fallen. 118 Neben der ursprünglichen Beschäftigung mit Tatbestandsmerkmalen (zum Beispiel friedliebend, good faith) werden demnach auch die Verpflichtung auf Zustände (Wahrung der territorialen Integrität oder des Selbstbestimmungsrechts) unter diese dogmatische Figur subsumiert. 3.3.2. Kritik und Schlußfolgerung

Schon die Ausweitung der Standard-Konzeption von Tatbestandsmerkmalen auf Rechtsansprüche beziehungsweise Rechtsfolgen erscheint fragwürdig, da sie die Unterschiedlichkeit beider Elemente unberücksichtigt läßt. Wenn wie im Fall der genannten Beispiele die "concepts" im Sinne von politischen Zielen zu den grundlegenden Prinzipien der UN-Charta und des Völkerrechts gehören, dann ist das zielorientierte Verhalten gesollt und somit verbindlich. Zum Beispiel wurzelt der Grundsatz der territorialen Integrität derart tief in der Staatensouveränität, daß seine Verbindlichkeit kaum ernsthaft in Zweifel gezogen wird. 1 1 9 Spiegelbildlich ergibt sich daraus auch ein verbindlicher Anspruch auf Beachtung dieser Sollensforderungen. Neben diesen allgemeinen Erwägungen ist gerade die Ausweitung der Lehre von den "standards" auf das Selbstbestimmungsrecht nicht angemessen. Die Frage der inhaltlichen Bestimmtheit wurde bereits erörtert. Danach kann dem Selbstbestimmungsrecht die Rechtsverbindlichkeit nicht unter dem Hinweis auf seinen unbestimmten Gehalt abgesprochen werden. 1 2 0 Auch die bloße Feststellung, daß dieser Anspruch mit anderen Rechten kollidiert, nimmt ihm nicht den verbindlichen Charakter. Auch und vor allem in den nationalen Verfassungsordnungen kommt es zur Überschneidung von Rechtskreisen. Die daraufhin vorgenommenen Beschränkungen ziehen jedoch den Charakter als Rechtsnorm nicht in

118 Schachter (2) S. 8 nennt den Grundsatz der territorialen Integrität ausdrücklich als ein Beispiel fiir solche "concepts". " 9 Zur systematischen Einbettung dieses Grundsatzes und seiner Stellung im Völkerrecht: Rozakis in EPIL (10) S. 481 f, 486; ebenso Doehring (Das Sbr) S. 16. 120 Vgl. S. 41 unter B. IV. 2.1.1.

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Zweifel. 121 Im übrigen werden die weiteren Ausfuhrungen zeigen, daß eine echte Konkurrenz des Selbstbestimmungsrechts zu anderen Völkerrechtsgrundsätzen nur unter bestimmten Fallgestaltungen auftritt. Ausschlaggebend ist letztlich, daß eine Einschränkung der Freiheit im Rahmen der Statuswahl zugunsten einer Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles in der Konsequenz zu einem Selbstbestimmungsrecht erster und zweiter Klasse fuhren würde. Damit wäre der Grundgedanke der freien Statusbestimmung unterlaufen, wie er insbesondere in der Deklaration 2625 ausgeführt wird. 122 Die Einordnung als "Standard" oder "concept" widerspräche somit dem Wesen der Selbstbestimmungsidee. Daher ist das Konzept der "standards", jedenfalls für das Selbstbestimmungsrecht wie es in Artikel 1 der Menschenrechtspakte und Absatz 1 der Deklaration 2625 statuiert wird, nicht einschlägig. Die Untersuchung hat ergeben, daß es eine starke opinio iuris gibt, die das Selbstbestimmungsrecht als Rechtsanspruch "aller Völker" begreift. Nach dieser Rechtsauffassung geht der Kreis der Rechtsträger über den der ehemaligen Kolonialvölker hinaus. Im übrigen wird der Wechselbeziehung zwischen Existenz und Inhalt einer Norm am ehesten dadurch Rechnung getragen, daß die Praxisnachweise zugleich zur inhaltlichen Konkretisierung der Norm verwendet werden. Das hier gefundene Ergebnis entspricht auch dem aktuellen Meinungsstand der h.L., wonach der gewohnheitsrechtliche Charakter des Selbstbestimmungsrechts an sich nicht mehr in Zweifel zu ziehen ist und das Problem vielmehr in der Auslotung seines Anwendungsbereiches liegt. 123

121 Auch für das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmungsrecht und völkerrechtlichen Stabilitätsgrundsätzen wie dem der territorialen Integrität verweist Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 748 auf das Erfordernis einer Zuordnung und Abgrenzung im Sinne einer Herstellung praktischer Konkordanz. 122 Diese Gestaltungsfreiheit betonen auch: Thürer (Das Sbr) S. 135; Cassese S. 102; Hu Chou-young S. 259; Heidelmeyer S. 251. Ermacora in FS Heraud S. 118 ff insbesondere S. 121 f erörtert Kriterien für die Statuswahl um durch eine solche Legitimierung die spätere internationale Akzeptanz sicherzustellen. Vgl. zur Tendenz im Schrifttum, die Freiheit der Statuswahl einzuschränken auch unter C. II. 2.1. 123 So ausdrücklich Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 125; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 743; Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 386 f; Veiter S. 266. In diesem Sinn auch: Buchheit S. 41; Crawford in BYIL 1976-1977 S. 159 f; Hanneman in VJIL 35/2, 1995, 501. Vgl im übrigen die Autoren oben in Fn. 28.

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4. Bindung der Volksrepublik an das Selbstbestimmungsrecht V o r der differenzierten E r ö r t e r u n g der Praxis zum Selbstbestimmungsrecht soll an dieser Stelle der Frage nachgegangen werden, ob gerade auch die V R C an das von der opinio iuris getragene Selbstbestimmungsrecht gebunden ist. Von dem Grundsatz, daß keineswegs eine Beteiligung wirklich aller Staaten erforderlich ist, um eine behauptete N o r m zu universellem Völkergewohnheitsrecht erstarken zu lassen, wird in Literatur und R e c h t s p r e c h u n g eine spezielle A u s n a h m e diskutiert. Diese besteht in der Rechtsfigur des persistent objector, die unter bestimmten Voraussetzungen Staaten von der Bindung an Regeln des Völkergewohnheitsrechts ausnehmen soll. 4.1. Die Rechtsfigur des persistent objector Die Doktrin des persistent objector betrifft Staaten, die sich der Entstehung einer völkerrechtlichen N o r m beharrlich widersetzt haben. Diese sollen sich auf die Rechtsstellung eines persistent objector berufen können, mit der Folge, d a ß ausschließlich diese Staaten nicht an die N o r m gebunden sind. 124 Allerdings ist die Rechtsfigur des persistent objector in der Literatur nicht unumstritten. So wird insbesondere eingewandt, die Doktrin f ü h r e f ü r N o r m e n , die zu den Grundlagen des Völkerrechts gehören zu unvertretbaren Ergebnissen, da sich unter dieser Prämisse kaum generelle Regeln bilden könnten. 1 2 5 Ein näheres Eingehen auf diese Diskussion erübrigt sich in dieser Unt e r s u c h u n g jedoch, wenn sich die V R C auch unter den von den B e f ü r w o r t e r n aufgestellten Voraussetzungen nicht auf die Rechtsstellung eines persistent objector berufen kann. So soll die B e r u f u n g auf eine solche Rechtsstellung voraussetzen, daß ein Staat schon zu Beginn und auch im weiteren Verlauf des N o r m e n t s t e h u n g s p r o z e s s e s eindeutig seinen Willen bekundet hat, nicht durch die in Frage stehende N o r m gebunden zu werden, beziehungsweise daß er sich ihrer A n w e n d u n g von Anfang an beharrlich widersetzt hat. Im folgenden soll daher erörtert 124 ICJ Reports 1951, 131 (Fisheries Case des ICH); Brownlie (1) S. 10; IpsenIHeintschel v. Heinegg S. 199 Rn. 36; Akehurst in BYIL 1974-1975, 23 ff; Verdross/Simma 5. 352 f § 558 m.w.N. 125 Vgl. für die ablehnende Haltung m.w.N. Tomuschat in Rdc 241/1993, 284 ff; auch bei Dahm/DelbrückAVolfrum S. 55 f Fn. 27 findet sich die Einschränkung, der Widerstand dürfe sich nicht als Verstoß gegen die werthaften Grundlagen der Völkerrechtsordnung schlechthin darstellen.

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werden, ob die VRC diese Voraussetzungen in bezug auf das Selbstbestimmungsrecht erfüllt hat. 4.2. Die Praxis Chinas zum Selbstbestimmungsrecht

Obwohl eine aktive Teilnahme an dem Prozeß, der zur gewohnheitsrechtlichen Verdichtung einer Regel führt, nicht erforderlich ist, um eine Bindung an die spätere Norm auszulösen, wird die Stellung eines persistent objector am einfachsten durch den Nachweis eben dieser Beteiligung ausgeschlossen. 4.2.1. Interne Praxis der Volksrepublik

In der Verfassung des All-Chinesisch-Sowjetischen Kongresses von 1931 wurde den nationalen Minderheiten Chinas das Selbstbestimmungsrecht einschließlich des Rechtes auf Abspaltung zuerkannt. Als Träger dieses Selbstbestimmungsrechts wurden insbesondere aufgeführt, die auf chinesischem Gebiet lebenden Mongolen, Tibeter, Miao, Yao und Koreaner. 126 Die gegenwärtige Verfassung von 1982 stellt in Artikel 4 ebenso wie die vorhergehenden Verfassungen fest, daß die VRC ein einheitlicher Staat vieler Nationalitäten ist und daß die autonomen Gebiete untrennbare Bestandteile der VRC sind. Daneben garantiert der Artikel den Nationalitäten aber die Ausübung gewisser kultureller Eigenarten. Die verfassungsrechtliche Entwicklung zeigt, daß die kommunistische Bewegung in China hinsichtlich ihrer Haltung zum Selbstbestimmungsrecht im innerstaatlichen Bereich eine Kehrtwendung vollzogen hat. Dies hängt sicher auch mit der Festigung der Staatsgewalt nach Ausrufung der VRC 1949 zusammen. 127 Für die gegenwärtige Rechtslage bleibt festzuhalten, daß die kulturellen Garantien des Artikel 4, unabhängig von ihrer tatsächlichen Umsetzung, eher den allgemeinen Standards für Minderheitenrechte entsprechen und nicht Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts sind. Die interne Praxis der VRC läßt somit nicht auf eine Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts durch die VRC schließen. Andererseits kann der Ausschluß des Selbstbestimmungsrechts aus der Verfassung zu einem Zeitpunkt, als diese Norm 126

Vgl. für den Text und die spätere Entwicklung bei Buchheil S. 102. Zur Analyse der Verfassungen von 1931, 1949, 1954, 1975 und 1978 vgl. Hannum S. 420 f. 127

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noch im Entstehen begriffen war, f ü r sich noch nicht als Widerstand gegen ihre universelle Verbindlichkeit interpretiert werden. 4.2.2. Einbindung der Volksrepublik in die UN-Praxis Als besonders wichtige Elemente in dem P r o z e ß der gewohnheitsrechtlichen Verdichtung des Selbstbestimmungsrechts erwiesen sich der gleichlautende Artikel 1 der Menschenrechtspakte, insbesondere des C C P R , und die Deklaration 2625. Daher ist in erster Linie zu untersuchen, inwiefern die V R C an der E n t s t e h u n g und F o r t w i r k u n g dieser grundlegenden D o k u m e n t e beteiligt war. Sodann ist aber auch die Einbindung der V R C in die sonstige UN-Praxis z u m Selbstbestimmungsrecht zu berücksichtigen. E s w u r d e bereits festgestellt, d a ß mangels Ratifikation keine vertragliche Bindung an den C C P R vorliegt. 1 2 8 Sofern man j e d o c h lediglich im Rahmen eines gewohnheitsrechtlichen N o r m e n t s t e h u n g s p r o z e s s e s an die vertragliche N o r m anknüpft, bedarf es keines entsprechenden Bestätigungs- o d e r Anerkennungsaktes. Dies ergibt sich aus dem erwähnten Grundsatz, daß an der E n t s t e h u n g einer gewohnheitsrechtlichen N o r m eben nicht alle Staaten aktiv beteiligt sein müssen. Allerdings gibt die nachträglich eingenommene Haltung der V R C gegenüber der Vertragsunterzeichnung durch die Republik China Anlaß zu prüfen, ob sich die V R C nicht g e r a d e in bezug auf Gewohnheitsrecht, das an Regelungen beziehungsweise Definitionen des C C P R anknüpft, auf die Stellung eines persistent objector berufen kann. In diesem Z u s a m m e n h a n g erlangt das Problem der chinesischen Staatenkontinuität Bedeutung. So w u r d e die V R C erst 1971 als Repräsentant Chinas in die U N O aufgenommen. Bis zu diesem Zeitpunkt w u r d e das Völkerrechtssubjekt China von der Republik China (Taiwan) international repräsentiert, die ihren Sitz in der U N O an die V R C verlor. Aus diesem Kontext erklärt sich, daß der C C P R am 5.10.1967 von Taiwan unterzeichnet, wenn auch nicht ratifiziert wurde. Nach ihrer formellen A u f n a h m e in die internationale Staatengemeinschaft erklärte die V R C am 2 9 . 9 . 1 9 7 2 in einer N o t e an den UN-Generalsekretär, d a ß sie sämtliche Beitrittsakte der Republik China zu Verträgen nach Gründung der V R C als ungültig betrachte. 1 2 9 128 129

Vgl. unter B. II. 2.2. Text in United Nations Publicaüon: Human Rights S. 20.

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Eine Bindung der Volksrepublik an die Unterzeichnung wäre theoretisch dennoch über die Konstruktion der Staatenkontinuität denkbar. Danach bleibt die Identität eines Staates sowie seine Bindung an zuvor geschlossene Verträge durch revolutionäre Umwälzungen der Staatsform unberührt. 130 Allerdings gibt es hier bereits dogmatische Probleme. So kennt die UNO nur ein Völkerrechtsmitglied namens China, dessen Repräsentant 1971 wechselte. 131 Allerdings beanspruchen sowohl die VRC als auch das Regime auf Taiwan jeweils für sich, der einzig legitime Repräsentant zu sein, wenn auch die Haltung Taiwans in dieser Frage in letzter Zeit aufzuweichen scheint. 132 Für das hier interessierende Problem der Bindungswirkung braucht diese Statusfrage indes nicht abschließend erörtert zu werden. Vielmehr erscheint ausschlaggebend, daß es keinen Widerspruch der Staatengemeinschaft gegen die Haltung der VRC zu vormaligen Akten der Republik China zu geben scheint. 133 Daher ist hier von einer acquiescence der CCPR-Vertragsstaaten zu dem Rechtsstandpunkt der VRC auszugehen. Zwischenzeitlich hat die VRC erklärt, daß eine Ratifizierung der Pakte geprüft werde, jedoch keinen baldigen Beitritt in Aussicht gestellt. 134 Angesichts der eindeutigen Erklärung, nicht an die Unterzeichnung durch die Republik China gebunden zu sein, kann diese zurückhaltende Einlassung aber nicht als Abweichung im Sinne eines Bindungswillens interpretiert werden. Gleiches gilt für die Unterzeichnung des Sozialpaktes im Oktober 1997, die ohne Angabe eines Zeitpunktes für die noch notwendige Ratifizierung und Inkraftsetzung erfolgte. 135 Allerdings hat sich die VRC nicht speziell gegen das im CCPR enthaltene Selbstbestimmungsrecht gewandt. Vielmehr lehnt sie pauschal die 130 Vgl. nur Fiedler in EPIL (10) S. 65 f; Verdross/Simma S. 203 ff, §§ 390 ff. Zum Problem der chinesischen Staatenkontinuität eingehender unten S. 190 ff. 131 Vgl. GA-Resolution 2758 (XXVI) v. 25.10.1971 sowie die vorangegangene Diskussion in der Generalversammlung: Y. U. N. 1971, 126 ff. 132 Vgl. dazu im einzelnen unten S. 190 f. ' 3 3 Im Gegenteil erklärten 8 sozialistische Staaten gegenüber dem Generalsekretär der UNO, daß sie die Unterzeichnung durch die Republik China als ungültig ansähen. Begründet wurde diese Haltung damit, daß die VRC der einzig legitime Vertreter Chinas sei und nur diese Verpflichtungen für China eingehen könne. Vgl. dazu bei Nowak S. 792 und United Nations Publication: Human Rights S. 20. 134 Vgl. schon 1992 den Bericht der österreichischen Expertenkommission S. 10 Zif. 21 sowie 1996 gegenüber der EU: vgl. dazu Ching in FEER v. 16.5.1996 S. 38. Vgl. auch die vorsichtige Wertschätzung der Menschenrechtspakte im Menschenrechtsweißbuch S. 96. 135 Dazu schon oben unter B. II. 2.2.

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vertragliche Bindung an das gesamte Regelungswerk ab. Dieser undifferenzierten Einlassung kann indes nicht entnommen werden, daß sie sich auch gegen den Beitrag des Vertrages zum Entstehungsprozeß von Völkergewohnheitsrecht wendet. Schließlich ist die VRC auch an der seit 1981 alljährlich im Konsensusverfahren verabschiedeten GAResolution unter dem Titel " Universal realization of the right of peoples to self-determination" beteiligt. 136 Die Teilnahme an dieser Resolutionspraxis ist hier insofern von besonderer Bedeutung, als sich die Resolution in Absatz 1 ihrer Präambel unter anderem ausdrücklich auf das Selbstbestimmungsrecht bezieht, das in den Menschenrechtspakten enthalten ist. Auch dies spricht dagegen, der VRC unter der Doktrin des persistent objector eine Sonderstellung gegenüber dem in den Menschenrechtspakten formulierten Selbstbestimmungsrecht zuzugestehen. Das für den CCPR erörterte temporale Problem stellt sich gleichfalls für die Deklaration 2625. Da die Deklaration ein Jahr vor Aufnahme der VRC in die UNO verabschiedet wurde, entstehen für die Zurechnung der konstruktiven Beteiligung seitens der Republik China die gleichen Probleme wie für die Unterzeichnung des CCPR. Allerdings hat sich die VRC soweit ersichtlich auch nach ihrer UNO-Mitgliedschaft nicht ausdrücklich ablehnend zu dieser Deklaration geäußert. Bereits hinsichtlich ihrer Haltung zu den für das gewohnheitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht wichtigsten Faktoren, dem CCPR und der Deklaration 2625, läßt sich demnach für die VRC nicht die Voraussetzung des beharrlichen Widerspruchs bejahen, nach der die Rechtsstellung eines persistent objectors in Betracht kommt. Neben der oben genannten Grundsatzresolution zum Selbstbestimmungsrecht hat sich die VRC nach ihrer Aufnahme als Repräsentant Chinas in die UNO auch aktiv an der sonstigen UN-Praxis zum Selbstbestimmungsrecht beteiligt. So hat sich die VRC schon kurz nach der Übernahme des UN-Sitzes für China innerhalb der Generalversammlung bei Diskussionen und Abstimmungen für die nationalen Rechte der Palästinenser eingesetzt. 137 In der Folgezeit hat die VRC zahlreichen Resolutionen ihre Zustimmung gegeben, die den Palästinensern das Selbstbestimmungsrecht zuerkennen und teilweise auch allgemeine Aussagen

136 137

Vgl. für diese Resolutionen die Nw. oben in Fn. 85. Zu Diskussionsbeiträgen der VRC vgl. Y. U. N. 1971, 203; 1974, 223 f.

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zum Selbstbestimmungsrecht enthalten. 138 Eine mitgestaltende Haltung zum Selbstbestimmungsrecht nahm die VRC auch bei der Diskussion im Sechsten Komitee der Generalversammlung ein, als der Entwurf zur Aggressionsdefinition behandelt wurde. 139 Die VRC vertrat mit anderen Staaten dort sogar die sehr weitgehende Position, daß der Kampf von Völkern für ihre Selbstbestimmung in dem unter Artikel 7 der Resolution umschriebenen Anwendungsbereich ein Fall legaler Gewaltanwendung sei. Artikel 7 nennt neben Völkern unter kolonialen und rassistischen Regimen aber auch Völker unter anderen Formen der Fremdbestimmung. Eine widersprüchliche Position zur Selbstbestimmung nahm die VRC allerdings zur Abspaltung Bangladeschs von Pakistan ein. Als der Sezessionskonflikt im Dritten Komitee der Generalversammlung diskutiert wurde nahm der Vertreter Chinas die Position ein, daß diese Frage eine interne Angelegenheit das pakistanischen Volkes sei.140 Demgegenüber erklärte der chinesische Vertreter im UN-Sicherheitsrat anläßlich der Diskussion über die Aufnahme Bangladeschs in die UNO, daß China auch zu einem früheren Zeitpunkt nicht im Grundsatz gegen eine Mitgliedschaft Bangladeschs gewesen sei. Vielmehr habe es die Umsetzung der einschlägigen UN-Resolutionen zu diesem bewaffneten Konflikt abwarten wollen. Nunmehr unterstütze China jedoch die Aufnahme Bangladeschs. 141 Anhaltspunkte für eine Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts als solches oder eine konkrete inhaltliche Einschränkung dieses Instituts lassen sich den Erklärungen des chinesischen Vertreters schon dem Wortlaut nach nicht entnehmen. Im übrigen spricht auch hier die sonstige Praxis Chinas zum Selbstbestimmungsrecht innerhalb der UNO gegen eine solche Interpretation. Zur Frage der gewohnheitsrechtlichen Bindung der VRC an das Selbstbestimmungsrecht der Völker kann somit festgestellt werden, daß sich 138 Zur Beiteiligung der VRC an Resolutions-Entwürfen im 3. Komitee der Generalversammlung vgl. zum Beispiel: GA-Resolution 2792D (XXVI) v. 6.12.1971 = Y. U. N. 1971, 208; GA-Resolution 3070 (XXVIII) v. 30.11.1973 = Y. U. N. 1973, 546; GAResolution 3236 (XXIX) v. 22.11.1974 = Y. U. N. 1974, 226; GA-Resolution 34/44 v. 23.11.1979 = Y. U. N. 1979, 835 ff. Für die jüngere Abstimmungspraxis: GA-Resolution 41/43C v. 2.12.1986 = Y. U. N. 1986, 272 f; GA-Resolution 48/158D v. 20.12.1993 = Y. U. N. 1993, 529. 139 Zur Diskussion über die Resolution 3314 (XXIX) vgl. Y. U. N. 1974, 845. 140 Zur Diskussion im Dritten Komitee der GA vgl. Y. U. N. 1971, 141. 141 Security Council Official Records 1776th meeting S. 2 f.

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die VRC aktiv an Diskussionen und Abstimmungen in der Generalversammlung zum Selbstbestimmungsrecht der Völker gerade auch über den kolonialen Kontext hinaus beteiligt hat. Dabei hat die VRC keine ablehnende Haltung zum Ausdruck gebracht sondern mehreren Entschließungen ihre Unterstützung zukommen lassen. Für die Anwendung der Grundsätze über einen persistent objector bleibt daher kein Raum. Insbesondere hat die VRC keine Sonderstellung gegenüber den einschlägigen Passagen in den Menschenrechtspakten und der Deklaration 2625 eingenommen, die Kristallisationspunkte auf dem Weg der gewohnheitsrechtlichen Verfestigung des Selbstbestimmungsrechts darstellen. Die dogmatischen Zweifel an der Doktrin zum persistent objector können folglich dahinstehen. Das gewohnheitsrechtliche Selbstbestimmungsrecht ist somit, vorbehaltlich des noch zu konkretisierenden Elementes der Übung, auch für die VRC verbindlich.

C. Grundlagen zum Selbstbestimmungsrecht In Teil B. wurden die Maßstäbe ermittelt, an denen sich der Nachweis für die im Gewohnheitsrecht gründenden Fallgruppen orientieren muß. Diese Maßstäbe betrafen insbesondere die dogmatischen Anforderungen, die an den Nachweis von opinio iuris und Übung zu stellen sind. In diesem Teil C. sollen noch materielle Grundlagen erarbeitet werden, die bereits vorweg eine allgemeine Charakterisierung der Anwendungsfelder des Selbstbestimmungsrechts zulassen. Hier geht es zum einen darum, die Versuche nachzuvollziehen, den Anwendungsbereich über eine Definition oder Umschreibung des Begriffes Volk zu konkretisieren. Zum anderen ist zu erörtern, inwieweit sich aus der Doktrin zum Selbstbestimmungsrecht oder konkurrierenden Völkerrechtsgrundsätzen Grenzen ergeben, die den Rahmen des Anwendungsbereiches abstekken. Zu diesem Zweck sind zunächst die einschlägigen UN-Dokumente auf relevante Aussagen hin zu untersuchen. Im Anschluß daran erfolgt eine Darstellung der verschiedenen Ansätze zur Bestimmung des Rechtsträgers, wie sie in der Literatur vertreten werden. Zuletzt wird das spezielle Problem erörtert, inwieweit etwaige auf das Selbstbestimmungsrecht gegründete Sezessionen mit den sonstigen Grundsätzen des Völkerrechts vereinbar sind.

I. UN-Grundsätze Bereits aus den UN-Dokumenten zum Selbstbestimmungsrecht sowie der UN-Praxis zum Minderheitenschutz lassen sich zumindest allgemeine Vorgaben für den Rechtsträgerkreis des Selbstbestimmungsrechts gewinnen. Diese Vorgaben stellen den Rahmen für die im Schrifttum entwickelten Ansätze zur Doktrin zum Selbstbestimmungsrecht dar. 1. UNO-Formel zum Selbstbestimmungsrecht

Die UN-Charta von 1945 spricht in Artikel 1 Absatz 2 noch vom „ Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker". Aber bereits in der Resolution 1514 (XV) vom 14.12.1960 wird ebenso wie in Artikel 1 Absatz 1 der Menschenrechtspakte von 1966 (CCPR und CESCR) festgestellt: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung". In den nachfolgenden GA-Resolutionen erweiterte sich die Rechtsträgerumschreibung zu der konstanten Formel, daß das

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Selbstbestimmungsrecht allen Völkern unter kolonialer- und Fremdbestimmung zustehe. 1 Daneben findet sich auch die erweiterte Formel, in der auf Völker unter fremder Unterjochung, Herrschaft und Ausbeutung Bezug genommen wird. 2 Daneben enthält die GA-Resolution 742 (VIII) vom 27.11.1953 einen Kriterienkatalog fur die Bewertung, ob in einem Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung nach Kapitel XI der Charta das angestrebte Ziel der Selbstregierung verwirklicht wurde. Einige Autoren verweisen darauf, daß diese Kriterien ergänzend und analog fiir die Beurteilung herangezogen werden können, ob der Fall einer Fremdherrschaft im Sinne des Selbstbestimmungsrechts vorliegt. 3 Allerdings dürfte dieser Katalog gerade in denjenigen Fällen wenig hilfreich sein, in denen es um die Abgrenzung von Bevölkerungsgruppen auf geographisch aneinander angrenzenden Territorien geht. Hier muß nämlich zuerst geklärt werden, ob das fragliche Gebiet überhaupt einen besonderen Status hat, der es dem domaine réservé des Gesamtstaates entzieht. Zudem ist auch die Zulässigkeit einer Analogie fraglich. So handelt es sich bei den von Kapitel XI der Charta erfaßten Gebiete um Sonderfalle, fur die gemäß Zif. 4 der Präambel der Resolution 742 (VIII) das Selbstbestimmungsrecht lediglich neben den besonderen Umständen des Einzelfalles zu berücksichtigen ist. Für diese Gebiete wurde das Selbstbestimmungsrecht also lediglich im Sinne eines "standard" operativ. 4 Die kontinuierliche Verwendung einer feststehenden Formel kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich in der UNO keine exakte Definition des Rechtsträgerkreises fur das Selbstbestimmungsrecht herausgebildet hat. Als wenig hilfreich erwiesen hat sich insbesondere auch der Versuch, aus einer semantischen Untersuchung der Begriffe people, peuple oder Volk eine Rechtsträgereingrenzung abzuleiten.

1

Zum Beispiel die Resolutionen 3070 (XXVIII) v. 30.11.1973 Zif. 1; 34/44 v. 23.11. 1979 Präambel sowie Zif. 1,3. 2 So die Deklaration 2625 (XXV) v. 24.10.1970, 5. Abschnitt Zif. 2b); ähnlich Resolution 34/44 v. 23.11.1979, Zif. 12. 3 So Cristescu S. 47 Rn. 310 ff; Crawford in BYIL 1976-1977, 160 Fn. 2 verweist auf den Katalog im Annex der GA-Resolution 1541 (XV) zu Artikel 73(e) UN-Charta. 4 Zu dem Konzept der "standards" siehe unter B. IV. 3 .3. 5 Solche Analysen finden sich bei Hu Chou-young S. 246 ff; Heidelmeyer S. 255. Zur Unbeachtlichkeit der Wortbedeutung auch Partsch in VN 5/1986, 157.

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Gleichwohl lassen die UN-Formel und ihre Entstehungsgeschichte Rückschlüsse für die weitere Konkretisierung des Rechtsträgerkreises zu. Erste Aufschlüsse gibt ein Memorandum des Sekretariats der UNGründungskonferenz von San-Francisco zur Bedeutung des Volksbegriffes in der UN-Charta. Darin heißt es, dieser Begriff werde immer benutzt, wenn die Idee der ganzen Menschheit oder aller menschlichen Geschöpfe gemeint sei. Der Begriff people beziehe sich demnach auf Gruppen menschlicher Geschöpfe mit der Möglichkeit, Staaten oder Nationen zu bilden. 6 In die gleiche Richtung weist die Entstehung der 1966 nach vielen Überarbeitungen verabschiedeten Menschenrechtspakte. So ging der ursprüngliche Beschluß der Generalversammlung dahin, ein Recht aller Völker und Nationen in die Pakte einzufügen. 7 Schließlich entschied die Generalversammlung 1955 aber, den Begriff Nationen wieder zu streichen und nur den als umfassender empfundenen Begriff Völker zu verwenden. 8 2. Abgrenzung zur Praxis im Minderheitenschutz

Neben der formelhaften Umschreibung seines Rechtsträgers kann für die Konkretisierung des Selbstbestimmungsrechts auch eine negatorische Eingrenzung vorgenommen werden. Diese ergibt sich aus einem systematischen Vergleich mit der internationalen Praxis im Minderheitenschutz. Die Unterschiede in beiden Bereichen können deutlich an der Resolutionspraxis der UNO, den Arbeiten der KSZE und am CCPR herausgearbeitet werden. Für die UN-Praxis ist hier insbesondere zu verweisen auf die "Erklärung über die Rechte von Personen, die zu nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten gehören", die von der Generalversammlung im Dezember 1992 verabschiedet wurde. Das Selbstbestimmungsrecht wird darin nicht genannt, vielmehr bleiben die Garantien unterhalb der externen Statusbestimmung. So werden in Artikel 2 der Erklärung lediglich individuelle Rechte von Personen aufgeführt, die Minderheiten angehören, ohne den Minderheiten als solchen Rechte zuzugestehen. Eine Bezugnahme auf Minderheiten als Kollektiv findet sich demgegenüber in Artikel 1. Danach sollen Staaten die Exi6

Zit. bei Cristescu S. 38 § 262. GA-Resolution 543 (VI) v. 5.2.1952; vgl. auch schon die GA-Resoluüon 421 (V) v. 4.12.1950. 8 Vgl. dazu Heidelmeyer S. 234 ff; Nowak Artikel 1 Rn. 10; Cristescu S. 9. 7

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Stenz und Identität von Minderheiten schützen. Von Rechten ist insofern jedoch nicht mehr die Rede. 9 Auch im CCPR kommt diese Trennung deutlich zum Ausdruck. So enthält der Pakt neben dem Selbstbestimmungsrecht in Artikel 1 eine Sondervorschrift für den Minderheitenschutz in Artikel 27. Damit legt schon eine systematische Interpretation den Ausschluß von Minderheiten aus dem Selbstbestimmungsrecht nahe. Die travaux préparatoires zeigen ebenfalls eine entsprechende Intention des mit dem Selbstbestimmungsartikel befaßten Dritten Komitees der Generalversammlung auf. 10 Abschließend hat dies auch der unter den Menschenrechtspakten konstituierte Menschenrechtsausschuß in seinem général comment Nr. 23 (50) zu Artikel 27 CCPR festgestellt. Darin wird ausgeführt, daß der Pakt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht von Völkern in Artikel 1 und den Rechten von Personen in Artikel 27 unterscheide. 11 Entsprechende Unterschiede finden sich auch in den Dokumenten der KSZE. Für die jüngeren Aktivitäten ist grundlegend zu verweisen auf den Bericht des in Genf durchgeführten KSZE-Expertentreffens über nationale Minderheiten vom 1.7. bis 19.7.1991. 12 Darin fand das Selbstbestimmungsrecht ebenfalls keine Erwähnung. Demgegenüber beschränken sich die unter Zif. III aufgeführten Rechte auf die Entfaltung der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität. Als positive Beispiele für die Verwirklichung von Minderheitenrechten werden dementsprechend unter Zif. IV nur die Gewährung von Territorialautonomie oder Selbstverwaltung genannt. Auch diese Möglichkeiten werden nur unter dem Vorbehalt der jeweiligen Verfassungsordnung des Gesamtstaates aufgezählt. Diese Grundsätze finden sich in Inhalt und Reichweite ähnlich auch in dem sog. "Helsinki-Dokument 1992" Kapitel VI Zif. 23 ff wieder. 13 Die Untersuchung der UN- und KSZE-Praxis führt somit zu dem Ergebnis, daß beide Organisationen differenzieren zwischen den Rechten 9

GA-Resolution 47/135 v. 18.12.1992. Zur Genese des Entwurfs vgl. Ermacora in VN 5/1992, 149 ff und Hofmann in ZaöRV 52/1, 1992, 10 ff. 10 Dazu Thürer (das Sbr) S. 212, 215 f. " General comment No. 23 (50) zu Artikel 27 abgedruckt in HRLJ 1994, 234 f. 12 Text im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 109 vom 10.10.1991, 865 ff. Zur Diskussion in Genf sowie zum Schlußdokument des Kopenhagener Treffens über die menschliche Dimension der KSZE: Ropers/Schlotter S. 29 f. 13 Text im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 82 vom 23. 7.1992 S. 796.

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von Völkern einerseits und dem Schutz von Minderheiten andererseits Wie schon zuvor dargelegt, wird das Selbstbestimmungsrecht als das kollektive Recht eines Volkes auf freie Statusbestimmung verstanden. Demgegenüber werden im Minderheitenschutz die Rechte der einzelnen Gruppenmitglieder abgesichert, wobei vorausgesetzt wird, daß diese Rechte innerhalb des Gesamtstaates zu verwirklichen sind. Dabei handelt es sich inhaltlich im wesentlichen um die Gewährleistung ihrer kulturellen und ethnischen Identität sowie um politische Teilhabemöglichkeiten. Dementsprechend ist in der Literatur zum Selbstbestimmungsrecht nahezu unbestritten, daß eine Abgrenzung zu bloßen Minderheiten erforderlich ist, da für diese besondere, weniger weit reichende Regeln gelten oder angestrebt werden. 1 4 3. Schlußfolgerungen

Nach der Untersuchung zur Begriffsverwendung in der U N O kann folgende Ausgangsposition für die Eingrenzung des Rechtsträgers beziehungsweise Anwendungsbereichs des Selbstbestimmungsrechts als unbestritten gelten: Der Begriff Völker ist kein Synonym für Staaten. Vielmehr kommt als Träger des Selbstbestimmungsrechts nur eine Gruppe natürlicher Personen in Betracht. Dieser Gruppe steht das Selbstbestimmungsrecht aber nur gemeinsam als ein kollektives Recht zu. 15 Eine weitere Konkretisierung folgt zudem aus dem Vergleich der internationalen Praxis zum Minderheitenschutz. Ausgangspunkt ist dabei der festzustellende Unterschied in der Ausgestaltung einmal als kollektive und einmal als individuelle Rechtsinhaberschaft sowie im Umfang der Rechte beziehungsweise Gewährleistungen. Danach geht das Recht von Völkern zur freien Statusbestimmung sehr viel weiter als die bislang anerkannten Minderheitengarantien, die innerhalb eines bestehenden Staatsverbandes zu gewährleisten sind. Diese Feststellung läßt nur den Schluß zu, daß der Anwendungsbereich beider Instrumente grundsätzlich zu trennen ist. Mithin kann nicht jedwede Minderheit als Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts angesehen werden. Dies 14 Cristescu S. 41 § 279; IpsenUpsen S. 644 Rn. 41; Mac Dermot in FS Haug S. 153; Partsch in VN 5/1986, 158; Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 392 ff. Für den CCPR: Nowak Artikel 1 Rn. 28 m.w.N. in Fn. 77; Cassese S. 96; Thürer (Das Sbr) S. 115 ff; Ermacora in FS Heraud S. 117 Fn. 4. Zur Gegenansicht, die allerdings nicht in allen Fällen ein Recht auf Unabhängigkeit gewähren will, vgl. unter C. II. 2. 15 Ebenso: Cristescu S. 30 § 214; Thürer (Das Sbr) S. 110, 181 f; Kiss in HRLJ 7/2-4, 1986. 172 f; Heidelmeyer S. 253; Murswiek in Der Staat 23/1984, 528; Nowak Artikel 1 Rn. 15.

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fuhrt zu der Schlußfolgerung, daß die zur Identifikation von Minderheiten verwendeten Kriterien - meist ethnischer oder kultureller Art - nicht für die Bestimmung von Völkern als Träger des Rechtes auf freie Statusbestimmung übernommen werden dürfen. Eine Überschneidung beider Regelungsbereiche ist damit jedoch nicht zwingend ausgeschlossen. So ist denkbar, daß Minderheiten unter bestimmten Voraussetzungen zugleich als Träger des Selbstbestimmungsrechts und damit im Rechtssinn als "Volk" angesehen werden können. Zu den ethnisch/kulturellen Merkmalen müssen dann aber weitere Vorbedingungen hinzutreten. Inwieweit das Selbstbestimmungsrecht in Ausnahmesituationen auch auf solche (qualifizierten) Minderheiten anzuwenden ist, wird im Rahmen der Fallgruppen in Kapitel D. Abschnitt V. zu erörtern sein.

II. Interpretationen in der Völkerrechtsdoktrin

In der Literatur lassen sich zwei unterschiedliche Ansätze identifizieren, die als enger und weiter Volksbegriff bezeichnet werden können. Diese Ansätze lassen sich nochmals in je zwei Untergruppen einteilen. 1. Enger Volksbegriff

Die restriktiven Auffassungen zum Volksbegriff beziehen sich im wesentlichen auf die UN-Charta und die Entkolonialisierungspraxis. 1.1. Das Selbstbestimmungsrecht nur für Staatsvölker

Nach der zurückhaltendsten Interpretation kommen neben den klassischen Kolonialvölkern nur noch Staatsvölker als Träger eines Selbstbestimmungsrechts gegenüber okkupierenden Staaten in Betracht.16 So wird darauf verwiesen, daß der Begriff Völker bereits in der Präambel der Charta als Synonym für Staaten steht. Eine Ausdehnung des Rechtsträgerkreises auf unterstaatliche Einheiten wäre mit dem ebenfalls in der Charta verankerten Grundsatz der Souveränität und territorialen Integrität der Staaten unvereinbar.

16 Vgl.: Wolfrum/Partsc/i (101) Rn. 19, 24; ¡'arisch in VN 5/1986, 157 f; ebenso Shaw in NethYBIL 13/1982, 71; für beide bleibt das Selbstbestimmungsrecht als Rechtsnorm auf Kolonialßlle beschränkt. Ähnlich Ipsenllpsen S. 644 Rn. 41; Cassese S. 109.

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Diese Auffassung mag zum Zeitpunkt der UN-Gründung sogar zutreffend gewesen sein. So geht aus einem Dokument der UNGründungskonferenz in San-Francisco hervor, daß das Selbstbestimmungsrecht kein Recht auf Sezession beinhalte. 17 Demgegenüber wird aber heute auch die Auffassung vertreten, die UN-Charta dürfe nicht nach dem Völkerrechtsverständnis von 1945 ausgelegt werden. Angemessen sei vielmehr eine objektive Auslegung zum Zeitpunkt der Anwendung, die hier zu anderen Ergebnissen führe. 18 Zudem läßt die enge Auffassung die sich fortentwickelnde Praxis im Rahmen des Völkergewohnheitsrechts unberücksichtigt. So räumt Partsch ein, daß sich die überwiegende UN-Praxis nicht an diese Restriktion hält, jedoch ohne Stütze im Wortlaut der Charta sei.19 1.2. Das Selbstbestimmungsrecht in Kolonialanalogien

Eine vorsichtige Erweiterung des restriktiven Standpunktes nehmen jene Autoren vor, die eine Anwendung des Selbstbestimmungsrechts in Analogie zu den klassischen Kolonialfällen befürworten. 20 Nach diesem Ansatz werden aus der historischen Entkolonialisierungspraxis einzelne Gegebenheiten hervorgehoben und zu entscheidenden Kriterien fur die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts erklärt. So werden als Voraussetzungen das Bestehen eines rassistischen Systems oder der sog. Salzwassertest genannt, nach dem das Selbstbestimmungsrecht nur auf einem vom beherrschenden Staat geographisch abgetrennten Gebiet zulässig ist (in der traditionellen Entkolonialisierungsphase in der Regel getrennt durch das Salzwasser zwischen den Kontinenten). Dieser Ansatz vermag bereits in sich nicht zu überzeugen. Einer solchen Analogie muß notwendigerweise eine Kriterienauswahl für ihre Zulässigkeit vorausgehen, die ihrerseits aber dem Vorwurf einer gewissen 17 UNICO-Doc. Vol. VI, Commission I, S. 296: Doc. 343 1/1/16 v. 16.5.1945 S. 1 A A schon fur die Gründungsphase der UNO mit Nw. Murswiek in Der Staat 23/1984. 529 Fn. 23. 18 So SimmalOoehring nach Artikel 1 Rn. 1; Murswiek in Der Staat 23/1984. 540 Fn. 51; insbesondere zur Relativität der travaux préparatoire: Thürer (Das Sbr) S. 71 f. Im Ergebnis ähnlich Simma! Wolfrum Artikel 1 Rn. 13: endgültige Konturen des Selbstbestimmungsrechts erst durch die UN-Praxis. 19 Wolfrum/PartecA (101) Rn. 11. 20 Allgemein Verdross/Simma S 320. Für die Bevölkerung Taiwans: Heuser in ZaöRV 40/1. 1980. 43 f. 72. Für die Palästinenser: Sureda S. 260 f. 265, 126. Für die Bengalen: Saxena S. 82. Für die Tibeter: v. Walt ( 1) S. 51.

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Willkür und Ungleichbehandlung ausgesetzt ist. Dies betrifft insbesondere den sog. Salzwassertest. Danach könnte man unter diesem Ansatz das Selbstbestimmungsrecht für die Bevölkerung Taiwans wegen der räumlichen Trennung vom Festland bejahen, müßte aber für Tibet zu einem negativen Ergebnis gelangen. 21 Dieses Differenzierungsmerkmal würde die Tatsache verdrängen, daß über 98% der Bewohner Taiwans chinesischer Herkunft sind und damit in ethnischer und kultureller Hinsicht sehr viel mehr Gemeinsamkeiten mit den Han-Chinesen der VRC haben als die Tibeter. 22 Der beschriebene Ansatz findet aber auch keine Bestätigung in der UN-Praxis. Vielmehr wurde in dieser Arbeit gerade die getrennte Behandlung des kolonialen Selbstbestimmungsrechts und des allgemeinen Selbstbestimmungsrechts für Völker unter Fremdherrschaft im Rahmen der Resolutionspraxis herausgearbeitet. 23 Die UNPraxis geht demnach von zwei getrennten Anwendungsbereichen aus. Mag sich das Selbstbestimmungsrecht auch im Zusammenhang mit der Dekolonialisierung erstmals zu bindendem Völkerrecht verdichtet haben, so ist das Entkolonialisierungsrecht doch nur eine selbständige Variante des Selbstbestimmungsrechts. 24 Für eine Erweiterung dieses Anwendungsbereichs über Analogiebildungen besteht keine Rechtfertigung. 2. Weiter Volksbegriff 2.1. Ethnischer Ansatz

Ein großer Teil der Literatur folgt der Prämisse, daß das Selbstbestimmungsrecht allen Völkern im ethnischen Sinn zusteht. Wegen der Abgrenzung zum Minderheitenschutz werden diesem Ansatz verschiedene Begrenzungskriterien zur Seite gestellt, mit denen der Rechtsträgerkreis näher bestimmt werden soll. Häufig werden neben einer eigenen ethnischen Abstammung noch folgende Kriterien genannt, die allerdings weder abschließend sein sollen noch kumulativ vorliegen müssen: historische, kulturelle/sprachliche, religiöse/ideologische, geographische/terri21 So Heuser in ZaöRV 40/1, 1980, 45 der allerdings auch die Konsequenzen gerade in bezug auf Tibet sieht: S. 72 Fn. 146. 22 Zur ethnischen Zusammensetzung Taiwans und seiner Geschichte vgl. Heuser in ZaöRV 40/1, 1980, 46-48. 23 Oben S. 54 f. 24 Ebenso SimmaJDoehring nach Artikel 1 Rn. 17, 47; Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 120 f. Kritisch zur Subsumtion anderer Fälle unter die Entkolonialisierungspraxis auch Eide bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 153.

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toriale und ökonomische Gemeinsamkeiten sowie das Bewußtsein und der Wille zur eigenen Identität. 25 Da diese Kriterien in Ermangelung einer klaren UN-Definition aufgestellt werden, muß im Umkehrschluß aber auch festgestellt werden, daß sie eben nicht auf entsprechende Vorgaben der UNO zurückgehen. Auch folgt aus ihrer Austauschbarkeit und dem nicht abschließenden Charakter des Kataloges, daß die Kriterien nicht das Ergebnis einer Praxisanalyse sind. Damit sind die beiden Grundprobleme des ethnischen Ansatzes umrissen: es fehlt an einer Herleitung aus der Völkerrechtspraxis, die dem Ansatz Autorität geben könnte, und es besteht die Gefahr der Beliebigkeit in der Auswahl der Kriterien. Den genannten Kriterien werden von einzelnen Autoren noch weitere hinzugefugt. Die dargelegten Probleme werden damit jedoch nicht beseitigt. Vielmehr begegnen diese Modifikationen noch stärkerer Kritik: So meint Cassese, daß die jeweilige Bevölkerung einen speziellen verfassungsrechtlichen Status in der Konstitution des Gesamtstaates haben müsse. 26 Dies würde die Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts aber in das Belieben des jeweiligen Staates stellen, so daß das Selbstbestimmungsrecht leerlaufen würde. 27 Buchheit formuliert Abwägungskriterien, die zu einem Standard fuhren sollen, an dem sich eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Abspaltung orientieren soll.28 Auch Suzuki erarbeitet einen "normative Standard", nach dem im Einzelfall zwischen der Zulässigkeit des Selbstbestimmungsrechts als Sezessionsrecht und dem Grundsatz der territorialen Integrität abgewogen werden soll. Dem Ansatz Suzukis kommt für diese Arbeit insofern besondere Bedeutung zu, als er von anderen Autoren für die Erörterung der Tibet-Frage übernommen wur-

25 So die Internationale Juristenkommission in ICJ-Review 8/1972, 47; Kiss in HRLJ 7/2-4, 1986, 173; Cristescu S. 41 § 279; Mac Dermot in FS Haug S. 153; Murswiek in Der Staat 23/1984, 538 f; Dinstein in ICLQ 25/1976, 104; Doehring (Das Sbr) S. 23. Eine Auflistung entsprechender Eigenschaften war auch das Ergebnis eines Expertentreffens der UNESCO zum Sbr, das im Februar 1990 in Paris stattfand. 26 Cassese S. 95 für den Anwendungsbereich im Rahmen des CCPR, allerdings noch restriktiver für die UN-Praxis S. 109. 27 Ablehnend daher auch Kiss in HRLJ 7/2-4, 1986, 173; Nowak Artikel 1 Rn. 29. 28 Buchheit S. 217 f.

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de.29 Von den Kriterien Suzukis wäre insbesondere das der Stabilitätsprognose zu kritisieren, das keinen Rückhalt in der UN-Praxis findet.30 Ein weiteres Eingehen auf die Kriterien erübrigt sich jedoch. Der Grundansatz beider Autoren erweist sich als eine vorangestellte Verhältnismäßigkeitsprüfung für den Einzelfall. Diesem Ansatz kann aufgrund der bisherigen Untersuchungen nicht gefolgt werden. Diese führten zu dem Ergebnis, daß das Selbstbestimmungsrecht als ein subjektives Recht in das Völkergewohnheitsrecht eingegangen ist. Die Anwendbarkeit gerade dieser Norm von einem Test abhängig zu machen, wie er von Suzuki und Buchheit mit ihren flexiblen Kriterien entwickelt wird, würde das Selbstbestimmungsrecht im Verhältnis zu anderen Normen zu einem Recht zweiter Klasse machen. Insoweit sei auf die in dieser Arbeit gemachten Ausfuhrungen zum Selbstbestimmungsrecht als bloßem "Standard" hingewiesen.31 Ähnlich wie die vorgenannten wollen auch andere Autoren die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts im Einzelfall bestimmen, jedoch sollen die konkreten Umstände hier nicht über das ob der Rechtsträgerschaft, sondern lediglich über die Art der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts entscheiden. Danach könnte das Selbstbestimmungsrecht bestimmten Völkern gegebenenfalls nur ein Recht auf beschränkte Autonomie innerhalb eines Staatsverbandes geben.32 Diese Argumentation findet sich insbesondere auch in der Diskussion um das

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Suzuki in VJIL 16/4, 1975-1976, 861 f und 848 ff. Als "reasonableness test" übernommen von v. Walt (1) S. 193 ff. Ökonomische und quantitative Airfordeningen finden sich auch bei der Internationalen Juristenkommission in ICJ-Review 8/1972, 47 sowie Sharma S. 30. 30 Es entspricht absolut h.M., daß die Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts nicht von der Größe oder Entwicklung einer Gemeinschaft abhängig ist: Vgl. schon die Resolution 1514 (XV) v. 14.12.1960 Zif. 3 sowie die Erklärung des Präsidenten des UNSicherheitsrates anläßlich der SichR-Empfehlung zur Aufnahme der Föderierten Staaten von Mikronesien sowie der Marshallinseln in die UNO in VN 3/1992 S. 105. Vgl. dazu aus dem Schrifttum: Gros-Espiell S. 45 f § 103 mit zahlreichen Nw. in Fn. 81 S. 56; Hu Chou-young S. 250fi";Dinstein in ICLQ 25/1976, 104; Cristescu S. 312 f § 48 stellt auf die Eignung zur UN-Mitgliedschaft ab, die eben auch bei sog. Mikrostaaten gegeben ist. Einschränkend daher auch v. Walt (1) S. 194. Dieses Problem sieht allerdings auch Suzuki in VJIL 16/4, 1975-1976, 862, 835. 31 Vgl. unter B. IV. 3.3. 32 So Kiss in HRLJ 7/2-4, 1986, 173; Saxena S. 99; Nanda bei Alexander/Friedlander S. 205; Verdross/Simma S. 319 f § 513.

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Selbstbestimmungsrecht fiir sog. Volksgruppen. 3 3 Dieser Ansatz beinhaltet also letzlich eine Rechtsträgererweiterung zu Lasten der Freiheit bei der Statuswahl. Zum Kernbereich des Selbstbestimmungsrechts gehört aber das Recht eines Volkes, seinen Status ohne äußere Einmischung frei zu wählen. 34 So enthalten die GA-Resolutionen zum Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser in der Regel auch eine Passage zu einem daraus folgenden Recht auf Unabhängigkeit. 3 5 Demgegenüber wurde in der GA-Resolution von 1950 zu Eritrea, die der betroffenen Bevölkerung nur eine größere Autonomie zugestand, kein Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht genommen. 3 6 Nach überwiegender Ansicht steht das externe Selbstbestimmungsrecht daher seinem Rechtsträger entweder voll, daß heißt inklusive des Rechtes auf Votierung für die Unabhängigkeit, oder gar nicht zu. 3 7 Mit Rabl ist dazu festzustellen, daß aus der Selbst- eine Fremdbestimmung würde, wenn Dritte über Inhalt und Ausübung dieses Rechtes entschieden. 3 8 Auch wenn man die Existenz eines internen Selbstbestimmungsrechts bejaht, dessen Inhalt sich gerade auf das Ausmaß interner Mitbestimmung bezieht, muß daher der Anwendungsbereich dieses Rechtes von dem des externen Selbstbestimmungsrechts (in dieser Arbeit immer als Selbstbestimmungsrecht bezeichnet) unterschieden werden. 3 9 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, daß auch die Internationale Juristenkommission in ihrem Tibetbericht von 1997 zunächst auf den ethnischen Ansatz zurückgreift, diesem sodann das Kri33 Dazu Veiter S. 265 ff insbesondere 267 f; Kimminich in ArchVR 28/1990. 7; Luchterhand für die Volksgruppe der Armenier in Berg-Karabach in ArchVR 31/1-2, 1993, 34 ff. 34 Deklaration 2625 5. Abschnitt Absatz 1. 35 Vgl. die Resolutionen oben Kapitel B. Fn. 88. 36 GA-Resolution 390 (V) A v. 2.12.1950. In Anbetracht der zwischenzeitlich erfolgten Abspaltung Eritreas ist das in dieser Resolution vorgezeichnete Autonomie-Modell freilich überholt. Vgl. dazu unter D. I. 3.3. 37 Tomuschat in Modern Law of Self-Determination S. 12; Kimminich bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 93 f; Pomerance S. 41; Partsch in VN 5/1986, 158; Gros-Espiell S. 29 f § 62, 38 f § 85, 59 § 109; Thürer (Das Sbr) S. 188 f; Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 394 ff. Für den CCPR: Cassese S. 102 und Doehring (Das Sbr) S. 34. Pomerance S. 74 formuliert dies kritisch als ein „alt or nothingproposal". 38 Rabl S. 504 f. 39 Die Internationale Juristenkommission spricht daher richtig von einer zweiten Form des Selbstbestimmungsrechts: ICJ-Review 8/1972, 45. Differenzierend insofern auch Veiter S. 266 f. Gegen eine Aufspaltung des Selbstbestimmungsrechts in verschiedene Rechte: Kimminich bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 90.

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terium der Fremdherrschaft zur Seite stellt und schließlich die Durchbrechung des Grundsatzes territorialer Integrität mit den Überlegungen rechtfertigt, die in dieser Arbeit unter dem Aspekt des Notwehrrechtes erörtert werden. Insoweit wird auf die Ausfuhrungen oben unter A. III. 3. verwiesen. 2.2. Subjektiver Ansatz

Gelegentlich wird der auch im ethnischen Ansatz enthaltene subjektive Aspekt als entscheidendes Kriterium betont. Danach soll sich ein Volk primär dadurch konstituieren, daß es sich seiner Eigenständigkeit als Volk bewußt wird und einen entsprechenden Willen auf Anerkennung äußert.40 Dieser Ansatz läßt sich schon deswegen nicht mit der UNPraxis und dem CCPR vereinbaren, weil er keine Abgrenzung zum Recht des Minderheitenschutzes zuläßt.41 Zudem würde es die Grundstruktur des auf den Konsens souveräner Staaten gegründeten Völkerrechts erschüttern, wenn die Anwendbarkeit eines derart weit reichenden Rechtes nur vom Willen der potentiellen Rechtsträger ungeachtet sonstiger objektiver Umstände abhängig wäre. Gerade dies entspricht nicht dem Interesse und Willen der auf innere Stabilität ausgerichteten staatlichen Völkerrechtssubjekte. Daher widerspricht es de lege lata dem Selbstbestimmungskonzept, seine Anwendbarkeit in das Belieben der jeweiligen Bevölkerungsgruppe zu stellen.42 3. Das "föderale" Selbstbestimmungsrecht

In der jüngsten Diskussion wird zunehmend der Begriff eines "föderalen" Selbstbestimmungsrechts diskutiert. Allerdings hat sich unter diesem Begriff noch kein einheitlicher Ansatz herausgebildet: Murswiek versteht darunter die Prämisse, daß das Selbstbestimmungsrecht nur unter bestimmten Voraussetzungen ein Recht auf Sezession enthalte und daß es bei NichtVorliegen dieser Bedingungen das Recht zu einem Minimum an interner Autonomie gebe. Erst wenn ein Staat 40

So Sharma S. 30; auch Dinstein in ICLQ 25/1976, 104 f der zwar auch die ethnischen Kriterien nennt, aber letztlich der jeweiligen Bevölkerungsgruppe die alleinige Entscheidung zugesteht, ob es den Status eines Volkes einnimmt. Widersprüchlich: Nowak Artikel 1 Rn. 28 einerseits und Artikel 27 Rn. 28 andererseits. 41 Dazu oben unter C. I. 2. . Folgerichtig hat auch Dinstein in ICLQ 25/1976, 112 Probleme damit, zwischen Völkern und ethnischen Minderheiten zu differenzieren. 42 Im Ergebnis ebenso: Murswiek in Der Staat 23/1984, 530 f.

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dieses Minimum beziehungsweise das interne Selbstbestimmungsrecht nicht gewähre, sei auch in diesen Fällen ein Sezessionsrecht gegeben. 4 3 Dies entspricht aber dem oben abgelehnten Ansatz, der das Recht zur freien Statuswahl negiert und damit die G r e n z e zwischen internem und externem Selbstbestimmungsrecht verwischt. Nicht unter diesen Ansatz fällt allerdings das unten noch zu erörternde Selbstbestimmungsrecht als N o t w e h r r e c h t , bei dem das Selbstbestimmungsrecht ursprünglich gar nicht einschlägig ist und erst durch eine Notstandssituation zur A n w e n dung kommt. N a c h einem anderen Ansatz wird unter d e m "föderalen" Selbstbestimmungsrecht lediglich ein M o d u s im Rahmen der freien Statuswahl verstanden, bei dem sich ein Volk, t r o t z der Möglichkeit, die Unabhängigkeit zu wählen, f ü r eine föderale Beziehung zu einem anderen Volk entscheidet. 4 4 Insoweit ist aber w e d e r der Anwendungsbereich noch die Rechtsfolge des Selbstbestimmungsrechts betroffen. Vielmehr weist dieser Ansatz auf einen eher vernachlässigten Aspekt des externen Selbstbestimmungsrechts hin, nämlich die Möglichkeit j e d w e d e r Statuswahl, auch unter A u f g a b e der eigenen Souveränität. Schließlich kann unter dem "föderalen" Selbstbestimmungsrecht ein neues selbständiges Recht verstanden werden, das auf politische A u t o nomie ausgerichtet ist. 45 Dieser Ansatz bedeutet die Weiterentwicklung des bisherigen Minderheitenschutzes zu einem kollektiven Minderheitenrecht. Ein so verstandenes "föderales" Selbstbestimmungsrecht w ü r de selbständig zwischen den bisherigen Varianten des internen und des externen Selbstbestimmungsrechts stehen. Die Darstellung zeigt, daß sich die Diskussion zum "föderalen" Selbstbestimmungsrecht noch nicht zu einer einheitlichen Doktrin verdichtet hat. Aber auch die bislang diskutierten Ansätze bleiben f ü r das in dieser Arbeit diskutierte externe Selbstbestimmungsrecht ohne Belang. Z u d e m stellen sie teilweise erst Überlegungen de lege ferenda dar.

43 Murswiek bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 38 f; abgedruckt in deutscher Sprache im ArchVR 31/4, 1993, 1-332; ähnlich Luchterhand in ArchVR 31/1-2, 1993,61 f, 68. 44 So Kimminich bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 93 ff. 45 Tomuschat in Modern Law of Self-Determination S. 13 ff; ähnlich: Brühl-Moser S. 290 ff.

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III. Zum Grundproblem der Sezession 1. Selbstbestimmungsrecht und Sezessionsproblematik

Die Bedeutung der Sezessionsproblematik für die Diskussion zum Selbstbestimmungsrecht geht bereits aus der Argumentation der Vertreter des engen Volksbegriffes hervor, die sich auf die Unverletzlichkeit der staatlichen Einheit berufen. Da das Selbstbestimmungsrecht immer auch das Recht zur Bildung eines eigenen Staates beinhaltet, taucht die Sezessionsfrage immer dann auf, wenn die Selbstbestimmung für eine Gebietsbevölkerung diskutiert wird, über die ein Staat Souveränitätsrechte beansprucht oder faktisch ausübt. In diesen Fällen ist es bedeutsam, wie man die völkerrechtliche Legitimität einer Abspaltung beurteilt. Sieht man wie die Vertreter des engen Volksbegriffes die territoriale Integrität als uneingeschränkt vorrangigen Grundsatz, so folgt daraus unmittelbar das Verbot jeder Sezession. Da das Recht zur Unabhängigkeit aber untrennbarer Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts ist, trifft dieses Verdikt auch die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts als solche. Im folgenden ist daher das grundsätzliche Verhältnis zwischen Selbstbestimmungsrecht, Sezession und territorialer Integrität zu erörtern. 2. Selbstbestimmungsrecht und territoriale Integrität 2.1. Abspaltung ohne entgegenstehenden Gebietstitel

Zunächst bedarf es einer genaueren Bestimmung des Sezessionsbegriffes. Meist wird die Sezession definiert als die Abspaltung von Teilen eines Staatsgebietes durch die ansässige Bevölkerung zwecks Errichtung eines unabhängigen Staates.46 Diese Definition ist aber insoweit ungenau, als sie den völkerrechtlichen Status dieses Gebietes unberücksichtigt läßt. Haverland betrachtet jede Abspaltung als Sezession, unabhängig vom Gebietsstatus, allerdings ohne damit eine generelle Wertung zu verbinden.47 Damit wird aber die Chance zu einer Abgrenzung vertan, mittels derer das Sezessionsproblem in einigen Fällen schon entschärft werden könnte. So argumentiert Partsch, daß erst die Zuerkennung eines eigenen Status für Kolonialgebiete die Entkoloniali46

Crawford in BYIL 1976-1977, 247; Haverland 1982, 26. 47 Haverland in EPIL (10), 385.

in EPIL (10), 384; Turp in AcanDi

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sierung legalisierte, da auch letztere immer eine Sezession sei.48 Danach ist der Gebietsstatus aber auch dann von erheblicher Bedeutung, wenn er beim Sezessionsbegriff unberücksichtigt bleibt. Richtiger erscheint folgende Differenzierung: Dort, wo dem Abspaltungswillen keine völkerrechtlich geschützte Position des Gesamtstaates gegenübersteht, entstehen die typischen Sezessionsprobleme nicht. Die Bezeichnung als Sezession ist daher fiir diese Fälle unangebracht. Gleiches gilt, wo die Souveränitätsrechte des Gesamtstaates nur und gerade im Verhältnis zu der abspaltungswilligen Bevölkerung unwirksam sein sollten. 49 In diesen Fällen kann das Selbstbestimmungsrecht der Gebietsbevölkerung somit zumindest nicht unter Hinweis auf Rechte des Gesamtstaates verweigert werden. Oeter bezeichnet diese Fälle bei gleicher Wertung als unechte Sezession. 50 In welchen Fallgestaltungen dem Selbstbestimmungsrecht kein zu beachtender Titel entgegensteht, wird im Rahmen der Fallgruppen darzulegen sein. Demgegenüber wird die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Selbstbestimmungsrecht und territorialer Integrität dann relevant, wenn dem Abspaltungsbegehren ein Gebietstitel des Gesamtstaates entgegensteht. 2.2. Selbstbestimmung und territoriale Integrität

Nach dem oben Gesagten ist noch die Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Sezession für jene Fälle zu erörtern, in denen das Selbstbestimmungsrecht tatsächlich in Konkurrenz zu dem geschützten Recht des Gesamtstaates auf Wahrung seiner territorialen Integrität tritt. Dabei sind zwei unterschiedliche Fragestellungen zu behandeln. Zum einen geht es darum, ob das Völkerrecht ein generelles Sezessionsverbot beinhaltet, das sich dann mittelbar auch auf das Selbstbestimmungsrecht auswirken würde. Zum anderen ist zu klären, ob sich spezielle Wertungen aus den einschlägigen Dokumenten zum Selbstbestimmungsrecht ergeben.

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Partsch in VN 5/1986, 157. Ebenso Michalska in Rights of Peoples S. 41. Zu der Frage, ob nicht im Gegenteil die Gebietseinheit des im Abspaltungsprozeß befindlichen Territoriums geschützt ist, vgl. aus der Praxis S. 98, 100 f u n d allgemein S. 137 f. 50 Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 749 ff. 49

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2.2.1. Zulässigkeit der Sezession im Völkerrecht

Das Gebot zur Wahrung der territorialen Integrität findet sich in Artikel 2 Zif. 4 der UN-Charta sowie in Abschnitt VI lit. (d) der Deklaration 2625. Es wird als selbständiger Völkerrechtsgrundsatz verstanden, der Ausfluß der staatlichen Souveränität ist.51 Zum Teil wird die Ansicht vertreten, daß der Schutz territorialer Integrität außerhalb der Kolonialund Treuhandgebiete sogar ein vorrangiger Völkerrechtsgrundsatz sei. Daraus wird dann ein völkerrechtliches Sezessionsverbot hergeleitet. 52 Dieser Ansicht ist entgegenzuhalten, daß in einschlägigen Dokumenten nur die Gebietsaneignung durch einen anderen Staat geächtet wird. 53 Demgegenüber findet sich in den UN-Dokumenten kein generelles Sezessionsverbot 54 . Dies ist auch deswegen nicht verwunderlich, weil sich die völkerrechtlichen Ge- und Verbote außerhalb des Strafrechts traditionell an Staaten richten. Wie die noch zu erörternden Beispiele der Abspaltung Bangladeschs und des Zerfalls der ehemaligen Staaten der UdSSR und Jugoslawiens zeigen, wäre ein gegen Bevölkerungsgruppen gerichtetes Sezessionsverbot wenig praktikabel und findet auch keine Bestätigung in der Staatenpraxis zu diesen Fällen.55 Bei dieser Sachlage fehlt es an einer Berechtigung, aus den zwischenstaatlichen Verhaltensmaßregeln auf ein allgemeines Abspaltungsverbot zu schließen. Andererseits folgt aus der Staatenpraxis zu Sezessionsbestrebungen wie der Insel Mayotte, Biafras oder Katangas, daß sich außerhalb der zwischenstaatlichen Beziehungen kein allgemeines Sezessionsrecht, insbesondere nicht für ethnische Gruppen, als Völkergewohnheitsrecht durchgesetzt hat. 56 Es ist daher der Ansicht zuzustimmen, wonach das Völkerrecht weder ein allgemeines Sezessionsrecht noch ein Sezessionsverbot enthält. 57 51

Rozakis in EPIL (10), 481 f, 486. So: Wolfrum/Partsc/z (101) Rn. 11; abgeschwächt bei Murswiek in Der Staat 23/ 1984, 543: im Zweifel pro staatliche Souveränität; Verdross/Simma S. 319 § 512. 53 Vgl. Artikel 2 Zif. 4 UN-Charta sowie Artikel 18 des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit. Wie hier Haverland in EPIL (10), 385. 54 Auch ein Verweis auf die Beachtung der Gebietseinheit in der Präambel zur Deklaration 2625 nimmt auf die UN-Charta Bezug und kann daher nicht weiter interpretiert werden. 55 Vgl. zu diesen Fällen eingehend in Kapitel D. 56 So Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 129; Verdross/Simma S. 319 § 512; Haverland in EPIL (10), 385 f; Buchheit S. 117 f; Gusy in AichVR 30/4, 1992, 394 f. 57 So Crawford in BYIL 1976-1977, 267 f; Haverland in EPIL (10), 385; Turp in AcanDi 1982, 75 f; kritisch dazu Pomerance S. 43 ff. 52

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2.2.2. Innere Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts?

Wenn das Völkerrecht auch kein generelles Sezessionsverbot enthält, so stellt sich doch die Frage, ob nicht das Selbstbestimmungsrecht eine immanente Beschränkung zugunsten der territorialen Integrität eines Staates enthält. Die Deklaration 2625 behandelt beide Institute jeweils gesondert in den Abschnitten V und VI. Zu dem Verhältnis aller in der Deklaration enthaltenen Prinzipien heißt es im allgemeinen Abschlußteil : "... the above principles are interrelated and each principle should be construed in the context of the other principles." Danach wären das Selbstbestimmungsrecht und die territoriale Integrität wie konkurrierende Verfassungsgrundsätze zu behandeln, deren Abgrenzung im Wege der Verhältnismäßigkeit vorgenommen werden müßte. 58 Allerdings enthält die Deklaration in Absatz 7 ihres Abschnittes zum Selbstbestimmungsrecht eine besondere Passage zu diesem Problem, die in dem Schlußdokument der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 unter Kapitel I Ziffer 2. wörtlich wiederholt worden ist. In der Deklaration 2625 heißt es: " Nothing in the foregoing paragraphs shall be construed as authorizing or encouraging any action which would dismember or impair, totally or in part, the territorial integrity or political unity of sovereign and independent States conducting semselves in compliance with the principle of equal rights and self-determination of peoples as described above and thus possessed of a government representing the whole people belonging to the territory without distinction as to race, creed or colour. " Umstritten ist aber, welche Schlußfolgerungen aus dieser Formulierung zu ziehen sind. Teilweise wird diese Stelle so interpretiert, daß Bevölkerungsteile eines Staates, die von der Regierung nicht repräsentiert oder die diskriminiert werden, ein internes Selbstbestimmungsrecht auf weitreichende Selbstregierung und Partizipation an der Regierung zustehe. 59 Allerdings sind in dem Absatz die Forderungen nach einer die Bevölkerung repräsentierenden Regierung in Verbindung mit dem Diskriminierungsgedanken 58 Ebenso unter Verweis auf das verfassungsrechtliche Modell der praktischen Konkordanz: Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 748 und einschränkend Luchterhand in ArchVR 31/1-2, 1993, 58 f; ähnlich Murswiek bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 25, 35. 59 So die Internationale Juristenkommission = ICJ-Review 1972, 45 f, 50; Arangio-Ruiz S. 140, 136.

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nicht auf die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts bezogen. Ihrem Wortlaut nach stellen sie vielmehr einen Vorbehalt dar, unter dem der Schutz der territorialen Integrität steht. Daher entspricht es der h.M., daß einem Bevölkerungsteil dann ein Selbstbestimmungsrecht inklusive Sezessionsrecht zusteht, wenn in dem Staat die oben genannten Voraussetzungen nicht vorliegen.60 Thürer wendet demgegenüber ein, daß die Kommission bei der Formulierung der Deklaration die Anerkennung eines Sezessionsrechtes innerhalb des Selbstbestimmungsrechts vermeiden wollte. Er zitiert mehrere Delegierte, nach denen das Prinzip der Selbstbestimmung nicht zur Zerstörung der nationalen und territorialen Einheit von Staaten fuhren dürfe.61 Allerdings ergibt sich nach der Lesart der h.M. das Sezessionsrecht nicht schon aus dem Selbstbestimmungsrecht an sich. Es folgt vielmehr aus einem bestimmten Verhalten des Staates zu seinen Bürgern, das der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts zwischengeschaltet ist. Insoweit ist bereits fraglich, ob die von Thürer zitierten Äußerungen einer Interpretation entsprechend der nun herrschenden Meinung tatsächlich widersprechen. Im übrigen ist bei der Auslegung einer solchen Klausel primär der Wortlaut maßgebend. Die aus den sechziger Jahren stammenden travaux préparatoires sind demgegenüber auch im Einklang mit der nachfolgenden Praxis und der das Völkerrecht weiterentwickelnden Lehre zu berücksichtigen. Die allgemein gehaltene Formulierung der Deklaration bedarf insoweit noch der konkreten Ausgestaltung in Übereinstimmung mit Praxis und Lehre. Diese Konkretisierung soll im Rahmen der folgenden Fallgruppendarstellung vorgenommen werden.62 60

So Tomuschat in FS Haug S. 353; Mac Dermot in FS Haug S. 148; Buchheit S. 221; Saxena S. 15; Nanda bei Alexander/Friedlander S. 201; Murswiek in Der Staat 1984, 541; Haverland in EPIL (10), 385; Roxakis in EPIL (10), 487; Luchterhand in ArchVR 31/1-2, 1993, 59; wohl auch Gros-Espiell S. 38 § 84; restriktiver auch Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 759 f, 765 und Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 406. 61 Thürer (Das Sbr) S. 187. 62 Vgl. zu Absatz 7 der Deklaration auch unter D. V. 1.3.

D. Fallgruppen des Selbstbestimmungsrechts im Bezug zu Tibet In diesem Kapitel geht es um die abschließende Konkretisierung des Anwendungsbereichs für das Selbstbestimmungsrecht dergestalt, daß eine Subsumtion der Tibet-Problematik darunter möglich wird. Bereits das vorangestellte Kapitel C. hat gezeigt, daß es bei der Frage nach der Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts nicht um die abstrakte Umschreibung eines einheitlichen Anwendungsbereiches gehen kann. Vielmehr spaltet sich dieser auf in unterschiedliche Fallgestaltungen, die aber ihrerseits verschiedenen Gruppen zugeordnet werden können. Die folgende Untersuchung beginnt daher jeweils mit der Herleitung einer solchen Fallgruppe sowie der Darstellung ihrer Voraussetzungen. Unter die jeweiligen Charakteristika ist dann die Tibet-Problematik zu subsumieren. Um die themenimmanenten Grenzen dieser Arbeit nicht zu sprengen, sind ähnlich wie bei der Thematisierung der Entkolonialisierungspraxis auch hier bestimmte Einschränkungen geboten. Die Auswahl in der Darstellung der Fallgruppen wird daher bestimmt durch ihre Relevanz für die Lösung der Tibet-Frage. Somit entspricht es nicht dem Ziel der Arbeit, eine zur Vollständigkeit tendierende Aufzählung möglicher Anwendungsfälle für das Selbstbestimmungsrecht zu geben. Daher findet zum Beispiel das auf Wiedervereinigung abzielende Selbstbestimmungsrecht für geteilte Völker keine Berücksichtigung. 1 Auch die umstrittene Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht nach freiwilligem Staatenzusammenschluß ein Recht zur Trennung gibt, bedarf hier keiner Vertiefung. 2 Insoweit sei auf die Ausführungen zum Status Tibets im Hinblick auf das 17-Punkte-Abkommen verwiesen.

' Vgl. dazu BVerfGE 77, 137 ff; Frowein in ZaöRV 51/2, 1991, 333 ff; Thürer in EPIL (8) S. 473 f; Simma/Doe/irmg nach Artikel 1 Rn. 43, 52. Vgl. zum Beispiel Simma/Doehring nach Artikell Rn. 59; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 751 ff; Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 401 f; Mac Dermot in FS Haug S. 149; Heide Imeyer S. 244. Als positives Beispiel aus der Praxis sei der Beitritt Singapurs zur Föderation Malaysia 1963 und der Wiederaustritt 1965 genannt. 2

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I. Das Selbstbestimmungsrecht bei Staatendismembration

Ein besonderes Problem stellt das Selbstbestimmungsrecht bei Staatenzerfall (Dismembration) dar. Diese Fallgruppe soll vorweg erörtert werden, da sie für Tibet aktuell (mangels Dismembrationsprozeß) a priori nicht einschlägig sein kann und losgelöst von den für die meisten anderen Fallgruppen relevanten Statusfragen zu beurteilen ist. Die Beschäftigung mit dieser Fallgruppe rechtfertigt sich jedoch daraus, daß die Zukunft Chinas als großem multinationalem Staat nicht eingeschätzt werden kann, so daß diese Fallgruppe eines Tages durchaus Relevanz besitzen könnte. Ist ein Dismembrationsprozeß erst einmal zum Abschluß gekommen und haben sich auf den dann staatenlos gewordenen Gebieten neue Staatsgewalten etabliert, bedarf es eines Rückgriffes auf das Selbstbestimmungsrecht zur Legitimation nicht mehr. Vielmehr handelt es sich insoweit um einen Vorgang, der im Völkerrecht als klassischer Weg für die Neubildung von Staaten anerkannt ist.3 Aus der jüngsten Zeit bildet dafür die Abspaltung Eritreas von Äthiopien ein Beispiel. Diese war die Folge eines Referendums unter der Bevölkerung, das jedoch erst nach dem Zusammenbruch der zentral staatlichen Ordnung infolge eines Bürgerkrieges möglich wurde.4 Für die Untersuchung zum Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts ist vielmehr die Frage interessant, ob sich ein Bevölkerungsteil bereits während eines Dismembrationsprozesses auf ein Recht zur Staatsbildung im Rahmen der freien Statusbestimmung berufen kann. Bereits vor den großen politischen Umwälzungen in Ost-Europa hat Thürer die These vertreten, daß ein im Gang befindlicher Sezessionsprozeß zu einem Souveränitätsvakuum fuhren könne, das die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts nach sich ziehe.5 Diese These steht auch mit der bisherigen Dogmatik zum Selbstbestimmungsrecht in Ein3

Vgl. etwa Dahm/DelbrückAVolfrum S. 151 f; Verdross/Simma S. 601, § 959. Da im Falle Äthiopiens seit 1991 die Zentralgewalt abgelöst und die Kontrolle des Landes bei regionalen Befreiungsbewegungen lag, kann hier von einem Zerfall des Staates gesprochen werden, obwohl Äthiopien als Völkerrechtssubjekt auf dem restlichen Gebiet fortbesteht. Vgl. zu diesen Vorgängen: FAZ vom 4.7.1991 sowie Krabbe in FAZ vom 29.11.1991 und vom 24.4.1993. Die Aufnahme Eritreas in die UNO erfolgte aufgrund der GA-Resolution 47/230 v. 28.5.1993 (sowie SichR-Resolution 828 (1993) v. 26.5.1993). 5 Thürer in (Das Sbr) S. 202 und Fn. 41; ders. auch in ArchVR 22/2, 1984, 127. 4

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klang. So ist im Zustand der faktischen Auflösung die Schutzwürdigkeit der staatlichen Integrität vermindert, da der Staat als Inhaber dieses Rechtes bereits in seiner Existenz fragwürdig geworden ist. Zudem ist es bereits zweifelhaft, ob in einem solchen Fall noch von der Annahme eines einheitlichen Staatsvolkes ausgegangen werden kann. Damit entsteht auch in diesen Fällen Raum für ein eigenes Selbstbestimmungsrecht von Bevölkerungsteilen. In der Völkerrechtspraxis ist dieses Problem erst mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Ost-Europa auf die Tagesordnung getreten. Die dementsprechend junge und daher im Umfang beschränkte Praxis genügt jedoch den Anforderungen des unter C. entwickelten methodischen Ansatzes, zumal sie sich auf dogmatische Überlegungen stützen kann. 1. UdSSR

Die frühere UdSSR wurde von fünfzehn Republiken gebildet. In der Zeit vom März 1990 bis September 1991 hatten sich diese Gebilde nacheinander für unabhängig erklärt. 6 Bis zum 21.12.1991 hatten sich bis auf Georgien und die drei baltischen Staaten in Abständen alle ehemaligen Republiken der UdSSR zur "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" (GUS) zusammengeschlossen. In der Präambel der sog. Erklärung von Alma Ata vom 21.12.1991 heißt es, daß die beteiligten Staaten unter anderem in dem Bemühen um das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung handelten. 7 In dem Gründungsvertrag wurde festgestellt, daß die U d S S R als Subjekt des Völkerrechts und als geopolitische Realität zu existieren aufhöre. Dieser Vertrag wurde allerdings ohne Beteiligung der Organe der UdSSR abgeschlossen. Dementsprechend wurde er vom damaligen Präsidenten der UdSSR, Gorbatschow, als verfassungswidrig bezeichnet. 8 Eine formelle Auflösung der UdSSR durch die verfassungsmäßigen Staatsorgane erfolgte nicht. Statt dessen verständigten sich der faktisch bereits entmachtete Präsident der UdSSR und der Präsident Rußlands am 17.12.1991 über die Auflösung der UdSSR zum 31.12.1991. Schon am 25.12.1991 trat der Präsident

6 Vgl. zum gesamten Zerfallsprozeß: Schweisfurth in ZaöRV 52/3-4, 1992, 541 ff, insbesondere zur "Parade der Souveränitäten": S. 586 ff sowie zum letztendlichen Zerfall S. 626 ff. 7 Text der Vereinbarung von Alma Ata in der FAZ vom 23.12.1991. 8 Text des Abkommens in der FAZ vom 10.12.1991. Die Erklärung des Präsidenten der UdSSR wurde abgedruckt in der FAZ vom 11.12.1991.

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der UdSSR zurück. 9 Bereits einen Tag nach dem Rücktritt des Präsidenten der UdSSR erkannten die USA und andere westliche Staaten die Unabhängigkeit Rußlands sowie anderer ehemaliger Sowjetrepubliken an, wobei Rußland als Rechtsnachfolger der UdSSR angesehen wurde. Bis zum 3.3 .1992 waren bis auf Georgien alle ehemaligen Sowjetrepubliken Mitglieder der U N O geworden. 1 0 Auf die Funktion der Anerkennung in der Staatenpraxis zum Selbstbestimmungsrecht wurde bereits gesondert eingegangen. Danach ist insbesondere die vorzeitige Anerkennung trotz EfFektivitätsmängeln der neuen Staatsgewalt ein wesentliches Indiz für die Akzeptanz des Selbstbestimmungsrechts im jeweiligen Fall. 11 Aus dem geschilderten Sachverhalt folgt, daß die Zentralgewalt der UdSSR schon frühzeitig entmachtet war und die Souveränität der neuen Staaten nicht mehr bedrohte. Allerdings erfolgte die Anerkennung durch zahlreiche Staaten noch im Dezember 1991 insofern vorzeitig, als die formale Auflösung gar nicht erst abgewartet worden war. Zudem waren noch in allen Nachfolgestaaten Streitkräfte der ehemaligen U d S S R stationiert, die zum Teil noch russischer Kontrolle unterstanden und über deren Aufteilung und Loyalität noch keine Sicherheit bestand. Diese für die innere Stabilität der neuen Staatsgewalten entscheidenden Fragen waren auch in den nachfolgenden Monaten noch nicht restlos ausgeräumt. Aus der vorzeitigen Anerkennung durch zahlreiche Staaten sowie aus der unverzüglichen Aufnahme aller Nachfolgestaaten der UdSSR in die U N O und die KSZE noch vor dem Abwarten der inneren Stabilisierung ist somit auf die Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts für solche Fälle zu schließen. Die E G sandte im Vorfeld der Anerkennung allen GUS-Staaten ihre neu geschaffenen "Richtlinien für die Anerkennung neuer Staaten in Osteuropa und der Sowjetunion" zu. Darin wurde auf das Prinzip der Selbst9 Schweisfurth in ZaöRV 52/3-4 1992, 639 f in Verbindung mit S. 578 ff, 585 kommt zu dem Ergebnis, daß das Vorgehen dennoch auch nach innerstaatlichem Recht rechtmäßig war, da sich die Verfassung durch entsprechende Änderung in einen Staatenbundvertrag verwandelt habe. Vgl. zur Problematik der an den Zentralorganen vorbeigehenden Auflösung die Zusammenfassung in der FAZ vom 17.3.1992. Zum Problem der zeitlichen Fixierung des Untergangs der UdSSR: Rieh in EJIL 4/1, 1993, 44 ff. 10 Weißrußland und die Ukraine waren bereits UNO-Gründungsmitglieder. Die drei baltischen Staaten waren schon zuvor aufgenommen worden. Sie bilden einen besonderen Fall, der unten im Rahmen des Restitutionsanspruchs zu erörtern ist. 11 Vgl. S. 61 f.

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bestimmung Bezug genommen und wurden Bedingungen für die Anerkennung durch die EG festgelegt. Unter anderem machte der Katalog den Verzicht auf Gebietsansprüche und die Respektierung der Menschenrechte zur Vorbedingung. 12 Bis zum 15.1.1992 hatten alle GUSMitglieder ihre Bereitschaft erklärt, diese Forderungen zu erfüllen. Erst daraufhin erklärte die EG ihre Bereitschaft, die Anerkennung einzuleiten. 13 Dieser Katalog bildet somit einen wichtigen Bestandteil der EGPraxis. Oeter sieht darin eine tendenzielle Abkehr der westeuropäischen Anerkennungspraxis vom EfFektivitätsprinzip zum Legitimitätsprinzip. Dies eröffne die Möglichkeit eines Auseinanderdriftens ihrer Praxis zum Selbstbestimmungsrecht gegenüber der Praxis der UN-Mehrheit. 14 Wie jedoch auch am Beispiel Jugoslawiens aufzuzeigen sein wird, hat die EG hier vielmehr die Vorarbeit geleistet, und es fehlt schlicht an Anhaltspunkten, aus denen zu erschließen wäre, inwieweit sich die UNO diese Vorarbeit zu eigen gemacht hat. 2. Jugoslawien

Auch die EG- und UNO-Praxis zu den Nachfolgerepubliken des ehemaligen Jugoslawien bestätigt die Entwicklung zum Selbstbestimmungsrecht bei Staatendismembration. 15 Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien wurde aus sechs Republiken gebildet. Am 25.6.1991 erklärten sich die Republiken Slowenien und Kroatien für unabhängig. Am 15.10.1991 folgte Bosnien-Hercegowina und im November Mazedonien. Nur Serbien und Montenegro hielten an der staatlichen Einheit fest, gründeten aber zusammen am 27.4.1992 die "Föderative Republik Jugoslawien". Infolge der Abspaltungen Kroatiens und Sloweniens kam es zur Intervention der Jugoslawischen Volksarmee, die zu Bürgerkriegszuständen führte, die sich später auf Bosnien-Hercegowina ausdehnten. Partsch hat darauf hingewiesen, daß sich die Unabhängigkeitserklärungen auf ein Sezessionsrecht stützen konnten, das in der Präambel der jugoslawischen Verfassung stand. Danach hätten lediglich die Grenzen 12 Die Anwendung des Kataloges wurde am 16.12.1991 beschlossen, Text im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 144 vom 19.12.1991, 1173. 13 Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 10 vom 24.1.1992, 75. Vgl auch FAZ vom 2.1.1992. 14 Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 770 ff, 774. 15 Vgl. für eine Schilderung der Vorgänge und Bewertung auch Rieh in EJIL 4/1. 1993, 36 ff.

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mit den anderen Republiken abgestimmt werden müssen. 16 Gleichwohl lassen sich EG- und UNO-Praxis nicht auf diese Verfassungsregelung zurückfuhren. Anders ist es nicht zu erklären, daß beide Organisationen anfangs trotz dieser Verfassungslage den Erhalt des Gesamtstaates unterstützten. 17 Ebensowenig wird verständlich, warum sie später die neuen Staaten in unverletzlichen internationalen Grenzen anerkannten, ohne daß die von der Verfassung geforderten Grenzabstimmungen stattgefunden hätten beziehungsweise die EG-Friedenskonferenz zu Jugoslawien zu einem entsprechenden Ergebnis geführt hätte. Die Sezessionsregelung in der jugoslawischen Verfassung kann somit nicht als ausschlaggebend für die Staatenpraxis angesehen werden. 18 Daher bleibt die Frage, welche anderen Umstände zur Legitimierung des Selbstbestimmungsrechts in diesen Fällen beitrugen. Ein solcher Umstand kann in der Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts infolge einer Dismembration Jugoslawiens gesehen werden. Während sich die EG noch in der ersten Hälfte des Jahres 1991 für den Erhalt der Einheit Jugoslawiens aussprach 19 , wurde in der zweiten Jahreshälfte verschiedentlich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker Jugoslawiens verwiesen. 20 Außerdem wurde zur Untersuchung der völkerrechtlichen Fragen in bezug auf Jugoslawien seitens der EG unter dem Vorsitz von Badinter eine Sonderkommission eingerichtet. Diese sog. Badinter-Kommission verfaßte insgesamt 10 Stellungnahmen zu verschiedenen Rechtsfragen der EG. 21 In ihrem ersten Bericht vom

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Partsch in VN 6/1992, 181. Dazu Partsch in VN 6/1992, 182; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 765 m.w.N. für die anfängliche deutsche Politik. Vgl. auch FAZ vom 27.6.1991 und vom 1.7.1991; zu den ursprünglichen Vorschlägen der EG für die Lösung des Problems: FAZ vom 4.11.1991. 18 Im Ergebnis ebenso: Murswiek bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 29. Einordnung als Dismembration statt Sezession auch bei Vitztimm/Hailbronner S. 229 fRn. 154 ff. 19 Vgl. Text einer Erklärung vom 26.3.1991 im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 36 vom 13.4.1991, 271; vgl. ähnlich im Tenor auch die Erklärung vom 9.5.1991 im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 51 vom 14.5.1991, 411. 20 Vgl. den Text der Jugoslawienerklärung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrates im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 128 vom 13.11.1991, 1038; in diesem Sinne auch der Text einer EG-Erklärung vom 19.9.1991 im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 103 vom 25.9.1991, 823. 21 Texte der Stellungnahmen 1-3 in EJIL 3/1993, 182 ff, der Stellungnahmen 4-10 in EJIL 4/1, 1993, 74 ff. Soweit die Stellungnahmen dem Autor im französischen Original vorlagen werden sie als Avis No. mit Seitenzahl zitiert. 17

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29.11.1991 kam die Kommission zu dem Ergebnis, daß der Staat Jugoslawien im Zerfall begriffen sei. 22 Am 16.12.1991 faßten die Außenminister der E G auf der Grundlage ihrer Anerkennungsrichtlinien den Beschluß, alle die Republiken zum 15.1.1992 anzuerkennen, die sich zu den Bedingungen des Richtlinienkataloges bekennen würden. 2 3 Am 15.1.1992 wurde dieser Beschluß für Slowenien und Kroatien umgesetzt. Die Anerkennung Bosnien-Hercegowinas wurde am 5.4.1992 beschlossen. Im Mai 1992 verabschiedete der UN-SichR zwei Resolutionen, in denen der Gesamtstaat nur noch als "ehemalige Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien" bezeichnet wurde. 2 4 Die Aufnahme der drei oben genannten Staaten in die UNO-Vollversammlung erfolgte am 22.5.1992. 2 5 Auf dieser Grundlage traf die sog. Badinter-Kommission in ihrem Bericht Nr. 8 vom 4.7. 1992 die Feststellung, daß der Zerfallsprozeß für den Staat Jugoslawien inzwischen abgeschlossen sei. Diese Schlußfolgerung wurde durch den UNO-SichR ausdrücklich bestätigt. 2 6 Die Aufnahme Mazedoniens in die U N O erfolgte wegen griechischer Vorbehalte gegen den Namen Mazedonien erst ein Jahr später. 27 Demgegenüber wurde der von der neuen Föderativen Republik Jugoslawien erhobene Anspruch auf Staatenkontinuität des ehemaligen Jugoslawien sowohl von der E G als auch von dem UN-SichR abgelehnt.

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Avis No. 1 v. 29.11.1991. Dies wurde insbesondere damit begründet, daß die Staatsorgane der Förderation nicht mehr alle Teilrepubliken repräsentierten und erstere im andauernden Konflikt auch Effektivitätsmängel aufweise. 23 Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 144 vom 19.12.1991, 1173 f. Vgl. zu diesem Richtlinienkatalog bereits die Ausfuhrungen zur Staatenpraxis in bezug auf die UdSSR. 24 SichR-Resolutionen 752 (1992) v. 15.5.1992 und 757 (1992) v. 30.5.1992: Präambeln. 25 Nach Empfehlung durch den SichR mit SichR-Resolutionen 753 (1992) und 754 (1992) v. 18.5.1992 sowie 755 (1992) v. 20.5.1992 26 Badinter-Kommission: Avis No. 8, S. 3 f; SichR-Resolution 777 (1992) v. 19.7.1992. 21 Entsprechend dem Vorschlag in der SichR-Resolution 817 (1993) v. 7.4.1993 unter dem vorläufigen Namen "Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien". 28 SichR-Resolution 757 (1992) v. 30.5.1992, Präambel Absatz 10. So auch der 10. Bericht der Badinter-Kommission v. 4.7.1992. Zur Erklärung der EG und zur Frage der Mitgliedschaft Jugoslawiens in der UNO vgl. Partsch in VN 6/1992, 181 ff. Anfang 1996 haben die Staaten der EU nacheinander wieder diplomatische Beziehungen zu Belgrad aufgenommen.

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Auch das Thema der weiteren Zersplitterung wurde indirekt erörtert. So hatte die Badinter-Kommission auf Anfrage auch darüber zu befinden, ob der serbischen Bevölkerung in Kroatien und Bosnien-Hercegowina das Selbstbestimmungsrecht zustehe und ob die Grenzen zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien-Hercegowina als internationale Grenzen betrachtet werden könnten. In ihrer Stellungnahme Nr. 2 vom 11.1. 1992 stellte die Kommission fest, daß das Selbstbestimmungsrecht nicht zur Änderung existierender Grenzen fuhren dürfe. Den serbischen Bevölkerungsgruppen wurden daher nur die Garantien des Minderheitenschutzes zuerkannt. In der Stellungnahme Nr. 3 vom 11.1.1992 kam die Kommission zu dem Ergebnis, daß die ehemaligen Grenzen vorbehaltlich einer anderslautenden Vereinbarung zu internationalen Grenzen würden, die keinesfalls mit Gewalt verändert werden dürften. Sie stützte ihre Ansicht im wesentlichen auf das Prinzip des uti possidetis und berief sich damit auf die IGH-Entscheidung im Burkina Faso und Mali-Fall. 29 Die nachfolgende Staatenpraxis bestätigt diese Ausführungen. So wurde insbesondere mehrfach die Unverletzlichkeit der Grenzen Bosnien-Hercegowinas angemahnt. Auch wurde den serbischen Enklaven kein Recht auf Unabhängigkeit zuerkannt. 30 Die sog. BosnienKontaktgruppe bemühte sich bei der Konfliktvermittlung um den Erhalt der staatlichen Einheit Bosniens. Auch das zur Beendigung der Auseinandersetzungen zwischen den Präsidenten Serbiens, Kroatiens und Bosniens vereinbarte Abkommen hält an der staatlichen Einheit eines innerlich zweigeteilten Bosnien-Hercegowinas in den bisherigen Grenzen fest. Die Bestandskraft des Abkommens ist derzeit noch nicht abzuschätzen. 31 29

Die Anwendung des uti possidetis-Prinzips auf die Nachfolgerepubliken Jugoslawiens ist in der Literatur umstritten, zustimmend: Eide bei Tomuschat (Modem Law of Self-Determination) S. 154; kritisch: Frowein bei Tomuschat a.a. O. S. 216 f, der auf die Alternative des Plebiszites als traditionelles Element des Selbstbestimmungsrechts verweist. Vgl. zum uti possidetis-Prinzip sowie zum IGH-Urteil auch S. 316 ff. 30 Vgl. zur territorialen Unversehrtheit Bosnien-Hercegowinas SichR-Resolution 752 (1992) v. 15.5.1992: Zif. 3; 757(1992) v. 30.5.1992: Präambel Absätze 3, 4. Vgl. zu den serbischen Enklaven in Bosnien-Herzegowina: SichR-Resolution 787 (1992) v. 16.11. 1992 Zif. 3. Allgemein auch die Präambel der SichR-Resolution 770 (1992) v. 13.8. 1992. 31 Zu dem im November 1995 in Dayton ausgehandelten Bosnien-Abkommen: FAZ vom 23.11.1995 insbesondere S. 4 sowie zur inneren Aufteilung zwischen moslemischkroatischer Föderation und "Serbischer Republik" S. 2. Vgl. für die vorhergehenden Teilungspläne für Bosnien zum Beispiel: FAZ vom 21. und 24. 08.1993 und FAZ vom 19.7.1994 S. 2. Der SichR hat unter Zif. 2 seiner Resolution 836 (1993) v. 4.6.1993 den damals aktuellen Friedensplan ausdrücklich befürwortet.

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Ähnlich wie im Falle der U d S S R treten aber auch hier U m s t ä n d e hinzu, aufgrund derer sich die Anerkennungspraxis nicht lediglich auf eine bereits erfolgte Neubildung von Staaten im Anschluß an einen Staatenzerfall beziehen konnte, sondern das Selbstbestimmungsrecht als eigentliche Grundlage einbeziehen mußte. So w a r der Zerfallsprozeß in Jugoslawien noch nicht abgeschlossen, da zum Zeitpunkt der Anerkennungen die Republiken Serbien und M o n t e n e g r o noch an der staatlichen Einheit festhielten. Entscheidend ist aber, d a ß sich auf dem übrigen Gebiet mangels effektiver Hoheitsgewalt noch keine selbständigen Staaten im Sinne des Völkerrechts gebildet hatten. Z u m Zeitpunkt der Anerkennungen befanden sich sowohl Kroatien als auch BosnienH e r c e g o w i n a in bürgerkriegsähnlichen Zuständen. G r o ß e Teile ihrer Territorien, deren Unverletzlichkeit von U N O und E G anerkannt w u r den, w a r e n von der Jugoslawischen Volksarmee und serbischen paramilitärischen Einheiten besetzt. Die Bildung neuer Staaten geschieht j e d o c h nicht automatisch durch den Zerfall des Gesamtstaates. M a ß geblich ist vielmehr gerade die Etablierung neuer Hoheitsgewalten auf den staatenlos g e w o r d e n e n Gebieten. 3 2 Die Anerkennungspraxis der E G und der U N O k o n n t e sich aber g e r a d e nicht auf die effektiven Etablierung staatlicher Hoheitsgewalt in den Kriegsgebieten stützen. In diesem Vorgehen ist j e d o c h keine Abkehr von der traditionellen Praxis zu sehen, nach der die internationale Anerkennung an die Existenz einer effektiven Staatsgewalt als V o r b e d i n g u n g j e d e r Staatlichkeit g e k n ü p f t ist . 33 Vielmehr ist, wie oben im Fall der U d S S R , auch hier auf die schon f r ü h e r e Staatenpraxis zu verweisen, nach der Effektivitätsmängel k o m pensiert werden, wenn das Selbstbestimmungsrecht die völkerrechtliche Grundlage f ü r die Unabhängigkeitsbestrebung bildet. Neben den zitierten Stellungnahmen weist somit auch die vorzeitige Anerkennung Kroatiens und B o s n i e n - H e r c e g o w i n a s darauf hin, daß die Staatengemeinschaft das Selbstbestimmungsrecht in diesem Falle f ü r anwendbar hielt. 34 Im übrigen prüften E G und K S Z E entsprechend dem EG-Richtlinienkatalog auch hier, ob die proklamierten neuen Staaten die Menschen32

Verdross/Simma S. 601, § 959. Insoweit kritisch Rieh in EJIL 4/1, 1993, 49, 51, 56, 63 f, der dazu ausführt, daß diese Anerkennung sich nicht auf vorhandene Staaten beziehe, sondern diese erst schaffe: S. 56, 65. 34 Ebenso für Kroatien auch Murswiek bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 30 f. 33

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rechtsstandards beachteten. Dabei wurde vor allem Wert auf eine verfassungsmäßige Verankerung des Minderheitenschutzes gelegt. 35 Gerade am Beispiel Jugoslawiens wird jedoch die Vorreiterrolle der EG besonders deutlich, so daß aus dem fehlenden Aufgreifen dieser Kriterien durch die UNO nicht notwendigerweise eine ablehnende Haltung zu folgern ist.36 Daneben mag es für die Staatenpraxis von Bedeutung gewesen sein, daß der Auflösungsprozeß von einem Bürgerkrieg begleitet wurde, in dem sich die abspaltungswillige Bevölkerung aufgrund ihrer militärischen Unterlegenheit und der auftretenden Härte im humanitären Bereich in einer Notlage gegenüber den Exekutivorganen des Gesamtstaates befand. Allerdings ist nicht ganz eindeutig, inwieweit dieser Umstand die Staatenpraxis beeinflußt hat. 3. Folgerungen für das Selbstbestimmungsrecht

Nach der Praxis zu den vorangestellten Beispielen steht das Selbstbestimmungsrecht in zerfallenden Staaten jedenfalls denjenigen nach Unabhängigkeit strebenden Bevölkerungsgruppen zu, die als eigenständige Nationalitäten definierbar sind oder in leicht abgrenzbaren Landesteilen leben. 37 In den Fällen Jugoslawiens und der UdSSR hat sich die internationale Praxis an den administrativ oder verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen orientiert. Dagegen wird das Selbstbestimmungsrecht Minderheiten innerhalb dieser Landesteile nicht zugebilligt. 38 Damit wurde dem Prinzip des uti possidetis Rechnung getragen und zwar im Falle der UdSSR-Nachfolgestaaten durch die automatische Anerkennung der bisherigen Sowjetrepubliken und im Falle des ehemaligen Jugoslawiens durch die bewußte Anerkennung nur der Republiken unter 35

Der entsprechende Beschluß der EG-Außenminister zu den Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist abgedruckt in der FAZ vom 18.12.1991. Ein Bericht der Badinter-Kommission über die Erfüllung dieser Voraussetzungen ging dem EG-Ministerrat vorher zu, vgl. FAZ vom 14. und 15.1.1992. Zu den Ergebnissen einer KSZE-Untersuchungskommission über die Menschenrechtslage vgl. FAZ vom 7.2.1992. 36 Vgl. etwa auch Zif. 5 der Erklärung des Nordatlantikrates in Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 128 vom 13.11.1991, 1038 sowie die gemeinsame Erklärung der USA und der EG im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 29 vom 19.3.1992, 282. 37

Nach Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 401 fällt das Selbstbestimmungsrecht an die Teile zurück, die sich vormals zum Gesamtstaat zusammengeschlossen haben. 38 Die Erklärung zur Schaffung der GUS auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR betont bereits die territoriale Integrität ihrer Mitgliedsstaaten.

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Einschluß eines entsprechenden Rechtsgutachtens. Dabei ist aus dem Zeitpunkt der jeweiligen Anerkennung die Schlußfolgerung zu ziehen, daß weder der Dismembrationsprozeß noch die Etablierung effektiver Staatsgewalt auf dem abtrennungswilligen Gebiet abgeschlossen sein müssen. Es wird bereits in Frage gestellt, ob die Vorgänge um den Zerfall der UdSSR und Jugoslawiens als Präzedenzfälle zum Beispiel auch für nicht-föderative Staaten in anderen Regionen der Welt dienen können. 39 Dem ist zum einen entgegenzuhalten, daß an der Anerkennungspraxis in diesen Fällen neben der EG auch die KSZE und die UNO beteiligt waren, so daß nicht nur von einer europäischen Praxis gesprochen werden kann. Zudem wurde die föderale Struktur der zerfallenden Staaten nur insoweit berücksichtigt, als sie den Tatbestand hergab, auf den universelle Völkerrechtsprinzipien wie uti possidetis angewendet wurden. Daher ist die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts generell für die Situation des Staatenzerfalls zu bejahen. 40 Der Praxis von KSZE und EG ist zudem zu entnehmen, daß zusätzliche Voraussetzungen, insbesondere menschenrechtliche Mindeststandards erfüllt sein müssen. Damit wird die Anerkennung an neue Bedingungen geknüpft. Insoweit ist faktisch eine Besonderheit zur bisherigen Anerkennungspraxis festzustellen, die nur das Vorliegen der klassischen drei Elemente einer Staatlichkeit bestätigte. Ob sich hier ein Sonderregime für die Anerkennung neuer Staaten in einem Dismembrationsprozeß entwickelt oder ob sich darin eine generelle Abkehr von der konventionellen Anerkennungspraxis andeutet, kann noch nicht beurteilt werden. 41 Auch ist noch offen, welche Haltung die UNO insgesamt zu diesen zusätzlichen Bedingungen einnimmt. 4. Die gegenwärtige Situation in der Volksrepublik China

Bereits eingangs wurde erwähnt, daß eine Subsumtion des TibetProblems wegen der zur Zeit relativ stabilen innenpolitischen Lage in der VRC nicht in Betracht kommt. Die vorangestellte ausfuhrlichere 39

Zweifelnd Türk in EJIL 4/1, 1993, 70 f. Für den universellen Präzedenz-Charakter der Vorgänge um die UdSSR und Jugoslawien auch Rieh in EJIL 4/1, 1993, 60 ff. 41 Vgl. zu Kritik und Diskussion. Rieh in EJIL 4/1, 1993, 55 f, 64 f; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 770 ff, 774. 40

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Fallgruppen

Behandlung des Selbstbestimmungsrechts bei Staatendismembration ist jedoch insofern gerechtfertigt, als die VRC als großer multinationaler Staat mit einem zudem ähnlichen Gesellschaftssystem wie in den erörterten Fällen durchaus auch der Gefahr einer ähnlichen Entwicklung ausgesetzt ist. Hier sind sowohl destabilisierende Einflüsse von außen als auch innenpolitische Faktoren denkbar. Zu den inneren Faktoren gehören insbesondere die wirtschaftlichen, sozialen und ethnischen Probleme, von denen nicht alle Regionen gleich betroffen sind. Daher gibt es zahlreiche Regionen Chinas (darunter die Autonome Region Tibet), die in amtlichen Kreisen als (potentiell) Instabil gelten. Dabei ist die Unzufriedenheit nationaler Minderheiten nur ein Teil des Gesamtproblems, das zum Beispiel auch das Heer arbeitsloser und entwurzelter Wanderarbeiter aus den ländlichen Gebieten einschließt. 42 Jedenfalls die Spekulationen darüber, ob der Tod Deng Xiaopings im Februar 1997 im Partei- und Staatsapparat ein destabilisierendes Machtvakuum geschaffen hat, haben auch ein Jahr danach noch keine Bestätigung erfahren. 4 3 Zu den äußeren Faktoren zählt die Möglichkeit, daß die an der NordWest-Grenze zu China auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR unabhängig gewordenen Staaten zu einer Destabilisierung der VRC fuhren könnten. 4 4 In diesem Zusammenhang lassen auch Meldungen über Attentate und eine Serie von Bombenanschlägen durch Separatisten aus der Autonomen Region Xinjiang (Sinkiang) - die direkt an die Autonome Region Tibet angrenzt - aufhorchen. Dabei sollen die dort lebenden Uiguren auch von Exilorganisationen aus der ehemaligen Sowjetrepublik Kasachstan unterstützt werden. 4 5 Es ist auch nicht abzuschätzen, welche Folgen daraus erwachsen, daß die Uiguren ihren Freiheitskampf durch Bombenattentate in Peking bis an den Ort zentralstaatlicher 42

Vgl Heitmann in China aktuell, Mai 1994, 476 ff sowie Ubersicht (7) in China aktuell, Mai 1997, 411 f. 43 Zu Verweisen ist hier auf die scheinbar reibungslose Neuordnung der Führungsspitze auf dem 15. Parteitag im September 1997. Bemerkenswert ist jedoch das kurz nach dem Tod Deng Xiaopings angekündigte Gesetz, das die Armee dem Befehl der Partei unterstellt, vgl. dazu FAZ vom 7.3.1997. 44 Zur Reaktion des chinesischen Spitzenpolitikers Deng Xiaoping auf dieses Problem vgl. in China aktuell, September 1991, 560. Zum Gesamtproblem: Hoppe in China aktuell, Juni 1992, 358 ff, insbesondere 362 ff; Friedrich in China aktuell, Oktober 1992, 725 fif, insbesondere 729 ff; für die Mongolen in China: Sturm in FAZ vom 16.8.1994 S. 10. 45 Vgl. dazu die Berichte in der FAZ vom 12. und 13.2.1997 (S. 5), vom 4.3. und 5.3. 1997 (S. 9) sowie vom 10 3.1997 S. 2 und 12.

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Macht tragen. Schließlich könnte deren Beispiel unter den Minderheiten in der VRC Schule machen. Die Probleme insbesondere unter den Nachfolgern Jugoslawiens zeigen jedoch, wie wenig wünschenswert der Weg zur Selbstbestimmung über einen Dismembrationsprozeß ist, vor allem, wenn er nicht geordnet vonstatten geht. Zudem würden sich bei der Anwendung der beschriebenen Grundsätze dogmatische wie auch tatsächliche Probleme daraus ergeben, daß die chinesische Han-Nationalität in fast allen Teilen der VRC auch die Bevölkerungsmehrheit stellt. Auf dieses Problem wird noch im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts als Notwehrrecht einzugehen sein. Im folgenden sollen nun die Fallgruppen erörtert werden, die für die Lösung des Tibetproblems aus heutiger Sicht bedeutsam sein können.

II. Das S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t als A b w e h r r e c h t

Die Erörterung der für das Tibet-Problem theoretisch einschlägigen Fallgruppen beginnt mit dem Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht. Die vorrangige Erörterung rechtfertigt sich zum einen daraus, daß es sich bei dieser Fallgruppe um den nach der Entkolonialisierung historisch ursprünglichsten Anwendungsfall des Selbstbestimmungsrechts handelt. Zum anderen bietet die nachfolgende Subsumtion der TibetFrage unter den Abwehraspekt des Selbstbestimmungsrechts Gelegenheit, die grundsätzlichen geschichtlichen und rechtlichen Statusprobleme Tibets darzustellen. 1. Staatsvölker als Träger des Abwehrrechts

Das Abwehrrecht bildet den unbestrittensten Anwendungsfall des Selbstbestimmungsrechts außerhalb der Entkolonialisierungspraxis. Danach sind zumindest Staatsvölker eo ipso Träger dieses Rechtes. Grundlagen für die nähere Ausgestaltung dieses Rechtes sind der CCPR und die UNO-Praxis. Dabei soll sich die Untersuchung auch hier nur auf den Aspekt des nach außen gerichteten sog. externen Selbstbestimmungsrechts beschränken. Bereits aus der Formulierung des Selbstbestimmungsartikels in den Menschenrechtspakten "Allpeoples have..." wird gefolgert, daß es sich um ein permanentes Recht handelt, das nicht mit dem einmaligen Akt

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der Unabhängigkeit konsumiert ist.46 Auch aus der UNO-Praxis folgt, daß das Selbstbestimmungsrecht insbesondere für den Fall eines Angriffes von außen als Abwehrrecht latent erhalten bleibt. So enthalten sowohl die Resolution 1514 (XV) vom 14.12.1960 als auch die Deklaration 2131 (XX) vom 21.12.1965 eine Passage über das "...unveräußerliche Recht aller Völker zu völligem Frieden, Ausübung ihrer Souveränität und zur Integrität ihres nationalen Territoriums", kraft dessen sie frei über ihren politischen Status bestimmen können. Noch deutlicher ist die alljährliche Resolution zur "Universal realization of the right of peoples to self-determination". Bereits in Absatz 3 ihrer Präambel wird festgestellt, daß das Selbstbestimmungsrecht unter der ständigen Bedrohung durch fremde militärische Intervention, Aggression und ausländische Besetzung stehe. In Ziffer 2 des operativen Teils heißt es, daß Akte fremder militärischer Intervention, Aggression und Okkupation in bestimmten Teilen der Welt zur Unterdrückung des Selbstbestimmungsrechts gefuhrt haben.47 Daneben wurde auch in zahlreichen UN-Resolutionen anläßlich konkreter militärischer Aggressionen die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts gerügt. So wurde bereits anläßlich der sowjetischen Intervention in Ungarn die Verletzung von Rechten des ungarischen Volkes verurteilt.48 Auch im Falle der sowjetischen Intervention in Afghanistan wurde indirekt auf das Selbstbestimmungsrecht Bezug genommen. So betonten die einschlägigen GA-Resolutionen das auch dem afghanischen Volk zustehende Recht aller Völker, ihre eigene Regierung, Wirtschaft und das politische und soziale System frei, ohne äußere Intervention oder andere Einflüsse, zu bestimmen. Auch wurde festgestellt, daß neben anderen auch dieses Prinzip durch eine andauernde fremde bewaffnete Intervention verletzt wird.49 Noch deutlicher waren die Resolutionen der UN-Menschenrechtskommission (MRK), in denen explizit festgestellt wurde, daß dem afghanischen Volk sein Recht auf Selbstbe-

46

So Nowak Artikel 1 Rn. 18. Im Ergebnis ebenso: SimmaJDoehrmg nach Artikel 1 Rn. 31; Gros-Espiell S. 21 f; Cristescu S. 22 § 136. 47 Vgl. die Nachweise oben in Kapitel B. Fn. 85. 48 GA-Resolution 1004 (ES-II) v. 4.11.1956, Präambel und Zif. 3; Resolution 1005 (ESII) v. 9.11.1956, Präambel und Zif. 2. 49 Zum Beispiel: GA-Resolution ES-6/2 v. 14.1.1980, Präambel Absätze 3, 5 Zif. 4; Resolution 35/37 v. 20.11.1980, Präambel Absätze 4, 5 Zif. 2; Resolution 36/34 v. 18.11.1981, Präambel Absätze 4, 5 Zif. 2; Resolution 42/15 v. 10.11.1987, Präambel Absätze 4, 5 Zif. 2; Resolution 46/23 v. 5.12.1991, Präambel Absatz 4, Zif. 6.

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Stimmung vorenthalten werde. 50 Zudem stellte auch die Generalversammlung nach Beendigung der sowjetischen Intervention fest, daß eine Lösung gefunden werden müsse, die zu einer freien Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des afghanischen Volkes führe. 51 Auch anläßlich der vietnamesischen Intervention in Kambodscha wurde die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts gerügt. So wurde in den GAResolutionen an das Recht des kambodschanischen Volkes erinnert, über sein eigenes Schicksal ohne äußere Einmischung zu bestimmen. 52 Daneben wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß eine Lösung des Konfliktes das Selbstbestimmungsrecht des kambodschanischen Volkes respektieren müsse. 53 Auch in diesem Fall stellte die MRK in ihren Resolutionen fest, daß das kambodschanische Volk durch fremde Okkupation an der Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts gehindert sei. 54 Noch nach dem Abzug der vietnamesischen Truppen wurde das Selbstbestimmungsrecht vom Sicherheitsrat und der Generalversammlung bekräftigt. 5 Somit kann es als gesichert gelten, daß das Selbstbestimmungsrecht einem Staatsvolk im Falle äußerer militärischer Aggression als Abwehrrecht zusteht. Bei einigen Autoren findet sich dafür die charakteristische Bezeichnung "defensives Selbstbestimmungsrecht". 56 50

Vgl. bereits den Titel der MRK-Resolution 3 (XXXVI) v. 14.2.1980. Für die folgendenjährlichen Resolutionen zum Beispiel: Resolution 13 (XXXVII) v. 6.3.1981, Zif. 1; Resolution 1982/14 v. 25.2.1982, Zif. 1; Resolution 1983/7 v. 16.2.1983, Zif. 1; Resolution 1988/4 v. 22.2.1988, Zif. 1. 51 GA-Resolution 46/136 v. 17.12.1991, Zif. 5. Auch die MRK bekräftigte noch nach dem Abzug der sowjetischen Truppen das Selbstbestimmungsrecht des afghanischen Volkes: Resolution 1990/5 v. 16.2. 1990, Präambel Absatz 9, Zif. 4; 1991/4 v. 15.2. 1991, Präambel Absatz 8, Zif. 4. 52 Zum Beispiel: GA-Resolution 34/22 v. 14.11.1979, Präambel Absatz 8, Zif. 10; Resolution 36/5 v. 21.10.1981, Zif. 2; Resolution 42/3 v. 14.10.1987, Zif. 2. 53 Zum Beispiel: GA-Resolution 35/6 v. 22.10.1980, Präambel, Absatz 11; 36/5 v. 21.10. 1981, Präambel Absatz 12; Resolution 42/3 v. 14.10.1987, Präambel Absätze 6, 12. 54

Zum Beispiel: MRK-Resolution 29 (XXXVI) v. 11.3.1980, Präambel Absatz 7; Resolution 11 (XXXVII) v. 6.3.1981, Zif. 2; Resolution 1982/13 v. 25.2.1982, Zif. 3, 7; Resolution 1985/12 v. 27.2.1985, Zif. 3; Resolution 1987/6 v. 19.2.1987, Zif. 2; Resolution 1988/6 v. 22.2.1988, Zif. 2. 55 MRK-Resolution 1989/20 v. 6.3.1989, Präambel Absatz 2, Zif. 2; Resolution 1990/9 v. 19.2.1990, Präambel Absatz 2, Zif. 2. 56 Der Begriff "defensives Selbstbestimmungsrecht" findet sich bei: Simma/Doehring nach Artikel 1 Rn. 35, 31; Murswiek in Der Staat 23/1984, 532. Im Ergebnis ebenso: Sep. opinion Judge Ammoun in ICJ Reports 1971, 79; Gros-Espiell S. 17 § 43, 59 f

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2. Die Tibeter als Staatsvolk

An dieser Stelle ist zu fragen, ob das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht die heutigen Unabhängigkeitsforderungen der Tibeter legitimiert. Wie sich bereits aus der Darstellung des Abwehrrechtes ergibt, bestehen hinsichtlich der Rechtsfolge keine Probleme. Das Recht auf Unabhängigkeit folgt aus dem Recht auf Abwehr der Fremdherrschaft, die diese Unabhängigkeit bedroht oder verletzt hat. Demgegenüber erscheint die Einordnung der faktischen Verhältnisse um so komplizierter. Für die Subsumtion unter diese Fallgruppe müßte es sich bei den Tibetern um ein Staatsvolk handeln, das berechtigt wäre, sich gegen die VRC als nachbarstaatlichen Aggressor zur Wehr zu setzen. Daher ist zuerst zu erörtern, ob die Tibeter überhaupt einen Staat im völkerrechtlichen Sinn gegründet haben. Vor der Frage nach den konstituierenden Voraussetzungen für eine Eigenstaatlichkeit hat dabei die Auswahl des maßgeblichen Zeitpunktes zu erfolgen, für den eine Staatlichkeit Tibets zu untersuchen ist. Selbst bei Bejahung einer Staatlichkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt wäre zu beachten, daß es sich bei dem oben definierten Selbstbestimmungsrecht um das Recht eines gegenwärtigen Staatsvolkes handelt. Angesichts der aktuellen Lage wird daher weiter zu erörtern sein, ob die Tibeter diesen Status nicht durch zwischenzeitlichen Untergang ihres Staates wieder verloren haben. 2.1. Der Mythos sino-tibetischer Kontinuität

Da die Geschichte der Tibeter als geeintem Volk bis auf das 7. Jahrhundert v. Chr. zurückgeführt wird ist zunächst zu klären, welcher Zeitraum für die Frage nach einer Staatlichkeit Tibets im Hinblick auf die heutige Bejahung eines Abwehrrechtes relevant ist. In diesem Zusammenhang kommt dem sowohl von tibetischer als auch von chinesischer Seite gepflegten Geschichtsbild Bedeutung zu, daß sich die Beziehungen beider vom 13. Jahrhundert jedenfalls bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht geändert hätten. In diesem Fall müßte die Untersuchung der Staatlichkeit Tibets für den genannten Zeitraum eine einheitliche Statusbestimmung zulassen. Käme eine Untersuchung zu dem Schluß, §109; Tomuschat in FS Haug S. 350; Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 390 ff; Zieger S. 79; Eide bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 155; Hannum S. 48 f (der diesen Fall entgegen dem herrschenden Sprachgebrauch als internen Aspekt bezeichnet). Für den CCPR: Nowak Artikel 1 Rn. 32; Cassese in Henkin S. 94.

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daß Tibet während des genannten Zeitraumes souverän war, so könnte eine Statusänderung erst durch den Einmarsch chinesischer Truppen 1950 eingetreten sein. Käme sie zu dem gegenteiligen Ergebnis, nämlich andauernder chinesischer Souveränität über Tibet, so käme eine Staatlichkeit Tibets nur für die Phase faktischer Autonomie von 1912 bis 1959 in Betracht. In beiden Fällen wäre der zeitliche Anknüpfungspunkt somit vorgegeben. Bei näherer Betrachtung erweist sich das von Kontinuität geprägte Geschichtsverständnis jedoch als Mythos. Bei allen Unterschieden in der Interpretation gehen sowohl die tibetische als auch die chinesische Seite davon aus, daß ihre Beziehungen seit dem 13. Jahrhundert unverändert fortbestanden haben. Diese Grundthese beruht darauf, daß das im 13. Jahrhundert begründete sino-tibetische Verhältnis bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts formell nie aufgekündigt worden ist. Vielmehr wurde es im Jahre 1653 anläßlich eines Besuches des 5. Dalai Lama in Peking gegenüber der zwischenzeitlich in China herrschenden Ching-Dynastie ausdrücklich erneuert, ohne daß allerdings damit die unterschiedlichen Standpunkte über das Wesen des Verhältnisses beseitigt worden wären. 57 So interpretiert jede Seite diese Beziehungen in einem Licht, das gerade ihren Rechtsstandpunkt untermauert. Beide Seiten haben somit gewichtige Motive für ihre Interpretation. Die jeweiligen Interpretationen nebst den darin angelegten Schlußfolgerungen sollen hier in Kürze dargestellt werden. Aus heutiger chinesischer Sicht bestand seinerzeit ein Vasallenverhältnis Tibets zu China. Tibet sei ein "feudatory" Chinas gewesen und damit Teil des chinesischen Reiches. 58 Damit gilt Tibet als jahrhundertelanger Bestandteil Chinas. Mit dieser Interpretation umgeht China das Problem der Anwendbarkeit heutiger westlich geprägter Völkerrechtskategorien auf die historischen Tatbestände in Asien. Außerdem entledigt sich China damit des Problems festzustellen, wo die Grenzen zwischen Tibet und dem übrigen chinesischen Gebiet tatsächlich verliefen. 57 V. Walt (1) S. 12 f, der auf die unterschiedliche Darstellung in chinesischen und tibetischen Geschichtsquellen verweist; Shert/Liu S. 44; zur unterschiedlichen Darstellung dieser Begegnung auch: Richardson S. 45 und Bell (2) S. 352. Allerdings ist die faktische Kontinuität für das Interregium der Ming-Dynastie (1368-1644) umstritten. Die überwiegende Ansicht verneint eine Kontinuität für diesen Zeitraum: So v. Walt (1) S. 122; Richardson S. 36, 44; Shakabpa S. 84 ff. A. A. Tieh-tseng Li S. 25 ff, 32; Huang Hao in Chinas Tibet V 3, 1990, 42 f. 58 Jing Wei: 100 Fragen S. 8 ff; ausführlich auch Tang Chi 'an in Tibet Studies 1/1989. 64 ff, insbesondere 67; dagegen v. Walt (1) S. 127.

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Schließlich ermöglicht diese Sichtweise es der chinesischen Führung, den Standpunkt zu vertreten, daß der tibetische Akt der Unabhängigkeit im Jahr 1912 lediglich der Sezessionsversuch einer vom Ausland gelenkten Führungsclique gewesen sei, der die Souveränität Chinas verletzte.59 Eine Staatlichkeit Tibets kommt unter diesem Blickwinkel allenfalls für die Phase der faktischen Autonomie Tibets von 1912 bis 1950 in Betracht, wird aber von China verneint. Aus tibetischer Sicht wird das traditionelle Band als Priester-PatronBeziehung (tibetisch: Chö-yöri) bezeichnet. Danach handelte es sich um ein eher spirituelles Verhältnis zwischen dem jeweiligen Lama und dem chinesischen Herrscher. Der Lama genoß darin als Person religiöser Verehrung den Schutz seines Patrons und sorgte im Gegenzug für dessen spirituelles Wohlergehen.60 Jedenfalls soll es sich nicht um ein System der Subordination einer Seite unter die andere gehandelt haben.61 Die Kontinuität dieser sino-tibetischen Beziehung wird zudem verbunden mit der Idee einer zentralen innertibetischen Staatsgewalt über das gesamte angestammte tibetische Siedlungsgebiet. Diese Idee hat ihre Grundlage darin, daß der Dalai Lama auch als weltliches Oberhaupt angesehen wurde. Diese Interpretation hat für die tibetische Seite folgende Vorteile: Die Frage ob Tibet ein unabhängiger Staat war verkehrt sich in die Gegenfrage, ob Tibet nach der chinesischen Intervention im Jahr 1950 jemals aufgehört hat, als Staat zu existieren. Außerdem ermöglicht diese sich auf jahrhundertelange Souveränität stützende Sicht, das gesamte bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ethnisch mehrheitlich von Tibetern lamaistischen Glaubens bewohnte Siedlungsgebiet als Staatsgebiet anzusehen. Schließlich ist die tibetische Sicht, nach der es sich nur um ein personenbezogenes Verhältnis gegenüber dem jeweiligen Herrscherhaus gehandelt hat, insofern bedeutsam, als die Beziehung

59 Zum chinesischen Vorwurf der vom Ausland gesteuerten Unabhängigkeitsbestrebung vgl. Tibet-Weißbuch S. 15 f; Jing Wei: 100 Fragen S. 32 ff, 40. 60 So die Erklärung des 13. Dalai Lama gegenüber Bell: Bell (1) S. 147 f; zur ausfuhrlichen Darstellung vgl. v. Walt (1) S. 12 f; der 14. Dalai Lama in seiner Autobiographie S. 17-RamaRao S. 208. 61 So die tibetische Erklärung gegenüber Bell: Bell (1) S. 125; v. Wall (1) S. 12; in diesem Sinn auch Shen/Liu S. 40, 43; Weggel in China aktuell, Juni 1991, 366, der zudem darauf hinweist, daß Tibet mit der Ausbreitung des Lamaismus ähnliche Verbindungen auch zu anderen Mongolen-Herrschern unterhielt.

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danach spätestens mit dem Sturz des letzten chinesischen Ching-Kaisers 1911 eo ipso beendet w o r d e n wäre. 6 2 Für die Ermittlung des maßgeblichen Z e i t p u n k t e s zur Beurteilung einer tibetischen Staatlichkeit könnte es somit lediglich auf die Feststellung ankommen, welche der beiden Interpretationen die richtige ist. Leider liegen die Dinge komplizierter, da eine g e n a u e r e Betrachtung der historischen Fakten bereits die von beiden Seiten proklamierte Kontinuität selbst als M y t h o s entlarvt. Vielmehr erweist sich dieser M y t h o s unter keiner der beiden Interpretationen als haltbar. So k o m m e n zahlreiche Untersuchungen, insbesondere europäischer Autoren, zu dem Ergebnis, d a ß der mit dieser Kontinuitätsidee verbundene G e d a n k e der Souveränität über klar u m g r e n z t e Gebiete w e d e r im chinesischen noch im tibetischen Sinn bejaht w e r d e n kann. Zunächst ist d a v o n auszugehen, daß zwischen Tibet und China über die Jahrhunderte hinweg tatsächlich eine formell eingegangene und zwischendurch auch bekräftigte Beziehung bestand, die in vieler Hinsicht typisch w a r ftir die damaligen Bindungen in Ostasien. Ä u ß e r e s M e r k m a l dieser Verbindung w a r eine Tributpflicht Tibets gegenüber China. A u f die Unterschiede in der tibetischen und chinesischen Interpretation dieser Beziehung w u r d e hingewiesen. N a c h der Ansicht insbesondere westlicher Autoren, lassen sich aus dieser Tributbeziehung keine statusrechtlichen Folgerungen im Sinne des modernen Völkerrechts herleiten. Sie weisen darauf hin, daß das chinesische Tributsystem in hohem M a ß symbolisch geprägt w a r und d a ß sich demnach daraus kein Rückschluß auf tatsächliche Machtverhältnisse ziehen läßt. So bestanden Tributpflichten auch seitens europäischer Staaten, da dies eine Vorbedingung f ü r den Handel mit China war. B e z o g e n auf die asiatischen Nachbarländer Chinas habe dieses System eine sehr flexible Interpretation der jeweiligen Machtverhältnisse erlaubt, mit der Ratio, den chinesischen H e r r s c h a f t s a n s p r u c h wenigstens nominell zu sichern. 6 3 Zu diesen V o r behalten kommt der Umstand hinzu, daß angesichts der widersprüchlichen tibetischen und chinesischen Geschichtsquellen der Inhalt dieser

62

So die tibetische Seite z.B. : v. Walt (1) S. 135. A. A. Shen/Liu S. 40, aber einschränkend S . 46. 63 Vgl. Weggel in China aktuell, Juni 1991, 364; Roma Rao S. 212 ff; Richardson S. 36 f. Das Problem der völkerrechtlichen Einordnung entstand nicht nur für Tibet, vgl. zum Beispiel für Birma: Strupp S. 59, 63 ff. Vgl. allgemein zum Tributsystem auch Gernet S. 119 ff.

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formellen Beziehung kaum außer Streit zu stellen ist. 64 Daraus muß die Schlußfolgerung gezogen werden, daß für die Beurteilung von Statusfragen nicht maßgeblich auf dieses formelle Band abgestellt werden kann. Folglich kommt es auch nicht darauf an, ob diese Bindung infolge Verletzung ihrer Grundlagen aufgelöst wurde, oder personal beschränkt nur zu dem chinesischen Kaiserhaus bestand. Daher ist insbesondere der tibetische Standpunkt abzulehnen, daß die Beziehungen zu China wegen der Verletzung chinesischer Schutzpflichten durch die Militäraktionen nach 1905 beziehungsweise mit dem Sturz des chinesischen Kaisertums 1911 eo ipso erloschen sind. Im Hinblick auf die chinesische Argumentation gewinnt die Feststellung der Internationalen Juristenkommission sowie westlicher Autoren an Bedeutung, daß die statusrechtlichen Begriffe wie Souveränität, Autonomie etc. ursprünglich nur Kategorien des westlichen Völkerrechts waren und zu dieser Zeit in das ostasiatische Staatsdenken noch keinen Eingang gefunden hatten. Auch habe es seinerzeit im Gegensatz zu Europa im chinesischen Einflußgebiet an klar definierten Grenzen und Hoheitsbereichen gefehlt. 6 5 Eine quasi rückwirkende Anwendung dieser Kategorien auf die historischen Verhältnisse sei daher nicht möglich und somit unzulässig. 66 Selbst wenn man demnach unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität auf den oben umschriebenen formellen Aspekt der sino-tibetischen Beziehungen abstellen wollte, müßte für diesen Zeitraum von einem Verhältnis sui generis ausgegangen werden. 6 7 Damit ist aber gerade für die statusrechtliche Beurteilung nichts gewonnen. Somit ist aber auch der chinesische Ansatz abzulehnen, aus den historischen Beziehungen Souveränitätsrechte im Sinne des modernen Völkerrechts abzuleiten. Außerdem bieten die vorgenannten Feststellungen eine Begründung für den später noch darzustellenden Umstand, daß Tibet erst im zwanzigsten Jahrhundert erstmals förmlich seine Unabhängigkeit geltend 64 Vgl. zur unterschiedlichen Interpretation in tibetischen und chinesischen Geschichtschronologien v. Walt (1) S. 11, 13. 65 So Weggel in China aktuell, Dezember 1991, 774; Strupp S. 154; Balk in FAZ vom 1.8.1987 S. 9. 66 Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1959 S. 76, 85; Richardson S. 42; Balk in FAZ vom 1.8.1987 S. 9; Strupp S. 59 mit zahleichen Nw. in Fn. 1 (für Birma). 67 So für Tibet v. Walt (I) S. 12; Strupp in bezug auf das Verhältnis Chinas zu Birma S 59.

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machte. Weggel kommt zu dem Schluß, daß China nach seinen schlechten Erfahrungen mit den Kolonialmächten als erste Partei die neuen Konzepte auf sein Verhältnis zu Tibet anwandte. 6 8 Aus der erst späten Berufung Tibets auf eigene Souveränität kann folglich nicht der Gegenschluß auf eine vormalige akzeptierte Zugehörigkeit zu China gezogen werden. 2.2. Die Perioden im sino-tibetischen Verhältnis

Im Gegensatz zur chinesischen und tibetischen Geschichtsinterpretation lassen sich auch im Verhältnis zwischen Tibet und China machtpolitische Fakten finden, an die eine völkerrechtliche Bewertung anknüpfen kann, indem das Gewicht auf die tatsächliche Ausübung von Souveränitätsrechten gelegt wird. Allerdings erweist sich bei dieser Vorgehensweise die Idee der Kontinuität selbst als unhaltbar. Vielmehr wird die nachfolgende Darstellung zeigen, daß die tatsächlichen sino-tibetischen Machtverhältnisse Schwankungen unterlagen und somit zwischen verschiedenen Perioden differenziert werden muß. Diese Differenzierung betrifft sowohl die jeweilige Machtverteilung zwischen China und Tibet, als auch die tatsächliche geographische Ausdehnung ihrer beiden Einflußsphären. Bereits die Internationale Juristenkommission hat die Beurteilung der sino-tibetischen Beziehungen anhand der phasenweisen Machtverteilung als die einzig praktikable Methode bezeichnet. Viele, insbesondere westliche Autoren, folgen diesem Ansatz ebenfalls. 69 2.2.1. D a s 13. bis 17. Jahrhundert

Territorial erlebte Tibet im 13. Jahrhundert seine zweite Einigung, nachdem der fuhrende tibetische Lama vom Mongolenherrscher Kublai Khan zum Priester-König über alle drei Provinzen Tibets (Ü-Tsang, Kham und Amdo) ernannt worden war. Diesem Vorgang kann allerdings nur symbolische Bedeutung beigemessen werden, da Kublai Khan zu diesem Zeitpunkt nicht die tatsächliche Gewalt über diese Gebiete ausübte und auch der Lama dazu nicht in der Lage war. 7 0 An dieses

68

H'eggel in China aktuell. Juni 1991. 368. Tibetbericht von 1959 S. 75. Vgl. im übrigen die Literaturnachweise im nachfolgenden Text. 10 Vgl. Richardson S. 34 f: nur Ernennung zum Vizeregenten ohne reale Macht Einschränkend auch: v. Watt (1) S. 5; Shakabpa S. 64 f. Für die chinesische Sicht: Tang Chi'an in Tibet Studies 1/1989, 66 f. 69

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sog. historische Tibet knüpfen dennoch alle heutigen Gebietsforderungen der Tibeter an. Es ist unbestritten, daß Mitte des 13. Jahrhunderts eine enge politische und religiöse Anbindung Tibets an das unter der Herrschaft der mongolischen Yuan-Dynastie mächtig gewordene China erfolgte. Diese Anbindung schwächte sich aber bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wieder ab. Nach fast einhelliger Ansicht vermochte die auf die Mongolen folgende Ming-Dynastie (1368-1644) außer durch die Verleihung begehrter Titel und fortgesetztem Handel keinen Einfluß auf die tibetische Führung auszuüben. 7 Ab 1509 wurden große Teile Amdos von einem Mongolenstamm beherrscht. 72 Im 15 /16. Jahrhundert zerfiel Tibet abermals unter mehrere Könige und rivalisierende Sekten. Erst 1642 gelang es der jungen und fortan in Tibet dominierenden Gelbmützensekte unter Führung des Dalai Lama, mit militärischer Hilfe der Mongolen die Kontrolle über das tibetische Kernland Ü-Tsang auszuüben. 73 Der Einfluß auf Amdo und das östliche Kham blieb demgegenüber gering. Nach herrschender Auffassung änderte sich an dem geringen politischen Einfluß Chinas auf Tibet auch nach der Thronbesteigung durch die Ching-Dynastie (1644-1911) bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts nichts. 74 Insbesondere wird darauf hingewiesen, daß die Unterwerfung einiger Mongolen-Stämme durch die Ching-Dynastie keine automatische Souveränitätserlangung über Tibet beinhaltete, das zu dieser Zeit ebenfalls in einer umstrittenen Beziehung zu den Mongolen stand. 75 2.2.2. Das 18. Jahrhundert

Das 18. Jahrhundert ist durch vier Interventionen der Chinesen in Tibet gekennzeichnet. Als Charakteristikum ist festzustellen, daß diesen Ak71

Richardson S. 36; v. Walt (1) S. 122; Shakabpa S. 84 f; Shen/Liu S. 42; Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 752. Für die chinesische Sicht vgl. Tibet-Weißbuch S. 5 sowie Tieh-tseng Li S. 25 ff, 28 und Huang Hao in China's Tibet, 1/3, 1990, 42 f; danach wird in der bloßen Verleihung von Titeln eine Souveränitätsausübung gesehen. 12 Tieh-tseng Li S. 27 f. 73 Vgl. v. Walt (1) S. 10 f; Richardson S. 41 ff; Tieh-tseng Li S. 235 f Fn. 17. 74 Richardson S. 44 ff; Alexandrowicz-Alexander in AJIL 48/1954, 267; Bell (2) S. 352; Rama Rao S. 209, 213. 75 Zu dem Mongolisch-tibetischen Verhältnis in dieser Zeit vgl. insbesondere Petech S. 8, 240. Im Ergebnis ebenso: Richardson S. 44, 48; Shakabpa S. 123 f; v. Walt (1) S. 122 f. A. A. Tieh-tseng Li S. 32 ff, 35.

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ten jeweils eine Destabilisierung Tibets durch andere Nachbarn oder innenpolitische Unruhen vorausging. 76 Die Interventionen fanden in den Jahren 1721, 1728, 1751 und 1793 statt. Sie führten jeweils zu einer kurzfristigen Stärkung der Machtposition Chinas in Tibet, das zwischenzeitlich aber immer wieder zur Autonomie fand. Allerdings wurde der Einfluß der tibetischen Regierung in Lhasa auf die an Zentraltibet angrenzenden Regionen weiter beschränkt: So gelang es China 1724, die zum großen Teil von aufständischen Mongolen lamaistischen Glaubens bewohnte tibetische Provinz Amdo unter seine Herrschaft zu bringen. Das Gebiet wurde in Qinghai umbenannt und war fortan dem politischen Einfluß Lhasas entzogen. 77 Nach der Intervention von 1728 wurde der siebte Dalai Lama interniert und dem Panschen Lama, der die zweithöchste religiöse Autorität nach dem Dalai Lama darstellt, von China eine partielle Gebietssouveränität über die Provinz Tsang verliehen. Zudem wurde die tibetische Ostprovinz Kham aufgeteilt, so daß nur das westliche Kham wieder unter die Regierung Lhasas fiel. Tibet wurde somit unter dem Armeefuhrer Polhannas zu einem "Königreich", das infolge von Loyalitätsbezeugungen gegenüber China faktisch wieder autonom wurde, jedoch territorial noch stärker begrenzt war. 78 Die dritte Intervention 1751 hatte eine Dezentralisierung der wieder vom Dalai Lama ausgeübten Regierungsgewalt zur Folge, indem die lokalen Stammesfursten Tibets den Rang von Provinzgouverneuren erhielten. 79 Weggel geht sogar noch weiter, indem er feststellt, daß die wahre innenpolitische Macht ungeachtet aller chinesischen Interventionen immer bei den jeweiligen regionalen Potentaten gelegen habe. 80 Der vierte und letzte machtpolitische Akt Chinas in jenem Jahrhundert erfolgte 1793. Ein daraufhin ergangenes Edikt des chinesischen Kaisers enthielt einschneidende Eingriffe in die tibetische Politik: die Gleichsetzung der chinesischen Ambane in Tibet (Hochkommissare eingesetzt seit 1728) mit den Gouverneuren der chinesischen Provinzen und innerhalb Tibets mit dem Dalai Lama, die Ab76 Für diese Periode gilt das Werk von Petech als locus classicus. Ausführlich aber auch bei v. Wall (1) S. 125 ff und aus chinesischer Sicht Tieh-tseng Li S. 40 ff. 77 Sowohl der Zeitpunkt der chinesischen Machtübernahme, als auch der Umbenennung sind umstritten. Das Gebiet entspricht der heutigen chinesischen Provinz Qinghai. Im einzelnen vgl. unter D. IV. 2.2. 78 Der Anspruch des Panschen Lama wurde von dem später wieder zu Macht gelangten Dalai Lama bestritten, vgl. Petech S. 154, 177. Zur Aufteilung Khams: Petech S. 103. 79 Tieh-tseng Li S. 48 f. 80 Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 753; ders. in VN 2/1988, 58.

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schottung Tibets nach außen sowie einen neuen Wahlmodus für die Bestimmung der Reinkarnation des Dalai Lama. Das 18. Jahrhundert war demnach gekennzeichnet durch zyklische Phasen, in denen sich eine graduell unterschiedlich enge Anbindung sowie erneute Autarkie Tibets gegenüber China mehrfach abwechselten. Dennoch ist für die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine starke Machtstellung Chinas in Tibet festzustellen. Daher wird der Status Tibets zu dieser Zeit von den meisten Autoren als der eines chinesischen Protektorates oder eines Vasallen unter chinesischer Oberhoheit bezeichnet.81 Obwohl diese Beurteilungen auf einer Betrachtung der realen Machtverhältnisse beruhen, sind sie für die statusrechtliche Bewertung wenig hilfreich. So weißt Brownlie allgemein auf die Unscharfe all dieser Begriffe hin, wobei auch er die Ansicht vertritt, daß für die Frage nach dem Vorhandensein zweier Völkerrechtssubjekte auf die tatsächlichen Umstände zurückzugreifen sei.82 Inwieweit sich konkretere Statusfestlegungen aus der dargestellten chinesischen Position in Tibet folgern lassen kann an dieser Stelle jedoch dahinstehen. Wie noch aufzuzeigen sein wird, kommt es auf diese Periode nicht maßgeblich an. 2.2.3. Die Zeit der Verträge (1842-1913)

Die chinesische Position in Tibet begann schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts kontinuierlich zu schwinden. Überwiegend wird festgestellt, daß Tibet faktisch etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner Politik wieder völlig unabhängig agieren konnte, wobei das seiner Natur nach umstrittene formale Band zu der Ching-Dynastie erhalten blieb.83 Im übrigen gelang es der Regierung in Lhasa erst in dieser Zeit, die tibetischen Siedlungsgebiete im Osten wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, die die Chinesen 1720 unter ihre gesonderte Verwaltung

81

Für Protektoratsverhältnis: Petech S. 226, 231 f, 260, der für die erste Hälfte des Jahrhunderts auch den Begriff Suzeränität verwendet: S. 178, 197, 260; Richardson S. 50; Gernet S. 405; Franke/Trauzettel S. 292; beschränkt auf die Jahre nach 1793 auch v. Walt (1) S. 127. Für eine Feudalherrschaft Chinas: Alexandrowicz-Alexander in AJIL 48/1954, 267: chinesische Suzeränität im feudalistischen Sinn; Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 753: de jure-Vasallentum Tibets; Rama Rao S. 213: Wechsel zwischen Unabhängigkeit und Vasallentum im Sinne von Suzeränität. ß Brownlie (1) S. 117 f. 83 V. Walt (1) S. 129; Richardson S. 76; Shakabpa S. 171, 190 f; Tieh-tseng Li S. 63 f.

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gestellt hatten. 8 4 Allerdings verlor Lhasa seine Kontrolle über große Gebiete 1896 wieder an einen lokalen Stammesfürsten. 8 5 In den Jahren 1842 und 1856 war Tibet noch selbständige Partei zweier Friedensverträge mit seinen nepalesischen Nachbarn. 8 6 Der Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert war jedoch insbesondere durch den Einfluß der Europäischen Kolonialstaaten, darunter vor allem Großbritannien, gekennzeichnet. Es ist die Periode der Verträge über Tibet. Die Aussagekraft dieser Verträge über den Status Tibets soll im folgenden untersucht werden. Dabei sei für die Regelungsinhalte im einzelnen auf die einschlägige Literatur verwiesen. 8 7 Zwischen China und Großbritannien wurden zahlreiche Verträge über Tibet geschlossen: so die Chefoo-Konvention von 1876, die den Briten Forschungsmissionen gestatten sollte, die Konvention bezüglich Burma und Tibet von 1886 über den Handel mit Tibet; die Konvention bezüglich Sikkim und Tibet von 1890, die eine Grenzfestlegung zwischen dem britischen Protektorat Sikkim und Tibet enthielt; der Vertrag von 1906, in dem China gegenüber Großbritannien Schutzpflichten in bezug auf Tibet übernahm; das Handelsabkommen von 1908, an dem auch ein tibetischer Delegierter innerhalb der chinesischen Delegation teilnahm. Daneben wurde 1907 ein britisch-russischer Vertrag über Persien, Afghanistan und Tibet geschlossen, in dem die Parteien vereinbarten, nur über China Kontakt zu Tibet aufzunehmen. Parallel zu diesen Verträgen traf Großbritannien aber auch direkte Vereinbarungen mit Tibet ohne Beteiligung Chinas: die Lhasa-Konvention von 1904, die erforderlich wurde, nachdem die Chinesen ihre Zusagen an die Briten aus dem Vertrag von 1886 gegenüber Tibet nicht durchsetzen konnten; die SimlaKonvention von 1914, die wegen der Weigerung Chinas nur zwischen Tibet und Großbritannien geschlossen wurde und China über große Teile Tibets lediglich eine Suzeränität zugestand, diese aber auch nur für den Fall einer nachfolgenden Unterzeichnung durch China. 84

Richardson S. I I I ; Shakabpa S. 187; Bell (1) S. 53. Shakabpa S. 224 f. Zur wechselnden Territorialhoheit über Ost-Tibet vgl. im einzelnen unter D. IV. 2.3. 86 Bei dem Vertrag von 1842 konnte China noch eine aktive Rolle als dritte Vertragspartei spielen, in der nachfolgenden Auseinandersetzung war es dazu bereits nicht mehr in der Lage. Vgl. dazu: Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1959 S. 76. 87 Texte zum Beispiel bei v. Wall (1) im Anhang; Richardson im Anhang; Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1959: Teil V (Documents). 85

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Einige Autoren leiten vor allem aus dem Grad der chinesischen Beteiligung an den Tibet-Verträgen des 20. Jahrhunderts Schlußfolgerungen für den jeweiligen Status Tibets für diesen Zeitpunkt ab. 88 Die Zulässigkeit dieses Vorgehens erscheint jedoch im Hinblick auf die Wechselhaftigkeit sowohl der Vertragspartner als auch der Vertragsinhalte fraglich. Hier ist auf die Rechtsprechung des IGH zu Verträgen über die Errichtung von Einflußzonen zu verweisen. Da derartige Verträge nur bilateral Wirksamkeit entfalten und ihnen nicht der Wille zur Anerkennung einer Souveränität zu entnehmen ist, hat der IGH in seinem WestSahara-Gutachten festgestellt, daß ihnen nicht die Bedeutung von Statusverträgen zukommt. 89 Das gilt auch für den Fall, daß einem Vertragspartner ausdrücklich die Territorialhoheit zuerkannt wird, sofern die faktischen Verhältnisse diesem Wortlaut widersprechen. 90 Die von Großbritannien mit China und Rußland abgeschlossenen Verträge über Tibet lassen keinen konsequent vertretenen Standpunkt erkennen. So sicherte China Großbritannien im Vertrag von 1886 Rechte zu, die sich die Briten mangels Durchsetzbarkeit 1904 durch den Vertrag mit Tibet ausdrücklich bestätigen lassen mußten. 91 Gleichwohl übernahm China gegenüber Großbritannien in dem beiderseitigen Vertrag von 1906 Schutzpflichten in Bezug auf Tibet, obwohl erst die Ineffektivität seiner Einflußmöglichkeiten den Vertrag von 1904 erforderlich gemacht hatten. 92 Auch widersprach die zwischen Tibet und Großbritannien vereinbarte Simla-Konvention von 1914 dem britischrussischen Vertrag von 1907, nach dem die beiden letztgenannten nur über China Kontakt zu Tibet aufnehmen durften. Die Verträge zeigen somit das Bemühen um mehrseitige Absicherung nationaler Interessen, 88

So Tieh-tseng Li: S. 97, 102: nach dem Vertrag von 1904 Tibet als britisches Protektorat beziehungsweise Puffer-Staat, S. 113, sowie S. 124: Festigung des Status als Puffer-Staat durch die Verträge von 1906 und 1907; Richardson S. 93 f: Großbritannien als Protektor/Suzerän Tibets nach 1904 und Verlagerung dieser Position auf China durch den Vertrag von 1906; Alexandrowicz-Alexander in AJIL 48/1954, 270: Tibet nach 1906 als Protektorat Chinas mit Großbritannien als de-facto Co-Schutzmacht wegen der britisch-russisch-chinesischen Verträge. 89 Vgl. ICJ Reports 1975, 55 f. 90 Vgl. zum britisch-marokkanischen Vertrag von 1895 über die West-Sahara das Urteil des IGH a.a.O. S. 53 f. 91 Allerdings wurde dieser Vertrag den Tibetern infolge britischer Militärmaßnahmen mit der sog. Younghusband-Expedition aufgezwungen. Vgl. zu den Hintergründen Richardson S. 76 f, 82 ff. 92 Richardson S. 94: „Chinese rights in Tibet were thus recognized to an extent to which the Chinese had recently been wholly unable to exercise them".

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ohne daß die beteiligten Parteien Großbritannien, Rußland und China zum Zeitpunkt des jeweiligen Vertragsschlusses die tatsächlichen Machtverhältnisse berücksichtigt hätten. Die Vereinbarungen dienten also letztlich nur der diplomatischen Absicherung nationaler Einflußzonen.93 Damit kann ihnen entsprechend der IGH-Rechtsprechung keine statusbestimmende Wirkung zukommen. Ferner sei auf die Regelung des Artikel 30 Absatz 4 der Wiener Vertragsrechts-Konvention (WVK) von 1969 über die Wirkung aufeinanderfolgender Verträge über denselben Gegenstand zwischen verschiedenen Vertragspartnern hingewiesen, der zu unterschiedlichen Rechtsbeziehungen zwischen den jeweiligen Parteien fuhrt, die mit der breit angelegten Wirkung echter Statusverträge wohl kaum zu vereinbaren ist. Die Geltung dieser Grundsätze für ältere Verträge kann aber angesichts der zuvor zitierten Rechtsprechung offen bleiben. Aber auch die eigenständigen Vertragsbeziehungen Tibets vor 1912 lassen für sich gesehen keine hinreichenden Rückschlüsse auf seinen Status zu. So verweist die Internationale Juristenkommission darauf, daß es sich dabei ebensogut um eine originäre wie auch um eine von China abgeleitete Vertragskompetenz Tibets gehandelt haben kann. 94 Entsprechend dem oben zitierten IGH-Gutachten zur West-Sahara muß daher auf die tatsächlichen Machtverhältnisse Bezug genommen werden. Dem britisch-tibetischen Vertrag von 1904 war ein militärischer Einmarsch britischer Truppen aus Indien vorausgegangen. Die Folge dieser nach dem britischen Befehlshaber benannten YounghusbandMisssion war neben dem Vertrag auch die Flucht des Dalai Lama, dessen Exil bis 1909 andauern sollte. Das Datum von 1904 gilt daher als Wende in der tibetischen Autonomie, da das Land nach dem Abzug der Briten militärisch geschlagen und politisch führungslos war. Bereits 1905 begann China in Osttibet mit Gebietseroberungen, die mit dem Einmarsch chinesischer Truppen in Lhasa 1910 ihren Abschluß fanden. 95 Der Umstand, daß die tibetischen Vertreter schon bei den bri93

Ebenso Sharma S. 33; Shen/Liu S. 47; Roma Rao S. 215 f, 220 Fn. 63. Auch Tiehtseng Li S. 142 f gibt dies für den britisch-russischen Vertrag zu. A. A. Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 755. 94 Tibetbericht von 1959, S. 76. Für originäre Kompetenz anscheinend Pochhammer S. 20: eigene Staatlichkeit Tibets unter chinesischer Oberherrschaft. 95 Zur Schwächung der tibetischen Regierung auch Shakabpa S. 221. Der Zeitzeuge Bell bewertet das britische Verhalten als eine Auslieferung Tibets an China: Bell (1) S. 102. Ahnlich in der Bewertung auch Richardson S. 94 ff, insbesondere 96.

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tisch-chinesischen Vertragsverhandlungen von 1908 der chinesischen Delegation untergeordnet waren 96 , bestätigt nur die Schlußfolgerung aus der militärischen und politischen Lage. Als Zwischenergebnis kann festgestellt werden, daß Tihet zwischen 1908 und 1911 zumindest außenpolitisch voll unter chinesischer Kontrolle stand. 97 In den Folgejahren bis 1911 ist zudem durch die militärischen Siege auch eine Ausweitung der tatsächlichen Kontrolle durch China festzustellen. 2.2.4. Die Phase tibetischer Unabhängigkeit (1913 bis 1950)

Das Intervall von 1913-1950 ist gekennzeichnet durch die erstmals formal geltend gemachte Unabhängigkeit Tibets, einhergehend mit der Unfähigkeit Chinas, in Tibet tatsächliche Souveränität auszuüben. Umstritten ist allerdings die Frage, ob Tibet in dieser Zeit als Staat im Sinne des Völkerrechts existierte. 98 Die letzte und immer noch andauernde Phase begann mit dem militärischen Einmarsch chinesischer Truppen in Tibet 1950 und dem sinotibetischen 17-Punkte-Abkommen von 1951, das seinem Wortlaut nach die Rückkehr Tibets zum chinesischen Mutterland festschrieb. Nach Aufständen und Unruhen bis in die 60er Jahre hinein ist es der Regierung Chinas inzwischen gelungen, die über Tibet beanspruchte Souveränität auch faktisch voll auszuüben. 99 2.2.5. Die Periode nach 1913 als Anknüpfungspunkt

Die vorangegangene genauere Betrachtung der sino-tibetischen Beziehungen entlarvt die Maxime der Kontinuität als Mythos, der keinen Rückhalt in den historischen Fakten findet. Vielmehr waren die Machtverhältnisse zwischen dem 13. und dem 20. Jahrhundert mindestens 96

Vgl. dazu die Präambel des Vertrages bei v. Walt (1) S. 309. Vgl. auch: Bell (1) S. 101; Tieh-tseng Li S. 115; v. Walt (1) S. 42 f, 225 Fn. 129. A. A. Shakabpa S. 220. 97 Vgl Bell (1) S 102; Tibet 1908 in jeder Hinsicht unter chinesischer Herrschaft; differenzierter Crawford S. 212; große de facto-Unabhängigkeit in Verbindung mit chinesischer Hoheit in äußeren Angelegenheiten. Vgl. auch die Darstellung bei Richardson S. 94 ff. 98 Dazu im einzelnen unter D. II, 2.3. 99 Zur gegenwärtigen Situation vgl unter A. II 3.; zur Konsolidierung der chinesischen Herrschaft in Tibet S. 153 ff.

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ebenso wechselhaft wie in der jüngeren Geschichte. Damit fehlt es an einem natürlichen historischen Fixpunkt, an den zur Beurteilung des Statusproblems angeknüpft werden könnte. Es bleibt daher das Problem, für die Beurteilung der tibetischen Staatlichkeit einen anderen zeitlichen Anknüpfungspunkt zu finden. Hier fuhren völkerrechtliche Überlegungen weiter, die sich auf die Frage konzentrieren, ab welchem Zeitpunkt für Tibet überhaupt der Status eines unabhängigen Staates nach Kriterien des heutigen Völkerrechts in Betracht kommen kann. Der oben dargestellte Geschichtsablauf und das Rechtsverständnis Tibets und Chinas legen es nahe, den maßgeblichen Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Statusfrage im 20. Jahrhundert zu suchen. Ausgangspunkt für diese Überlegung ist einerseits die bereits oben getroffene Feststellung, daß beiden Parteien die modernen nationalstaatlichen Konzepte des Völkerrechts mit seinen Begriffen der Souveränität, Suzeränität oder Autonomie seinerzeit fremd waren. 1 0 0 In bezug auf Ostasien war das heutige Völkerrecht vor dem 20. Jahrhundert also nur ein partikulares Völkerrecht der europäischen Kolonialstaaten. Wollte man daher mit den Kriterien des heutigen Völkerrechts nach einer Staatlichkeit Tibets vor diesem Zeitpunkt fragen, so widerspräche dies dem ersten Grundsatz des intertemporalen Völkerrechts, nach dem auf einen Sachverhalt dasjenige Recht anzuwenden ist, das zum Zeitpunkt des historischen Vorganges in Geltung war. 101 Insoweit wurde aber bereits darauf hingewiesen, daß die formellen historischen Beziehungen zwischen Tibet und China inhaltlich wegen der divergierenden Geschichtsquellen auf beiden Seiten kaum außer Streit zu stellen sind und wohl eher angesichts wechselhafter Machtausdehnungen als Mittel zur flexiblen Interpretation unter Aufrechterhaltung nomineller Ansprüche benutzt wurde. 1 0 2 Auch ist fraglich, ob mit einer konkreten Feststellung ostasiatischer Statusnormen vor dem 20. Jahrhundert - die nicht mit den Begriffen von Staat und Souveränität im heutigen Sinn operieren - für die Frage nach einem Selbstbestimmungsrecht der Tibeter im Sinne des Abwehrrechtes viel gewonnen wäre. Wie oben dargelegt ist das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht eine spätere Ausprägung des universellen Völkerrechts und steht Staatsvölkern im heutigen Sinn zu.

100 Zu diesem Schluß kommen auch: Balk in FAZ vom 1.8.1987, S. 9; H egge/ in China aktuell, Juni 1991, 368 fiir das sino-tibetische Verhältnis sowie Strupp für das sinobirmanische Verhältnis S. 59 m. Nw., 65. 101 Vgl. zum intertemporalen Völkerrecht S. 169 unter D. III. 2.2.1. 102 Vgl. S. 111 ff.

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Inwieweit auch Gruppen mit einem anderen Status sich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen können ist an dieser Stelle nicht zu erörtern. Hinzu kommt, daß der Schutz der territorialen und nationalen Integrität erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts Eingang in das universelle Völkerrecht gefunden hat. 103 Angesichts der wiederholten Zugriffe Chinas auf Tibet, insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wäre daher selbst ein unterstellter Souveränitätstitel der tibetischen Regierung vor dieser Zeit wieder von China abgelöst worden. Dies folgt aus dem zweiten Grundsatz des intertemporalen Völkerrechts, nach dem sich der Fortbestand eines Rechtes nach den jeweils geltenden Regeln im Zeitpunkt der Untersuchung beurteilt. 104 Wie aus obiger Darstellung folgt, war Tibet zu Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest außenpolitisch nicht souverän und auch seine innere Autonomie wurde durch das militärische Vordringen Chinas sukzessive beschnitten. Eine volle Souveränität, an die das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht zur Legitimierung der tibetischen Forderungen anknüpfen könnte, kommt daher allenfalls nach 1913 in Betracht. Auch die historischen Fakten zur tibetischen Gebietshoheit stützen diese Schlußfolgerung. So erschließt sich, daß Tibet in den vorangegangenen Jahrhunderten kein Zentralstaat mit voller Gebietshoheit innerhalb fester Grenzen war. Vielmehr wurde die tatsächliche Kontrolle außerhalb der tibetischen Kernprovinz Ü-Tsang (Zentral-Tibet), abgesehen von sporadischem Einfluß Lhasas oder Chinas, von lokalen Fürsten ausgeübt, die teils tibetischer und teils mongolischer Ethnizität waren. 105 Zudem wurde auch das europäische Konzept exakter Grenzdemarkation erst spät übernommen. 106 Anders stellt sich die Lage in der Zeit nach 1913 dar, in der das von Lhasa beherrschte Territorium in seinen Grenzen im Süden gegenüber Indien und vor allem im Osten gegenüber den zu dieser Zeit autonomen chinesischen Provinzen klar de103 Vgl. zum Gewaltverbot und der zur Nichtbeachtung von Annexionen entwickelten sog. Stimson-Doktrin S. 146 ff. 104 Vgl. zum zweiten Grundsatz des intertemporalen Völkerrechts S. 199. 105 Ebenso: Weggel in China aktuell, Juni 1991, 367 f; Richardson S. 1; Petech S. 252, 254; Karan S. 10; Peissel S. 7; Bell (1) S. 15 f. Vgl. zum Status Ost-Tibets (Kham) und Amdos unter D. IV. 2.2. und 2.3. 106 Dies stellte für Tibet noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Zeitzeuge Bell fest: Bell (1) S. 6 ff. Ebenso: Strupp S. 154; Weggel in China aktuell, Dezember 1991, 774. Allerdings wurden schon im 18. Jahrhundert grobe Karten von Tibet angefertigt, vgl. dazu Shen/Liu S . 6 ff und Petech S. 19 f, 25.

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finiert war. Für die Frage nach einer dem Tatbestand des Selbstbestimmungsrechts als Abwehrrecht genügenden Staatlichkeit Tibets ist daher auf die Phase zwischen 1913 und 1950 zurückzugreifen. 2.3. Die Staatlichkeit Tibets in der Zeit von 1913 bis 1950 2.3.1. Tibets Erklärungen zur Unabhängigkeit

Auszugehen ist davon, daß Tibet zu Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest keine außenpolitische Souveränität besaß und auch seine innere Autonomie nicht unstreitig ist. Daher sind an die Erlangung voller Souveränität die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Unabhängigkeit sonstiger abhängiger Gebiete, die sich von einem Staat ablösen. Zu diesen Anforderungen gehört aber auch der Grundsatz, daß der Prozeß der Staatswerdung zunächst einen manifestierten Willen zur Eigenstaatlichkeit auf Seiten des sich ablösenden Regimes voraussetzt. 1 0 7 Eine förmliche Unabhängigkeitserklärung liegt im Falle Tibets nicht vor. Dennoch ist der tibetische Wille zur Unabhängigkeit von China mehrmals im Zusammenhang mit anderen Stellungnahmen gegenüber verschiedenen Adressaten zum Ausdruck gebracht worden. Von diesen Erklärungen erfüllen jedoch nicht alle die in der Literatur zum Teil gestellten Anforderungen. So wird gefordert, die Unabhängigkeitserklärung müsse dem vormaligen Souverän zur Kenntnis gebracht werden. 1 0 8 Damit scheiden einige der Erklärungen aus. 109 Es verbleiben jedoch zwei Manifestationen des tibetischen Unabhängigkeitswillens, die den Chinesen direkt zur Kenntnis gebracht wurden:

107 So wird der Republik China (Taiwan) dieser Status gerade wegen dem fehlenden Willen zur eigenen Staatlichkeit auf dem von ihr beherrschten Gebiet nicht zuerkannt: Crawford S. 151, ders. in BYIL 1976-1977, 93 Fn. 9, 181; Verdross/Simma S. 229 § 387. Allerdings verfolgt Taiwan in letzter Zeit die Formel "Ein Staat - Zwei Regierungen" unter Behauptung seiner Eigenschaft als selbständige "political entity". 108 Rubin in AJIL 60/1966, 812. 109 Hinsichtlich einer vom Dalai Lama bereits 1910 aus seinem indischen Exil an die chinesischen Ambane abgesandten Nachricht weisen weder Shakabpa noch v. Walt nach, daß diese Mitteilung die chinesische Regierung auch tatsächlich erreicht hat: vgl. Shakabpa S. 234 ff; v. Walt (1) S. 45. Ebenso wäre unbeachtlich: ein Brief der obersten tibetischen Organe an den britischen Vizekönig in Indien von 1912 (dazu v. Walt (1) S. 49 sowie S. 227 f Fn. 14; Rama Rao S. 222); der tibetisch-mongolische Freundschaftsvertrag von 1913 (Text bei v. Walt (1) S. 320 f) sowie die Proklamation des Dalai Lama vom 13.2.1913 gerichtet an das tibetische Volk (Text bei v. Walt (1) S. 318 ff).

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Die eine Mitteilung findet sich Ende 1912 in einem Telegrammwechsel zwischen dem Dalai Lama und dem chinesischen Präsidenten Yuan Shikai. no Eröffnet wurde dieser Telegrammaustausch mit dem Anliegen Yuan Shikais, die von China verliehenen Titel und traditionellen Bindungen zu erneuern. Die Ablehnende Antwort des Dalai Lama enthielt unter anderem die Mitteilung, daß er künftig beabsichtige, die religiöse und weltliche Herrschaft auszuüben. Nach v. Walt ist diese Mitteilung von der chinesischen Regierung als Unabhängigkeitserklärung aufgefaßt worden.111 Diese Position wurde in der tibetischen Eingangserklärung zur Simla-Konferenz vom 10.10.1913 wiederholt.112 In dieser Erklärung teilte der tibetische Delegierte den britischen und chinesischen Unterhändlern den tibetischen Beschluß mit, daß Tibet ein unabhängiger Staat sei und daß der Dalai Lama auch in allen weltlichen Angelegenheiten Herrscher über Tibet sei. Entgegen der Auffassung von Rubin ist die Simla-Erklärung nicht nur als Verhandlungsstandpunkt einzuordnen, dessen Durchsetzbarkeit durch den späteren Vertragstext widerlegt wurde.113 Sie spiegelt vielmehr den Rechtsstandpunkt der tibetischen Regierung wieder. Dieser Standpunkt wurde auch nicht durch die Simla-Konvention aufgehoben. Zwar wird China in dem Vertrag auch über die Regionen Zentral- und Ost-Tibets (im Vertrag als Äußeres Tibet bezeichnet) immerhin noch die Suzeränität - ausdrücklich ohne Recht zur Einmischung in die Verwaltung - zugestanden und in einem Anhang Tibet sogar als Teil Chinas bezeichnet. Jedoch ist China diesem Vertrag nie beigetreten und kann daher entsprechend der britisch-tibetischen Simla-Deklaration keine dieser Rechte geltend machen.114 Somit bleibt festzuhalten, daß Tibet zumindest zweimal seine Unabhängigkeit erklärte, einmal 1912 und einmal 1913.115

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Dazu Richardson S. 105; v. Walt (1) S. 49 f; Shakabpa S. 245. V. Walt (1) S. 228 Fn. 19. 112 Text bei N. N. (Boundary Question) S. 1 f, insbesondere 3. Vgl. auch Shakabpa S. 252. 113 Rubin in AJIL 60/1966, 813. 114 Vgl. den Text bei v. Walt (1) S. 322 ff. Mit gleichem Ergebnis auch: die Internationale Juristenkommission im Tibetbericht von 1960 S. 140 f; Richardson S. 114; Rama Rao S. 230. Da in dem Vertrag China die Einmischung in die Verwaltung des Äußeren Tibets ausdrücklich verwehrt wird, ist die zudem nur im Anhang durch Notenaustausch untergebrachte Einordnung Tibets als Teil Chinas mit Vorbehalten zu bewerten. Vgl. ohnehin zur statusrechtlichen Bedeutung dieses Vertrages auch bereits die Überlegungen S. 117 ff. 115 Ebenso: die Internationale Juristenkommission in ihrem Tibetbericht von 1959, 86, 139; Mc Cabe in AJIL 60/1966, 370 f; Richardson S. 104 f; Bell (2) S. 135 für den 111

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2.3.2. Sino-tibetische Kontakte zwischen 1913 und 1950

Die chinesische Seite weist immer wieder darauf hin, daß es in den Jahrzehnten nach 1913 verschiedene Kontakte zu Tibet gegeben habe. Diese Kontakte werden zum Nachweis dafür herangezogen, daß Tibet keine wirkliche Loslösung von China angestrebt habe. In diesem Zusammenhang werden vor allem drei Ereignisse herausgehoben: In den beiden Jahren 1930 und 1934 wechselte zwischen Lhasa und Nanking je ein Katalog mit Vorschlägen für die Ausgestaltung der zukünftigen Beziehungen." 6 Nach den Angaben von Tieh-tseng Li wurden allerdings beide Initiativen nicht zu einem Abschluß gebracht. 117 Im übrigen weisen tibetische Quellen einen anderen Inhalt des Vorschlages von 1934 aus. Danach war nur die Wiederherstellung des PriesterPatron-Verhältnisses in seiner tibetischen Interpretation, allerdings auf Basis der Simla-Konvention, intendiert. 118 Aber selbst in der Version bei Tieh-tseng Li ist den tibetischen Vorschlägen allenfalls das Desinteresse an der Souveränitätsausübung nach außen zu entnehmen, das nicht mit einem bereits erklärten Verzicht auf außenpolitische Souveränität gleichgesetzt werden darf. Auch ist die chinesische Sicht nicht nachvollziehbar, daß die Haltung Tibets zur eigenen Unabhängigkeit nur durch britischen Druck zustande gekommen sei.119 Ein weiterer chinesischer Ansatzpunkt ist die Teilnahme einer chinesischen Delegation an der Zeremonie zur Einsetzung des 14. Dalai Lama am 21.02.1940. Die Chinesen entsandten zu diesen Feierlichkeiten, neben anderen Repräsentanten, den Vorsitzenden der in Nanking angesiedelten Kommission für mongolische und tibetische Angelegenheiten. Nach chinesischer Lesart soll dieser auch der Einsetzungszeremonie präsidiert und gegenüber den anderen ausländischen Gästen eine hervorgehobene Sitzposition innegehabt haben. 120 Demgegenüber haben andere Teilnehmer der Zeremonie versichert, daß der chinesische GeTelegrammwechsel mit Yuan Shikai. Zur chinesischen Haltung gegenüber diesem Problem vgl. Tibetweißbuch S. 16 und Tieh-tseng Li in AJ1L 50/1956, 149. 116 Dazu Tieh-tseng Li S. 153 ff, 168 ff. 117 Tieh-tseng Li S. 156, 171. 118 Dazu: Richardson S. 142; Shakabpa S. 277. 119 Zur chinesischen Haltung vgl.: Tibetweißbuch S. 14 ff; Jing Wei: 100 Fragen S 38 ff; Tieh-tseng Li S. 170. Dagegen insbesondere Richardson S. 104, 137. 120 Tieh-tseng Li S. 181 ff, 283 Fn. 211; ders. in AJIL 50/1956, 397; Jing Wei: 100 Fragen S. 29.

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sandte die gleiche Stellung innegehabt habe wie der britische Gesandte, nämlich die eines Gastes. 21 Damit kann auch dieses Argument Chinas zumindest als nicht verifiziert gelten. Schließlich wird von chinesischen Autoren behauptet, daß von Lhasa entsandte Vertreter in den vierziger Jahren an Sitzungen der chinesischen Nationalversammlung teilgenommen hätten.122 Von tibetischer Seite wird dazu vermerkt, daß zwar tibetische Delegationen ihr Land verlassen haben, jedoch soll China bei diesen Reisen nur eine Durchgangsstation gewesen sein, und die Delegierten seien zur Teilnahme an chinesischen Parlamentssitzungen auch nicht autorisiert gewesen.123 In dem vor kurzem erschienenen Tibetweißbuch der VRC wird dieses Argument nicht mehr angeführt. Ein Zweifel an dem tibetischen Willen zur Eigenstaatlichkeit kann demnach auch insoweit nicht angenommen werden. Demgegenüber wird der Unabhängigkeitswille nicht zuletzt auch durch die Aktivitäten Tibets im unmittelbaren Vorfeld der chinesischen Intervention belegt. So erwähnt v. Walt einen Brief, den der Dalai Lama am 2.11.1949 an Mao Zedong geschickt habe. Darin bezeichnet er Tibet nochmals als unabhängiges Land und fordert Verhandlungen über die ethnisch von Tibetern besiedelten Gebiete jenseits der provisorischen Grenze.124 Ein weiteres Indiz für den tibetischen Unabhängigkeitswillen ist der insbesondere an die USA gerichtete Appell im Dezember 1949, die Aufnahme Tibets in die UNO zu unterstützen, auch wenn dieses späte Bemühen erfolglos blieb.125 2.3.3. Vorliegen der klassischen drei Staatselemente

Nach der klassischen Völkerrechtsdogmatik konstituiert sich ein Staat durch ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk sowie eine Regierung, die mittels tatsächlicher Personal- und Gebietshoheit die Staatsgewalt auszuüben in 121

Nachweise im Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von i960 S. 146. So Tieh-tseng Li S. 191; Shen/Liu S. 52. 123 Dazu Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1959 S. 92 f; v. Walt (1) S. 81 ff; Richardson S. 166 f. Die Verweigerung der tibetischen Gesandten für 1946 gibt auch Tieh-tseng Li S. 191 zu. 124 V. Walt (1) S. 90. 125 Dazu:Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 44. Nach Weggel in China aktuell, Juni 1991, 362 und v. Walt (1) S. 91, wurde eine entsprechende Bitte auch an Großbritannien und Indien gerichtet. 122

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der Lage ist.126 Im folgenden ist daher das Vorliegen dieser Voraussetzungen im Falle Tibets zu prüfen. 2.3.3.1. Existenz eines tibetischen Staatsvolkes

Das Kriterium des Staatsvolkes ist für Tibet hier unproblematisch. Zwar war auch nach 1913 ein tibetisches Nationalbewußtsein außerhalb der Elite nur schwach entwickelt. Dieses wurde aber kompensiert durch die Identifikation auch der einfachen Bevölkerung, die sich als religiöse Gemeinschaft lamaistischen Glaubens gegenüber ihren indischen und chinesischen Nachbarn abgrenzte. 127 Innerhalb Zentral-Tibets war dieses Selbstverständnis zudem verbunden mit der Anerkennung des Dalai Lama als spirituelle und weltliche Autorität. 128 Gegenüber den ebenfalls lamaistisch orientierten Mongolen bestand eine klare ethnische Abgrenzung. Damit ist die Existenz eines tibetischen Staatsvolkes zu bejahen. 2.3.3.2. Staatsgewalt der tibetischen Regierung

Es finden sich zahlreiche Belege dafür, daß die tibetische Regierung in der Zeit nach 1913 effektive Staatsgewalt ausgeübt hat. So besaß Zentral-Tibet in dieser Zeit eine eigene Währung, Verwaltung, Armee sowie einen eigenen Telegraphen und ein eigenes Postwesen. 129 Auch ausländische Zeitzeugen bestätigten die Effektivität der tibetischen Staatsgewalt. 130 Diese wird nicht zuletzt auch durch die unten darzustellenden Grenzstreitigkeiten mit den abtrünnigen chinesischen Ostprovinzen belegt, bei denen die Regierung Tibets ihre Gebietshoheit sogar noch ausdehnen konnte. Crawford kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, daß in Fällen der Sezession ein beachtlicher Grad aktuel126

Diese Kriterien sind wohl unbestritten, vgl. nur Crawford in BJ1L 1976-1977, 107 ff, 111; Verdross/Simma S. 224 i f mit zahlreichen Nw. zur Staatenpraxis; v. Walt (1) S. 93 ff. Diese Kriterien wurden auch von der Internationalen Juristenkommission in ihrem Tibetbericht von 1959 S. 143 ff zur Beurteilung des tibetischen Status im Jahre 1950 angewendet. 127 Vgl. Richardson S. 1; Weggel in China aktuell, Dezember 1991, 368, unter Verweis auf eine Untersuchung Goldsteins. Karart S. 12 spricht von einer Konkurrenz zwischen lokalem Selbstbewußtsein und Nationalidee. Vgl. auch Bass S. 138. 128 Bell (1) S. 16; Richardson S. 1; Karan S. 11 bezeichnet die Loyalität zum Dalai Lama als einigende Kraft der Tibeter. Für Kham: Peissel S. 22 ff. 129 Vgl. Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1959, 143 f; v. Wall (1) S. 136 f m.w.N.; Goldstern S. 815. 130 Bell ( 1) S. 233, 237; Richardson S. 177, 185; weitere Zeitzeugen nennt der Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1959, 144.

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ler Unabhängigkeit vorliegen müsse.131 In Anbetracht der auch militärisch von Tibet behaupteten Gebietshoheit ist auch diese verschärfte Anforderung an die Effektivität der Staatsgewalt als erfüllt anzusehen. Daher ist das Vorliegen effektiver Staatsgewalt zu bejahen. Neben der Effektivität wird als zweiter Aspekt der Staatsgewalt die formale Unabhängigkeit angesehen. Diese liegt vor, wenn die Regierungsgewalt nicht von einem anderen Staat abgeleitet ist.132 In subjektiver Hinsicht traf dies für Tibet zu. Der Dalai Lama machte in seinen oben genannten Erklärungen deutlich, daß er die bisherigen sinotibetischen Beziehungen als beendet betrachte und fortan die alleinige Herrschaft in Tibet ausüben wolle. Die formale Unabhängigkeit wird in der Völkerrechtslehre aber auch dann in Frage gestellt, wenn der vormalige Souverän trotz Verlustes seiner effektiven Kontrolle weiterhin einseitig titulare Ansprüche geltend macht.133 Jedoch wird für diese Fälle die Ansicht vertreten, daß der Mangel formaler Unabhängigkeit durch erhöhte Anforderungen an die aktuelle Unabhängigkeit im Sinne von Effektivität kompensiert werden kann.134 Crawford stellt in diesem Zusammenhang auf den endgültigen Erfolg einer solchen Sezession ab. Im Fall Tibets wird dieses Problem der formalen Unabhängigkeit relevant. Ungeachtet der tibetischen Unabhängigkeitsbekundungen und ihrer eigenen faktischen Machtlosigkeit hat auch die nach dem Sturz des Kaiserhauses gebildete chinesische Nationalregierung den Anspruch auf Tibet niemals aufgegeben.135 Fraglich ist aber, ob die Forderung nach erhöhten Maßstäben für die faktische Durchsetzung der Sezession auch im Falle Tibets anzuerkennen ist. In der Forderung nach effektiver Etablierung des durch Abspaltung entstandenen neuen Herrschaftssystems spiegelt sich nämlich das völkerrechtliche Effektivitätsprinzip wieder, das allgemein für die rechtliche Anerkennung ursprünglich nicht 131

Crawford in BYIL 1976-1977, 137. Verdross/Simma S. 226, § 382; Crawford in BYIL 1976-1977, 116 f; v. Walt (1) S. 95. 133 Crawford in BYIL 1976-1977, 123, 125 f 134 Mit unterschiedlicher Gewichtung unter Berufung auf die Staatenpraxis bei: v. Walt (1) S. 96 ; Crawford in BYIL 1976-1977, 137 ff; ders. (1) S. 251, 256, 266. Loudwin S. 44 folgert aus der Anerkennungspraxis, daß diese die Effektivität und nicht das Legitimationsprinzip zum Maßstab nimmt, ebenso Crawford S. 249 ff, 256. 135 Nw. bei v. Walt (1) S. 55 ff, 55, 65 f, danach wurde Tibet von China fortwährend aufgefordert, dem chinesischen Reich der fünf Rassen beizutreten, von denen eine die Tibeter sein sollten. 132

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völkerrechtskonformer Akte gilt.136 Wie bereits dargelegt, würden durch eine Unabhängigkeit Tibets nach 1912 jedoch keine chinesischen Souveränitätsrechte verletzt, da die aus dem de facto-Zustand vor 1912 resultierende Position Chinas gegenüber Tibet noch nicht durch das sich erst entwickelnde universelle Völkerrecht geschützt war. Aber selbst unter der Prämisse, daß an die faktische Durchsetzung der Abspaltung erhöhte Anforderungen zu stellen sind, wäre diese Voraussetzung erfüllt. Die bereits festgestellte Effektivität der tibetischen Regierungsgewalt dauerte nach 1913 noch siebenunddreißig Jahre bis zum Einmarsch der chinesischen Truppen 1950 an. Dabei kann die Kenntnis von einem späteren Verlust der gewonnen Unabhängigkeit nicht zur Verneinung der Effektivität für den damaligen Zeitpunkt fuhren.137 Zwingende Parameter für die Bemessung der erforderlichen Zeitspanne gibt auch Crawford nicht an. Für diese Frage ist allerdings zu beachten, daß nach der hier vertretenen Ansicht der Status Tibets gegenüber China aufgrund der wechselhaften tatsächlichen Machtverhältnissen in Ostasien beurteilt werden muß. Ausschlaggebend für die Ablösung chinesischer Rechte ist somit der völlige Verlust jeder faktischen chinesischen Herrschaftsausübung über Tibet. Die zeitlichen Anforderungen beschränken sich daher darauf, daß es sich nicht um einen nur kurzfristigen Machtwechsel handeln darf. Die Zeitspanne von siebenunddreißig Jahren dürfte insoweit ausreichend sein, da Tibet in dieser Zeit die gewonnene Staatsgewalt auf den typischen Gebieten gesellschaftlichen Lebens sowie im Verhältnis zu seinen Nachbarn umsetzen konnte. Im Ergebnis hat somit die Etablierung tibetischer Staatsgewalt etwaige vormalige Titel Chinas derogiert.138 Diese Bewertung ist insbesondere vor dem Hintergrund der Ablösung von Souveränitätstiteln zu verstehen, die als historisch überholt gelten können, denn, so Pochhammer, „anderenfalls wäre Europa voll von alten Ansprüchen, die aus mittelal-

136 Vgl. zum Sezessionsrecht als Ausnahme von der Regel schon oben A. III. 1. Eingehender mit Literaturnachweisen zu den sog. de facto-Herrschaftssystemen S. 137 ff. Vgl. auch zum Effektivitätsgrundsatz bei andauernder Annexion durch einen anderen Staat S. 147 ff und 150 ff. 131 In diesem Sinne kann Craw/ords Forderung nach einer endgültigen Durchsetzung der Sezession nur im Sinne einer Prognose ex ante verstanden werden. 138 Im Ergebnis ebenso: Pochhammer S. 19; Alexandrowicz-Alexander in AJIL 48/ 1954, 274.

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terlichen Lehensabhängigkeiten könnten". 139

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mancherlei

Art

abgeleitet

werden

2.3.3.3. Umfang des tibetischen Staatsgebietes

Die Frage nach einem tibetischen Staatsgebiet berührt komplizierte Sach- und Rechtslagen und ist daher nicht leicht zu beantworten. Für die bloße Bejahung der Staatlichkeit kann es als ausreichend angesehen werden, wenn ein Territorium in seinen Grenzen definierbar ist, ohne daß diese Grenzen endgültig sein müssen. 140 Ein solches Kerngebiet ließe sich für Tibet zwar leichter feststellen, doch erscheint eine exakte Demarkation hier insofern erforderlich, als sich daran die Bestimmung des Rechtsträgers für das Selbstbestimmungsrecht orientiert. Zunächst könnte an die Demarkation im Rahmen der Simla-Konvention von 1914 angeknüpft werden. Gemäß Artikel 9 der Konvention sollte das Gebiet des sog. Historischen Tibet in ein Inneres und ein Äußeres Tibet mit unterschiedlichem Status geteilt werden. 141 Da China die Konvention nie ratifizierte, ist aber gerade keine Grenzregelung im Verhältnis zu diesem Nachbarstaat erfolgt. In der Wirksamkeit des Abkommens zwischen Tibet und Großbritannien könnte allenfalls eine zwischenstaatliche Grenzanerkennung durch diesen Drittstaat gesehen werden, von der jedoch keine Rechtswirkung gegenüber China ausging. 142 Anderes gilt für die ebenfalls mit der Konvention verbundene Anerkennung der sog. McMahon-Linie, die eine Abtretung tibetisch kontrollierter Gebiete an Britisch-Indien bedeutete. Die neue Grenzfestlegung wurde von Tibet sogar noch 1944 in einer Note ausdrücklich anerkannt. 143 Der Simla-Konvention kommt daher nicht die Bedeutung einer verbindlichen Grenzregelung für Tibet zu. Ausgenommen hiervon ist allenfalls die von Tibet anerkannte sog. McMahon-Linie. 139

Pochhammer S. 19. VitzthumIHailbronner S. 205 Rn. 66 m. w. N. Vgl. auch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen zur Staatlichkeit Palästinas: ZaöRV 51/1, 1991, 191 f. 141 Vgl. dazu Karte 2 im Anhang sowie zur Rechtsverbindlichkeit die Nw. in Fn. 114. 142 Vgl. zum Problem der widersprüchlichen Vertragsschlüsse Großbritanniens bereits S. 117 ff. 143 Pochhammer S. 19 Fn. 33. Erst die VRC erhob nach der Eingliederung Tibets Ansprüche auf diese Gebiete gegenüber Indien, die sie zum Teil auch militärisch durchsetzte. Vgl. zu dieser Grenzfrage die Studie von Pochhammer sowie zur jüngeren Problematik Weggel in China aktuell, Dezember 1991, 774 f. 140

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Wenn keine Grenzverträge oder anerkannten Karten vorliegen, soll sich die Grenze eines Staates nach dem dauernden und unbestrittenen Besitzstand bestimmen. 144 Keine Einigkeit besteht darüber, ob das Kriterium des Unbestrittenseins im Sinne einer acquiescence des Anspruchskonkurrenten zu interpretieren ist oder ob es eine eigenständige Variante darstellt. Da sich diese Lehre jedoch auf den Grundsatz der Effektivität beruft, sollte der Schwerpunkt auf die kontinuierliche Ausübung faktischer Gebietshoheit gelegt werden. So ist im Grundsatz ebenfalls anerkannt, daß für die Bejahung eines Staatsgebietes unabhängig von der Frage gegenseitiger Anerkennung oder dem Erwerb des Gebietstitels die effektive Kontrolle über das Territorium genügt. 145 Somit bleibt im Falle Tibets nur, das Staatsgebiet anhand des von Lhasa faktisch beherrschten Territoriums zu bestimmen. Eine effektive Gebietshoheit über die tibetische Nord-Ost-Provinz Amdo, die die Chinesen seit 1724 als Qinghai kontrollierten, konnte Lhasa nicht mehr herstellen. Zudem wurde die 1914 in der SimlaVereinbarung vorgenommene Gebietsabtretung an Britisch-Indien jedenfalls von Tibet nicht mehr in Frage gestellt. Fraglich ist somit die Ausdehnung des tibetischen Staatsgebietes Richtung Osten in die tibetische Provinz Kham. Dabei ist zu berücksichtigen, daß erst kurz vor den tibetischen Unabhängigkeitsakten von 1912/13 eine chinesische Invasion stattgefunden hatte. Am Ende dieses Einmarsches standen chinesische Truppen im Jahr 1910 in Lhasa, der Hauptstadt Tibets. Die Rekonstruktion des von Lhasa kontrollierten Territoriums nach dieser Zeit ist daher zugleich die Geschichte der schrittweisen Zurückdrängung der chinesischen Truppen in Richtung Osten: 146 Die erste Frontlinie konsolidierte sich 1912 zwischen den Flüssen Salween und Mekong. 147 Damit war das von Lhasa kontrollierte Gebiet im 144

Zurückgehend auf den Schiedsspruch Max Hubers im Insel Palmas-Fall vom 4.4. 1928 in RIAA II, 830 (840); ebenso: Verdross/Simma S. 670, § 1056 m.w.N.; Dohm/ Delbrück/Wolfrum S. 382 Zif. 5 m. Nw. weiterer Schiedssprüche. 145 Crawford in BYIL 1976-1977, 112 ff m.w.N. Verdross/Simma S. 224, § 380 verlangen allerdings die völkerrechtliche Verfügungsgewalt über das Territorium, lassen aber andererseits das Vorhandensein eines unbestrittenen Kerngebietes genügen. 146 Einen guten, wenn auch in Einzelheiten von der Darstellung in dieser Arbeit abweichenden Überblick über den wechselnden Frontverlauf gibt Karte 6. bei Goldstein. 147 So Richardson S. 105; Goldstern S. 67 und Karte 6; v. Walt (1) S. 59. Der erste überhastete Rückzug der Chinesen hatte auch fast die gesamte tibetische Ostprovinz Kham umfaßt: v. Walt (1) S. 53, jedoch erfolgten schnell wieder Landgewinne.

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Osten kleiner als die heutige Autonome Region Tibet, insbesondere lag Chamdo, die größte Stadt Khams, außerhalb dieses Gebietes. Die weiteren Grenzveränderungen erfolgten vor dem Hintergrund des Abfalls der chinesischen Ostprovinzen unter unabhängigen Warlords nach 1916. Fortan fanden die Grenzauseinandersetzungen daher direkt zwischen Tibet und den jeweiligen Provinzen, insbesondere Sichuan und Qinghai statt. 148 Sieben Jahre nach Konsolidierung des Frontverlaufs drangen die Tibeter über den Mekong weiter Richtung Osten bis zur Stadt Derge hinter dem Yangtze vor. 149 Danach konsolidierte sich 1918 die zweite Frontlinie am oberen Yangtze. 150 Das somit von Lhasa beherrschte Gebiet entspricht ungefähr der heutigen Autonomen Region Tibet und schloß auch die strategisch und politisch wichtige Stadt Chamdo ein. Am 19.8.1918 wurde ein entsprechender WafFenstillstandsvertrag zwischen Tibet und der chinesischen Nationalregierung vereinbart, der aber nicht ratifiziert wurde. 151 Zu Beginn der dreißiger Jahre kam es erneut zu Grenzkonflikten Tibets mit den inzwischen faktisch völlig autonomen chinesischen Provinzen Sichuan und Qinghai. Hinsichtlich der Grenzen führte dies jedoch kaum zu Veränderungen, so daß der Grenzverlauf von 1918 erhalten blieb.152 Diese Konflikte führten jedoch zu Waffenstillstandsvereinbarungen mit Sichuan 1932 und Qinghai 1933, in denen der Grenzverlauf festgeschrieben wurde. Die chinesische Nationalregierung in Nanking spielte bei diesen Verträgen keine Rolle. 153 Auch ein erneuter tibetischer Vorstoß 1934/36 brachte keine territorialen Veränderungen. 154

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Tieh-tseng Li S. 160 f charakterisiert die Situation dahingehend, daß sich China den Weg nach Tibet zuvor hätte freikämpfen müssen. Vgl. auch Shen/Liu S. 61. 149 So v. Walt (1) S. 62; Goldstein S. 83; a.A. Shakabpa S. 261: bis in die Nähe des weiter östlich gelegenen Tachienlu. 150 So v. Walt (1) S. 62; Shen/Liu S. 51; Tieh-tseng Li S. 144 unter Aufzählung der Grenzorte; Richardson S. 120; Goldstern S. 83. Shakabpa S. 262 legt dar, daß den Tibetern auch die Kontrolle über die tibetischen Klöster westlich des Yangtze zugestanden wurde; Peissel S. 12 spricht von einer entmilitarisierten Zone zwischen dem oberen Yangtze und Kanting. 151 Zum sog. Frieden von Rongbatze vgl. Goldstein S. 83; Richardson S. 131; v. Walt (1) S. 62. Text der Vereinbarung bei v. Walt (1) S. 330 ff. 152 Zur faktischen Einhaltung der Grenze von 1918-1950 vgl.: v. Walt (1) S. 63, 235 Fn. 43; Peissel S. 13; Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S. 144. 153 Zu der Vereinbarung mit Sichuan vgl. Richardson S. 134 ff; v. Walt (1) S. 66; Shakabpa S. 268; Tieh-tseng Li S. 164 f; Peissel S. 12. Zu der Vereinbarung mit Qinghai vgl. Shakabpa S. 269; Richardson S. 136. Dazu: Richardson S. 149; Tieh-tseng Li S. 167.

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Die tibetische Regierung übte somit von 1918 bis 1950 eine kontinuierliche Gebietshoheit über das Gebiet der heutigen Autonomen Region Tibet aus. Nach den eingangs genannten Grundsätzen ist daher für Tibet das Vorhandensein eines Staatsgebietes innerhalb der Grenzen des von 1918 bis 1950 effektiv kontrollierten Territoriums zu bejahen. In einigen kartographischen Werken findet sich für das von 1913 bis 1950 eigenständige Tibet eine von diesem Ergebnis abweichende Grenzziehung. Die dort dargestellte Ostgrenze Tibets verläuft nur wenige Kilometer von Lhasa entfernt, also aus tibetischer Sicht weit vor der faktischen Frontlinie. 155 Diese Darstellungen gehen offenbar auf Maßnahmen zurück, mit denen die chinesische Regierung ihre Gebietsansprüche zu festigen suchte. 156 Im Jahr 1938 errichtete China offiziell die neue Provinz Xigang, die bereits auf dem westlichen Teil der heutigen Provinz Sichuan begann und sich formal bis Gyamda in ZentralTibet erstreckte. 157 Wie bereits dargelegt konnte die chinesische Nationalregierung zu dieser Zeit selbst über die abtrünnigen Randprovinzen Sichuan und Qinghai keine tatsächliche Souveränität mehr ausüben. Die für das Grenzgebiet zwischen Sichuan und Tibet entworfene neue Provinz Xigang bestand mithin nur auf dem Papier, so daß dem proklamierten Anspruch keine diesen Anspruch begründende effektive Gebietskontrolle gegenüberstand. Für die Feststellung der tibetischen Staatsgrenze bleibt es daher bei der Orientierung an den faktischen Frontlinien. 2.3.4. Fähigkeit zu internationalen Beziehungen

Zur Bestimmung von Merkmalen der Staatlichkeit wird in Teilen der Literatur unter Berufung auf Artikel 1 lit. d) der Panamerikanischen Konvention von 1933 neben den drei klassischen Elementen ein weiteres Kriterium aufgestellt. Danach müßte die Staatsgewalt auch die Fähigkeit zur Aufnahme internationaler Beziehungen mit anderen Staaten

155 So zum Beispiel im dtv-Atlas zur Weltgeschichte Bd. 2 S. 90 sowie in Knaurs Historischer Weltatlas S. 232. 156 Richardson S. 100 geht davon aus, daß in Europa einfach chinesisches Kartenmaterial übernommen wurde. 157 In der älteren Literatur findet sich noch die alte Umschrift. Sikang, die Umschrift im Text ist entnommen bei Weggel in China aktuell, Juni 1991, 362. Vgl. dazu Tieh-tseng Li S. 187, 271 f, 281 Fn. 176, der die Umrisse Xigangs auch in seiner Karte darstellt; Avedon S. 29; Richardson S. 134 stellt den Beginn des Projektes in das Jahr 1928.

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umfassen. Allerdings wird diese Voraussetzung auch schon durch die Bildung entsprechender Staatsorgane als erfüllt angesehen. 158 Ein Amt für auswärtige Angelegenheiten wurde in Tibet erst 1942 eingerichtet. 159 In den vorhergehenden Jahrzehnten definierte sich die tibetische Außenpolitik primär durch die Abschottung nach außen. Dennoch hat sich die Fähigkeit zu außenpolitischem Handeln verschiedentlich manifestiert. Neben den bereits erörterten Verträgen 1913 mit der Mongolei und 1914 mit Großbritannien soll Tibet 1921 einen weiteren Vertrag über Munitionslieferungen mit Großbritannien geschlossen haben. 160 In den dreißiger Jahren wurden eine britische und eine chinesische Mission in Lhasa eröffnet, wobei der chinesische Missionsleiter 1942 wegen Verletzung tibetischer Gesetze ausgewiesen wurde. 161 Des weiteren weigerte sich Tibet 1942 trotz Druck der westlichen Alliierten, sein Territorium für Nachschubverbindungen bereitzustellen, da es dadurch seine Neutralität im 2. Weltkrieg gefährdet sah. 162 Soweit man also die Fähigkeit zu außenpolitischen Beziehungen als Kriterium heranziehen will, ist diese Voraussetzung im Fall Tibets ebenfalls erfüllt. 163 2.3.5. Internationale Anerkennung Tibets Das Verhalten der Staaten, die in der fraglichen Zeitspanne Kontakt zu Tibet aufnahmen, ist in der Frage der Anerkennung sehr ambivalent. In der Literatur wird nirgends behauptet, daß zu irgendeinem Zeitpunkt eine formelle Anerkennung Tibets erfolgt sei. Andererseits gab es trotz der tibetischen Isolationspolitik interpretationsfahige bilaterale Kontakte. Je nach Standpunkt werden daraus im sino-tibetischen Schlagabtausch unterschiedliche Schlußfolgerungen gezogen. Für die tibetische Position ist die Interpretation dieser bilateralen Kontakte insoweit von Bedeutung, als es in der Völkerrechtslehre unbestritten ist, daß eine 158 So Verdross/Simma S. 224, § 379; ähnlich Loudwin S. 43 ff unter Berufung auf die Anerkennungspraxis. A. A. Crawford inBYIL 1976-1977, 119. 159 Richardson S. 155; v. Walt (1) S. 74. 160 V. Walt (1) S. 64. 161 Dazu: v. Walt (1) S. 70; Richardson S. 155; Tieh-tseng Li S. 186; zur Ausweisung Shakabpa S. 286 f. 162 Richardson S. 160; Shakabpa S. 286; v. Walt (1) S. 71. Hier ist anzumerken, daß China durch seine direkten Auseinandersetzungen mit Japan zu den Parteien des Zweiten Weltkrieges gehörte. 163 Zu diesem Ergebnis gelangte auch die Internationale Juristenkommission in ihrem Tibetbericht von 1960 S. 149.

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Anerkennung auch indirekt durch entsprechendes Staatenverhalten erfolgen kann. 164 Neben den bereits genannten Akten außenpolitischer Betätigung wird in der Literatur auf folgende Umstände verwiesen: Für Großbritannien sei hier zunächst auf die bereits dargestellten direkten Kontakte nach 1914 und die diversen Verträge hingewiesen. Außerdem kommt die Internationale Juristenkommission zu dem Ergebnis, daß die in einem britischen Memorandum von 1943 verwendete Formel tibetischer Autonomie unter chinesischer Suzeränität in ihrem inhaltlichen und faktischen Kontext als Synonym für Unabhängigkeit verwendet wurde. 165 Tibet sei von Großbritannien auch in der Praxis wie ein unabhängiger Staat behandelt worden. 166 Andere Autoren sehen in dem Verhalten der Briten auf der Simla-Konferenz eine indirekte Anerkennung Tibets, an die die europäische Kolonialmacht durch das EstoppelPrinzip gebunden sei.167 In bezug auf die USA verweist v. Walt auf eine Zusage von 1948 für Goldverkäufe an Tibet, obwohl diese nach amerikanischem Recht nur an ausländische Staaten erlaubt gewesen seien.168 Zudem wird eine implizite Anerkennung der tibetischen Lufthoheit durch die USA anzunehmen sein, da die Vereinigten Staaten sich gegenüber Lhasa offiziell für das Eindringen ihrer Flugzeuge in den tibetischen Luftraum entschuldigten. 169 Daher gehen einige Autoren auch von einer mittelbaren Anerkennung Tibets durch die USA aus. 170 Dem widersprechen allerdings zwei Stellungnahmen des US-State Departments aus dem Jahr 1942.171 Auch für Indien lassen Umstände auf eine indirekte Anerkennung schließen. 1947 ließ Indien Tibet als unabhängiges Land an der Asien-Konferenz in Delhi teilnehmen. 172 Aus einem Schreiben Nehrus an China nach der Unabhängigkeit Indiens geht hervor, daß 164 Zum Beispiel Brownlie (1) S. 95 f; Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 204 f Anmerkung 2; Ipsen/Gloria S. 231 f Rn. 8 ff. 165 Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S. 153 f, 157; ähnlich Richardson S. 123. 166 Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S 156. 167 V. Walt (1) S. 137 f; Rama Rao S. 233. A. A. Crawford (1), der aber anscheinend die vertragliche Wortwahl losgelöst von den nachfolgenden inhaltlichen Einschränkungen und der späteren Praxis Großbritanniens bewertet. 168 V. Walt (1) S. 87. 169 Dazu und zu weiteren Beispielen: Richardson S 163; Shakabpa S. 289, 298 170 In diesem Sinn: Richardson S 163; ähnlich v. Walt S. 139. 171 Texte im Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S 321, 323. Darin wird betont, daß die USA den chinesischen Anspruch, daß Tibet ein Teil Chinas sei, zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt haben. 172 Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S. 157.

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Indien die außenpolitische Nachfolge der ehemaligen britischen Kolonie gegenüber Tibet antreten und Tibet insbesondere auch die Vertragskompetenz für Grenzverhandlungen zuerkennen wollte. 173 Ferner erschließt sich aus einem Notenwechsel zwischen Indien und China im Jahre 1950, daß Indien die tibetische "Autonomie" durch die chinesische "Invasion" verletzt sah.174 Schließlich gaben zahlreiche Staatenvertreter vor der Generalversammlung nach der Flucht des Dalai Lama 1959 und auch später Erklärungen ab, die von der Unabhängigkeit Tibets ausgingen. 17 Unabhängig von der Frage, ob Tibet zu diesem Zeitpunkt noch als Staat existierte, ist aber fraglich, ob diese Statements als völkerrechtliche Anerkennungen zu qualifizieren sind. Ein gewichtiges Indiz dafür wäre, wenn diese Staaten entsprechende Kontakte zur tibetischen Exilregierung aufgenommen hätten. Dies war aber nicht der Fall. Den dargestellten Beispielen für eine Behandlung Tibets als Völkerrechtssubjekt durch andere Staaten können allerdings neben den bereits genannten Stellungnahmen des US-State Departements aus dem Jahr 1942 noch weitere Gegenbeispiele entgegengehalten werden. So die Stellungnahme, die Großbritannien 1950 vor der UN-Generalversammlung anläßlich einer Diskussion über den chinesischen Einmarsch abgab. Darin heißt es, daß der Status Tibets aus Sicht der britischen Regierung nicht eindeutig zu bestimmen sei.176 Auch aus den darauffolgenden Jahren werden von chinesischer Seite Zitate indischer und US-amerikanischer Äußerungen wiedergegeben, in denen eine vormalige Anerkennung Tibets ausdrücklich bestritten wird. 177 Insbesondere das indische Verhalten ist nicht frei von Widersprüchen, da Indien in den Folgejahren die chinesische Position ausdrücklich anerkannte, hinsichtlich der beiderseitigen Grenze aber auch weiterhin noch an dem britischtibetischen Abkommen von 1914 festhält. 178 Es fragt sich jedoch, welche Bedeutung dem offenbar ambivalenten Verhalten der Drittstaaten für die Frage nach einer Eigenstaatlichkeit Tibets überhaupt zukommt.

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Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S. 158 f. Text der zwei indischen Noten und der chinesischen Repliken bei Cohen/Chiu S. 386 ff sowie im Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1959 S. 132 ff. Dazu auch bei Sharma S. 95. 175 Dazu v. Walt (1) S. 185 f. 176 So im Tibetbericht der internationalen Juristenkommission von 1960 S. 161. 177 Jing Wei: 100 Fragen S. 44. 178 Dazu: Richardson S. 196 f, 207, 231; Sharma S. 101 ff, 125. 174

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2.3.6. Tibet - ein Staat oder de facto-Regime?

Der Interpretationsstreit um das Verhalten der Drittstaaten in bezug auf Tibet verliert an Bedeutung, wenn man den Diskussionsstand zur Relevanz internationaler Anerkennungen für die Staatlichkeit betrachtet. Die h.L. vertritt dazu den Standpunkt, daß sich aus der Staatenpraxis nur eine deklaratorische Bedeutung des Anerkennungsaktes ergibt. 179 Danach genügt für die Staatlichkeit Tibets der oben geführte Nachweis über das Vorliegen der klassischen Elemente. Insoweit erübrigt sich auch eine Überlegung, ob das Staatenverhalten gegenüber Tibet wenn nicht eine de jure- so vielleicht eine de facto-Anerkennung darstellt. 180 Aber auch unter Zugrundelegung der auf eine bloße deklaratorische Bedeutung abzielenden Staatenpraxis nehmen einige Autoren noch dogmatische Differenzierungen vor. Danach werden Gemeinwesen, die alle klassischen Elemente der Staatlichkeit aufweisen, aber nicht anerkannt sind, als de facto-Herrschaftssysteme bezeichnet. 181 Allerdings sollen für diese Gebilde, sofern sie stabil beziehungsweise befriedet sind, ebenfalls das Gewaltverbot und der Schutz ihrer territorialen Integrität gelten. 182 Die Gleichstellung von de facto-Regimen mit Staaten umfaßt sogar die Zuerkennung der völkerrechtlichen Vertragskompetenz an solche Regime. 183 Die formale Differenzierung läßt also im Hinblick auf die mit der staatlichen Souveränität verbundenen Rechte kaum Wertungsunterschiede erkennen. Dabei kann die für das Eingreifen des Gewaltverbotes geforderte Tatbestandsvoraussetzung der "Befriedung" auch durch Waffenstillstände erzeugt werden. 1 8 4 Hinsichtlich Tibets ist festzustellen, daß es abgesehen von Grenzkonflikten in der Zeit zwischen 1913 und 1950 weder äußerlich noch innerlich in 179 So Verdross/Simma S. 602 § 961; Loudwin S. 36 f; Brownlie (1) S. 89 f; Crawford in BYIL 1976-1977, 103; ders. (1) S. 421 und in BYIL 1976-1977, 106, 142 will der Anerkennung im Falle konkurrierender Ansprüche allerdings die Vermutung zugunsten von Staatlichkeit entnehmen. 180 Zur Unterscheidung vgl. Loudwin S. 31 ff; Brownlie (1) S. 93 ff; Verdross/Simma S. 603, § 962. 181 So Verdross/Simma S. 242, § 407 in Verbindung mit S. 240 f, §§ 405 fif; Frowein (Das de facto-Regime) S. 7 m.w.N. 182 Frowein (Das de facto-Regime) S. 50 ff, 54 ff: ausdrücklich auch für Konflikte mit dem "Mutterstaat"; Verdross/Simma S. 242 § 407; Vitzthum/ßotfie S. 592 Rn. 13; Crawford S. 152 für Taiwan und ders. grundsätzlich in BYIL 1976-1977, 109 m.w.N.. 165; ähnlich Rozakis in EPIL (10), 482. 183 Verdross/Simma S. 241, § 406. 184 Frowein (Das de facto-Regime) S. 68; \psenjFischer § 57 Rn. 22.

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seiner Existenz gefährdet war. Damit ist die Bedingung der Befriedung für Tibet zu bejahen. Danach wäre Tibet auch unter dieser Differenzierung der staatenähnliche Status eines de facto-Herrschaftssystemes zuzuerkennen. 185 Das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht von Staatsvölkern stellt sich jedoch lediglich als komplementäres Element zum Integritätsanspruch des Staates selbst dar. 186 Wenn de facto-Herrschaftssystemen also die staatlichen Schutzrechte zuerkannt werden, so muß gleiches auf der personalen Ebene auch für das Selbstbestimmungsrecht als Schutzrecht von Staatsvölkern gelten. Das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht ist daher auch in diesen Fällen operativ. 187 Somit ergibt sich aus der Differenzierung zwischen anerkannten Staaten und nicht anerkannten de facto-Herrschaftssystemen hinsichtlich der Abwehrrechte und des Selbstbestimmungsrechts gerade im Falle Tibets kein unterschiedliches Ergebnis. Die Frage, ob diese Differenzierung geboten ist, kann daher offen bleiben. Allerdings scheint diese Einordnung nicht anerkannter Staaten lediglich ein Versuch zu sein, die überkommene Lehre von der konstitutiven Anerkennung mit der entgegengesetzten Praxis dogmatisch in Einklang zu bringen. Daher erscheint es, im Hinblick auf die bloß deklaratorische Bedeutung der Anerkennung unangebracht, für Tibet die wertungsmindernde Bezeichnung de facto-Herrschaftssystem zu verwenden. Aus der vorangestellten Untersuchung ergibt sich die Schlußfolgerung, daß Tibet in der Zeit von 1913-1950 ein von China in jeder Hinsicht unabhängiger Staat war. In der Literatur kommen zahlreiche Untersuchungen zu dem einschränkenden Ergebnis, daß Tibet in dieser Zeit den Status einer de facto-Unabhängigkeit besaß. 188 Dieser Vorbehalt scheint auf dem Umstand fehlender internationaler Anerkennung Tibets zu be185 Ebenso Rama Rao S. 240; auch Frowein (Das de facto-Regime) S. 45 f behandelt Tibet als Beispiel. 186 Vgl. dazu eingehender unter D. III. 1.1. 187 Ebenso: Heuser in ZaöRV 40/1, 1980,69. 188 Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S. 162, a.a. noch in ihrem Bericht von 1950 S. 85: faktische und juristische Unabhängigkeit; Richardson S. 185; Bell (1) S. 237; Goldstern S. 365, 815. Ohne diese Einschränkung für tibetische Unabhängigkeit: Pochhammer S. 19; Alexandrowicz-Alexander in AJIL 48/1954, 273 für die Zeit nach 1920; auch Rama Rao S. 222, 233 der aber auf S. 233 von einer de jure-Anerkennung Tibets ausgeht. Crawford S. 212 f sieht in Tibet lediglich ein Beispiel fiir die Problematik bei der Behandlung autonomer Gebiete.

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ruhen. Zu Recht wendet v. Walt dagegen ein, daß entsprechend der bloß deklaratorischen Bedeutung eines solchen Aktes eine darauf gegründete Unterscheidung zwischen de facto- und de jure-Unabhängigkeit unzulässig sei.189 2.4. Erlöschen des tibetischen Staates nach 1950

Aus der Vorgabe, daß das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht Staatsvölkern zusteht, folgt auch, daß es sich grundsätzlich nur gegen Beeinträchtigungen richtet, die nicht bereits zum völkerrechtlichen Erlöschen des Staates geführt haben. Liegt demgegenüber ein Erlöschenstatbestand vor, gibt es kein eigenständiges Staatsvolk mehr, sondern das Volk geht dann in der größeren Gemeinschaft der Gesamtbevölkerung des neuen Staates auf. Das Abwehrrecht steht dann grundsätzlich nur dem erweiterten Staatsvolk in seiner Gesamtheit zu. 1 Im Fall Tibets sind nach dem chinesischen Einmarsch 1950 Veränderungen eingetreten, die die fortdauernde Existenz der Eigenstaatlichkeit in Frage stellen. Mit diesem Problem wird sich die Untersuchung im folgenden beschäftigen. 2.4.1. Das 17-Punkte-Abkommen 2.4.1.1. Statusändernder Inhalt der Vereinbarung

Nachdem die chinesische Armee 1950 die tibetischen Truppen in Osttibet geschlagen hatte und auf Lhasa weiterzumarschieren drohte, wurde eine tibetische Delegation zu Gesprächen nach Peking entsandt. Mit diesen Vertretern handelten die Chinesen das Abkommen über die Maßnahmen zur friedlichen Befreiung Tibets aus, das am 23.3.1951 unterzeichnet wurde. Dieses sog. 17-Punkte-Abkommen regelt in 17 Punkten den Status Tibets. 191 In Punkt eins wird festgeschrieben, daß das tibetische Volk in die Familie des Mutterlandes zurückkehren soll. In Punkt drei wird der tibetischen Regierung das Recht zur Ausübung nationaler Regionalautonomie unter Führung der zentralen Volksregierung eingeräumt. Punkt vier gewährleistet den Erhalt des politischen Systems in Tibet. Punkt acht regelt die Eingliederung der tibetischen 189

V. Walt (1) S. 99, 244 Fn. 47 m.w.N. Vgl. zur Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts nach freiwilligem Staatenzusammenschluß die Literaturhinweise oben in Fn. 2. 191 Text zum Beispiel bei v. Walt (1) S. 337 ff; Richardson S. 290 ff; Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1959, S. 139 ff; Jing Wei: 100 Fragen S. 144 ff. 190

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Armee in die Volksbefreiungsarmee Chinas. Die Ausfuhrung von Reformen in Tibet wird in Punkt elf in die Zuständigkeit der tibetischen Lokalregierung gelegt. Punkt vierzehn delegiert die Zuständigkeit in äußeren Angelegenheiten an die Zentrale Volksregierung Chinas. In Punkt fünfzehn wird die Einrichtung militärischer und administrativer Komitees in Tibet festgelegt, die die Ausfuhrung des Abkommens sicherstellen sollen. In statusrechtlicher Hinsicht folgt aus dem Abkommen zum einen die Preisgabe der tibetischen Außen- und Verteidigungspolitik zugunsten der chinesischen Zentralregierung. Ferner erschließt sich aus dem Abkommen, daß die tibetischen Staatsorgane fortan nur noch über eine von der chinesischen Zentralregierung abgeleitete Staatsgewalt verfügen sollten. Da die tibetische Regierung danach lediglich über eine derivative Staatsgewalt verfügte, kommt nach diesem Vertrag noch nicht einmal der Status eines Patronatsstaates in Betracht. Vielmehr bezweckte dieses Abkommen die Eingliederung Tibets in den chinesischen Staatsverband unter Aufgabe der eigenen Völkerrechtspersönlichkeit. Daher überzeugt die Ansicht v. Walls nicht, daß die Sonderstellung Tibets erst mit der neuen chinesischen Verfassung von 1954 abgeschafft wurde.192 2.4.1.2. Wirksamkeitsmängel des Abkommens

Bereits die Vertretungskompetenz der tibetischen Delegation ist umstritten. So erklärt der Dalai Lama in seiner Autobiographie, daß der tibetische Delegationsleiter Ngapoi lediglich zu Verhandlungen befügt gewesen sei. Ferner habe er, der Dalai Lama , die zur Unterzeichnung erforderlichen Staatssiegel zurückbehalten.193 Ngapoi selbst hält dagegen, daß die tibetischen Unterhändler mit den Originalsiegeln unterschrieben hätten. Lediglich die Ratifikation soll in der Hand des Dalai Lama gelegen haben. 14 Demgegenüber behaupten zwei andere Delegierte, daß die Unterhändler zwar im Besitz der Siegel gewesen seien, sich jedoch geweigert hätten, diese zu benutzen. Daraufhin seien sie

192 V. Walt (1) S. 160 f. Diese Verfassung bezeichnete die autonomen Regionen als integralen Bestandteil der VRC. 193 Dalai Lama S. 73 ff, 75. 194 Ngapoi Ngawang Jigme S. 8 f.

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zum Gebrauch von Duplikaten gezwungen worden, die die Chinesen angefertigt hätten. 195 Nach Artikel 47 der Wiener Vertragsrechts-Konvention (WVK) von 1969 kann sich ein Staat aber nur dann auf die mangelhafte Vertretungsmacht berufen, wenn er diesen Umstand zu Beginn der Verhandlungen zur Kenntnis gebracht hat. Inwieweit diese Regelung 1950/51 schon als Völkergewohnheitsrecht verbindlich war ist fraglich. 196 Diese Frage kann jedoch dahinstehen. Jedenfalls schickte der Dalai Lama am 24.10.1951 ein Telegramm an die Zentrale Volksregierung unter dem Vorsitzenden Mao Zedong. Darin versicherte er die einstimmige Unterstützung des Abkommens durch die tibetische Regierung. 197 Entsprechend Artikel 8 der WVK wäre damit eine fehlende Vollmacht der Delegierten geheilt worden. Fraglich könnte die bindende Wirkung noch insoweit sein, als das Abkommen nach v. Walt nie von der tibetischen Regierung ratifiziert wurde. 198 Es ist allerdings nicht ganz klar, ob das tibetische Recht einen solchen Vorgang als zwingend vorsah. Das Abkommen selbst sieht in Punkt 17 lediglich vor, daß die Vereinbarung nach Unterzeichnung und Siegelung in Kraft treten solle. Im Zweifel ist daher unter diesem Aspekt von einem Inkrafttreten des Abkommens auszugehen. Der vorausgegangene Einmarsch der chinesischen Truppen und die Art und Weise der sich daran anschließenden Verhandlungen geben Anlaß zu der Überlegung, ob das Abkommen nicht entsprechend Artikel 51 und 52 WVK unwirksam ist. Nach Angaben der beiden tibetischen Unterhändler wurde in Peking massiver Druck auf sie ausgeübt. Die Vertragsklauseln seien ihnen praktisch von den Chinesen ohne Verhandlungsmöglichkeit aufoktroyiert worden. Die Unterzeichnung sei mit der Drohung erreicht worden, die chinesischen Truppen weiter Richtung Lhasa marschieren zu

195 Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S. 163; Weggel in China aktuell, Juni 1991, 362 f. 196 Verdross S. 93 meint, daß diese Norm erst im Licht der neuesten Staatenpraxis kodifiziert wurde. 197 Text bei Hool S. 35; Ngapoi Ngawang Jigme S. 9. 198 V. Walt (1) S. 157.

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lassen und die Befolgung rein militärisch durchzusetzen.' 99 Der tibetische Chefdelegierte Ngapoi bestreitet dies. Allerdings war er vor seiner Mission als Militärgouverneur in chinesische Gefangenschaft geraten. Die Internationale Juristenkommission entschied sich aufgrund dieser Umstände dafür, seinen Aussagen weniger Glauben zu schenken, und bejahte daher den Einsatz von Drohung gegen die Delegation. 200 Ähnlich verhält es sich, wenn man an das schon erwähnte Bestätigungstelegramm des Dalai Lama anknüpfen will. Angesichts der militärischen Niederlage und der Verweigerung der UNO sowie der USA und Großbritanniens zur aktiven Hilfe hatte die tibetische Regierung in der Tat keinen Spielraum. So soll sich der Dalai Lama erst nach mehrmonatigem Druck durch China bereitgefunden haben, das gewünschte Telegramm abzuschicken. 201 Der Zwang gegen die tibetischen Delegierten müßte entsprechend Artikel 51 der WVK von 1969 die Unwirksamkeit des Abkommens nach sich ziehen. Artikel 52 WVK stellt die Nichtigkeit von Verträgen fest, die durch Gewaltandrohung gegen einen Staat zustande kommen. Das 17-Punkte-Abkommen wäre somit sowohl wegen der gleichzeitig ausgeübten Gewaltandrohung gegen den tibetischen Staat als auch wegen des Zwangs gegenüber den tibetischen Unterhändlern nichtig. Eine spätere Zustimmung zum Vertrag soll nach Völkergewohnheitsrecht aber auch die Berufung auf eine Zwangsausübung gegenüber dem Staatenvertreter ausschließen. 202 Insoweit ist jedoch hinsichtlich des vom Dalai Lama abgesandten bestätigenden Telegramms auf die fortdauernde Zwangseinwirkung gegenüber dem tibetischen Staat abzustellen. Voraussetzung ist allerdings, daß die vorgenannten Regelungen schon zu der damaligen Zeit gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt hatten. Die Internationale Juristenkommission hat in ihrem Tibetbericht von 1959 noch skeptisch auf das Fehlen eines Präzedenzfalles hingewie-

199 Zu den Aussagen vgl. die Nw. bei der Internationalen Juristenkommission im Tibetbericht von 1960 S. 163; Weggel in China aktuell, Juni 1991, 362 f. 200 Internationale Juristenkommission, Tibetbericht von 1960, 164. Zur Rolle Ngapoi Ngawang Jigmes auch: Peissel S. 41 ff. Vgl. auch Ngapoi Ngawang Jigme S. 9. 201 Dazu Weggel in China aktuell, Juni 1991, 362 f und v. Walt (1) S. 145 ff, 149. Nach v. Walt waren zu diesem Zeitpunkt bereits chinesische Truppen in Lhasa einmarschiert, a.a. Weggel a.a.O. 202 Ipsen/Fischer § 15 Rn. 8.

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sen. 203 Zu Bedenken ist jedoch, daß die Unwirksamkeit gewaltsam erzwungener Abkommen lediglich eine notwendige Ergänzung zum allgemeinen Gewaltverbot darstellt, die notwendig ist, damit letzteres nicht durch den Schein eines formal geschlossenes Vertrages unterlaufen werden kann. In diesem Sinn kann die Unwirksamkeitsregel als Ausfluß des Gewaltverbotes verstanden werden, das zum fraglichen Zeitpunkt zweifellos schon Gewohnheitsrecht darstellte. 204 Daher ist davon auszugehen, daß die WVK bereits 1969 insoweit lediglich Völkergewohnheitsrecht kodifizierte. 205 Entsprechend dem ebenfalls Völkergewohnheitsrecht kodifizierenden Artikel 69 Absatz 2a) WVK hat die benachteiligte Partei einen Anspruch auf Wiederherstellung der vorvertraglichen Lage. 2 0 6 Das sinotibetische Abkommen hat somit den Status Tibets ab initio nicht tangiert, und die darauf gestützten Maßnahmen Chinas sind jedenfalls im Hinblick auf ihre vertragliche Legitimation rückgängig zu machen. Das 17-Punkte-Abkommen wurde 1959 in zwei Erklärungen durch den Dalai Lama gekündigt. Zuerst im März während seiner Flucht ins indische Exil vor dem Überschreiten der Grenze. Danach am 20.6. anläßlich einer internationalen Pressekonferenz im indischen Mussori. 2 0 7 Begründet wurde dieser Schritt mit der vorhergehenden Verletzung des Abkommens durch die VRC. Verschiedentlich wird behauptet, das 17Punkte-Abkommen sei am 28.3.1959 auch von der chinesischen Zentralregierung für ungültig erklärt worden. 2 0 8 In den beiden oben zitierten chinesischen Publikationen von Ngapoi und Jing Wei findet ein solcher Vorgang allerdings keine Erwähnung. Daher kann in dieser Arbeit nicht von einer beiderseitigen Kündigung ausgegangen werden. 203

A.a.O. S. 97. Vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 358; Meng in EPIL (4) S. 230; Brownlie (1) S. 20 f, 217. Vgl. zum Gewaltverbot im einzelnen S. 146 f. 205 Ebenso: Ipsen¡Fischer § 15 Rn. 27, 30 unter Verweis auf Y. B. I. L. C. 1966 11, 75, 246; Verdross S. 61 f, der auf die parallele Entwicklung des Gewaltverbotes verweist; vgl. auch E. Klein S. 42 f. Demgegenüber werden die diesbezüglichen Verfahrensregelungen nicht zum Gewohnheitsrecht gerechnet: IpscnJ Fischer § 15 Rn. 17; ähnlich E. Klein S. 42. 206 Dazu Ipsen/Fischer § 15 Rn. 13 f. 207 Zur Erklärung vom März 1959: Autobiographie des Dalai Lama S. 182. Zur Mussori-Kiindigung: Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S. 165 mit Text S. 200 ff; Richardson S. 217; v. Walt (1) S. 163. 208 So flool S. 41 und eine Erklärung des indischen Premiers Nehru vom 5.4.1959 bei Richardson S. 220. 204

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Die Internationale Juristenkommission ist in ihrem Tibetbericht von 1960 zu dem Ergebnis gekommen, daß die chinesische Seite viele der in dem Abkommen gewährten Garantien verletzt habe. Dagegen hat sie die von der chinesischen Seite erhobenen Gegenvorwürfe an die tibetische Regierung fiir nicht verifizierbar oder gar haltlos erklärt. 209 Unter Hinweis auf die Völkerrechtspraxis war die Internationale Juristenkommission bereits in ihrem Bericht von 1959 zu der Schlußfolgerung gekommen, daß Tibet zur Kündigung des Abkommens berechtigt 210 war. Demgegenüber wird die Frage, ob Statusverträge überhaupt einseitig kündbar sind, im Gegensatz zur Internationalen Juristenkommission kontrovers diskutiert. Gegen die Zulässigkeit einer Kündigung wird ins Feld geführt, daß Territorialregime, obwohl ursprünglich vertraglich begründet, durch gewohnheitsrechtliche Verfestigung eine vom Vertrag losgelöste Existenz gewinnen können. Außerdem werden Statusverträge teilweise als "Verträge ohne Gegenseitigkeit" eingestuft, deren Verpflichtungen gegenüber allen Staaten übernommen würden. Als allgemein anerkanntes Beispiel für solche Verträge gelten jedoch bislang nur Menschenrechtsabkommen und sonstige Verträge humanitärer Art. 211 Auch sind die Rechtsfolgen einer solchen Kündigung problematisch. So soll ein Vertrag in diesen Fällen seine Rechtsverbindlichkeit nur ex nunc mit Wirksamkeit des Gestaltungsaktes verlieren. 212 Diese Rechtsfolge ist dann wenig hilfreich, wenn ein Staat seine Vertragspflicht bereits erfüllt hat. 21 Dies dürfte insbesondere bei Statusverträgen wie hier im Falle des 17-Punkte-Abkommens der Fall sein. 214

209

A.a.O. S. 161 i.V.m. 167 ff einerseits sowie S. 208 ff andererseits. A.a.O. S. 99, auch im Tibetbericht von 1960 S. 165. Zur Geltung dieser Völkerrechtsregel schon vor der WVK: Verdross/Simma S. 516, § 811; lpsm/Fischer § 15 Rn. 74 ff. Allerdings ist die Bezeichnung dieses Rechtes nicht einheitlich: Artikel 60 WVK bezeichnet den Vorgang als Beendigung; Verdross/Simma S. 515, § 811 und Ipsea/Fischer § 15 Rn 79 sprechen von Rücktritt. 211 Vgl. E. Klein S. 229 ff m.w.N., der die Kündbarkeit aber im Ergebnis bejaht: S. 233 ff, 237. Eine Ausnahme zugunsten von humanitären Abkommen findet sich auch in Artikel 60 Absatz 5 WVK, der jedoch gerade nicht auch Statusverträge einbezieht. 212 So Artikel 70 Absatz 1 WVK. Dazu auch: IpsenJFischer § 15 Rn. 63; Verdross S. 90 f. 213 Dazu Verdross/Simma S. 536, § 843. 214 Die Internationale Juristenkommission hielt die Wiedererlangung staatlicher Souveränität durch Tibet für möglich: Tibetbericht von 1959 S. 99. 210

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Letztlich können diese Fragen hier offenbleiben. Wegen der zuvor festgestellten Nichtigkeit des Vertrages ab initio kommt der nachfolgenden Ausübung eines Kündigungsrechtes keine Bedeutung mehr zu, da sie ins Leere geht. Nach der hier vertretenen Auffassung war das Abkommen wegen der Zwangsandrohung gegenüber dem tibetischen Staat ab initio nichtig. 215 Damit kann die Frage offenbleiben, ob der Dalai Lama wegen der Vertragsverletzungen durch die VRC zu seiner 1959 ausgesprochenen Kündigung des Vertrages berechtigt war. 2.4.2. Verlust der Staatlichkeit durch Annexion? 2.4.2.1. Die "friedliche Befreiung" Tibets - eine Annexion

Aus chinesischer Sicht handelte es sich bei den Vorgängen von 1950/51 um eine "friedliche Befreiung" Tibets von ausländischen Kräften und den von diesen kontrollierten tibetischen Feudalherren. 216 Dementsprechend trug das oben erörterte 17-Punkte-Abkommen den Titel "Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets". Aus chinesischer Sicht wurde daher 1950 die Wiedereingliederung eines Teilgebietes Chinas bewirkt, daß nur durch äußere Einflüsse kurzzeitig vom Mutterland getrennt worden war. Die vorangestellte Untersuchung kam jedoch zu dem Ergebnis, daß Tibet von 1913 bis 1950 als eigener Staat existierte. Teile des Territoriums dieses Staates wurden 1950 von China militärisch besetzt. Unter Drohung weiterer Gewaltanwendung wurde der tibetischen Regierung schließlich die Zustimmung zu einem Vertrag abgetrotzt, der die Preisgabe der Eigenstaatlichkeit beinhaltete. Somit ist der Einschätzung von Tieh-tseng Li zuzustimmen, nach der "die Kommunisten" das TibetProblem gewaltsam gelöst und anschließend den Status durch das Abkommen von 1951 definiert haben. 217 Bei den Vorgängen von 1950/51 handelte es sich somit um den gewaltsamen Gebietserwerb zu Lasten eines anderen Staates. Dies ist aber die Definition für den Tatbestand der Annexion. 218 Zusätzlich ist als subjektives Element der Wille zur So auch v. Walt (1) S. 155 Offen lassend die Internationale Juristenkommission in ihrem Tibetbericht von 1960, 164 f. 216 Vgl. Tibetweißbuch S. 10, 16 f; Jing Wei: 100 Fragen S. 47 ff. 217 Tieh-tseng Li S. 159 im Vergleich zum Vorgehen der Nationalregierung Chinas in den dreißiger Jahren. 218 Dahm/DelbrückAVoifrum S. 355; Shaw in NethYBIL 13/1982, 80; Schätze1 in ArchVR 2/1950, 1, 11; WiüXhum!Hailbronner S. 218 Rn. 110 215

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Einverleibung des Territoriums erforderlich. Auf die äußere Form, in die dieser Vorgang gekleidet wird, kommt es demgegenüber nicht an.219 Das Vorliegen einer Annexion kann allenfalls insofern fraglich sein, als diese eine gewaltsame Gebietsaneignung durch einen anderen Staat darstellt und die Staatlichkeit der VRC wegen des Exilregimes auf Taiwan zunächst noch umstritten war. 220 Die Frage der Identität der VRC mit dem Völkerrechtssubjekt China wird in dieser Arbeit eingehender unter dem Problem erörtert, inwiefern die VRC Gebietstitel über die Regionen Rest-Tibets von dem Kaiserreich und der Republik China ableiten kann. 221 An dieser Stelle hilft bereits die Überlegung weiter, daß es dem Sinn des Annexionsverbotes zuwiderliefe, Angriffe von de facto-Herrschaftssystemen oder ähnlichen Gebilden auf die Souveränität von Nachbarstaaten von diesem Wirksamkeitshindernis auszunehmen. Die statusrechtliche Beurteilung des chinesischen Festlandes kann für diese Frage daher keine Bedeutung haben. Es bleibt daher bei dem Ergebnis, daß die Eingliederung Tibets als Annexion zu qualifizieren ist.222 2.4.2.2. Kein Titelerwerb durch Annexion

Zunächst ist zu fragen, ob die VRC nicht bereits durch den Akt der Annexion Zentral-Tibets eine Souveränität über dieses Gebiet und seine Bevölkerung erlangt hat. Die Anerkennung einer Annexion als Erwerbsgrund für einen Titel ist abhängig von der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Annexion selbst. 223 In diesem Punkt ist allerdings eine bedeutsame Entwicklung des universellen Völkerrechts eingetreten. Für die Konstituierung des universellen Gewaltverbotes werden Artikel 10 der Völkerbundsatzung von 1919 sowie der Briand-Kellog-Pakt von 1928 als bedeutsam erachtet. Die Verfestigung zu einem wesentlichen Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts wird für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis in die dreißiger Jahre angenommen. 224 Die moder219

Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 357; Schätzet in ArchVR 2/1950, 1. Vgl. Rüper S. 190 f. 221 Dazu S. 190 ff. 222 Ebenso: Gutachten des wissenschaftlichen Fachdienstes des deutschen Bundestages S. 7 f. Das Gutachten von Hecker S. 5 wertet erst die Vorgänge von 1959 als Annexion, da er China zubilligt, 1950 lediglich den vormals existierenden Protektorats-Status aufrechterhalten zu haben. 223 Zieger S. 74; Schätzel in ArchVR 2/1950, 2 ff. 224 So Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 358; Meng in EPIL (4) S. 230; Brownlie (1) S. 20 f, 217. Auf die Bindung der VRC an Artikel 2 Zif. 4 UN-Charta kommt es daher nicht an. 220

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ne Völkerrechtspraxis nach dem Zweiten Weltkrieg zieht daraus die Konsequenz, indem sie den durch illegale Gewalt erlangten Gebietserwerb nicht anerkennt. 2 2 5 Mit der Nichtanerkennung von Souveränitätsrechten, die durch Annexion begründet wurden, bleibt zugleich die vormalige Souveränität des annektierten Staates bestehen. Die vorangehende Untersuchung kam zu dem Ergebnis, daß Tibet 1950 ein Völkerrechtssubjekt war, das die Wahrung seiner nationalen und territorialen Integrität im Sinne von Artikel 2 Zif. 4 UN-Charta beanspruchen konnte. Die Annexion Tibets durch China kann somit kein Erwerbsgrund für die Erlangung chinesischer Souveränität über Tibet sein. Die bloße Annexion hatte daher keinen Einfluß auf den Status Tibets. 2.4.3. Erlöschen des Staates durch Konsolidierung 2.4.3.1. Stimson-Doktrin contra Grundsatz der Effektivität

Um der oben dargestellten Rechtslage in Annexionsfällen Geltung zu verschaffen, wird für das Verhalten von Drittstaaten die sog. StimsonDoktrin propagiert. Diese Doktrin soll anderen Staaten ein Anerkennungsverbot in bezug auf den rechtswidrigen Zustand auferlegen. 2 2 6 Trotz Verlustes der Staatsgewalt im Falle einer Gesamtannexion wird damit der Fortbestand des Staates fingiert. Fraglich ist aber, wie lange und unter welchen Umständen diese Fiktion aufrechtzuerhalten ist. 225 So allgemein: SichR-Resolution 242 v. 22.11.1967, Präambel Absatz 2; GA-Resolution 2628 (XXV) v. 4.11.1970, Zif. 1; GA-Resolution 3314 (XXIX) v. 14.12.1974: Aggressionsdefinition Artikel 5 Absatz 3. Vgl, zu den von Israel besetzten Gebieten auch: GA-Resolution 46/82A v. 16.12.1991, Präambel Absatz 11, Zif. 7; MRK-Resolution 1982/2 v. 11.2.1982, Zif. 2; MRK-Resolution 1983/2 v. 15.2.1982, Zif. 3; MRK-Resolution 1991/2 v. 15.2.1991, Zif. 3; zur Haltung der EG: Wilhelm in ZaöRV 51/3, 1991, 701. Vgl, zur Reaktion auf die Annexion Kuwaits durch den Irak: SichR-Resolution 662 (1990) v. 9.8.1990, Zif. 1; SichR-Resolution 664 (1990) v. 18.8.1990, Zif. 3; SichRResolution 670 (1990) v. 25.9.1990, Präambel Absatz 8. 226 Vgl, allgemein: Deklaration 2625 (XXV) v. 24.10.1970, 1. Abschnitt, Absatz 10, Satz 3; GA-Resolution 3314 (XXIX) v. 14.12.1974: Aggressionsdefinition Artikel 5 Absatz 3; GA-Resolution 36/103 v. 9.12.1981: Interventionsdeklaration Zif. 2 Teil III lit. (e). Zur Annexion Kuwaits durch den Irak: SichR-Resolution 662 (1990) v. 9.8.1990, Zif. 2. Aus dem Schrifttum: Verdross/Simma S. 607, § 971; Fastenrath in EPIL (10) S. 466; Meng in EPIL (4) S. 232; Torres in EPIL (10) S. 502; Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 363.

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Die strengen Verfechter der Stimson-Doktrin beharren darauf, daß gerade ein unter Verstoß gegen das Gewaltverbot als ius cogens erzeugter Zustand unter keinen Umständen rechtliche Wirkung erzeugen kann.227 Dies wird insoweit verständlich, als das Verbot der Nichtanerkennung keiner Befristung unterliegt. „But does this mean that the status quo (prevailing at the time the Obligation of non-recognition was undertaken) should thereby be considered frozen per omnia saecula saeculorum? " 228 In Beantwortung dieser Frage wird von vielen Autoren ein Titelerwerb auch aufgrund rechtswidriger Handlungen unter Verweis auf die uneinheitliche Staatenpraxis zur Stimson-Doktrin im Grundsatz bejaht. Allerdings unterscheiden sich die Ansichten hinsichtlich der Voraussetzungen und BegrifFsverwendungen. So wird der Vorgang je nach Beurteilungsschwerpunkt als Ausfluß des Effektivitätsprinzips, der Verjährung, der Acquiescence oder faktischer Konsolidierung eingeordnet. 229 Zudem ist eine Differenzierung geboten. Die strengen Verfechter des "ex iniuria ius non oritur" beziehen sich häufig auf den Fall einer Teilannexion, bei der noch an die Souveränität des Reststaates angeknüpft werden kann.230 Bei dem Tibet-Problem handelt es sich jedoch um eine Gesamtannexion. In solchen Fällen liegt der Problemschwerpunkt mehr auf dem Erlöschen von Staaten als auf dem Erwerb eines Titels. Damit stellt sich die eigentliche Frage, ob ein Staat auch aufgrund rechtswidrigen Handelns durch langandauernde, effektive Herrschaft des Aggressors erlöschen kann. Letzteres wird im Grundsatz auch von den stren-

227

So: Verdross/Simma S. 759 f, § 1163; Dahm/DelbrückAVolfrum S. 361, 368; Schätzet in ArchVR 2/1950, 13 f, 20 ff. 228 Langer S. 118. 229 Für Konsolidierung: Meng in EPIL (4) S. 232; Jennings S. 25 ff; Gerson in HarvILJ 18/3, 1977, 544: sofern "fait accompli" geschaffen; Tomuschat in FS Partsch S. 208: tatsächliche Verfestigung durch Zeitablauf im Rahmen der Veijährungsdoktrin; eingeschränkt im Sinne von quieta non movere: Zimmer S. 203 f. Für Effektivität: E. Klein S. 197; Doehring in EPIL (7) S. 71; Thürer (Das Sbr) S. 98 ff, 202, 209; Shaw in NethYBIL 13/1982, 82 f; Fiedler in EPIL (10) S. 67. Vgl. auch: Verdross/Simma S. 51, § 69 und Dahm/DelbrückAVolfrum S. 143 f. Für Ersitzung: Doehring in EPIL (7) S. 73 f. Für Verjährung: Fleischhauer in EPIL (10), 327 ff; einschränkend auch Brownlie (1) S. 258, ders. (2) S. 422; Shaw in NethYBIL 13/1982, 82, 84 f in Verbindung mit Acquiescence; wie Shaw auch Jennings S. 20 ff. 230 So Zimmer S. 17, 185, 202; Verdross/Simma S. 758 § 1162; anscheinend auch Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 361, 368 im Gegensatz zu S. 143 f.

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gen Verfechtern der Stimson-Doktrin bejaht. 231 Dem Umstand der Rechtswidrigkeit soll in diesen Fällen dadurch Rechnung getragen werden, daß eine rückwirkende Wiederherstellung des annektierten Staates zugelassen wird. 232 2.4.3.2. Die chinesische Haltung zum Effektivitätsgrundsatz

Die chinesische Praxis gibt zu der Frage Anlaß, ob China die Anwendung der oben genannten Grundsätze auf den tibetischen Staat selbst zum eigenen Nachteil nach der Doktrin zum persistent objector präkludiert hat. So erkennt die chinesische Völkerrechtsdoktrin die Möglichkeit des Titelerwerbs durch Eroberung oder Ersitzung nicht an. Dies entspricht der chinesischen Tendenz, jeder Gebietsveränderung ablehnend gegenüberzustehen. Das explizit ausgesprochene Motiv für diese Haltung bilden die Übergriffe insbesondere Großbritanniens und Japans auf chinesische Gebiets- und Souveränitätsrechte im 19. und 20. Jahrhundert. 233 So hat sich China insbesondere gegen Rechtsinstitute ausgesprochen, aus denen Indien Ansprüche auf die 1914 abgetretenen Teile Südtibets und Großbritannien Ansprüche auf Grenzgebiete zum heutigen Birma ableiten könnte. 234 Hier erlangt jedoch die Differenzierung zwischen Titelerwerb und Staatenuntergang Bedeutung. Maßgeblich für die Existenz eines Staates ist unter anderem die Ausübung effektiver Staatsgewalt beziehungsweise deren Fiktion im Falle der Besetzung. Der Erwerb eines Rechtstitels durch Dritte ist demgegenüber ohne Belang. Die Frage nach dem Untergang des tibetischen Staates ist daher von der Frage eines Titelerwerbs durch die VRC zu trennen, so daß deren Haltung hier unerheb231 So Verdross/Simma S. 51 § 69; Dahm/DelbrückAVolfrum S. 143 f; vorsichtig auch Brownlie (1) S. 80 Anm. 4 in Verbindung mit S. 510 Anm. 2. Diese Differenzierung fehlt in dem Gutachten des wissenschaftlichen Fachdienstes des deutschen Bundestages S. 12 f, daß nur die Frage des Titelerwerbs behandelt. 232 So Dahm/DelbrückAVolfrum S. 144; Fastenrath in EPIL (10) S. 466; Vitzthum/ Hailbronner S. 226 Rn. 143; auch Brownlie (1) S. 84 verweist darauf, daß es sich bei der Praxis gegenüber den besetzten Ländern im und nach dem Zweiten Weltkrieg um eine Wiederherstellung gehandelt habe. 233 Vgl. die chinesischen Autoren bei Cohen/Chiu S. 322 ff, 334 ff; Pinto in RdC I 1955, 392; vgl. auch die Nw. bei v. Watt (1) S. 116 ff in Verbindung mit S. 253. 234 Gegen indische Ansprüche im Grenzgebiet zu Tibet: Hsin Wu bei Cohen/Chiu S. 327. Vgl. allgemein zu diesem Grenzkonflikt die Nw. oben in Fn. 143. Zum Konflikt um Birma vgl. Strupp S. 155. Zur chinesischen Haltung in bezug auf Hong Kong vgl. v. Walt (1) S. 184 in Verbindung mit S. 278.

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lieh ist. 235 Die Haltung des Inhabers der tatsächlichen Staatsgewalt nimmt allenfalls dann auf die Frage des Staatenuntergangs Einfluß, wenn dieser die Übernahme der Souveränitätsrechte ausdrücklich ablehnt und somit selber Raum für eine fortgesetzte Eigenstaatlichkeit gibt. 236 Dieser Fall ist hier aber nicht gegeben, da die VRC ausdrücklich Souveränität über Tibet beansprucht. 2.4.3.3. Voraussetzungen einer Konsolidierung in der Literatur Für die Frage nach einer andauernden tibetischen Staatlichkeit ist an die herrschende Ansicht zum Problem des Staatenunterganges bei Annexion anzuknüpfen und auf die in der Lehre entwickelten Kriterien zurückzugreifen. Obwohl für die dogmatische Einordnung im einzelnen unterschiedliche Akzentuierungen gesetzt werden, kann dennoch ein kaum bestrittener Grundsatz festgestellt werden. Danach erlischt ein Staat, wenn der Aggressor auf seinem Territorium eine über längere Zeit andauernde stabile Kontrolle errichtet hat. Als Maßstab gilt dabei, daß sich der Zustand soweit konsolidiert haben muß, daß mit einer Rückgewinnung der effektiven Eigenstaatlichkeit nicht mehr zu rechnen ist. 237 Es erscheint wenig hilfreich, in diesem Zusammenhang das Quantum der verstrichenen Zeit zum Maßstab zu nehmen. So ist das bloße Verstreichen der Zeit ohne die Berücksichtigung der Gesamtumstände wenig aussagekräftig, da von ihr nicht ohne weiteres auf die Stabilitätsaussichten des neuen Regimes geschlossen werden kann. Auch fehlt es hier an objektiven Anhaltspunkten für die Bemessung einer solchen Zeitspanne. Dies zeigt sich an den großen Unterschieden zwischen den in der Literatur unter dem Aspekt der Verjährung diskutierten Zeiträumen. 238 Daher kommen der Länge des Zeitablaufs und dem Fehlen von 235 Anders v. Walt (1) S. 177, der die Frage nach dem Untergang tibetischer Staatlichkeit mit einem Titelerwerb Chinas verbindet. Allerdings verneint er bereits den Titelerwerb Chinas durch effektive Kontrolle mangels Vorliegen der Voraussetzungen, so daß sich für ihn die hier erörterte Frage nicht stellt: vgl. a.a.O. S. 184 ff. 236 Als Beispiel für einen solchen Fall wird in der Literatur die Haltung der Alliierten in bezug auf ganz Deutschland angesehen: Dahm/Delbrück/Wolfrum S. 145 f. 237 So Doehring in EPIL (7) S. 71; Dahm/Delbrück'Wulfmm S. 144; Fastenrath in EPIL (10) S. 466; Fiedler in EPIL (10) S. 67. Verdross/Simma S. 51 § 69 fordern einen dauernden Effektivitätsverlust. Letzteres führt aber letztlich auch wieder zu einer Prognose im oben genannten Sinn. Vgl. zu den in der Literatur vertretenen unterschiedlichen Verjährungsfristen: Fleischhauer in EPIL (10) S. 328 (zwischen 30 und 100 Jahren).

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Protesten nur indizielle Bedeutung zu. Demgegenüber trägt die Haltung der Staatengemeinschaft erheblich dazu bei, die Fiktion fortbestehender Staatlichkeit aufrecht zu erhalten, ist also ein wesentliches Indiz. 239 2.4.3.4. Die Praxis gegenüber den baltischen Staaten

Auch unter Beachtung der dargestellten Lehre ist eine dogmatische Erarbeitung exakter tatbestandlicher Voraussetzungen fiir das Erlöschen von Staaten kaum möglich. Eine weitere Möglichkeit der Konkretisierung bietet der Rückgriff auf die Völkerrechtspraxis. Als Beispiel für die langjährige Aufrechterhaltung einer fingierten Staatlichkeit ist vor allem das Schicksal der baltischen Staaten in der Zeit nach ihrer Einverleibung in die UdSSR 1940 bis zur erneuten Unabhängigkeit 1991 von Interesse. 240 Für den Status der baltischen Staaten nach ihrer Annexion kommt ihrer formalen Stellung, die sie nach der Sowjetverfassung hatten, nur geringe Bedeutung zu. Zwar wurde den baltischen Republiken in dieser Verfassung formell eine eigene Völkerrechtspersönlichkeit zuerkannt, wegen der faktisch allein entscheidenden Zentralgewalt in Moskau fällt es jedoch schwer, ihnen auch nur eine beschränkte Souveränität zuzusprechen. Einschlägige Untersuchungen kommen daher zu dem Ergebnis, daß unter den sowjetischen Republiken allenfalls der Ukraine und Weißrußland eine partielle Völkerrechtssubjektivität zukam. 2 4 1 Eine Eigenstaatlichkeit kommt daher nur in Betracht, wenn an die vormalige Unabhängigkeit angeknüpft werden kann. Als wichtige Anhaltspunkte werden genannt, daß die Repräsentanten dieser Staaten in einigen Ländern nicht nur weiterhin anerkannt, sondern sogar ersetzt wurden, und daß zahlreiche Staaten in der U N O entsprechende Vorbehalte gegenüber der UdSSR erklärten. 2 4 2 Doch selbst in Anbetracht dieser Umstände wird der Fortbestand ihrer Staatlichkeit von einigen Autoren nur im Verhältnis zu den Staaten bejaht, die der Annexion die rechtliche 239

Die Bedeutung der Anerkennungspraxis betonen insbesondere Crawford S. 420; Thürer (Das Sbr) S. 99. 240 Demgegenüber erscheint das bei v. Walt (1) S. 183 angeführte Beispiel der Annexionen Israels weniger einschlägig, da es sich dabei nicht um die Gesamtannexion eines anderen Staates handelte. 241 So Arnold S. 143 ff m. Nw. für weitere Literaturmeinungen S. 44 ff; Uibopuu S. 128, 304. Vgl. auch Meissner in EPIL (12) S. 47. 242 Vgl. Meissner in EPIL (12) S. 46 f.

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Anerkennung verweigerten. 243 Allerdings erscheint fraglich, ob das Völkerrecht den Status einer nur relativen Staatlichkeit mit Wirkung inter partes kennt. Zudem ist zweifelhaft, ob schon in dem Unterlassen einer Annexionsanerkennung ein hinreichend eindeutiges Staatenverhalten liegt. Demgegenüber ist festzustellen, daß die meisten Staaten den jahrzehntelangen faktischen Abbruch der diplomatischen Beziehungen hingenommen haben. Zudem wurden die baltischen Staaten in den vierziger Jahren stillschweigend aus den Mitgliedschaftslisten internationaler Organisationen gestrichen. 244 Angesichts dieser praktischen Auswirkungen erscheint selbst die Erklärung von Vorbehalten gegenüber der UdSSR eher als rein formaler und in seiner völkerrechtlichen Wirkung begrenzter Akt. Richtiger erscheint daher die Einordnung anderer Autoren, daß mit der Wiederherstellung der baltischen Staaten nicht mehr gerechnet werden konnte, da die internationale Anerkennungspraxis hierzu uneinheitlich war. Danach bestand lediglich die Möglichkeit eines Wiederauflebens der Staatlichkeit mit alter Rechtspersönlichkeit. 245 In den Unabhängigkeitserklärungen der baltischen Staaten von 1991 wurde die "Wiederherstellung" der staatlichen Unabhängigkeit verkündet. Allerdings gingen die Parlamente dabei von dem Tatbestand einer andauernden Okkupation aus, ohne das Problem der effektiven Eingliederung zu beachten. 246 Die Staatenpraxis gegenüber den faktisch wieder souveränen Republiken stützt diese Sichtweise nicht zwingend. Hier ist insbesondere die Praxis derjenigen Staaten von Bedeutung, die der Annexion durch die UdSSR durch Vorbehalte oder andere Erklärungen die Anerkennung verweigert haben. Dazu gehörten neben den USA auch die meisten EG-Staaten. In ihrer Erklärung zur Anerkennung der baltischen Staaten erklärte die EG, daß nunmehr die Souveränität und Un-

243

So zum Beispiel Meissner in EPIL (12) S. 46. A. A. v. Walt (1) S. 183 f, der ebenfalls auf die Balten verweist und dabei die fünfzigjährige Inkorporation als nicht ausreichend ansieht. 244 Vgl. aber zu beidem mit anderer Ansicht: Uibopuu in FAZ vom 28.8.1991. Nach Rieh in EJIL 4/1, 1993, 37 haben die meisten westlichen Staaten ihre de jureAnerkennung aufrechterhalten, aber die sowjetische Kontrolle de facto akzeptiert und dementsprechend auch keine diplomatischen Beziehungen mehr zu den Balten-Staaten unterhalten. 245 So: Fastenrath in EPIL (10) S. 465 f; Dahm/DelbrUckAVolfrum S. 142 fif, insbesondere 144; Vitzthum/Hailbronner S. 226 Rn. 143. Kritisch auf die verstrichene Zeitspanne und das wechselhafte internationale Interesse hinweisend auch Hanneman in VJIL 35/2, 1995, 506 Fn. 132. 246 Dazu Schweisfurth in ZaöRV 52/3-4, 627.

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abhängigkeit wiederhergestellt sei.247 Diese Erklärung stellt lediglich klar, daß der Vorgang nicht als Sezession oder staatliche Neugründung verstanden wurde. Diese Praxis ist aber auch mit der dogmatischen Konstruktion eines Wiederauflebens der zwischenzeitlich untergegangenen Staatlichkeit vereinbar. Aus den genannten Gründen ist daher der Bewertung des Vorganges als ein Wiederaufleben untergegangener Staatlichkeit der Vorzug zu geben. 2.4.3.5. Konsolidierung im Falle Tibets

Ein Vergleich des Schicksals der baltischen Staaten mit Tibet zeigt, daß für Tibet die Voraussetzungen für eine fortdauernde Staatlichkeit weit weniger günstig sind. Bei der Beurteilung der tibetischen Situation ist allerdings zwischen den Anstrengungen der Exiltibeter um den Dalai Lama und der Reaktion der Staatengemeinschaft auf die Annexion Tibets zu differenzieren. Nach der Flucht des Dalai Lama 1959 wurde in Indien eine tibetische Exilregierung gebildet, die ihren Sitz derzeit in Dharamsalla hat. 248 Dem Dalai Lama folgten nach seiner Flucht zahlreiche Anhänger auf indisches Territorium nach. Ihre Zahl wird inzwischen auf 100.000 bis 120.000 geschätzt. Am 2. September 1960 wurde in Abweichung vom traditionellen tibetischen Regierungssystem von den Exiltibetern eine Volksvertreterversammlung gewählt und im März 1963 eine provisorische Verfassung veröffentlicht. Neben der Nationalversammlung fand die Bildung eines nationalen Arbeitskomitees und eines Kabinetts statt. Oberhaupt der Exekutive ist der Dalai Lama. Am 14.06.1991 wurde von dem Exilparlament ein revidierter Text der provisorischen Verfassung beschlossen. 249 Aus diesen Vorgängen erschließt sich, daß nach der Annexion Tibets die Rumpforgane des Staates im Ausland unter dem rechtmäßigen Staatsoberhaupt weiterarbeiten. Insoweit liegt ein im Vergleich zu den baltischen Staaten sogar günstigerer Tatbestand vor. Aus den vorangestellten Darlegungen des Meinungsstandes in der Völ247

EG-Erklärung im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 90 vom 30.8.1991, 722. Ähnlich die Erklärung des deutschen Bundeskanzlers anläßlich der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen im Bulletin der deutschen Bundesregierung a.a.O. S. 721. Vgl. im übrigen zur Staatenpraxis gegenüber den wiederhergestellten baltischen Staaten auch S. 164 ff. 248 Vgl. zum Nachfolgenden die Schilderungen bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 138 ff und bei Steckel S. 34 ff, 124 f. 249 Vgl. dazu sowie zum aktuellen Aufbau des Exilregimes: Tibet-Forum 1/1996, 15 ff.

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kerrechtslehre wird aber deutlich, daß diese "internen" Maßnahmen für die völkerrechtliche Fiktion fortbestehender Staatlichkeit nicht ausreichen. 250 Von wesentlichem Nachteil ist, daß die Exilregierung bislang von keinem Staat anerkannt worden ist. Allerdings finden häufig Treffen des Dalai Lama mit Vertretern hoher Regierungskreise auf internationaler Ebene statt. Diese Treffen werden grundsätzlich von einem Protest der VRC begleitet. In diesem Zusammenhang werden von den Gesprächspartnern in der Regel der private Charakter des Treffens oder die Stellung des Dalai Lama als geistliches Oberhaupt der Tibeter betont. 251 Ein im Repräsentantenhaus der USA eingebrachter Gesetzesentwurf, in dem Tibet als besetztes souveränes Land bezeichnet und die Akkreditierung eines amerikanischen Botschafters bei dem Dalai Lama verlangt wurde, ist gescheitert. 252 Statt dessen enthält der jährlich vom U. S. Department of State herausgegebene Country Reports on Human Rights Practices in dem Bericht über die VRC seit 1995 einen Anhang zu Tibet. Diesem Anhang wird die Einfuhrung vorangestellt, daß die USA die Autonome Region Tibet als Teil der VRC anerkennen. 253 Auch weitere Staaten haben die Zugehörigkeit Tibets zu China ausdrücklich anerkannt. Sogar die indische Regierung betrachtet Tibet als Teil Chinas und gestattet dem Dalai Lama kein politisches Auftreten innerhalb Indiens. 2 4 Anläßlich des Staatsbesuches des chinesischen Regierungschefs Li Peng in Neu-Dehli 1991 stellte das indische Außenministerium nochmals klar, daß der Dalai Lama nur als religiöses Oberhaupt respektiert würde, und äußerte zudem Kritik an dessen politischen Aktivitä250

Vgl. aber v. Walt (1) S. 184, 187 sowie Falk bei McCorquodale/Orosz S. 95, die die Regierungskontinuität besonders herausstellen. 251 Vgl. zum Empfang des Dalai Lama durch den deutschen Bundespräsidenten am 4.10. 1990: Winckler in China aktuell, August 1991, 520; - durch den US-Präsidenten Busch am 17.4.1991: Weggel in China aktuell, November 1991, 707 und FAZ v. 18.4.1991; - durch den französischen Außenminister am 26.8.1991: FAZ v. 27.8.1991; - durch den britischen Regierungschef Major am 2.12.1991: FAZ v. 3.12.1991 und Die Zeit v. 12.4.1991; - durch den französischen Präsidenten Mitterrand am 18.11.1993: FAZ v. 19.11.1993; - durch den deutschen Außenminister Kinkel am 4.5.1995: FAZ v. 5.5.1995. 252 Die Vorlage des Senats Nr. S 908 wurde in die Vorlage HR1561 des Repräsentantenhauses eingearbeitet. 253 Vgl. USA-China country report 1995, 29 sowie report 1996, 32. 254 Die Anerkennung der chinesischen Haltung durch Indien erfolgte erstmals in einem Abkommen vom 29.4.1954. Zur indischen Tibetpolitik vgl. auch Weggel in China aktuell, Dezember 1991, 770 f, sowie oben S. 135 f.

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ten.255 Außer Indien haben insbesondere auch die UdSSR, Nepal, Australien und die Bundesrepublik Deutschland die chinesische Souveränität über Tibet explizit anerkannt.256 Die deutsche Regierung hat ihre Haltung nochmals anläßlich der umstrittenen Tibet-Resolution des deutschen Bundestages bekräftigt.257 Daneben wird die Auffassung vertreten, daß die Anerkennung eines Staates als solche auch die Demarkation des von ihm beanspruchten Territoriums als Staatsgebiet im Rahmen der internationalen Beziehungen enthalte. Diese Wirkung soll insbesondere auch mit der Aufnahme eines Staates in die UNO verbunden sein.258 Daher kommt das Gutachten von Hecker zu dem Ergebnis, daß mit der vorbehaltlosen Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Peking alle Staaten auch die Zugehörigkeit Tibets zur VRC anerkannt haben.259 Gegen diese Bewertung diplomatischer Akte spricht jedoch die auf die Praxis gestützte h.L., nach der eine Anerkennung nur deklaratorische Wirkung hat. Danach bestätigt sie nur völkerrechtliche Sachverhalte, ohne rechtsgestaltend darauf Einfluß zu nehmen. Auch die Konstruktion einer Anerkennung der chi255

Vgl. den Artikel von Haubold in der FAZ vom 12.12.1991. Die ausdrückliche Anerkennung durch die UdSSR wird angeführt von Weggel in China aktuell, Juni 1991, 372. Zur Anerkennung durch Nepal vgl. den Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1960 S. 162. Die australische Anerkennung chinesischer Souveränität über Tibet wurde als Vorbehalt anläßlich eines Treffens zwischen dem australischen Außenminister und dem Dalai Lama erklärt: vgl. China aktuell, April 1992, 211. Die deutsche Bundesregierung hat den chinesischen Anspruch auf Tibet mehrfach anerkannt und betont, daß sie sich dabei im Einklang mit der internationalen Staatengemeinschaft befinde. Zu entsprechenden Aussagen von 1987 und 1989 vgl. bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 18, 39 sowie nachfolgend die Dokumentation in ZaöRV 52/3-4 1992, 843. Diese Haltung wurde bekräftigt anläßlich des Treffens mit dem deutschen Außenminister Kinkel (FAZ vom 5.5. 1995 S. 2). Vgl. zu ähnlichen Statements von sieben weiteren Staaten: Simon-Mick in Tibet-Forum 2/1997, 22. 257 Vgl. für die Äußerung des Außenministers Kinkel FAZ vom 21.6.1996 S. 2. In der Tibet-Resolution heißt es unter anderem, daß der völkerrechüiche Status Tibets in einer Anhörung des deutschen Bundestages streitig geblieben sei. Ferner wird auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie die tibetische Exilregierung Bezug genommen. Vgl. den fraktionsübergreifenden Antrag als Bundestagsdrucksache 13/4445. 258 So Crawford in BYIL 1976-1977, 93; Dahm/DelbriickAVoljrum S. 206 Anm. III 1.; Ipsen/G/oria S. 232 f Rn. 11: nur für die Staaten, die der Aufnahme in die UNO zustimmen. In diesem Sinn kann auch eine Stellungnahme des deutschen Innenministers Seiters interpretiert werden, nach der offizielle Kontakte der Bundesregierung zum Dalai Lama im Widerspruch zu den Verpflichtungen der Bundesregierung aus den diplomatischen Beziehungen zur VRC stehen würden: in der FAZ vom 26.1.1990. Kritisch: Browniie (1) S. 96 ff. 259 Gutachten für das Tibetische Zentrum in Hamburg vom 19.3.1990 S. 6 f. 256

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nesischen Rechtsansprüche durch die vorbehaltlose Aufnahme der VRC in die UNO überzeugt nicht. So geht aus den Diskussionsbeiträgen in der Generalversammlung über die Aufnahme der VRC hervor, daß die territoriale Demarkation der Volksrepublik in diesen Überlegungen keine Rolle spielte.260 Ob aus der nachfolgenden Aufnahme der VRC in die UNO auf eine mittelbare Anerkennung der chinesischen Position in bezug auf Tibet geschlossen werden darf, erscheint insoweit zweifelhaft. Gegen eine Bewertung des bloßen Stillschweigens als Anerkennung spricht auch die Stimson-Doktrin, die hier als Auslegungsgrundsatz herangezogen werden kann.261 Danach waren alle Staaten, jedenfalls bis zur Konsolidierung der Situation, zur Nichtanerkennung der chinesischen Annexion, beziehungsweise zum Unterlassen jeglicher Anerkennungsakte verpflichtet. Zwar wurde bereits dargelegt, daß diese Doktrin auch im Fall der baltischen Staaten nicht konsequent befolgt wurde. Jedoch spricht die im Grundsatz anerkannte Doktrin gegen eine Interpretation des UN-Aufnahmeaktes im Sinne Heckers. Allerdings ist Hecker zuzustimmen, daß gerade die Ignorierung des Tibetproblems durch die Staatengemeinschaft im auffalligen Kontrast zur Reaktion auf die Annexion der baltischen Staaten steht: So kann hier nicht unberücksichtigt bleiben, daß die letzte Tibet-Resolution der Generalversammlung vor über dreißig Jahren im Jahr 1965 verabschiedet wurde, und daß die in den letzten Jahren wiederaufgegrifFene Diskussion in der MRK nur um Menschenrechtsfragen kreist. Zudem fällt auf, daß in den drei früheren GA-Resolutionen zu Tibet zwar einmal das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter angemahnt und ein anderes Mal auf die traditionelle Autonomie Tibets verwiesen, jedoch nie die Verletzung staatlicher Souveränität durch China gerügt wurde.262 An dieser Einschätzung vermögen auch einige Äußerungen von Staatenvertretern in der Generalversammlung nichts zu ändern, die die Inkorporation Tibets in die VRC ausdrücklich als Annexion verurteilt haben. 63 Vielmehr ist festzustellen, daß diesen Äußerungen, anders als im Fall der baltischen Staaten, keine Anerkennung der Exilregierung oder zumindest ein erklärter Vorbehalt gegenüber der VRC bei der Aufnahme diplomati260

Vgl. Y. U. N. 1971, 126 ff, im Mittelpunkt der Diskussion stand vielmehr das Schicksal des bisherigen UN-Mitgliedes Republik China (Taiwan). Ähnlich das Gutachten des wissenschaftlichen Fachdienstes des deutschen Bundestages S. 11. 26 Die Resolutionen sind oben unter A. IV. 2. genannt. 263 Zu solchen Äußerungen vgl. bei v. Walt (1) S. 185 f. 261

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scher Beziehungen folgte. Aus den vorgenannten Gründen kann zwar in der bloßen Untätigkeit seitens der UNO keine acquiescence der Staatengemeinschaft in die Annexion Tibets gesehen werden. Gleichwohl fehlt es spätestens seit Mitte der sechziger Jahre an einer Reaktion der Staatengemeinschaft, die positiv auf den Erhalt Tibets als Völkerrechtssubjekt gerichtet ist. Wie oben dargestellt, verlangt die Völkerrechtslehre ftir die Aufrechterhaltung der fiktiven Staatlichkeit eine aktive Staatenpraxis und tendierte bereits für die baltischen Staaten zu einem zwischenzeitlichen Untergang. In Anbetracht der Haltung, die die Staatengemeinschaft gegenüber der VRC und Tibet eingenommen hat, ist diese Voraussetzung für Tibet aber noch stärker als für die baltischen Staaten zu verneinen. Auch wenn in der Literatur zu den Baltenrepubliken nicht auf die innere Konsolidierung der sowjetischen Herrschaftsausdehnung Bezug genommen wird, so spielt dies doch in der Dogmatik zum Staatenuntergang nach Annexion eine Rolle. So sei daran erinnert, daß von der Lehre eine andauernde und vor allem stabile Kontrolle über das annektierte Gebiet gefordert wird. Neben der auf die inneren Geschicke Tibets wenig einflußreichen Exilregierung ist hier zunächst ein starker innerer Widerstand der tibetischen Bevölkerung gegen die chinesische Herrschaft festzustellen. Dieser führte auch in den letzten Jahren noch zu wiederholten Unruhen in Lhasa. 264 Fraglich ist aber, ob mit v. Walt daraus der Schluß zu ziehen ist, daß die chinesische Position in Tibet im Hinblick auf eine Konsolidierung weit entfernt davon ist, als unbestritten, friedlich und stabil zu gelten. 265 Auch v. Walt räumt ein, daß der tibetische Widerstand jedenfalls seit den siebziger Jahren keine ernsthafte Bedrohung für die chinesische Herrschaft darstellt. Seine Gesamtbewertung leitet er jedoch daraus ab, daß dieser Widerstand immerhin eine massive chinesische Militärpräsens in Tibet erforderlich mache. 266 Zudem verweist er darauf, daß eine Verjährung schon durch Protest des in seiner Rechtsposition verletzten Staates gehindert werden könne. Dagegen komme dem Verhalten von Drittstaaten eine geringere Bedeutung zu. 267 Demgegenüber wird in der Literatur darauf verwiesen, daß der einsame und fruchtlose Protest einer Regierung die Legalisierung 264

Vgl. dazu bereits S. 15 f und 20. V. Walt (1) S. 185, der allerdings von dem Modell der Veijährung ausgeht (vgl. a.a.O. S. 181 f, 183). 266 V. Walt( 1)S. 185. 267 V. Walt (1) S. 182. 265

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eines gewaltsam herbeigeführten Gebietserwerbs nicht hindern könne.268 Soweit andere Autoren ähnlich wie v. Walt die acquiescence des betroffenen Staates fordern, beziehen sie sich jedoch nur auf Fälle der Ersitzung in Folge einer bloßen Teilannexion. 69 Vorliegend ist festzustellen, daß gerade der lang andauernde Militäreinsatz in Tibet zur faktischen Konsolidierung der Strukturen geführt hat. Auch das Beispiel der baltischen Staaten zeigt, daß sich die erforderliche Konsolidierung auch unter einer massiven Militärherrschaft entwikkeln kann. Demgegenüber ist festzustellen, daß die Gründung der tibetischen Exilregierung und der sporadisch manifestierte Unabhängigkeitswille der Bevölkerung die faktische Konsolidierung der chinesischen Annexion nicht gehindert haben. 3. Fazit zum Abwehrrecht der Tibeter

Das Selbstbestimmungsrecht als klassisches Abwehrrecht kann nur von Staatsvölkern in Anspruch genommen werden. Der Staat Tibet wurde jedoch annektiert. Die Fiktion eines fortbestehenden tibetischen Staates wäre abhängig von einer mangelnden Stabilität der chinesischen Herrschaft in Tibet sowie insbesondere auch von einem entsprechenden Widerstand der Staatengemeinschaft gegen die Annexion. Dieser Negativtatbestand kann jedoch zumindest für die letzten Jahrzehnte nicht mehr bejaht werden. Vielmehr kam die vorstehende Untersuchung zu dem Ergebnis, daß sich die chinesische Herrschaft in Tibet zwischenzeitlich konsolidiert hat. Daher muß davon ausgegangen werden, daß Tibet als Staat, vorbehaltlich eines späteren Wiederauflebens, erloschen ist.270 Da Tibet als Staat zwischenzeitlich erloschen ist, können die Tibeter das Selbstbestimmungsrecht in der Ausgestaltung als Abwehrrecht für ihre Forderungen nicht mehr fruchtbar machen. 268 Doehring in EPIL (7) S. 73 für die Ersitzung; Jennings S. 23, 25 f billigt dem Protest nur Einfluß für das Institut der Veijährung, nicht aber im Rahmen der Konsolidierung zu; nach Thürer (Das Sbr) S. 99 sollen sich Drittstaaten bei ihrer Anerkennungspraxis maßgeblich am Willen der Bevölkerung orientieren. 269 So Zimmer S. 201, 211, 214; Verdross/Simma S. 758, § 1162. 270 Im Ergebnis ebenso Partsch bei McCorquodale/Orosz S. 110, der aber bereits die vormalige Eigenstaatlichkeit Tibets in Frage stellt. Auch Berman bei McCorquodale/Orosz S.93 (arg. ex S. 90), der auf das Erlöschen eines Staates durch erzwungenen Annexionsvertrag abstellt. A. A. v. Walt (1), der einerseits einen Titelerwerb ohne Einwilligung der Bevölkerung selbst durch gefestigte Annexion verneint (S. 180 ff) und zudem die Voraussetzung für eine Konsolidierung im Rahmen der Ersitzung als nicht gegeben ansieht (S. 185, 181 f, 183).

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III. D a s S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t als Restitutionsanspruch

Ausgangspunkt dieser Fallgruppe ist die Frage, ob mit dem Erlöschen des Staates zugleich die Rechtsposition des ehemaligen Staatsvolkes verloren geht. Wird diese Frage zugunsten des ehemaligen Staatsvolkes verneint, so kann das Selbstbestimmungsrecht als Anspruch des Staatsvolkes auf Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit das Abwehrrecht des Staates selbst überdauern. Die nachfolgende Untersuchung wird zeigen, daß das Selbstbestimmungsrecht auch in solchen Fallgestaltung anwendbar ist. Es ist dann als Restitutionsanspruch auf Wiederherstellung der Staatlichkeit gerichtet. Die in der vorangehenden Erörterung getroffene Feststellung, daß Tibet zumindest in der Zeit von 1913 bis 1950 ein völlig souveräner Staat war, fuhrt aber nicht automatisch zur Bejahung eines Restitutionsanspruchs für die Tibeter. Vielmehr existieren für diese Fallgruppe Grenzen, die dem Restitutionsanspruch immanent sind. Diese Grenzen ergeben sich insbesondere aus der Anwendbarkeit des modernen Völkerrechts auf länger zurückliegende historische Vorgänge sowie der Frage, inwieweit die Wiederherstellung vormaliger Zustände trotz zwischenzeitlich eingetretener faktischer Veränderungen noch zulässig sein kann. 1. Der Restitutionsanspruch als Recht ehemaliger Staatsvölker

Der Anspruch auf Wiederherstellung vormaliger Staatlichkeit knüpft an das Selbstbestimmungsrecht in der Ausprägung als Abwehrrecht von Staatsvölkern an und stellt eigentlich einen verlängerten Abwehranspruch dar. Die Einordnung als eigenständige Fallgruppe rechtfertigt sich daraus, daß das Substrat, auf den sich der Anspruch richtet, nämlich die Eigenstaatlichkeit, bereits nicht mehr existiert. Dieser Umstand ist für das traditionelle Völkerrechtsverständnis von erheblicher Bedeutung, das ursprünglich nur Staaten als Völkerrechtssubjekte anerkannte und das Selbstbestimmungsrecht als Recht von natürlichen Personen nur in Ausnahmefällen zuläßt. 271 Für das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht erleichterte daher gerade die Kongruenz von staatlichem Recht zur Selbstverteidigung und Abwehrrecht des Staatsvolkes den Konsens darüber, in diesen Fällen auch das Volk selbst als Rechtsträger anzusehen. Für ehemalige Staatsvölker bedarf es somit des Nachweises, 2,1 Vgl. für diese, die Diskusssion um das Selbstbestimmungsrecht prägende Grundeinstellung schon unter A. III. 1. sowie die Literaturnachweise unter C. II. 1.1.

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daß deren Selbstbestimmungsrecht trotz Wegfall der Kongruenz zum staatlichen Verteidigungsrecht fortbesteht. 1.1. Eigene Rechtsposition von Völkern im Völkerrecht

Die Notwendigkeit einer gegenüber den Rechten des Staates eigenständigen Rechtsposition des Staatsvolkes ergibt sich aus dem Wesensunterschied zwischen dem Staat als Körperschaft und seinem Volk als natürlichem Personenkollektiv. Wie bereits dargelegt, wird von einigen Autoren auch für einen untergegangenen Staat die Möglichkeit des Wiederauflebens dann anerkannt, wenn sein Erlöschen durch einen Verstoß gegen das Gewaltverbot herbeigeführt worden ist.272 Da seine Strukturen aber zerschlagen sind, macht es freilich wenig Sinn, ihm entsprechende Rechte einzuräumen. Für das Staatsvo/Ä gilt diese Überlegung jedoch nicht. Da es sich bei letzteren um natürliche Personen handelt, erscheint es nicht angebracht, deren Rechtsstellung von der des Staates abhängig zu machen, dessen Existenz als körperschaftliches Rechtssubjekt sich nach anderen Maßstäben vollzieht. Vielmehr kann in einem ehemaligen Staatsvolk das Bewußtsein eigenständiger nationaler Identität noch über den Staatenuntergang hinaus lebendig bleiben. Aus diesem Grund ist es aber auch gerechtfertigt, daß zugleich seine eigenständige Rechtspersönlichkeit erhalten bleibt. 273 Insoweit verweist Meissner auf die Anerkennung der tschechoslowakischen Nation als kriegführende Partei im Ersten Weltkrieg. Dies sei der Präzedenzfall für die Anerkennung eines völkerrechtlichen Anspruchs eines Volkes im soziologischen Sinn gegen den Staat, dem es nach Staats- und Gebietszugehörigkeit angehörte. 274 Die Differenzierung zwischen Rechten des Staates und denen des Staatsvolkes läßt sich gerade auch für das Selbstbestimmungsrecht anhand der UNO-Praxis nachweisen. In der allgemeinen Untersuchung zum Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts wurde bereits auf die unbestrittene Feststellung verwiesen, daß in dem Selbstbestimmungsrecht eine eigenständige Rechtsposition von natürlichen Personen im Gegensatz zu Staaten zum Ausdruck kommt. 275 Für das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht ist zunächst festzuhalten, daß sich der 272 273 274 2,5

Dazu bereits oben S. 149 m. Nw. in Fn. 232 und S. 152 m. Nw. in Fn. 245. Dazu Rumpf S. 14; ebenso: Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 401 ff. Meissner in Nation und Selbstbestimmung S. 52 f. Vgl. oben untere. I. 3.

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Rechtsanspruch des Volkes hinsichtlich Tatbestandsvoraussetzung und Inhalt mit dem Integritätsanspruch des verletzten Staates deckt. 2 6 Mit Tomuschat ist daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß das defensive Selbstbestimmungsrecht eines Staatsvolkes so lange leer läuft, wie der Staat selbst noch die Verletzung seiner Souveränität geltend machen kann. Dem Selbstbestimmungsrecht als ein gegen Fremdherrschaft gerichteter Anspruch kann daher erst dann eine eigenständige Bedeutung zuwachsen, wenn sich der Schutz durch das Gewaltverbot als ineffektiv erwiesen hat. 277 Anderenfalls müßte angenommen werden, daß in den einschlägigen Dokumenten der UNO mit dem Schutz staatlicher Integrität einerseits und dem Selbstbestimmungsrecht andererseits zweimal der gleiche Rechtsinhalt festgestellt wurde. Soviel Aufhebens um ein völlig leerlaufendes Recht kann aber nicht angenommen werden. Die Eigenständigkeit der Rechtsposition eines Staatsvolkes kommt dementsprechend auch in zahlreichen UN-Resolution anläßlich militärischer Aggression zum Ausdruck. Diesbezüglich sei auf die Nachweise aus der UN-Praxis für das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht verwiesen. In diesem Zusammenhang sei auch darauf verwiesen, daß die Generalversammlung verschiedentlich ihre Unterstützung für den Kampf des palästinensischen Volkes um die Wiedererlangung seines Rechtes auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit ausgesprochen hat, obwohl dieses vormals noch keinen eigenen Staat gegründet hatte. 278 Außerdem wird die Zuerkennung dieses Anspruchs auf Restitution der früheren Unabhängigkeit auf die Feststellung gegründet, daß die palästinensischen Siedlungsgebiete von Israel rechtswidrig einverleibt wurden. 279 Daraus läßt sich folgern, daß gerade die Rechtswidrigkeit der Inkorporation für die Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts entscheidend ist.280 Demgegenüber ist die Existenz eines Staates zur Vermittlung des Selbstbestimmungsrechts nicht zwingend notwendig. 281 276 Auf die Kongruenz beider Rechtspositionen verweist zum Beispiel Tomuschat in FS Haug S. 343 f, 348 ff. 277 Ebenso Tomuschat in FS Partsch S. 208. 278 Zum Beispiel: GA-Resolution 3236 (XXIX) v. 22.11.1974, Zif. 6; 33/44 v 23.11 1979, Zif. 15; 46/82A v. 16.12.1991, Präambel Absatz 9. 279 Zum Beispiel GA-Resolution 46/82A v. 16.12.1991, Präambel Absatz 9, Zif. 3. 280 Darauf abstellend auch Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 401 f. 281 Ahnlich Fiedler in EPIL (10) S. 67: zur neuen Tendenz im Völkerrecht zum Problem der Staatenkontinuität bei Verlust objektiver Staatlichkeitsmerkmale nicht auf diese Faktoren abzustellen, sondern dem Selbstbestimmungsrecht die Priorität einzuräumen.

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1.2. Selbstbestimmung trotz konsolidierter Annexion

Für die Rechtsfolgen einer Annexion wurde in dieser Arbeit festgestellt, daß diese zwar als völkerrechtswidriger Akt keine unmittelbaren Rechtswirkungen auslöst, jedoch infolge konsolidierter Herrschaftsausdehnung ein Erlöschen des annektierten Staates bewirkt.282 Die Frage, ob der annektierende Staat mit der Konsolidierung zugleich einen Titel über das einverleibte Gebiet erwirbt, konnte bislang offen gelassen werden. Ein solcher Titel könnte dem ehemaligen Aggressor aber eine das Selbstbestimmungsrecht ausschließende Rechtsposition verschaffen. Die Erörterung dazu kann sich auf den Aspekt beschränken, ob der annektierende Staat infolge Konsolidierung eine Rechtsposition erworben hat, die er gegen das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Bevölkerung einwenden kan. Auf etwaige territoriale Schutzrechte gegenüber anderen Staaten kommt es demgegenüber für das hier relevante Problem nicht an.283 Selbst wenn man einen Titelerwerb als spiegelbildlichen Vorgang zum Erlöschen des besiegten Staatssubjektes bejahen wollte, ist damit aber nicht zwingend die Schlußfolgerung verbunden, daß dieser Titel absolut gegen alle konkurrierenden Ansprüche, insbesondere das Selbstbestimmungsrecht, schützt. Vielmehr ist eine nur relative Wirksamkeit territorialer Titel schon fiir andere Fallkonstellationen vertreten worden.284 Mit Murswiek ist daher in Fällen konsolidierter Annexion davon auszugehen, daß der neue Territorialstatus im Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht des ehemaligen Staatsvolkes unwirksam ist.285 Etwas anderes kann nur gelten, wenn der Titelerwerb durch die Zustimmung der betroffenen Gebietsbevölkerung erfolgt ist.286 Sofern letzterer Fall nicht

282

Vgl. S. 146 ff. Vgl. dazu, daß die VRC möglicherweise selbst einen Titelerwerb infolge Konsolidierung durch ihre eigenen Praxis präkludiert hat S. 149 f. 284 Vgl. Shaw in NethYBIL 13/1982, 89 für koloniale Titel. Differenzierend mit anderem Ansatz für Fälle der Teilannexion auch Zimmer S. 209. Nach Oeter in ZaöRV 52/34, 1992, 748 stehen Selbstbestimmungsrecht und territoriale Integrität in einem Spannungsverhältnis, so daß sie in Relation zueinander gesetzt werden müssen. Zur inhaltlichen Bestimmtheit der territorialen Integrität vgl. auch Rozakis in EPLL (10) S. 486. 285 Murswiek in Der Staat 23/1984, 544. 286 So Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 402. 283

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eintritt, handelt es sich daher bei der angestrebten Unabhängigkeit nicht um eine Sezession im eigentlichen Sinn. 87 Die Literatur bejaht das Selbstbestimmungsrecht durchweg für Annexionsfalle, ohne zu differenzieren, ob sich aus einer gefestigten Annexion eine andere Rechtsfolge ergibt. 288 Allerdings wird das Selbstbestimmungsrecht von einigen Autoren auch ausdrücklich für ehemalige Staatsvölker bejaht. 289 Für Fälle, in denen nach Annexion bereits stabilisierende Maßnahmen getroffen worden sind, wird häufig die treffendere Bezeichnung der Restitution verwendet. 290 Entsprechend soll zur Abgrenzung von der zuvor erörterten Fallgruppe auch hier das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch bezeichnet werden. 291 1.3. Der Restitutionsanspruch in der Völkerrechtspraxis 1.3.1. Keine zeitliche Befristung des Abwehrrechts

Bereits im Eingang zu diesem Kapitel ist festgestellt worden, daß der Restitutionsanspruch im Prinzip nur ein zeitlich verlängerter Abwehranspruch ist. Darüber hinaus kann sogar gesagt werden, daß bereits die Übung zum Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht zugleich auch den Anspruch auf Restitution enthält. So folgt aus der Zuerkennung des Abwehrrechtes bei militärischer Besetzung in Verbindung mit dem Gewaltverbot ein Anspruch auf Wiederherstellung des verletzten Status. Die Resolutionspraxis der UNO zeigt, daß dieser Anspruch in einigen Fällen über viele Jahre hinweg aufrechterhalten wurde. 2 Somit kommt 281

Ähnlich: Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 402: keine völkerrechtswidrige Sezession; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 750: Rückgängigmachung einer Annexion als unechte Sezession. Zum Sezessionsbegriff auch schon unter C. III. 2.1. 288 So Wolfrum/Doehring nach Artikel 1 Rn. 31; Für den CCPR: Novak Artikel 1 Rn . 31 und Cassese S. 95. 289 So Murswiek in Der Staat 23/1984, 538 Fn. 42; Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 402 f; Buchheit S. 117 f flir die traditionelle Doktrin der USA. Im Ergebnis ebenso: Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 755, der den Annexionsfall ausdrücklich neben die bloße Besetzung stellt; Roggemann in FAZ vom 27.6.1991, 7 f ohne allerdings auf die Rechtswidrigkeit des Staatenuntergangs abzustellen; auch Cristescu S. 29 § 203 in Verbindung mit S 40, § 276, der das Selbstbestimmungsrecht erst durch eine sich später entwickelnde Verbindung zwischen beiden Völkern gefährdet sieht. 290 So: Cristescu S. 29, § 202; Tomuschat in FS Partsch S. 208 (allerdings als staatliches Recht). 291 So schon Murswiek in Der Staat 23/1984, 544. 292 Vgl. die Nw. oben S. 106 f.

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in der Resolutionspraxis zum defensiven Selbstbestimmungsrecht keine zeitliche Begrenzung zum Ausdruck. Das spätere Umschlagen in einen Restitutionsanspruch bei gefestigter Annexion ist daher schon im Abwehrrecht angelegt. Einschränkend ist allerdings festzustellen, daß es sich in den oben zitierten Fällen nicht um Gesamtannexionen eines Staates handelte. Die Frage eines Erlöschens durch Annexion stellte sich somit für diese Fälle nicht. Im folgenden soll daher der Fall einer solchen Gesamtannexion näher untersucht werden. 1.3.2. Die Praxis gegenüber den baltischen Staaten

Nach dem hier vertretenen Standpunkt zu diesem Vorgang bietet gerade die Staatenpraxis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit durch die baltischen Staaten Anhaltspunkte für die Frage nach einem Restitutionsanspruch. Bei der Erörterung zur Konsolidierung nach Annexion wurde festgestellt, daß der Meinung der Vorzug zu geben ist, nach der die baltischen Staaten in der Zeit nach ihrer Annexion bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit untergegangen waren. Die Haltung der Staatengemeinschaft hierzu war uneinheitlich. Es ist somit festzustellen, daß zumindest zahlreiche Staaten von dem Untergang der baltischen Staaten ausgingen. 293 Gleichwohl wurden diese von der Staatengemeinschaft bereits vor dem eigentlichen Beginn des sowjetischen Dismembrationsprozesses gegenüber den sonstigen Republiken der UdSSR privilegiert. Wenn auch anfänglich auf die Notwendigkeit von Verhandlungen hingewiesen wurde, so wurden die Unabhängigkeitsbestrebungen von den westlichen Staaten bereits von Anfang an als legitim bezeichnet. 294 Schließlich erfolgte die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit durch zahlreiche Staaten, noch bevor die UdSSR die Baltenrepubliken anerkannt hatte. 295 Zudem war die völkerrechtliche Vorbedingung ef-

293

Vgl. S. 151 ff. So eine Erklärung der EG im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 30 vom 20.3.1991, 227, in der auch der Dialog zwischen der UdSSR und den baltischen Staatsorganen gefordert wurde; ähnlich auch der US-Präsident Bush in einem Brief an den litauischen Präsidenten vom 15.8.1991: FAZ vom 16.8.1991. 295 Anerkennung durch das international noch nicht anerkannte Russland am 24.8.1991 sowie Island, Ungarn, Dänemark und Norwegen am 25.8.1991: FAZ v. 26.8.1991, durch die EG am 27.8.1991: Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 90 v. 30.8.1991, 722, durch die USA am 2.9.1991: FAZ v. 3.9.1991. Noch in einer unmittelbaren Reaktion auf die Anerkennung durch die EG hatte der Präsident der UdSSR diese als "übereilt" bezeichnet: FAZ vom 28.8.1991. Die Anerkennung durch die UdSSR erfolgte erst am 6.9.1991: FAZ vom 7.9.1991. Die Aufnahme in die UNO erfolgte dar294

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fektiver Staatsgewalt mehr als fraglich, da die sowjetische Zentralgewalt noch massive Truppenverbände in den baltischen Staaten stationiert hatte und diese sowie weitere Verbände bereits zu Beginn des Jahres 1991 zur Unterdrückung von Unabhängigkeitsbestrebungen im Baltikum eingesetzt hatte. 296 Die Praxis der anerkennenden Staaten läßt sich nicht mit dem in der sowjetischen Verfassung verankerten Sezessionsrecht rechtfertigen. Zum einen hatten sich die baltischen Republiken bei ihren Unabhängigkeitserklärungen gar nicht auf ein gesetzliches Sezessionsrecht berufen. Sie beriefen sich nicht auf eine legitime Loslösung, sondern auf die legitime Wiederherstellung ihrer de iure fortbestehenden Staatlichkeit. 297 Zum anderen stellten die entsprechenden Regelungen des sowjetischen Rechts derart große Hürden auf, daß eine Lostrennung nach dem dort vorgesehenen Verfahren wohl mit Sicherheit verhindert worden wäre. Durch einseitige Proklamation war nach diesem Verfahren eine Loslösung auch gar nicht möglich. 298 Diese Überlegungen werden auch von der Staatenpraxis gestützt. In Fällen echter Sezession findet die Neugründung eines Staates statt. Demgegenüber wurde aber in den Erklärungen des SichR und der EG festgestellt, daß die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit wiedergewonnen beziehungsweise wiederhergestellt hätten. 2 Damit wurde aber eine Kontinuität zu den vormals annektierten Staaten zugrundegelegt. Da die Unabhängigkeit von den beteiligten Drittstaaten somit nicht als eine durch innerstaatliches Recht legitimierte Sezession angesehen werden konnte und auch nicht als eine solche angesehen wurde, muß sich aufhin am 18.9.1991: vgl. SichR-Resolutionen 709 (1991), 710 (1991) und 711 (1991) v. 12.9.1991. 296 Im Januar und Mai 1991 war es zu massiven Militäreinsätzen in den baltischen Republiken gekommen. Wenn auch die politische Verantworlichkeit für diese Einsätze zweifelhaft blieb, so wurde damit doch die effektive Kontrolle der sowjetischen Zentralgewalt bewiesen: vgl. FAZ vom 8., 9., 11., 12., 13. und 14. Januar 1991 sowie vom 11. und 24.5.1991. 291 Darauf verweisen auch Schweisfurth in ZaöRV 52/3-4, 589 und 626 f sowie Hanneman in VJ1L 35/2, 1995, 506. 298 Zu Artikel 17 der UdSSR-Verfassung: Uibopuu S. 126 ff; zu dem Sezessionsgesetz vom 3.4.1990: Schweisfurth in ZaöRV 52/3-4, 598 ff, insbesondere 600 f, 605 f. 299 Vgl. die Erklärung des Präsidenten des SichR v. 12.9.1991 (UN-Dok. S/23032) in VN 3/1992, 106; Erklärung der EG abgedruckt im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 90 vom 30.8.1991, 722, in der es hieß, daß "nach mehr als 50 Jahren ... diese Staaten wieder den ihnen gebührenden Platz unter den Nationen Europas einnehmen."

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die Anerkennungspraxis auf andere Grundlagen stützen, um nicht als vorzeitige Anerkennung dem Verdikt der Völkerrechtswidrigkeit zu unterliegen. Als solche Grundlage kommt aber nur das Selbstbestimmungsrecht in Betracht. 300 Auch die Staatenpraxis weist auf die Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts hin. So wurde verschiedentlich erklärt, daß die Unabhängigkeit der baltischen Republiken im Einklang mit dem Willen der drei Völker wiedererlangt wurde. 301 Zu fragen bleibt danach lediglich, in welchem seiner Anwendungsbereiche das Selbstbestimmungsrecht als einschlägig erachtet wurde. Die Anerkennung der übrigen Sowjetrepubliken aufgrund des Selbstbestimmungsrechts ihrer Bevölkerung konnte mit dem Zerfall der UdSSR gerechtfertigt werden. 302 Mit dem Dismembrationsprozeß läßt sich die Staatenpraxis zu den baltischen Staaten jedoch nicht erklären. Die Unabhängigkeitserklärungen der baltischen Republiken erfolgten im März und Mai 1990.303 Noch im Juli 1991 war der Entwurf für einen neuen Unionsvertrag veröffentlicht worden. An diesem Vertrag wollte noch im August auch der einflußreiche russische Präsident festhalten. 304 Beispielhaft für die anerkennenden Länder ist auf die EG zu verweisen, die auch nach der Anerkennung der baltischen Staaten vom Fortbestand der UdSSR ausging. 305 Demgegenüber können erst die kurz aufeinander folgenden Unabhängigkeitserklärungen der meisten anderen Sowjetrepubliken nach dem 25. August als Beginn des Zerfallsprozesses angesehen werden. Die Anerkennung fand demnach zu einem Zeitpunkt statt, als der Dismembrationsprozeß allenfalls am Anfang stand und auch von den Drittstaaten in seiner Tragweite noch nicht erkannt wurde. 306

300

Vgl. dazu schon oben S. 61 f. So der Präsident des SichR in seiner Erklärung vom 12.9.1991 (UN-Dok. S/23032) in VN 3/1992, 106; Erklärung der deutschen Bundesregierung anläßlich der Anerkennung im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 90 vom 30.8.1991, 721. 302 Dazu unter D. I. 1. 303 Durch das litauische Parlament am 11.3.1990, durch das estnische Parlament am 30.3.1990 und durch das Parlament Litauens am 4.5.1990, vgl. dazu Schweisfurth in ZaöRV 52/3-4, 627. 304 FAZvom 28.7.1991 und 14.8.1991. 305 Abgedruckt im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 90 vom 30.8.1991, 723 in der nach dem gescheiterten Putsch die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung begrüßt wurde. 306 Ebenso Rieh in EJIL 4/1, 1993, 38 in Verbindung mit S. 44 ff. 301

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Als Grundlage für die vorzeitige Anerkennung kommt daher nur das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht in Betracht. 307 Auszugehen ist aber von der in dieser Arbeit vertretenen Prämisse, daß die baltischen Staaten zwischenzeitlich untergegangen waren. Bemerkenswert ist insoweit die EG-Erklärung zur Anerkennung. Darin wird der Beschluß bekräftigt, zu den in ihrer Unabhängigkeit wiederhergestellten baltischen Staaten diplomatische Beziehungen herzustellen. 308 In dieser Erklärung wird einerseits von einer wiederhergestellten Unabhängigkeit ausgegangen, diese Kontinuitätsformel wird aber andererseits nicht auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ausgedehnt. 309 Diese Unterscheidung ist gerade auch im Hinblick auf diejenigen Staaten verständlich, die in bezug auf die Annexion in den vierziger und fünfziger Jahren einen formalen Vorbehalt gegenüber der UdSSR erklärt hatten. Denn auch unter diesen befanden sich Staaten, deren diplomatische Beziehungen zu den baltischen Staaten bereits jahrzehntelang geruht hatten. Daher mußten auch diese Staaten die zumindest bestehenden Unsicherheiten über den Status der baltischen Republiken mitberücksichtigen. 310 Diese Interpretation wird auch nicht durch die oben dargelegte Haltung der anerkennenden Staaten widerlegt, daß ein Fall staatlicher Kontinuität vorgelegen habe. Wie schon dargestellt, schließt auch ein Staatenuntergang durch Konsolidierung die Möglichkeit der staatlichen Wiedergeburt in alter Rechtspersönlichkeit nicht aus. 3 " Auch fanden sich unter den anerkennenden Nationen solche Staaten, die in ihrer Politik eindeutig vom Untergang der baltischen Staaten ausgegangen waren. 312 30

' Hanneman in VJIL 35/2, 1995, 505 ff hält auch ein Sezessionsrecht wegen Diskriminierung sowie existenzieller und kultureller Bedrohung durch Russland für gegeben. Aus der Staatenpraxis, die die Wiedererlangung der Unabhängigkeit begleitete, lassen sich dafür jedoch keine Anhaltspunkte finden. 308 Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 90 vom 30.8.1991, 722. Daneben enthält die Erklärung aber auch eine dahingehende Kontinuitätsformel, daß die gewählten Parlamente und Regierungen von der EG und ihren Mitgliedern stets als legitime Vertreter dieser Völker angesehen wurden. Aus dieser Formel kann aber nicht ohne weiteres darauf geschlossen werde, daß damit ein zwischenzeitlicher Staatenuntergang ausgeschlossen wurde. Denn diese Haltung fand sich eben nicht in der Praxis aller EGMitglieder wieder: vgl. dazu Meissner in EPIL (12) S. 46 f. 309 Anders die Verlautbarung der deutschen Bundesregierung: Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 90 vom 30.8.1991, 721. 310 Dazu, daß diese Unsicherheiten nicht schon durch die Unterlassung der expliziten Anerkennung der Annexion beseitigt wurden: Cremford in BYIL 1976-1977, 175 f. Vgl. zur Auswirkung dieser Staatenpraxis auf den Status der baltischen Staaten schon oben S. 151 ff. 311 Vgl. oben S. 149, 152. 312 So die Niederlande und eventuell auch die Schweiz: vgl. FAZ vom 29.8.1991.

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Aus der Untersuchung ist die Schlußfolgerung zu ziehen, daß mit der vorzeitigen Anerkennung der baltischen Republiken nicht dem Selbstbestimmungsrecht entsprochen wurde, das dem staatlichen Abwehrrecht entspricht. Denn diese Staaten waren zwischenzeitlich untergegangen. Somit kommt auch in der Staatenpraxis zu den baltischen Republiken zum Ausdruck, daß das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch nach Untergang eines annektierten Staates fortbesteht und die Wiederherstellung der Unabhängigkeit legitimiert. 1.3.3. Schlußfolgerung

In Übereinstimmung mit Dogmatik und Praxis ist das Selbstbestimmungsrecht auch dem Staatsvolk eines zwischenzeitlich untergegangenen Staates als Restitutionsanspruch zuzugestehen. Voraussetzung ist allerdings, daß die inkorporierte Gebietsbevölkerung noch die Wesensmerkmale besitzt, die ein Staatsvolk ausmachen. In der Bevölkerung muß daher noch das Bewußtsein der eigenen nationalen Identität verbunden mit einem entsprechenden Anspruch auf Eigenstaatlichkeit vorhanden sein. Nach Gusy soll zu den Voraussetzungen auch die Geschlossenheit des Siedlungsgebietes zählen. Ist der Siedlungsraum der Volkes zersplittert und hat es sich über weite Gebiete verstreut, soll das Selbstbestimmungsrecht ausgeschlossen sein.313 In solchen Fällen entsteht jedoch zugleich das Problem, inwieweit Rechte der neuen Gebietsbevölkerung zu beachten sind und mit welchen Konsequenzen die völkerrechtliche Legalität der demographischen Veränderung zu bewerten sind. Die Antwort auf diese Fragen hängt stark von den Gegebenheiten des Einzelfalles ab. Daher soll das Problem der demographischen Veränderungen als gesonderter Aspekt erst im Rahmen der Subsumtion des TibetProblems unter diese Fallgruppe erörtert werden. 2. Der Restitutionsanspruch für die Tibeter 2.1. Die allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen

Die Erörterung des Selbstbestimmungsrechts als Abwehrrecht kam zu dem Ergebnis, daß ab 1913 ein tibetischer Staat mit unbeschränkter Souveränität existierte. Zudem wurde festgestellt, daß dieser Staat 3,3

Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 402 f.

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durch die Konsolidierung der Annexion von 1950 in den nachfolgenden Jahrzehnten untergegangen ist. Somit ist von einem ehemaligen tibetischen Staatsvolkes auszugehen, dessen andauernder Wille zur Eigenständigkeit bereits im Einleitungskapitel dieser Arbeit bei der Beschreibung der aktuellen Situation festgestellt werden konnte. Damit sind die allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen für das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch gegeben.314 2.2. Intertemporales Recht 2.2.1. Das Selbstbestimmungsrecht für historische Vorgänge

Im Fall der Tibeter kann mit der positiven Feststellung der allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen für den status quo jedoch noch nicht auf die Zuerkennung des Restitutionsanspruches geschlossen werden. Vielmehr sind auch hier die Grundsätze des intertemporalen Rechts zu beachten. Nach dem ersten Grundsatz des Intertemporalen Rechts sind Fakten unter Anwendung jenes Rechts zu würdigen, das zum Zeitpunkt des jeweiligen Vorganges in Geltung war. Dies bedeutet, daß eine Rechtsposition aufgrund bestimmter Umstände nur dann geltend gemacht werden kann, wenn diese Umstände schon zum Zeitpunkt ihres Vorliegens rechtserheblich waren und daher diesen Rechtsanspruch begründeten. Die Grundsätze des Intertemporalen Völkerrechts werden in der Literatur nicht mehr bestritten. Ihr Inhalt wird häufig auch unter der Formel tempus regit actum angewandt. Sie werden überwiegend als anerkannte, allgemeine Rechtsgrundsätze eingeordnet.315 Die Regel des ersten Grundsatzes, auf das Selbstbestimmungsrecht angewandt, bedeutet, daß die Tatbestandsvoraussetzungen einer Fallgruppe zum Selbstbestimmungsrecht noch zu einer Zeit vorgelegen haben müssen, in der das Selbstbestimmungsrecht bereits Bestandteil des Völkerrechts war. Anderenfalls würde das Selbstbestimmungsrecht als In314 Im Ergebnis ebenso Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 750, der allerdings auf die Unwirksamkeit der historischen chinesischen Titel sowie der Annexion abstellt: die Verselbständigung Tibets als Fall "unechter Sezession", da ihr kein wirklicher Titel territorialer Souveränität entgegenstehe. 315 Vgl. zum Beispiel Blum S. 194 ff m.w.N. aus der internationalen Rechtsprechung S. 198 ff; Baad? in JIR 7/1958, 243; Verdross/Simma S. 417, § 650 f. Ohne dogmatische Einordnung auch: Torres in EPIL (10) S. 499; Crawford S. 174 f. Kritisch noch Jennmgs S. 30, zu Jennings vgl. Blum S. 202. Vgl. zum zweiten Grundsatz des Intertemporalen Rechts unten S. 199.

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strument zur Revision der Weltgeschichte mißverstanden.316 Das Intertemporale Völkerrecht ist demnach im Sinne einer Einschränkung auch für den Restitutionsanspruch von Völkern zu beachten. Ausgangspunkt der Überlegung ist die Entstehung dieses Anspruches durch ein Umschlagen des Abwehrrechts eines Staatsvolkes in den Wiederherstellungsanspruch. Diese Metamorphose kann nach dem dargestellten Grundsatz nur stattfinden, wenn das Selbstbestimmungsrecht zeitlich schon als Abwehrrecht zum Normenbestand des Völkergewohnheitsrechts gehörte, bevor die Staatsvolkeigenschaft mit dem Erlöschen des Staates verloren ging. Nur dann ist eine Rechtsposition vorhanden, die in den Restitutionsanspruch umschlagen kann.31 Im Zusammenhang mit der Tibet-Frage wird dieses Problem soweit ersichtlich nur von Oeter gesehen. Entsprechend seinem Ansatz, nach dem neben der Stimson-Doktrin bereits das Selbstbestimmungsrecht selbst die Wirksamkeit der Annexion hindert, folgt für ihn daraus die Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht zum Zeitpunkt der Annexion bereits Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts war und damit die Rechtserheblichkeit dieses Vorganges generell auszuschließen ist.318 Nach dem hier verfolgten Ansatz stellt sich das Problem jedoch anders dar. Für das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch folgt daraus vielmehr die Frage, ob sich das Selbstbestimmungsrecht spätestens im Zeitpunkt des Erlöschens tibetischer Eigenstaatlichkeit bereits zu Völkergewohnheitsrecht verfestigt hatte. Damit entsteht zugleich die Vorfrage, für welchen Zeitraum der Untergang des tibetischen Staates anzusetzen ist. 2.2.2. Zeitliche Bestimmung der Konsolidierung für Tibet

Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist das bereits oben gefundene Ergebnis, nach dem der tibetische Staat jedenfalls nicht schon durch den Annexionsakt selbst im Jahre 1951 untergegangen ist. Vielmehr erfolgte das Schwinden der staatlichen Existenz in Folge eines Konsolidierungsprozesses, der die Fiktion fortbestehender Souveränität beendete. Maß-

316

So schon Murswiek in Der Staat 23/1984, 547; auch Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 402. 317 Ebenso Murswiek in Der Staat 23/1984, 546, der das Problem unter dem parallelen Aspekt der endgültigen Aufhebung des Territorialstatus sieht. 318 Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 750 Fn. 42.

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geblicher Zeitpunkt für den Untergang des tibetischen Staates ist daher der Abschluß dieses Prozesses. Die ersten Jahre nach der Annexion können als Periode bis in das Jahr 1959 zusammengefaßt werden.319 Während dieser Zeit bestand das alte Regierungssystem unter dem Dalai Lama fort. Ausgenommen wurden allerdings im Rahmen des 17-Punkte-Abkommens die Außen- und Verteidigungspolitik. Daneben wurden vorbereitende Maßnahmen für die Konsolidierung des neuen Status geschaffen. So wurden entsprechend dem Abkommen parallel zur tibetischen Regierung Organe der zentralen chinesischen Staatsgewalt in Tibet eingerichtet, wodurch die faktische Autonomie eingeschränkt wurde. Insbesondere wurde das Vorbereitungskomitee zur Schaffung der "Autonomen Region Tibet" unter dem Vorsitz des Dalai Lama eingerichtet. In diese Phase fällt auch der Bau zweier Autobahnen, die Zentral-Tibet mit dem angrenzenden chinesischen Territorium verbanden und damit sowohl die Kommunikations- als auch die militärischen Nachschubwege stabilisierten. Die chinesische Regierung gab 1957 selbst die Parole aus, daß die Tibeter noch nicht reif für umwälzende Reformen seien.320 So blieben Eingriffe in die innere Struktur Tibets weitgehendst aus. Allerdings galt diese Politik der Zurückhaltung nur für das ehemalige tibetische Staatsgebiet und nicht auch für die angrenzenden und mehrheitlich von Tibetern bewohnten Regionen. Dazu ist jedoch festzustellen, daß diese Gebiete auch nicht unter die Regelungen des 17-Punkte-Abkommens fielen.321 Die Status Quo-Politik Chinas änderte sich allerdings in der Phase nach 1959 bis 1965. Die konsequente Durchfuhrung der Assimilierungspolitik Chinas in den ethnisch von Tibetern dominierten Gebieten westlich von Zentral-Tibet führte dort schon in der zweiten Hälfte der 50er Jahre zu ausufernden Aufständen, die auch als Kanting-Krieg bezeichnet werden.322 Diese griffen 1958 auch auf Zentral-Tibet über und führten zu den großen Unruhen in Lhasa im März 1959. Infolge dieser Umstände

319 Vgl. dazu zum Beispiel bei v. Walt (1) S. 156 f; auch die Phaseneinteilung bei Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 746 ff, 749. 320 V. Walt( 1)S. 162. 321 Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 749; Peissel S. 52. Vgl. auch bei Dawa Norbu in Tibetan Review 4/1992, 14: Der tibetischen Delegation soll bei der Aushandlung des Abkommens zugesichert worden sein, daß die Vereinigung der tibetisch besiedelten Gebiete separat überdacht würde. 322 Peissel S. 61; dazu auch v. Walt (1) S. 161.

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ereignete sich die Flucht des Dalai Lama ins indische Exil.323 Kurz darauf erklärte die chinesische Regierung am 28.3.1958 den Aufschub der Reformen für ungültig und die tibetische Regierung für abgesetzt.324 Das Gebiet Zentral-Tibets wurde daraufhin administrativ in 7 Distrikte mit Lhasa als separatem Stadtbezirk untergliedert.325 Gleichzeitig begann die chinesische Regierung mit der Einführung der "demokratischen Reformen" auch in Zentral-Tibet.326 Im Rahmen dieser Reformen wurden in drei Schritten bis 1965 folgende Maßnahmen durchgeführt: Die Landreform, in der das Eigentum der Feudalherren unter die Bauern verteilt wurde; die Initiierung der "sozialistischen Erziehungsbewegung" und schließlich die Einrichtung von Volkskommunen, in denen das Eigentum kollektiviert wurde. Im Jahr 1965 erfolgte die formelle Errichtung der Autonomen Region Tibet auf dem Territorium ZentralTibets. Damit war der administrative Status Tibets innerhalb der VRC festgelegt und sein Verwaltungs- und Wirtschaftssystem an das der VRC angepaßt. Neben der administrativen und ökonomischen Eingliederung ZentralTibets war jedoch auch noch die Befriedung der Region herzustellen. Dieser Vorgang kann als letzte Phase der Konsolidierung angesehen werden. Bereits im Frühjahr 1960 waren die Kämpfe zwischen der chinesischen Volksbefreiungsarmee und tibetischen Guerillas im Süden Zentral-Tibets wieder aufgeflammt. Erst im Jahr 1962 gelang es der Armee, eine gewisse Kontrolle über die Region Loka südöstlich von Lhasa zu erlangen.327 Die volle Wiederherstellung der tatsächlichen Kontrolle war jedoch ein Prozeß, der sich noch über Jahre hinzog. Noch im März 1967 mußte die gesamte Verwaltung nebst weiteren Einrichtungen der Kontrolle der Volksbefreiungsarmee unterstellt werden.328 Noch für die gesamte Dekade bis 1970 findet sich der Nachweis zahlreicher Aufstände, von denen allerdings nicht ganz klar ist, ob sie 323 Zu den Umständen der Flucht unter Betonung der Funktion des Widerstandes in Ost-Tibet sowie unter kritischer Sicht der Rolle des Dalai Lama vgl. Peissel S. 122 ff, 127 ff, 131 f, 152. Zur Gegensicht vgl. die Autobiographie des Dalai Lama S. 152 ff. 324 Hool S. 41; v. Walt( 1) S. 163. 325 Dazu: Richardson S. 245; Avedon S. 223; Peissel S. 163; Hool S. 41 auch zur weiteren Unterteilung. Eine kartographische Darstellung zum jüngeren Stand findet sich im Times-Atlas of China S. xxxvif. 326 Dazu Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 746 ff, 749 f; v. Walt (1) S. 162 ff, 166 ff; Hool S. 42 f. 327 Zu den Auseinandersetzungen Peissel S. 177 f und 245. 328 Herrfahrdt S. 203.

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sich auch auf Zentral-Tibet bezogen. 3 2 9 Jedenfalls waren die Unruhen in der A u t o n o m e n Region Tibet in den Jahren 1988 und 1989 lokal auf Lhasa beschränkt. Die letzten g r ö ß e r e n Unruhen führten zur Verhäng u n g des Kriegsrechts über Lhasa, das v o m 8.3.1989 bis z u m 30.4.1990 andauerte. Auch in den neunziger Jahren fanden noch zeitlich und räumlich begrenzte Protestdemonstrationen statt. 3 3 0 Die v o r a n g e g a n g e n e U n t e r s u c h u n g zur Staatlichkeit Tibets ergab, d a ß sich in der Völkerrechtsdoktrin keine exakten Tatbestandsvoraussetzungen f ü r das Erlöschen von Staaten durch Konsolidierung finden. D e n n o c h erlauben die beschriebenen Phasen zur tibetischen Assimilation an die V R C eine ungefähre zeitliche Abgrenzung. Die erste P h a s e v o n 1951 bis 1959 stand ganz unter den Leitlinien des 17-Punkte-Abkommens. In A u s f ü h r u n g dieses Vertrages w u r d e hauptsächlich auf den äußeren Status Tibets Einfluß genommen. Eine Eingliederung Tibets in administrativer und wirtschaftlicher Hinsicht fand damit j e d o c h noch nicht statt. Erst mit der von China forcierten U m g e staltung des inneren tibetischen Gesellschaftssystems im Anschluß an die Flucht des Dalai Lama 1959 w u r d e der W e g f ü r die faktische Einbindung Tibets in das staatliche G e f ü g e der V R C bereitet. Die Absetzung der tibetischen Regierung w a r j e d o c h nur der Auftakt f ü r einschneidende M a ß n a h m e n zur Angleichung der inneren Struktur Tibets an die der VRC. Diese nachfolgenden M a ß n a h m e n w u r d e n über einen Zeitraum von sechs Jahren ausgeführt. Z u d e m m u ß t e die Volksbefreiungsarmee in einer dritten P h a s e bis in die sechziger Jahre hinein in einem Guerillakrieg um die u n g e f ä h r d e t e Kontrolle in Zentral-Tibet ringen. Die administrativen und militärischen Aspekte der chinesischen Eingliederungspolitik fanden mithin erst Mitte der sechziger Jahre ihren Abschluß. E s bleibt somit festzuhalten, daß die Voraussetzungen f ü r eine Konsolidierung im Inneren frühestens ab Mitte der sechziger Jahre vorlagen. Die Konsolidierung hat j e d o c h auch ihren äußeren Aspekt, der in dem Verhalten von Drittstaaten zum Ausdruck kommt. Bereits im Einführungsteil der Arbeit w u r d e dargestellt, daß die Tibet-Frage in den Jah329

Vgl. die Aufzählung bei Peissel S. 245; Sharma S. 40 ff. Zu anhaltenden Kämpfen in Zentral-Tibet für die Jahre 1958/59 und 1967: Röper S. 182, 179, 186. Hool S. 50 stellt auch für die Jahre 1976 und 1977 Unruhen fest. 330 Zur aktuellen Situation vgl. schon S. 15 f, 20.

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ren von 1950 bis 1965 mehrfach Gegenstand von Diskussionen in der UN-Generalversammlung war. Dabei kam es zur Verabschiedung von drei Resolutionen, von denen nur eine einen Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter enthielt. Die anderen Resolutionen thematisierten hauptsächlich die Menschenrechtssituation und befaßten sich allenfalls am Rande mit Status-Fragen. 331 Erst in den letzten Jahren wurde das Schicksal der Tibeter wieder von der UN-Menschenrechtskommission (MRK) aufgegriffen und unter dem Aspekt der Menschenrechtssituation diskutiert. 3 2 Mithin fand die letzte Erörterung der Tibet-Frage auf UNO-Ebene in bezug auf Status-Fragen 1965 statt. Auch wenn darin noch keine acquiescence der Staatengemeinschaft zur Annexion Tibets zu sehen ist, war doch schon oben festgestellt worden, daß diese Nichtbeachtung der Tibet-Frage maßgeblich zum Erlöschen des Staates infolge Konsolidierung beigetragen hat. Der Beginn der Konsolidierung nach außen fallt somit mit der Verfestigung nach innen zusammen. Mit der Schaffung assimilierter Strukturen im Inneren einerseits und dem Schweigen der Staatengemeinschaft andererseits waren ab 1965 jedoch lediglich die tatsächlichen Bedingungen geschaffen, auf die eine nachfolgende Konsolidierung aufbauen konnte. Maßgeblich ist aber die zeitliche Stabilität dieser Zustände. Daher ist zu fragen, wie lange ein solcher Zustand aufrechterhalten werden muß, um das Erlöschen eines Staates zu bewirken. Ausgangspunkt ist das wiederholt aufgestellte Kriterium, daß mit dem Wiedererstarken der ursprünglichen Staatsgewalt nicht mehr gerechnet werden kann. Die dogmatischen Ansätze, nach denen im Rahmen der Verjährungsidee das reine Zeitelement betont wird, wurden bereits oben verworfen. Demgegenüber wurde das Verhalten der Staatengemeinschaft als wesentliches Element innerhalb des Konsolidierungsprozesses herausgearbeitet. Gerade für die Tibet-Frage ist hier das Jahr 1971 von Bedeutung. In diesem Jahr wurde die VRC anstelle der Republik China (Taiwan) ohne territoriale Vorbehalte als Repräsentant Chinas von der UNO anerkannt. Dieser Akt beinhaltete zugleich ein bedeutsames Unterlassen der Staatengemeinschaft in bezug auf die Fingierung der tibetischen Staatlichkeit. 331 332 333

Vgl. dazu schon S. 26 ff. Dazu unten S. 252 ff. Dazu S. 155 ff.

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Fraglich ist allenfalls, ob die nachfolgenden Unruhen sowie die Verhängung des Kriegsrechts über Lhasa die Verfestigung des Status Quo beeinträchtigten. Als Maßstab wurde herausgearbeitet, daß eine Befriedung im Sinne der Konsolidierung dann vorliegt, wenn die tatsächliche Kontrolle über das annektierte Gebiet nicht mehr von innen gefährdet ist. Das bedeutet aber auch, daß lokale und zeitlich begrenzte Unruhen die Annahme einer Konsolidierung nicht hindern. Zudem wurde bereits oben festgestellt, daß auch eine mit militärischen Mitteln aufrechterhaltene Kontrolle zu einer Stabilisierung fuhrt, sofern sie nicht ernsthaft bedroht ist. Die Erörterung der verschiedenen Phasen, in denen sich die chinesische Herrschaft nach 1951 konsolidiert hat, beinhaltete auch die Feststellung, daß der aktive Guerillawiderstand ab Ende der sechziger Jahre nur noch in lokal und zeitlich begrenzte Unruhen unter der Zivilbevölkerung mündete. Dies gilt insbesondere für die seit Ende der achtziger Jahre sporadisch wiederkehrenden Unruhen in Lhasa. Der reibungslose Ablauf der administrativen und wirtschaftlichen Verflechtungen Tibets mit China war durch diese Aktionen nicht mehr ernsthaft gefährdet. An dieser Feststellung ändert auch die zeitlich begrenzte Verhängung des Kriegsrechts über Lhasa von März 1989 bis April 1990 nichts. Es ist daher festzustellen, daß die Annexion Tibets in der ersten Hälfte der siebziger Jahre zu einer Konsolidierung des Status Quo gefuhrt hat. Das Erlöschen des tibetischen Staates ist somit ebenfalls für diesen Zeitraum anzunehmen. Damit ist davon auszugehen, daß die Tibeter jedenfalls noch bis in diese Zeit hinein die Qualität eines Staatsvolkes besaßen. 2.2.3. Verfestigung des Selbstbestimmungsrechts

Als Recht im Rahmen der Entkolonialisierung wurde das Selbstbestimmungsrecht in der Praxis bereits zu Beginn der sechziger Jahre umgesetzt. 334 Hier geht es jedoch um das Selbstbestimmungsrecht in seiner jüngeren Ausprägung als Abwehrrecht und Restitutionsanspruch gegenüber Fremdbestimmung. An die Entkolonialisierungspraxis als Sonderregime kann daher nicht angeknüpft werden. Jedoch haben bereits die UN-Charta und die GA-Resolution 1514 von 1960 das Selbstbestimmungsrecht als Recht aller Völker bezeichnet. Daneben gehen auch 334 Shaw in NethYBIL 13/1982, 71 Fn. 64 konstatiert eine Verfestigung dieses Selbstbestimmungsrechts zu Völkergewohnheitsrecht für den Anfang der sechziger Jahre.

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andere frühe UN-Resolutionen davon aus, daß die Souveränität und territoriale Integrität Gegenstand eigener Rechte von Völkern sind. So neben der Resolution 1514 auch die Resolution 2131 von 1965. Zudem wurde gerade den Tibetern bereits im Jahr 1961 in der schon mehrfach zitierten Resolution 1723 das Selbstbestimmungsrecht zuerkannt. Auf die Bedeutung des gleichlautenden Artikels 1 der Menschenrechtspakte für die gewohnheitsrechtliche Verfestigung des Selbstbestimmungsrechts wurde in dieser Arbeit bereits mehrfach hingewiesen. Zwar führte die anfangs zögerliche Ratifizierung der Pakte dazu, daß sie erst 1976 in Kraft treten konnten, jedoch wurde die Einfügung eines Rechtes aller Völker und Nationen auf Selbstbestimmung in die Pakte bereits im Jahr 1952 von der UNO beschlossen. 335 Einen vorläufigen Abschluß dieses Willensbildungsprozesses bildete die einstimmige Verabschiedung der endgültigen Vertragstexte durch die Generalversammlung der UNO im Jahr 1966.336 Als weiteres wesentliches Element in der Fortbildung des Selbstbestimmungsrechts zu Völkergewohnheitsrecht wurde die Deklaration 2625 von 1970 herausgearbeitet. Wie in vielen nachfolgenden Resolutionen wird in ihr das Selbstbestimmungsrecht als Recht aller Völker unter kolonialer- und Fremdherrschaft bezeichnet. In Anbetracht dieser Erklärungen, die nach allgemeiner Auffassung völkerrechtsgestaltenden Charakter haben, kann eine Verfestigung zu Völkergewohnheitsrecht nicht erst in den zeitlich nachfolgenden, für den Nachweis des Selbstbestimmungsrechts als Abwehrrecht zitierten, fallbezogenen Resolutionen der siebziger und achtziger Jahre gesehen werden. Diese stellen vielmehr die bloße Umsetzung des bereits zuvor als allgemeines Recht anerkannten Gedankens auf den Einzelfall dar. Außerdem stellte bereits die das Selbstbestimmungsrecht beinhaltende Tibet-Resolution 1723 von 1961 die erste Umsetzung dieses Rechtsgedankens auf einen konkreten Fall dar. Daher ist festzustellen, daß die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts zu Völkergewohnheitsrecht als Abwehrrecht spätestens mit der Annahme der Deklaration 2625 im Jahr 1970 ihren Abschluß gefunden hat. 337 In dieses Jahr fiel auch die

335

GA-Resolution 545 (VI) v. 5.2.1952. GA-Resolution 2200A-C (XXI) v. 16.12.1966. 337 Ebenso: Tomuschat in FS Partsch S. 212; Murswiek in Der Staat 23/1984, 546 Fn. 66: Gewohnheitsrecht bereits vor 1973. Auch Kiss in HRLJ 7/2-4, 1986, 168 betont 136

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erstmalige Zuerkennung das Selbstbestimmungsrecht an die Palästinenser durch die GA-Resolution 2672 C (XXV) vom 8.12.1970. 2.2.4. Schlußfolgerung

Im Rahmen dieser Untersuchung wurde festgestellt, daß die zum Erlöschen des tibetischen Staates führende Konsolidierung der Annexion frühestens ab 1971 angenommen werden kann. Damit ist aber auch zumindest bis zu diesem Zeitpunkt vom völkerrechtlichen Fortbestand des tibetischen Staates auszugehen. Daraus folgt, daß die Tibeter erst nach diesem Datum ihre Eigenschaft als Staatsvolk auch de jure verloren haben. Die Verfestigung des Selbstbestimmungsrechts als Abwehrrecht zu Völkergewohnheitsrecht vollzog sich parallel zu dieser Konsolidierung. Sie war spätestens 1970 abgeschlossen. In Anbetracht des Umstandes, daß es sich in beiden Fällen um Prozesse handelt, erscheint es in der Tat problematisch, die jeweiligen Endpunkte auf das Jahr genau bestimmen zu wollen. Im Falle Tibets kommt allerdings hinzu, daß diesem Volk bereits 1965, also einige Jahre vor Beendigung der Konsolidierung, das Selbstbestimmungsrecht von der Generalversammlung zuerkannt wurde. Dieser Akt ist damit nicht nur Teil des Prozesses geworden, in dem das Selbstbestimmungsrecht sich als Abwehrrecht zu Völkergewohnheitsrecht verdichtete. Vielmehr kann dieser Akt hier auch als Evidenznachweis dafür dienen, daß der Tatbestand eines Abwehrrechts als Voraussetzung für den späteren Restitutionsanspruch vorgelegen hat. Trotz des Problems der exakten zeitlichen Konkretisierung bleibt jedenfalls festzustellen, daß sich die beiden Prozesse des Untergangs des tibetischen Staates und der gewohnheitsrechtlichen Verfestigung des Selbstbestimmungsrechts zumindest überschnitten haben. Angesichts der spärlichen Literatur zur intertemporalen Problematik im Selbstbestimmungsrecht ist für solche Fälle keine allgemein akzeptierte Zweifelsfallregelung erkennbar. 3 3 8 Da sich die Zwiespältigkeit dieser die Fortentwicklung durch die Deklaration 2625; ähnlich auch Novak Artikel 1 Rn 3: sogar Entwicklung zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts. 338 Heuser in ZaöRV 40/1, 1980, 68 will generell für Fälle der Ungewißheit über den Territorialstatus das Selbstbestimmungsrecht als Zuweisungsmodalität der Gebietssouveränität anwenden. Ähnlich Thürer (Das Sbr) S. 202, ders. in EPIL (8) S. 473. Allerdings beziehen sich beide Autoren nicht auf intertemporale Probleme, sondern auf Fälle wie Formosa (Taiwan) oder Palästina.

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Rechtslage aber letztlich aus einer Verletzung des Gewaltverbotes ergeben hat, erscheint es als nur folgerichtig, eine Zweifelsregelung zu Lasten derjenigen Partei anzunehmen, der diese Rechtsverletzung zuzurechnen ist. Dem Schutz der territorialen Integrität Chinas gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Tibeter kann daher angesichts ihrer Verwurzelung in einem völkerrechtswidrigen Akt kein Vorrang zukommen. Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, daß den Tibetern das Selbstbestimmungsrecht ursprünglich als das Abwehrrecht eines Staatsvolkes zugestanden hat. Diese Rechtsposition ist nach dem de jure-Untergang des tibetischen Staates in einen Restitutionsanspruch auf Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit umgeschlagen. 2.3. Demographische Veränderungen

Da es sich bei dem Restitutionsanspruch der Tibeter um das umgewandelte Abwehrrecht des Staatsvolkes handelt, ist die territoriale Reichweite dieses Anspruchs auf die heutige Autonome Region Tibet beschränkt, die mit dem ehemaligen Staatsgebiet weitestgehend identisch ist. Problematisch ist allerdings, daß die Bevölkerung dieses Gebietes ethnisch nicht mehr homogen tibetisch ist. 2.3.1. Vorwurf der Sinisierung Tibets

Gegenüber der VRC wird von einigen Seiten der Vorwurf erhoben, in dem gesamten angestammten Siedlungsgebiet der Tibeter eine gezielte Sinisierungspolitik zu betreiben, indem der Zuzug von Han-Chinesen durch staatliche Lenkung forciert wird. Für die tibetischen Stammgebiete außerhalb der Autonomen Region Tibet wird darauf noch an anderer Stelle zurückzukommen sein. An dieser Stelle sind nur die Verhältnisse in dem ehemaligen tibetischen Staatsgebiet von Bedeutung. Dem Verfasser ist nicht bekannt, daß in der Zeit der tibetischen Unabhängigkeit ein Zensus der Bevölkerung durchgeführt worden wäre. Ohne daß dies von der chinesischen Seite bestritten würde, wird im Schrifttum aber davon ausgegangen, daß sich vor 1950 allenfalls 30.000 Chinesen in dieser Region befanden. 339 Der starke Zuzug von Han-

339

Die Zahl findet sich bei Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 759; vgl. auch Tibet-Info vom September 1989, Anhang S. 1: keine Chinesen in Zentral-Tibet.

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Chinesen nach Zentral-Tibet begann erst in der Zeit ab 1983/1984. 340 Nach chinesischen Volkszählungen sollen 1982 1,786 und 1990 2,096 Millionen Tibeter in der Autonomen Region Tibet gewohnt haben. 341 Demgegenüber sollen sich nur ca. 80.000 Han-Chinesen (3,7% der Bevölkerung) in der Autonomen Region Tibet aufgehalten haben. 342 Die Tibeter stellten konstant ca. 95% der Bevölkerung. 343 Kritiker prangern demgegenüber an, daß sich in dem gleichen Zeitraum ca. 2 Millionen Chinesen in der Autonomen Region Tibet befanden. 344 In Menschenrechtsberichten wird dazu festgestellt, daß die Regierung der VRC insbesondere den Zuzug in die Städte manipuliert, indem sie die Chinesen hinsichtlich Niederlassungserlaubnis und Wohnungsbaupolitik bevorzu-

Die chinesische Regierung bestreitet im Grundsatz nicht, daß sie sich aktiv um einen chinesischen Bevölkerungstransfer nach Tibet bemüht. Nach ihrer Lesart geht es dabei aber um die Bereitstellung von wissenschaftlichem und technischem Personal, an dem in Tibet ein großer Mangel herrsche. Dieses Personal gehe im Rotationsverfahren aber nur ftir feste Zeiträume nach Tibet. 346 Allerdings findet sich in offiziellen Statements im Anschluß an das Dritte Tibetische Arbeitsforum von 1994 zumindest mittelbar die Aussage, daß ein langfristiger Aufenthalt von noch mehr Han-Chinesen beabsichtigt ist, der dabei helfen soll, eine sozialistische neue Kultur in Tibet zu entwickeln. Dabei wird Tibet seit 1992 bewußt auch für ungelernte Arbeiter, insbesondere Wanderarbeiter "geöffnet". 347 Der große Unterschied in den Zahlenangaben läßt sich nur zum Teil daraus erklären, daß die chinesische Seite die in Tibet stationierten Sol340

Vgl. die ausfuhrliche Chronologie im Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 104 ff. Vgl. auch Hannum S. 426; v. Walt (3) S. 9 f; Tibet-Iniüative Deutschland e.V.: Info-Papier. 341 Tibetweißbuch S. 55. 342 Zitiert im Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 115. Nicht eingeschlossen in der chinesischen Zählung ist aber insbesondere militärisches Personal sowie die nicht registrierten Wanderarbeiter. }4y Tibetweißbuch S. 55 unter Berufung auf Volkszählungen von 1982 und 1990. 344 Hannum S. 426; Tibet-Info, September 1989. 345 Asia Watch-Report (1) S. 78; USA-Countiy reports für 1991, 824; vgl. auch die Nw. aus der Beijing Review von 1983-1985 bei v. Walt (3) S. 16 ff; auch: Informationsbulletin des Vertretungsbüros S. H. des Dalai Lama, Tibet-Info, September 1989, 2 m.w.N. 346 Tibetweißbuch S. 62 f. 347 Vgl. den Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 107 ff.

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daten sowie Wanderarbeiter nicht mitzählt und dazu auch keine Angaben macht. In dieser Hinsicht bleibt viel Raum für Spekulationen. Nach Weggel befinden sich neben den Zivilisten zusätzlich noch 300.000 Soldaten in Tibet.348 Die tibetischen Klagen über eine zunehmende Sinisierung wären aber auch plausibel, wenn man unter Hinzurechnung der chinesischen Soldaten einen spekulativen Mittelwert von 500.000 Chinesen zugrunde legen wollte. So findet die chinesische Bevölkerungskonzentration nach einem Bericht von Asia-Watch hauptsächlich in Stadtgebieten statt.349 Dementsprechend kann es dort auch zu einer Majorisierung durch Chinesen kommen, ohne daß sich dies in Statistiken für die gesamte Region entsprechend niederschlägt. So soll es insbesondere in den beiden Städten Lhasa und Chamdo heute mehr Chinesen als Tibeter geben.350 Dieses Ergebnis entspricht der Schätzung einer US-amerikanischen Expertengruppe, die 1991 die Autonome Region Tibet besuchte. Aufgrund der von ihr gesammelten Daten ergibt sich auf das gesamte Gebiet bezogen für chinesische Zivilisten ein Bevölkerungsanteil von 7,5% bis 15%, dabei wurde unterstellt, daß ihr Anteil in den Städten 50% beträgt.351 2.3.2. Folgerungen für den Restitutionsanspruch der Tibeter

Unter der Annahme, es hätte infolge der Konsolidierung eine erhebliche Verschiebung innerhalb der Bevölkerungsstruktur auf dem vormaligen tibetischen Staatsgebiet stattgefunden, wäre zu fragen, ob sich daraus Folgen für die Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts ergeben. Eine Mehrheit in der Literatur verneint diese Frage.3 2 Eine Rechtfertigung für die Nichtbeachtung der neu hinzugekommenen Bevölkerung kann darin gesehen werden, daß die forcierte Populationsveränderung in be348

Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 759. Asia Watch-Report (1) S. 78 f. 350 Bericht bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 109: für 1987 ca. 70% Chinesen für die Städte Lhasa und Chamdo; für Lhasa auch: Asia Watch-Report (1) S. 77. Vgl. für Zahlenangaben im einzelnen: v. Walt (3) S. 15 Fn. 24; Tibet-Info September 1989; Ludwig S. 20. 351 Dazu Partsch bei McCorquodale/Orosz S. 107 f. 352 So: Murswiek in Der Staat 23/1984, 547 (Selbstbestimmungsrecht sogar für die rechtswidrig vertriebene Bevölkerung); Tomuschat in FS Partsch S. 208 aber unklar für den Fall der Konsolidierung; Zimmer S. 205 f: anders wenn neue homogene Bevölkerung entstanden. A.A.: Hu Chou-young S. 274; Cristescu S. 40, § 276 (das Entstehen von engen Verbindungen zwischen zwei Gemeinschaften als möglicher Hinderungsgrund). Vgl. auch Eide (einheitliches Selbstbestimmungsrecht der gesamten Gebietsbevölkerung nur, wenn die Ansiedlung im Einklang mit dem Völkerrecht gestanden hat): bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 147, 154 f und 172. 349

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setzten Gebieten völkerrechtlich verboten ist. 353 Auch die Staatenpraxis ächtet demographische Veränderungen in besetzten Gebieten. 3 4 Die Unbeachtlichkeit der neuen Bevölkerungsstruktur im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts auch nach Untergang des dauerhaft besetzten Staates wäre somit eine Folgewirkung dieses Verbotes. Letztlich kann diese Frage aber dahinstehen. Aus den oben wiedergegebenen Zahlen wird ersichtlich, daß der Tatbestand einer starken demographischen Veränderung für das Gebiet der Autonomen Region Tibet nicht festgestellt werden kann. Zunächst ist in diesem Zusammenhang nur die Zivilbevölkerung ausschlaggebend, da stationierte Militäreinheiten nicht als gebietsansässige Bevölkerung angesehen werden können. Auch wenn die chinesische Bevölkerung die offiziellen Angaben um das doppelte oder gar dreifache überstiege, so wäre die Majorität der Tibeter als Träger des Selbstbestimmungsrechts immer noch erdrückend. Die Frage, welches Ausmaß die ethnische Unterwanderung erreichen müßte, um das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes zu tangieren, kann angesichts dieses Tatbestandes offenbleiben. Insoweit kann allerdings auf die baltischen Republiken Lettland und Estland verwiesen werden. 353

Vgl. Artikel 49 der Genfer Konvention zum Besatzungsrecht vom 12.8.1949. Diese Konvention wurde 1956 auch von der VRC ratifiziert: v. Walt (3) S. 30. Die Veränderung der demographischen Zusammensetzung auf besetztem Gebiet sowie die Zufiihrung von Siedlern wird auch in Artikel 20 lit. (c) (i) des ILC-Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind (Fassung 1996) unter dem Tatbestand der Kriegsveibrechen aufgeführt (vgl. HRLJ 18/1-4, 1997, 98, 132 f) Eine Erörterung zum völkerrechtlichen Verbot des Bevölkerungstransfers in bezug auf Tibet findet sich bei v. Walt (3) S. 21 ff. 354 Vgl, zur Siedlungspolitik und anderen Maßnahmen in den von Israel besetzten Gebieten: GA-Resolution 46/82A v. 16.12.1991, Zif. 7; MRK-Resolution 1982/lAv. 11.2. 1982, Zif. 4, 5; MRK-Resolution 1985/1A v. 19.2.1985, Zif. 5, 8; MRK-Resolution 1987/2A v. 11.2.1987, Zif. 5, 8; die speziellen Resolutionen der MRK: Resolution 1990/1 v. 16.2.1990 und 1991/3 v. 15.2.1991. Vgl auch die gemeinsame Erklärung der EG-Mitgliedsstaaten zur israelischen Politik in den besetzten Gebieten vor der UNO am 1.12.1989 bei Wilhelm in ZaöRV 51/3, 1991, 701. Zu demographischen Veränderungen in Kambodscha: GA-Resolution 38/3 v. 27.10. 1983, Präambel Absatz 11; GA-Resolution 42/3 v. 14.10.1987, Präambel Absatz 11; MRK-Resolution 1990/9 v. 19.2.1990, Präambel Absatz 10. Zu demographischen Veränderungen in Zypern: GA-Resolution 3395 (XXX) v. 20.11.1975, Zif. 6; GA-Resolution 33/15 v. 9.11. 1978, Präambel Absatz 7; GA-Resolution 34/30 v. 20.11.1979, Präambel Absatz 10; GA-Resolution 37/253 v. 13.5.1983, Präambel Absatz 10. Zu demographischen Veränderungen in Kuweit: SichRResolution 677 v. 28.11.1990, Präambel Absatz 3. Vgl. zu Versuchen, die ethnische Zusammensetzung in Bosnien-Hercegowina zu verändern: SichR-Resolution 752(1992) v. 15.5.1992, Zif. 6; SichR-Resolution 757(1992) v. 30.5.1992, Präambel Absatz 5.

182

Fallgruppen

In Lettland mit einer Gesamtbevölkerung von 2,5 Millionen haben die Letten selbst nur einen Bevölkerungsanteil von 52 % gegenüber 34 % Russen sowie 10,3 % Weißrussen, Ukrainern und Polen. In Estland stellen die Esten immerhin 63 % der Bevölkerung. 355 Gleichwohl sah die Staatengemeinschaft in beiden Fällen offenbar keinen Hinderungsgrund für die Legitimation der Unabhängigkeit durch das Selbstbestimmungsrecht. 356 Schließlich kann auch nicht allein auf die chinesische Bevölkerungskonzentration in Ballungsräumen abgestellt werden, da es um das Selbstbestimmungsrecht der gesamten tibetischen Gebietsbevölkerung innerhalb der Autonomen Region Tibet geht. Diese Rechtsposition kann nicht durch eine Minderheit in Frage gestellt werden, auch wenn diese in einigen Städten die Mehrheit stellen sollte. Der chinesische Bevölkerungsanteil, bezogen auf die gesamte Fläche des ehemaligen tibetischen Staatsgebietes, ist folglich bei weitem nicht hoch genug, um die Frage nach einer Tangierung des Selbstbestimmungsrechts der Tibeter aufkommen zu lassen. Ohne den dogmatischen Streit ausfuhrlich zu erörtern, kann daher festgehalten werden, daß das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter in der Autonomen Region Tibet nicht von den demographischen Veränderungen berührt wird. 3. Territoriale Reichweite des Restitutionsanspruchs

Als Ergebnis der Untersuchung zur zweiten Fallgruppe ist festzustellen, daß den Tibetern das Selbstbestimmungsrecht in der Form des Restitutionsanspruchs zusteht. Allerdings beschränkt sich der Rechtsträgerkreis subjektiv und territorial auf die Tibeter in der Autonomen Region Tibet als ehemaligem Staatsvolk innerhalb des früheren tibetischen Staatsgebiets. Inwieweit das Selbstbestimmungsrecht für die Tibeter auf den traditionellen Siedlungsgebieten außerhalb der Autonomen Region Tibet zum tragen kommt, wird im nachfolgenden Kapitel zu erörtern sein.

355

Die Zeit vom 18.1.1991 S. 5. Allerdings lagen die Voten pro Unabhängigkeit in den Volksbefragungen beider Republiken jeweils über 70 %, in Estland sogar bei 78 % der abgegebenen Stimmen: vgl. Generalanzeiger für Bonn vom 5.3. und 6.3.1991. Dabei sollen auch 30-40 % der russischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit votiert haben: Hanneman in VJIL 35/2, 1995, 496. 356

Fallgruppen

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IV. Der Restitutionsanspruch für die Tibeter in Rest-Tibet Die Untersuchung zum Umfang des tibetischen Staatsgebietes kam zu dem Ergebnis, daß dieses Territorium ungefähr dem der heutigen Autonomen Region Tibet entsprach. Damit bezieht sich das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch nur auf diese Gebietsbevölkerung als ehemaliges Staatsvolk. Ungeklärt ist damit noch die Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht in dieser Ausprägung auch den Tibetern außerhalb dieses Staatsgebietes zusteht. Dabei handelt es sich um Regionen, die sich jenseits der Staatsgrenze von 1918-1950 befanden, aber zumindest historisch überwiegend von Tibetern besiedelt wurden. Diese Regionen werden im folgenden auch als Rest-Tibet bezeichnet. 1. Umfang des tibetischen Staates von 1913 und Rest-Tibet Es entspricht dem von tibetischer Seite vertretenen Standpunkt, auf die historische Zugehörigkeit Rest-Tibets zum tibetischen Staatswesen, dem sog. historischen Tibet Bezug zu nehmen. Alle nachfolgenden Gebietsübernahmen durch China werden als völkerrechtswidrig und damit ohne Rechtswirkung angesehen. 357 Demgegenüber führte die Untersuchung für das tibetische Staatsgebiet zu dem Ergebnis, daß die Gebiete Rest-Tibets mangels faktischer Hoheitsgewalt der Regierung in Lhasa jedenfalls nicht zu dem souveränen Staat von 1913-1950 gehörten. Zudem ergaben die Überlegungen zum zeitlichen Anknüpfungspunkt für die Erörterung tibetischer Staatlichkeit, daß etwaige vormalige Titel Tibets der Bestätigung durch kontinuierliche Herrschaftsausübung bedurft hätten. 358 Folglich können diese Territorien auch nicht als von China besetzte Gebiete des tibetischen Staates angesehen werden. Daher bleibt lediglich die Möglichkeit, daß für die Regionen eine vormalige eigene Staatlichkeit oder zumindest eine entsprechend starke Eigenständigkeit gegeben war, so daß die Bevölkerung ein eigenes Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch geltend machen könnte. 2. Die Bevölkerung Rest-Tibets als eigenständiges Staatsvolk? Ein eigenständiger Restitutionsanspruch der Bevölkerung in den Regionen Rest-Tibets setzt voraus, daß diese Gebiete einstmals als Gesamtheit oder teilweise den Status eines eigenständigen Staates oder eine 357 358

Dazu unter A. II. 2. Vgl. zum historischen Tibet auch Karte (1) im Anhang. Zu diesen Fragen schon oben S. 130 ff sowie S. 122.

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zumindest annähernd gleichwertige Rechtsposition erlangt haben, bevor sie in das heutige China eingegliedert wurden. Zur tibetischen Sichtweise wurde bereits oben Stellung genommen. Die aktuelle chinesische Darstellung steht dazu in äußerstem Gegensatz. So heißt es heute, als Ergebnis langer historischer Veränderungen hätten sich ethnische Tibeter außerhalb Tibets in den chinesischen Provinzen Sichuan, Qinghai und Gansu niedergelassen. Über diese Gebiete habe es aber niemals eine tibetische Herrschaft gegeben. Vielmehr gehe die administrative Untergliederung durch chinesische Regierungen bereits auf das 13. Jahrhundert zurück. 359 Diese Anschauung ist um so bemerkenswerter, als in der Zeit nach 1950 mehrfach Gespräche zwischen Vertretern des Dalai Lama und der chinesischen Führung über eine administrative Zusammenlegung dieser Regionen mit der Autonomen Region Tibet stattfanden, bei denen die Chinesen nach tibetischer Darstellung ebenfalls von einer vormaligen faktischen Gebietseinheit jedenfalls im ethnischen Sinn ausgingen. 3 0 Im übrigen hat die VRC dem Umstand, daß in den an die Autonome Region Tibet angrenzenden Regionen zumindest in der Vergangenheit hauptsächlich Tibeter lebten, auch bei der administrativen Neugliederung Chinas nach 1950 Rechnung getragen. So wurden von 1951-1967 in diesen Grenzgebieten innerhalb der verschiedenen chinesischen Provinzen mehr als zehn "autonome Bezirke" für Angehörige der tibetischen Nationalität eingerichtet. 361 Das von diesen Bezirken gemeinsam mit der Autonomen Region Tibet gebildete Gebiet entspricht in etwa dem Territorium, das von tibetischer Seite als das sog. historische Tibet betrachtet wird. Allerdings wurden solche Verwaltungseinteilungen in der ganzen VRC für die verschiedenen nationalen Minderheiten vorgenommen. Eine Besonderheit bildet hier die an die Autonome Region Tibet angrenzende Provinz Qinghai. In ihr wurden auch Bezirke für die nationale Minderheit der Mongolen eingerichtet. Dennoch wird sie als ganzes von den Tibetern unter ihrem ehemaligen Namen Amdo beansprucht. Die übrigen Sondergebiete befinden sich an den Grenzen der

359

Tibetweißbuch S. 56. Dazu: Dawa Norbu in Tibetan Review 4/1992, 14. 361 Allerdings variiert der Status dieser Gebietseinheiten. Eine kartographische Übersicht findet sich im Times-Atlas of China S. XXXVI f. Aufzählungen, allerdings mit unterschiedlichen Zahlenangaben in: Tibetweißbuch S. 56; Jing Wei: 100 Fragen S. 102. Vgl. auch ai-Report (1) S. 12. 360

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Fallgruppen

A u t o n o m e n Region Tibet und Sichuan, Yunnan und Gansu.

Qinghais

innerhalb

der

Provinzen

2.1. Territoriale Differenzierung für Rest-Tibet Neben der oben dargestellten administrativen Einteilung der Regionen Rest-Tibets existiert die traditionelle tibetische Gebietsaufgliederung. Diese sieht Tibet als einheitliches Gebiet bestehend aus den Regionen Ü - T s a n g , Kham und Amdo. 3 6 2 D e m historischen Schicksal dieser Regionen entsprechend soll im folgenden f ü r die Frage nach dem jeweiligen Status an diese Untergliederung angeknüpft werden, da sich die Entwicklung f ü r diese Regionen unterschiedlich darstellt. Dabei sind die heute in den chinesischen Provinzen Qinghai und Gansu gelegenen tibetischen Bezirke mit der Region Amdo und deren Schicksal identisch. 3 6 3 Die Gebiete in Sichuan und Yunnan bilden den Ostteil der Region Kham, deren westlicher Teil z u s a m m e n mit Ü - T s a n g bereits v o m tibetischen Staatsgebiet bis 1950 umfaßt w u r d e und in e t w a der heutigen A u t o n o m e n Region Tibet entspricht. Im folgenden wird daher differenziert nach d e m Status der Regionen A m d o und Ost-Kham. 2.2. Der Status Amdos (Qinghais) 2.2.1. Historische Machtverhältnisse Die Region A m d o bezeichnet ungefähr das Gebiet zwischen dem im Osten liegenden K o k o - N o r - S e e mit der dahinter liegenden H a u p t s t a d t Xining bis z u m Tang-La-Gebirge, das in etwa die G r e n z e zur A u t o n o men Region Tibet markiert. 3 6 4 Diese Region w a r das traditionelle Siedlungsgebiet sowohl der Tibeter als auch anderer Nationalitäten wie der M o n g o l e n und Hui. 3 6 5

362

Die Regionen sind aufgeführt im Anhang Karle (1). Dazu mit Nachweisen unter A I. 2. 363 Angesichts der historisch unklaren Grenzen bedeutet diese Differenzierung jedoch nur eine Annäherung: Richardson S. 151 für 1937: Amdo als Teil Qinghais; Peissel S. 13: Qinghai umfaßt gesamtes Amdo; v. Walt (1) S. 69: großer Teil Amdos 1937 unter Kontrolle des Gouverneurs von Qinghai. 364 Vgl. Karte (1) im Anhang. Vgl. auch die Gebietsbeschreibung bei Shakabpa S. 2 365 Nach Gernet S. 257 hatten sich die Tibeter bereits im 10. Jahrhundert bis nach Qinghai und Gansu ausgedehnt. Nach Petech S. 22 wurden die dort lebenden Mongolen allerdings im 19. Jahrhundert völlig tibetanisiert.

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Fallgruppen

Bereits im 14. Jahrhundert übten die chinesischen Kaiser der MingDynastie eine gewisse Kontrolle über dort lebende Mongolenstämme aus. Daher läßt sich schon aus dieser Zeit der Einfluß kultureller Ausdrucksformen aus China feststellen. 366 Im 16. Jahrhundert behaupteten sich vor allem die Mongolen in der Region um den Koko-Nor-See. Dies führte zu einer Ostwanderung der Tibeter nach Xining bis in Gebiete der heutigen Provinz Gansu hinein.367 Zu dieser Zeit waren die Mongolen formell Titularkönige über das in seiner politischen Einheit wieder zerfallene Tibet. 368 Im Jahr 1724 festigten die Chinesen, die bis dahin eine vage Oberhoheit über die mongolischen Stämme ausgeübt hatten, ihre Position in dieser Region durch eine Intervention. Daraufhin erfolgte die Umbenennung dieser Region in Qinghai. Zwar hat Tibet seine Ansprüche auf Amdo nie aufgegeben. So schlössen die bei der Simla-Konferenz 1914 vorgebrachten Gebietsansprüche auch diese Region ein.369 Gleichwohl war Tibet in der nachfolgenden Zeit, von religiösen Bindungen an die Autorität des Dalai Lama abgesehen, nicht mehr in der Lage, die politische Kontrolle der Chinesen zu verdrängen. 370 Im 20. Jahrhundert war die Geschichte Amdos (Qinghais) direkt mit den innenpolitischen Vorgängen Chinas verbunden. Eingeleitet wurden diese Vorgänge mit dem Sturz der Monarchie in China 1911 und der anschließenden Gründung einer Republik. An dieser Gründung war auch Qinghai beteiligt. In der nachfolgenden Zeit der sog. Warlords (Kriegsherren) erlangte Qinghai unter ihrem muslimischen Gouverneur, wie auch andere chinesische Randprovinzen, eine faktisch unabhängige Stellung gegenüber der Regierung in Nanking. Erst 1950 waren die Truppen der Kommunisten in der Lage, Qinghai wieder unter die direkte Kontrolle einer chinesischen Zentralgewalt zu bringen. 371 366 Zum politischen und kulturellen Einfluß der Ming: v. Walt (1) S. 208, Fn. 44; Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 745. 367 Tieh-tseng Li S. 27 f. 368 V. Walt (1) S. 5; Tang Chi'an in Tibet Studies 1/1989, 66; Richardson S 34 f. Nach Petech S. 22 dauerte die beherrschende Stellung der Mongolen auch noch im 17. Jahrhundert an. 369 Vgl. Richardson S. 107; Bell (1) S. 174; Goldstein S. 68, 71; Shakabpa S. 252. 370 Zur Bewertung der 1914 erhobenen Ansprüche auf Amdo vgl. Richardson S. 110 und Bell (2) S. 205; vgl. auch v. Walt (1) S. 208 Fn. 44. Anders Peissel S. 7, der die endgültige Abspaltung erst in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts legt. 371 Vgl. Richardson S. 180; Peissel S. 38; Shakabpa S. 306.

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2.2.2. Souveränitätsausübung durch China seit 1724 2.2.2.1. Die Inkorporation von 1724 als Ausgangspunkt

Ausgangspunkt dieser Untersuchung muß die Inkorporation Amdos unter dem neuen Namen Qinghai durch die Ching-Dynastie 1724 sein. Über die Art chinesischer Herrschaftsausübung in diesem Gebiet finden sich in der Literatur wenig Hinweise.372 Es herrscht jedoch weitgehende Einigkeit darüber, daß die bis dahin ausgeübte bloße Oberherrschaft in Souveränität umschlug. Danach markiert diese Jahreszahl mit der Umbenennung in Qinghai die endgültige Eingliederung des Gebietes in das Imperium der von den Manchus errichteten Dynastie.373 Das Territorium Qinghais (Amdos) war somit dem Kaiserreich der Ching-Dynastie zugeordnet. Ausgehend davon, daß diese Eingliederung mit einer für damalige Verhältnisse effektiven Kontrolle verbunden war, wurden damit alle etwaigen vorangegangenen Gebietstitel abgelöst, zumal zu dieser Zeit noch kein völkerrechtlicher Schutz von Souveränitätsrechten gegenüber gewaltsamen Übergriffen bestand.374 2.2.2.2. Die Staatennachfolge der chinesischen Republik

Unter dem Blickwinkel des Völkerrechts wurde der Untergang des chinesischen Kaiserreiches 1911 durch eine Sezessionswelle eingeleitet, in der sich die meisten Provinzen für unabhängig erklärten. Kurz darauf bildeten diese Provinzen aber eine provisorische Regierung der Republik China.375 Dieser Vorgang wird auch als Revolution bezeichnet.376 Angesichts der vorhergehenden Sezessionsbewegung trifft die Ansicht von Fairbank den völkerrechtlichen Sachverhalt jedoch eher: „Die Revolution von 1911 war ihrem Wesen nach ein Zusammenbruch, nicht eine neue Schöpfung. "37? Von einer Kontinuität der Rechtspersönlichkeit, wie sie bei revolutionärer Änderung der Staatsform angenommen 372

Vgl. allgemein zur Verwaltungsstruktur unter der Manchu-Herrschalt: Franke/Trauzettel S. 298 ff; Gernet S. 405 f. 373 Vgl. : Shakabpa S. 141; Petech S. 97 f; Goldstern S. 71; v. Walt (1) S. 16. A. A. Peissel S. 12 f: erst Umbenennung 1928 durch Chiang Kai Shek. 374 Vgl. dazu schon oben S. 122. 375 Vg. Gernet S. 526 f; Fairbank S. 170 f; Franke/Trauzettel S. 337. Ausgenommen von diesem Zusammenschluß waren vor allem Tibet und die Äußere Mongolei. 376 Franke/Trauzettel S. 338. 377 Fairbank S. 170; ähnlich Gemet S. 526: Die Revolution als Zwischenspiel im Zerfall der politischen Macht.

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wird, kann hier somit nicht ausgegangen werden. Vielmehr handelt es sich um eine durch Dismembration und Neugründung hervorgebrachte Staatensukzession. 378 Die chinesische Republik ist somit als Staatennachfolger des Kaiserreiches anzusehen. In Artikel 3 der chinesischen Verfassung von 1912 wird Qinghai zusammen mit Tibet sowie der Inneren und Äußeren Mongolei noch gesondert neben 20 nicht im einzelnen genannten Provinzen als Teil des Staatsgebietes der Republik aufgeführt. 379 Es erscheint aber fraglich, ob sich bereits hieraus hinreichende Rückschlüsse auf die völkerrechtliche Zugehörigkeit dieser Gebiete zur Republik China ziehen lassen. Die vorhergehende Untersuchung zum Status Zentral-Tibets zu dieser Zeit kam zu dem Ergebnis tibetischer Eigenstaatlichkeit. Auch für die Äußere Mongolei markiert dieses Datum zumindest den Beginn seiner Unabhängigkeit von China. Allerdings ist auch hier der genaue Zeitpunkt, insbesondere wegen des späteren Hinzutretens Rußlands als Schutzmacht, nicht ganz unproblematisch. 380 Jedenfalls zeigen die Beispiele Zentral-Tibet und Äußere Mongolei, daß die chinesische Verfassungslage sich mehr an den chinesischen Herrschaftsansprüchen als an den Realitäten orientierte. Ihr kommt daher für die Frage nach dem Status Qinghais nur beschränkte Bedeutung zu. Die Überlegungen müssen sich vielmehr auf die Rechtslage bei Staatennachfolge hinsichtlich territorialer Titel stützen. Auch soweit mit der Staatensukzession nicht ein automatischer Übergang der Rechte des vormaligen Souveräns verbunden wird, hat der chinesische Nachfolgestaat doch zumindest die Souveränität über diejenigen Regionen des Kaiserreiches erworben, die sich zur Republik zusammenschlössen. 381 In der Literatur über diese Zeit findet sich keine Darstellung, aus der hervorginge, daß sich Qinghai der Bildung der Republik widersetzt und seine Unabhängigkeit geltend gemacht hat. Wie noch aufzuzeigen sein wird, wurde der Zentralgewalt in Nanking ihre Kompetenz gerade in 378 Zur Abgrenzung: Verdross/Simma S. 230 ff, §§ 390 f und S. 607 ff, §§ 972 ff; Brownlie (1) S. 82 f, 654 f; Fiedler in EPIL (10), 66: zur Staatenidentitat bei Revolution. Vgl. auch Gernet S. 527: die Republik als bloße Fortsetzung der ehemaligen Provinzversammlungen. 379 Tomson S. 231. 380 Dazu: Fairbank S. 173 f, 209: nach 1915 faktisch nissisches Protektorat; v. Walt (1) S. 74 f: erneute Unabhängigkeit 1924. 381 Allgemein zu den Souveränitätsrechten bei Staatennachfolge: Brownlie (1) S. 654 ff, insbesondere 657.

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militärischen Fragen nicht abgesprochen. Qinghai ist somit auch dem Staatsgebiet der 1912 gebildeten Republik China zuzurechnen. 2.2.2.3. Fragmentierung der chinesischen Staatsgewalt nach 1916

Bedenken bestehen noch dahingehend, ob nicht die faktische Unabhängigkeit Qinghais während der Periode der sog. Warlords zu einem Status dieser Region geführt hat, der dem eines souveränen Staates zumindest ähnlich war. In diesem Fall könnte es sich bei der erneuten Intervention von 1950 um einen Akt handeln, der gegen das zwischenzeitlich in das Völkerrecht eingegangene Gewaltverbot sowie Rechte der Gebietsbevölkerung verstieß. Dann wäre ein Parallelfall zum unabhängigen Staat auf dem Gebiet Zentral-Tibets gegeben, so daß auch hier das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch in Betracht käme. Als Periode der sog. Warlords (Kriegsherren) wird die Zeit von 19161928 bezeichnet. Diese Epoche war dadurch gekennzeichnet, daß sich zahlreiche Provinzen unter ihren Militärgouverneuren, den Kriegsherren, gegenseitig in wechselnden Allianzen bekämpften. Gleichwohl blieben in der ersten Hauptstadt Peking Reste der Zentralgewalt erhalten. Auch strebten die Warlords keine formelle Unabhängigkeit unter Auflösung des Gesamtstaates an. Erst 1928 gelang es Chiang Kai-shek im Osten Chinas mit der neuen Hauptstadt Nanking, mit militärischen Mitteln die territoriale Einheit zum Teil wieder herzustellen. 382 Die faktische Autonomie Qinghais dauerte allerdings noch bis in das Jahr 1950 an, als der muslimische Gouverneur vor den kommunistischen Truppen kapitulieren mußte. Die politische Eigenständigkeit Qinghais entsprach aber dem oben dargelegten Allgemeinbefiind und kann daher nicht als staatliche Unabhängigkeit gewertet werden. Dies ergibt sich aus der Einbindung Nankings in den Konflikt mit Tibet. Einerseits war die Regierung in Nanking nicht an dem 1933 geschlossenen Waffenstillstand Qinghais mit dem unabhängigen Zentral-Tibet beteiligt. 383 Andererseits reagierte der Provinzgouverneur Qinghais 1943 auf den Aufruf Chiang Kai-sheks, Truppen an die Grenze zu Zentral-Tibet zu bewegen. 384

382

Vgl. zu dieser Periode: Gerne! S. 509, 528 ff; Fairbank S. 182 ff; Tieh-tseng Li S. 160 f; Shen/Liu S. 61. Richardson S. 136; Shakabpa S. 269. Für weitere Nachweise zum schwachen Einfluß der Zentralgewalt: Richardson S. 151 fif; v. Walt (1) S. 69; Shakabpa S. 284. 384 Richardson S 161 f. 383

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Die autonomen Aktivitäten Qinghais bezogen sich nicht auf ihren äußeren Status. Ein Wille zur Eigenstaatlichkeit, der Voraussetzung für die Annahme einer Sezession wäre, läßt sich somit nicht feststellen. Damit fehlt es aber an den Voraussetzungen, um dieses Gebiet als Staat oder zumindest als de facto-Herrschaftssystem mit souveränitätsähnlichen Rechten einzuordnen. 385 Die faktische Autonomie Qinghais war demnach, ebenso wie die Freiheit der anderen Warlords, eher ein Problem der zeitweisen Schwächung der zentralen chinesischen Staatsgewalt denn ein Fall von Sezession. Die spätere Festigung dieser Gewalt war somit eine inner-chinesische Angelegenheit. Der Gebietstitel des chinesischen Gesamtstaates über Qinghai ist somit auch über diese Periode, trotz der zeitweisen Ineffektivität, erhalten geblieben. 2.2.2.4. Fortgesetzte Herrschaftsausübung durch China

Die vollständige Unterwerfung Qinghais unter die wieder gefestigte chinesische Zentralgewalt fand erst 1950 nach militärischem Einschreiten der kommunistischen Truppen statt. Ein Jahr zuvor war auf dem Gebiet der ehemaligen Republik die Volksrepublik China gegründet worden. Anders als beim Sturz der Kaiserherrschaft ging der Gründung der VRC keine Zersplitterung des Staates voraus. Vielmehr begann die kommunistische Bewegung die effektive Staatsgewalt der Republik durch militärische Auseinandersetzungen territorial immer weiter zu verdrängen. Auch war diese Entwicklung mit einem breiten Umschwung in der politischen Auffassung der Bevölkerung verbunden. 386 Problematisch ist in diesem Zusammenhang, daß das politische Regime der chinesischen Republik seine Tätigkeit auf der Insel Taiwan (Formosa) fortsetzte. 87 Als Gewinner des Zweiten Weltkrieges auf Seiten der Alliierten gehörte die Republik China zu den Gründungsmitgliedern der UNO. Ihren Sitz in der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat als Repräsentanten des Staates China behielten ihre Vertreter sogar noch bis 1971, als die VRC anstelle der Republik den Sitz zur Vertretung Chinas in der UNO übernahm. 388 Aber auch danach bestehen noch Unklarheiten über den Status, insbesondere Taiwans. Einerseits gehen die Regierungen der VRC sowie Taiwans offiziell von 385

Vgl. zu dieser Vorbedingung schon S. 123, 137 f. Vgl. Fairbank S. 242 ff, insbesondere 264 ff; Gernet S. 538 f. 387 Vgl. zum Rückzug des Regimes auf die Insel: Fairbank S. 270. 388 Zur Diskussion in der Generalversammlung über die Aufnahme der VRC und den Ausschluß Taiwans: Y. U. N. 1971, 126 ff. 386

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der sog. Ein-China-Politik aus, nach der es nur ein China gibt. Andererseits beanspruchen aber beide Regime ftir sich der einzig legitime Repräsentant zu sein. Noch komplizierter wird die Beurteilung dadurch, daß die Republik China neben ihrer Formel "Ein Staat - Zwei Regierungen" zugleich von der gegenwärtigen Existenz zweier „distinct political entities" ausgeht, jedoch selber nur von wenigen Staaten anerkannt worden ist.38 Aufgrund dieses Statusproblems war lange Zeit zweifelhaft, ob hier wirklich ein Fall der Revolution oder nicht doch eher eine Dismembration oder Sezession vorlag. Bereits vor dem Wechsel der Vertretung Chinas bei der UNO wurde jedoch überwiegend vertreten, daß keine der beiden vorgenannten Alternativen in Betracht kommt. Begründet wurde dies einerseits damit, daß beide Regime ihren Souveränitätsanspruch auf ganz China beziehen. Andererseits wurde hervorgehoben, daß selbst eine Eigenstaatlichkeit Taiwans kaum geeignet wäre, die Kontinuität der Völkerrechtspersönlichkeit auf dem Festland zu negieren. 390 Dadurch, daß bei der UNO 1971 lediglich das zur Vertretung Chinas berufene Regime ausgewechselt wurde, findet diese Ansicht auch ihre Bestätigung in der Praxis der internationalen Staatengemeinschaft. Im Gegensatz zur Abschaffung des Kaisertums handelte es sich bei der Gründung der VRC somit um eine echte Revolution aufgrund innerer Umwälzung des Staatssystems. 391 In solchen Fällen ist aber grundsätzlich eine Kontinuität der Rechtspersönlichkeit dieses Staates gegeben. 392 Insoweit wäre also auch von einem Einrücken der VRC in die territoriale Rechtsstellung der Republik auszugehen. Dennoch wirft die Besonderheit, daß das gestürzte Regime auf einer Exklave überleben konnte zwei weitere Fragen auf. Die erste Frage bezieht sich auf die Vollendung der Revolution im Sinne einer effekti-

389

Zur unterschiedlichen Haltung Taiwans und der VRC in der Wiedervereinigungsfrage: Weggel in China aktuell, November 1991, 716 ff. Zur Rechtslage Taiwans: Heuser in ZaöRV 40/1, 1980, 31-75, insbes. 66 ff. Gegen eine Eigenstaatlichkeit Taiwans noch: Crawford S. 151, ders. in BYIL 1976-1977, 93 Fn. 9, 181; Verdross/Simma S. 229 § 387. 390 Vgl. Rüper S. 98 ff; v. Perfall S. 156 ff; Kaminski S. 176 ff, m.w.N. sowie mit einem Überblick über die verschiedenen Theorien zum Problem der Staatenkontinuität Chinas S. 167 ff. 391 Ebenso v. Perfall S. 154; Crawford S. 144. 392 Vgl. zur Abgrenzung mit Literaturnachweisen schon oben S. 188 Fn. 378.

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ven Herrschaftsumwälzung im Inneren. 393 Als zweites stellt sich das Problem, inwiefern die jahrzehntelang versagte Anerkennung des kommunistischen Regimes durch die Völkergemeinschaft den Eintritt der Rechtsfolge verzögert haben kann. 394 Letztlich kann für das hier erörterte Problem aber die Frage offen bleiben, ab welchem Zeitpunkt die Rechtspersönlichkeit Chinas durch die VRC ausgefüllt wurde. Ausschlaggebend ist, daß ungeachtet der revolutionären Umwälzungen kontinuierlich ein chinesischer Staat bestand, der allgemein anerkannt war und, daß Qinghai zum Staatsgebiet dieses Völkerrechtssubjektes gehörte. Unter diesem Aspekt ermangelt es somit an Faktoren, aus denen die Bevölkerung Qinghais (nicht nur die Tibeter) eine eigene Rechtsposition auf Wahrung ihrer territorialen Integrität und Unabhängigkeit ableiten könnte, die sie zu einem Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts machen würde. Dabei ist davon auszugehen, daß der VRC spätestens seit ihrem Einrücken als Repräsentantin Chinas bei der UNO auch die de jure-Territorialhoheit zumindest über das gesamte Festlandsterritorium der ehemaligen Republik China, einschließlich der Region Qinghai, zukommt. 395 China hat folglich seit dem 18. Jahrhundert kontinuierlich Souveränität über die Region Amdo beziehungsweise die Provinz Qinghai ausgeübt. Der darauf gründende Titel ist auf die VRC spätestens mit ihrer internationalen Anerkennung als Repräsentantin des kontinuierlich existierenden Völkerrechtssubjektes China übergegangen. Insofern scheidet ein Selbstbestimmungsrecht für die Gebietsbevölkerung Amdos nach

393 Gegen einen Abschluß der Revolution noch: Röper (1967) S. 134 f m.w.N. und vorangestellter Untersuchung der strategischen und politischen Lage. Nw. für Stimmen aus UN-Debatten auch bei v. Perfall S. 160 Fn. 25. Dagegen schon für einen Abschluß im Jahre 1947: v. Perfall S. 160, 164 ff m.w.N. 394 Nach der Ansicht von Frowein hätte die VRC mangels internationaler Anerkennung bis 1971 nur als de facto-Regime bestanden: Frowein (1) S. 7; in diesem Sinn Crawford S. 151 für den aktuellen Status Taiwans. Zum Theorienstreit über die Bedeutung der Anerkennung vgl. oben S. 137. 395 Teilweise wird die Ansicht vertreten, daß der Bürgerkrieg zwar fortbestehe, dieser aber wegen des territorial und personell kaum ins Gewicht fallenden Einflusses Taiwans dem Abschluß der Revolution nicht entgegenstehe. So im Ergebnis Kaminski in seiner Arbeit von 1971 S. 177, 179; auch Crawford S. 144, 151, der noch 1979 von einem konsolidierten Bürgerkrieg ausgeht, aber nur den Status Taiwans problematisiert. Röper betitelt den Zustand in seiner Arbeit von 1967 zwar als latenten Bürgerkrieg (S. 101), geht jedoch noch davon aus, daß Taiwan diesen mit einer sinnvollen Aussicht auf Erfolg führe (S. 134).

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dem traditionellen Ansatz aus, da sie weder einen unabhängigen Staat, noch ein de facto-Herrschaftssystem gebildet hat. 2.3. Der Status Ost-Khams

Unter Ost-Kham werden hier all diejenigen Gebiete der tibetischen Region Kham verstanden, die jenseits der konsolidierten Waffenstillstandslinie von 1918 bis 1950 lagen. Von einer kleineren Fläche im Norden der heutigen Provinz Yunnan abgesehen, gehören diese Gebiete heute hauptsächlich zur Provinz Sichuan. Sie machen dort über 1/3 des Territoriums aus. 396 2.3.1. Historische Machtverhältnisse

Im Gegensatz zu Qinghai wechselten die Machtverhältnisse über die Region Kham während der letzten beiden Jahrhunderte häufiger. Eine dauerhafte Herrschaftsausübung läßt sich weder für den in Lhasa residierenden und über Zentral-Tibet herrschenden Dalai Lama noch für den chinesischen Kaiser nachweisen. Anders als Qinghai wurde Kham im 18. Jahrhundert mehrfach in verschiedene Machtbereiche aufgeteilt. Die Grenzlinie zwischen der tibetischen und chinesischen Einflußzone wurde dabei häufig durch den Yangtze-Fluß gebildet. Das Jahr 1642 gilt als das Datum, in dem Zentral-Tibet unter dem fünften Dalai Lama geeint wurde. 397 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts lag Kham aber noch unter der praktisch unabhängigen Herrschaft lokaler Lamas. 398 In der Zeit von 1719-1721 wurde Kham einschließlich Teile Zentral-Tibets in die chinesische Provinz Sichuan eingegliedert. 399 Bereits 1725 wurden die Gebiete westlich des Yangtze wieder an Lhasa zurückgegeben. Der Einfluß Lhasas entsprach damit in seiner territorialen Ausdehnung dem der Zeit nach 1918. Die östlichen Gebiete erhielten eine lokale Selbstverwaltung unter chinesischer Oberaufsicht. 400 Bereits 1728 soll aber eine erneute Eingliederung Ost-

396 397 398 399 400

Vgl. Karte (1) im Anhang. Vgl. Shen/Liu S. 42; v. Walt (1) S. 10 f; Tieh-tseng Li S. 235 f. Petech S. 51. Tieh-tseng Li S. 40; Petech S. 28. Petech S. 103; Tieh-tseng Li S. 41; Richardson S. 51.

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Khams in die chinesischen Provinzen Sichuan und Yunnan stattgefunden haben. 401 Im 19. Jahrhundert änderten sich die Machtverhältnisse abermals. In den Jahren nach 1860 gelang es Lhasa, seinen Einfluß auch auf Gebiete östlich des Yangtze auszudehnen. Anlaß zur militärischen Aktion gaben lokale Streitigkeiten in dieser Region. 402 Der politisch geschwächte Kaiser Chinas soll der Machterweiterung Lhasas 1865 formell zugestimmt haben. 403 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand wieder ein Zugriff der Chinesen auf diese Region statt. Ab 1905 wurde ein Eroberungsfeldzug gefuhrt, der fünf Jahre später mit dem Einmarsch chinesischer Truppen in Lhasa endete. Im Zuge dieses Vormarsches wurden Teile Ost-Khams 1906 wieder in die Provinz Sichuan eingegliedert. Im Jahre 1909 hatten die chinesischen Truppen den Yangtze überschritten und waren im Westen sogar bis Chamdo vorgestoßen. 404 Auf die Grenzkonsolidierung der sino-tibetischen Machtbereiche zwischen 1913 und 1918 wurde bereits zur Frage der tibetischen Staatsgrenze eingegangen. Danach verblieb nur das Gebiet östlich des Yangtze im chinesischen Machtbereich. Die chinesische Autorität war jedoch nur nominell, da die lokalen Fürsten faktisch autonom regierten. 405 Ebenfalls im Zusammenhang mit der Grenze des tibetischen Staates wurde auf die Gründung der chinesischen Provinz Xigang im Jahr 1938 eingegangen. Diese Provinz erstreckte sich, allerdings nur auf dem Papier, einschließlich von Teilen Sichuans über Kham bis weit in Zentral-Tibet hinein. Auf chinesischen Karten wurde die Provinz nur geographisch durch den Yangtze geteilt. Tatsächlich hatten die Chinesen aber nur den östlichen Teil bis zum Fluß unter Kontrolle. Dieser Teil entsprach in etwa der Region OstKham. 406 401

Tieh-tseng Li S. 44. Shakabpa S. 155 berichtet noch von einem zweijährigen Feldzug des tibetischen Regenten gegen Fürstentümer in Ost-Kham ftir 1780. 402 Der genaue Zeitpunkt ist streitig: Richardson S. 111: 1860; Shakabpa S. 187 und Bell (1) S. 53: 1863; Tieh-tseng Li S. 62 ff: in den Jahren nach 1864 mit einer Ausweitung 1896. 403 Tieh-tseng Li S. 62. 404 V. Walt (1) S. 40; Bell (1) S. 106. 405 Peissel S. 12; Avedon S. 28; Karan S. 8. 406 Zur Ausdehnung vgl. die Karte bei Tieh-tseng Li und die Angaben bei Richardson S. 134. Anders aber die Karte im dtv-Perthes-Weltatlas S. 28 f. Vgl. im übrigen oben S. 133.

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Während der Periode der Warlords wurde der Ostteil der "PapierProvinz" Xigang von dem Militärgouverneur Sichuans mitverwaltet. 407 Schließlich gehörte auch diese Region zu den Gebieten, die erst um 1950 völlig von den kommunistischen Truppen eingenommen wurden. 408 An dem Konzept für die eigenständige Provinz Xigang wurde nicht festgehalten. Wie bereits dargelegt, ist Ost-Kahm heute in das Gebiet der Provinzen Sichuan und Yunnan eingegliedert. 2.3.2. Souveränitätsausübung durch China 2.3.2.1. Der Zugriff durch das Kaiserreich

Angesichts der wechselhaften Geschichte ist für den Erwerb eines chinesischen Gebietstitels zu Zeiten des Kaiserreiches an den zuletzt erfolgten Zugriff Chinas anzuknüpfen. Dieser erfolgte in den Jahren 1905 bis 1909. Da das Gebiet zu jener Zeit als Auf- und Durchmarschgebiet für chinesische Truppen diente, ist von einer effektiven Besitzbegründung durch das Kaiserreich auszugehen. Für eine administrative Zuordnung des Gebietes blieb dem Reich keine Zeit mehr, da es kurz nach Beendigung des Feldzuges aufhörte zu existieren. Aufgrund der vorhergehenden jahrzehntelangen Verdrängung Chinas aus dieser Region durch Tibet reicht die bloße effektive Inbesitznahme des Territoriums ohne einen manifestierten Inkorporationswillen allein jedoch nicht aus. Ein solcher Wille hätte sicherlich aus einer langandauernden friedlichen Herrschaftsausübung hergeleitet werden können. Demgegenüber war der letztmalige Gebietserwerb durch China nur Teil eines größer angelegten Feldzuges, der nach wenigen Jahren auf dem Höhepunkt des Gebietsgewinns infolge des Sturzes der Monarchie in China abgebrochen wurde. Allerdings könnte aus der historischen Vorgeschichte mehrmaliger Ausdehnung des chinesischen Einflusses auf dieses Gebiet und aufgrund des fortgesetzten Marsches Richtung Zentral-Tibet auf den Willen zur dauerhaften Inkorporation geschlossen werden. Dagegen spricht jedoch ein wichtiges Indiz. So wurde der schon 1909 erdachte Plan zur Errichtung der neuen Provinz Xigang auf dem Gebiet Khams damals vom Kaiserhaus noch nicht offiziell aufgegriffen. 409 Die einzige manifestierte Haltung zum Statusproblem weist 401 408 409

Vgl. Richardson Vgl. Richardson Vgl. Richardson

S. 134 f, 161; Tieh-tseng Li S. 161, 164 f. S. 179 f; dtv-Atlas zur Weltgeschichte S. 234. S. 100; v. Walt (1) S. 42.

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somit gerade nicht in die Richtung einer völligen Einverleibung. Damit bleibt offen, mit welcher statusrechtlichen Intention der Gebietsgewinn verbunden war. Aber auch ein vorhergehender und gegebenenfalls mangels Annexion durch China fortbestehender Titel des vom Dalai Lama regierten Zentral-Tibets zu dieser Zeit erscheint fraglich. Zwar war Tibet nach der h.M. zu dieser Zeit ein chinesisches Protektorat und konnte als solches durchaus auch beschränkte Souveränitätsrechte innehaben. Allerdings beschränkte sich die Einflußnahme Lhasas auf die Einsetzung eines Gouverneurs und der Verpflichtung der lokalen Fürsten, auf Anfrage Truppen bereitzustellen. Eine wirkliche Kontrolle durch Lhasa bestand nicht. 410 Somit finden sich weder für einen Gebietstitel Chinas noch für einen Titel Tibets hinreichende Anhaltspunkte. Der Status Ost-Khams für diese Zeit kann demnach nicht abschließend bestimmt werden. Den tatsächlichen Verhältnissen und Interessenlagen entspricht wohl noch am ehesten die Einordnung als Puffergebiet zwischen Zentral-Tibet und China, über das beide Seiten lediglich die formelle Oberhoheit erlangen wollten. 2.3.2.2. Die Inkorporation in die chinesische Republik

Genauer läßt sich demgegenüber der Status Ost-Khams zur Zeit der Republik China feststellen. Bereits bei der Erörterung zur tibetischen Staatsgrenze auf dem Territorium Zentral-Tibets wurde festgestellt, daß sich die Fronten nach dem Abzug der chinesischen Truppen am Yangtze konsolidierten. Somit konnten die Chinesen ihre Kontrolle über OstKham behaupten. Damit ist seit Gründung der Republik ein andauernder Besitzstand festzustellen. Gerade aus der Verteidigung dieses Gebietes gegenüber Tibet ergibt sich der Wille, das Territorium der Republik einzuverleiben. Die später erfolgte Gründung einer neuen chinesischen Provinz namens Xigang auf dem Gebiet Khams 1938 stellt demgegenüber nur eine administrative Konkretisierung der bereits vollzogenen Einverleibung dar. In ihrer inneren Verwaltung sollen die Khampas (Bezeichnung für die Bevölkerung Khams) allerdings weitge410

Zum Ausmaß der Kontrolle Lhasas: Shakabpa S. 187; Bell (1) S. 16: der sogar von zahlreichen kleineren Staaten auf diesem Gebiet spricht; Tieh-tseng Li S. 172. Vgl. zum Status Tibets zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits oben S. 119 f.

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hend autonom gewesen sein.411 Diese beschränkte Autonomie steht der Annahme chinesischer Souveränität jedoch nicht entgegen. Auch für die Periode der Warlords ist parallel zum Fall Qinghais auch hier festzustellen, daß der Warlord Sichuans, der zugleich Xigang militärisch kontrollierte, keine formelle Unabhängigkeit von China propagiert hat. Vielmehr wurde noch 1931 ein Waffenstillstand zwischen Tibet und Sichuan unter Beteiligung eines Repräsentanten der chinesischen Nationalregierung getroffen. 12 Später verlegte die Nationalregierung ihren Sitz sogar von Nanking nach Sichuan. 4 3 Noch 1943 reagierte der Warlord Sichuans ebenso wie der Gouverneur Qinghais auf eine militärische Direktrive der Nationalregierung gegen Tibet. 414 Allerdings ist festzustellen, daß sich der Widerstand gegen jedwede Herrschaft unter den Einwohnern Khams stärker manifestierte als in Qinghai. So sollen die Khampas sich 1933 sowohl gegen Lhasa als auch gegen China gewendet haben. 415 Letztlich führte dieser Unabhängigkeitswille aber nicht zu einer Veränderung der faktischen Machtaufteilung zwischen Lhasa und China über die Teile Khams. Der hohe Grad faktischer Autonomie Ost-Khams unter dem Warlord Sichuans begründet somit, ebenso wie im Falle Qinghais, keinen eigenständigen Status dieser Region. Somit ist davon auszugehen, daß Ost-Kham wenn nicht schon seit Gründung der Republik, so doch spätestens seit Konsolidierung der Waffenstillstandslinie 1918 zum Staatsgebiet der Republik China gehörte. Zum Zeitpunkt dieser Eingliederung war die Region Ost-Khams weder ein eigenständiger Staat noch ein ähnlich gefestigtes souveränes Herrschaftssystem, dessen Gebietshoheit einem Titelerwerb seitens Chinas hätte entgegenstehen können. 2.3.2.3. Fortgesetzte Herrschaftsausübung durch China

Ähnlich wie die Region Amdo wurde auch Ost-Kham erst um 1950 von den kommunistischen Truppen erobert. Wie im Parallelfall sind aber 41

' Peissel S. 12 f. Richardson S. 134 f. Anders allerdings die Vereinbarung von 1933, die ohne Beteiligung Nankings zustande kam: vgl. Richardson S. 136; Shakabpa S. 268; Tieh-tseng Li S. 164 f. 413 Fairbank S. 243. 4.4 Richardson S. 161. 4.5 Peissel S. 12 f. 412

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auch hier keine Umstände ersichtlich, aus denen diesem Gebiet eine Sonderstellung gegenüber den sonstigen Provinzen zukommen könnte. Für die von der VRC beanspruchte Territorialhoheit gelten die Ausfuhrungen bei der Erörterung für Amdo zum Problem der Staatenkontinuität entsprechend. Danach ist auch hier ausschlaggebend, daß Ost-Kham kontinuierlich zum Staatsgebiet des Völkerrechtssubjektes China gehörte, das nunmehr von der VRC repräsentiert wird. Fremde Souveränitätsrechte über Ost-Kham oder eine Eigenstaatlichkeit dieser Region wurden nicht verletzt. Die Inkorporation hatte somit den Erwerb eines Gebietstitels durch China zur Folge. Unter dem Aspekt des Restitutionsanspruchs für ehemalige Staatsvölker bleibt folglich auch hier kein Raum für ein Selbstbestimmungsrecht dieser Bevölkerung. 2.4. Wirksamkeit "historischer Titel" über Rest-Tibet

Oeter sieht in Tibet einen analogen Fall zur West-Sahara. Er beruft sich auf die Lehre, nach der historische Titel durch das Selbstbestimmungsrecht als neues Element des Völkerrechts unwirksam werden. Diese Unwirksamkeit betreffe auch die historischen Titel Chinas über Tibet.416 In diesem Fall wäre, wenn auch nicht von einer Staatlichkeit, so doch von einem eigenständigen Status Rest-Tibets auszugehen, der möglicherweise mit einem eigenen Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung verbunden wäre. Indes ist bereits die Doktrin von der Unwirksamkeit historischer Titel fragwürdig. 2.4.1. Historische Gebietstitel

Der Begriff "historischer Titel" wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Oeter bezieht ihn auf Titel aufgrund vormoderner Vasallenund Suzeränitätsverhältnisse.417 Weiter geht die Auffassung von Blum, der darunter historische Gebietsansprüche versteht, die nicht vertraglich legitimiert sind, sondern auf Völkergewohnheitsrecht beruhen.418 Unter dem Begriff lassen sich somit Titel zusammenfassen, die nicht auf den vom heutigen Völkerrecht anerkannten Erwerbsmodi zurückgehen. Es handelt sich somit um Titel, die nicht auf Okkupation, Dereliktion,

4,6

Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 750: unter dem Vorbehalt des intertemporalen Problems, allerdings ohne nach bestimmten Regionen Tibets zu differenzieren. 417 Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992,749. 418 Blum S. 4, 38 f.

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Zession, Anspülung, Ersitzung, Adjukation oder sonstige moderne Statusverträge beruhen. 419 2.4.2. Doktrin von der Unwirksamkeit historischer Titel

Die Lehre von der Unwirksamkeit historischer Titel beruht auf der Anwendung des zweiten Grundsatzes des Intertemporalen Völkerrechts. Dieser geht auf den Schiedsspruch von Max Huber im Insel-Palmas-Fall zurück. Danach richtet sich der Fortbestand eines Rechtes nach den jeweils geltenden Normen zum Zeitpunkt der Untersuchung. Diese Regel wird ebenso wie der erste Grundsatz als integraler Bestandteil des Völkerrechts betrachtet. 420 Nach der Doktrin zu den historischen Titeln stellt das Selbstbestimmungsrecht eine aktuell geltende Norm dar, die entsprechend dem zweiten Grundsatz des Intertemporalen Völkerrechts auch auf die Gültigkeit von Gebietstiteln einwirkt. Die Anwendung des genannten Grundsatzes auf Gebietstitel wird zum einen für Kolonialfälle diskutiert. So wird aus der Entkolonialisierungspraxis eine Einwirkung des Selbstbestimmungsrechts auf die Titel der Kolonialherren gefolgert. Danach mußte sich der alte Kolonialtitel für seinen Fortbestand an dem Selbstbestimmungsrecht als neuem Völkerrechtsinstitut messen lassen. Der koloniale Titel sei daher erst durch die Einwirkung des Selbstbestimmungsrechts unwirksam geworden, so daß die Kolonialgebiete einen eigenständigen Status erlangten. 421 Die Einwirkung des Selbstbestimmungsrechts auf die Gültigkeit von Gebietstiteln kann dogmatisch deswegen über den kolonialen Kontext hinaus ausgedehnt werden, da weder der zweite Grundsatz des Intertemporalen Völkerrechts noch das heutige Selbstbestimmungsrecht auf Kolonialfälle beschränkt sind. Dies fuhrt für die Vertreter dieser Lehre zu der Schlußfolgerung, daß das Selbstbestimmungsrecht generell als Prüfstein auf die Wirksamkeit von (historischen) Gebietstiteln einwir-

419

Vgl. zu den Erwerbsmodi Verdross/Simma S. 752 ff. Zum Problem der Ersitzung und verwandten Rechtsinstituten vgl. oben S. 148, 150 f. 420 Insel Palmas-Fall in RIAA 2/1949, 845 zit. bei Baade in JIR 7/1958, 241. Vgl. auch den IGH in ICJ Report 1953, 47 ff, 56. Zur Verbindlichkeit der Grundsätze des intertemporalen Völkerrechts vgl. mit Nw. schon oben S. 169 Fn. 315. 421 So Shaw in NethYBIL 13/1982, 89; Murswiek in Der Staat 23/1984, 542. 422 So: Thürer (Das Sbr) S. 203; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 749 f; Torres in EPIL (10), 499; E. Klein S. 186; einschränkend Jennmgs S. 78; unter allgemeinem Verweis auf neue Völkerrechtsnormen auch Crawford S. 175.

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2.4.3. Kritik und Einschränkung

Nach der Doktrin von der Unwirksamkeit historischer Titel kommt dem Selbstbestimmungsrecht weniger die Bedeutung eines konkreten Rechtsanspruchs zu. Vielmehr hätte es nach dieser Doktrin die Funktion eines allgemeinen Maßstabs oder Wertungsfaktors, der zur Unwirksamkeit für bestimmte Arten des Gebietserwerbs fuhrt. Bei der Erörterung zum Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts wurde jedoch die Feststellung getroffen, daß seine Funktion gerade nicht darin liegt, daß das Selbstbestimmungsrecht als allgemeiner Wertungsgrundsatz ("Standard") quasi mittelbar auf völkerrechtliche Fragen ausstrahlt. Es ist vielmehr ein subjektives Recht, das seinen Rechtsträgern gegenüber anderen Völkerrechtssubjekten das Recht auf freie Statusbestimmung mit den daraus folgenden Konsequenzen verleiht. Dabei muß die Frage der Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts durch Zuordnung eines Rechtsträgers ermittelt werden. 423 Für die Einwirkung des Selbstbestimmungsrechts auf die Wirksamkeit von Gebietstiteln bedeutet dies folgendes: Das einem Volk zustehende Recht auf Selbstbestimmung führt dazu, daß entgegenstehende Hoheitsrechte zumindest diesem Rechtsanspruch gegenüber unwirksam sind. Diese Einwirkung auf Gebietstitel setzt jedoch a priori die Feststellung voraus, daß das Selbstbestimmungsrecht dieser Bevölkerung zusteht und damit überhaupt anwendbar ist.424 Außerdem ist der dem Selbstbestimmungsrecht entgegenstehende "historische" Gebietstitel noch insofern von Bedeutung, als sich die Ausdehnung des Territoriums, auf das sich das Selbstbestimmungsrecht bezieht, nach der vormaligen Gebietsdemarkation richtet. Dies entspricht dem Prinzip des uti possidetis iuris, das vom IGH zumindest im Rahmen der Entkolonialisierung für die Bestimmung neuer Staatsgrenzen als maßgeblich erachtet wurde. 425 Die gerade formulierte Kritik schließt nicht aus, daß historische Titel durch das Selbstbestimmungsrecht einer Gebietsbevölkerung dieser gegenüber unwirksam sind. Nach den Ergebnissen dieser Arbeit kann das 423 Vgl. zur Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht ein subjektives Recht oder ein Standard ist: unter B. IV. 3.3. Vgl. zum Selbstbestimmungsrecht als "Standard" im Rahmen von Absatz 7 des Selbstbestimmungsabschnittes der Deklaration 2625 S. 209 f. 424 Dies war der Fall bei dem Restitutionsanspruch, der dann den Titelerweib des annektierenden Staates zumindest im Verhältnis zur Bevölkerung hinderte (S. 162). 425 IGH in ICJ Report 1986, 566 Ziff. 23 und 568 Ziff. 30.

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Selbstbestimmungsrecht aber nur dann zur Unwirksamkeit eines Gebietstitels fuhren, wenn die Bevölkerung des betroffenen Territoriums die Voraussetzungen erfüllt, um als Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts qualifiziert werden zu können. Ausgangspunkt jeder Betrachtung muß demnach die Frage sein, welchen Status eine Gebietsbevölkerung hat und ob dieser Status zur Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechts berechtigt. Die Legalität einer Gebietsaneignung ist danach allenfalls insofern bedeutsam, als sie darüber entscheidet, ob dieser Status wirksam aufgehoben wurde oder ob er, wie im Falle rechtswidriger Annexion, fortgilt. Für die Frage seiner Anwendbarkeit wurde bislang festgestellt, daß das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch ehemaligen Staatsvölkern zukommt. Hinsichtlich der Wirksamkeit historischer Titel wird demgegenüber die Frage relevant, ob dieses Recht auch einer Gebietsbevölkerung zusteht, die bei der Eingliederung ihres Gebietes in den Herrschaftsbereich eines Staates nicht diesen Status besaß. Anhaltspunkte für eine Bejahung dieser Frage lassen sich in der Staatenpraxis durchaus finden. Nach einer bereits vor der Entkolonialisierung begründeten Praxis waren unabhängige Gebiete mit einer sozial und politisch organisierten Bevölkerung zumindest vor der Wirksamkeit einer bloßen Okkupation geschützt, da sie nicht als terra nullius angesehen werden konnten. Zudem hielt der IGH auch die Trägerschaft von Souveränitätsrechten durch solche Gemeinschaften für möglich. 426 Crawford spricht insoweit von einer begrenzten Rechtspersönlichkeit insbesondere für Nomadenstämme. 427 Die Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts an diese Gemeinschaften würde nur die konsequente Einbindung der Doktrin zum Selbstbestimmungsrecht in diese Praxis darstellen. Allerdings beziehen sich die zitierten Aussagen nur auf den Schutz vor bloßer Okkupation. Unter Okkupation wird in Abgrenzung zur Annexion die Eingliederung von Gebieten verstanden, die nicht zum Staatsgebiet eines anderen Staates gehören. Voraussetzung ist zwar unter anderem, daß eine effektive Inbesitznahme erfolgt, jedoch wird insbesondere bei unbewohnten Gebieten auch ein geringes Maß an effektiver Herr-

426

Vgl. zu beidem: IGH in ICJ Report 1975, 31 f. 49 ff. Auch S. 349; Torres in EPIL (10), 498. Crawford in BYIL 1976-1977, 118.

421

Dahm/DelbrtickWolfrum

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Schaft als ausreichend angesehen. 428 Der Grundsatz der Effektivität wird auch als Korrektiv auf die Rechtsfolgen einer an sich wegen des Vorhandenseins einer sozial organisierten Gebietsbevölkerung unzulässigen Okkupation angewandt. So wird für den aufgrund bloßer Okkupation begründeten Titel die Auffassung vertreten, daß dieser unter den im IGH-Urteil genannten Bedingungen unwirksame Titel infolge effektiver Herrschaftsausübung trotz Bestehens einer sozial organisierten Gebietsbevölkerung in einen wirksamen umschlagen kann. 4 9 Daraus ist die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die genannten sozialen Gemeinschaften zwar vor bloßer Okkupation, im Unterschied zu Staatsvölkern jedoch nicht vor effektiver Gebietseingliederung geschützt waren. Ob die geschilderte Praxis zur Okkupation überhaupt auf vormoderne Vasallen- und Suzeränitätsverhältnisse übertragen werden kann, bedarf im vorliegenden Fall für Rest-Tibet keiner vertieften Erörterung. Im Falle einer Parallelwertung müßten nämlich im Hinblick auf das Effektivitätsprinzip auch die gleichen Einschränkungen gelten wie für die Okkupation. Demnach besteht die Möglichkeit, daß auch solche historische Titel infolge effektiver Souveränitätsausübung des vormaligen Lehnsherrn in, auch nach heutigem Völkerrecht wirksame Titel umgewandelt worden sein können. Insbesondere infolge kontinuierlicher, friedlicher Herrschaftsausübung bleibt die einmal begründete Souveränität erhalten, auch wenn der ursprüngliche Erwerbsmodus nach heutigem Völkerrecht nicht mehr anerkannt wird. Eine nachträgliche Unwirksamkeit dieser Titel widerspräche der stabilitätsorientierten Zielsetzung des Völkerrechts und läßt sich weder der Doktrin zum Selbstbestimmungsrecht noch der Praxis entnehmen. Dies entspricht auch dem zweiten Grundsatz des Intertemporalen Völkerrecht, nach dem eine veränderte, auch nach aktuellem Völkerrecht beachtliche Herrschaftsausübung zur Aufrechterhaltung des Titels führt. Insofern ist auch hier festzustellen, daß das Selbstbestimmungsrecht eben kein Instrument zur Revision der Geschichte ist.430 Die Interessen der betroffenen Gebietsbevölkerung, die möglicherweise kulturelle und andere Eigenarten besitzt, bleiben deswegen nicht unberücksichtigt. Insofern trägt auch hier wieder der 428

IpsenIGhria S. 260 f, insbesondere S. 263 f zur Frage der Effektivität unter Verweis auf den Ost-Grönland-Fall des StIGH von 1933; auch Dahm/DelbrückAVolfrum S. 348 ff 429 Nach Crawford S. 177 war eine Gebietsaneignung durch Eroberung zulässig. So auch der IGH in ICJ-Reports 1975, 34 ff, für Ansprüche Marokkos auf die West-Sahara, der jedoch im Ergebnis eine effektive Souveränitätsausübung Marokkos verneinte. 430 So auch: Murswiek in Der Staat 23, 1984, 547; Gusy in ArchVR 30, 1992, 402.

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Hinweis, daß das Völkerrecht neben dem Selbstbestimmungsrecht ein gesondertes Regelungswerk zum Minderheitenschutz besitzt, dessen Anwendungsbereich von dem des Selbstbestimmungsrechts zu trennen ist. Die vorhergehende Erörterung kam zu dem Ergebnis, daß das Selbstbestimmungsrecht nicht eo ipso auf historische Titel angewandt werden kann. Vielmehr muß seine Anwendbarkeit zuvor über andere Kriterien ermittelt werden. Danach steht das Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich nur Staatsvölkern zu. Für nicht-staatliche aber gleichwohl organisierte Gesellschaften besteht allenfalls ein Schutz vor Souveränitätsansprüchen die sich auf nur formale Herrschaftsverhältnisse stützen. Bei der Untersuchung zum Status der Regionen Rest-Tibets mußte aber festgestellt werden, daß China seinen Souveränitätsanspruch auf diese Gebiete auf effektive Herrschaftsausübung stützen kann. Die Wirksamkeit des chinesischen Titels über Rest-Tibet wird daher weder über das Selbstbestimmungsrecht als solches beseitigt, noch stehen ihm etwaige beschränkte Souveränitätsrechte der tibetischen Bevölkerung als sozial organisierter Gemeinschaft gegenüber. 3. Fazit für die Bevölkerung Rest-Tibets

Der tibetischen Bevölkerung in den Regionen Rest-Tibets steht das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch nicht zu, da sich dieses nur auf ehemalige Staatsvölker bezieht. Die Regionen Rest-Tibets gehörten aber weder zu dem tibetischen Staatsgebiet nach 1913, noch haben die Tibeter selbständige Staaten auf diesem Territorium gegründet. Eine Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts ergibt sich auch nicht daraus, daß es als allgemeine Wertungsnorm die Wirksamkeit historischer Titel entfallen läßt. Für Gebiete mit sozial organisierter Bevölkerung war lediglich der Enverbsmodus der Okkupation ausgeschlossen sowie eventuell noch andere formale Herrschaftsformen. Demgegenüber kann sich China auf eine kontinuierliche, effektive Herrschaft über Rest-Tibet berufen. Der Vorwurf, die heutigen chinesischen Ansprüche stützten sich nur auf militärische Siege, die bereits über 250 Jahre zurücklägen, greift somit nicht. 431 Wesentlich ist, ob ein Titel entsprechend dem ersten Grundsatz des Intertemporalen Völkerrechts nach den Normen zum Zeitpunkt sei431

Tibetan Young Buddhist Association: Tibet-The Facts S. 27.

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ner Begründung wirksam war und ob er gemäß dem zweiten Grundsatz nach den jeweils geltenden Regeln des Völkerrechts aufrechterhalten wurde. Im vorliegenden Fall sind die historischen Tribut- und Hoheitsbeziehungen zwischen Tibet und China, bezogen auf die Regionen außerhalb des tibetischen Staates von 1913, durch eine effektive Herrschaft abgelöst worden, die auch von dem heutigen Völkerrecht anerkannt wird. Es ist diese für Rest-Tibet nachgewiesene Kontinuität in der Titelerhaltung, die für die völkerrechtliche Beurteilung maßgeblich ist.

V. D a s Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht Die letzte in dieser Arbeit zu behandelnde Fallgruppe ist das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht. Innerhalb des Selbstbestimmungskonzeptes gehört die im folgenden zu erörternde Fallkonstellation sicher zu den jüngsten Entwicklungen im Völkerrecht. Sie ist aber auch am weitesten vom traditionellen Anwendungsbereich für koloniale und Staatsvölker entfernt, da das Notwehrrecht a priori nur für Teile eines Staatsvolkes in Betracht kommt. Daher ist zunächst das innovative Element dieser Fallgruppe zu den bislang erörterten Anwendungsbereichen des Selbstbestimmungsrechts hervorzuheben. 1. Dogmatische Herleitung des Notwehrrechts 1.1. Das Notwehrrecht für Minderheiten Es wurde bereits ausgeführt, daß das Selbstbestimmungsrecht in Abgrenzung zum bloßen Minderheitenschutz gesehen werden muß. Demzufolge fallen ethnische Minderheiten in multinationalen Staaten grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts. 432 Eine andere Frage ist allerdings, ob das Selbstbestimmungsrecht nicht für qualifizierte Minderheiten in Betracht kommt. Eine solche Qualifizierung kann jedoch nicht durch gruppen/'wte/Tje Merkmale wie zum Beispiel historische Gemeinsamkeiten und subjektives Gemeinschaftsbewußtsein vorgenommen werden kann, da diese Voraussetzungen bei den meisten Minderheiten gegeben sind. Ein derartiges Vorgehen käme somit der schlichten Anerkennung von ethnischen Minderheiten als Trägern des Selbstbestimmungsrechts gleich. 433 432 433

Vgl. unter C. I. 2. Vgl. dazu oben S. 82 ff.

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Demgegenüber wurde in dieser Arbeit noch nicht die Möglichkeit behandelt, die Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts an Minderheiten an qualifizierte äußere Umstände anzuknüpfen. Solche äußeren Umstände wären in der Lage, die Ausweitung des Anwendungsbereichs auf ethnische Minderheiten und eine daraus folgende Legitimierung von Sezessionen mit den in der UN-Charta verankerten grundlegenden Zielen der internationalen Sicherheit und Stabilität zu versöhnen. Das Konzept, das diesen Anforderungen genügt, ist die Einordnung des Selbstbestimmungsrechts als Notwehrrecht eines vom eigenen Staat bedrängten Teils der Bevölkerung. In der Regel wird es sich dabei allerdings um eine Minderheit handeln, die aber insoweit gegenüber sonstigen Minderheiten qualifiziert ist. 1.2. Diskussion des Notwehrrechts in der Literatur Die Doktrin vom Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht kann sich auf einen breiten Rückhalt in der Literatur stützen. Zur Begründung werden verschiedene Argumente herangezogen. Bereits die Untersuchungskommission des Völkerbundes hat in einer Stellungnahme zum Problem der Aaland-Inseln die Möglichkeit anerkannt, daß die Abspaltung einer qualifizierten Minderheit legitim sein könne. Die Kommission hielt dies als Ausnahmelösung für zulässig, wenn ein Staat unwillig sei, effektive Garantien für eine Minderheit zu bieten. 434 Doehring hat diesen Ansatz über Minderheitengarantien hinaus für die allgemeine Menschenrechtssituation weiterentwickelt. Er geht zunächst davon aus, daß jeder Bevölkerungsgruppe eine Treuepflicht gegenüber ihrem Staat obliege. Mit dieser Treuepflicht korrespondiere aber auch eine Schutzpflicht des Staates. Dementsprechend verliere der Staat sein Recht auf Personalhoheit, wenn er seiner Pflicht nicht nachkomme. Letzteres sei anzunehmen, wenn der Staat eine Bevölkerungsgruppe zum Beispiel durch zwangsweise Assimilierung diskriminiere und die Menschenrechte nicht mehr garantiert seien. 43 Dieser auf den Mißbrauch der Staatsgewalt durch eine Regierung zurückgehende Ansatz wird inzwischen von der Mehrheit in der Literatur ge"34 League Council, Doc. B. 7.21/68/106, zit. bei Saxena S. 11. Ähnlich, aber in der Tendenz restriktiver, die Position des Internationalen Juristenkommitees in seinem Aaland-Gutachten in League of Nations Official Journal, Spec. Suppl. 3, Oktober 1920, S. 1-19. 435 Doehring (Das Sbr) S. 32 f.

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teilt. 436 Neben diesem Ansatz weist Tomuschat zudem darauf hin, daß Bevölkerungsteilen eigene Rechte zukommen können, wenn die Einheit von Staat und Volk zerbrochen sei. 437 Diese Ansätze enthalten zunächst nur ein rein logisches Argument für die Ausweitung des Selbstbestimmungsrechts über den Kreis von Staatsvölkern hinaus. Wenn der Staat selbst durch seine Politik eine Bevölkerungsgruppe ausgrenzt, so kann er sich in der Frage des Selbstbestimmungsrechts nicht wieder auf die Einheit des Staatsvolkes berufen, die er faktisch mißachtet. Er muß sich dann auch eigene Rechte dieser Bevölkerungsgruppe entgegenhalten lassen. 438 Daneben wird aber auch der Versuch unternommen, den Nachweis eines Notwehrrechtes über die Praxis zum Selbstbestimmungsrecht zu fuhren. Eine starke Meinung in der Literatur verweist insofern darauf, daß dieser Ansatz bereits in der Deklaration 2625 eine Ausgestaltung erfahren habe. D i e Deklaration stelle in ihrem siebten Abschnitt zum Selbstbestimmungsrecht die territoriale und politische Einheit eines Staates unter einen entsprechenden Vorbehalt. Erfülle ein Staat diese Voraussetzungen nicht, stehe dem betroffenen Bevölkerungsteil das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht zu. 439 Andere Autoren ver436

So: Tomuschat in Modern Law of Self-Determination S. 9; Murswiek bei Tomuschat a.a. O. S. 26; Kimminich bei Tomuschat a.a. O. S. 91; Thürer in EPIL (8) S. 473, ders. in ArchVR 22/2, 1984, 127; Hanneman in VJIL 35/2, 1995, 504 f (unter Berufung auf Buchanan: Secession, The Morality of Political Divorce from Sumter to Lithuania and Quebec, 1991); Crawford S. 100, 117 (der allerdings zugleich eine geographische Trennung vom Reststaat voraussetzt: S. 101, 116); ähnlich wie die vorgenannten auch Cristescu S. 36, § 253; Nanda bei Alexander/Friedlander S. 210. A. A.: Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 407, der unter anderem darauf verweist, daß bei Menschenrechtsverstößen spezielle Instrumentarien greifen. Nach der h.M. ist das Selbstbestimmungsrecht aber nicht bloßes Instrument zur Durchsetzung der Menschenrechte sondern letztes Mittel in Ausnahmesituationen: vgl. dazu weiter im Text. 431 Tomuschat in FS Partsch S. 211 für die Beispiele Afghanistan und Kampuchea, allerdings mit Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht als Abwehr- und Rückkehrrecht. 438 Eine Parallele kann hier zur deutschen Rechtsprechung über den Status sog. de facto-Staatenloser gezogen werden. Dieser Status soll eintreten, wenn ein Staat nicht mehr bereit ist, den betreffenden Personen die Rechte von Staatsangehörigen zuzugestehen: vgl. Verwaltungsgericht Berlin in ZaöRV 52/2 1992, 378. 439 So auch die Internationale Juristenkommission in ihrem Tibetbericht 1997 S. 337 f. Vgl. aus der Literatur: Simma/Doehring nach Artikel 1 Rn. 37; Tomuschat in FS Partsch S. 211; Buchheit S. 221 f; Verdross/Simma S. 318, § 512; Murswiek in Der Staat 23/1984, 541; Haverland in EPIL (10) S. 385; Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 757, 759 ff m.w.N., 765; ohne Bezugnahme auf die Deklaration auch Heuser in ZaöRV 40/1 1980, 71.

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weisen auf den inneren Zusammenhang von Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechten. Sie betonen die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts in die Menschenrechtspakte oder die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts als Basis flir die Ausübung aller sonstigen Menschenrechte. 0 Unter dem Aspekt eines Selbsthilferechtes sind in der Literatur auch Fallstudien durchgeführt worden. Aufgrund eines Vergleiches von international abgelehnten und gebilligten Sezessionsbestrebungen wird ebenfalls die Schlußfolgerung gezogen, daß das Selbstbestimmungsrecht auch als Notwehrrecht anerkannt werde.441 Allerdings wird auch die Notwendigkeit gesehen, den Anwendungsbereich dieses Notwehrrechtes tatbestandsmäßig einzugrenzen. Als Indikatoren für eine Notwehrlage werden genannt: die Verletzung fündamentaler Menschenrechte442, eine extreme staatliche Unterdrückung443, große Flüchtlingsströme und Vertreibung444. Allgemein wird gefordert, daß es sich um besonders schwerwiegende Fälle handeln muß. Doehring hat dafür das Kriterium der Evidenz geprägt.445 Andere Autoren formulieren das Notwehrrecht entsprechend als ultima ratio-Mittel.446 Demgegenüber vertritt Oeter die Ansicht, daß das Notwehrrecht nicht erst bei krassen Menschenrechtsverletzungen, sondern auch bei gewaltsamer Beseitigung innerer Selbstbestimmung zulässig sein müsse.447 Teilweise wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich um Verletzungen handeln müsse, die sich gegen die Gruppe als solche richten.448 440 So: Zieger S. 87; Sharma S. 48; ähnlich Nanda bei Alexander/Friedlander S. 204 f; auch Suzuki in VJIL 16/4, 1975-1976, 798, 807 am Beispiel Biafras. 441 So Buchheit S. 221 f unter Berufung auf Biafra und Bangladesch; Nanda bei Alexander/Friedlander S. 209 f zu Bangladesch. Auf den letztgenannten Fall beziehen sich auch Crawford S. 100 f und Hanneman in VJIL 35/2, 505 (nach Hanneman war das Notwehrrecht auch im Falle der baltischen Republiken einschlägig: S. 506 f). 442 Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission 1997 S. 337; Simma/Doehring nach Artikel 1 Rn. 40 mit Beispielen; Doehring (Das Sbr) S. 33 mit weiteren Beispielen; Murswiek bei Tomuschat (Modem Law of Self-Determination) S. 26. 443 Buchheit S. 222. 444 Tomuschat in FS Partsch S. 211, der zudem auf die in der Praxis vorhandene Nähe dieses Tatbestandes zum Völkermord verweist. 445 Doehring (das Sbr) S. 32. Ebenso Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 127 Fn. 33, Heuser in ArchVR 40/1 1980, 71. 446 So: Thürer in EPIL (8) S. 473; Suzuki in VJIL 16/4, 1975-1976, 798; Buchheit S. 222: "ulümate remedy"; Tomuschat in Modern Law of Self-Determination S. 10: "step of last resort". Ähnlich auch Zieger S. 86: Überschreiten der Zumutbarkeitsschwelle. 447 Oeter in ZaöRV 52/3-4, 1992, 765. 448 So: Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 127; Doehring (Das Sbr) S. 33.

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Dieses Kriterium findet sich allerdings auch implizit in den anderen Ansätzen. Weitergehend ist demgegenüber die Annahme, das Notwehrrecht sei einer ethnischen Gruppe auch dann zuzugestehen, wenn ihr Bestand als eigenständige Gemeinschaft durch Beseitigung ihrer spezifischen Charakteristika bedroht sei.449 Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß nach der h.L. die Deklaration 2625, das Verhältnis des Selbstbestimmungsrechts zum System der Menschenrechte und die Staatenpraxis als Grundlagen des Konzeptes vom Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht angesehen werden. Diese Grundlagen sollen daher im folgenden untersucht werden. 1.3. Die Deklaration 2625 als Ansatzpunkt

Ein wesentlicher Ansatzpunkt fur die Annahme eines Notwehraspektes im Selbstbestimmungsrecht ist Absatz 7 im Selbstbestimmungsabschnitt der Deklaration 2625 (XXV) vom 24.10.1970. Der umfangreiche Wortlaut dieser Klausel sei wegen seiner Bedeutung zunächst vollständig wiedergegeben. "Nothing in the foregoing paragraphs shall be construed as authorizing or encouraging any action which would dismember or impair, totally or in part, the territorial integrity or political unity of souveraign and independent states conducting themselves in compliance with the principle of equal rights and self-determination of peoples as described above and thus possessed of a government representing the whole people belonging to the territory without distinction as to race, creed or colour. " Auf die Bedeutung, die gerade die Deklaration 2625 fur die Fortentwicklung des Völkerrechts eingenommen hat wurde bereits ausfuhrlich hingewiesen. 450 Die vorstehend zitierte Passage ist zudem wörtlich unter Kapitel I Ziffer 2. des Schlußdokumentes der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 wiederholt worden. Sie kann somit als Kernaussage zum Verhältnis zwischen Selbstbestimmungsrecht und 449

So Murswiek bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 26 f; Hanneman in VJIL 35/2, 1995, 505 (unter Berufung auf Buchanan, Quellenangabe oben in Fn. 436). 450 Oben S. 53 f.

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dem Grundsatz staatlicher Souveränität und territorialer Integrität gelten. Die Frage der Auslegung der oben zitierten Passage wurde bereits an anderer Stelle, bei der Frage nach einer sezessionsfeindlichen immanenten Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts behandelt. 451 Die Erörterung kam zu dem Ergebnis, daß der Auslegung durch die h.M. zugestimmt werden muß. Danach steht der Schutz der territorialen Integrität und politischen Einheit unter dem Vorbehalt, daß die Regierung das gesamte Volk repräsentiert und dies ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens und der Hautfarbe. Im Umkehrschluß läßt diese Klausel somit eine Sezession zu, wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Gusy hält diese Schlußfolgerung zwar auch für zulässig. Er verweist jedoch darauf, daß nach der Formulierung in der Deklaration ein solches Sezessionsrecht nicht schlechthin für alle ethnischen Gruppen besteht. Vielmehr würden die von einer Regierung zu repräsentierenden Volksteile nur nach drei ethnischen Kriterien differenziert, von denen zwei (Rasse und Hautfarbe) der Entkolonialisierungsidee zuzurechnen seien.452 Im übrigen weist Gusy a.a. O. auf das Problem der Konkretisierung hin und damit auf die Frage, wann eine solche Volksgruppe als von der Regierung repräsentiert anzusehen ist. Hier ist noch anzumerken, daß ein vorheriger Textentwurf zu dieser Passage der Deklaration 2625 abgelehnt wurde, nach dem die Regierung für diese Gruppen "repräsentativ" sein sollte. 453 Es fragt sich aber, ob der Wortlaut des Absatz 7 wirklich so eng im Sinne Gusys auszulegen ist. Genau besehen, bezieht sich bereits die Anforderung an das Staatenverhalten nach Absatz 7 nicht auf das subjektive Recht auf Selbstbestimmung. Dieses wird in Absstz 1 behandelt und fuhrt zu einer freien Statuswahl. Indem Absatz 7 die Bedingung aufstellt, daß sich die Staaten nur entsprechend dem Grundsatz ("principle") der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung verhalten sollen, setzt er den eigentlichen Selbstbestimmungsprozeß des Absatz 1, der erst zur Staatenbildung fuhrt, offenbar voraus. Dem Selbstbestimmungsrecht in Verbindung mit dem Gleichheitsgedanken wird in Absatz 7 vielmehr nur ein Leitgedanke entnommen, der entgegen Absatz 1 auf 451 452 453

Vgl. S. 91 f. Gu.iy in ArchVR 30/4, 1992, 406. Dazu Rabl S. 493 ff, insbesondere 494 f.

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die innerstaatlichen Verhältnisse Bezug nimmt. Insoweit ist diese Einschränkung eher als "Standard" anzusehen, der eine Durchbrechung der territorialen Integrität indiziert. 454 Unter der Prämisse einer lediglich richtungsweisenden Wirkung des "Standard" in Absatz 7 kann der Einwand von Gusy, daß die zitierte Passage lediglich Fälle ethnischer Diskriminierung behandelt, nicht zu einer entsprechenden Einschränkung fuhren. Vielmehr sind die genannten Gruppenmerkmale ebenfalls nur als Tatbestandsindikatoren und nicht als enumerativ aufgeführte Kriterien anzusehen. Daher ist die Aussage in dem Absatz als allgemeiner Diskriminierungsvorbehalt zu verstehen. 455 1.4. Vom "Standard" der Deklaration zum Sezessionsrecht

Begreift man den Absatz 7 der Deklaration 2625 in vorgenannten Sinn als "Standard", so folgt nicht schon aus der Diskriminierung einer Volksgruppe ein Sezessionsrecht dieser Bevölkerung. Nach dem allgemeinen Verständnis von der Wirksamkeit solcher "standards" eröffnet sich dadurch vielmehr die Möglichkeit zu einer Prüfung und Abwägung im Einzelfall, an deren Ende dann eine Legitimation der Abspaltung stehen könnte. Dies schließt jedoch nicht aus, daß sich ein solcher "Standard" in bestimmten Fällen zu einem subjektiven Recht im Sinne des unter Absatz 1 der Deklaration statuierten Selbstbestimmungsrechts verdichten kann. Hier kann ein Vergleich zum nationalen Verwaltungsrecht gezogen werden. Auch dort kann sich der Ermessensspielraum einer Behörde derart reduzieren, daß für den Bürger schließlich ein Rechtsanspruch auf eine bestimmte Rechtsfolge entsteht. Entsprechend kann für den "Standard" der Deklaration argumentiert werden, daß es

454 Ebenso: Saxena S. 105; ähnlich Buchheit S. 217 f. Auch Tomuschat hält die Formulierung dieses Abschnittes für zu unscharf, um bereits unter diesen Bedingungen ein Sezessionsrecht anzunehmen: Modern Law of Self-Determination S. 10. Zum Institut der "standards" vgl. unter B. IV. 3.3. Auch die Internationale Juristenkommission hat dem Absatz 7 ein eigenes Selbstbestimmungskonzept gegenüber Absatz 1 entnommen. Allerdings geht die Kommision hier von einem Selbstbestimmungsrecht auf Autonomie innerhalb eines Gesamtstaates aus. Vgl. Review 8/1972, 45 f. Vgl. zu diesem Ansatz aber unter C. II. 2. und 3. 455 Im Ergebnis ebenso: Luchterhand in ArchVR 31/1-2, 1993, 59, 79, der die Regelung im Ergebnis ebenfalls als Standard behandelt; Rozakis in EPIL (10) S. 487, der allerdings von einer Priorität der territorialen Integrität ausgeht.

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Fälle gibt, in denen die Abwägung a priori zugunsten des Selbstbestimmungsrechts ausfallen muß. Vor diesem Hintergrund wird die oben wiedergegebene Einschränkung der herrschenden Meinung für das Notwehrrecht bedeutsam. Indem sie dieses Recht nur in Evidenzfällen beziehungsweise als ultima ratio anerkennt, geht die herrschende Auffassung von einer gegenüber dem "Standard" erhöhten Tatbestandsschwelle aus. Die h.M. stellt insoweit auf Fälle besonders starker Diskriminierungen oder Menschenrechtsverletzungen ab. Für die Relevanz dieser Faktoren sprechen folgende Überlegungen: Das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht setzt schon begrifflich eine Notlage derjenigen voraus, die dieses Recht in Anspruch nehmen wollen. Eine solche Notwehrlage ist abstrakt nur durch eine Verletzung geschützter Rechtspositionen denkbar, die mit dem Selbstbestimmungsrecht verteidigt werden sollen. Die Legitimation des mit dem Selbstbestimmungsrecht verbundenen Sezessionsrechtes folgt somit aus seiner Funktion zur Beseitigung der Notlage. Im Völkerrecht finden sich Rechtspositionen für natürliche Personen hauptsächlich in den Menschenrechten. Das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht muß sich folglich als Schutzinstrument zur Wahrung noch näher zu konkretisierender Menschenrechtsverletzungen darstellen. 1.4.1. Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechte

Die Menschenrechtspakte enthalten keine explizite Aussage über das Verhältnis von Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechten. Allerdings findet sich das Selbstbestimmungsrecht in Artikel 1 an der Spitze beider Pakte. Daraus wird in der Literatur gefolgert, daß das Selbstbestimmungsrecht als Voraussetzung für die Verwirklichung der individuellen Menschenrechte zu begreifen ist.456 Diese Auffassung kann sich auf eine Vielzahl entsprechender UN-Resolutionen stützen. So hat die Generalversammlung mehrfach ausdrücklich die Verwirklichung des 456 Vgl. dazu insbesondere die Monographie von Hu Chou-voung, insbesondere S. 254 ff. Ebenso: Gros-Espiell S. 27; Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 122; ders. (Das Sbr) S. 110; Kiss in HRLJ 7/2-4, 1986, 174; Cassese S. 101; Michalska in Rights of Peoples S. 41; Klein S. 12; Gusy in ArchVR 30/4, 1992, 388 f. Für die Gründungszeit der UNO kann aus Artikel 55 der UN-Charta die gegenteilige Schlußfolgerung gezogen werden, nach der die Menschenrechte die Grundlage fiir die Umsetzung der Selbstbestimmung bilden. Dazu: Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 122, ders. (Das Sbr) S. 110; Gusv in ArchVR 30/4, 1992, 388 f.

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Selbstbestimmungsrechts als Voraussetzung für den Genuß der Menschenrechte bezeichnet.457 In anderen Resolutionen wurde klargestellt, daß die Errichtung von Fremdherrschaft nicht nur das Selbstbestimmungsrecht, sondern auch fundamentale Menschenrechte verletzt.458 Setzt man die Inhalte des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte in Beziehung zueinander, so stützt diese Analyse das beschriebene Verhältnis ebenfalls. Kerngehalt des externen Selbstbestimmungsrechts ist das Recht zur freien Statusbestimmung. Dieses Recht kann auch ausgeübt werden, ohne daß der einzelne seine Rechte auf Meinungs- und Religionsfreiheit oder Gleichbehandlung in Anspruch nimmt. Demgegenüber ist die Verwirklichung der individuellen Menschenrechte kaum vorstellbar, wenn die Einzelpersonen einem fremdbeherrschten Volk angehören. Doehring bringt vor, daß die Bewahrung und Achtung individueller Menschenrechte auch in abhängigen Staaten und sonstigen Fällen der Fremdbeherrschung möglich sei. 59 Dem ist entgegenzuhalten, daß die Begründung und Aufrechterhaltung einer Fremdherrschaft zumindest in der Regel mit Repressionen einhergehen wird. Jedenfalls dürfte die volle Gewährung der Menschenrechte an die Mitglieder eines beherrschten Volkes in dem Augenblick problematisch werden, in dem sich dieses Volk des Umstandes der Fremdherrschaft bewußt wird und, gestützt auf die individuellen Freiheitsrechte, gegen diese aufbegehrt. Es ist kaum anzunehmen, daß dieser Vorgang von dem herrschenden Regime geduldet würde. Daher bleibt es folgerichtig, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts als Voraussetzung für den vollen Genuß der individuellen Menschenrechte anzusehen.460 457

Zum Beispiel: Resolution 637A (VII) v. 16.12.1952, Präambel Absatz 1; Resolution 32/14 v. 7.11.1977, Präambel Absatz 6; Resolution 34/44 v. 23.11.1979, Präambel Absatz 8. In diesem Sinn auch die alljährliche GA-Resolution "Universal realization of the right of peoples to self-determination" in ihrer Präambel Absatz 1, vgl. die zitierten Resolutionen oben S. 55 in Fn. 85. Zu entsprechenden Resolutionen der MRK vgl. bei Gros-Espiell S. 2, 25. 458 Zum Beispiel: Resolution 1514 (XV) v. 14.12.1960, Zif. 1 in Verbindung mit Zif. 2; Deklaration 2625 (XXV) v. 24.10.1970, Absatz 2 des Selbstbestimmungsabschnitts. Weitere Resolutionen bei Cristescu S. 33 Fn. 95, S. 34 Fn. 96. 459 Simma/Doehring nach Artikel 1 Rn. 20. 460 Die Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht selbst als kollektives "Menschenrecht der dritten Generation" anzusehen ist interessiert in diesem Zusammenhang nicht. Vgl. für diese Ansicht. Christescu S. 30 f, § 216, 32, § 228; Kiss in HRLJ 7/2-4, 1986, 174 und Nowak Artikel I Rn. 15 f. Für die Kritik an kollektiven Menschenrechten: Partsch in VN 5/1986, 154; Mavi in QIL 5/1991, 123 ff, 140. Vgl. auch GA-Resolution 545 (VI) v. 5.2.1952, unter Verweis auf Resolution 421D (V) v. 4.12.1950.

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Die vorangestellten Überlegungen treffen auch für den Fall zu, daß keine Fremdherrschaft im kolonialen Sinn oder im Sinne einer Annexion vorliegt. Sie gelten auch dann, wenn Personen Teile einer unterdrückten Minderheit sind, die durch die Regierung in ihren Menschenrechten verletzt wird. In diesen Fällen kann die Abspaltung sich als einziger Weg darstellen, um unter einem neuen Regime die Wahrung der Menschenrechte zu sichern. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen wegen vorangegangener Eskalationen eine Wiederherstellung der Menschenrechtsstandards innerhalb eines Gesamtstaates nicht zu erwarten ist oder den Betroffenen gegenüber unzumutbar erscheint. Ebenso wie bei der eigentlichen Fremdherrschaft erweist sich hier die Funktion des Selbstbestimmungsrechts als Garant der Menschenrechte. Kraft dieser Funktion kann es auch als Notwehrrecht zum Schutzinstrument für die Wahrung der Menschenrechte werden und somit durchaus eine logische Folge von Menschenrechtsverletzungen sein. 1.4.2. Menschenrechtsschutz und staatliche Souveränität

Die chinesische Regierung reagiert sehr sensibel auf Vorwürfe, in denen der VRC Menschenrechtsverletzungen angelastet werden. Sie betrachtet die Einwendungen von Drittstaaten als Einmischungen unter dem "Vorwand" des Menschenrechtsschutzes. 461 Dies gilt um so mehr im Falle Tibets, da die chinesische Souveränität über dieses Gebiet in seiner Schutzwürdigkeit bereits in anderer Hinsicht zweifelhaft ist. Die Vertreter Chinas in der UNO weisen immer wieder darauf hin, daß die Diskussion über Menschenrechte in Tibet nur ein Vorwand dafür sei, dieses Territorium unter Verletzung chinesischer Souveränität abzuspal462 ten. Vor dem Hintergrund der vorangestellten Überlegungen greift die chinesische Argumentation indes nicht durch, da sich die Legitimation des damit verbundenen Eingriffs in die staatliche Souveränität bereits im461

Vgl. dazu: Menschenrechtsweißbuch S. 100 f; zu entsprechenden Äußerungen chinesischer Politiker vgl. FAZ vom 13.3.1992; Die Welt vom 10.3.1993. 462 So in der GA-Debatte zu Ost-Pakistan: Y. U. N. 1971, 141; vgl. auch die Einlassung zu einem Resolutions-Entwurf der Menschenrechtskommission über die Menschenrechtslage in Tibet: Dokument E/CN.4/1992/SR.54/Add.l v. 10.3.1992 S. 2 f. Vgl. auch Dorje Tsedain : "Tibet: Kein Problem der Menschenrechte sondern des Schutzes der Souveränität Chinas" in BR 9/1992, 23 ff, 26; vgl. auch die Rede zur Menschenrechtssituation in Tibet vor der 7. Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes in BR 15/1992, 17 ff.

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plizit aus dem "Standard" der Deklaration 2625 ergibt und somit eine allgemein anerkannte Grundlage im Selbstbestimmungskonzept des Völkerrechts hat. Von entscheidender Bedeutung für die Einbettung eines auf das Notwehrrecht gestützten Sezessionsrechts in das universelle Völkerrecht ist aber auch die Schutzfunktion des Selbstbestimmungsrechts als Garant der Menschenrechte. Die Sezession wäre hier insofern zusätzlich durch den Primat der Menschenrechte legitimiert, als die staatliche Souveränität schon nach der bisherigen Praxis und Dogmatik relativiert wird, sobald Menschenrechte verletzt werden. Generell gesagt, „with the emergence of international human rights law, ... states are no more sacrosanct." 463 Die Anerkennung eines Notwehrrechts im hier erörterten Sinn ist somit eine konsequente Fortentwicklung der in der Literatur bereits vorherrschenden Auffassung, daß der Bereich der inneren Angelegenheiten eines Staates nicht statisch definiert ist, sondern den Wandlungen der opinio iuris unterliegt. Als herausragendstes Beispiel dafür gilt, daß die Wahrung der Menschenrechte eine Angelegenheit von "international concern" geworden ist. 464 Als Meilenstein auf diesem Weg gilt die ECOSOC-Resolution 1503 (XLVIII) vom 27.5.1970 über das Verfahren zur Behandlung von Mitteilungen über Menschenrechtsverletzungen, die implizit eine entsprechende Kompetenz der UNO voraussetzt. Aussagen, in denen Menschenrechtsfragen nicht mehr als interne Angelegenheit eines Staates betrachtet werden finden sich auch in den Statements führender Politiker und Diplomaten. 465 Die Anerkennung eines zur Sezession berechtigenden Notwehrrechtes stellt sich daher als eine Weiterentwicklung auf dem Gebiet des

463

Tomuschat in Modern Law of Self-Determination S. 9. So Wolfrum/Beyerlin Zif. 50 (Interventionsverbot) Rn. 7; Ermacora (MR in der sich wandelnden Weh) S. 545 der von einer konkurrierenden Zuständigkeit zwischen Staat und Weltgemeinschaft spricht; Simma/Alston in AustrYBIL 12, 1988/1989, 98 fabstellend auf die Zuständigkeit der UNO unter Bezugnahme auf die ECOSOC-Resolution 1503. 465 In diesem Sinn der vormalige Generalsekretär der UNO Peres de Cuillar (vgl. FAZ vom 4.12.1991 S. 2) sowie sein Nachfolger Buthros Gali und der österreichische Präsident Klestil zur Eröffnung der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien (FAZ vom 15.6.1993 S. 1 und 6); ähnlich auch der deutsche Außenminister Genscher vor der UNVollversammlung (Text der Rede im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 104 vom 26.9.1991 S. 825 ff, 827 f) sowie sein Nachfolger Kinkel anläßlich der UNMenschenrechtskonferenz in Wien (Generalanzeiger für Bonn vom 16.6.1993 S. 2). Zur ablehnenden Haltung aus chinesischer Sicht: I Hsin bei Cohen/Chiu S. 166 f. Vgl. auch Pease/Forsythe in HRQ 15/2, 1993, 307 f, die auf den grundsätzlichen Nord-Süd-Konflikt innerhalb der UNO über den Eingriff in Souveränitätsrechte zugunsten der Menschenrechte hinweisen. 464

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Menschenrechtsschutzes dar, so daß neben die internationale Zuständigkeit nunmehr auch ein Recht der betroffenen Bevölkerung selbst tritt. 1.4.3. Zur Universalität der Menschenrechte

Neben dem Argument der Einmischung in innere Angelegenheiten verweist die VRC darauf, daß Drittstaaten ihr Menschenrechtsverständnis nicht auf die Verhältnisse in der VRC anwenden könnten. Aus chinesischer Sicht liegt die Menschenrechtsfrage in der Souveränität eines jeden Landes. Bei ihrer Verwirklichung sei zudem die unterschiedliche Tradition und Entwicklungsstufe des jeweiligen Landes zu berücksichtigen.466 Zwar bekennt sich auch die VRC dazu, daß die Menschenrechte von jedem Staat gesetzlich anerkannt und geschützt werden müssen, allerdings existieren dafür nach ihrer Ansicht keine einheitlich geltenden Entwicklungsmodelle, so daß Drittstaaten ihre eigenen Maßstäbe nicht an andere anlegen dürften.467 So führte der chinesische Premierminister 1991 im Hinblick auf die Rechte der nationalen Minderheiten aus, „Für eine Nationalität bedeuten Menschenrechte in erster Linie Rechte auf Überleben und Entwicklung" 468 Außerdem wird die Wahrung der Unabhängigkeit und Souveränität Chinas mit einer Gewährleistung der Menschenrechte verknüpft.469 Die VRC vertritt damit das sozialistische Menschenrechtsmodell, nach dem die Menschenrechte einem Individuum vom Staat gewährt werden und in ihrer Ausgestaltung mit den Bedürfnissen der Gesellschaft und ihres politischen Systems im Einklang stehen müssen.470 Die vorangestellten Überlegungen zum Selbstbestimmungsrecht als Garant der Menschenrechte gründen sich demgegenüber auf der Prämisse, daß es einen universellen Standard der Menschenrechte gibt, der in allen Teilen der Welt unabhängig von der historischen und gesellschaftlichen Situation gilt. In Anbetracht der chinesischen Argumentation ist daher auf diese Prämisse näher einzugehen.

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Menschenrechtsweißbuch, Vorwort S. 1-4. Menschenrechtsweißbuch S. 102. 468 Artikel in People's Daily vom 20.5.1991 zitiert in a.i.-Report (1) S. 16. 469 Menschenrechtsweißbuch S. 9. 470 Zu den Menschenrechten in freiheitlichen Demokratien und im marxistischleninistischen Rechtskreis: Kroker bei Veiter/Klein S. 68 ff, 75 ff; insbesondere zu China S. 151 ff. Zum kommunistischen Menschenrechtsverständnis auch: Bracht bei Veiter/Klein S. 322 ff. 467

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Bemerkenswert ist zunächst, daß die maßgeblichen internationalen Menschenrechtsinstrumente die Menschenrechte aus der Würde des Menschen ableiten.471 Bereits dies spricht für eine universelle Geltung, da diese dem menschlichen Wesen unbedingt eigen ist. Das Problem der universellen Geltung der Menschenrechte trat auf der UN-Menschenrecht skonferenz in Wien deutlich zu Tage. Beobachter stellten fest, daß sich China zusammen mit einigen anderen ostasiatischen Staaten mit seiner Haltung in starkem Gegensatz insbesondere zu den westlichen Staaten befand.472 In dem als "Wiener Erklärung" bezeichneten Abschlußdokument der Konferenz vom 25.6.1993 konnte sich jedoch die inzwischen mehrheitliche Haltung durchsetzen. Zunächst wird auch in der Erklärung die Tatsache bejaht, daß sich die Menschenrechte aus der Würde und dem Wert der menschlichen Person herleiten und daß die Menschenrechte und Grundfreiheiten das Geburtsrecht aller Menschen sind.473 Weiter wird festgestellt, daß der universelle Charakter der Menschenrechte und Grundfreiheiten außer Frage stehe. Außerdem heißt es in der Erklärung: "Zwar ist die Bedeutung nationaler und regionaler Besonderheiten und unterschiedlicher historischer, kultureller und religiöser Voraussetzungen im Auge zu behalten, aber es ist die Pflicht der Staaten, ohne Rücksicht auf ihr jeweiliges politisches, wirtschaftliches oder kulturelles System, alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zu schützen". Dabei soll sich die konkrete Durchfuhrung der Förderung und des Schutzes an der UN-Charta und dem Völkerrecht orientieren (nicht an den zuvor genannten Besonderheiten!). Eine Berufung auf Entwicklungsrückstände sei nicht zulässig, um die Einschränkung international anerkannter Menschenrechte zu rechtfertigen.474 Ergänzend sei auf die Haltung der Generalversammlung hingewiesen, nach der alle Menschenrechte „wechselseitig voneinander abhängen und die Förderung und der Schutz einer Kategorie von Rechten die Staaten niemals

471 So: Präambel Absatz 1 in Verbindung mit Art 1 AEMR; Präambel Absatz 2 CCPR und CESCR. In diesem Sinn auch Zif. 1 der GA-Resolution 43/90 v. 8.12.1988 anläßlich des 40. Jahrestages der AEMR. Verdross/Simma S. 824, § 1237 folgern daraus, daß diese Dokumente damit die naturrechtlichen Wurzeln herausarbeiten. Ähnlich v. Boven bei Vasak S. 48 (überposiüver Charakter zumindest für fundamentale Menschenrechte). 472 Vgl. Generalanzeiger für Bonn vom 17.6.1993, S. 2. 473 Dok.-Nr. A/CONF. 157/23 v. 12.7.1993 Teil 1, Präambel Absatz 2 und Zif. 1. 474 Dok.-Nr. A/CONF. 157/23 v. 12.7.1993 Teil I, Zif. 1, 5, 7, 10. Von einer universellen Anerkennung ausgehend auch die anläßlich des 40. Jahrestages der AEMR verabschiedete GA-Resolution 43/90 v. 8.12.1988, Zif. 6.

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der Förderung und des Schutzes der anderen entheben oder entbinden sollte"™ Eine vertragliche Verpflichtung zur Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte wird teilweise bereits aus Artikel 56 in Verbindung mit Artikel 55 der UN-Charta abgeleitet. 476 Allerdings ergibt sich aus der Charta nicht, welche Rechte konkret unter die Begriffe Menschenrechte und Grundfreiheiten fallen. Insoweit müßte also auf die nachfolgende UN-Praxis, insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 und jüngere Dokumente zurückgegriffen werden. Die AEMR und die 1966 von der Generalversammlung verabschiedeten Menschenrechtspakte (CCPR und CESCR) werden auch als die "International Bill of Human Rights" bezeichnet. 477 Folgerichtig verweist die Literatur für die rechtspositivistische Verankerung der Menschenrechte überwiegend direkt auf die AEMR vom 10.12.1948 sowie auf die Assimilierung der darin enthaltenen Menschenrechte durch die Gesetzgebung der einzelnen Staaten sowie die auf die AEMR gegründete UNPraxis. Allerdings wird teilweise ohne nähere Konkretisierung angenommen, daß nur einige der in der AEMR enthaltenen Rechte zu positivem Völkerrecht erstarkt sind. Dies ist hier jedoch insoweit unerheblich, als sich noch zeigen wird, daß ohnehin nur die Verletzung grundlegender Menschenrechte das Notwehrrecht auslösen kann. Diese dürften auch von den restriktiveren Ansichten umfaßt sein. Im Ergebnis wird jedenfalls der Kernbereich der in der AEMR enthaltenen Menschenrechte in der Völkerrechtsliteratur als universell verbindlich angesehen. 478 Diese Ansicht findet in dem nun vorliegenden Wiener-Abschlußdokument zur UN-Menschenrechtskonferenz seine Bestätigung. Aller475

GA-Resolution 43/90 v. 8.12.1988, Präambel Absatz 7. Ebenso: v. Boven bei Vasak S. 89; kritischer: Greenberg bei Meron S. 314 ff. 477 Zur Konkretisierung über die sog. International Bill of Human Rights: v. Boven bei Vasak S. 89 f; Simma/Alston in AustrYBIL 12, 1988/1989, 100 ff; Ramcharan S. 39 ff. 478 Simma/Alston in AustrYBIL 12, 1988/1989, 107 (über den Konsens sowie als allgemeine anerkannte Rechtsgrundsätze); Greenberg bei Meron S. 313 f (Völkergewohnheitsrecht); Ramcharan S. 59 (Völkergewohnheitsrecht); Szabo bei Vasak S. 24, 28; v. Boven bei Vasak S. 89, 106 f; Kirgis in AJIL 81/1987, 147 f (Völkergewohnheitsrecht); Michalska in Rights of Peoples S. 32; Verdross/Simma S. 822 f, § 1234 m. zahlreichen N. aus der Praxis, Lillich bei Meron S. 116 f (Völkergewohnheitsrecht) m.w.N. aus Literatur, Rechtsprechung und Praxis. A. A. zum Beispiel Brownlie (1) S. 570: nur "general principles of international law"; offenlassend ob Völkergewohnheitsrecht unter Verweis auf die künftige Praxis: Ermacora (MR in der sich wandelnden Welt) S. 542. 4 6

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dings wird der Stellenwert der AEMR in der Wiener Erklärung etwas nebulös dahingehend beschrieben, daß die AEMR einen gemeinsamen Maßstab der Errungenschaften für alle Völker und alle Nationen bilde.479 Der chinesische Außenminister verwies 1988 vor der Generalversammlung zwar auf historische Beschränkungen der AEMR, billigte ihr jedoch ebenfalls weitreichenden Einfluß auf die weltweite Entwicklung der Menschenrechte zu.480 Insoweit hat sich auch die VRC zu den in der AEMR enthaltenen Menschenrechte bekannt. Mit der AEMR liegt somit ein Dokument vor, dessen Menschenrechtsgarantien eine verbindliche Grundlage für die Beurteilung von Menschenrechtssituationen in Staaten unterschiedlichster kultureller und gesellschaftspolitischer Ausrichtung darstellen. Die Menschenrechtslage in Tibet kann somit an den darin niedergelegten Menschenrechte gemessen werden. Auf die Bedeutung des CCPR für die Entwicklung des Völkerrechts wurde bereits zum Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts eingegangen.481 Neben der AEMR und dem CCPR können noch andere Materialien zur weiteren Konkretisierung verwendet werden, sofern sie von der Staatengemeinschaft anerkannt werden und auch für die VRC verbindlich sind. Hier ist insbesondere auf die "Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Überzeugung" hinzuweisen.482 Als weiteres, auch für die VRC verbindliches Menschenrechtsinstrument, ist die Konvention über die Beseitigung aller Formen der Rassendiskriminierung zu nennen. 1.5. Die Abspaltung Bangladeschs

In der Praxis finden sich außerhalb der Entkolonialisierung überwiegend Fälle gescheiterter Sezessionsbestrebungen, die zudem nicht die Unterstützung der Staatengemeinschaft gefunden haben. Nach dem hier ver479

Dok.-Nr. A/CONF. 157/23 v. 12.7.1993, Präambel Absatz 8. In der GA-Resolution 43/90 v. 8.12.1988 zum 40. Jahrestag der AEMR heißt es in der Präambel unter Absatz 1, daß die Bedeutung der AEMR in ihrer Funktion als Quelle der Inspiration für die nationalen und internationalen Bemühungen um den Schutz und die Förderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten liege. 480 Wiedergegeben im Menschenrechtsweißbuch S. 96 f. 481 Vgl. oben S. 49 f sowie zur Haltung der VRC S. 69 ff. 482 GA-Resolution 36/55 v. 25.11.1981. Zum rechtsfortbildenden Charakter der Erklärung: Sullivan in AJIL 82/1988, 488 f; zur Bedeutung auch Partsch in VN 3/1982, 82 ff, 83, 86.

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folgten Ansatz geht es jedoch nicht um den Nachweis eines allgemeinen Sezessionsrechtes. Gegenstand dieser Fallgruppe ist das Selbstbestimmungsrecht in Gestalt eines Notwehrrechtes. Es geht damit um die Ausnahme von der Regel. Als eine solche Ausnahmen kommt die Abspaltung Bangladeschs von Pakistan im Jahr 1971 in Betracht. Dabei ist zu untersuchen, ob die Staatenpraxis in diesem Fall belegt, daß ein Selbstbestimmungsrecht der abspaltungswilligen Bevölkerungsgruppe gerade unter dem Notwehraspekt anerkannt wurde. 1.5.1. Vorgang der Abspaltung von Pakistan 483

Bei der Teilung Britisch-Indiens 1947 in Indien und Pakistan spaltete sich das überwiegend muslimische Bangladesch gemeinsam mit dem heutigen Pakistan als räumlich davon getrenntes Ost-Pakistan von Indien ab. Die beiden Teilstaaten hatten weder ethnische noch kulturelle, sondern nur religiöse Gemeinsamkeiten. Bis zu den ersten allgemeinen Wahlen 1970 wurde Ost-Pakistan politisch zunehmend vom Westteil des Staates dominiert, der auch wirtschaftlich den größten Nutzen aus der Verbindung zog. Bei den Wahlen gewann im Osten die Awami Liga, die sich im Wahlkampf ftir weitestgehende Autonomie eingesetzt hatte. Im März 1971 kam es daraufhin zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen, die in die Forderung nach völliger Unabhängigkeit Ost-Pakistans mündeten. Nachdem West-Pakistan auf diese Ereignisse mit massiver militärischer Repression reagierte, flohen Millionen Bengalen nach Indien. Das Eingreifen indischer Truppen auf Seiten Ost-Pakistans führte zur Vertreibung der pakistanischen Truppen aus dem Ostterritorium und zur Ausrufung des Staates Bangladesch. Die Staatsbildung kann wohl spätestens mit der Schaffung einer eigenen Verfassung 1972 als abgeschlossen angesehen werden. Die Aufnahme in die UNO erfolgte 1974.484 Es mag in zweierlei Hinsicht zweifelhaft sein, ob die Abspaltung Bangladeschs von West-Pakistan eine legitime Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts als Notwehrrecht darstellte. Zum einen ist die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft daraufhin zu untersu483

Eine ausführliche Darstellung der Vorgänge findet sich in der East Pakistan Staff Study: International Commission of Jurists - Review 8/1972, 23 ff sowie in dem Beitrag von Nanda bei Alexander/Friedlander S. 193 ff. 484 SichR-Resolution 351 (1974) v. 10.6.1974; GA-Resolution 3203 (XXIX) v. 17.9. 1974.

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chen, ob darin eine Billigung der Sezession Bangladeschs gesehen werden kann. Zum anderen ist zu erörtern, ob für die Legitimierung der Selbstbestimmungsforderung gerade eine Notwehrsituation maßgeblich war. 1.5.2. Internationale Reaktion auf die Abspaltung Die einzige substantielle Unterstützung gegen die militärischen Repressionsversuche West-Pakistans erhielt der Ostteil von Indien. Zudem wurde Bangladesch erst zwei Jahre nach seiner erfolgreichen Abspaltung in die UNO aufgenommen. Es wäre jedoch vorschnell, bereits aus diesen Umständen auf eine Mißbilligung der Sezession Ost-Pakistans durch die Staatengemeinschaft zu schließen. Die durch die Abspaltungsbestrebungen ausgelösten Vorgänge wurden in der Generalversammlung und im Sicherheitsrat behandelt und führten zur Verabschiedung mehrerer Resolutionen 485 Jedoch konnten diese Organe aufgrund der divergierenden Haltung ihrer Mitglieder (insbesondere der UdSSR gegenüber China und der USA) während des Konfliktes nur Erklärungen zu den humanitären Aspekten, insbesondere der Flüchtlingsproblematik sowie Fragen des Waffenstillstandes verabschieden. 486 Allerdings wurde in der Diskussion auch mehrfach der Standpunkt vertreten, das Problem sei auf der Basis des Willens der Gebietsbevölkerung Ost-Pakistans zu lösen. 487 Die Gegenansicht, daß es sich um eine innere Angelegenheit Pakistans handele, wurde insbesondere von China vertreten. Dabei wurde in der Einlassung des chinesischen Delegierten deutlich, daß China hier eine Parallele zu seinem eigenen Tibet-Problem sah. 488 Bemerkenswert ist jedoch, daß innerhalb des Zeitraumes von Dezember 1971 bis April 1972 bereits 47 Staaten Bangladesch anerkannt hatten. 489 Kurz nachdem sich Bangladesch eine Verfassung gegeben hatte, reagierte auch die Generalversammlung der 485

Vgl. SichR-Resolution 303 (1971) v. 6.12.1971, in der lediglich auf die Uneinigkeit der ständigen Mitglieder hingewiesen wird; SichR-Resolution 307 (1971) v. 21.12.1971; GA-Resolution 2790A/B (XXVI) v. 6.12.1971; GA-Resolution 2793 (XXVI) v. 7.12. 1971. 486 Vgl. zur Diskusssion: Y. U. N. 1971, 139 ff, 143 ff; 153 ff sowie Buchheil S. 209. 487 Y. U. N. 1971, 152. 488 Y. U. N. 1971, 141. 489 Nanda bei Alexander/Friedlander S. 193 geht sogar von über 50 Staaten aus. Die Zahlenangabe im Text findet sich bei Nanda a.a.O. S. 212 Fn. 2, unter Berufung auf The Economist vom 8.4.1972.

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UNO. Die Versammlung drückte bereits in ihrer Resolution 2937 (XVII) vom 29.11.1972 den Wunsch aus, daß Bangladesch der UNO zu einem frühen Zeitpunkt beitreten möge. Zur Bewertung des Verhaltens der Staatengemeinschaft wird häufig ein Vergleich mit den Reaktionen auf die Sezessionsbestrebungen Katangas in den sechziger Jahren sowie Biafras 1967-1970 gezogen. Im Gegensatz zu dem Verhalten gegenüber dem Ost-Pakistan-Konflikt wurden die Vorgänge anläßlich der Unabhängigkeitsbestrebungen Katangas und Biafras vor der UNO nicht erörtert. Vielmehr wurde die Lösung den Konfliktparteien beziehungsweise den in der OAU zusammengeschlossenen afrikanischen Staaten überlassen. Allerdings wird in verschiedenen Analysen betont, daß West-Pakistan in seiner sezessionsfeindlichen Haltung gegenüber Ost-Pakistan, im Gegensatz zu Nigeria, keine breite Unterstützung gefunden hat. Zudem wird der Anerkennung Bangladeschs durch zahlreiche Staaten insofern besondere Bedeutung beigemessen, als dessen Status erst durch das unter dem Interventionsverbot der UN-Charta fragwürdige Eingreifen Indiens erlangt werden konnte. Aus diesen Erwägungen wird in der Literatur die Schlußfolgerung gezogen, daß die Staatengemeinschaft das Anliegen Ost-Pakistans in einem auffallenden Maße stärker akzeptierte als die Unabhängigkeitsbestrebungen in den Fällen Katangas oder Biafras. 490 In der zitierten Literatur wird eingestanden, daß es seitens der UNO keine offene Unterstützung für die Sezessionsbestrebungen OstPakistans gab. Wie bereits dargestellt, hatte dies seine Ursache in der Zerstrittenheit unter ihren meinungsbildenden Mitgliedern, so daß sich daraus eben nicht eine negative Haltung der UNO als Forum ableiten läßt. In Anbetracht der einhelligen Ablehnung zu den Sezessionsbestrebungen Katangas und Biafras kommt in dem Mangel an einer geschlossenen Unterstützung für West-Pakistan aber ein Umschwung in der allgemeinen Haltung zum Ausdruck. Die schnelle Anerkennung durch zahlreiche Staaten noch vor Konsolidierung der Situation ist zudem ein wesentliches Indiz für die Akzeptanz des Selbstbestimmungsrechts der

490 Buchheit S. 211; Saxena S. 98 f; Thür er in ArchVR 22/2, 1984, 129 Fn. 40; Crawford S. 117, 260; Nanda bei Alexander/Friedlander S. 202 in Verbindung mit 208 f; Suzuki in VJIL 16/4, 1975-1976, 811; ambivalent in der Bewertung: Turp in AcanDi 1982, 67.

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Bevölkerung Bangladeschs. 491 Gleiches gilt für die GA-Resolution vom November 1972, in der positiv zu einem UN-Beitritt Stellung genommen wurde. Demgegenüber ist das verhältnismäßig lange Warten bis zur endgültigen Aufnahme Bangladeschs in die UNO 1974 wohl eher der Rücksicht auf das UN-Mitglied Pakistan zuzuschreiben. Dem Schrifttum ist daher darin zuzustimmen, daß die internationalen Reaktionen mehrheitlich für eine grundsätzliche Billigung der Sezession Bangladeschs sprechen. 1.5.3. Die Abspaltung Bangladeschs als Notwehrakt

In dem hier erörterten Zusammenhang ist aber auch von Bedeutung, ob die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts im Fall Bangladeschs gerade auf den Notwehrcharakter der Gesamtumstände zurückzufuhren ist. Zunächst ist daran zu erinnern, daß sich die Bengalen 1947 gemeinsam mit der Bevölkerung West-Pakistans von Indien abtrennten. Mit ihrem Anschluß an Pakistan hatten sie also bereits eine Statuswahl vollzogen. 492 Daraus lassen sich zwei Schlußfolgerungen ziehen: Erstens war damit bereits die Entkolonialisierungsphase für diese Gebiete abgeschlossen. Die weiteren Vorgänge liegen also außerhalb des kolonialen Selbstbestimmungskonzeptes. Zweitens wurde damit eine territoriale und politische Einheit geschaffen, die ihrerseits völkerrechtlich geschützt war. 493 Folgt man der vorangestellten Bewertung zu den internationalen Reaktionen, so erschließt sich aus diesen zwei Feststellungen, daß das vergleichsweise sezessionsfreundliche Verhalten einer Rechtfertigung bedurfte und diese nicht in dem traditionellen Selbstbestimmungskonzept zu finden war. Einer Legitimation bedurfte der Vorgang um so mehr, als die Abspaltung nur durch die militärische Intervention Indiens erfolgreich verlaufen konnte. Demgegenüber werden auch in Anbetracht der erwähnten Negativbeispiele Katangas und Biafras staatliche Abwehrmaßnahmen gegen Sezessionsbestrebungen in

491

Zur Bedeutung der frühen Anerkennung für die Praxis zum Selbstbestimmungsrecht schon oben S. 61 f. 492 Ebenso: die Internationale Juristenkommission in Review 8/1972, 49 f; Saxena S. 108. 493 Zur von der h.M. grundsätzlich bejahten Frage, ob ein Volk sich an der einmal getroffenen Statuswahl festhalten lassen muß vgl. schon oben S. 93.

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der Regel für rechtmäßig erachtetet. 494 Die erlangte Unabhängigkeit hätte daher von den anderen Staaten bereits als Ergebnis eines rechtswidrigen Aktes der Einmischung Indiens in die inneren Angelegenheiten Pakistans nicht anerkannt werden dürfen. Zudem mußte wegen der in Bangladesch stationierten indischen Truppen an der effektiven Regierungsgewalt als Voraussetzung für eine Eigenstaatlichkeit gezweifelt werden. 495 Somit bedurfte es besonderer Umstände außerhalb der bislang genannten Fallgruppen, um ein Selbstbestimmungsrecht für die Bevölkerung Bangladeschs zu begründen. Fraglich ist aber, ob solche Umstände bereits in der politischen und wirtschaftlichen Unterdrückung der bengalischen Bevölkerung durch West-Pakistan gesehen werden können. In der Literatur wird übereinstimmend festgestellt, daß der größere Westteil den Osten politisch völlig dominierte und wirtschaftlich ausbeutete. So war die Bevölkerung Ost-Pakistans sowohl in der Armee als in der Verwaltung des Gesamtstaates stark unterrepräsentiert. Der größte Teil der im Osten erwirtschafteten Finanzmittel wurde in den Westen investiert. Damit einher ging eine Vernachlässigung der wirtschaftlichen Interessen Ost-Pakistans. 496 Die Internationale Juristenkommission kommt in ihrem Bericht allerdings zu dem Schluß, daß die Vorenthaltung gleicher Rechte nur bis zu den ersten freien Wahlen 1970 festgestellt werden kann. Bei dieser Wahl seien die Bengalen in keiner Weise benachteiligt gewesen. 497 Diese Wahlen gewann die Awami-Liga, die mit einer 6-Punkte-Plattform zur Schaffung weitreichender Autonomie in den Wahlkampf gegangen war. Eine entsprechende Verfassungsänderung wurde jedoch vom Präsidenten Pakistans nicht zugelassen. Die Internationale Juristenkommission kam diesbezüglich zu dem Ergebnis, daß bereits der Rechtmäßigkeit der Wahl verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstanden. Somit sei der Präsident Pakistans berechtigt gewesen, die verfassunggebenden Aktivitäten der neugewählten National494

Vgl. allgemein zu staatlichen Abwehrrechten im Bürgerkrieg: Verdross/Simma S. 285 f, § 468. Vgl fiir eine Analyse der internationalen Reaktion auf die Sezessionsbestrebungen in Biafra, Katanga und Bangladesch: Saxena S. 91 ff, insbesondere 98; Thürer (Das Sbr) S. 92 Fn. 34, 35; Buchheit S. 211; Suzuki in VJIL 16/4, 1975-1976, 798 ff, insbesondere 801 ff. Vgl. grundsätzlich zur Sczessionsproblemaük unter C. III. 495 Auf die beiden Umstände hinweisend und mit gleichem Ergenbis wie hier: Crawford S. 115 ff. 496 Saxena S. 61 ff, 82, 93; Nanda bei Alexander/Friedlander S. 196 ff; auch Buchheit S. 201 f. 497 Review 8/1972, 50.

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Versammlung zu unterbinden. Die Art und Weise sei eine innerstaatliche Angelegenheit gewesen. 498 Dem ist hinzuzufügen, daß es bereits fraglich erscheint, ob bereits die bloße politische und ökonomische Ungleichbehandlung die Annahme eines Sezessionsrechtes infolge Notwehrlage gerechtfertigt hätte. Es ist aber auch nicht erforderlich auf die vorgenannten Umstände abzustellen, da sich die Ereignisse noch weiter zuspitzten. Nachdem die neugewählte Nationalversammlung vom Präsidenten vertagt wurde, brachen im März 1971 zunächst Unruhen in Ost-Pakistan aus. Noch im gleichen Monat griff die pakistanische Armee ein. Damit begann der bis zum Dezember 1971 andauernde Bürgerkrieg. Dieser Krieg wurde in aller Härte auch gegen die Zivilbevölkerung und Infrastruktur OstPakistans gefuhrt. 4 Der Vertreter der UdSSR in der UN-Generalversammlung sprach in diesem Zusammenhang von einer Terrorkampagne gegen die Bevölkerung Ost-Pakistans. 500 Die Internationale Juristenkommission schloß die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts für Ost-Pakistan dennoch aus. Die Kommission sah das Problem vielmehr in der Beseitigung des auf das Kriegsrecht gestützten Regimes und Erneuerung der abgewählten Verfassung. Sie sprach sich daher für die Umsetzung der durch die Wahl legitimierten neuen Staatsorganisation aus. 501 Der Ansatz der Juristenkommission sieht die Rechte der Bevölkerung Ost-Pakistans somit eingebettet in die Lage der Gesamtbevölkerung Pakistans. Es erscheint aber zweifelhaft, ob sich die Aktivitäten der Bengalen legitimerweise nur auf einen Umsturz des gesamten pakistanischen Militärregimes beziehen durften. Ein solcher Lösungsansatz entspräche eher der Situation, in der die gesamte Bevölkerung eines Staates gleichermaßen unter einer über das gesamte Land aufrechterhaltenen Militärdiktatur leidet und um die freie Wahl einer demokratisch legitimierten Regierung kämpft. Die Situation in Pakistan entsprach aber nicht diesem Szenario. Vielmehr sah sich die Bevölkerung Ost-Pakistans einem die physische Existenz bedrohenden Angriff der von West-Pakistan kontrollierten Armee gegenüber. Diese Auseinandersetzung wurde zudem nur auf ost-pakistanischem Boden ausgetragen und wendete sich nicht gegen die gesamte Bevölkerung 498

500 501

Review 8/1972. 51. Nanda bei Alexander/Friedlander S. 195 f, m.w.N. S. 208 f. Y. U. N. 1971, 152. Review 8/1972, 52.

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Pakistans. Daher muß die durch die pakistanische Militärführung vorangetriebene Eskalation zum ungleichen Bürgerkrieg als logische Fortsetzung der vorherigen Politik gesehen werden, um den diskriminierenden status quo ante 1970 wieder herzustellen. 502 Dieser Bewertung entspricht auch eine Analyse des Verhaltens der bengalischen Bevölkerung. So erstarkte erst im Verlaufe der Eskalation nach der Wahl das Verlangen nach völliger Unabhängigkeit in OstPakistan. 503 Auch die Flucht von ca. 10 Millionen Bengalen nach Indien ist ein Indiz für das Ausmaß der Verfolgung, der sie in ihrem Heimatland ausgesetzt waren. 504 Schließlich ließen sich die internationalen Sympathien für die Abspaltung Bangladeschs nicht erklären, wenn es sich nach Ansicht der anderen Staaten nur um ein innenpolitisches Problem des gesamten Staates Pakistans gehandelt hätte. In den Umständen der Verfolgung unterschied sich der Fall Ost-Pakistans auch von dem Biafras. Im letzteren Fall hatte die Regierung Nigerias sowohl vor als auch während des Bürgerkrieges mehrfach eine Neugliederung des Staates unter Gleichheitsgesichtspunkten angeboten. 505 Die Grundlage für die internationale Billigung des von der Bevölkerung Bangladeschs geltend gemachten Selbstbestimmungsrechtes, und damit die Besonderheit dieses Falles, ist somit in der durch den Bürgerkrieg hervorgerufenen Notwehrlage zu sehen. 506 Für die Bewertung der Abspaltung Bangladeschs von (West-) Pakistan ist die durch den Bürgerkrieg hervorgerufene Situation der bengalischen Bevölkerung maßgeblich, die jedoch als Fortsetzung der vorangegangenen Diskriminierungspolitik gesehen werden muß. Die somit 502

So: Saxena S. 93; 108 f. Internationale Juristenkommission - Review 8/1972, 51; Saxena S. 93 f; Nanda bei Alexander/Friedlander S. 209. 504 Indien schätzte die Zahl im Oktober 1971 auf 8 Millionen: Y. U. N. 1971, 137; im Dezember wurde die Zahl bereits auf 10 Millionen geschätzt: Nw. bei Nanda bei Alexander/Friedlander S. 197 Fn. 22. 505 Dazu Saxena S. 92 ff; Thürer (Das Sbr) S. 92 Fn. 35. A. A. Mojekwu bei Alexander/Friedlander S. 239 Fn. 27; Suzuki in VJIL 16/4, 1975-1976, 805 ff. Saxena S. 107 verweist zudem auf das intertemporale Problem, daß der Abspaltungsversuch Biafras bereits vor Verabschiedung der Deklaration 2625 gescheitert war. 506 Ebenso: Buchheit S. 213, 222; Nanda bei Alexander/Friedlander S. 208 f; Crawford S. 116 f. Auf die in den Jahren davor bestehende Ungleichbehandlung abstellend: Hanneman in VJIL 35/2, 1995, 505. Vgl. im Ergebnis auch Verdross/Simma S. 318, § 512 Saxena S. 84, 105 sieht in Bangladesch eine erfolgreiche Umsetzung des Standards in Absatz 7 des Selbstbesümmungsabschittes der Deklaration 2625. 503

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entstandene Notlage der bengalischen Bevölkerung bildet die einzige Legitimationsgrundlage für die Akzeptanz der Sezession durch andere Staaten. Im Falle Bangladeschs wurde somit ein auf Notwehraspekte gegründetes Selbstbestimmungsrecht anerkannt. 1.6. Zusammenfassung und Würdigung

Der Absatz 7 des Selbstbestimmungsabschnitts der Deklaration 2625 beinhaltet einen "Standard" für die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts im Sinne eines allgemeinen Diskriminierungsvorbehaltes, unter den die staatliche Souveränität gestellt wird. Im Falle gravierender Menschenrechtsverletzungen kann sich allerdings die Bewertung zugunsten des Selbstbestimmungsrechts so weit verschieben, daß sich der bloße "Standard" zu einem subjektiven Recht im Sinne von Absatz 1 der Deklaration verdichtet. Die Interessen der Bevölkerungsgruppe überwiegen dann so stark, daß kein Abwägungsspielraum mehr verbleibt. Grundlage für diesen Ansatz ist die Feststellung, daß die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts eine Voraussetzung für den Genuß der individuellen Menschenrechte ist und in dieser Funktion auch als äußerstes Schutzinstrument zur Wahrung der Menschenrechte dienen kann, so daß mit der Abspaltung wieder die Voraussetzungen für die Beachtung dieser Menschenrechte geschaffen werden. Schließlich wurde die Staatenpraxis im Falle Bangladeschs gewürdigt. Die Erörterung kam zu dem Ergebnis, daß die Menschenrechtslage der ausschlaggebende Faktor für die im Vergleich zu den Fällen Katanga und Biafra deutlich positivere Haltung der Staatengemeinschaft war, die sich insbesondere in der baldigen Anerkennung Bangladeschs äußerte. Diese Staatenpraxis erwies sich nur dann als folgerichtig, wenn ein auf die Notlage der Bevölkerung gestütztes Selbstbestimmungsrecht zugrundegelegt wird. Dem Autor ist bewußt, daß die Erörterung eines einzelnen Fallbeispieles für den Nachweis einer gewohnheitsrechtlichen Norm grundsätzlich nicht als ausreichend angesehen werden kann. Allerdings ist hier nochmals der Ausnahmecharakter des hier erörterten Notwehrrechtes zu betonen. Unter diesem Umstand ist es nur folgerichtig, wenn sich der Schwerpunkt des gewohnheitsrechtlichen Prozesses in den Bereich der opinio iuris verlagert. 507 Somit ist festzustellen, daß das Selbstbestimmungsrecht auch für Bevölkerungsteile innerhalb eines Staates als Not501

Dazu bereits S. 43 f. Vgl. auch die Literatur zu weiteren Praxisfallen in Fn. 441.

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wehrrecht operativ wird, wenn dieser Gruppe die Menschenrechte in besonderem Maß verweigert werden. 2. Notwehrlage im Sinne des Selbstbestimmungsrechts 2.1. Allgemeine Voraussetzungen für das Notwehrrecht

Aus der vorstehenden Erörterung lassen sich einige allgemeine Vorbedingungen ableiten, die unabhängig davon gelten, welche Intensität die Menschenrechtsverletzungen erreichen. 2.1.1. Der Staat als Verantwortlicher für die Notlage

Bereits dem "Standard" der Deklaration 2625 liegt das Prinzip zugrunde, daß es der jeweilige Staat selbst ist, der die Verantwortung dafür trägt, daß in seinem Inneren die Voraussetzungen herrschen, unter denen er seine territoriale Integrität behaupten kann. Aus dem fehlerhaften Umgang des Staates mit seiner Verantwortung gegenüber seinen Bürgern erwächst dem Notwehrrecht auch seine innere Legitimation. Der Staat, zu dessen Lasten das Abspaltungsrecht zugelassen wird, muß daher verantwortlich für diese Menschenrechtsverletzungen sein. Daß heißt, diese müssen entweder von den staatlichen Stellen selbst verübt oder aber zumindest bewußt und ohne effektive Gegenmaßnahmen geduldet werden. 2.1.2. Exponierte Lage einer Bevölkerungsgruppe

Auch wenn der Staat für die Entstehung der Notwehrlage verantwortlich sein muß, so sind doch die Fälle auszugrenzen, in denen ein Regime die Gesamtheit seiner Bevölkerung gleichermaßen unterdrückt und ihrer Menschenrechte beraubt. In diesen Fällen wäre eher das sog. interne Selbstbestimmungsrecht der Gesamtbevölkerung zu diskutieren. Vorliegend geht es demgegenüber um die Legitimierung eines Sezessionsrechtes für einen qualifizierten Teil der Gesamtbevölkerung durch das sog. externe Selbstbestimmungsrecht. 508 Das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht kann daher nur von einer Bevölkerungsgruppe geltend gemacht werden, die im Vergleich zur Restbevölkerung einer gruppenspezifischen Verfolgung ausgesetzt ist beziehungsweise sich in 508

Vgl. zur Differenzierung zwischen internem und externem Selbstbestimmungsrecht S. 18.

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einer besonderen Notsituation befindet. Diese innere Logik spiegelt sich auch in dem erörterten Absatz 7 der Deklaration 2625 wieder. 2.1.3. Geographische Abtrennbarkeit als Vorbedingung?

Neben den genannten, auch von der h.M. vertretenen Voraussetzungen entsteht die Frage, ob die abspaltungswillige Bevölkerung auf einem geschlossenen, klar abgrenzbaren Siedlungsgebiet leben muß. 509 Die Deklaration 2625 bietet hierfür keine Anhaltspunkte. Ebensowenig kann der Grundintention des Menschenrechtsschutzes eine solche Beschränkung entnommen werden. Allerdings wurde dieses Merkmal im Fall Bangladeschs erfüllt. Ähnlich wie bei dem Kriterium der gruppenspezifischen Verfolgung kann aber auch hier eine immanente territoriale Beschränkung anzunehmen sein. So wäre ein Sezessionsrecht für einen im Land versprengten Bevölkerungsteil nur durchsetzbar, wenn der Gruppe ein Territorium zugewiesen würde und sie bereit wäre, sich dort geschlossen anzusiedeln. In diesem Fall wäre mit der Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts also eine demographische Veränderung für einen Teil des Staatsgebietes verbunden. Diese müßte wahrscheinlich gegen den Willen der dort ansässigen Restbevölkerung erfolgen. Die Ausübung des Notwehrrechtes wäre also auf eine massive Intervention von Drittstaaten angewiesen, die sich dabei gegen den Willen und das Selbstbestimmungsrecht einer anderen Bevölkerung hinwegsetzen müßte. 510 Die Zulässigkeit einer solchen Maßnahme ist somit mehr als fraglich. Das Beispiel der serbischen Minderheit in Bosnien-Hercegowina veranschaulicht diese Problematik auf besondere Weise. 511 Demgegenüber bestehen diese Probleme nicht, wenn die Träger des Selbstbestimmungsrechts bereits auf einem geschlossenen Siedlungsgebiet innerhalb des Staates leben und das Selbstbestimmungsrecht der dort ebenfalls lebenden Bevölkerung, zum Beispiel wegen vorhergehender Zwangsansiedlung oder ihrer relativ geringen Anzahl, weniger schutzwürdig ist. 512 Daher ist zu fordern, daß die sezessionswillige Gruppe ein ge509

So Crawford S. 100 f, der sogar ein räumlich vom Reststaat getrenntes Gebiet fordert. 510 Zum Recht auf Heimat und zur Selbstbestimmung: Tomuschat in FS Partsch S. 183 ff, insbesondere 194 ff; vgl. auch Cristescu S. 47, § 307 zum Recht eines Volkes, nicht abgetreten oder ausgetauscht zu werden, als negativen Aspekt der Selbstbestimmung. 511 Dazu unter D. I. 2. allerdings unter dem Aspekt des Staatenzerfalls. 512 Dazu bereits S. 180 ff.

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schlossenes Siedlungsgebiet bewohnt, auf dem sie zumindest die große Mehrheit der Bevölkerung stellt. Eine geographische Distanz zum restlichen Staatsgebiet ist demgegenüber nicht erforderlich. 513 2.1.4. Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich damit für das Notwehrrecht folgender allgemeiner Tatbestand beschreiben: Das Selbstbestimmungsrecht steht als Notwehrrecht auch einer Bevölkerungsgruppe innerhalb multinationaler Staaten zu. Der Anwendungsbereich wird eröffnet, wenn die auf einem geschlossenen Gebiet siedelnde abspaltungswillige Gemeinschaft im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung einer besonderen Diskriminierung oder Menschenrechtsverletzung ausgesetzt ist und diese Vorgänge dem staatlichen Verhalten zuzurechnen sind. Ferner muß sich die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts als letztes Mittel zur Abhilfe darstellen. 514 2.2. Notwehrlage durch Menschenrechtsverletzungen

Mit den vorgenannten Voraussetzungen ist lediglich der allgemeine Rahmen für die Anwendbarkeit des Notwehrrechtes abgesteckt. Bereits bei der Herleitung des Notwehrrechtes aus dem "Standard" der Deklaration 2625 wurde dargelegt, daß Menschenrechtsverletzungen erheblichen Ausmaßes die eigentlichen Faktoren sind, aufgrund derer sich der "Standard" zu einem subjektiven Recht im Sinne des Selbstbestimmungsrechts verdichtet. Die größte Ungewißheit zum Anwendungsbereich des Notwehrrechtes betrifft demnach die Frage, welches Ausmaß die Menschenrechtsverletzungen erreichen müssen, damit eine zur Sezession berechtigende Notwehrlage vorliegt. Diese Frage betrifft sowohl den Umfang, als auch die Art und Weise der Menschenrechtsverletzungen. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese Kriterien sowohl hinsichtlich der in Betracht kommenden Menschenrechte als auch hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Verletzung näher einzugrenzen.

513

Ebenso: Nanda bei Alexander/Friedlander S. 210; Thürer in ArchVR 22/2, 1984, 127. 514 So auch die Internationale Juristenkommission in ihrem Tibetbericht 1997, S. 337 f.

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2.2.1. Völkerrechtliche Standards für schwere Menschenrechtsverletzungen

In der dogmatischen Herleitung des Notwehrrechtes wurde darauf hingewiesen, daß sich dieses als konsequente Fortsetzung einer opinio iuris und Praxis darstellt, nach der die Wahrung der Menschenrechte keine ausschließlich innere Angelegenheit der Staaten ist, sondern in den Zuständigkeitsbereich der Staatengemeinschaft fällt. Ausgangspunkt ist hier die ECOSOC-Resolution 1503 der die Formel zu entnehmen ist, daß es sich um ein „consistent pattern of gross and reliably attested violations of human rights and fundamental freedoms" handeln muß.315 Diese Formel ist jedoch noch konkretisierungsbedürftig. An besonders schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen werden im Völkerrecht auch außerhalb der Doktrin zum Selbstbestimmungsrecht Konsequenzen geknüpft. Auf diesem Gebiet haben das Internationale Strafrecht und die Doktrin von den Pflichten erga omnes, insbesondere hinsichtlich der Art und des Ausmaßes der zu fordernden Menschenrechtsverletzungen Maßstäbe gesetzt, an die hier angeknüpft werden soll. Diese Parallele wird auch in der Literatur gezogen. So verweist Buchheit im Hinblick auf die massive militärische Hilfe Indiens in dem Abspaltungsprozeß Bangladeschs darauf hin, daß der Exzeß in Bangladesch zugleich ausreichend war, um eine humanitäre Intervention zu rechtfertigen.516 Crawford bemerkt zur Intervention Indiens, daß diese zwar von einigen Regierungen verurteilt wurde, dieser Umstand aber ohne Einfluß auf die Anerkennung der dadurch erst ermöglichten Eigenstaatlichkeit Bangladeschs blieb.517 Der Rückgriff auf die völkerrechtliche Dogmatik zur Ahndung schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen läßt sich auch teleologisch begründen. Die Zulässigkeit einer auf das Selbsthilferecht gegründeten Sezession stellt wegen seiner endgültigen Rechtsfolge einen stärkeren Eingriff in die Souveränität des Staates dar, als dies bei einer strafrechtlichen Bewertung oder einem Eingreifen dritter Staaten der Fall ist. Dabei kann im folgenden offen bleiben, unter welchem Procedere und in welcher Hinsicht Souveränitätseingriffe nach diesen Ansätzen stattfinden können. Hier ist im einzelnen noch vieles streitig und die 515

ECOSOC-Resolution 1503 (XLVIII) vom 27.05.1970 Zif. 1 und 5. Buchheit S. 213. 517 Crawford S. 116. Wie aus der oben geschilderten UNO-Praxis zu Bangladesch hervorgeht, wurde dieser Vorwurf zudem nicht von der gesamten Staatengemeinschaft getragen. Dies mag seine Ursache auch darin haben, daß Indien infolge der großen Flüchtlingströme ein besonderes Interesse an einer Beendigung des Konfliktes hatte. 516

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Abgrenzung teilweise unscharf. Letztlich geht es für das hier behandelte Problem aber nur darum, Ausmaß und Art der Menschenrechtsverletzungen näher zu konkretisieren, die für diesen Bereich diskutiert werden. 2.2.1.1. Die Wahrung der Menschenrechte als Verpflichtung erga omnes

Die Doktrin von den Pflichten erga omnes geht auf ein obiter dictum des IGH im Barcelona Traction-Fall zurück. Sie wird aber inzwischen weithin akzeptiert und befindet sich, wie noch zu zeigen sein wird, sogar auf dem Weg der Kodifikation.518 Da diese Pflichten gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft bestehen, hat die Verletzung einer erga omnes-Pflicht zugleich das Recht aller Staaten zum Ergreifen von (vorrangig kollektiven) Gegenmaßnahmen zur Folge. Auf diese Doktrin wird in der Literatur insbesondere auch für den Fall Bezug genommen, daß ein Staat die Menschenrechte seiner Bevölkerung verletzt. Danach besteht die Pflicht zur Wahrung der Menschenrechte grundsätzlich nicht nur gegenüber Individuen sondern im Verhältnis zur Staatengemeinschaft insgesamt.519 Die Zulässigkeit von Souveränitätseingriffen hängt demnach davon ab, wann die Verletzung einer Verpflichtung erga omnes anzunehmen ist beziehungsweise welche Pflichten erga omnes bestehen. Der IGH hat im Barcelona Traction-Case ausgeführt, daß das Verbot der Aggression und des Völkermordes in diesen Kanon gehören. Außerdem könnten sich solche Verpflichtungen aus den „principles and rules concerning the basic rights of the human persans " einschließlich des Schutzes vor Sklaverei und rassischer Diskriminierung ableiten.520 Eine weitere Konkretisierung ergibt sich daraus, daß eine Verletzung dieser Pflichten im Grundsatz dann angenommen werden kann, wenn ein Staat den Tatbestand eines internationalen Verbrechens erfüllt.

518

Vgl. ICJ Reports 1970, 32 Zif. 33 f. Aus dem Schrifttum zum Beispiel Frowein in FS Mosler S. 241 ff, mit Beispielen aus der Praxis S. 250 ff; Ago in International Crimes of State S. 237 ff; Hailbronner in ArchVR 30/1, 1992, 3 f, der diese Pflichten auf den Gedanken der internationalen öffentlichen Ordnung zurückfuhrt; Verdross/Simma S. 40, § 50 m.w.N. 519 So: Dinstein in ArchVR 30/1, 1992, 16 ff; Oellers-Frahm in ArchVR 30/1. 1992, 30 ff; Frowein in FS Mosler 243 ff, 258. 520 ICJ Reports 1970, 4 ff, 32 Zif. 34.

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Hierzu liegt ein Kodifikationsentwurf der ILC vor.521 Allerdings soll nach diesem Entwurf nicht die Verletzung jeder ius cogens-Norm oder jeder Verpflichtung erga omnes zugleich ein internationales Verbrechen sein. Vielmehr wird der Bereich des zwingenden Rechts und der erga omnes-Pflichten als umfassender angesehen als das Gebiet der internationalen Verbrechen.522 In bezug auf die Menschenrechte geht der ILCEntwurf zur Staatenverantwortlichkeit von Verpflichtungen aus, die „ of essential importance for safeguarding the human beeing" sind. Außerdem muß es sich um „a serious breach on a widespread scale" handeln. In auffallender Anlehnung an die Äußerungen des IGH werden als Beispiele für internationale Verbrechen die Mißachtung des Verbotes der Sklaverei, des Völkermordes und der Apartheid angeführt.523 Zu dem Kriterium der Menschenrechtsverletzung „ on a widespread scale " fuhrt der ILC-Kommentar aus, daß es sich um eine groß angelegte oder systematische Praxis handeln muß, in der die Mißachtung der Rechte und Würde des Menschen zum Ausdruck kommt.524 Der Berichterstatter der ILC, Ago, führte dazu aus, daß der Bruch der Verpflichtung eine substanzielle Anzahl von Personen betreffen müsse. Er wies in diesem Zusammenhang daraufhin, es bestehe „an enormous difference between, for example, genocide and wrongfully preventing someone from exercising a particular profession ". Zudem machte er darauf aufmerksam, daß der Artikel 19 in seiner derzeitigen Fassung neben der physischen Integrität auch die Würde des Menschen als Schutzgut umfasse.525 Dies wurde auch in der Diskussion innerhalb der ILC hervorgehoben.526 Letztlich zeigt neben dem ILC-Kommentar zu Artikel 19 auch die Diskussion in der ILC, daß die Mitglieder grundsätzlich davon aus-

521 Vgl. Artikel 5 des 2. Teils des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit, der alle anderen Staaten als durch ein internationales Verbrechen verletzt ansieht. Dies entspricht auch der Wirkung, die eine Verletzung von erga omnes-Pflichten haben soll. So grundsätzlich auch: Verdross/Simma S. 847, § 1263. 522 Zum Verhältnis zu den ius cogens-Normen: ILC-Kommentar zu Artikel 19 in Y. B. I. L. C. 1976, Vol. II, Part. 2, 120 Zif. 62; Bokor-Szego in International Crimes of State S. 239. Für das Verhältnis zu den Pflichten erga omnes: Spinedi in International Crimes of State S. 137; Gaja in International Crimes of State S. 157. 523 Artikel 19 Absatz 3(c) des Entwurfes. Der Völkermord wird auch in Artikel 1 der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes als internationales Verbrechen klassifiziert. 524 Y. B. I. L. C. 1976 Vol. II Part 2, 121 Zif. 70. 525 Y. B. I. L. C. 1976 Vol I, 252 Zif. 45, 47. 526 Vgl. zur Diskussion: Ramcharan S. 296 ff.

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gingen, daß auch die Verletzung individueller Menschenrechte den Tatbestand eines internationalen Verbrechens erfüllen kann.527 Auch die Literatur zu den Pflichten erga omnes greift auf diese Kriterien zurück. Danach wird unter Verweis auf die genannten Beispiele überwiegend eine schwerwiegende Verletzung fundamentaler Menschenrechte in größerem Rahmen gefordert.528 Gelegentlich wird aber auch die Anwendbarkeit auf Fälle individueller oder auf kleine Gruppen begrenzter, massiver Menschenrechtsverletzungen nicht ausgeschlossen.529 Zum Teil wird eingewendet, daß eine Unterscheidung zwischen grundlegenden und sonstigen individuellen Menschenrechte nicht möglich sei. Daher müßten jedenfalls alle die Menschenrechte einbezogen werden, die bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10.12.1948 genannt werden.530 Die überwiegende Meinung hält an den erhöhten Anforderungen fest. Zum Beispiel schließt Frowein aus der Formulierung des IGH, daß nur der wichtigste Kern der Menschenrechte in Betracht komme. Dagegen könnten die von den Menschenrechtspakten ebenfalls geschützten liberalen Freiheitsrechte nicht darunter fallen.531 Dem ist gerade auch für das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht aus den eingangs genannten Gründen zuzustimmen. 2.2.1.2. Menschenrechtsverletzungen im internationalen Strafrecht

Unter der Prämisse, daß international geächtete Verhaltensweisen die Grundlage für die Konkretisierung des Notwehrtatbestandes bilden sind auch die Bemühungen auf dem Gebiet des internationalen Strafrechts für Handlungen einzelner Personen von Interesse. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, daß die vom Völkerstrafrecht umfaßten schweren Menschenrechtsverletzungen zugleich als Weltfriedensstörung 527 Vgl. Y. B. I. L. C. 1976 Vol. II Part 2, 109 f Zif. 33 f. Zur Diskussion in der ILC: Ramcharan S. 295 ff. 528 So: Frowein in FS Mosler S. 243 f; Oellers-Frahm in ArchVR 30/1, 1992, 31 f Gegen die Differenzierung nach Wertigkeit innerhalb der Menschenrechte: Dinstein in ArchVR 30/1, 1992, 17. 529 So Oellers-Frahm in ArchVR 30/1, 1992, 32. 530 So Dinstein in ArchVR 30/1, 1992, 17. 531 Frowein in FS Mosler S. 243 f. Ebenso im Grundsatz auch: Verdross/Simma S. 872 § 1292. Allgemein zur Differenzierung innerhalb der Menschenrechte und im Ergebnis für eine exponierte Stellung bestimmter Menschenrechte: v. Boven bei Vasak S. 43 ff, 48. Demgegenüber die Schwere der Verletzung betonend zum Beispiel Oellers-Frahm in ArchVR 30/1, 1992,31 f.

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angesehen werden, die damit dem Bereich der inneren Angelegenheiten eines Staates entzogen sind.332 Ein erster Ansatz findet sich in dem Londoner Abkommen der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges vom 8.8.1945. Das Abkommen enthielt die Satzung eines Internationalen Militärtribunals, des späteren Nürnberger Gerichtshofs. 533 Artikel 6 des Statuts erstreckt die Strafgewalt des Gerichts auf Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu letzteren werden aufgelistet: Mord, Vernichtung, Versklavung, Deportierung und andere unmenschliche Handlungen der Zivilbevölkerung während des Krieges oder Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen in Ausübung eines Verbrechens. Der ILC-Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind enthält in seiner gegenwärtigen Fassung in Artikel 18 den sehr ausfuhrlichen Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 534 Als Verletzungshandlungen werden aufgeführt die systematische oder massenhafte Verübung von: - Mord; Ausrottung; Folter; Sklaverei; Verfolgung aus politischen, rassischen, religiösen oder ethnischen Gründen; - Institutionalisierter Diskriminierung aus rassischen, ethnischen oder religiösen Gründen einschließlich der Verletzung fundamentaler Menschenrechte und Freiheiten die zu einer ernsthaften Benachteiligung eines Teils der Bevölkerung fuhren; - willkürlicher Deportation und erzwungenem Bevölkerungstransfer; - willkürlicher Haft; - erzwungenem Verschwinden von Personen; - Vergewaltigung, erzwungener Prostitution und anderen Formen sexuellen Mißbrauchs; - Anderen inhumanen Akten mit ernsthaften Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit. Diese Liste des nunmehr vorliegenden zweiten Entwurfes stellt die bislang wohl umfangreichste Aufzählung dar, die jedoch nicht abschlie-

532 533 534

Werte in ZstW 109/4, 1997 S. 814 f, 817 f. Auszüge aus dem Statut in Keesing's Archiv der Gegenwart 1945 S. 356 f. Text in HRLJ 18/1-4, 1997, 96 ff.

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ßend sein soll.535 Im Gegensatz dazu enthält sich die ILC in ihrem Entwurf für das Statut eines ständigen internationalen Strafgerichtshofes einer systematischen Auflistung einzelner Handlungen und gibt statt dessen in Artikel 26 Absatz 2 (a) eine allgemeine Definition für internationale Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Gerichtes fallen können.536 Eine konkrete Aufzählung einzelner Handlungen findet sich demgegenüber wieder in Artikel 5 des Statuts des Internationalen Tribunals zur Aburteilung von Kriegsverbrechen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien sowie in Artikel 3 des Statuts des Internationalen Tribunals für Ruanda. 537 Diese Artikel sind zwar nicht so umfangreich wie die oben wiedergegebene Liste, decken sich jedoch im wesentlichen mit dem ILC-Entwurf. Artikel 3 des Statuts für das Ruandatribunal enthält ebenfalls die explizite Beschränkung auf groß angelegte Verstöße. Diese ist aber auch Artikel 5 des Statuts für das Jugoslawientribunal immanent, der die von ihm umfaßten Verbrechen nur auf den Kontext eines nationalen oder internationalen bewaffneten Konfliktes bezieht und ausdrücklich Handlungen gegen jede zivile Bevölkerung umfaßt. 2.2.2. Der Tatbestand der Notwehrlage

Die bislang genannten Kriterien stellen allgemeine Standards dar, die einen schwerwiegenden Völkerrechtsverstoß indizieren und ein Einschreiten der Staatengemeinschaft rechtfertigen. Sie können daher auch für den Tatbestand einer Notwehrlage im Sinne des Selbstbestimmungsrechts Geltung beanspruchen. Die im Rahmen der Doktrin von den Pflichten erga omnes diskutierte Frage, ob auch Fälle individueller oder auf kleine Gruppen begrenzter Menschenrechtsverletzungen ausreichen bedarf hier allerdings keiner weiteren Erörterung, da bereits oben herausgearbeitet wurde, daß das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht nur dann einschlägig sein kann, wenn eine Bevölkerungsgruppe als solche davon betroffen ist. Damit werden Fälle individueller Mißachtung 535

Bericht der ILC in HRLJ 18/1-4, 1997 S. 101 Zif. 46. Report der ILC in GAOR 48. Session, Supplement No. 10 (A/48/10), S. 258 ff: „a crime under general international law, that is to say, under a norm of international law acceptet and recognized by the international Community of States as a whole as being of such a fundamenal character that its violation gives rise to the criminal responsibility of individuals" 537 Text des Statuts des Gerichtshofes für Jugoslawien in HRLJ 14/5-6, 1993, 211 ff, des Status für das Ruanda-Tribunal in RUDH 7/4-6, 1995, 161 ff. 536

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von Menschenrechten nicht gänzlich ausgeschlossen, jedoch müssen diese in einem solchen Umfang erfolgen, daß die Gruppe davon in ihrer Gesamtheit betroffen ist. Insbesondere das Beispiel des Völkermordes sowie die oben angeführten Fälle schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen sollen als Grundlage für die nähere Konkretisierung des Notwehrrechtes dienen. Unberücksichtigt blieben bislang Verstöße gegen das humanitäre Kriegsrecht. Diese Regeln werden grundsätzlich nicht für das Notwehrrecht angewandt werden können, da sie ihrer Natur nach nur für bewaffnete Konflikte gelten. Gerade in bezug auf Tibet stellt sich jedoch die Frage, ob nicht zumindest das Verbot demographischer Veränderungen auf besetzten Gebieten auch von Minderheiten in Friedenszeiten geltend gemacht werden kann. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß das Interesse der Menschen an dem Schutz der sie umgebenden Natur immer stärkere Resonanz im Völkerrecht findet. Auch auf diesem Gebiet machen die Tibeter erhebliche Verfehlungen der VRC auf ihrem Siedlungsgebiet geltend. Somit ergeben sich drei Parameter, an denen sich die Konkretisierung des Notwehrtatbestandes im Sinne des Selbstbestimmungsrechts ausrichten kann. Diese sind in Anlehnung an das Genozidverbot zuerst die Bedrohung der physischen Existenz sowie als zweites sonstige Fälle schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen. Als drittes werden andere kollektiv wirkende Maßnahmen zu behandeln sein wie etwa gewaltsame Vertreibungen und ähnliches. Diese Parameter können noch ausgestaltet werden, so daß sich eine Auflistung zumindest typologisch umrissener Menschenrechtsverletzungen ergibt, die ein Selbsthilferecht rechtfertigen. 2.2.2.1. Genozid und Bedrohung der physischen Integrität

Zunächst ist der Tatbestand des Genozids näher einzugrenzen. So enthält die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes in Artikel 2 eine Definition des Genozids. Die Konvention wurde bereits am 9.12.1948 von der Generalversammlung ohne Gegenstimmen angenommen. 538 Am 31.12.1983 waren ihr bereits 92 Staaten beigetreten. 539 Zu ihnen gehört auch die VRC. 540 Die UNO nahm 1968 538 539

GA-Resolution 260 (III) A v. 9.12.1948. Jescheck in EPIL (8) S. 255.

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nochmals auf die Definition der Konvention Bezug. 541 Auch in der nachfolgenden Zeit ist in zahlreichen internationalen Dokumenten für die Umschreibung des Völkermordes durch bloßen Verweis oder Übernahme des Wortlauts auf den Genozid-Tatbestand der Völkermordkonvention zurückgegriffen worden. 542 Nach Ansicht der Internationalen Juristenkommission gehörte die Anerkennung des Genozids als Verbrechen bereits 1960 zu den allgemeinen anerkannten Rechtsgrundsätzen. 543 Auch in der Literatur wird zu Fragen des Genozids vorbehaltlos auf die Konvention Bezug genommen. 544 Ist somit die Definition der Konvention Bestandteil des Völkerrechts geworden, so ist sie auch im Rahmen des Notwehrrechtes zu beachten. Nach der Konvention ist in subjektiver Hinsicht die Absicht erforderlich, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Die Intention muß danach also nicht auf die Vernichtung der physischen Existenz gerichtet sein, auch wenn letzteres als Mittel eingesetzt wird. Vielmehr genügt es, eine Gruppe im Hinblick auf die sie als Gemeinschaft prägenden Merkmale zerstören zu wollen. Als strafbare Handlungen werden in der Konvention genannt, die Tötung von Gruppenmitgliedern, die Verursachung schwerer körperlicher und seelischer Schäden an den Mitgliedern, die vorsätzliche Auferlegung körperschädlicher Lebensbedingungen, geburtenverhindernde Maßnahmen sowie die gewaltsame Überführung von Kindern in eine andere Gruppe. Die Verübung des Völkermordes war jedoch nur beispielhaft für das Tatbestandsmerkmal schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen angeführt worden. Daher können dem Genozid im Rahmen des Notwehrrechtes gleichwertige Fälle hinzugefügt werden. Ausgangspunkt bildet dafür allerdings die Definition des Genozids in der Konvention. 540

BR 44/1991, 47: seit 1980. GA-Resolution 2391 (XXIII) v. 26.11.1968 zur "Convention on the non-applicability of statutory limitations of war crimes and crimes against humanity" Artikel I b). 542 Vgl.: Artikel 22 (a) des ILC-Entwurfs für das Statut eines Internationalen Strafgerichtshofes (Text des Statuts im Report der ILC in GAOR 48. Session, Supplement No. 10 (A/48/10) S. 271); Artikel 17 des ILC-Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind (Text des Draft Codes in HRLJ 18/1-4, 1997, 97); Artikel 4 des Statuts des Internationalen Tribunals zur Aburteilung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (Text in HRLJ 14/5-6 1993, 211 ff); Artikel 2 des Statuts für das Ruanda-Tribunal (Text in RUDH 7/4-6, 1995, 161 ff). 543 Tibetbericht v. 1960 S. 11; ähnlich Verdross/Simma S. 261. § 433. 544 So Jescheck in EPIL (8) S. 255 ff; Verdross/Simma S. 261, § 433. 541

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Zum einen beschreibt die Konvention die möglichen Ziele, wegen deren ein Genozid verübt werden kann. Danach kann die Zielrichtung nicht nur auf die Vernichtung der physischen Existenz, sondern auch auf die Zerstörung der Identität der Gemeinschaft gerichtet sein. Dieses Ziel kann aber nicht nur mit den in der Konvention genannten Mitteln der physischen Bedrohung verfolgt werden. Im Rahmen des Notwehrrechtes ist nicht einzusehen, warum sich eine Gruppe als letztes Mittel nicht auch gegen andere Maßnahmen, die darauf zielen, sie als solche zu zerstören, durch Abspaltung zur Wehr setzen können soll. Daher ist Doehring zuzustimmen, daß auch extreme Maßnahmen, die zur zwangsweisen Assimilierung der Gruppe fuhren sollen, das Notwehrrecht entstehen lassen.545 Unter den bei Doehring genannten Beispielen ist hier insbesondere das Verbot oder die Erschwerung einer Eheschließung unter Gruppenmitgliedern zu nennen. Fraglich ist demgegenüber, ob bereits jedwede Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, eine Bevölkerungsgruppe ihrer spezifischen Eigenarten zu berauben, ein Sezessionsrecht auslösen können.346 Aus dieser Sicht würde lediglich auf die objektive Wirkung assimilierender Maßnahmen abgestellt, und damit zugleich ein völkerrechtlicher Bestandsschutz für ethnische oder kulturelle Minderheiten vorausgesetzt. Diese Prämisse ist aber de lege lata sehr zweifelhaft. So haben gelegentliche Bemühungen um die Formulierung eines dem Genozid vergleichbaren Tatbestandes im Sinne eines "Ethnozids" noch keinen rechtlichen Niederschlag gefunden.547 Vielmehr kennt das völkerrechtliche System des Minderheitenschutzes keinen Bestandsschutz im Hinblick auf die schleichende Assimilierung einer Minderheit.548 Aus diesen Gründen ist die Annahme eines kulturellen Genozids an einer Gemeinschaft als Grundlage des Notwehrrechtes bereits im Grundsatz abzulehnen. Außerdem ist zu fragen, ob die in der Konvention genannten Maßnahmen auch zur Auslösung des Notwehrrechtes mit dem subjektiven Ziel des Genozids getroffen werden müssen. Auch hier erfordert die Schutzrichtung des Selbstbestimmungsrechts in seiner Funktion als Notwehrrecht eine extensivere Auslegung. Für die Angehörigen einer 545

Doehring (Das Sbr) S. 33. In diesem Sinn Murswiek bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 26 f. Für ein Sezessionsrecht zum Schutz der gruppenspezifischen Kultur auch: Hanneman in VJIL 35/2, 1995, 505 m.w.N. 547 Zum Entwurf einer Ethnozid-Deklaration: Eide bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 145. 548 Dazu S. 245 f. 546

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Gruppe macht es vom Schutzzweck des Notwehrrechtes her keinen Unterschied, ob existenzbedrohende Maßnahmen gerade mit diesem Ziel getroffenen werden oder nicht. Daher erscheint es gerechtfertigt, die Schwelle für die Zulässigkeit des Notwehrrechtes schon unterhalb des den Vorsatz mitumfassenden Genozids anzusetzen. Das Notwehrrecht sollte einer Gruppe daher schon zuerkannt werden, wenn ihre Mitglieder wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit einer erhöhten Bedrohung ihrer körperlichen Integrität ausgesetzt sind, auch wenn die staatlichen Maßnahmen nicht auf die Vernichtung der Gruppe als solcher zielen. Letzteres wäre etwa in einem von der Staatsgewalt entfesselten und überlegen geführten Bürgerkrieg der Fall. 2.2.2.2. Die Verletzung sonstiger Menschenrechte

Bereits aus der inneren Beschränkung des Notwehrrechts als ultima ratio-Mittel folgt, daß es nicht schlicht als Instrument zur Sanktionierung jedweder Menschenrechtsverletzungen dienen kann. Die Untersuchung der völkerrechtlichen Standards nach denen Rechtsfolgen an Menschenrechtsverletzungen geknüpft werden führte zu der Schlußfolgerung, daß folgende Menschenrechtsverletzungen in den einschlägigen Dokumenten als besonders schwerwiegende Völkerrechtsverstöße anerkannt werden: -

Mord Folter Vergewaltigung Willkürliche Inhaftierung Verfolgung/Institutionalisierte Diskriminierung aus politischen, rassischen, religiösen oder kulturellen Gründen - die Deportation oder gewaltsame Verbringung der Bevölkerung. Sowohl aus den zitierten Dokumenten als auch aus dem Wesen des Selbstbestimmungsrechts als Notwehrrechtes folgt, daß es sich nicht um Einzelfälle handeln darf. Vielmehr müssen die Verletzungshandlungen in Intensität oder Ausmaß die Bevölkerungsgruppe als solche tangieren. Die angeführte Liste kann nicht abschließend sein. Unter Berücksichtigung der vorgenannten Beschränkungen kann als Leitfaden gelten, daß die Verletzungshandlung den Menschen existentiell gefährden muß.

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Diese Gefährdung kann allerdings, wie Ago zum ILC-Beispiel der Apartheid als internationalem Verbrechen ausgeführt hat, auch seine personale oder psychische Integrität betreffen.549 In Ergänzung zu diesem ILC-Entwurf weisen Verdross/Simma darauf hin, daß auch schwere geschlechtliche, sprachliche und religiöse Diskriminierung die Menschenwürde in gleichem Maß verletzen wie rassistische Akte. Als Beispiele werden dort die schwere und andauernde Verletzung der Gewissens- und Religionsfreiheit genannt.550 Einen positivistischeren Weg beschreitet van Bovert. Er weist die Existenz fundamentaler Menschenrechte unter anderem nach, indem er feststellt, daß in zahlreichen internationalen Menschenrechtsdokumenten und humanitären Konventionen bestimmte Rechte als unabdingbar gelten.551 Danach wären zum Beispiel die in Artikel 4 Absatz 2 CCPR hervorgehobenen Menschenrechte näher ins Auge zu fassen. Dies sind die Rechte auf Leben, Rechtsfähigkeit und auf Gedanken- Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Verbote der Folter, Sklaverei, der Haft als Vertragsstrafe sowie der Grundsatz nulla poena sine legem. Diese Sonderstellung rechtfertigt nach van Boven die Zurechnung dieser Rechte zum Kanon der fundamentalen MR, deren ernsthafte Verletzung internationale Organisationen zum Ergreifen von Maßnahmen berechtigt.552 Ergänzend sei angefugt, daß der CCPR gerade für die Religionsfreiheit die zulässigen Eingriffe in dieses Recht gemäß Artikel 18 Absatz 3 CCPR bewußt restriktiver formuliert als ähnliche Schranken des Paktes.553 Man beachte ferner, daß das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht in den Kanon unabdingbarer Rechte gehört. Nach den Ansätzen der vorgenannten Autoren sind insbesondere zwei weitere Bereiche innerhalb des Menschenrechtssystems hervorzuheben. Ausgangspunkt ist zum einen der aus Artikel 15 CCPR abgeleitete Justizgrundsatz des nulla poena sine legem. Dieser steht in enger Beziehung zu gleichwertigen anderen Verfahrensgarantien vor Gericht wie der Unschuldsvermutung oder dem Grundsatz eines fairen Verfahrens. Diese Gruppierung läßt sich unter dem Begriff der justiziellen Verfahrensgarantien zusammenfassen, der das Problem schärfer umschreibt als 549

Y.B.I. L.C. 1976 Vol. I, 252 Zif. 47. Verdross/Simma S. 848 Fn. 8. 551 Van Boven bei Vasak S. 45 ff. 552 Van Boven bei Vasak S. 45 f, 48. 553 Vgl. Humphrey bei Meron S. 180; Nowak Artikel 18 Rn. 31, sowie Rn. 22 zur allgemeinen Bedeutung der Religionsfreiheit. 550

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die bereits oben gewonnene Kategorie der "willkürlichen Inhaftierung". Zum anderen ist das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit zu berücksichtigen. So räumen auch Stimmen, die sich kritisch mit der Rechtsverbindlichkeit dieser Grundfreiheit auseinandersetzen ein, daß gerade dieses Recht eine der ältesten international anerkannten Freiheiten ist. 554 Die herausragende Bedeutung, die gerade der Religionsfreiheit in der internationalen Praxis beigemessen wird, kommt neben der Übernahme dieses Rechtes in nationale Rechtsordnungen auch darin zum Ausdruck, daß die UNO der Religionsfreiheit mit ihrer Deklaration 36/55 vom 25.11.1981 eine eigene Erklärung gewidmet hat. Daneben findet sich dieses Recht in zahlreichen internationalen Menschenrechtsdokumenten. 555 Diese Wertschätzung findet ihre praktische Rechtfertigung darin, daß sich die Religion für viele Gemeinschaften als ein engeres Bindeglied erweist, als zum Beispiel ethnische oder sprachliche Gemeinsamkeiten. 556 Insoweit kommen mit Verdross/Simma und van Bovert im Rahmen des Notwehrtatbestandes vorrangig noch in Betracht: - eine massive Verletzung der Gewissens- und Religionsfreiheit - regelmäßige Verletzung justizieller Garantien im gerichtlichen Verfahren. In der bisherigen Liste fehlen zwei, gerade in der Tibet-Diskussion häufig erörterte Maßnahmen mit kollektivem Charakter. Es handelt sich dabei um staatlich forcierte ethnische Unterwanderung sowie um Raubbau an der natürlichen Umwelt einer Minderheit. Die Beachtlichkeit dieser beiden Vorgänge soll daher im folgenden gesondert untersucht werden. 2.2.2.3. Veränderung der demographischen Zusammensetzung Auf die internationale Ächtung von forcierten Änderungen der Bevölkerungsstruktur in besetzten Gebieten, einschließlich der jüngsten Praxis für Bosnien-Hercegowina, wurde bereits hingewiesen. 557 Das Statut des Internationalen Tribunals zur Aburteilung von Kriegsverbrechen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien enthält in Artikel 2 einen all554 Vgl. Lillich bei Meron S. 158 Fn. 242 sowie für die Gegenansicht: Greenberg bei Meron S. 313 f m.w.N.; einschränkend auch Sullivan in AJIL 82/1988, 488. 555 So zum Beispiel in Artikel 18 AEMR, Artikel 18 und 27 CCPR. Artikel 1 der GAResolution 47/135 v. 18.12.1992. Vgl. im einzelnen S. 292 f. 556 Dazu m.w.N. Sullivan in AJIL 82/1988, 508 f. 557 Oben S. 181 Fn. 354.

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gemeinen Verweis auf die Genfer Konvention vom 12.08.1949, die diese Vorgehensweise in ihrem Artikel 49 ächtet. Der ILC-Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind fuhrt in Artikel 20 lit. c) (i) unter dem Tatbestand der Kriegsverbrechen den absichtlichen Transfer von Zivilbevölkerung der okkupierenden Macht in das okkupierte Gebiet auf. In ihrem Kommentar zur ersten Fassung wies die ILC darauf hin, daß die Veränderung der demographischen Zusammensetzung in ihrer Schwere dem Genozid gleichkommen kann.558 Soweit es das Selbstbestimmungsrecht in seiner Ausprägung als Notwehrrecht betrifft, kann man in Anbetracht der Völkerrechtspraxis zu demographischen Veränderungen auf besetzten Gebieten durchaus gewisse territoriale Rechte der ursprünglichen Gebietsbevölkerung herleiten.559 Auch der Bewertung solcher Maßnahmen als besonders schwerwiegendes internationales Verbrechen ist zuzustimmen. Daher erscheint es zulässig, jedenfalls in diesen Fällen auch von einem notwehrfahigen Recht der ursprünglichen Gebietsbevölkerung gegen gezielte ethnische Unterwanderungen auszugehen. Allerdings ist dieses Verbot im Rahmen des Kriegsrechts auf besetzte Gebiete beschränkt. Ein darauf gestütztes Notwehrrecht würde aber zu dem Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht und Restitutionsanspruch parallel laufen. Insoweit fehlt es an einer eigenständigen Bedeutung für das Selbstbestimmungsrecht. Die eigentliche Frage lautet, ob auch Minderheiten innerhalb eines multinationalen Staates in Friedenszeiten ein notwehrfahiges Recht gegen eine staatlich gelenkte ethnische Unterwanderung durch den Zuzug von Angehörigen des Mehrheitsvolkes haben. Murswiek vertritt die Ansicht, daß ethnische Gruppen als solche einen Existenzschutz genießen, der insbesondere auch das Recht umfaßt, weiterhin auf einem eigenständigen Territorium zu leben, in dem sie die Mehrheit bilden. Danach soll insbesondere die Etablierung von Angehörigen des Mehrheitsvolkes auf dem Gebiet der Minderheit das Sezessionsrecht auslösen, wenn dadurch die ansässige Bevölkerung auch in diesem Gebiet zur Minderheit wird.560 Der UN-Sonderberichterstatter zu Bevölkerungstransfers spricht eher vorsichtig von einem in der Entwicklung befindlichen Recht 558 Text der neuen Fassung in HRLJ 18/1-4 1997, 98. Vgl. die Kommentierung zur vorherigen Fassung (Artikel 22) in Y. B. I. L. C. 1991, Vol. II, Part. 2, S. 105 Zif. 7. 559 Vgl. außerdem zum Recht auf Heimat: Tomuschat in FS Partsch S. 183-212. 560 So Murswiek bei Tomuschat (Modem Law of Self-Determination) S. 26 f.

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von Individuen und Gruppen, nicht von staatlich veranlaßten Bevölkerungsverschiebungen betroffen zu sein. Die Internationale Juristenkommission hat dieses Recht durch den Zuzug von Han-Chinesen in die traditionellen Siedlungsgebiete der Tibeter als Verletzt angesehen.561 Es ist aber fraglich, ob sich diese Position im Völkerrecht auch de lege lata wiederfindet: Unter den allgemeinen Menschenrechten der AEMR oder der Menschenrechtspakte läßt sich ein solches Recht nicht finden. Die Artikel 13 AEMR und Artikel 12 CCPR betreifen nur das Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Staates sowie das Recht, diesen Staat verlassen und wieder zurückkehren zu können. Die Mitglieder ethnischer Minderheiten können sich somit nicht auf ein individuelles Menschenrecht gegen gezielte demographische Veränderungen ihres Siedlungsgebietes berufen. Ein solches Recht könnte allenfalls noch im Rahmen des Minderheitenschutzes existieren. Maßgeblich für das universelle Völkerrecht sind hier insofern die von der UNO 1992 verabschiedete "Erklärung über die Rechte von Personen, die zu nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten gehören"562 sowie Artikel 27 CCPR. In der UN-Resolution findet sich jedoch kaum Rückhalt für die Annahme eines Abwehrrechtes gegen demographische Unterwanderung. So enthalten die den Angehörigen von Minderheiten in Artikel 2 garantierten Rechte keinen Bezug zu eigenen Territorialrechten. Artikel 1 bestimmt ganz allgemein: „states shall protect thc existence and (•••) identity of minorites (...) ". Allenfalls könnte auf Artikel 4 zurückgegriffen werden. Danach ergreifen die Staaten Maßnahmen, die für Angehörige von Minderheiten günstige Bedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen sollen, ihren charakteristischen Eigenschaften Ausdruck zu verleihen und ihre Kultur, Sprache, Religion, Traditionen und Bräuche zu entfalten. Jedoch dürfte hier unter der Schaffung günstiger Bedingungen für die Ausübung der Minderheitenrechte weniger zu verstehen sein, als die Schaffung von Minderheitengebieten als Sperrzonen zum Schutz vor ethnischer Unterwanderung. Jedenfalls fehlen Anhaltspunkte für eine extensivere Auslegung.

561 562

Tibetbericht von 1997 S. 120 unter Verweis auf den UN-Sonderberichterstatter. GA-Resolution 47/135 v. 18.12.1992. Zur Genese des Entwurfes: Ermacora in VN

5/1992, 149 ff; Hofinann in ZaöRV 52/1, 1992, 10 ff.

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Somit ist zu fragen, ob eine weitergehende Rechtsposition bereits aus Artikel 27 CCPR gefolgert werden kann. Eine unmittelbare Bindung an diese Vorschrift besteht nur für Vertragsstaaten, zu denen die VRC jedoch nicht zählt. Angesichts der Verabschiedung des CCPR durch die Generalversammlung und die dem Artikel 27 inzwischen zukommende Leitfunktion in der Diskussion um den Minderheitenschutz, kann ihm aber wohl die Funktion eines "Standard" zugemessen werden. Es fragt sich allerdings, ob eine solche Wirkung auch Grundlage für ein Notwehrrecht bei Verletzung dieses "standards" sein kann. Letztlich kann diese Frage aber dahinstehen, da bereits zweifelhaft ist, ob sich aus Artikel 27 ein allgemeines Verbot der ethnischen Unterwanderung ableiten läßt. Seinem Wortlaut nach gewährleistet Artikel 27 CCPR nur das Recht von Angehörigen ethnischer, religiöser oder sprachlicher Minderheiten, ihr kulturelles Leben zu pflegen, ihre Religion auszuüben und sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Ergänzend wird diese Bestimmung dahingehend ausgelegt, daß sie jede Art von staatlichem Integrations- und Assimilationsdruck verbietet. 563 Die Frage, ob der Artikel über diese negatorische Funktion hinaus ein Recht auf positive Schutzmaßnahmen enthält war bislang umstritten. 564 Zwischenzeitlich hat der unter dem CCPR konstituierte Menschenrechtsausschuß einen general comment zu dieser Vorschrift veröffentlicht. Darin stellt er unter Ziffer 6.2 fest, daß das in Artikel 27 CCPR statuierte Recht einem Staat unter Umständen auch positive Maßnahmen zum Schutz der Identität einer Minderheit auferlegt. Unter Ziffer 7 fuhrt er aus, daß sich die Kultur gerade im Falle eingeborener Bevölkerungen auch in einer bestimmte Lebensweise in Verbindung mit der Nutzung natürlicher Ressourcen manifestiert. Das Recht zur Pflege der eigenen Kultur könne daher auch das Recht einschließen, in gesetzlich geschützten Reservaten zu leben. 565 Die Kommentierung des Ausschusses entspricht seiner jüngsten Auslegung in dem Fall Lubicon Lake Band gegen Canada. 566 Gegenstand der Entscheidung war die Verhinderung von Eingriffen in die Umwelt auf dem von den Antragstellern beanspruchten Territorium, um ihnen weiterhin 563

Nowak Artikel 27 Rn. 42; Hoftnann in ZaöRV 52/1, 1992, 9. Vgl. Nowak Artikel 27 Rn. 43 ff; Tomuschat in FS Mosler S. 968 ff. 565 Text in HRLJ 15/4-6, 1994, 234 ff. 566 Abdruck des Falles in HRLJ 11/3-4, 1990, 305 ff. Anders noch die Entscheidung des Ausschusses im Lovelace-Fall, abgedruckt in HRLJ 2/1981, 158 ff, insbesondere 165 f (Zif. 14 ff). Vgl. zur neueren Auslegung auch Kitok gegen Schweden in HRLJ 11/1-2, 1990, 148. 564

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die Führung ihrer traditionellen Lebensweise zu ermöglichen. Die Lubikon Lake Band, ein Stamm der Cree-Indianer, machte geltend, daß ihre kulturelle Identität wesentlich mit den traditionellen Tätigkeiten des Fischens, Jagens und ähnlichen Betätigungen zusammenhänge, die durch Umwelteingriffe und Enteignungen erschwert würden. Auch wenn das zur Überwachung der in Artikel 27 CCPR garantierten Rechte berufene Organ nunmehr klargestellt hat, daß diese Norm auch zu positiven Maßnahmen verpflichtet, die der Identitätswahrung von Minderheiten dienen, ist doch fraglich, ob auch die schleichende Assimilierung selbst infolge gezielter staatlicher Zuwanderungspolitik davon erfaßt wird. So hat Tomuschat darauf hingewiesen, daß gerade die systematische Auslegung des Artikels 27 mit anderen Menschenrechtsartikeln, zum Beispiel dem Recht auf Bildung nach Artikel 13 CESCR, zu dem Ergebnis fuhrt, daß Artikel 27 einen Staat nicht daran hindert, Kontakte zwischen der Mehrheitsbevölkerung und der auf einer anderen Zivilisationsstufe stehenden Minderheit herzustellen. 567 Jedenfalls die unter dem Aspekt der sozio-ökonomischen Entwicklung vorgenommene Förderung des Zuzugs von Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung kann daher nicht als unzulässiger Assimilierungsdruck bewertet werden. Auch die Auslegung des Artikel 27 zu gebietsbezogenen Rechten von eingeborenen Bevölkerungsgruppen hilft hier nicht weiter. Sowohl die Kommentierung als auch die Fallentscheidungen des Ausschusses betreffen nur den speziellen Fall, daß die spezifische Nutzung eines bestimmten Territoriums zur Bewahrung der traditionellen Lebensweise von eingeborenen Bevölkerungsteilen notwendig ist. Das Problem einer territorialen Abgrenzung zur Verhinderung kultureller Assimilierung wird davon nicht berührt. Zudem besteht die Möglichkeit, daß ethnische Unterwanderung durch Angehörige der Mehrheitsbevölkerung als rein privater Akt der jeweiligen Siedler angesehen werden kann. Insoweit enthält der Kommentar des Ausschusses unter Ziffer 6.1 die allgemeine Aussage, daß ein Staat auch zu positiven Schutzmaßnahmen gegen private Handlungen verpflichtet ist. Da in diesem Fall aber auch die Rechte der Mehrheitsbevölkerung, insbesondere das Recht auf Freizügigkeit, zu berücksichtigen sind, bedarf diese Aussage einer näheren Differenzierung. Eine Schutzpflicht des Staates vor privaten Handlungen, etwa durch Siedler, wird in der Literatur nur dann angenommen, wenn von diesen Siedlern 567

So Tomuschat in FS Mosler S. 971.

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eine erhebliche Bedrohung für die Existenz der Minderheit ausgeht. Als Beispiele werden kolonialisierende Maßnahmen oder mit der Besiedelung einhergehende feindliche Handlungen genannt. 568 Demgegenüber liefe die Annahme einer staatlichen Eingriffspflicht gegen die automatisch mit einer Bevölkerungsveränderung verbundene Assimilierung auf einen Bestandsschutz für Minderheiten hinaus. Letzterer wird aber weitgehend abgelehnt. 569 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß Minderheiten allenfalls in besonders schwerwiegenden Fällen gegen den Verlust ihrer Identität durch ethnische Unterwanderung geschützt sind, etwa bei massiven Übergriffen der neuen Siedler. Das Recht auf Gewährung eines abgesonderten Territoriums wird bislang nur für eingeborene Bevölkerungsgruppen bei spezifischer Abhängigkeit von kultureller Identität und Gebietsnutzung anerkannt. Demgegenüber besteht für sonstige Minderheiten kein Recht auf räumliche Abschottung zum Schutz vor kultureller Beeinflussung 2.2.2.4. Massive Zerstörung der Umwelt

Von Interesse für das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht gerade im Falle der Tibeter sind zudem Vorwürfe, die der chinesischen Regierung in bezug auf die ökologische Ausbeutung und Zerstörung Tibets gemacht werden. 570 Ein kurzer Überblick zeigt jedoch, daß sich im Völkerrecht keine entsprechende Rechtsposition für gebietsansässige Bevölkerungsgruppen findet, auf deren Verletzung sich ein Notwehrrecht gründen könnte. Zunächst sei auf die Berücksichtigung umweltschädigender Maßnahmen in den Arbeiten der ILC eingegangen. In ihrem Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit wird in Artikel 19 Absatz 3 (d) als Beispiel eines internationalen Verbrechens genannt, ein ernsthafter Bruch einer internationalen Verpflichtung von essentieller Bedeutung für den Schutz und die Bewahrung der menschlichen Umwelt, wie solcher (Verpflichtungen), die massive Verschmutzung der Atmosphäre oder der See verbieten. 568

Nowak Artikel 27 Rn. 45; Tomuschat in FS Mosler S. 974. So ausdrücklich auch: Hofmann in ZaöRV 52/1, 1992, 9; Verdross/Simma S. 838, § 1253; Tomuschat in FS Mosler S. 970 f. 570 Vgl. Rowell bei Steckel S. 160 ff; Tibetan Young Buddhist Association: Tibet-The Facts S. 66 ff. Vgl. zur chinesischen Gegendarstelung: Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 26 f; Tibetweißbuch S. 58 ff. 569

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Obwohl die Verschmutzung nur als Beispiel genannt wird fällt auf, daß der Kommentar der ILC zwar weitere Fälle benennt, jedoch nicht auf das Problem wirtschaftlicher Ausbeutung oder die Einrichtung von Naturschutzgebieten eingeht. 571 Daneben enthielt Artikel 26 des ursprünglichen ILC-Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind von 1991 den Tatbestand der vorsätzlichen und schweren Schädigung der Umwelt. 572 In dem derzeit aktuellen Entwurf wird die absichtliche Umweltschädigung jedoch als Kriegsverbrechen lediglich für Fälle bewaffneter Konflikte aufgeführt. 573 Sofern Umweltfragen im übrigen Gegenstand völkerrechtlicher Regeln sind, handelt es sich um gegenseitige Verpflichtungen zwischen den Staaten und nicht um menschenrechtsähnliche Rechtspositionen der Individuen. 574 Versuche, ein Recht auf gesunde Umwelt als sog. Menschenrecht der dritten Generation zusammen mit anderen kollektiven Menschenrechten zu etablieren, haben sich in der Staatengemeinschaft bislang nicht als konsensfahig erwiesen. 575 Eine Verbindung von wirtschaftlicher Ausbeutung der Natur und Rechten der ansässigen Bevölkerung findet sich lediglich in dem bereits zur Frage demographischer Veränderungen zitierten Lubikon Lake Band-Fall des CCPR-Ausschusses. In diesem Fall kam eine Verletzung von Artikel 27 CCPR aber gerade deshalb in Betracht, weil die traditionelle Gebietsnutzung zu den Identitätsmerkmalen der ansässigen Urbevölkerung gehörte und gerade diese Nutzung durch Eingriffe in die Natur bedroht war. Es bleibt festzustellen, daß das Völkerrecht de lege lata der ansässigen Gebietsbevölkerung nur im Rahmen des CCPR eigene Rechte gegen umweltzerstörende oder -verändernde Maßnahmen anerkennt. Hier sind 571

Y. B. I. L. C. 1976, Vol. II., Part 2, S. 109 und 121. Vgl. dazu den Kommentar der ILC in Y. B. I. L. C. 1991 Vol. II., Part 2, S. 107. Der Text setzte jedoch voraus, daß die Umweltschädigung umfangreich und langandauernd sein muß. Hier dürften Schädigungen als Nebenfolge wirtschaftlicher Ausbeutung a priori ausscheiden, da die Intention eben nicht auf der Umweltzerstörung liegt. 573 Artikel 20 lit. (g), Text in HRLJ 18/M, 98. 574 Vgl. Verdross/Simma S. 643 ff, §§ 1029 ff.; Vitzthum/H/zi/mm S. 484 ffRn. 150 ff. 575 Vgl. Vitzthum/Vitzthum S. 492 Rn. 164. Vgl. fiir die Bemühungen die Stockholmer Deklaration zum Recht auf Umwelt: von der Generalversammlung aufgegriffen in Resolution 2994 (XXVII) v. 15.12.1972, Ziff. 2. Kritisch zu den neuen Menschenrechten allgemein: Partsch in VN 5/'86, 156 ff; Verdross/Simma S. 836, § 1250; Mavi in QIL 5/91, 123 ff, 140: nur soft-law. Zur Polarität zwischen Dritte-Welt-Staaten und Industrienationen in diesen Fragen auch: Tomuschat in ZaöRV 36/1976, 444 f, 449, 488 f. 572

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aber sowohl die beschränkte Bindungswirkung des CCPR als Vertragsrecht als auch die Besonderheit des vom Menschenrechtsausschuß entschiedenen Falles zu beachten. Die von den Tibetern angeprangerte Umweltzerstörung auf ihrem Siedlungsgebiet kann daher keine Grundlage für ein zur Sezession berechtigendes Notwehrrecht ein. Die Frage, inwieweit diese Vorwürfe berechtigt sind kann daher dahinstehen. 3. Notwehrlage der Tibeter

Die in Abschnitt 2. dieses Kapitels herausgearbeiteten Kriterien sind nunmehr auf die Situation der Tibeter anzuwenden. Dabei ist zu untersuchen, ob die Tibeter aufgrund von Umständen, die der chinesischen Regierung zuzurechnen sind, in einem solch starken Ausmaß gegenüber der restlichen Bevölkerung benachteiligt werden, daß der oben umschriebene Tatbestand einer Notwehrlage vorliegt. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Menschenrechtssituation der Tibeter zu erörtern. Zunächst ist eine allgemeine Anwendung der gefundenen Kriterien auf die tibetische Situation geboten, da dadurch vorweg bestimmte Menschenrechtsverstöße, die in der öffentlichen Tibet-Diskussion gerügt werden, a priori aus der näheren Betrachtung herausfallen. Sodann wird vorab die Behandlung der tibetischen Menschenrechtssituation auf der internationalen Ebene dargestellt. Nach Darstellung dieser Grundlagen erfolgt die eigentliche Erörterung konkreter Menschenrechtsverletzungen durch die VRC und ihrer Relevanz für ein tibetisches Notwehrrecht. 3.1. Vorgaben für die Untersuchung

Im Falle Tibets erschließen sich aus der vorangestellten Erörterung zwei Vorgaben für die Subsumtion unter die Fallgruppe des Notwehrrechtes. Beide beziehen sich auf die in Betracht kommenden Menschenrechtsverletzungen. Die erste betrifft das zeitliche Element und berührt die Frage, ob zurückliegende Ereignisse in Tibet ein aktuelles Selbstbestimmungsrecht rechtfertigen können. Die zweite Vorgabe betrifft Art und Intensität der aktuellen Menschenrechtsverletzungen und ermöglicht eine Vorauswahl der zu untersuchenden Menschenrechte. 3.1.1. Zurückliegende Menschenrechtsverletzungen

Das Selbstbestimmungsrecht wurde für diese Fallgruppe nur als ultima ratio Mittel anerkannt, das einer Gruppe den letzten Ausweg aus einer

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existentiell bedrohlichen Situation eröffnet. Daraus ergibt sich aber ein zeitliches Limit für die in Betracht kommenden Menschenrechtsverletzungen. So kann das Selbstbestimmungsrecht hier, anders als unter dem Aspekt des Restitutionsanspruchs, nicht als Wiedergutmachung für früher erlittenes Unrecht beansprucht werden. Vielmehr ist es nur als Mittel zur Befreiung aus einer akuten Notwehrlage zulässig. Das Andauern dieser Situation ist damit Voraussetzung, eine Forderung nach Unabhängigkeit zu legitimieren. Diese Einschränkung ist für die Tibet-Frage insofern von besonderem Belang, als das sino-tibetische Verhältnis in der Menschenrechtsfrage zwei markante Zeitmarken aufweist. Die erste deckt den Zeitraum von der Annexion 1950 bis zum Beginn der endgültigen Eingliederung in den Jahren nach 1959 ab. Die Internationale Juristenkommission erstellte in den Jahren 1959 und 1960 jeweils einen Bericht zur Tibet-Frage. In beiden Berichten wurde eingehend zu Menschenrechtsverletzungen Stellung genommen. 576 In dem Zeitraum der Konsolidierung nach 1959 wurden auch die drei UN-Resolutionen zu Tibet verabschiedet. In diesen Resolutionen wurde ebenfalls die Verletzung von Menschenrechten durch die chinesische Regierung in Tibet angeprangert. 577 Die zweite Periode betrifft die Phase der sog. Kulturrevolution von 1966 bis 1976. Zwar war die gesamte VRC von den Auswirkungen dieser Bewegung betroffen, jedoch hatte die tibetische Bevölkerung durch den hinzukommenden ethnisch-kulturellen Konflikt in stärkerem Maß darunter zu leiden. Auch hielten die Auswirkungen wegen der großen geographischen Entfernung vom politischen Zentrum Chinas in Tibet noch über 1976 hinaus an." 8 Soweit in der Literatur das Tibet-Problem überhaupt unter dem Notwehraspekt des Selbstbestimmungsrechts erörtert wird, werden diese beiden Phasen besonders hervorgehoben. 579 Nach dem hier verfolgten Ansatz können diese zurückliegenden Exzesse für die heutige Beurteilung aber grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Anders müßte die Beurteilung nur dann ausfallen, wenn die Menschenrechtsexzesse der Kulturrevolution kontinuierlich fortgesetzt worden wären. Dazu ist je576

Tibetbericht von 1959 S. 58 ff; eingehender noch der Tibetbericht von 1960 S. 10 ff. GA-Resolution 1355(XIV) v. 21.10.1959; 1723(XVI) v. 20.12.1961 und 2079(XX) v. 18. 12.1965. 578 Dazu: Hool S. 45 ff; Peissel S. 234 ff. 579 So Sharma S. 49 ff. 577

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doch festzustellen, daß die Zentralregierung in Peking 1980, nach einem Besuch des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPC in Tibet, ausdrücklich Fehler in der bisherigen Tibetpolitik eingestanden hat. Die revidierte Politik wurde in acht Prinzipien sowie sechs Voraussetzungen formuliert und zudem durch personelle und wirtschaftliche Konsequenzen umgesetzt. 580 Daher muß diese Repressionsphase als abgeschlossen angesehen werden. Eine aktuelle Forderung nach Ausübung des Selbstbestimmungsrechts läßt sich darauf nicht gründen. Somit bleibt festzuhalten, daß die während der Konsolidierungsphase und der Kulturrevolution begangenen Menschenrechtsexzesse für die nachfolgende Untersuchung nicht zu berücksichtigen sind. 3.1.2. Art und Intensität der Menschenrechtsverletzungen Das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht ist keine Sanktion für die Verletzung von Menschenrechten oder gar Minderheitenrechten. Vielmehr folgt aus dem ultima ratio-Prinzip, daß außer der Bedrohung der physischen Existenz nur schwerwiegende Mißachtungen der Menschenwürde eine Notwehrlage im Sinne dieser Fallgruppe entstehen lassen. In der weiteren Untersuchung sollen daher nur solche Menschenrechtsverletzungen berücksichtigt werden, die zumindest potentiell eine solche Notwehrlage begründen können. Daher fallen einige Menschenrechte a priori aus der Betrachtung heraus, auch wenn ihre Verletzung durch die chinesische Regierung als sicher gelten kann. So erübrigt sich die Erörterung insbesondere einiger kultureller oder auch politischer Rechte, wie der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Letztere bilden zwar wesentliche Voraussetzungen für die politische Teilhabe des Einzelnen, jedoch wurde bereits oben dargelegt, daß diese Rechte nicht in den Kanon der Menschenrechte gehören, deren Verletzung international besonders geächtet wird. 581 Außer Betracht bleiben auch die Vorwürfe einer Diskriminierung der Tibeter im Bereich des Gesundheitswesens im Vergleich zu den in Tibet lebenden Han-Chinesen. 582 Zunächst muß einschränkend angemerkt

580 Vgl. dazu insbesondere Schier: "Pekings neue Politik für Tibet", in China aktuell, Juni 1980, 481 ff (mit einer Übersetzung der 8 Prinzipien und ihrer Voraussetzungen); Hool S. 55 ff; Weggel in China aktuell, Dezember 1983, 744 ff, 750 f. 581 Vgl. S. 230 ff und 239 ff. 582 Informationsbulletin des Vertretungsbüros S. H. des Dalai Lama, September 1989, S. 3; Tibetan Young Buddhist Association: Tibet-The Facts S. 44 ff: Danach sollen

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werden, daß eine graduelle Schlechterstellung über Einzelfälle hinaus bislang nicht als generelles Problem der Tibeter nachgewiesen worden ist. Zu den Bevorzugten sollen im übrigen auch tibetische Kader zählen, so daß insofern eher eine Diskriminierung nach gesellschaftlicher Stellung, denn nach ethnischen Kriterien stattfindet. 583 Die bislang erhobenen Vorwürfe erfüllen somit nicht die qualitativen und quantitativen Anforderungen nach dem ultima ratio-Prinzip. Es wird die Auffassung vertreten, daß einige Menschenrechtsverletzungen, obwohl sie in der gesamten VRC begangen würden, bereits a priori gerade die Tibeter besonders schwer träfen. Begründet wird dies mit der bereits behandelten Statusfrage: Da die Chinesen in Tibet eine rechtswidrige Herrschaft ausübten, wiegten die Menschenrechtsverletzungen für die Tibeter schwerer als für die übrige Bevölkerung. 584 Dem ist jedenfalls im Zusammenhang mit dem hier erörterten Notwehrrecht nicht zuzustimmen. Als Grundlage dieses Rechtes wurde herausgearbeitet, daß der "Standard" der Deklaration 2526 nur als ultima ratio in ein subjektives Recht umschlägt und das Völkerrecht in Theorie und Praxis starke Eingriffe in die territoriale Souveränität und Einheit eines Staates nur zuläßt, sofern Menschenrechtsverletzungen in ihrer Tragweite auf die gesamte Staatengemeinschaft ausstrahlen. Diese Voraussetzung wurde über die Verbindung zu den Pflichten erga omnes und den internationalen Verbrechen konkretisiert. Maßstab ist danach aber nicht das Rechtsempfinden der Betroffenen, sondern die Intensität auf objektiver Grundlage. Eine Menschenrechtsverletzung wird aber objektiv nicht dadurch verstärkt, daß sie von einem unrechtmäßig herrschenden Souverän begangen wird. Allerdings können sich aus der Rechtswidrigkeit der Herrschaft zusätzliche Gebote für den Souverän ergeben, so zum Beispiel hinsichtlich demographischer Veränderungen. 585

Chinesen in Krankenhäusern bevorzugt behandelt werden. Auch würden die tibetischen Krankenhäuser bereits personell schlechter versorgt. 583 Tibetan Young Buddhist Association: Tibet-The Facts S. 46. 584 So Andersson bei Steckel S. 187. 585 DazuS. 180 ff und 241 ff.

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3.2. Menschenrechte in Tibet im internationalen Focus 3.2.1. Behandlung des Themas im Rahmen der UNO

Auf die drei Resolutionen der Generalversammlung zu Tibet von 1959, 1961 und 1965 wurde bereits hingewiesen. In diesen Resolutionen wird allgemein die Besorgnis der Generalversammlung über die Verletzung grundlegender Menschenrechte des tibetischen Volkes und die Unterdrückung seines eigenständigen kulturellen und religiösen Lebens zum Ausdruck gebracht. 586 Im Anschluß an die letzte Resolution befaßte sich bis in die achtziger Jahre hinein kein UN-Gremium mehr mit der Situation in Tibet. Erst ab 1985 war die Menschenrechtssituation in Tibet wieder Gegenstand von Diskussionen in verschiedenen internationalen Gremien. So seit der 51. Tagung 1985 im Rahmen der Menschenrechtskommission, seit 1988 in der Unterkommission für die Verhinderung von Diskriminierung und für den Schutz von Minderheiten sowie 1989 in der Generalversammlung. Aufgrund des Beitritts der VRC zu verschiedenen Abkommen fanden entsprechende Erörterungen auch im Ausschuß gegen Folter sowie im Ausschuß für die Beseitigung jedweder Rassendiskriminierung statt. Dabei wurden die erhobenen Vorwürfe von dem jeweiligen chinesischen Vertreter zurückgewiesen. 587 Die bislang konkretesten Versuche, wieder eine internationale Verurteilung der Menschenrechtslage in Tibet herbeizuführen, wurden seit 1991 im Rahmen der Menschenrechtskommission unternommen. So wurden auf der 48., 51. und nachfolgenden Tagungen der Kommission Resolutionsentwürfe behandelt, die sich mit der Menschenrechtssituation in China unter besonderer Erwähnung Tibets beschäftigten. 588 Die eingebrachten Resolutionsentwürfe scheiterten jedoch jedesmal daran, daß

586

GA-Resolution 1353(XIV) v. 21.10.1959: Präambel Absatz 4, Zif. 2; 1723(XVI) v. 20.12. 1961: Präambel und Zif. 2; 2079(XX) v. 18.12.1965: Präambel Absatz 3, Zif. 1 und 4. 587 Vgl. zu diesen Aktivitäten: Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit der EG über die Lage in Tibet, DOC-DE/RR/217331 vom 16.11.1992 S. 10 f; Tibetan Young Buddhist Association: Tibet-The Facts S. 116 ff; Partsch bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 59 ff. 588 Dabei gerät die Hervorhebung Tibets jedoch zunehmend in den Hintergrund: Der Entwurf 1992 (Doc. E/CN.4/1992/L.49/Rev.l v. 3.3.1992) war bereits die revidierte Fassung einer selbständigen Tibet-Resolution (Doc. E/CN.4/1992/L.49). Demgegenüber wurde in dem Entwurf 1996 (Doc. E/CN.4/1996/L.90) lediglich in der Präambel auf den inadäquaten Schutz der Identität „ofTibetans and others" hingewiesen.

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die Mehrheit einem Antrag auf Nichtbefassung stattgab. 589 Insoweit sei auf ein Statement des Berichterstatters des politischen Ausschusses der EG, Ken Coates verwiesen, der 1991 in seinem Bericht über die Menschenrechte in der Welt feststellte, daß sich China in den UN-Gremien stark um die Beeinflussung anderer Länder bemüht und damit Abstimmungen verhindert. Auch wies er allgemein darauf hin, daß bereits die MenschenrechtsvorwürfeVorwürfe der Unterkommission ein zuverlässiger Indikator sind, auch wenn die Menschenrechtskommission hinterher beschließe, sich nicht weiter mit diesen Ländern zu befassen. 590 Allerdings besteht die Gefahr, daß die Öffentlichkeit gerade im Falle Tibets diesen Indikator verliert. So zeichnet sich eine Bereitschaft der EU-Staaten und der USA ab, im Gegenzug für Zugeständnisse Chinas auf die Einbringung von Resolutionsentwürfen zu verzichten. 591 Den Aktivitäten innerhalb der Menschenrechtskommission verdankt die UNO immerhin eine Zusammenstellung von Menschenrechtsberichten zu Tibet. So verabschiedete die "Unterkommission für die Verhinderung von Diskriminierung und für den Schutz von Minderheiten" im August 1991 eine Resolution mit dem Titel "Die Lage in Tibet". 592 Darin wurde unter anderem der Generalsekretär der UNO ersucht, der Menschenrechtskommission einen Bericht über die Situation in Tibet zu erstatten. Zur 48. Tagung lag der Menschenrechtskommission der von ihrer Unterkommission erbetene Bericht des Generalsekretärs mit dem Titel "Die Situation in Tibet" vor. 593 Der Bericht wird im folgenden zitiert als Tibetbericht des UN-Generalsekretärs. Das Papier ist eine Zusammenstellung von Stellungnahmen, die vom ständigen Vertreter Chinas bei der UNO sowie von sieben Nichtregierungsorganisationen mit beratendem Status beim ECOSOC abgegeben worden waren. Auf den Inhalt dieses Berichtes wird noch im Rahmen der nachfolgenden Untersuchung zur Notwehrlage der Tibeter zurückzukommen sein. 589 Vgl. für die Diskussion in 1992: Doc. E/CN.4/1992/SR.54/Add. 1 v. 10.3.1992 bei einem Stimmenverhältnis von 27 zu 15 zu 10; für 1995: Pema Thinley in Tibet-Forum 1/1995, 11 ff (Antrag mit einer Stimme Mehrheit angenommen); für 1996: Ching in FEER v. 16. Mai 1996 S. 38 (Stimmenverhältnis: 27 zu 20 zu 6); für 1997: Clemens in Tibet-Forum 1/1997, 4 ff (Stimmenverhältnis: 27 zu 17 zu 10). 590 Bericht des politischen Ausschusses über die Menschenrechte in der Welt in den Jahren 1989 und 1990 und die Menschenrechtspolitik der EG, DOC-DE/RR/114073 v. 5.8.1991. 591 Vgl. FAZ vom 15.3.1997, S. 6. 592 Resolution 1991/10, Entwurf: Doc. E/CN.4/Sub.2/1991/L.19 v. 20.8.1991. 593 Doc. E/CN.4/1992/37 v. 5.1.1992.

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Vom 19. bis 30. November 1994 besuchte der Sonderberichterstatter Amor im Auftrag der UN-Menschenrechtskommission China um die Umsetzung der Deklaration zur Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aus religiösen Gründen zu untersuchen. Sein Besuch führte in auch nach Lhasa. Der aufgrund dieser Reise von Amor verfaßte Bericht vermeidet es, explizit Verstöße gegen die Deklaration zu konstatieren, statt dessen mündet er in vorsichtig formulierte Empfehlungen zur Verbesserung der Lage.594 3.2.2. Behandlung des Themas im Rahmen der EG

Das Europäische Parlament verabschiedete in den Jahren 1987, 1989, 1990 und 1992 Entschließungen über die Lage in Tibet. Der Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit beauftragte im Mai 1990 Jannis Sakellariou mit der Erarbeitung eines Berichtes über die Lage in Tibet, der am 6.11.1992 vom Ausschuß angenommen wurde. Dieser wird im folgenden zitiert als Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit der EG über die Lage in Tibet. Der Bericht enthält als Hauptbestandteile einen Entschließungsantrag und eine Begründung. Auf beide Teile wird im einzelnen im Rahmen der Erörterung der Notwehrlage zurückzukommen sein. In den Bericht eingeflossen sind auch die Erfahrungen einer Delegation des EGParlaments, die während einer Chinareise auch Lhasa besuchte. Demgegenüber wurde dem Berichterstatter für Tibet die Erlaubnis zum Besuch Tibets verweigert.595 Der Entschließungsantrag wurde als Entschließung zur Lage in Tibet vom EG-Parlament am 15.12.1992 verabschiedet.596 Darin wird die Verletzung zahlreicher Menschenrechte einzeln festgestellt. Daneben wird den Tibetern das Recht auf Selbstbestimmung zuerkannt, allerdings unter Verweis darauf, daß der Dalai Lama nicht auf die Erlangung der vollen Unabhängigkeit bestehe. Auch wird ein Zusammenschluß aller tibetischen Gebiete zu einer einzigen administrativen und politischen Einheit empfohlen. Weitere Entschließungen, insbesondere zur Menschenrechtssituation in Tibet folgten.597 594

Doc. E/CN.4/1995/91 im folgenden nur mit dem Namen des Autors zitiert. Bericht von Amor S. 9. 596 Amtsblatt der EG C 21; 36. Jahrg. vom 25.1.1993 S. 78 ff: Entschließung A30369/92. 597 Zum Beispiel: Entschließung B3-0858/93; Entschließung B4-0768/95; Entschließung B4-0963/95; B4-0636/96. 595

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3.2.3. Menschenrechtsgutachten auf Veranlassung Chinas

Bei einem Besuch des chinesischen Außenministers im Januar 1992 wurde mit dem österreichischen Außenministerium die Entsendung einer Menschenrechtsexpertenkommission nach Tibet vereinbart. Die formelle Einladung erfolgte durch das Chinese Peoples Institute of Foreign Affairs. Die Delegation unter der Leitung von Prof. Dr. Ermacora und Dr. Benedek besuchte die VRC vom 9. bis 19. Juli 1992 und traf am 13.7.1992 in Lhasa ein. Die Gesandtschaft bezeichnete sich selbst als österreichische Rechtsexpertendelegation. Der Bericht wird im folgenden zitiert als Bericht der österreichischen Rechtsexpertendei • 598 legation. Die Aussagen des Berichtes beziehen sich nur auf die Autonome Region Tibet. Die Autoren stellen fest, daß die Delegation ständig von offiziellen Begleitern umgeben war und den Eindruck einer ständigen Beobachtung gewann. Auch seien spontane und unabhängig geführte Gespräche mit Tibetern nicht möglich gewesen.599 Ferner sollen die tibetischen Gesprächspartner sich in bezug auf politische Themen augenscheinlich verängstigt gezeigt und zum Teil sogar offensichtlich unwahre Angaben zu bestimmten Fragen gemacht haben.600 Auf die Beurteilung der verschiedenen MenschenrechtsaspekteAspekte in dem Bericht wird bei der Erörterung der Notwehrsituation für die Tibeter näher einzugehen sein. In den Schlußfolgerungen des Berichtes wird festgestellt, daß sich die Menschenrechtssituation in Tibet nicht wesentlich von der Situation im restlichen China unterscheidet. Allerdings werde in Tibet wegen der Unabhängigkeitsbewegung größere Härte gezeigt. Insbesondere wird vermerkt, daß die chinesischen Sonderregime für nationale Minderheiten ethnisch konzipiert seien und nicht die im Falle der Tibeter wichtigen religiösen Charakteristika berücksichtigten. Insgesamt wird eine Verdrängung der tibetischen Kultur durch die fortschreitende Integration Tibets in die VRC festgestellt. Genannt werden insbesondere die Beherrschung des Wirtschaftslebens in der Autonomen Region Tibet durch Han-Chinesen und die faktische Benachteiligung der Tibeter im Bildungsbereich.601 Der Kern des Tibetproblems wird in dem Bericht als 598 Der von den beiden genannten Autoren verfaßte Bericht ist über das österreichische Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten erhältlich. 599 Bericht S. 4 Zif. 9, S. 18 Zif. 35. 600 Bericht S. 18 Zif. 35, S. 27 Zif. 15. 601 Bericht S 25 ff.

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Wertekonflikt zwischen den marxistisch-maoistisch-materiellen Idealen der VRC und den traditionellen Werten der tibetischen Kultur gese-

3.2.4. Menschenrechtsweißbücher der Volksrepublik

Als Antwort auf die ihr von zahlreichen Menschenrechtsorganisationen und anderen Staaten vorgeworfenen Menschenrechtsverletzungen hat die VRC mehrere Weißbücher zu diesem Themenkomplex veröffentlicht. Herausgeber ist in allen Fällen das Presseamt des Staatsrates der VRC. Bei den nachfolgend öfter zitierten Schriften handelt es sich um: "Menschenrechte in China" vom November 1991, im folgenden zitiert als Menschenrechtsweißbuch, "Tibet - it's ownership and human rights Situation" vom September 1992, zitiert als Tibet-Weißbuch; "Umerziehung von Straftätern" vom August 1992. Diese Weißbücher wurden ergänzt durch zwei weitere Schriften zur allgemeinen Menschenrechtssituation in den Jahren 1995 und 1997 sowie einem weiteren Buch zur Religionsfreiheit im Oktober 1997.603 Diese Weißbücher belegen, daß sich die Regierung durchaus dazu angeregt fühlte, auf die fortwährende Kritik an der Menschenrechtslage in der VRC zu reagieren. Sie geben zudem Einblick in die Einstellung der chinesischen Regierung zu den Menschenrechten im Allgemeinen sowie zu speziellen Problemen im Besonderen. Auf die Einzelheiten wird im Verlauf der Untersuchung immer wieder einzugehen sein. 3.2.5. Sonstige Menschenrechtsberichte

Im übrigen stützt sich die nachfolgende Untersuchung auf Menschenrechtsberichte nichtstaatlicher Organisationen, staatlichen Angaben sowie veröffentlichten Aussagen von Betroffenen oder Augenzeugen. Von besonderer Bedeutung sind hier die Berichte von amnesty international (ai), Asia-Watch, Informationspapiere von Organisationen der Exil-Tibeter (zum Beispiel T I N . ) sowie der jährliche Länderbericht der USA zur Menschenrechtslage in verschiedenen Staaten (USA-Country reports). Auf eine abschließende Aufzählung kann hier verzichtet werden, insoweit sei auf die Nachweise in den Fußnoten verwiesen. 602

Bericht S. 7 Zif. 14. Vgl. zu diesen Ergänzungsschriften Übersicht (4) in China aktuell, April 1997, 287 und Übersicht (8) in China aktuell, Oktober 1997, 961. 603

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3.3. Genozid oder genozidähnliche Akte an den Tibetern?

Die Grundlage der Untersuchung bilden die Kriterien, die bereits bei der allgemeinen Erörterung des Notwehrtatbestandes durch Genozid dargelegt wurden. Ausgangspunkt ist demnach die Definition in Artikel 2 der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948: In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: (a) Tötung von Mitgliedern dieser Gruppe; (b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern dieser Gruppe; (c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; (d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; (e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. Ergänzend wurde bei der Erarbeitung einer Tatbestandsumschreibung fiir die Notwehrlage festgestellt, daß die Genozidabsicht, anders als im internationalen Strafrecht, für die Notwehrlage kein konstitutives Merkmal sein kann. Insofern genügt im folgenden der Nachweis existenzbedrohender Maßnahmen, sofern diese nach Art und Ausmaß objektiv geeignet erscheinen, die Gruppe als solche zu zerstören. 3.3.1. Vorwurf des "kulturellen Genozids" in Tibet

Einen besonderen Genozidbegriff verwendet International Alert zur Bewertung der tibetischen Situation. Die Organisation kam während einer Tibet-Konsultation in London 1990 zu dem Ergebnis, daß die Tibeter einem kulturellen Genozid unterworfen seien.6 4 Zur Begründung wird auf zahlreiche Mißstände hingewiesen. Sie betreffen die Sprach-

604

Tibet, An International Consultation, Juli 1990 S. 13. Diesen Begriff im Gegensatz zum physischen Genozid verwendet auch Berman bei McCorquodale/Orozs S. 90 Zif. 3.

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und Erziehungspolitik, die Beschäftigungslage und wirtschaftlichen Möglichkeiten, die Gesundheitsversorgung und das Rechtswesen. Diese Aspekte stellen ihrer unmittelbaren Wirkung nach Diskriminierungstatbestände oder Mißstände des Polizei- und Justizwesens dar. Unter dieser Zuordnung werden sie noch gesondert auf ihre Relevanz für eine Notwehrlage zu erörtern sein. Allenfalls insofern, als die Sprach- und Bildungspolitik zu einer Assimilierung der Tibeter fuhrt, könnte von einer Zerstörung der Tibeter als kultureller Gruppe gesprochen werden. Allerdings ginge diese Ausweitung des Völkermordbegriffes weit über die gewohnheitsrechtlich verfestigte Definition des Artikels 2 der Genozid-Konvention hinaus, die auf physische Eingriffe abstellt. Auch wurde bereits dargelegt, daß eine Assimilierung von Minderheiten vom Völkerrecht grundsätzlich nicht geächtet wird. Daher wurde die Ausweitung des Völkermordbegriffes im Sinne eines "Ethnozids" auf kulturelle Beeinträchtigungen bereits abgelehnt. 605 Vielmehr verbleibt es bei den bereits gefundenen Kriterien. 3.3.2. Befund der Internationalen Juristenkommission 1960

Die Internationale Juristenkommission hat sich in ihrem Tibetbericht von 1960 auf der Grundlage der Völkermordkonvention eingehend mit der Frage des Genozids an den Tibetern beschäftigt. Sie kam darin zu einer differenzierten Stellungnahme. So vertrat die Kommission die Auffassung, daß einige der Tatbestandshandlungen nachgewiesen werden konnten. Sie stellte fest, daß religiöse Führer wegen ihres Glaubens zur Abschreckung getötet worden seien und Kinder gewaltsam deportiert wurden, um ein religionsorientiertes Heranwachsen zu verhindern. 606 Allerdings hielt die Kommission die Beweise nicht für ausreichend, um eine Absicht zur Zerstörung der Tibeter als ethnische, rassische oder nationale Gruppe festzustellen, da die Maßnahmen nicht gegen die Tibeter als solche gerichtet waren. 507 Demgegenüber bejahte sie den Genozid an den Tibetern als religiöse Gruppe. Dies wurde damit begründet, daß das Praktizieren der buddhistischen Religion in Tibet verboten sei und mit den genannten Maßnahmen eine systematische

605

Vgl. S. 238. Tibetbericht von 1960 S. 3, 12 ff, 48, 58, vgl. aber auch die Einschränkung S. 40 f. 607 Tibetbericht von 1960 S. 13. Dies wird für die nach 1950 durchgeführten Maßnahmen ebenfalls bestätigt bei Jamyang Norbu in Tibetan Review 5/1992, 20.

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Ausrottung dieses Glaubens in Tibet betrieben werde. Die entsprechende Genozid-Absicht wurde aus chinesischen Quellen abgeleitet. 08 Die Feststellungen der Internationalen Juristenkommission wurden vor dem Hintergrund der Einführung der sog. demokratischen Reformen in der Autonomen Region Tibet nach 1959 getroffen. Allerdings wurden auch die übrigen Regionen Tibets in die Untersuchung einbezogen. Unter der Prämisse, daß es für die Beurteilung einer Notwehrsituation auf die gegenwärtigen Umstände ankommt 609 , ist daher zu erörtern, ob sich die Umstände gegenüber dem damaligen Untersuchungszeitpunkt maßgeblich geändert haben. 3.3.3. Genozid an den Tibetern als religiöse Gruppe?

Die größte Zerstörung von Klöstern und die umfangreichste Tötung oder Zwangssäkularisierung der Mönche fand gerade in der Phase der sog. demokratischen Reformen nach 1959 statt. 610 Der Bericht der Internationalen Juristenkommission wurde somit in der Anfangsphase einer Periode starker religiöser Verfolgung abgefaßt. An dieser Stelle soll noch keine eingehende Untersuchung zur aktuellen Religionspolitik der VRC in Tibet durchgeführt werden. Diese bleibt vielmehr der Erörterung einer Notwehrlage durch Eingriffe in die Religionsfreiheit vorbehalten. 611 Im Vorgriff kann jedoch festgestellt werden, daß sich die Religionspolitik der VRC seit dem Bericht der Internationalen Juristenkommission maßgeblich geändert hat. Das Verschwinden der Religion wird nur noch als gesellschaftspolitisches Fernziel angestrebt. Dies geht aus dem vom Sekretariart des Zentralkomitees der KPC in Umlauf gebrachten Dokument Nr. 19 hervor. 612 In Abschnitt (1) wird die Religion als historisches Phänomen dargestellt, dessen Verschwinden das natürliche Schicksal infolge der Entwicklung des Sozialismus sei. Im letzten und zwölften Abschnitt wird die Rolle der Partei- und Staatsorgane in Religionsfragen dargestellt. Darin wird die Gewährleistung der Glaubensfreiheit als der einzig korrekte Umgang mit der Religionsfrage bezeichnet. Erst infolge einer 608

Tibetbericht von 1960 S. 3, 14 ff; 59 ff. Dazu S. 248 ff. Vgl. S. 295 f. 611 Dazu unter D. V. 3.7. 612 Zur Bedeutung dieses Dokumentes für die staatliche Religionspolitik S. 294 und zum Inhalt auch S. 307 f. 609

610

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weiteren Entwicklung der Gesellschaft werde das Bewußtsein, auf dessen Grundlage die Religion bestehe, verschwinden. Letzteres, so wird eingeräumt, könne nur langfristig und sogar nicht innerhalb von drei Generationen erreicht werden. Aus diesem Dokument erschließt sich der eher theoretische Charakter des Konzeptes, das eng an die marxistische Philosophie angelehnt ist. Vielmehr wird die Religion aus staatlichem Eigeninteresse durchaus in einem gewissen Sinn gefördert. 613 Daher kann die Untersuchung der objektiven Genozidhandlungen hintangestellt werden, da, anders als zum Zeitpunkt des oben genannten Berichtes bereits die Zielrichtung der Zerstörung einer religiösen Gruppe fraglich erscheint. Auch die Internationale Juristenkommission brandmarkt die Religionspolitik in Tibet in ihrem Bericht von 1997 zwar nach wie vor, erhebt jedoch den Vorwurf des Genozids nicht mehr. Soweit die spätere Untersuchung zur Notwehrlage aufgrund von Eingriffen in die Religionsfreiheit der Tibeter eine schleichende Aushöhlung der Religion feststellt, sind diese Maßnahmen nicht gegen die Existenz einer religiösen Gruppe als solche gerichtet, sondern zielen auf eine staatskonforme Anpassung mit der eine wesensmäßige Umgestaltung der Religion verbunden ist. Nach Ansicht des Verfassers ist damit aber keine genozidähnliche Situation mehr gegeben, da hier mehr der qualitative Aspekt der Religionsfreiheit im Vordergrund steht. 3.3.4. Zerstörung der Tibeter als ethnische Gruppe?

Da die Tibeter ethnisch von den Han-Chinesen verschieden sind und in der VRC als nationale Minderheit anerkannt werden, stellen sie eine ethnische oder nationale Gruppe im Sinne der Genozidkonvention dar. Im folgenden ist zu erörtern, ob die Tibeter durch Maßnahmen, die den objektiven Genozidtatbestand im Sinne von Artikel 2 der Konvention verwirklichen, in ihrer Existenz als ethnische Gruppe innerhalb der VRC gefährdet sind. 3.3.4.1. Notwehrlage durch Tötung von Tibetem

Der objektive Tatbestand des Genozids kann gemäß Artikel 2 lit. (a) Genozidkonvention durch die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe verwirklicht werden. Dabei bleiben die den Chinesen zur Last gelegten 613

Vgl. auch den Bericht von Amor S. 118 f, 133 f sowie zur Förderung des Buddhismus in der Autonomen Region Tibet S. 295 f.

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Exzesse nach 1950 außer Betracht, da es auf die aktuelle Notwehrlage ankommt. Die für die letzten Jahre nachgewiesenen Tötungen von Tibetern beruhen entweder auf polizeilichen Schüssen anläßlich von Demonstrationen oder aber auf gerichtlichen Todesurteilen sowie Todesfällen während der Haft. Fraglich ist unter dem Aspekt des Genozids, ob die Zahl der dadurch umgekommenen Tibeter die Existenz der Gruppe als solche gefährdet. Nach tibetischen Angaben von 1987 sollen zum Beispiel in Qinghai 800-1000 Gefangene inhaftiert und davon 300-400 in den Gefängnissen gestorben sein.614 Eine andere Quelle berichtet vom Tod von 300 tibetischen Gefangenen während des Sommers 1989.615 Ein Vergleich verschiedener Menschenrechtsberichte ergibt, daß für 1990 der Tod von drei Gefangenen im Gefängnis von Lhasa nachgewiesen wurde. 616 Zwischen 1987 und 1985 sollen insgesamt zehn gefangene Frauen kurz nach der Überführung in ein Krankenhaus gestorben sein. Daneben gibt ai an, für die Zeit von Mai 1990 bis April 1991 von 15 Todesurteilen in der Autonomen Region Tibet Kenntnis erhalten zu haben. 617 Die Zahl der seit 1987 bei Demonstrationen getöteten Tibeter wird auf einige Dutzend geschätzt. 618 Die nachgewiesenen Todesfälle, so bedauerlich jeder einzelne auch ist, sind jedoch nach Art und Umfang nicht dazu geeignet, die Tibeter als ethnische Minderheit in ihrer Existenz als solche zu gefährden. 3.3.4.2. Notwehrlage durch Verbringung tibetischer Kinder

Aufgrund konkreter Anhaltspunkte ist zu fragen, ob für den tibetischen Nachwuchs der Tatbestand einer gewaltsamen Überführung von Kindern einer Gruppe in eine andere im Sinne von Artikel 2 lit. (e) der Genozid-Konvention nachgewiesen werden kann. 614

Jamyang Norbu in Tibetan Review 5/1992, 22. So eine Information der Tibet Initiative Deutschland e.V.: Tibet Heute S. 3 unter Berufung auf T.I.N.-Material vom 6.11.1989. Die Angaben sollen aus Tibet geschmuggelt worden sein. 16 So der Gefangene Lhakpa Tsering: USA-Country reports 1991, 811 (unter Berufung auf offizielle chinesische Quellen); ai-Report (2) S. 9 ff; Die Gefangenen Dawa und Migmar Tashi: Tibet Initiative Deutschland e. V. : "Tibet nach Aufhebung des Kriegsrechts". 617 Vgl. für die Angabe zu den weiblichen Gefangenen: ai-Report (6) S. 20. Zu den Todesurteilen: ai-Report (1) S. 49. 618 ai-Report (1) S. 44. Von Erffa in FAZ vom 29.7.1992, S. 8: ca. 60 getötete Demonstranten zwischen 1987 und 1989. 615

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Die Überführung tibetischer Kinder nach Zentralchina geschieht im Rahmen der Bildungspolitik. Die Kinder werden etwa im Alter von 12 Jahren in spezielle Schulen in China geschickt, um dort ihre schulische Ausbildung fortzusetzen. Mitte der achtziger Jahre befanden sich aus diesem Grund 4.000 tibetische Kinder in Zentralchina. Damals gab die chinesische Regierung bekannt, die Zahl bis 1993 auf 10.000 steigern zu wollen. 619 Dieses Ziel scheint nahezu erreicht zu sein, da chinesische Quellen für 1992 angegeben haben, daß inzwischen in chinesischen Städten spezielle Kurse und Schulen für 9.000 tibetische Schüler eingerichtet worden seien.620 Während der Oberstufe der Mittelschule kommen diese Schüler bis zu 4 Jahre lang nicht nach Hause. 621 Obwohl die Jugendlichen nach Absolvierung ihrer Ausbildung wieder nach Tibet zurückkehren, sehen die Tibeter in dieser Bildungspolitik eine Gefahr für den Bestand der tibetischen Identität. Viele der zurückkehrenden jungen Erwachsenen seien der tibetischen Kultur weitgehend entfremdet, so daß eine Aushöhlung der tibetischen Kultur befürchtet wird. 622 Die bildungspolitische Zielsetzung wird von einer vormals in Lhasa unterrichtenden Engländerin als positiv bewertet und angesichts des Bildungsangebotes in Tibet auch als sinnvoll bezeichnet. Nach ihren Angaben kann die Überführung von den Eltern zwar verweigert werden, diese Weigerung hat jedoch eine Tadelung durch die Behörden zur Folge. 623 Eine solche Zurechtweisung sollte allerdings in einer kollektiv organisierten und staatsmonopolistischen Gesellschaft wie der chinesischen nicht unterschätzt werden. Da es sich demnach in vielen Fällen nicht um eine freiwillige, von den Eltern veranlaßte Aktion handelt, kann von einer zwangsweisen Überführung gesprochen werden. Angesichts der bildungspolitischen Zweckmäßigkeit dieses Vorgehens kann der chinesischen Regierung kaum die Absicht des Genozids unterstellt werden. Aber auch bei einem Verzicht auf das Vorsatzelement unter den gegenüber der Völkermordkonvention modifizierten Voraussetzungen für eine Notwehrlage, ist fraglich, ob die Maßnahmen zumindest objektiv geeignet sind, die Tibeter als ethnische Gruppe ganz oder 619

Bass S. 108 f. Cui Uli in BR 9/1992, 22. Nach Angaben des Tibet-Weißbuchs S. 62 sind tibetische Mittelschulen auf 24 innnere Provinzen und Bezirke verteilt. 621 Bericht der österreichischen Expertenkommission S. 22 Zif. 48. 622 Bass S. 109. 623 Bass S. 109. 620

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teilweise zu zerstören. Dabei kann dahinstehen, ob durch Verschikkungsmaßnahmen dieser Größenordnung überhaupt ein nachhaltiger Einfluß auf die kulturelle Identität einer Minderheit ausgeübt werden kann. Fraglich ist nämlich bereits, ob die befürchtete kulturelle Entfremdung der betroffenen Kinder tatsächlich stattfindet, und ob etwaige Nachteile nicht durch eine Erhöhung der beruflichen Chancen der tibetischen Bevölkerung ausgeglichen werden. In Anbetracht des Umstandes, daß die tibetischen Kinder bis zu ihrem zwölften Lebensjahr eine relativ lange Zeit innerhalb ihrer ethnischen Gemeinschaft aufwachsen und nur die Zeit während der weiterführenden Schulbildung außerhalb der Autonomen Region Tibet verbringen, kann der tatsächliche Einfluß auf ihre kulturelle Verwurzelung gar nicht abgeschätzt werden. Unter diesen Umständen ein Notwehrrecht zur Abspaltung zu bejahen, erscheint nicht gerechtfertigt, zumal auch aus der Sicht mancher betroffener Eltern die Vorteile dieser Maßnahme die befürchteten Nachteile aufwie-

3.3.4.3. Notwehrlage durch Geburtenverhinderung

Angesichts der in China offiziell betriebenen Politik der Familienplanung drängt sich eine Erörterung zu Maßnahmen nach Artikel 2 lit. (d) der Konvention auf. Es handelt sich dabei um den Genozid durch Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb einer Gruppe gerichtet sind. Die staatliche Lenkung des Bevölkerungswachstums über die Familienplanung ist durch Artikel 25 in der chinesischen Verfassung verankert. Zwar wird in Artikel 49 Absatz 1 der Schutz der Familie festgeschrieben, aber bereits Absatz 2 legt dem Ehepaar die beiderseitige Pflicht zur Familienplanung auf. Der verfassungsmäßige Schutz der Familie umfaßt also nicht das Recht der Eheleute auf unbeschränkten Familienzuwachs. Vielmehr wird die persönliche Pflicht zur Familienplanung ergänzt durch die Ermächtigung des Staates, diese Planung durch Maßnahmen zu fördern. Gemäß Artikel 44 des Autonomiegesetzes von 1984 ist den Selbstverwaltungsorganen in den Autonomen Regionen die Festlegung und Durchführung der Methoden für die Geburtenplanung übertragen worden.

624

Boss S. 109.

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Die chinesische Regierung begründet diese Politik mit der bereits jetzt schon hohen Bevölkerungszahl und dem daraus folgenden hohen Bevölkerungszuwachs. Eine gezielte Beschränkung des Bevölkerungswachstums sei unerläßlich, um einerseits den Lebensstandard der Bevölkerung zu sichern und andererseits eine Verbesserung zu ermöglichen. Demgegenüber könne eine natürliche Senkung der Geburtenrate infolge langfristiger wirtschaftlicher Entwicklung nicht abgewartet werden. 6 5 Im Menschenrechtsweißbuch der VRC wird betont, daß im Rahmen dieser Familienplanung primär auf Propaganda und Aufklärung gesetzt werde. Kern der Politik sei die Empfängnisverhütung. Angestrebt werde dabei die Ein-Kind-Familie. Nur bei mißlungener Verhütung würden Abtreibungen mit freiwilliger Zustimmung der Frauen durchgeführt. Das Verhältnis von Geburten und Abtreibungen entspreche dem mittleren Standard in der Welt. Demgegenüber würden Zwangsabtreibungen von der Regierung bekämpft. Diese Politik stehe im Einklang mit den Anforderungen der sog. Mexiko City-Deklaration der UNO über Bevölkerung und Entwicklung von 1984, die Länder mit solchen Problemen sogar zu einer angemessenen Bevölkerungspolitik verpflichte. Auch nach den Prinzipien des UNO-Weltbevölkerungsprogramms falle die Bevölkerungspolitik in die Souveränität der einzelnen Staaten. 626 Die chinesische Argumentation kann auf den ersten Blick nicht völlig von der Hand gewiesen werden. Bis zum Jahre 2015 wird ein jährliches Wachstum der Weltbevölkerung von über 86 Millionen Menschen prognostiziert. 627 Angesichts dieser Zahlen wird die Notwendigkeit einer globalen Steuerung des Bevölkerungswachstums international anerkannt, auch wenn unterschiedliche Ansichten über die dabei zulässigen Mittel bestehen. Die Aktivitäten der UNO zur Weltbevölkerungspolitik gehen zurück auf die Weltbevölkerungskonferenz von 1974, die in Bukarest stattfand. Der dort verabschiedete Weltbevölkerungs-Aktionsplan stellt fest, daß die Formulierung und Umsetzung der Bevölkerungspolitik in die Sou625

Menschenrechtsweißbuch S. 77 f. Danach zählte die VRC 1990 bereits 1,14 Milliarden Einwohner und die Bevölkerung nimmt um durchschnitlich 17 Millionen pro Jahr zu. 626 Menschenrechtsweißbuch S. 80 ff. 627 So der Weltbevölkerungsbericht des Bevölkerungsfonds der UNO (UNFPA) vom Juli 1995 zitiert in der FAZ vom 12.7.1995 S. 9.

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veränität jeder Nation fällt und ohne äußere Einflußnahme vorgenommen werden kann. Dieses Recht hat auch die Generalversammlung bestätigt. 628 Andererseits stellt der Plan an verschiedenen Stellen die Forderung auf, daß die jeweilige Bevölkerungspolitik im Einklang mit den Menschenrechten und persönlichen Freiheiten stehen muß. 629 Insoweit wird aber in Abschnitt A des Planes ausdrücklich festgestellt, daß das Recht von Paaren, die Anzahl ihrer Kinder frei bestimmen zu können, in einer Vielzahl von internationalen Instrumenten verankert ist. Dementsprechend spricht der Plan auch die Empfehlung aus, daß alle Länder dieses Recht respektieren und sicherstellen sollen. Ebenso sollen sie die Beseitigung unfreiwilliger Sterilität sicherstellen. 630 Auch die von der Folgekonferenz verabschiedete Mexiko City-Deklaration über Bevölkerung und Entwicklung von 1984 bestätigte das Recht auf freie Wahl der Anzahl der Kinder als grundlegendes Menschenrecht. 631 Das Aktionsprogramm der dritten Weltbevölkerungskonferenz, die im September 1994 in Kairo stattfand, bekräftigt ebenfalls das Recht aller Menschen auf freie Entscheidung über die Zahl ihrer Kinder. In diesem Zusammenhang wurde erstmals der Begriff des Rechtes auf Reproduktion geprägt. 632 Insbesondere zur Frage der Abtreibung wurden sehr restriktive Positionen vertreten. 633 In der verabschiedeten Kompromißformel zur Abtreibung heißt es unter anderem, daß die Abtreibung nicht als Mittel der Familienplanung benutzt werde. Sogar gegen diese Formulierung meldeten der Heilige Stuhl und andere Staaten noch Bedenken an Ob die in ganz China praktizierte Politik der Familienplanung mit den vorgenannten Grundsätzen in Einklang steht ist fraglich. So steht der offiziellen Darstellung über die Grundzüge der chinesischen Bevölkerungspolitik das inoffizielle Eingeständnis gegenüber, daß Zwangsabtreibungen und -Sterilisationen vor allem in entfernteren, ländlichen

628 Aktionsplan Zif. 14; GA-Resolution 3344 (XXIX) v. 17.12.1974, Präambel Absatz 6. 629 Aktionsplan Zif. 14 lit. (d) und (m) sowie Zif. 17. 630 Aktionsplan Zif. 6; Zif. 28 lit. (a) und (c). 631 Vgl. Y. U. N. 1984, 715 f; ArchdG v. 14.8.1984, 27962. 632 Vgl. FAZ vom 13.9.1994, S. 5 und vom 14.9.1994, S. 1. 633 Vgl. FAZ vom 7.9.1994, S. 9 und vom 12.9.1994, S. 8. 634 Vgl. FAZ vom 12.9.1994, S. 8 und vom 14.9.1994, S. 1.

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Gebieten durchaus stattfinden.635 Nach Angaben von kritischen Berichten ist aber auch grundsätzlich an dem freiwilligen Charakter der Familienpolitik zu zweifeln. So sollen Frauen nachts aus den Betten geholt und in Sterilisationskliniken gebracht worden sein. Dabei sollen Abtreibungen noch in sehr späten Schwangerschaftsstadien vorgenommen werden. Zudem werden Frauen nach der ersten Geburt ohne vorherige Absprache empfängnisverhütende Implantate eingesetzt. Unwillige Frauen werden von "Überzeugungsgruppen" so lange bearbeitet, bis sie mehr oder weniger freiwillig in Abtreibungen einwilligen. Schließlich droht Paaren, die mehr als zwei Kinder haben, neben anderen wirtschaftlichen Sanktionen auch der Verlust des Arbeitsplatzes.636 Mit Shiers sind diese Praktiken eindeutig als Zwangsmaßnahmen zu charakterisieren, die den freiwilligen Charakter der präventiven und nachträglichen Geburtenverhinderung ausschließen.63 Zudem werden die verantwortlichen Beamten ihrerseits bestraft, wenn in ihrem Bezirk überzählige Geburten stattfinden. Damit wird die chinesische Regierung aber selbst für die Zwangsmaßnahmen verantwortlich, von denen sie sich offiziell distanziert, da sie die örtlichen Beamten mittelbar zu solchen Maßnahmen zwingt, um Vorgaben einzuhalten, die auf freiwilliger Basis allein nicht zu erreichen wären.638 Nach Angaben von amnesty international keine Hinweise darauf gefunden werden, daß Beamte wegen unerlaubter Zwangsmaßnahmen bestraft worden wären und offizielle Kreise in der VRC räumen ein, daß härtere Strafen sehr selten sind.639 Neben der quantitativen Steuerung des Bevölkerungswachstums in der gesamten VRC tritt das Ziel, den gesundheitlichen Status der Bevölkerung durch eugenische Maßnahmen zu beeinflussen. Zu diesem Zweck wurde im Juni 1995 ein Gesetz in Kraft gesetzt, daß die Heirat und Fortpflanzung bestimmter körperlich oder geistig kranker Personen-

635

Vgl. USA-Countty reports 1993, 609. Vgl. auch den Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 314 f. 636 Eingehend: Shiers in VJIL 30/1990, 1012 f; zusammenfassend auch: USA-Countiy reports 1991, 818 f; 1993, 609 f sowie 1996, 11 f. 6 " Shiers in VJIL 30/1990, 1011. Ebenso das International Committee of Lawyers for Tibet (Menschenrechtsverletzungen der VRC an tibetischen Frauen) S 19 f. 638 Ebenso Shiers in VJIL 30/1990, 1015. Die gesteigerte Verantwortlichkeit von Beamten soll 1991 eingeführt worden sein (USA-Countiy reports 1993, 609 f) und auch Strafen beinhalten (USA-China countiy report 1996, 11). 639 Vgl. dazu ai-Report (7) S. 93 f und USA-China country report 1996, 12.

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gruppen regelt. Das Gesetz sieht auch medizinisch indizierte Abtreibungen und Sterilisationen vor. 640 Nach früheren chinesischen Angaben sollte die Familienplanung nur für die Han-Nationalität bindend sein, die ca. 93-94% der Gesamtbevölkerung ausmacht. Für die Minderheitengruppen werde diese Politik nur auf eigenen Wunsch hin durchgeführt. 641 Diese Grundsätze scheinen inzwischen jedoch relativiert worden zu sein. So hieß es zunächst für die Autonome Region Tibet, daß angesichts des Bevölkerungswachstums der letzten Jahre und der geringen Fläche Urbanen Landes eine Planung notwendig geworden sei.642 Nach anderen chinesischen Quellen wird zur Begründung für die Ausdehnung der Geburtenkontrolle auf die Tibeter auch auf die Verbesserung der Populationsqualität verwiesen. Danach soll der Hauptteil der "zurückgebliebenen" Personen Chinas auf dem Land leben und davon der größte Teil in Tibet. 643 In anderen Statements heißt es, daß nur die tibetischen Farmer und Nomaden mit einem Bevölkerungsanteil von immerhin 88% von der Familienplanung ausgenommen seien. Für sie würden lediglich öffentliche Informationskampagnen durchgeführt. Für die übrigen Tibeter (Kader, Arbeiter und Stadtbewohner) werde die Zwe/-Kind-Politik befürwortet und ausgeführt. Auch hier soll aber die Öffentlichkeitsarbeit im Vordergrund stehen. Im übrigen werde auf das Einverständnis und auf "Hilfestellung" gesetzt. Zwangsabtreibungen seien auch hier verboten. 644 Im Ergebnis ist festzuhalten, daß die Politik der Familienplanung seit Mai 1990 auch auf die Landbevölkerung ausgedehnt worden ist.645

640

USA-China country report 1995, 12 und 24 sowie report 1996, 12 und 26. Menschenrechtsweißbuch S. 79. Laut USA-Country reports 1993, 609 bestehen aber auch Ausnahmen für die 70% der Han-Chinesen, die in ländlichen Gebieten wohnen. 642 Tibetweißbuch S. 55. 643 Vgl. die Quellennachweise in: Human Rights Update (2) S. 5; Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit der EG über die Lage in Tibet vom 16.11.1992, DOC-DE/RR217331 S. 12 f. Laut USA-Country reports 1993, 610 haben seit 1988 fünf Provinzregierungen eugenische Vorschriften erlassen. Zu diesen gehören auch die Autonome Region Tibet sowie die mit einem hohen tibetischen Bevölkerungsanteil ausgestattete Präfektur Ganze: Nw. im Bericht des International Committee of Lawyers for Tibet (Menschenrechtsverletzungen der VRC an tibetischen Frauen) S. 22 Fn. 33. 644 Tibetweißbuch S. 55; Tibetbericht des UN-Generalsekretars S. 23 Zif. 39. 645 Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 59 Zif. 35, 36; Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 310. 641

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Der nach offiziellen Angaben eher zurückhaltende Charakter der in Tibet praktizierten Familienplanung wird von Kritikern in Frage gestellt. Dabei werden Maßnahmen zur Geburtenregulierung aus allen Regionen Tibets auch außerhalb der Autonomen Region berichtet. 646 In Nomadengebieten sollen zunehmend mobile Abtreibungskliniken eingesetzt werden. 647 Nach chinesischen Quellen sollen in der Autonomen Region Tibet bis 1990 18.000 Sterilisationen vorgenommen worden sein. Damit sind 3% der Frauen in geburtsfähigem Alter davon betroffen. In Qinghai soll die Zahl bis 1988 sogar 87.000 betragen haben und damit 10% der Frauen in geburtsfähigem Alter sterilisiert worden sein.648 Die Freiwilligkeit solcher Eingriffe wird vielfach in Zweifel gezogen, da dies dem buddhistischen Glauben zuwiderlaufe. 649 Daneben werden zahlreiche konkrete Fälle berichtet, in denen Frauen durch physischen Zwang oder Täuschung über medizinische Befunde zu Eingriffen veranlaßt wurden. 650 Der Dalai Lama erklärte, ein chinesischer Arzt habe ihm versichert, daß die tibetischen Kliniken Abtreibungsquoten erfüllen müßten. Die Erfüllung dieser Quoten werde auch durch ungewollte Schwangerschaftsunterbrechungen erreicht. 651 Auch unter Berücksichtigung dieser Kritik muß festgestellt werden, daß die Tibeter, wenn auch vielleicht weniger begünstigt als in offiziellen Darstellungen verlautbart, nicht in besonderem Maße von der staatlichen Familienplanung betroffen sind. Vielmehr ergibt ein Vergleich der Berichte für die gesamte VRC mit der Situation tibetischer Frauen, daß sich die gegen tibetische Familien gerichteten Maßnahmen nicht von denen in der restlichen VRC unterscheiden. 652 Zwar soll die Bevölke646

Vgl. Human Rights Update (1) und (2); Tibetan Young Buddhist Association: TibetThe Facts S. 50; International Committee of Lawyers for Tibet (Menschenrechtsverletzungen der VRC an tibetischen Frauen) S. 15 ff. 647 Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 59 f Zif. 39; Blake Kerr bei Kelly/Bastian/ Ludwig S. 100 f; Shiers in VJIL 30/1990, 1014. 648 Human Rights Update (2) S. 1. 649 Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 60 Zif. 40; Pema Dechen bei Kelly/Bastian/ Ludwig S. 97; Human Rights Update (2) S. 2. 650 Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 59 f Zif. 37, 40; Human Rights Update (2) S. 3 ff; Pema Dechen und Blake Kerr bei Kelly/Batsian/Ludwig S.97 ff; Tibetan Young Buddhist Association: Tibet-The Facts S. 49 ff m.w.N. S. 305 Fn. 86; International Committee of Lawyers for Tibet (Menschenrechtsverletzungen der VRC an tibetischen Frauen) S. 23 ff. 651 FAZ vom 19.8.1991. 652 Nach dem Bericht des International Committee of Lawyers for Tibet (Menschenrechtsverletzungen der VRC an tibetischen Frauen) S. 19, sollen sich die Richtlinien zur

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rungsdichte in der Autonomen Region Tibet nur ein Hundertstel der durchschnittlichen Bevölkerungsdichte Chinas ausmachen653, jedoch dürfte es formal nicht zu beanstanden sein, wenn ein Staat seine Geburtenplanung einheitlich für das gesamte Staatsgebiet festlegt und somit seine gesamte Bevölkerung gleichermaßen davon betroffen ist. Auch lassen sich keine Hinweise auf eine Benachteiligung der Tibeter gegenüber anderen Minderheiten bei der Umsetzung der Familienpolitik finden. Die Frage, ob China seine Personalhoheit überhaupt rechtmäßig auch auf die tibetische Bevölkerungsgruppe erstrecken darf, wurde bereits in den anderen Fallgruppen fiir das Selbstbestimmungsrecht fruchtbar gemacht und gehört nicht hierher. Zudem ist angesichts der Notwendigkeit globaler Steuerung des Bevölkerungswachstums zu überlegen, ob nicht Notwendigkeiten bestehen, die zumindest die beratende und mit wirtschaftlichen Anreizen verbundene Einwirkung auf die Schwangeren rechtfertigen. Dieser Gedanke lag offenbar einem Entschließungsantrag zugrunde, den der Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und Sicherheit der EG in seinem Bericht über die Lage in Tibet verfaßte.654 Der Antrag wurde als Entschließung vom EG-Parlament am 15.12.1992 verabschiedet.655 Darin wird unter Zif. 6 die Empfehlung ausgesprochen, „daß im höchst sensiblen Bereich der Politik der Geburtenregelung ein vernünftiger, kulturell und sozial verträglicher Ausgleich gefunden wird, der auf die Überzeugungen der tibetischen Bevölkerung und die besondere Lage des Landes Rücksicht nimmt. " Daneben wird von chinesischer Seite dargelegt, daß die tibetische Bevölkerung in der gesamten VRC seit 1950 kontinuierlich zugenommen habe. Danach ist die tibetische Bevölkerung in der Autonomen Region Tibet von 1953 bis 1990 von 1 Million auf 2,096 Millionen gestiegen. Im gleichen Zeitraum seien die Tibeter in der gesamten VRC (einschließlich der Autonomen Region Tibet) von 2,77 Millionen auf

Familienplanung fiir Tibeterinnen von den Maßnahmen gegenüber der chinesischen Bevölkerung unterscheiden. Der Blick auf die praktische Umsetzung bestätigt dies jedoch nicht. 653 International Committee of Lawyers for Tibet (Menschenrechtsverletzungen der VRC an tibetischen Frauen) S. 18; vgl. dazu auch die Zahlenangaben im Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 309. 654 DOC-DE/RR/217331 v. 16.11.1992 S. 4 ff. 655 Entschließung A3-0369/92.

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4,59 Millionen angewachsen. 656 Demgegenüber wird eingewandt, das Wachstum ginge darauf zurück, daß mindestens fünf Millionen Chinesen um die Änderung ihrer nationalen Zugehörigkeit in die einer ethnischen Minderheit nachgesucht hätten. Insofern fehlt es jedoch an einer genauen Aufschlüsselung, die darüber Auskunft gibt, wie hoch die Änderungsrate in die tibetische Nationalität ist. Ebenso unsubstantiiert ist die Behauptung, selbst drei Kinder pro Familie seien nicht ausreichend, um die Bevölkerungszahl der Tibeter auch nur stabil zu halten. 657 Allerdings ist zu beachten, daß die Geburtenkontrolle erst seit Mitte der achtziger Jahre auf die Tibeter ausgedehnt wurde. 658 Somit können sich diese Maßnahmen erst in den nächsten Jahren im Sinne eines Bevölkerungsrückgangs bemerkbar machen. Jedenfalls werden von chinesischer Seite bereits Erfolge in der Senkung der Geburtenrate in der Autonomen Region Tibet sowie den angrenzenden Autonomen Bezirken gemeldet.6® 3.4. Polizeiwillkür und Mißstände in der Strafrechtspflege

Im folgenden werden Mißstände behandelt, die der VRC im Rahmen der Tibet-Diskussion besonders oft vorgehalten werden, die aber dennoch keine Notwehrlage der Tibeter begründen, da es sich um systemimmanente Probleme der in China praktizierten Ordnungspolitik handelt. Da die Menschenrechtsverletzung aber gerade gegenüber der das Selbstbestimmungsrecht fordernden Gruppe begangen werden muß, um ihr eine Sonderstellung gegenüber der restlichen Bevölkerung zu verschaffen, scheiden allgemeine Mißstände, die alle Staatsangehörigen gleichermaßen treffen, a priori aus.

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Tibetweißbuch S. 55 f. Für die Tibeter soll somit eine höhere Zuwachsrate im Vergleich zur chinesischen Bevölkerung bestehen: Ngapoi Ngawang Jigme S. 36 Vgl. zu beiden Behauptungen: International Committee of Lawyers for Tibet (Menschenrechtsverletzungen der VRC an tibetischen Frauen) S. 19, 21. 658 Tibetan Young Buddhist Association: Tibet-The Facts S. 50 bringt die frühesten Beispiele aus den Jahren 1982/1983. Nach chinesischen Angaben wurde mit der Ausdehnung der Geburtenkontrolle auf die Tibeter in der ART erst 1984/85 begonnen: Tibetweißbuch S. 55; Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 23. Umfassendere Maßnahmen scheinen somit erst seit den letzten Jahren organisiert worden zu sein. 659 Vgl. die Zahlenangaben im Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 315 f.

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3.4.1. Notwehrlage durch Polizeimaßnahmen?

Den chinesischen Polizeikräften in der Autonomen Region Tibet wird vorgeworfen, durch unverhältnismäßige Maßnahmen gegenüber Demonstranten außergerichtliche Exekutierungen vorzunehmen. Sowohl Untersuchungen von ai als auch Zeugenaussagen anwesender Touristen stimmen darin überein, daß die Polizeikräfte, insbesondere in Lhasa, mehrfach Demonstrationen durch unprovozierte Schüsse in die Teilnehmermenge auflösten und damit zumindest bewußt den Tod vieler Demonstranten in Kauf nahmen. Nachgewiesen und dokumentiert wurden solche Reaktionen insbesondere für die Demonstrationen in Lhasa im Dezember 1988 und März 1989.660 Bei der Tötung unbewaffneter Demonstranten sollen in Lhasa in der Zeit zwischen 1987 und 1989 nach Angaben von ai Dutzende Tibeter zu Tode gekommen sein.661 Ferner wurde bekannt, daß die Polizei vom 24.-26.5.1993 in Lhasa mit Tränengas gegen einige tausend friedliche Demonstranten vorgegangen ist. Auch über mögliche Schüsse wurde berichtet. 662 Dennoch ist das Vorliegen einer darauf gestützten Notwehrlage zweifelhaft, da die Reaktion mit lebens- und gesundheitsbedrohenden Maßnahmen gegen Demonstranten sich nicht als Verhaltensweise darstellt, die in besonderem Ausmaß gegenüber den Tibetern angewandt wird. Das markanteste und erschreckendste Beispiel dafür bildet die Niederschlagung der sog. Demokratiebewegung am 4.6.1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Bei dieser Bewegung handelte es sich um Protestkundgebungen, die überwiegend von Studenten getragen wurden, die Han-Chinesen waren. Nach Angaben von amnesty international sollen bei dem gewaltsamen Vorgehen von Polizei und Militär mindestens tausend zumeist unbewaffnete Zivilisten getötet worden sein. Auch diesem Gewaltakt sollen keine offiziellen Untersuchungen gefolgt sein.663 Nach diesem Vorfall soll es immer noch zum Tod von Demonstranten durch das unverhältnismäßige Eingreifen der Polizei kommen. 664 Die Art und Weise der Niederschlagung der sog. Demokratiebewegung führt zu der Feststellung, daß das unverhältnismäßige, 660

Vgl. ai-Report (1) S. 44 ff sowie die Zeugenaussagen bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 78 ff. 661 ai-Report (4) S. 25. Von Erffa in FAZ vom 29.7.1992, 8: ca. 60 getötete Demonstranten zwischen 1987 und 1989. 662 Vgl. FAZ vom 24.5.1993 und 1.6.1993; Generalanzeiger für Bonn vom 26.5.1993. 663 ai-Report (4) S. 24. 664 Vgl. USA-Country reports 1993, 605.

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gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten weder ein spezielles Problem der Tibeter, noch der nationalen Minderheiten an sich ist. Vielmehr ist es der Makel eines Staatssystems, das auf politische Widerstände des eigenen Staatsvolkes insoweit uniform reagiert. 3.4.2. "Politische Gefangene", Folter und Strafverfahren

In dem folgenden Abschnitt werden verschiedene Maßnahmen zusammengefaßt, die alle das Rechtssystem berühren. Aber gerade weil diese Maßnahmen in dem Rechtssystem der VRC gründen und damit allgemein wirken, unterfallen sie nicht dem Notwehrtatbestand im hier definierten Sinn. Der VRC wird vorgeworfen, zahlreiche Tibeter als "politische Gefangene" inhaftiert zu halten. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international spricht insofern von Gewissensgefangenen, deren einzige strafrechtswidrige Handlung in der friedlichen Meinungsäußerung bestand und die daraufhin wegen konterrevolutionärer Verbrechen bestraft wurden. 665 Die Organisation veröffentlicht regelmäßig Listen, in denen solche Einzelschicksale aufgeführt werden. 66 Die von externen Stellen veröffentlichten Auswertungen offizieller chinesischer Quellen über die in der Zeit von 1987 bis 1991 inhaftierten Personen variieren. 667 Jedenfalls gehen amnesty international und andere Organisationen davon aus, daß die Zahl mit mehreren hundert politischen Gefangenen weit höher ist. 668 Die chinesische Regierung bestreitet die Existenz von politischen Gefangenen in Tibet, verweist aber auf den chinesischen Straftatbestand des konterrevolutionären Verbrechens. 669 Inwieweit gerade dieser Straftatbestand in seiner weiten Fassung die Meinungs665

ai-Report (1) S. 15, Report (2) S. 9, 13. Eine weitere Definition findet sich im aiReport (2) S. 4 Fn. 1. 666 So ai-Report (1) S. 18-35; ai-Report (6) S. 42-53. Vgl. auch den Report von T. 1. N. und Asia-Watch: Political Prisoners in Tibet. 661 USA-Country reports 1991, 816: 50 wegen konterrevolutionärer Verbrechen verurteilte Tibeter. Der ai-Report (7) S. 72: 218 wegen Demonstrationen in Haft genommene Tibeter (in der Zahl sind auch Inhaftierungen ohne Strafurteil enthalten). 668 ai-Report (7) S. 72: Anfang 1995 mindestens 650 Inhaftierte; T. I. N. und AsiaWatch: Political Prisoners in Tibet S. 6: über 200 Gefangenen (Stand Februar 1992). Das ai-Briefing vom 21.10.1993 S. 5 f, geht von über 100 Festnahmen im Zeitraum von April bis August 1993 aus und ai-Report (6) gibt für 1994 weitere 110 Festnahmen an. Menschenrechtsweißbuch S. 41. Diese Straftatbestände waren in den §§ 90 ff des chinesischen Strafgesetzbuches geregelt. Vgl. zur Neuregelung des Strafrechts S. 15 Fn. 53, S. 296.

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und Versammlungsfreiheit nach Artikeln 19 und 20 AEMR untergräbt soll hier nicht weiter erörtert werden. 670 Im Hinblick darauf, daß die zu Lasten der gesamten Bevölkerung gehenden allgemeinen Mißstände keine Notwehrlage einzelner Bevölkerungsgruppen begründen können genügt der Verweis darauf, daß den offiziell verlautbarten 50 Verurteilungen wegen konterrevolutionärer Verbrechen in Tibet seit 1987 ca. 5.500 in der gesamten VRC gegenüberstehen. 671 Verschiedene Menschenrechtsuntersuchungen kommen zu dem Ergebnis, daß in tibetischen Gefängnissen Folterungen und Mißhandlungen stattfinden. 672 Auch die Anwendung von Folter wird jedoch in den Menschenrechtsberichten als Problem im gesamten Land anerkannt. Als Ursache wird insbesondere das Bemühen angesehen, zu Geständnissen der Angeklagten zu gelangen. 673 Ein weiteres Feld der Kritik sind die Verfahrensgarantien vor Gericht wie der Anspruch auf ein, der Billigkeit entsprechendes öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht sowie die Grundsätze der Unschuldsvermutung und des nulla poena sine lege. 674 Nach chinesischen Angaben sind diese Verfahrensgrundsätze, einschließlich des Rechts auf einen Strafverteidiger auch in der VRC gesetzlich abgesichert und werden in ihrer Einhaltung kontrolliert. 675 Allerdings wird die Existenz administrativ verhängter Strafen ohne Gerichtsverhandlung eingeräumt, jedoch zugleich auf Rechtsbehelfe ver670

Vgl. zu einer entsprechenden Bewertung: USA-Country reports 1991, 813. USA-Countiy reports 1991, 816 f; 1992, 543, vgl. auch reports 1993, 608. Laut aiReport (7) S. 23 soll das Justizministerium der VRC im Januar 1995 die aktuelle Zahl mit 2.678 angegeben haben. 672 Vg. ai-Report (1) S. 36 ff, Report (2) S. 11 f, 18 ff, Report (6) S. 16 ff; USA-Country reports 1991, 811; Bericht der österreichischen Rechtsexpertendelegation S. 20 f. Zur chinesischen Haltung gegenüber den Haftbedingungen vgl. Tibetweißbuch S. 41 ff. 673 So USA-Country reports 1991, 811; 1992, 540 f. Vgl. auch ai-Report (3) S. 18 ff und Report (7) S. 95 ff insbes. S. 98. Bemerkenswert ist, daß die VRC in ihrem Menschenrechtsweißbuch S. 98 ausdrücklich darauf hinweist, daß sie der Konvention über den Schutz vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung vom 10.12.1984 beigetreten ist. Vgl. mit Hinweis auf offizielle Bemühungen zur Behebung von Mißständen auch USA-Country reports 1993, 605 f. 74 Vgl. Artikel 10 und 11 AEMR. Diese Garantien wurden von der Generalversammlung 1988 in ihrem Grundsatzkatalog für den Schutz alter irgendeiner Form von Haft oder Strafgefangenschaft unterworfener Personen bestätigt: Anhang zur GA-Resoluüon 43/173 v. 9.12. 1988: vgl. Grundsätze Nr. 4, 8, 36, 37, 38. 675 Menschenrechtsweißbuch S. 37 ff. 671

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wiesen. 676 Den Angaben der VRC wird in verschiedenen Menschenrechtsberichten zu Tibet widersprochen. So erhebt amnesty international den Vorwurf, daß insbesondere bei der Verhängung der Todesstrafe eine politische Einmischung in die Justizarbeit stattfinde. 677 Auch das Recht auf einen Strafverteidiger soll in der Praxis nur höchst unzulänglich berücksichtigt werden. Die österreichische Rechtsexpertendelegation fugt dem hinzu, daß Freisprüche kaum vorkämen. 678 Schließlich wird insbesondere die in der VRC offiziell praktizierte Möglichkeit der Administrativhaft angeprangert. Darunter wird die Verhängung von freiheitsentziehenden Maßnahmen verstanden, die von Behörden ohne Gerichtsverfahren angeordnet werden können. 679 Unter den inhaftierten Tibetern sollen sich viele Personen befinden, die wegen unerlaubter religiöser Aktivitäten oder ihres Eintretens für die tibetische Unabhängigkeit in die Arbeitslager geschickt wurden. 680 Die offiziellen und inoffiziellen Zahlenangaben gehen dabei auseinander. 681 Allerdings wird von amnesty international festgestellt, daß sich Gesetze und Regeln über die Haft, Gerichtsverfahren und die Ausübung politischer Rechte in der Autonomen Region Tibet nicht von der sonstigen VRC unterscheiden. 682 Sogar die jüngste Handhabung der Todesstrafe in Tibet seit 1990 wird als Teil einer landesweiten Kampagne zur Stabilisierung nach der gewaltsamen Niederschlagung der Protestbewegung in Peking 1989 angesehen. 683 Auch die Einflußnahme der Politik auf Strafprozesse und die Mißachtung der Unschuldsvermutung kann mit

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Menschenrechtsweißbuch S. 46 f. Vgl. ai-Report (1) S. 49 f, Report (2) S. 16 f. Im ai-Report (2) S. 17 werden Fälle tibetischer Angeklagter beschrieben, in denen der politische Charakter der Tat als strafschärfender Umstand zur Todesstrafe gefuhrt haben soll. 678 ai-Report (1) S. 55; Bericht der österreichischen Rechtsexpertendelegation S. 18 Zif. 37. 679 Es handelt sich insbesondere um die Maßnahmen: "Schutz und Untersuchung" sowie "Umerziehung durch Arbeit", vgl.: ai-Report (3), insbesondere S. 5 ff und 25 ff. Daneben werden noch zwei weitere Formen der Administrativhaft genannt: S. 3 f. Vgl. dazu auch den Bericht der österreichischen Rechtsexpertendelegation S. 18 f Zif. 38 ff. 680 ai-Report (3) S. 34, mit Einzelbeispielen S. 41 ff. 681 Laut chinesischen Angaben: von 1987 bis April 1991 nur 97 Tibeter gegenüber ca. 200 Personen nach Schätzungen von amnesty international: ai-Report (1) S. 34 f mit Einzelbeispielen. 682 So ai-Report (1) S. 13, Report (6) S. 15. 683 So ai-Report (1) S. 49 f. Vgl. mit neueren Zahlen zu 1994 für die gesamte VRC auch ai-Report (7) S. 131 ff sowie S. 143. 677

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Beispielen aus der gesamten VRC belegt werden. 684 Die mangelhafte Vertretung durch Strafverteidiger erscheint ebenfalls als allgemeines Problem. Zum Beispiel sollen in der ostchinesischen Küstenstadt Schanghai 1991 nur 50% der Angeklagten durch einen Verteidiger vertreten worden sein.685 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß in den Jahren 1995 und 1996 mehrere Gesetze vom Nationalen Volkskongreß verabschiedet wurden, die das Rechtssystem und insbesondere auch die Stellung der Rechtsanwälte verbessern sollen. Die Auswirkung dieser Reformen kann noch nicht beurteilt werden. 686 Die verschiedenen Formen der Administrativhaft stellen ebenfalls kein spezifisch tibetisches Problem dar. 687 Maßnahmen nach den Vorschriften zu "Schutz und Untersuchung" wurden in verstärktem Maß nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung im Juni 1989 angewendet. 688 Neben politischen Aktivisten sind hiervon insbesondere auch Leiter christlicher religiöser Gruppen betroffen. 689 Ähnlich wird auch die "Umerziehung durch Arbeit" gegenüber politisch Aktiven und Mitgliedern unabhängiger religiöser Gruppen christlichen Glaubens verhängt. 690 Somit stellen sich die aufgeführten Menschenrechtsverletzungen als systemimmanentes Problem des chinesischen Justizwesens dar, von dem die gesamte Staatsbevölkerung gleichermaßen betroffen ist. Angesichts dieses Befundes ließe es sich nicht rechtfertigen, gerade den Tibetern daraufhin ein Recht zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, einschließlich Sezessionsrecht, zuzubilligen. Dabei bedeutet es keinen Unterschied, daß die Tibeter in der Regel wegen Forderungen nach Unabhängigkeit und die Han-Chinesen wegen demokratischer Ziele davon erfaßt werden. Bei den christlichen Gruppen sind es wieder andere Motive, die den Staat zu diesen Maßnahmen veranlassen. Gemeinsam ist 684

USA-Country reports 1991, 813 ff; 1993, 607 f; allgemein: ai-Briefing vom 21.10. 1993 S. 17 ff; vgl. auch ai-Report (7) S. 39 ff. 685 USA-Country reports 1991, 814. Zur Stellung der Rechtsanwälte in der VRC auch: ai-Briefing vom 21.10.1993 S. 18 f sowie die USA-Country reports 1992, 542 f; 1993, 607 f. 686 Dazu USA-China country report 1996, 6 f. 687 Vgl. den ai-Report (3) zu diesem Thema; auch ai-Report (7) S. 32 ff und USACountiy reports 1993, 606, 608. 688 Nach offiziellen chinesischen Angaben soll die Zahl der Haitanordnungen in den Jahren 1989 und 1990 jeweils über 900.000 gelegen haben: ai-Report (7) S. 35. Vgl. auch ai-Report (3) S. 35. 689 Vgl. ai-Report (3) S. 13 ff, 17; Report (1) S. 18. 690 Vgl. ai-Report (3) S. 34 ff und ai-Report (7) S. 38.

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allen Gruppen, daß sie in gleichem Maß nicht in den Genuß der genannten Justizrechte kommen. Hinzu kommt, daß seitens der VRC gerade auch auf dem Gebiet der Strafrechtspflege im Jahr 1996 Reformbemühungen stattgefunden haben, deren tatsächliche Auswirkungen sich allerdings noch nicht abschätzen lassen. Zu diesem Zweck wurde das Strafprozeßrecht in mehrfacher Hinsicht zugunsten der Angeklagten verbessert. 691 Zum Beispiel sollen verschiedene Änderungen die Unabhängigkeit der Gerichte und die Unschuldsvermutung für den Angeklagten stärker zum Tragen bringen. Ferner sind die verschiedenen Formen der oben erwähnten Administrativhaft in das Strafverfahrensrecht eingebettet worden. Es besteht daher die Hoffnung, daß sich gerade auf diesem Gebiet die Verhältnisse für die gesamte Bevölkerung der VRC bessern werden. 3.5. Diskriminierungsproblem im Vielvölkerstaat China

Gerade im Hinblick auf die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts fehlt es nicht an Darstellungen in der Literatur, in denen die Lage in Tibet mit der traditionellen Kolonialisierung verglichen wird. Hervorgehoben wird darin eine von China betriebene Ausbeutungspolitik und die Entstehung einer faktischen Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der Tibeter gegenüber den chinesischen Zuwanderern auch in Tibet selbst benachteiligt seien. Die chinesische Haltung wird dementsprechend als Apartheid bezeichnet. 692 Eine analoge Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts auf kolonialähnliche Fälle wurde in dieser Arbeit bereits abgelehnt. 693 Demgegenüber bleibt zu untersuchen, ob sich aus einer Diskriminierung der Tibeter eine Notwehrlage ableiten läßt. Zum Verständnis der Gesamtproblematik muß aber auch die besondere ethnische Situation der VRC berücksichtigt werden. In der VRC werden offiziell 56 verschiedene nationale Minderheiten anerkannt. 694 Diese bewohnen über 50% des gesamten Staatsgebietes. 695 Dagegen stellen

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Vgl. dazu den speziell zu diesem Thema erstellten ai-Report (8). So Lord Ennals in: International Alert-Tibetkonsultation von 1990, S. 55 f. In diesem Sinn auch: v. Walt (1) S. 197; ders. (3) S. 51 Fn. 70; Bericht von Pax Christi an die MRK Zif. 12 f (ECOSOC Doc. E/CN.4/Sub.2/1989/NGO/2). 693 Vgl. S. 81 f. 694 Jing Wei: 100 Fragen S. 79. 695 Dazu Heberer in China aktuell, Oktober 1984, 601. Vgl. auch die kartographische Übersicht der Scientific Buddhist Association in "Tibet the facts". 692

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sie nur zwischen 6% und 9% der Gesamtbevölkerung, die im übrigen aus Han-Chinesen besteht. 696 3.5.1. Grundlagen im Völkerrecht und chinesischen Recht

Bereits die UN-Charta von 1948 enthält in Artikel 1 Absatz 3 sowie Artikel 55 lit. c) das Bekenntnis zur Förderung der allgemeinen Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache und der Religion. Zu klären ist lediglich noch der genaue Tatbestand. Das Verbot der Diskriminierung wird in verschiedenen Artikeln der AEMR ausgesprochen, wobei hier nur Artikel 2 Absatz 1 von Interesse ist. Der Tatbestand der Diskriminierung ist danach für die Tibeter dann erfüllt, wenn sie einige der in der AEMR verbürgten Rechte nicht in gleichem Maße wie die übrige Bevölkerung ausüben können und diese Unterscheidung gerade auf ihre Zugehörigkeit zur tibetischen Nationalität oder den damit verbundenen Eigenheiten zurückzuführen ist. Zwei weitere Instrumente zum Schutz vor Diskriminierung greifen spezielle Diskriminierungstatbestände auf. Zum einen ist die Konvention über die Beseitigung der Rassendiskriminierung von 1965 zu beachten. Sie wurde von der VRC am 29.12.1981 ratifiziert. 697 Daneben ist die UN-Erklärung "über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder Weltanschauung" von 1981 zu nennen. 69 Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Religion wird in Artikel 2 Absatz 1 der Erklärung ausgesprochen. Als Diskriminierung gilt nach dem hier verkürzt wiedergegebenen Absatz 2 jegliche Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung aufgrund der Religion, deren Zweck oder Wirkung darin besteht, die Ausübung der Menschenrechte auf der Grundlage der Gleichberechtigung zu beeinträchtigen. Die chinesische Verfassung bestätigt in Artikel 4 Absatz 1 die Gleichberechtigung aller Nationalitäten und verbietet ihre Diskriminierung oder Unterdrückung. Absatz 2 stellt fest, daß der Staat den von Minderhei696 Anteil nach Hool S. 6: 6-7%; USA-China country report 1996, 26: 8,98% (nach chinesischen Angaben). Nach chinesischen Angaben sollen nur 15 der nationalen Minderheiten eine Bevölkerungszahl von jeweils über 1 Millionen erreichen: Jing Wei: 100 Fragen S. 79 f. 697 Angabe von Partsch bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 59. 698 GA-Resolution 36/55 vom 25.11.1981. Vgl. zur ihrer Bedeutung die Nw. oben in Fn. 482.

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ten bewohnten Gebieten bei der Entwicklung ihrer Wirtschaft und Kultur hilft. Schließlich bestätigt Absatz 4, daß es allen Nationalitäten freisteht, ihre eigene Sprache und Schrift anzuwenden sowie ihre Sitten und Gebräuche beizubehalten. Daneben enthält das Autonomiegesetz von 1984 weitere Regelungen. 699 Überwiegend werden darin die genannten verfassungsrechtlichen Garantien wiederholt, diese jedoch zugleich in Relation zur nationalen Einheit gestellt. 700 Daneben enthält das Gesetz noch einige Konkretisierungen. So werden den Selbstverwaltungsorganen in Artikel 22 allgemein Maßnahmen auferlegt, die zur Heranbildung einer großen Zahl von Kadern und Fachkräften aus den örtlichen Nationalitäten fuhren sollen. Zusätzlich sollen die Betriebe und Institutionen in Autonomen Regionen Angehörige nationaler Minderheiten bei der Einstellung von Arbeitskräften bevorzugen. Nach Artikel 37 sollen Lehranstalten, bei entsprechendem Schüleranteil, Lehrbücher in der Schrift der nationalen Minderheit verwenden und ihre Sprache als Unterrichtssprache benutzen. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, daß mit den Bestimmungen des Autonomiegesetzes keineswegs eine vom Gesamtstaat abgetrennte Verantwortlichkeit und Handlungsfreiheit der Autonomen Regionen begründet wurde. 701 Daher sind auch die von diesen in Ausfuhrung des Gesetzes vorgenommenen Handlungen dem Gesamtstaat zuzurechnen. Grundsätzlich ist es sicher zu begrüßen, daß das Autonomiegesetz in Teilen über die einschlägigen Verfassungsvorschriften hinausgeht. Allerdings gibt schon die formale Gesetzeslage Anlaß zu Kritik. So sind gerade die konkretisierenden Artikel als Sollbestimmungen formuliert. Anders verhält es sich nur bei Artikel 22, der allerdings nur allgemein auf zu treffende Maßnahmen verweist, ohne diese zu spezifizieren. Somit sind Probleme bei der Umsetzung bereits in der redaktionellen Fassung angelegt. 702 Wenn gleichwohl ausländische Beobachter und Interessenvertretungen der Tibeter auf eine allgemein rassistische Haltung der Chinesen gegenüber den Tibetern hinweisen, ist damit gleichwohl noch keine Benachteiligung in der Wahrnehmung von Menschen-

699

Text bei Heberer in China aktuell, Oktober 1984, 601 ff. Ein besonders gutes Beispiel dafür ist Artikel 9 des Gesetzes, aber auch die Artikel 10 und 5 sowie Artikel 11. 701 Vgl. dazu unter A. II. 3.2. 702 Ebenso: Heberer in China aktuell, Oktober 1984, 607. 700

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rechten im Sinne der AEMR nachgewiesen. 703 Dementsprechend sollen diese Aspekte im einzelnen untersucht werden. 3.5.2. Das chinesische Bildungswesen im Spagat

Die chinesische Seite verweist häufig auf die Förderung des tibetischen Bildungswesens. Neben einem vermehrten Angebot an Schulen im Vergleich zur Zeit vor 1951 wird auf Anstrengungen verwiesen, die Lehrkörper durch Angehörige der tibetischen Nationalität zu ersetzen. Tibetisch sei bereits die erste Unterrichtssprache in Grundschulen und auch das Lehrmaterial sei in dieser Sprache abgefaßt. Entsprechende Kurse und Schulen seien auch in chinesischen Städten außerhalb Tibets eingerichtet worden. 704 Auch bei der Rekrutierung von Studenten werde den lokalen Nationalitäten Priorität eingeräumt. 705 Zudem hat der Volkskongreß der Autonomen Region Tibet 1987 durch einen Beschluß Tibetisch als Amtssprache eingeführt. 706 Aus kritischer Sicht wird jedoch darauf verwiesen, daß die Abgänger tibetischer Minderheitenschulen in ihrer Arbeitsplatzsuche erheblich benachteiligt seien, da in Regierung und Wirtschaft gute Chinesischkenntnisse erforderlich seien.707 Das gleiche Problem ergibt sich auch bei der Qualifikation für ein Hochschulstudium. So berichtet eine englische Lehrerin, die eineinhalb Jahre in Tibet unterrichtet hat, daß nach einer Grundschulausbildung in tibetischer Sprache auch für die tibetischen Kinder in der Mittelschule Chinesisch zur Unterrichtssprache wird und die meisten Tibeter daher schon die Aufnahmeprüfung mangels chinesischer Sprachkenntnisse nicht bestehen. 708 Auch seien die freigehaltenen Studienplatzquoten nicht ethnisch definiert, sondern bezögen sich allgemein auf Absolventen aus der Autonomen Region Tibet. Daher sollen die meisten von dieser Quote erfaßten Studenten Kin703

Vgl. Bass S. 104; ein Bericht bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 111; Andersson bei Stekkel S. 194 f; Informationsbulleün des Vertretungsbüros S. H. des Dalai Lama, September 1989, S. 4 f m. Nw. 704 Vgl. Cui Uli in BR 9/1992, 21 f. Zu Schulen außerhalb Tibets auch: Tibet-Weißbuch S. 62. 705 Tibet-Weißbuch S. 48. 706 Tibet-Weißbuch S. 49; Hool S. 85. 707 USA-Country reports 1991, 828; 1992, 550; Asia Watch-Report (1) S. 81. 708 Bass S. 104 ff; vgl. auch zu den Aussagen der Englischlehrerin Julie Brittain bei Asia Watch-Report (1) S. 85, sowie allgemein S. 82 f. Vgl. auch zu den Vorwürfen an die Bildungspolitik: Tibetan Young Buddhist Association: Tibet-The Facts S. 39 ff; Bericht der österreichischen Rechtsexpertendelegation S. 21 f Z i f . 46 ff.

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der aus in der Autonomen Region Tibet lebenden chinesischen Familien sein.709 Zudem soll die Analphabetenrate in der Autonomen Region Tibet noch 1991 bei immerhin 45% gegenüber 16% in der gesamten VRC gelegen haben.710 Als langjähriges Mitglied des unter der Konvention über die Beseitigung der Rassendiskriminierung statuierten Ausschusses ist Partsch darauf eingegangen, inwieweit diese Konvention durch einige von tibetischer Seite angeprangerten Mißstände verletzt wird.711 Zu der Sprachund Bildungsproblematik verweist er auf die "assimilierungsfreundliche Tendenz" der Konvention. Diese gehe aus Artikel 1 Absatz 4 hervor, nach dem Sondermaßnahmen zum Schutz der Identität ethnischer Gruppen nur zeitlich begrenzt zulässig seien. Nach Partsch wären sogar Maßnahmen des Erziehungswesens, die zu einer gezielten Assimilierung an das Mehrheitsvolk fuhren zulässig, sofern dadurch nicht die kulturelle Identität der Minderheit zerstört wird. Er stellt fest, daß demgegenüber der Unterricht in der Regionalsprache sogar über den Minderheitenschutz des Artikel 27 CCPR hinausgeht.712 In Betracht kommt demnach nur noch ein Verstoß gegen den in Artikel 2 Absatz 1 AEMR enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatz, der insbesondere auch die Gewährleistung aller Menschenrechte unabhängig von sprachlichen Unterschieden umfaßt. In der Tat sind die Tibeter durch ihre Sprache an einer gleichen Teilhabe in der chinesisch geprägten Politik und Wirtschaft gehindert. Diese Chancenungleichheit durch ein entsprechendes Erziehungswesen zu beseitigen, stellt die chinesische Seite jedoch vor ein Dilemma. Wirkt sie auf eine schnelle sprachliche Assimilierung der tibetischen Schüler hin, setzt sie sich dem Vorwurf aus, die tibetische Kultur zu unterdrücken. Fördert sie demgegenüber die tibetische Sprache in der Schulausbildung, so wird die Chancenungleichheit aufrechterhalten. Den Chinesen muß somit zugutegehalten werden, daß sie dieses Problem erkannt haben und auch eine Förde709

So Bass S. 108; der Bericht der österreichischen Rechtsexpertendelegation S. 22 Zif. 49 f geht immerhin von einem überproporüonal hohen Anteil der Han-Chinesen unter den Studienberechtigten aus, der sich im Bereich der Auslandsstipendien noch verstärke. 110 ai-Report (6) S. 6. Vgl. allgemein zum Bildungswesen in Tibet auch Bass bei Stekkel S. 40 ff. Allerdings soll die Analphabetenrate nach chinesischer Darstellung vor 1959 noch doppelt so hoch gewesen sein. 711 Partsch bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 58 ff, insbesondere 62 ff. 112 Partsch bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 62.

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rungspolitik zugunsten der tibetischen Sprache betreiben, auch wenn diese Bemühungen in ihrer momentanen Ausgestaltung eine faktische Benachteiligung der tibetischen Schüler noch nicht ausgleichen. 713 Allerdings scheint die Regierung seit 1995 den Gebrauch der tibetischen Sprache in Schulen wieder einzuschränken. 714 Die wenn auch im Ergebnis unbefriedigenden Bemühungen der chinesischen Seite, auf das Sprachenproblem durch bildungspolitische Maßnahmen zu reagieren, können somit nicht als Diskriminierung eingeordnet werden. Auch das Problem des Analphabetentums wird dadurch relativiert, daß offenbar vor der chinesischen Annexion in der Autonomen Region Tibet eine noch höhere Analphabetenquote bestand. 3.5.3. Diskriminierung oder wirtschaftlicher Wettbewerb?

Weitere Diskriminierungsvorwürfe werden im Zusammenhang mit der von der chinesischen Zentralregierung forcierten Zuwanderung chinesischer Siedler nach Tibet erhoben, die sich insbesondere im Wirtschaftsleben auswirken soll. Die Tatsache, daß die chinesische Bevölkerung in Tibet angestiegen ist, wird von der chinesischen Regierung nicht bestritten. Allerdings gibt sie nur Zahlenangaben für die Autonome Region Tibet an und beschränkt auch diese Angaben nur auf die Zivilisten.715 Ein verfassungsimmanentes Problem deckt in diesem Zusammenhang der Bericht der österreichischen Expertendelegation auf. Einerseits verweist er auf Artikel 4 der chinesischen Verfassung, nach der alle Nationalitäten der VRC gleichberechtigt sind. Andererseits weist er darauf hin, daß durch die forcierte Ansiedlung von Han-Chinesen inzwischen verschiedene Nationalitäten im Sinne der Verfassung in der Autonomen Region Tibet leben. Dementsprechend sollen diese auch gleichartige Rechte genie" 3 Ähnlich: der Bericht der österreichischen Rechtsexpertendelegation S. 28 Zif. 19; USA-Country reports 1993, 615 f. Ebenso, allerdings mit Zweifeln an der Umsetzung der offiziellen Sprachpolitik: Asia Watch-Report (1) S. 84. Das sprachliche Dilemma im tibetischen Erziehungswesen beschreibt nach einem Jahr Lehrtätigkeit in Lhasa auch Mass S. 107 f. 714 USA-China country report 19%, 34 f. 15 Vgl. zur Einlassung des chinesischen Vertreters vor dem Ausschuß zur Verhütung von Rassendiskriminierung am 20.7.1983: Partsch bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 60, 62. Vgl. zum Problem der "Sinisierung" Tibets für die Autonome Region S. 178 ff sowie für Rest-Tibet S. 288 ff.

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ßen. 716 Unter der Prämisse, daß das Gebiet der Autonomen Region Tibet vor 1950 ethnisch homogen von Tibetern bewohnt war, fuhrt die Gleichbehandlung zugezogener Nationalitäten in allen gesellschaftlichen Bereichen allerdings automatisch zu einer Benachteiligung der angestammten Bevölkerung. Diese faktische Benachteiligung gründet sich jedoch nur auf den verschärften Wettbewerb in diesen Bereichen. Eine Diskriminierung aufgrund der in Artikel 2 Absatz 1 AEMR genannten Merkmale kann darin nicht gesehen werden. Daneben wird aber auch die Benachteiligung in konkreten Lebensbereichen angeprangert. In dieser Hinsicht wird festgestellt, daß in tibetischen Großstädten, insbesondere in Lhasa, ein Zwei-Klassen-Wohnrecht entstehe. Während die Tibeter in alten Stadtvierteln unter rückständigen Wohnbedingungen bei rationierter Stromversorgung lebten, seien die chinesischen Siedler in neuen Wohnvierteln untergebracht, die diese Mängel nicht aufwiesen. Soziale Einrichtungen wie Kliniken und Schulen seien in den chinesischen Vierteln untergebracht, so daß auch darin eine Bevorzugung dieser Wohnlagen zum Ausdruck komme. 717 Diese Situation soll dadurch verstärkt werden, daß der Bau neuer Häuser überwiegend in chinesischen Wohnvierteln stattfindet und die tibetischen Viertel mangels Instandhaltung verfallen. Sofern Neubauten für die Tibeter errichtet werden, sollen sie nicht ihrer traditionellen Wohnkultur entsprechen. 718 Ferner soll der chinesische Siedlerstrom zu einer verstärkten Arbeitslosigkeit unter den Tibetern gefuhrt haben. Durch staatliche Lizensvergabe geförderte wirtschaftliche Monopole der Chinesen, zusammen mit mangelhaften chinesischen Sprachkenntnissen der Tibeter, führten zu einer Verdrängung der ursprünglichen Bevölkerung vom Arbeitsmarkt. 719

716

Bericht S. 16 Zif. 32. Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 43 ff insbesondere S. 45 Zif. 7, 8; Kelly/Bastian/ Ludwig S. 109 f; Informationsbulletin des Vertretungsbüros S. H. des Dalai Lama, September 1989, S. 2. Vgl. zum Wohnungs- und Sanierungsproblem insgesamt auch Leckie: Destruction by Design (Housing Rights Violations in Tibet). 718 Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 46 Zif. 13 f; Asia Watch-Report (1) S. 78. 7,9 Hoot S. 80; v. Walt (3) S. 20; Informationsbulletin des Vertretungsbüros S. H. des Dalai Lama, September 1989, S. 3. So wird die Arbeitslosenquote unter der tibetischen Bevölkerung Lhasas auf 70% geschätzt: Tibetan Young Buddhist Association: TibetThe Facts S. 65. Eine Beherrschung des Wirtschaftslebens in der Autonomen Region Tibet durch die zugewanderten Chinesen wird auch festgestellt im Bericht der österreichischen Rechtsexpertendelegation S. 12 Zif. 26, S. 25 Zif. 6. 717

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Ob die aufgelisteten Einzelvorwürfe tatsächlich einen Diskriminierungstatbestand erfüllen, muß für jeden Fall gesondert geprüft werden. Zunächst erscheint fraglich, ob eine Verletzung des Rechtes auf Arbeit nach Artikel 23 AEMR vorliegt. Die wirtschaftliche Benachteiligung erscheint eher als faktische Folge der Qualifikationsanforderungen der chinesischen Arbeitgeber. So stellt Bass fest, daß die Tibeter in Lhasa nicht grundsätzlich schlechtere Wohnungen und geringere Löhne erhalten würden. Vielmehr könnten sie in der Regel aufgrund ihres schlechteren Ausbildungsstandes nicht die gleichen Positionen erreichen wie die Chinesen.720 Auch aus den faktisch ungleichen Wohnbedingungen folgt keine menschenrechtswidrige Diskriminierung. Im Gegenteil bieten die AEMR und die "Erklärung über Religions- und Weltanschauungsfreiheit" (GA-Resolution 36/55 vom 25.11.1981) für die Frage des Wohnraumes keine Anhaltspunkte. Beide verbieten nur eine Diskriminierung, die zur Vorenthaltung von Menschenrechten fuhrt. Ein entsprechendes Menschenrecht auf gleiche Teilhabe an bestimmten Wohnraumstandards läßt sich aber in der AEMR nicht finden. Sogar der CESCR enthält in Artikel 11 Absatz 1 nur das Recht auf ausreichende Unterbringung. Im übrigen stellt jeder Modernisierungsversuch einer Regierung eine schmale Gradwanderung dar zwischen Verbesserung der Lebensbedingungen und der Zerstörung kulturellen Erbes.721 In einigen Menschenrechtsberichten wird die angeprangerte Ungleichbehandlung in der Wohnsituation und bei der Arbeitsplatzvergabe als Folge ethnischer Unterscheidungen gewertet. Insoweit wird eine Verletzung der Konvention zur Beseitigung der Rassendiskriminierung angenommen.722 Die vorstehende Untersuchung hat jedoch ergeben, daß zwar faktische Benachteiligungen der Tibeter bestehen, diese jedoch nicht ohne weiteres als Ungleichbehandlung aufgrund ethnischer Merkmale gewertet werden können.

720 Bass S. 107. Ähnlich Asia Watch-Report (1) S. 84: dort wird eine de facto-Diskriminierung aufgrund der Konkurrenz durch die in ihrer Muttersprache bevorteilten Chinesen festgestellt. 721 Kritisch zur Modernisierung des Stadtzentrums in Lhasa: Alexander in FAZ vom 20.12.1993, S. 28; Ludwig in Tibet-Forum 1/1995, 18 ff. 722 So Asia Watch-Report (1) S. 73; als ethnische Diskriminierung wertend auch der Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 43 ff insbesondere 47 Zif. 18. A. A. Partsch bei Kelly/ Bastian/Ludwig S. 64.

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3.5.4. Diskriminierung im Rahmen der Freizügigkeit

Die kritischen Stimmen zur chinesischen Tibetpolitik betonen, daß die von ihnen angeprangerte Arbeits- und Wohnungssituation noch verstärkt werde durch die Handhabung der Bevölkerungsmobilität. Diese obliegt nach Artikel 43 des Autonomiegesetzes den Selbstverwaltungsorganen. So wird festgestellt, daß ein Orts- und Arbeitswechsel in der Regel nur mit behördlicher Erlaubnis möglich ist. Mit diesem Regelungsinstrument werde insbesondere der unerwünschte Zuzug in städtische Gebiete reguliert.723 Andererseits soll ein zahlenmäßiges Ungleichgewicht gerade in tibetischen Städten dadurch entstehen, daß die Behörden die Ansiedlung von Chinesen fördern und zugleich den Zuzug von Tibetern behindern. So sollen wegen fehlender Aufenthaltserlaubnis zwar Tibeter, nicht aber Chinesen aus Lhasa ausgewiesen worden sein.724 Partsch verneint in diesem Zusammenhang eine Verletzung der Konvention zur Beseitigung der Rassendiskriminierung. Allerdings geht er auf den Zuzug von Han-Chinesen nur allgemein ein, ohne die oben dargestellten Einzelprobleme zu erörtern. Er stellt dazu fest, daß die Ausübung der Freizügigkeit innerhalb eines Staatsgebietes durch die Staatsbürger nicht als ethnische Diskriminierung bezeichnet werden könne. Dies gelte auch dann, wenn sie zur Unterwanderung eines ethnisch geschlossenen Siedlungsgebietes führe.725 Den Ausfuhrungen von Partsch ist insoweit wenig hinzuzufügen, als die Konvention mit ihrer Fixierung auf die ethnische Diskriminierung tatsächlich nur einen spezifischen Bereich möglicher Diskriminierungstatbestände erfaßt. Darauf, ob die Bevorzugung chinesischer Zuwanderer tatsächlich lediglich eine Betätigung des Rechtes auf Freizügigkeit darstellt, kommt es hier nicht an. Jedenfalls stellt auch eine gezielte Unterwanderung geschlossener Siedlungsgebiete keine Diskriminierung dar. Allerdings läge eine Ungleichbehandlung im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 AEMR vor, wenn den Tibetern im Gegensatz zu den Han-Chinesen das Recht auf Freizügigkeit aus Artikel 12 Absatz 1 AEMR innerhalb 723

USA-Country reports 1991, 824. Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 45 Zif. 11, 12; Asia Watch-Report (1) S. 78; Informationsbulletin des Vertretungsbüros S. H. des Dalai Lama, September 1989, S. 2. 725 Partsch bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 58 ff, insbesondere 62 ff. 724

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der VRC vorenthalten würde. Demgegenüber muß aber festgestellt werden, daß das System zur Regulierung von Wohnungswechseln innerhalb der gesamten VRC gilt. Ausnahmen davon werden insbesondere zur Verteilung von Facharbeitskräften innerhalb des Landes gemacht. 726 Selbst wenn sich dieses Regel-Ausnahme-Prinzip gerade im Fall der Tibeter wegen der höheren Berufsqualifikation der Chinesen einseitig zu ihren Lasten auswirkt, ist die Annahme einer Diskriminierung zweifelhaft. Unterstellt man die wirtschaftspolitische Motivation als korrekt, so läge keine Ungleichbehandlung vor, da eben ein besonderer Grund für die Anwerbung chinesischer Fachkräfte gegeben wäre. 727 Aber auch wenn es sich im Falle Tibets dabei nur um ein vorgeschobenes Argument zur ethnischen Unterwanderung handeln sollte, bleibt doch festzustellen, daß die Mehrheit der Bevölkerung innerhalb der VRC den gleichen Einschränkungen der Freizügigkeit unterliegt. Damit fehlt es aber an einer speziellen Ungleichbehandlung der Tibeter. 3.5.5. Diskriminierung aus Gründen der Religion

Entgegen dem in der Verfassung und dem Autonomiegesetz ausgesprochenen Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen wird eine solche Ungleichbehandlung in einem wesentlichen Punkt offiziell propagiert. Diese Diskriminierung findet formal nur auf der Ebene der Parteimitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) statt, hat aber weiterreichende Folgen. Im Dokument Nr. 19 vom 31.3.1982 der allgemeinen Richtlinien der Regierung wird in Ziffer 9 festgestellt, daß Parteimitglieder Atheisten sein müssen. Einschränkungen zu diesem Grundsatz werden allerdings für Gebiete mit ethnischen Minderheiten zugelassen. In diesen Gebieten dürfen danach auch Kader religiöse Traditionen pflegen, um nicht isoliert zu werden. 728 Allerdings sollen seit Mai 1994 alle Mitglieder der Kommunistischen Partei in der Autonomen Region Tibet aufgefordert worden sein, religiöse Gegenstände aus ihren Wohnungen zu entfernen. 729 Im Januar 1995 hat die Kommunistische Partei ein Dokument in Umlauf gebracht, daß den Ausschluß

726

USA-Country reports 1993, 612. Zur chinesischen Argumentation S. 179. 728 Text im Asia Watch-Report (2) Anhang 2, 33 ff. Dies entspricht auch offiziellen Äußerungen der chinesischen Regierung gegenüber dem UN-Sonderberichterstatter Amor, vgl. seinen Bericht S. 115. 729 ai-Report (6) S. 7. Vgl. dazu auch International Campaign for Tibet: A Season to Purge S. 31 f mit Dokumentationsnachweis. 727

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von Parteimitgliedern betrifft, die zu religiösen Organisationen gehö-

Die Versagung der Parteimitgliedschaft hat unmittelbare Folgen für die Chance auf Teilhabe an Ämtern in Politik und Verwaltung, da der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) staatstragende Bedeutung zugemessen wird. Dies kommt deutlich in der Verfassung Chinas zum Ausdruck, die in ihrer Präambel mehrfach auf die Führerschaft der KPC hinweist. Dabei wird das staatliche Handeln gegenüber dem Individuum auch von dessen Staatsnähe beeinflußt, die sich ihrerseits wieder in der Parteimitgliedschaft manifestiert. So wird darauf verwiesen, daß die an den Atheismus gebundene Parteimitgliedschaft ebenfalls eine Voraussetzung für hohe Positionen in der Wirtschaft ist. Außerdem seien die meisten mit religiösen Angelegenheiten befaßten Regierungsbeamten Atheisten. 731 Im Gegensatz dazu hebt die VRC insbesondere die Beteiligung religionsgebundener Tibeter an der Regierung hervor. Nach offiziellen Angaben, die sich offenbar nur auf die Autonome Region Tibet beziehen, sind insgesamt 615 Personen aus religiösen Kreisen Mitglieder in verschiedenen Regierungs- und Verwaltungsinstitutionen. 73 Die chinesische Angabe über die Beteiligung von Religionsangehörigen überzeugt jedoch nicht. Die angegebene Zahl von 615 Personen umfaßt anscheinend nicht nur tibetische Buddhisten, sondern auch Angehörige anderer Glaubensrichtungen. Auch bleibt unklar, inwieweit diese Personen formelle Ämter bekleiden. Offizielle Zahlen darüber, wie viele Tibeter sich heute noch zum buddhistischen Glauben bekennen, liegen allerdings nicht vor. Jedoch bekennen sich in China nach offiziellen Angaben insgesamt sieben Millionen Menschen zum lamaistischen Glauben. Diese Gemeinschaft wird insbesondere von Tibetern und Mongolen gebildet. 733 Dabei werden die Nationalitäten der Tibeter und Mongolen in ganz China offiziell auf 9,4 Millionen geschätzt. 734 Bereits aus diesem Zahlenverhältnis erschließt 730

USA-China countiy report 1996, 16. USA-Country reports 1991, 829; 1992, 551 sowie 1996, 16. 732 Tibetweißbuch S. 45. 733 Vgl. die Statistik bei Amor S. 121. Vgl. zum Lamaismus als Element des tibetischen Nationalcharakters S. 311 f. 734 Zahlen bei Hoppe in China aktuell, Juni 1992, 359. 731

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sich, daß die ganz überwiegende Mehrheit der tibetischen Bevölkerung als bekennende Lamaisten einzustufen ist. Daraus folgt, daß ihre Beteiligung an Regierungs- und Verwaltungsaufgaben verschwindend gering ist, da die offizielle Angabe nur von 615 religionsgebundenen Personen in Regierungs- und Verwaltungsorganisationen ausgeht. Demgegenüber wird allein die Zahl der tibetischen Kader mit 37.000 angegeben. 735 Allein aus diesem Zahlenvergleich ergibt sich eine hohe Nichtbeteiligung von tibetischen Buddhisten an Führungspositionen. Zudem bezieht sich die chinesische Angabe nur auf die Autonome Region Tibet. In offiziellen Stellen auf gesamtstaatlicher Ebene haben bekennende Anhänger des Lamaismus danach wohl kaum Chancen. Wegen der starken Parteiausrichtung in allen Lebensbereichen kann somit festgestellt werden, daß den meisten Tibetern nur wegen ihres Glaubens höhere Positionen in Politik und Wirtschaft sowohl innerhalb ihrer Siedlungsgebiete und erst recht auf gesamtstaatlicher Ebene verschlossen bleiben. Die Tibeter sind damit aus Gründen der Religion von ihrem Recht auf Teilnahme an öffentlichen Ämtern aus Artikel 21 Absätze 1 und 2 AEMR entweder ausgeschlossen oder zumindest stark behindert. Dies stellt eine Diskriminierung im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 AEMR dar. 736 Ferner liegt ein Verstoß gegen Artikel 2 der Erklärung über Religions- und Weltanschauungsfreiheit (GA-Resolution 36/55 vom 25.11. 1981) vor. 737 Demgegenüber scheidet ein Verstoß gegen die Konvention über die Beseitigung der Rassendiskriminierung aus. 738 Dennoch genügt diese spezielle Diskriminierung nicht den restriktiven Anforderungen an eine Notwehrlage im hier erörterten Sinn. So betrifft die Vorenthaltung der Parteimitgliedschaft und der damit verbundene Ausschluß von politischen Ämtern nicht nur die Tibeter, sondern alle Personen, die sich offen zu einem Glauben bekennen. Eine zur Sezession berechtigende Sonderstellung ist mit der Vorenthaltung dieser politischen Teilhaberechte daher nicht entstanden. Zudem wird eine generelle

735

Tibetweißbuch S. 37. Vgl. allgemein zum Verstoß der VRC gegen das Diskriminierungsverbot aus religiösen Gründen auch Kolodner in HRQ 16/1994, 485 und 487. 737 Der Sonderberichterstatter für die Umsetzung dieser Deklaration, Amor, formuliert in seinem Bericht S. 132 vorsichtig die Empfehlung, einen Text zu entwerfen, der auch Parteimitgliedern das Recht auf Religionsfreiheit zugesteht. 738 Partsch bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 58 ff, insbesondere 62 ff. da über Artikel 5 der Konvention lediglich mittelbare Folgewirkungen der Rassendiskriminierung auf die Religionsfreiheit erfaßt werden. 736

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Benachteiligung der ethnischen Minderheiten an der politischen Macht für die gesamte VRC beklagt. 739 3.5.6. Schlußfolgerung

Zusammenfassend ist festzustellen, daß viele Diskriminierungsvorwürfe einer differenzierteren Betrachtung weichen müssen. Bestehende Chancenungleichheiten im Bildungswesen sowie im Wirtschaftssektor beruhen auf der Gegebenheit, daß sich China zwar aus vielen Nationalitäten mit erheblich unterschiedlicher Kultur und Sprache zusammensetzt, jedoch allein schon aufgrund ihres zahlenmäßigen Übergewichtes von den Angehörigen der Han-Nationalität dominiert wird. Bei der Lösung dieses Problems sind der Regierung ernsthafte Bemühungen zu konstatieren. Die teilweise Ineffiziens bei der Problemlösung kann jedoch nicht als staatliche Diskriminierung angesehen werden. Daneben sind zwar Diskriminierungstatbestände im Bereich der Religion gegeben, diese betreffen aber unterschiedslos alle Bürger der VRC. Eine Notlage der Tibeter aus Gründen der Diskriminierung scheidet daher schon wegen diesem Umstand aus. 3.6. Demographische Veränderungen In Rest-Tibet

Im folgenden ist zu erörtern, ob bereits eine gezielte Zuwanderung von Han-Chinesen für sich schon zu einer Notwehrlage der Tibeter führen kann. Dabei bleibt die Situation auf dem vormaligen tibetischen Staatsgebiet außer Betracht, da für besetzte Gebiete im Völkerrecht spezielle Verbote für demographische Veränderungen gelten. Ein Selbsthilferecht, das mittelbar ebenfalls auf dem Verbotstatbestand der Annexion gründen würde, liefe aber neben dem Restitutionsanspruch leer.740 Die folgende Erörterung hat sich also auf die Tibeter in Rest-Tibet zu konzentrieren. Als Rest-Tibet wird hier, wie auch an anderen Stellen der Arbeit, dasjenige von den Tibetern beanspruchte Gebiet bezeichnet, das außerhalb der Autonomen Region Tibet liegt. Dieses unterteilt sich nach der traditionellen tibetischen Bezeichnung in die Regionen Amdo und Ost-Kham. Nach den Ergebnissen dieser Arbeit unterliegen beide

739 740

USA-Country reports 1992, 550; 1993,616. Vgl. zu diesem Zusammenhang S. 242.

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Regionen dem selben Status. 741 Daher ist es gerechtfertigt, beide Regionen hier zusammen zu behandeln. Auch für Rest-Tibet wird von Kritikern beklagt, daß die dort lebenden Tibeter auf ihrem angestammten Siedlungsgebiet durch den hier bereits seit den 50er Jahren stattfindenden Zuzug von Chinesen in die Position einer Minderheit geraten. Danach sollen in Kham etwa gleich viele Tibeter wie Chinesen leben und in Amdo etwa dreimal so viele Chinesen wie Tibeter. 742 Nach einer anderen Schätzung liegt der Anteil von HanChinesen und Angehörigen der Hui-Nationalität in ganz Tibet noch unter 40% (gegenüber 6 bis 10% vor 1950).743 Obwohl sich die VRC in der Tibet-Diskussion nur auf das Gebiet der Autonomen Region Tibet bezieht, scheinen auch chinesische Quellen diese Zahlenverhältnisse in etwa zu bestätigen. 744 Dies überrascht insofern nicht, da die chinesische Seite davon ausgeht, daß der Anteil der chinesischen Bevölkerung in den an die Autonome Region Tibet angrenzenden Gebieten bereits vor 1950 relativ hoch war. Insbesondere für Amdo ist zu konzidieren, daß die Han-Chinesen bereits damals sogar die Mehrheit stellten. 745 Im Gegensatz dazu stellen Kritiker fest, daß auch in die Regionen Kham und Amdo bereits seit den fünfziger Jahren ein Zuzug von Han-Chinesen stattgefunden habe und auch dies Teil einer gezielten Sinisierungspolitik sei, die eine Vernichtung der tibetischen Eigenständigkeit und Kultur

741

Vgl. zur Frage der Zugehörigkeit zum tibetischen Staatsgebiet S. 183 f. Zur Frage eines eigenständigen Status unter D. IV. 2. 142 Vgl. nur Ludwig S. 20: jeweils 2,5 Millionen für jede Bevölkerungsgrappe in Kham sowie 2,5 Millionen Chinesen zu 800.000 Tibetern in Amdo, ähnliche Angaben finden sich bei v. Walt (3) S. 12 f. 713 Zitiert im Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 116. 744 Vgl. dazu bei Hoppe in China aktuell, Juni 1992. 359. 745 So sollen schon 1949 in der zur Provinz Qinghai umbenannten Region Amdo 716.000 Chinesen gegenüber 439.000 Tibetern und 327.000 Angehörigen sonstiger Gruppen gelebt haben: Hoppe in China aktuell, Juni 1992, 359 unter Berufung auf chinesische Quellen. Diese Angaben werden auch von einer unabhängigen Untersuchung bestätigt: Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 101 f. Nach chinesischer Auffassung haben sich Tibeter im Laufe der Zeit in den an Tibet angrenzenden Provinzen niedergelassen: Tibetweißbuch S. 56, anders ist der Standpunkt der VRC zur Autonomen Region Tibet für die eine Förderung des Zuzuges eingestanden wird, vgl. dazu mit Nw. bereits S. 179. Vgl. zur Gegenansicht: Tibet-Info, September 1989: Colonialism in Tibet: Policy of segregation and apartheid in Tibet S. 1: nur ca. 200.000 bis 300.000 Chinesen in (Groß-) Tibet vor 1949.

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bezwecke. 746 Auch in Amdo habe die schon vorhandene Bevölkerungsmehrheit der Han-Chinesen ursprünglich nur in einem Teilgebiet gesiedelt und sei erst durch den forcierten Zuzug nach 1954 auch in die übrigen Gebiete vorgedrungen. 747 Die weitere Untersuchung geht zunächst von der Arbeitshypothese aus, daß die Ansiedlung von Chinesen auch in Rest-Tibet sich als staatlich geförderte Maßnahme auf traditionell tibetischem Siedlungsgebiet darstellt. 748 Anderenfalls müßte eine Notwehrlage a priori ausscheiden, da ein dem Staat zurechenbares Handeln als Tatbestandsvoraussetzung für das Notwehrrecht herausgearbeitet wurde und ein territoriales Recht nur für vormals abgegrenzte Lebensräume in Betracht kommt. Diese Arbeitshypothese läßt zudem außer Betracht, daß die Region Amdo zugleich auch das traditionelle Siedlungsgebiet anderer Nationalitäten, insbesondere der Hui und mongolischer Stämme war, so daß dort neben den Tibetern eine ebenso große Gruppe anderer Minderheiten ebenfalls angestammte Rechte geltend machen könnte. 749 Aufgrund der angeführten Zahlenverhältnisse für Kham und Amdo erscheint es sehr plausibel, daß der hohe Anteil chinesischer Siedler automatisch einen hohen Assimilierungsdruck auf die Tibeter ausübt. Maßgeblich ist jedoch die Beantwortung der Frage, ob die in diesem Gebiet lebenden Tibeter als ethnische Minderheit innerhalb der VRC überhaupt ein notwehrfähiges Recht darauf haben, daß ihr traditionelles Siedlungsgebiet nicht ethnisch von Mitgliedern des Mehrheitsvolkes unterwandert wird. Diese Frage war bereits Gegenstand im Rahmen der 746

Vgl. v. Wall (3) insbesondere S. 5, 11 ff, m.w.N.; Peissel S. 56; Informationsbulletin des Vertretungsbüros S. H. des Dalai Lama September 1989: Colonialism in Tibet: Policy of segregation and apartheid in Tibet S. 1. 747 Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 101 f. und 103 f. 748 Tatsächlich hat der massive Zuzug von Han-Chinesen seine Ursache einerseits in der bloßen Aufhebung künstlicher Beschränkungen der Freizügigkeit innerhalb Chinas sowie andererseits in staatlichen, insbesondere wirtschaftlichen Anreizen. Vgl. dazu den Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 106, 108 und 113 f. 749 Vgl. zur historischen Dimension schon S. 185 ff. Der tibetischen Bevölkerungsgruppe in Qinghai soll heute eine ungefähr gleich große Anzahl von Angehörigen anderer Minderheiten gegenüberstehen, vgl. jeweils unter Berufung auf chinesische Quellen: Hoppe in China aktuell, Juni 1992, 359: 900.000 Tibeter und ebensoviele Angehörige anderer Minderheiten (für 1949: 439.000 zu 327.000); v. Walt (3) S. 12: 800.000 Tibeter zu 0,5 Millionen Sonstigen. Allerdings stellen die Hui lediglich wegen ihres islamischen Glaubens eine eigene Nationalität dar und werden im übrigen als Han-Chinesen eingestuft: Gernet S. 16; Hoppe in China aktuell, Juni 1992, 361.

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Konkretisierung des Notwehrtatbestandes. Die Untersuchung führte zu der Feststellung, daß ein Recht von Minderheiten zur räumlichen Abschottung nur sehr begrenzt angenommen werden kann. 750 Danach sind Angehörige der Minderheit gegen massive Übergriffe von kolonisierenden Siedlern geschützt, auch wenn kein staatlich zurechenbares Handeln vorliegt. Außerdem kann zugunsten einer eingeborenen Bevölkerung ein Schutzrecht bestehen, sofern nur die Einrichtung eines Reservates die Bewahrung ihrer Kultur sicherstellt. Letzteres ist jedenfalls dann der Fall, wenn diese Kultur eng mit einer spezifischen Nutzung des Territoriums verbunden ist. Auf der anderen Seite besteht keine Pflicht des Staates, auf unterschiedliche Zivilisationsstufen innerhalb seines Gebietes durch Kontaktverbote Rücksicht zu nehmen. Letztlich wird ein Bestandsschutz für Minderheiten in der Literatur überwiegend abgelehnt. Für die Tibeter käme ein Notwehrrecht demnach allenfalls in Betracht, wenn ihre kulturelle Identität durch eine Fremdnutzung ihres Siedlungsgebietes bedroht wäre. Dazu ist festzustellen, daß die kulturelle Identität der Tibetern weniger in einer besonderen Nutzung des Territoriums liegt. Wie noch aufzuzeigen sein wird, liegt das tragende Element der tibetischen Identität im lamaistischen Buddhismus. Auch soweit man Nomadentum sowie Viehzucht und Ackerbau als traditionelle Lebensweisen der Tibeter berücksichtigt, muß festgestellt werden, daß gerade diese nicht durch die chinesische Bevölkerung bedroht werden, die sich vorwiegend in Urbanen Gebieten konzentriert. Allerdings beziehen sich diesbezügliche Angaben im Schrifttum auf die Autonome Region Tibet, jedoch kann davon ausgegangen werden, daß diese räumliche und wirtschaftliche Aufteilung auch in den übrigen Regionen vorliegt. 751 So liegt die Bedrohung der tibetischen Kultur und Identität durch demographische Veränderungen eher in einer schleichenden Assimilation als mittelbare Folge. Danach ist ein Schutz vor ethnischer Unterwanderung in Rest-Tibet selbst unter der Prämisse ausgeschlossen, daß Rest-Tibet ursprünglich ganz überwiegend von Tibetern bewohnt wurde und erst staatliche För150

Oben S. 241 ff. Nach chinesischen Angaben von 1990 leben 87,5% der Tibeter außerhalb der Städte: Bass bei Steckel S. 40. Vgl. für das Bevölkerungsverhältnis in Lhasa und Chamdo (beide Autonome Region Tibet) bei Kelly/Bastian/Ludwig S. 109 (70% Chinesen); für Lhasa auch Asia-Watch-Report (1) S. 77. 751

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dermaßnahmen zu massiven Ansiedlungen von Chinesen führten. Zudem muß darauf hingewiesen werden, daß die eingangs aufgestellte Arbeitshypothese zumindest insofern Zweifeln begegnet, als Rest-Tibet wohl nicht ausschließlich als angestammtes Siedlungsgebiet der Tibeter angesehen werden kann. 3.7. Notwehrlage durch Eingriffe in die Religionsfreiheit 3.7.1. Die Religionsfreiheit im Völkerrecht

Zur Bestimmung des Schutzbereiches der Religionsfreiheit wird im folgenden insbesondere auf die AEMR und die GA-Resolution 36/55 von 1981 zurückzugreifen sein. Maßgeblich ist zunächst Artikel 18 AEMR. Danach umfaßt dieses Recht insbesondere, die Religion privat oder in der Öffentlichkeit, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden. Auch hier gilt die Einschränkung nach Artikel 29 Absatz 2 AEMR, der Beschränkungen durch Gesetze zu bestimmten Zwecken für zulässig erklärt. Eine nähere Konkretisierung ermöglicht die im Konsensusverfahren verabschiedete UN-"Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz aufgrund der Religion oder der Weltanschauung". 752 Artikel 1 Absatz 1 entspricht in etwa dem Inhalt der AEMR. Daneben verbietet Absatz 2 die Ausübung von Zwang gegen die Freiheit der Religionswahl. Eine nicht abschließende Aufzählung der von Artikel 1 umfaßten konkreten Freiheiten gibt Artikel 6 auf den an geeigneter Stelle näher einzugehen sein wird. Für die in den Artikeln 1 und 6 gewährleisteten Rechte enthält Artikel 1 Absatz 3 einen ähnlichen Eingriffsvorbehalt wie die AEMR. Zudem wird schon in Absatz 5 der Präambel der Überzeugung Ausdruck gegeben, es sei von grundlegender Bedeutung, daß die Religion nicht für Ziele verwendet wird, die mit der UN-Charta und anderen einschlägigen Instrumenten der UNO unvereinbar sind. Zur Auslegung der Resolution 36/55 ist insbesondere auch auf die in der Literatur zum Artikel 18 CCPR entwickelten Grundsätze zurückzugreifen, da die Resolution bereits in Absatz 2 ihrer Präambel einen Verweis auf die Menschenrechtspakte enthält und ihr Artikel 1 in den Absätzen 1 und 3 seinem Wortlaut nach dem Artikel 18 Absätze 1 und

752

GA-Resolution 36/55 v. 25.11.1981. Vgl. zu ihrer Bedeutung die Nw. oben in Fn. 482.

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3 des CCPR nachgebildet ist. 7 " Schließlich findet die Religionsfreiheit in zahlreichen internationalen Dokumenten für Minderheiten nochmals gesonderte Erwähnung als Recht auf Entfaltung der eigenen Religion. So schon in Artikel 27 CCPR, in einschlägigen KSZE-Dokumenten754 sowie schließlich in Artikel 1 der GA-Resolution 47/135 vom 18.12. 1992 über die Rechte von Angehörigen von Minderheiten. 3.7.2. Offizielle Religionspolitik der Volksrepublik 3.7.2.1. Gesetze und Richtlinien zur Religionspolitik

Die Religionsfreiheit wird von der chinesischen Verfassung in Artikel 36 gewährleistet. Der lange und mit Einschränkungen versehene Artikel lautet: (1) Die Bürger der VRC genießen die Glaubensfreiheit. (2) Kein Staatsorgan, keine gesellschaftliche Organisation und keine Einzelperson darf Bürger dazu zwingen, sich zu einer Religion zu bekennen oder nicht zu bekennen, noch dürfen sie jene Bürger benachteiligen, die sich zu einer Religion bekennen. (3) Der Staat schützt normale religiöse Tätigkeiten. Niemand darf eine Religion dazu benutzen, Aktivitäten durchzuführen, die die öffentliche Ordnung stören, die körperliche Gesundheit von Bürgern schädigen oder das Erziehungssystem des Staates beeinträchtigen. (4) Die religiösen Organisationen und Angelegenheiten dürfen von keiner ausländischen Kraft beherrscht werden. Artikel 11 des Gesetzes über die regionale Autonomie greift die Formulierungen der Verfassung nahezu identisch auf. Zudem stellt er fest, daß für die Gewährleistung der Religionsfreiheit die Selbstregierungsorgane der autonomen Regionen verantwortlich sind.755 Dies bedeutet angesichts der umfassenden staatlichen Vorgaben jedoch lediglich die

753 So auch Sullivan in AJIL 82/1988, 496, 500. " 4 Bericht des Genfer KSZE-Treffens über nationale Minderheiten vom 1.-19.7.1991: Text im Bulletin der deutschen Bundesregierung Nr. 109 vom 10.10.1991, 865 ff. Zur Diskussion in Genf sowie zum Schlußdokument des Kopenhagener Treffens über die menschliche Dimension der KSZE: Ropers/Schlotter S. 29 f. 155 Viele Selbstverwaltungskörperschaften haben ergänzende Gesetze zur Religionsausübung erlassen. Die Autonome Region Tibet gehört bislang jedoch noch nicht dazu. Vgl. Kolodner in HRQ 16/1994, 471 f.

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Übertragung der Ausfuhrung zentralstaatlicher Religionspolitik.756 In diesem Zusammenhang ist auf die "Regeln für eine demokratische Leitung von Klöstern" hinzuweisen, die der Volkskongreß der Autonomen Region Tibet erlassen hat.757 Bereits seit 1988 sind sog. demokratische Verwaltungskommissionen in den Klöstern eingerichtet worden, auf deren Funktion später noch näher einzugehen sein wird. Eine weitere Ausgestaltung und Konkretisierung hat die staatliche Politik in Glaubensfragen durch den Erlaß mehrerer Richtlinien erfahren.758 Diese beziehen sich zum Teil auf bestimmte Regionen Chinas oder die katholische Kirche. Für die Beurteilung der Lage in Tibet sind insbesondere zwei allgemeine Dokumente von Belang. Zum einen handelt es sich um das Dokument Nr. 19 vom 31.3.1982. Dieses Papier wurde vom Sekretariat des Zentralkomitees der KPC in Umlauf gebracht und hat somit keine formelle Rechtsverbindlichkeit. Die politische Führungsrolle der Partei wird jedoch von der chinesischen Verfassung in ihrer Präambel anerkannt.7 9 Dementsprechend wird in der Einleitung zum Dokument Nr. 19 gefordert, daß alle Ministerien und Staatsorgane ihre Aktivitäten auf die darin skizzierte Politik ausrichten sollen. Ergo ist dieses Papier als für die Staatsorgane verbindlich einzustufen. Auf die einzelnen Regelungen wird weiter unten noch näher einzugehen sein. Das zweite Dokument trägt die Nr. 6 und datiert vom 5.2.1991. Dieses Papier wurde von der KPC und dem verordnungsgebenden Staatsrat in Umlauf gebracht und entfaltet damit schon formelle Verbindlichkeit. In der Einleitung wird auf das oben behandelte Dokument Nr. 19 verwiesen, das als wichtiges Dokument die Richtlinie für die Religionspolitik vorgebe. Das Dokument Nr. 6 soll danach nur noch einige Probleme der weiteren Religionsarbeit behandeln. Auch auf die Inhalte dieses Textes wird an geeigneter Stelle der nachfolgenden Untersuchung zurückzugreifen sein.

756 Der Bericht der österreichischen Rechtsexpertendelegation kommt zu dem Ergebnis, daß weder von der Verfassung noch von dem Autonomiegesetz der VRC die Religionsangelegenheiten als Gegenstand der Autonomie erfaßt werden, vgl. S. 17 Zif. 33, vgl. auch S. 26 Zif. 9, 10. Vgl. zu den "Rules for Democratic Management of Temples" International Campaign for Tibet: A Season to Purge S. 14 f. 58 Texte bei Asia Watch-Report (2) Anhang 1-12. 759 Im Menschenrechtsweißbuch S. 14 f wird die Führungsrolle der KPC wie folgt beschrieben: Sie vereine den Willen des Volkes in ihren Ansichten und Richüinien, die im rechtsstaatlichen Verfahren vom Nationalen Volkskongreß verabschiedet würden.

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3.7.2.2. Offizielle Religionspolitik für Tibet

Die chinesische Regierung rühmt sich speziell für die Autonome Region Tibet einer Politik der Religionsförderung. Danach sind inzwischen 1425 Klöster und Tempel für Gläubige geöffnet, in denen ca. 34.000 Mönche und Nonnen leben.760 1983 wurde in der Autonomen Region Tibet das Institut für Buddhismus in Tibet gegründet und 1985 das buddhistische Forschungsinstitut. An beiden Einrichtungen studieren einige hundert tibetische Studenten. 761 Insgesamt soll es in der Autonomen Region Tibet 3.000 Mönch-Studenten geben. 762 Bis 1992 seien von staatlicher Seite 200 Millionen Yuan für die Religionsförderung in der Autonomen Region Tibet ausgegeben worden. 63 Die offizielle Wertschätzung dieser Förderungspolitik muß vor dem Hintergrund gesehen werden, daß es nach tibetischen Angaben vor 1950 in Groß-Tibet ca. 7.000 Klöster mit 120.000 Mönchen und 15.000 Nonnen gab, von denen nach der chinesischen Besetzung 6.254 zerstört worden seien. Auch die chinesische Seite räumt für die Autonome Region Tibet ein, daß es dort vormals 2.700 Tempel und Klöster mit 114.000 Mönchen und 1.600 lebenden Buddhas gegeben hat. 764 Im Zuge der nach 1959 in der Autonomen Region Tibet eingeführten sog. Demokratischen Reformen sind die Klöster bis zum Jahr 1966 auf 550 mit 6.900 Geistlichen reduziert worden. Infolge der Kulturrevolution sank die Zahl von 1966 bis 1978 auf 8 Klöster mit 970 Geistlichen. Die übrigen Gebäude wurden größtenteils zerstört. 765 Von 1978 bis 1992 wurden danach 760

Vgl. Interview mit dem Vorsitzenden der Autonomen Region Tibet in BR 9/1992, 18; Soinam Norbu in BR 15/1992, 18. Angaben zur Situation außerhalb der Autonomen Region Tibet finden sich kaum. Nach JSckerly bei Steckel S. 90 sollen chinesische Quellen von 1989 die Anzahl der Mönche für das Gebiet Groß-Tibets nur mit 45.000 angegeben haben. 761 Vgl. Hool S. 86. 762 Tibet-Weißbuch S. 45 (Stand 1992). 763 Tibet-Weißbuch S. 44. 764 Diese Angaben werden unter dem Hinweis, daß sie sich eben nur auf Zentral-Tibet beziehen, auch von tibetischer Seite bestätigt. Vgl. zur übeüschen Sicht. Dokumentation zum Tibet-Problem des Office of Tibet, Zürich 1987: Zahlenangaben über den kulturellen Kahlschlag in Zentral-Tibet. Zur chinesischen Darstellung: Hool S. 86 m. Nw.; Erling in der Stuttgarter Zeitung vom 20.7. 1987, S. 4. 765 Die Zahlenangaben beruhen auf einer Pressekonferenz der tibetischen Regionalregierung in Lhasa, abgedruckt bei Erling in der Stuttgarter Zeitimg vom 20.7.1987, S. 4. Die zeitliche Relation wiederlegt im übrigen die immer noch anzutreffende chinesische Darstellung, nach der die Zerstörung der kulturellen Einrichtungen und Klöster Tibets nur der Kulturrevolution angelastet werden: Tibetweißbuch S. 44; Jing Wei: 100 Fragen S. 83 f.

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1.417 Klöster wieder aufgebaut und die Zahl der Kleriker um 33.030 gesteigert.766 In diesem Zusammenhang wird jedoch auch der Vorwurf erhoben, daß die gesamte Liberalisierung der Religionspolitik und insbesondere der Wiederaufbau der Klöster weniger auf die religiösen Bedürfnisse der Tibeter, sondern vielmehr auf die Förderung des Tourismus bezogen sei.767 Allerdings wird in offiziellen Stellungnahmen betont, daß nur normale religiöse Aktivitäten unterstützt würden, die auf die Festigung und Einheit des Landes und der Nationalitäten zielen.768 Die Einschränkung auf normale religiöse Tätigkeiten findet sich auch in Artikel 36 der Verfassung sowie in Artikel 11 des Gesetzes über die regionale Autonomie. Das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz flir Lhasa vom 5.5.1990 enthält ausdrücklich das Verbot der Benutzung der Religion in Demonstrationen und Paraden, die die nationale Einheit und soziale Stabilität gefährden.769 In diesem Zusammenhang war bislang auch die Möglichkeit gegeben, daß Bekundungen zur nationalen Eigenständigkeit oder zur Staatsform der Theokratie nach dem chinesischen Strafgesetzbuch als konterrevolutionäre Verbrechen bestraft werden können. Inzwischen sind diese Vorschriften durch die Strafbarkeit von Verstößen gegen die "Staatssicherheit" ersetzt worden.770 Zudem gelten seit September 1994 neue Sicherheitsbestimmungen, in denen die Verwaltung von Tempeln und Klöstern durch ein neu geschaffenes Verwaltungsorgan für die gesamte Region als eines der vorrangigen Ziele benannt wird.771

766 Vgl. mit Zahlenangaben für 1984 und 1987 die kritische Darstellung mit Nw. bei Hool S. 86 f. Für die erneute Steigerung bis 1992 vgl. Tibetweißbuch S. 45. 767 So: The Office Of Tibet, Zürich: Dokumentation zum Tibet-Problem. Zahlenangaben über den kulturellen Kahlschlag in Zentral-Tibet; T.I.N.-News Update vom 10.11. 1990 S. 13; vgl. auch Boss S. 142. Weniger kritisch: Ackerly bei Steckel S. 92 f. Besucher berichten, daß einige Klöster heute schon eher Museen als religiöse Stätten sind: Bass S. 142; Dagyab Kyabgön Rinpoche bei Steckel S. 79. Vgl. für die bestreitende Haltung Jing Wei: 100 Fragen S. 84. 768 Zum Beispiel Interview mit dem Vorsitzenden der Autonomen Region Tibet in BR 9/1992, 18. 769 ai-Report (1) S. 14. 770 Zur Strafbarkeit nach den §§ 90 ff des chinesischen Strafgesetzbuches schon S. 15 Fn. 53 und S. 272 f, zur Neuregelung: FAZ vom 15.03.1997 S. 6. 771 ai-Report (6) S. 7.

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3.7.3. Religiös-politische Aktionen als Religionsausübung? 3.7.3.1. Die Verfolgung religiös motivierter Aktionen

In den von Menschenrechtsorganisationen veröffentlichten Einzelfällen und Gefangenenlisten findet sich ein hoher Anteil von verhafteten tibetischen Mönchen und Nonnen. Als Grund für die strafrechtliche Verfolgung werden in der Regel Besitz und öffentliche Zurschaustellung der tibetischen Nationalfahne oder ähnlicher Symbole sowie die auf Demonstrationen erhobene Forderung nach Unabhängigkeit genannt. 772 Die staatlichen Repressionsmaßnahmen knüpfen somit nicht an religiöse Handlungen im engeren Sinn an, sondern an politische Aktivitäten. Da Tibet vor 1950 eine Theokratie war, besteht jedoch für die Tibeter ein besonderer Zusammenhang zwischen Religion und Politik. Folglich hat das religiöse Freiheitsstreben in Tibet traditionell auch politische Aspekte. 773 Wie sich aus der Darstellung der formalen Gesetzeslage ergibt, hat die Fortsetzung religiöser Aktivitäten unter diesem Aspekt fast zwangsläufig eine Verletzung der Verfassung, der öffentlichen Ordnung und damit dem Eingreifen staatlicher Repressionsmaßnahmen zur Folge. 774 Auch dies ist eine Erklärung für den hohen Anteil des Klerus an den Inhaftierten. Somit ist zu fragen, ob die politische Betätigung, insbesondere das Propagieren der tibetischen Unabhängigkeit, von dem Recht auf Religionsfreiheit gedeckt ist und ob die gesetzlichen Einschränkungen der VRC gemessen an diesem Menschenrecht zulässig sind. Dabei handelt es sich um eine grundsätzliche Frage nach dem Schutzbereich der Religionsfreiheit, so daß die Frage nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit der tibetischen Forderungen selbst hier ohne Bedeutung ist. 3.7.3.2. Unabhängigkeitsbestrebungen als Religionsausübung?

Ausgangspunkt dieser Problematik ist die Feststellung, daß der tibetische Buddhismus, historisch bedingt, auch weltliche Ansprüche erhebt. Außerdem kann von dem Grundsatz ausgegangen werden, daß ein Staat 772

ai-Report (1) S. 19 f, 26 ff; ai-Report (2) S. 13 ff; ai-Report (3) S. 41 ff; vgl. auch die Listen im Asia-Watch/T.I.N.-Report 1992, 9 ff sowie in dem Bericht von Amor Appendix 1 und 2. 773 Diese Problematik sieht auch Amor in seinem Bericht S. 133 f. Der ai-Report (2) S. 13 spricht auch hier von Gewissensgefangenen. 774 Hool S. 87.

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nicht die Inhalte eines Glaubensbekenntnisses und die dem Gläubigen von der jeweiligen Religion auferlegten Pflichten bestimmen kann. Daraus wird teilweise die weitere Schlußfolgerung gezogen, daß der Schutzbereich der Religionsfreiheit alle religiös motivierten Akte umfaßt, so daß auch die politischen Aktivitäten für die tibetische Unabhängigkeit noch als Religionsausübung einzuordnen seien. Die dagegen gerichteten polizeilichen und strafrechtlichen Maßnahmen stellten sich dann zugleich auch als Eingriff in die Religionsfreiheit dar. 775 Bereits die Annahme eines derart weiten Schutzbereichs begegnet jedoch Zweifeln. Sie ergeben sich aus einer systematischen Betrachtung der in Artikel 6 der Resolution 36/55 genannten Einzelfreiheiten. Diese beziehen sich auf die Abhaltung von Gottesdiensten, die Einrichtung von Versammlungsorten, die Gründung von Wohltätigkeitseinrichtungen, Herstellung und Erwerb ritueller Gegenstände, die Verbreitung einschlägiger Publikationen, die Lehre, den Erhalt privater Spenden, die Wahl religiöser Führer, die Begehung religiöser Feiertage und die Unterhaltung internationaler Beziehungen. Obwohl die Aufzählung der Freiheiten nach Artikel 6 nicht abschließend ist, fällt doch auf, daß die Beispiele einen sehr engen Bezug zur Religionsausübung haben. So wird nicht auf die religiöse oder weltanschauliche Motivation einer Handlung abgestellt. Vielmehr werden nur konkrete Freiheiten aufgeführt, die für die Ausübung einer Religion oder Weltanschauung charakteristisch sind, wie dies bei Gottesdiensten oder Riten der Fall ist. Daraus kann gefolgert werden, daß diese Beispiele den grundsätzlichen Charakter der Handlungen wiedergeben, die durch die Religionsfreiheit geschützt sind. Danach reicht es nicht aus, daß eine religiös motivierte Überzeugung auf die Handlungsweise zu Alltagsproblemen durchschlägt. Vielmehr muß die Handlung unmittelbar auf die Bekundung eines Glaubens gerichtet sein und ihre Funktion sich zumindest im wesentlichen darin erschöpfen. 776 Gerade im Hinblick auf den politischen Aspekt des tibetischen Buddhismus wird der allgemeine Befund noch von Absatz 5 der Präambel 775

Asia Watch-Report (1) S. 65, 67 f. Auch der UN-Sonderberichterstatter fiir die Umsetzung der Deklaration 36/55 Amor geht in seinem Bericht S. 133 gerade für die Tibeter davon aus, daß deren politische Anliegen, trotz der engen Verbindung von Politik und Lamaismus, nicht in den Schutzbereich der Deklaration fallen. Ähnlich wie hier zur Resolution 36/55 auch: Nowak Artikel 18 Rn. 25. Auch Sullivan in AJIL 82/1988, 499 räumt die Möglichkeit ein, daß die religiöse Identität zur Verschleierung rein politischer Aktivitäten benutzt wird. 776

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der Resolution 36/55 gestützt. Darin wird erklärt, daß es von grundlegender Bedeutung sei, daß die Religion nicht für Ziele verwendet werde, die mit der UN-Charta und anderen einschlägigen Instrumenten unvereinbar sind. Die Charta enthält aber in Artikel 2 Zif. 4 den Grundsatz der territorialen Unversehrtheit. Insoweit könnte schon aus der Präambel der Resolution geschlossen werden, daß insbesondere Bestrebungen gegen die territoriale Einheit eines Landes als unvereinbar mit der UNCharta nicht vom Schutzbereich der Religionsfreiheit umfaßt werden.777 Somit steht auch eine religiös motivierte Unabhängigkeitspropaganda bereits außerhalb des Schutzbereichs der Religionsfreiheit. 3.7.3.3. Unabhängigkeitsbestrebungen als Weltanschauung

In den genannten Menschenrechtsinstrumenten wird neben der Religionsfreiheit immer zugleich auch die Gewissens- und Gedankenfreiheit verbrieft. Letztere wird in der Literatur vielfach als Konzept mit umfassendem Inhalt angesehen, das auch politische Überzeugungen einschließe.778 Danach könnte das Eintreten der Tibeter für ihre nationale Unabhängigkeit, wenn auch nicht unter dem Aspekt der Religionsfreiheit, so doch unter dem der Gedankenfreiheit in den Schutzbereich dieser Dokumente fallen. In der Tat umfaßt dieses Recht nach der AEMR, dem CCPR und der Deklaration 36/55 auch die Freiheit, seine Überzeugung beziehungsweise Weltanschauung zu bekunden. Allerdings verweisen die einschlägigen Dokumente für das "Bekunden" auf die Modalitäten des Gottesdienstes, Brauchtums sowie Praxis beziehungsweise Ausübung und Lehre. Insoweit käme hier also nur die Bekundung durch Praxis beziehungsweise Ausübung in Betracht. Ob die Wahrnehmung des Rechts auf Gedankenfreiheit aber auch in der Ausübung zielgerichteter politischer Aktivitäten liegen kann, muß bezweifelt werden. So statuieren die einschlägigen Menschenrechtsdokumente nicht die Freiheit zu jedweder Gecfankenäuftzmng sondern die Freiheit, seine Weltanschauung beziehungsweise Überzeugung zu bekunden. Diese Wortwahl legt die Auslegung nahe, daß hier eher abstrakte Gedankensysteme und Wertvorstellungen gemeint sind. So wird der Schutzbereich in der Literatur auch dahingehend umschrieben, daß 777 Allerdings wurde in dieser Arbeit festgestellt, daß das Völkerrecht kein grundsätzliches Sezessionsverbot enthält. Insoweit wäre also nur vertretbar, daß zumindest die Religionsausübung keine Rechtfertigung für Sezessionsbestrebungen ist. 778 Sullivan in AJ1L 82/1988, 500; Lillich bei Meron S. 159 Fn. 243 m.w.N.

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er im atheistischen Sinn nicht-religiöse oder philosophische Überzeugungen umfasse. 779 Auch eine systematische Analyse der verschiedenen Menschenrechtsgarantien stützt diese Auslegung. So ließe eine extensivere Ausdehnung des Schutzbereiches kaum noch eine Abgrenzung zum Recht auf freie Meinungsäußerung zu. Die Differenzierung zwischen Meinungs- und Gedankenfreiheit ist aber schon deswegen erforderlich, weil die Religions- und Gedankenfreiheit in den Menschenrechtsdokumenten gegenüber der Meinungs- und Versammlungsfreiheit hinsichtlich zulässiger Eingriffe eine privilegierte Stellung einnimmt. 780 Das Ausrufen von Unabhängigkeitsparolen oder das Vorzeigen der tibetischen Nationalflagge gehen über das bloße Bekunden abstrakter Gedankengebäude und Wertesysteme hinaus. Vielmehr stellt sich die aktive Verbreitung einer konkreten politischen Ansicht als ein Fall dar, der eher unter das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit fällt. 781 Daher können die erörterten Aktivitäten auch nicht unter den der Religionsfreiheit gleichgestellten Aspekt der Gedankenfreiheit subsumiert werden. Aber auch nach der Gegenansicht, die den Schutzbereich der Gedankenfreiheit auch auf politische Aktivitäten ausdehnen will, wäre die in den einschlägigen Menschenrechtsdokumenten vorgesehene Zulässigkeit von Eingriffen zu beachten. Danach sind gesetzliche Einschränkungen zulässig, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Moral oder der Grundrechte und Grundfreiheiten anderer erforderlich sind.782 Solche gesetzlichen Beschränkungen bestehen hier nach dem Eingangs erwähnten Demonstrationsgesetz für Lhasa und mit der Strafbarkeit sog. konterrevolutionärer Verbrechen. Für die Unabhän779

So V. Bovert in FS Partsch S. 106; Nowak Artikel 18 Rn. 14 m.w.N. . Insoweit noch folgerichtig, die Bejahung des Anwendungsbereichs des Artikel 9 MRK durch die Europaische Menschenrechtskommission für die Verteilung pazifistischer Flugblätter: Nowak Artikel 18 Rn. 26. 780 Vgl. für den CCPR mit Nw. schon S. 240. 781 Nach Nowak Artikel 18 Rn. 21 stellt sich die öffentliche Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der Regel als Unterfall der öffentlichen Meinungsfreiheit dar. Auch Partsch in VN 3/1982, 86 weist darauf hin, daß Lücken in der Deklaration über die Garantien der Vereinigungs- und Meinungsfreiheit ausgefüllt werden können. Sogar für den Fall, daß eine Religion ihren Anhängern die Bekehrung anderer vorschreibt bemerkt Sullivan in AJIL 82/1988, 494 zu Recht, daß auch hier das Recht der Gläubigen auf freie Meinungsäußerung zu berücksichtigen sei. 782 Artikel 18 Absatz 3 CCPR; Resolution 36/55, Artikel 1 Absatz 3. Artikel 29 Nr. 2 der AEMR weicht insoweit ab, als darin auf die gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und der allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft abgestellt wird.

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gigkeitsbekundungen der tibetischen Mönche und Nonnen kommen hier die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Betracht. Allerdings umfassen diese nicht das nationale Sicherheitsinteresse. So setzt das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit eine konkrete Gefahrdung von Personen und Sachen voraus. 783 Die öffentliche Ordnung ist im Rahmen von Ordnungsstörungen des Alltagslebens einschlägig. 784 Zudem muß bei den auf die Eingriffsvorbehalte gestützten Gesetze der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. 785 Auch nach der Gegenansicht zum Schutzbereich der Gedankenfreiheit müßte daher für jede polizeiliche Maßnahme eine Prüfung im Einzelfall erfolgen. Nach der hier vertretenen Ansicht ist eine solche Prüfung jedoch nicht erforderlich. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß der Einsatz fiir die tibetische Unabhängigkeit bereits nicht in den Schutzbereich der Religionsfreiheit fällt. Ebensowenig werden solche Aktivitäten von dem Recht umfaßt, seine Weltanschauung beziehungsweise Überzeugung zu bekunden. Im übrigen wären auch bei einer entgegengesetzten Interpretation gesetzliche Eingriffe grundsätzlich zulässig zu dem Zweck, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrecht zu erhalten. 3.7.4. Eingriffe in die Religionsausübung im engeren Sinn 3.7.4.1. Staatliche Eingriffe in die Religionsausübung

Im folgenden geht es einerseits um Versuche der abstrakten Einflußnahme seitens der Zentralregierung, die über allgemeine Reglementierungen der Religionsausübung erfolgen. Zum anderen geht es um die Kritik an staatlichen Maßnahmen zur Ausführung und Konkretisierung dieser Regelungen, die konkret in die Religionsausübung eingreifen. 783

Wie hier fiir den CCPR: Nowak Artikel 18 Rn. 36 unter Verweis darauf, daß sich im CCPR an anderen Stellen zusätzlich das Schutzgut der nationalen Sicherheit fndet. Dieser Zusatz war auch für die Deklaraüon 36/55 vorgesehen, fand aber keinen Eingang in die Schlußfassung: vgl. dazu Sullivan in AJIL 82/1988, 499 Fn. 51. 784 So Humphrey bei Meron S. 180 f; in diesem Sinn auch die Beispiele von Knshnaswami bei Sullivan in AJIL 82/1988, 511; auch Nowak Artikel 18 Rn. 38. Der Wortlaut der Deklaraüon 36/55 und des CCPR ist insoweit nicht eindeutig: vgl. Nowak Artikel 18 Rn. 34; Sullivan in AJIL 82/1988, 511. Allerdings fehlt der in anderen Artikeln des CCPR (zum Beispiel Artikel 21, 22 Absatz 2) angefügte Zusatz des ordre public. 785 Wie hier Nowak Artikel 18 Rn. 33; im Sinne eines Willkürverbotes. Partsch in VN 3/1982, 85.

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Bereits die von der chinesischen Regierung hervorgehobene Politik des Wiederaufbaus von Klöstern wird in eine Doktrin der Religionslenkung eingebettet. So haben die staatlichen Stellen inzwischen die Grenzen der religiösen Entwicklung deutlich gemacht, indem es heißt, daß die gegenwärtige Anzahl der Klöster fiir die Religionsausübung der Geistlichen und die Bedürfnisse der Gläubigen ausreichend sei. Lediglich in den Grenzgebieten sollen noch einige Klöster wiederhergestellt werden. 786 Dementsprechend wird in verschiedenen Berichten festgestellt, daß die chinesische Regierung den Eintritt in die Klöster reguliert und auf diesem Weg die Zahl neuer Mönche begrenzt. Auch werde der Wiederaufbau von Klöstern durch eine Genehmigungspflicht kontrolliert, vor allem, weil die tibetischen Gemeinden zerstörte Gebäude oft in Eigeninitiative wiederherstellen. 787 Die Begrenzung der Zahl neuer Mönche wird offiziell damit begründet, daß die Anzahl der Lamas bereits die wirtschaftlichen Möglichkeiten einiger Klöster übersteige. Dem wird entgegengehalten, daß insbesondere die Klöster in der Autonomen Region heute weniger als 10% der Mitglieder haben, als vor 1959. 788 Dabei ist insbesondere auch die finanzielle Gängelung der Klöster zu berücksichtigen, durch die jede Eigeninitiative erschwert wird. 789 Die genannten Beschränkungen finden sich auch in einer 1994 veröffentlichten Direktive für die Autonome Region Tibet und werden seitdem offenbar seit 1995 verstärkt umgesetzt. 790 So sind weitere, ohne offizielle Erlaubnis wiederhergestellte Klöster und Tempel auf staatliche Veran-

786 Interview mit dem Vorsitzenden der Autonomen Region Tibet in BR 9/1992, 18; Soinam Norbu in BR 15/1992, 18. Vgl. zu einer entsprechenden Aussage des Leiters der Kommission für Religiöse Angelegenheiten in der Autonomen Region von 1994 auch: ai-Report (6) S. 7. 787 So: Asia Watch-Report (1) S. 65; Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 38 f Zif. 10; von Erffa in der FAZ vom 29.7.1992 S. 8; Bass S. 161; USA-Countiy reports 1993, 611, 1996 34. Ackerly bei Steckel S. 87 ff gibt unter anderem auch die Voraussetzungen an, unter denen ein Kandidat in ein Kloster eintreten darf. Zu den Voraussetzungen einer Registrierung religiöser Plätze: Amor in seinem Bericht S. 117. 788 Vgl. zur offiziellen Begründung den Bericht von Amor S. 124 f. Kritisch dazu International Campaign for Tibet: A Season to Purge S. 29 f mit Zahlenangaben von 1950 bis 1995. 789 Nach dem Dokument Nr. 19 Abschnitt (7) sind zwar Spenden erlaubt, demgegenüber aber reguläre Einkünfte und Privatbesitz von Klöstern verboten. Vgl. auch International Campaign for Tibet: A Season to Purge S. 33-38. 790 ai-Report (6) S. 8; vgl. zur Umsetzung: USA-China country report 1995, 30 sowie report 1996, 34.

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lassung wieder zerstört und die Mönche und Nonnen nach Hause geschickt worden. 791 Ein weiterer staatlicher Eingriff findet in dem für den Lamaismus besonders charakteristischen Bereich der Reinkarnationssuche statt. 792 Diese soll überhaupt erst seit Anfang der 90er Jahre wieder erlaubt sein. Allerdings muß die Suche unter staatlicher Leitung erfolgen und ist in geographischer und personaler Hinsicht weiteren Einschränkungen unterworfen. Darunter zum Beispiel die, daß Reinkarnationen nicht in Familien von Parteimitgliedern gefunden werden dürfen. 793 Ein für die Zukunft bedeutsames Beispiel staatlicher Einmischung findet sich darin, daß die vom Dalai Lama anerkannte Reinkarnation des Panschen Lama, dem zweithöchsten religiösen Würdenträger, von chinesischer Seite nicht bestätigt worden ist. Vielmehr haben die chinesischen Behörden ein anderes Kind als Wiedergeburt ausgerufen und halten das vom Dalai Lama anerkannte Kind irgendwo in China versteckt. 794 Zwischen dem offiziell von der chinesischen Regierung eingesetzten Suchkomitee und dem Dalai Lama hatten zuvor offenbar erfolglose Bemühungen stattgefunden, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Vielmehr erstellte die Regierung eine Liste möglicher Kandidaten, aus der dann, nachdem der Dalai Lama bereits eine Reinkarnation anerkannt hatte, ein Kind mit Hilfe eines Losverfahrens bestimmt wurde. 795 Ferner haben offizielle Stellen im Anschluß an das Dritte Tibet-Arbeitsforum eine Kampagne gestartet, mit der der Dalai Lama nunmehr auch 791

Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 281 und 288 f. Die Nachfolge für hohe Lamas wird im tibetischen Buddhismus durch das Auffinden von Reinkarnationen geregelt. Danach wird die Seele des Verstorbenen wiedergeboren, so daß das als Reinkarnation erkannte Kind seine Stelle wieder einnehmen kann. 793 Dazu Ackerly bei Steckel S. 91; Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 38, Zif. 8; Internaüonal Campaign for Tibet: A Season to Purge S. 48-51 und den Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 285 ff. 794 Vgl. zu diesen Vorgängen: Die Berichte von Petra Kolonko in der FAZ vom 30.11. 1995 S. 6 und vom 25.05.1996 S. 10; den Artikel nebst Erklärung des Dalai Lama im Tibet Forum 3/1995 S. 10 f sowie die Darstellung der International Campaign for Tibet: A Season to Purge S. 52-57. 795 Dieses Losverfahren war nach der chinesischen Intervention in Tibet 1793 durch Edikt des chinesischen Kaisers für die Wahl des Dalai Lama und des Panschen Lama bestimmt worden, die allerdings zu dieser Zeit noch nicht anstand. Nachfolgend wurde das Verfahren jedoch wegen des erneuten Verlustes der chinesischen Machtstellung in Tibet nicht beachtet. Vgl. zu dem Dekret: Weggel in China aktuell, Juni 1991, 367; zur Nichtbefolgung durch die Tibeter: Richardson S. 71 und v. Walt (1) S. 22. 792

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als religiöser Führer angezweifelt wird. So werden die Mönche in allen größeren Klöstern Umerziehungsseminaren unterworfen, an deren Ende sie den Dalai Lama schriftlich anzuprangern haben. 796 Die bislang aufgeführten Maßnahmen tangieren gleich zwei wichtige Bereiche der von Artikel 6 der Deklaration 36/55 gewährleisteten Einzelfreiheiten. Zum einen stellen sie einen Eingriff in den von Artikel 6 lit. g) umfaßten Bereich innerer Autonomie dar. Danach soll die Ausbildung und Ernennung von Führern im Einklang mit den Erfordernissen und Maßstäben der jeweiligen Religion erfolgen. Diese Vorgänge obliegen demnach der Religionsgemeinschaft, ohne daß der Staat sich hier einmischen darf. 797 Daher stellen die staatlichen Einmischungen in die Suche nach Reinkarnationen hoher Lamas sowie die Zulassungsbeschränkungen für Mönche und Nonnen einen Eingriff in dieses Recht dar. 798 Zudem bestätigen die offiziellen Statements, daß den Gläubigen entgegen Artikel 6 lit. a) nicht das volle Recht gewährt wird, Orte für Gottesdienste oder Versammlungen einzurichten. Zwar erfolgen erhaltende oder restaurierende Maßnahmen auch in Eigeninitiative der Gläubigen, allerdings sind Einrichtung und Aufbau von Tempeln und Klöstern Aufgaben, die offiziell allein vom Staat geplant und im Umfang festgelegt werden. An sich kann das staatliche Engagement sicher nicht verurteilt werden, zumal sich diese Förderungsmaßnahmen, gerade in Tibet, im historischen Kontext eher als partielle Wiedergutmachung für den vorangegangen kulturellen Kahlschlag darstellen. Wenn der Staat bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben aber ein Monopol für sich reklamiert und den Religionsgemeinschaften die Eigeninitiative beschränkt sowie zudem auch noch selbst die zu befriedigenden religiösen Bedürfnisse bestimmt, dann ist das Recht aus Artikel 6 lit. a) der Deklaration verletzt. Zu den eher indirekten Maßnahmen gehört, daß die Finanzen der Klöster einer generellen Kontrolle der Regierung unterstellt sind. Auch wird in der Ausbildung von Buddhisten an entsprechenden staatlichen Einrichtungen eine ideologische und gesamtstaatliche Indoktrinierung betrieben. 7 Ferner sind seit 1988 Verwaltungsorgane in den Klöstern 796

Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 284 und 294 f. So auch Partsch in VN 3/1982, 85. 798 Die Resolution vermeidet an jeder Stelle den Begriff der Geistlichen. Die Begriffe Führer oder Leiter sind aber wohl als Abgrenzung zum Laien zu verstehen. 199 Asia Watch-Report (1) S. 65 ff. Insoweit auch kritisch der Bericht von Amor S. 119. 797

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eingerichtet worden, die sog. demokratischen Verwaltungskommissionen, deren Mitglieder von den Lamas gewählt werden. Die Kommissionen nehmen die vormals dem Abt vorbehaltenen Aufgaben in der Leitung der Klöster war. Sie werden von der Regierungsabteilung für Religiöse Angelegenheiten angeleitet 800 Tatsächlich hat diese verordnete Verwaltungsreform nicht zu einer selbständigen Eigenverwaltung der Klöster gefuhrt. Im Gegenteil besteht eine wesentliche Funktion dieser Verwaltungsorgane in der Durchsetzung der offiziellen Regierungspolitik und der politischen Überwachung der Mönche. Dabei wird von staatlicher Seite besonders darauf geachtet, daß die Leitung der Klöster in den Händen von Patrioten liegt, die die Führung der Kommunistischen Partei unterstützen. 801 Hinzu kommt, daß infolge neuer Sicherheitsbestimmungen 1994 ein umfassendes Verwaltungsorgan für die Autonome Region Tibet geschaffen worden ist, dessen Aufgabe insbesondere auch die Verwaltung von Tempeln und Klöstern umfassen soll. 802 Auch von der Chinesischen Buddhistischen Vereinigung wird Druck ausgeübt. So werden kleinere Propagandagruppen, sog. Arbeitsausschüsse, in tibetische Klöster entsandt zu dem Zweck, den Mönchen und Nonnen politische und rechtliche Unterweisung zu geben. 803 Auch diese Maßnahmen, insbesondere das Betreiben staatlicher Ausbildungseinrichtungen zur politischen Indoktrinierung angehender Klerusanwärter und die Instrumentalisierung der Chinesisch Buddhistischen Vereinigung mit ihren Propagandagruppen stehen in klarem Widerspruch zu dem von Artikel 6 lit. g) umfaßten Autonomiebereich. Seit 1990 soll zudem ein Gesetz die religiösen Freiheiten der tibetischen Buddhisten stark einschränken, indem darin religiöse Praktiken und Zeremonien einer Regulierung unterworfen werden. 804 So wird beklagt, daß nur bestimmte populäre Praktiken zugelassen seien, während aber exklusivere Riten und tiefergehende Weisheiten nicht mehr praktiziert und vermittelt werden könnten, weil es an qualifizierten Lehrern mange800

Jing Wei: 100 Fragen S. 85 f. Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 275 f; Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 38 Zif. 7; Asia Watch-Report (1) S. 70; Ackerfy bei Steckel S. 86 f. 802 Dazu ai-Report (6) S. 7. 803 Dazu: Bericht der österreichischen Expertendelegation S. 17 Zif. 35, S. 27 Zif. 13; Petra Kolonko in der FAZ vom 24.9.1992. Diese Form der Umerziehung ist 1996 nochmals verstärkt worden: Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 289 ff. 804 USA-Country reports 1991, 823. 801

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le und den Mönchen oft kaum Zeit gelassen werde für eingehende Studien. 805 Die Kritik fuhrt auch Beispiele für konkrete Eingriffe durch chinesische Kader an, zum Beispiel das gegenüber bereits auf dem Weg befindlichen Mönchen ausgesprochene Verbot, nächtliche Riten abzuhalten. Ferner wurde Mönchen mitgeteilt, daß die religiöse Unterweisung durch einen Lama der vorherigen Genehmigung durch das Büro für religiöse Angelegenheiten bedürfe und gleiches für die Teilnahme von Mönchen anderer Klöster an der Unterweisung gelte. 806 Eine lokale Begrenzung auf geeignete Orte enthält Artikel 6 lit. e) der Deklaration 36/55 nur für die Religionslehre. Demgegenüber bestätigt Artikel 1 Absatz 1 das Recht, auch Brauchtum öffentlich Ausdruck zu verleihen. Daher muß eine örtliche oder auf die helle Tageszeit beschränkte Begrenzung für besondere Riten als unzulässig betrachtet werden. Gleiches gilt für die Genehmigungspflicht für religiöse Unterweisungen. Artikel 6 lit. c) und d) der Deklaration erlauben die Herstellung und Verbreitung von Gegenständen, die für Bräuche und Riten erforderlich sind, sowie einschlägiger Publikationen. Demgegenüber hat der Volkskongreß der Autonomen Region Tibet im Mai 1996 ein Verbot beschlossen, nach dem keine Fotos des Dalai Lama als geistlichem Oberhaupt der Tibeter in Klöstern, öffentlichen Räumen und Hotels ausgestellt werden dürfen. Schon zuvor gab es Berichte darüber, daß Bilder und Schriften des Dalai Lama nicht vom Ausland eingeführt werden durften. 807

805 Vgl. Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 38 f, Zif. 10 f; Dagyab Kyabgön Rinpoche und Ackerly bei Steckel S. 79 f, 88 f; Boss S. 161 f. In dem Bericht von Amor S. 128 wird das Zeitproblem nach inoffiziellen Quellen darauf zurückgeführt, daß die Klerusanwärter zu stark mit organisatorischen und finanziellen Aufgaben belastet werden. Außerdem wird das Analphabetentum als Problemfaktor genannt. 806 Asia Watch-Report (1) S. 70; Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 281. Die Tibet Initiative Deutschland e. V. beschreibt in ihrem Papier "Tibet nach Aufhebung des Kriegsrechts" weitere Restriktionen zur Begehung tibetischer Feiertage. Vgl. auch Meindersma bei Steckel S. 31. 807 Vgl. zum Verbot: Petra Kolonko in der FAZ v. 25.05.1996 S. 10 sowie schon früher: von Erffa in FAZ vom 29.7.1992 S. 8. Andererseits bestätigte noch der Bericht der österreichischen Expertendelegation auf S. 17 Zif. 34, daß Verkauf und Aufstellung von Bildern des Dalai Lama in den besuchten Klöstern geduldet wurde. Der UN-Sonderberichterstatter Amor bestätigte letzteres in seinem Bericht S. 127 ebenfalls, hatte aber zugleich inoffizielle Informationen über Restriktionen. Vgl. auch zu Verboten seit 1994: ai-Report (6) S. 7. Bei einem Aufenthalt des Verfassers in Lhasa im August 1996 waren an den Ständen auf dem Markt in der Altstadt nur Bilder anderer Lamas zu sehen.

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Eine Rechtfertigung der staatlichen Maßnahmen durch die in den verschiedenen Menschenrechtsdokumenten enthaltenen Eingriffsvorbehalte ist nicht ersichtlich. Zum einen beruhen viele der genannten Maßnahmen nicht auf einer gesetzlichen Grundlage. Selbst unter Einhaltung dieser Bedingung fehlen aber Anhaltspunkte dafür, inwiefern diese Maßnahmen dazu dienen, die in den Eingriffsvorbehalten aufgezählten Schutzgüter, insbesondere der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zu wahren. 3.7.4.2. Bestehende Notwehrlage durch diese Eingriffe

Nach der Untersuchung ist davon auszugehen, daß die VRC gleich in mehrfacher Weise das Recht der Tibeter auf Religionsfreiheit verletzt. Nunmehr stellt sich die Frage, ob diese Menschenrechtsverletzungen auch eine Notwehrlage im Sinne des Selbstbestimmungsrechts begründen. Entsprechend den in dieser Arbeit aufgestellten Kriterien muß es sich um gravierende Verletzungen handeln, die zudem ein gewisses Ausmaß angenommen haben. Schließlich ist danach zu fragen, ob die Tibeter davon in besonderer Art und Weise betroffen sind. Im Hinblick auf das einschränkende Kriterium des Gewichts der Menschenrechtsverletzung ist die grundlegende Zielrichtung chinesischer Religionspolitik ausschlaggebend, nach der eine optimale Einbettung in das sozialistische Gesellschaftssystem angestrebt wird. Insbesondere die Ausrufüng eines Gegen-Panschen Lama durch die chinesische Regierung könnte in der Zukunft Bedeutung erlangen, da dieser traditionell für die Auffindung und Erziehung der Reinkarnation das Dalai Lama zuständig ist.808 Die Politik der Religionslenkung kommt zudem in der oben dargestellten Indoktrinierung und Überwachung sowohl der einfachen Mönche und Nonnen als auch hoher Würdenträger zum Ausdruck. Diese Maßnahmen finden sich im Grundsatz bereits in den eingangs dargestellten Dokumenten Nr. 19 und Nr. 6 wieder. 809 So wird die Einflußnahme auf religiöse Würdenträger im Dokument Nr. 19 Abschnitt (5) ausführlich behandelt. Abschnitt (8) befaßt sich insbesondere mit der Heranbildung einer neuen Klerusgeneration durch Ausbildungsse808 Allerdings hat der Dalai Lama bereits angekündigt, daß seine Reinkarnation nicht unter chinesischer Kontrolle geboren werde, wenn der sino-tibetische Dialog bis zu seinem Tod keine konkreten Ergebnisse brächte: Simon-Mick in Tibet-Forum 2/ 1997, 22. 809 Zu diesen Richtlinien schon S. 294.

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minare. Diese Generation soll die Heimat lieben sowie die Herrschaft der Partei und das sozialistische System unterstützen. Die sog. Patriotischen Religiösen Organisationen, von denen mindestens je eine für jede der größeren Glaubensrichtungen eingerichtet wurde, werden in Abschnitt (7) behandelt. Diese haben die Aufgabe, die staatliche Religionspolitik zu verwirklichen. Auch das Dokument Nr. 6 geht in Abschnitt (3) nochmals auf die Patriotischen Religiösen Organisationen ein. Sie werden darin als Brücke charakterisiert, über die sich die Partei mit religiösen Persönlichkeiten verbindet und sie erzieht. Insbesondere sei die Tradition der Selbsterziehung stärker zu fördern. In Abschnitt (2) finden sich gesetzlichen Maßnahmen zu dem offiziellen Zweck, die religiösen Aktivitäten in den gesetzlichen und politischen Rahmen einzubetten. Schon zur Frage des Genozids wurde ausgeführt, daß die chinesische Politik nicht auf eine unmittelbare Eliminierung der Religion gerichtet ist. 810 Die vorstehende Untersuchung hat jedoch ergeben, daß die VRC einerseits das Bekenntnis zu einer Religion sowie ihre Ausübung zuläßt, andererseits die religiösen Einrichtungen auf den Gebieten der Ausbildung und Verwaltung bis in den Bereich ritueller Handlungen hinein diszipliniert und unterwandert sowie religiöse Institutionen als halbstaatliche Einrichtungen schafft. Damit wird eine innere Aushöhlung der Religion vorangetrieben. Diese könnte ihre Vollendung damit erreichen, daß der von China ausgerufene Gegen-Panschen Lama, der zur Zeit unter Mitwirkung chinesischer (also dem Atheismus verpflichteter) Behörden erzogen wird, nach dem Tod des Dalai Lama entsprechend der tibetischen Tradition der höchste lebende Repräsentant des Lamaismus sein wird. Die grundsätzliche Religionspolitik ist daher zwar nicht auf Vernichtung, jedoch auf Einbettung der Religion in die sozialistische Gesellschaftspolitik gerichtet. Dieser Umgang mit der Religionsfreiheit wird durch eine Stellungnahme des chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng am 11.09.1996 veranschaulicht, danach soll die Religion dem Sozialismus dienen 811 Dadurch kann die Existenz einer Religion noch lange erhalten bleiben, die Religion als gelebtes Glaubensbekenntnis wird

810 811

Vgl. S. 259 f. USA-China country report 1996, 17.

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jedoch ihrer eigenständigen Entwicklung beraubt. Der tibetische Buddhismus wird damit auf einen "blinden Glauben" reduziert.812 Auch der Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch vom Oktober 1997 bestätigt diese subtilere Linie der Religionsunterdrückung. So weist der Bericht auf staatliche Beschränkungen der Religionsausübung hin, kommt jedoch insgesamt zu dem Ergebnis, daß systematische Gewaltanwendung gegenüber Gläubigen zurückgegangen sei. An deren Stelle sei eine strikter regulierte bürokratische Aufsicht 813 getreten. Diese Vorgehensweise ist bereits unter dem Blickwinkel internationaler Standards für den Minderheitenschutz bedenklich. Die eingangs der Erörterung aufgeführten Menschenrechtsdokumente betonen gerade das Recht religiöser Minderheiten auf das Praktizieren ihrer eigenen Religion. Die seitens der VRC geübte Praxis, offizielle Religionsinstitutionen für alle Glaubensrichtungen zu errichten und zugleich autarke Organisationen abzulehnen läßt sich damit nicht in Einklang bringen.814 Auch im Hinblick auf die allgemeine Gewährleistung der Religionsfreiheit im Völkerrecht stellt sich die propagandistische Tendenz chinesischer Religionspolitik insofern als gravierende Mißachtung dar, als wohl von einem unverletzlichen Kernbereich der Religionsfreiheit auszugehen ist. So sprechen gute Gründe dafür, daß für die Legitimation staatlicher Eingriffe eine "Wesensgehaltsgarantie" zu beachten ist. Diese ist in der AEMR in Artikel 30 verankert und findet sich auch in Artikel 5 Absatz 1 CCPR. Danach sind keine Handlungen zulässig, die auf die Vernichtung oder Abschaffüng der dort genannten Menschenrechte abzielen. Dieser Grundsatz ist auch für die Deklaration 36/55 anzunehmen. Dies folgt zum einen daraus, daß gemäß Artikel 1 die Gewährleistung dieses Rechtes ebenso wie in der AEMR und dem CCPR unter einem qualifizierten Eingriffsvorbehalt statuiert wird. Dies macht nur Sinn, wenn solche Eingriffe ein Recht nicht völlig beseitigen dürfen. Zudem ließe sich eine solche Bestandsgarantie auch aus Artikel 7 und 8

So Boss S. 162. Zu dieser Bewertung kommt auch der Tibetbericht des UN-Generalsekretärs S. 49 f Zif. 9, 10. Ebenso für die allgemeine Religionspolitik der VRC: Ko-

812

lodner in HRQ 16/1994, 476. 813 814

Vgl. dazu die Zusammenfassung in China aktuell, Oktober 1997, 961 Überblick (8). So Kolodner in HRQ 16/1994, 461 und 486 für Artikel 27 CCPR.

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der Deklaration 36/55 herleiten. 815 Durch die chinesische Religionspolitik wird in diesen Kernbereich der Religionsausübung eingegriffen, da dem Gläubigen die Freiheit der Wahl und Ausübung wenig nutzt, wenn er sich nur an staatlich gesteuerte Religionsgemeinschaften anlehnen kann. Die Beeinflussung der Glaubensinhalte ist damit von der Ebene der Einflußnahme auf Gläubige auf die vorgeschaltete Ebene der Formung religiöser Institutionen verlagert. Ungeachtet dieser Verlagerung ist das Ergebnis jedoch das gleiche, nämlich die Unmöglichkeit, sich zu einer autark definierten Religion zu bekennen. Damit stellt diese Religionspolitik eine erhebliche Verletzung der Religionsfreiheit dar, die sogar den Kernbereich dieses Rechtes tangiert. 816 Wie schon bei der Erörterung anderer Menschenrechtsverletzungen ist jedoch auch hier zunächst festzustellen, daß sich die Charakteristika der chinesischen Religionspolitik nicht nur auf die tibetischen Gebiete lamaistischen Glaubens, sondern auf die gesamte VRC mit ihren verschiedenen Religionsgemeinschaften erstrecken. Dies folgt bereits daraus, daß die erörterten Dokumente Nr. 19 und Nr. 6 sich auf die allgemeine Religionspolitik in China beziehen. Daneben existieren weitere Dokumente, die verschiedene Regionen und insbesondere christliche Gemeinschaften betreffen. 817 Auch werden zahlreiche Maßnahmen berichtet, die sich insbesondere gegen christliche Gemeinschaften in der VRC und die in Xinjiang beheimateten Moslems richten. 818 Insoweit wird für die Annahme einer Notwehrlage der Tibeter die Frage relevant, ob sie gleichwohl eine Sonderstellung im Vergleich zur übrigen Bevölkerung Chinas einnehmen. Allerdings ist davon auszugehen, daß sich das Ausmaß einer Maßnahme nicht nur nach dem objektiven Eingriff, sondern auch nach der besonderen gesellschaftlichen und kulturellen Situation der davon betroffenen Bevölkerung bestimmt. Unter dieser Prämisse können staatliche Maßnahmen in bezug auf bestimmte Menschenrechte eine Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer speziellen sozio815

Im Ergebnis ebenso Partsch in VN 3/1982, 85. Auch Sullivan in AJIL 82/1988, 496 weist auf die Notwendigkeit hin, die Eingriffsvorbehalte in diesem Sinn auszulegen. 816 Amor kommt in seinem Bericht S. 119 zwar hinsichtlich des Steuerungscharakters chinesischer Religionspolitik zu der gleichen Einschätzung, vermeidet es jedoch, diesen Punkt in seinen Schlußfolgerungen auf den Seiten 131 ff aufzugreifen. 817 Asia Watch-Report (2) S. 46 ff, Anhänge 3-12. 818 Vgl. grundsätzlich: USA-Country reports 1991, 822; 1993, 611 f. Für die christlichen Gruppen: ai-Report (3) S. 17, 34 ff; ai-Report (7) S. 81 ff; Asia Watch-Report (2) S. 1-11. Insbesondere zur Lage der Moslems: ai-Report (4) S. 12; Asia Watch-Report (2) S. 7 f; USA-Country reports 1991, 824.

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kulturellen Situation ungleich schwerer treffen. Im Unterschied zu den oben behandelten Fällen gibt die Frage der Religionsfreiheit Anlaß, eine solche Sonderstellung für die Tibeter zu erörtern. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die existentielle Bedeutung der Religionsfreiheit sowohl für das Individuum als auch für die soziale Gemeinschaft gar nicht überschätzt werden kann, da der einzelne seine Lebensgestaltung häufig stärker an religiösen oder weltanschaulichen Leitlinien ausrichtet als an nationalen Charakteristika. Dies trifft gerade im Falle der Tibeter in fast einzigartiger Weise zu. Die Entwicklung des Buddhismus zum dominanten Element der tibetischen Kultur sowie die Verschmelzung von Staat und Religion wird bereits auf das 13. Jahrhundert datiert. 819 Schließlich wurde Tibet seit 1642 bis 1950 formal und im Bewußtsein der Bevölkerung durch den jeweiligen Dalai Lama der buddhistischen Gelbmützensekte regiert. Es handelte sich demnach um eine jahrhundertealte Theokratie, deren Strukturen sich so tief in Kultur und Bewußtsein der Bevölkerung eingegraben haben, daß Religiosität und Nationalität untrennbar miteinander verbunden sind.820 Auch Besucher des heutigen Tibet kommen zu dem Ergebnis, daß die Religion nach wie vor den wesentlichen Teil der tibetischen Identität ausmacht. Besonders anschaulich ist dies im Bericht der österreichischen Expertendelegation formuliert. Darin heißt es zur aktuellen Religiosität der Tibeter: „Sie ist das Land, sie ist die Kultur, sie ist die Kunst, sie ist die Lebensweise der Menschen in Stadt und Land. "821 Auch der UN- Sonderberichterstatter Amor bemerkte bei seinem Besuch the extremely devout attitude perceptible in Tibet, the füll scale and extent has not, perhaps, been sufficiently appreciated so far. This factor must be taken into account when analysing the religious Situation in Tibet. "822 In den tibetischen Regionen außerhalb der Autonomen Region Tibet soll die Religion sogar noch stärker wieder aufle-

819

Dagyab Kyabgön Rinpoche bei Steckel S. 73, 75. Vgl. zum Buddhismus als Element des tibetischen Nationalcharakters: Dagyab Kyabgön Rinpoche bei Steckel S. 67 ff; Richardson S. 11 ff. Der Umstand, daß die Eigenständigkeit gegenüber China Schwankungen unterlag und daß über längere Perioden Regenten an Stelle der mindeijährigen Lamas herrschten, änderte an dieser Bewußtseinshaltung nichts. Die Eigenständigkeit des übetischen Buddhismus mag entscheidend zur Gleichsetzung von Nationalität und Religionszugehörigkeit beigetragen haben. 821 Bericht S. 5 Zif. 11. Auf S. 26 Zif. 9 wird die tibetische Religion als die Nationalität tragender Faktor bezeichnet. 822 Amor S. 133. 820

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ben. 823 Die Aushöhlung der Religion als Bindeglied der tibetischen Gemeinschaft fuhrt somit zugleich zur Zerstörung dieser Gemeinschaft. 824 Durch das Junktim von Religion und Gruppenidentität nehmen die Tibeter sowohl als Individuen als auch in ihrer Gesamtheit eine Sonderstellung gegenüber der mehrheitlichen Bevölkerung in der VRC ein, da sie durch die repressive Religionspolitik Chinas existentiell betroffen sind.825 Damit sind die Voraussetzungen einer Notwehrlage erfüllt. Den Tibetern ist daher im Hinblick auf die Verletzung ihrer Religionsfreiheit das Selbstbestimmungsrecht unter dem Notwehraspekt zuzubilligen. Da die beschriebene Situation nicht auf die Bevölkerung der Autonomen Region Tibet beschränkt ist, gilt das Gesagte für die in der VRC siedelnden Tibeter in ihrer Gesamtheit. Offen bleibt freilich die Frage, welche territorialen Konsequenzen aus dieser Feststellung zu ziehen sind, da sich die Abspaltung als Notwehrakt immer auf ein bestimmbares Siedlungsgebiet beziehen muß. Diese Frage soll im folgenden erörtert werden. 3.8. Personaler und territorialer Umfang des Sezessionsrechtes

Da alle in der VRC lebenden Tibeter in gleicher Weise von der staatlich gelenkten Umformung ihrer religiösen Wurzeln betroffen sind, steht das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht grundsätzlich den Tibetern in ihrer Gesamtheit zu. Damit ist der personale Anwendungsbereich hier größer als bei dem Selbstbestimmungsrecht in seinem Aspekt als Restitutionsanspruch, der nur für die tibetische Bevölkerung des ehemaligen tibetischen Staates von 1912 bis 1950 bejaht werden konnte. Fraglich ist, ob der erweiterte personale Anwendungsbereich zugleich einen entsprechend größeren territorialen Einzugsbereich zur Folge hat. 823

Ackerly bei Stecket S. 84. Nach Hool S. 88 käme eine Aufhebung der Religion in Tibet der Aufhebung der tibetischen nationalen Identität gleich. In diesem Sinn auch Bass S. 138; Meindersma bei Steckel S. 30 f; Dagyab Kyabgön Rinpoche bei Steckel S. 78 f. Vgl. auch die Beschreibung der, fast dreißig Jahre nach 1959 erstmals wieder erlaubten, Feierlichkeiten zum Monlam-Fest bei Bass S. 148 ff. 825 So wird in den USA-Country reports 1993, S. 611 hervorgehoben, daß die Führer der Han-Buddhisten im allgemeinen mit der Regierung kooperieren und es von ihrer Seite wenig Beschwerden über staatliche Restriktionen gäbe. Selbst wenn andere Minderheiten, etwa die muslimischen Uiguren in Xinjiang, eine ähnliche Affinität aufweisen sollten, wird dieser Befund nicht in Frage gestellt. Der Tatbestand einer Notwehrlage impliziert nicht, daß eine Bevölkerungsgruppe als einzige von einer Menschenrechtsverletzung entsprechend schwer betroffen wird. 824

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3.8.1. Demographische Problematik

Die tibetische Bevölkerung Chinas lebt zu 99,8% innerhalb eines geschlossenen Siedlungsgebietes, das nördlich und östlich weit über das Territorium der Autonomen Region Tibet hinausgeht. Diesem Umstand hat auch die chinesische Regierung Rechnung getragen, indem sie in den an die Autonome Region Tibet angrenzenden Provinzen eigenständige Verwaltungseinheiten für die mehrheitlich von Tibetern bewohnten Gebiete geschaffen hat. 826 Nach offiziellen chinesischen Angaben leben von den insgesamt 4,59 Millionen Tibetern sogar über 50% (nämlich 2,494 Millionen) in diesen Gebieten außerhalb der Autonomen Region Tibet. 827 Dabei fällt auf, daß das von der tibetischen Seite beanspruchte sog. historische Tibet (Groß-Tibet) in seinen Grenzen in etwa dem Gebiet entspricht, das entsteht, wenn man alle sog. tibetischen autonomen Bezirke und Kreise mit Qinghai und der Autonomen Region Tibet ver-

Ausgangspunkt der Erörterung ist somit zum einen, daß sich die Tibeter in ihrer Gesamtheit in einer Notwehrlage befinden und ihnen das Selbstbestimmungsrecht somit auch als Gruppe zusteht. Zum anderen ist festzustellen, daß diese Gruppe innerhalb eines abgrenzbaren Siedlungsgebietes, nämlich Groß-Tibets lebt. Insoweit könnte es naheliegend erscheinen, den Tibetern ein Sezessionsrecht bezogen auf dieses Territorium, das heißt auf Groß-Tibet, zuzugestehen. Es wurde aber ebenfalls bereits dargelegt, daß in dem Falle, daß die Ansiedlung des Mehrheitsvolkes auf dem Gebiet der Minderheit zu starken demographischen Veränderungen gefuhrt hat, unter Umständen auch das Selbstbestimmungsrecht dieses Bevölkerungsteils berücksichtigt werden muß. Daher sind auch an dieser Stelle der Untersuchung die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur zu berücksichtigen.

826

Vgl. dazu schon S. 184 und für den Gesamtumfang des Gebietes im Anhang Karte (1). Vgl. als kartographische Übersicht: Times-Atlas of China S. XXXVI f. Vgl. auch: Jing Wei: 100 Fragen S. 78 fund 101 f; ai-Report (1) S. 12. 827 Vgl. dazu Tibetweißbuch S. 55 f; zur Verteilung auf die Gebiete außerhalb der Autonomen Region Tibet für die vorangegange Zahlung von 1982: Jing Wei: 100 Fragen S. 79. 828 Vgl. die Karte im Tibetbericht der Internationalen Juristenkomission von 1997. Dies ergibt auch ein Vergleich der kartographischen Angaben für die administrativen Einheiten im Times-Atlas of China S. XXXVI f. mit der Tibet-Karte im Einband von Tibetan Young Buddhist Association: Tibet-The Facts.

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Die Frage, welches Zahlenverhältnis zwischen Tibetern und HanChinesen in Groß-Tibet insgesamt besteht ist sehr umstritten. 829 Entsprechend dem unterschiedlichen historischen Status der einzelnen Regionen Groß-Tibets ist aber auch an dieser Stelle zwischen der Autonomen Region Tibet und Rest-Tibet zu unterscheiden. Für das Gebiet der Autonomen Region Tibet als unter Verstoß gegen das Gewaltverbot annektiertes ehemaliges tibetisches Staatsgebiet wurde bereits zweierlei festgestellt. Zum einen ist die Anzahl der zwischenzeitlich immigrierten Han-Chinesen als absolute Größe jedenfalls gegenwärtig zu gering, um einem Selbstbestimmungsanspruch der tibetischen Gebietsbevölkerung entgegenzustehen. Zum anderen wäre es auch dann fragwürdig, der chinesischen Bevölkerung eine Art Vetorecht gegen die Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechts zuzubilligen, wenn ihre Anzahl höher wäre, da die forcierte ethnische Unterwanderung eines annektierten Gebietes vom Völkerrecht geächtet wird. 830 Anders stellte sich die Lage für Rest-Tibet dar, wo nach unterschiedlichen Schätzungen ebenso viele oder gar doppelt so viele Nicht-Tibeter (insbesondere Han-Chinesen) wie Tibeter leben. Dabei konnte offen bleiben, ob sich dieses Zahlenverhältnis auf eine staatliche Ansiedlungspolitik zurückfuhren läßt. Da die Gebiete jedenfalls nach dem seinerzeit geltenden Völkerrecht rechtmäßig in den chinesischen Staatsverband eingegliedert wurden, unterfallt der Zuzug von Han-Chinesen in diese Region keinem völkerrechtlichen Verdikt. Damit hätte die chinesische Gebietsbevölkerung aber auch Teil an dem Recht, über ihren Status frei zu entscheiden. Außerdem leben in der zu Rest-Tibet gehörenden Region Amdo noch Angehörige nationaler Minderheiten, deren Anzahl dort

829

Wie bereits dargelegt leben nach offizieller chinesischer Darstellung nur 4,59 Millionen Tibeter in ganz China. Im übrigen unterteilt die VRC ihre Zahlenangaben nach Provinzen und Autonomen Regionen. Die pro-tibetische Seite geht demgegenüber von sechs Millionen Tibetern und ca. siebeneinhalb Millionen Chinesen in Groß-Tibet aus. So: v. Walt (3) S. 2, 11; Hannum S. 426; Informationsbulletin des Vertretungsbüros S. H. des Dalai Lama, September 1989: Population transfer; The Office of Tibet Zürich, September 1987: Das heutige Tibet in Stichworten. Allerdings hat Hool S. 76 nachgewiesen, daß diese Angaben für die tibetische Bevölkerung einer Überprüfung anhand früherer tibetischer Angaben nicht stand halten, vgl. auch bei Hool die tabellarische Gegenüberstellung der verschiedenen Standpunkte S. 77 ff. 830 Vgl. dazu S. 180 f.

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in etwa der Größe der tibetischen Bevölkerung entspricht. 831 Die demographische Zusammensetzung Rest-Tibets müßte daher mitberücksichtigt werden. Die Besonderheit liegt also darin, daß in etwa 50% des Gebietes, nämlich in Rest-Tibet, keine ethnisch homogene Bevölkerung lebt. Vielmehr teilen sich die Tibeter dieses Gebiet mit einer wohl ebenso großen Gruppe bestehend aus anderen Minderheiten sowie einer weitaus größeren Bevölkerungsgruppe aus Han-Chinesen. Diese Gruppen können eine eigenständige Rechtsposition gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Tibeter in diesem Gebietsteil geltend machen. Insoweit weist das Kollektiv der tibetischen Rechtsträger unterschiedliche Voraussetzungen auf. 3.8.2. Überlegungen in der Literatur

Eine schematische Lösung für das gerade beschriebene Problem bereitet Schwierigkeiten. Aus der Praxis zu Bangladesch lassen sich dafür keine Schlußfolgerungen gewinnen, da die abspaltungswillige Bevölkerungsgruppe bereits auf einem geographisch abgetrennten Gebiet lebte. Schließlich finden sich auch in der Literatur kaum Ansätze zur Lösung dieses Problems. Dinstein hält in den Fällen, in denen ein Gebiet von mehreren Völkern bewohnt wird, die Teilung des Gebietes für die einzige Lösung. 832 Dieser Vorschlag läßt aber die möglicherweise unterschiedliche Rechtsposition der Gebietsbevölkerung unberücksichtigt. Außerdem hilft dieser Vorschlag gerade für die Frage, auf welcher Grundlage diese Gebietsteilung vorgenommen werden soll, nicht weiter. Im übrigen beschränkt sich die Fragestellung in der Literatur darauf, ob die sezessionswillige Bevölkerung auf einem geographisch abgetrennten Siedlungsgebiet leben muß, oder ob es genügt, daß sie in einem vorgegebenen Gebiet die Bevölkerungsmehrheit stellt. In dieser Arbeit wurde der letztere Standpunkt vertreten. 833 Bezogen auf Groß-Tibet kann diese Voraussetzung, wie dargelegt, insofern nicht bejaht werden, als die Hälfte des Territoriums zumindest partiell mehrheitlich von HanChinesen bewohnt wird, die nicht von dem Selbstbestimmungsrecht der 831

Vgl. zu den Zahlenverhältnissen sowie den in Betracht kommenden Minderheitenrechten der Tibeter unter D. V. 3.6. (S. 288 ff). Vgl. auch allgemein S. 241 ff. 832 Dinstein in ICLQ 25/1976, 110. 833 Vgl. S. 228 f.

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Gebietsbevölkerung ausgeschlossen werden können. Da aber die Tibeter nur in einem Teil ihres Siedlungsgebietes nicht die Mehrheit stellen, kann dieser Umstand auch kein Grund fiir die generelle Unzulässigkeit der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts sein. Andererseits erscheint es auch nicht angemessen, die tibetische Bevölkerung Rest-Tibets a priori von dem Selbstbestimmungsrecht als Selbsthilferecht auszuschließen, da sie sich in der gleichen Notwehrlage befindet wie die Tibeter in Zentral-Tibet. Anderenfalls könnte das bereits an strenge Voraussetzungen gebundene Notwehrrecht nur allzu leicht durch eine gezielte Siedlungspolitik ausgehebelt werden. Für die weitere Überlegung muß somit mangels spezieller Ansätze in der Doktrin zum Selbstbestimmungsrecht auf allgemeine Prinzipien zurückgegriffen werden. Dafür bieten sich das uti possidetis-Prinzip und das Verfahren des Plebiszits an. 3.8.3. Das uti possidetis-Prinzip

Nach dem Prinzip des uti possidetis iuris richten sich die Grenzen eines Staates nach der Demarkation, die das Gebiet vor Erlangung der Unabhängigkeit bezeichnete. Dies sind in der Regel koloniale oder administrative Grenzen.834 Ursprünglich kam dieses Prinzip in Lateinamerika und Afrika zur Anwendung. So verabschiedete die OAU bereits 1964 eine Resolution, nach der sich alle Mitgliedsstaaten verpflichteten, die im Zeitpunkt ihrer nationalen Unabhängigkeit bestehenden Grenzen zu respektieren.835 Der IGH hat in seinem Burkina Faso/Mali-Fall unter Verweis auf diese Praxis festgestellt, daß „ uti possidetis, as a principle which upgraded former administrative deliminations, established during the colonial period, to international frontiers, is therefore a principle of a general kind which is logically connected with this form of decolonization wherever it occurs". 36 In der jüngsten Praxis zu den sowjetischen und jugoslawischen Nachfolgerepubliken wurde die Tendenz deutlich, das Prinzip des uti possidetis generell auf die Grenzzie-

834

Vgl. dazu Wooldridge in EPIL (10), 519 ff sowie zur territorialen Einheit ehemaliger Kolonien auf der Grundlage kolonialer Grenzen: GA-Resolution 34/91 v. 12.12. 1979 Zif. 1. 835 Resolution AGH/Res 16(1) vom 21.07.1964 verabschiedet in Kairo, Text zum Beispiel bei Brownlie (3) S. 360 f. 1CJ Reports 1986, 566 Zif. 23, vgl. zur Herleitung: S. 554 ff, 567 Zif. 25 f; kritisch sep. Op. Luchaire S. 652 f, nach der das Selbstbestimmungsrecht nicht zwingend zur Unabhängigkeit innerhalb der früheren Kolonialgrenzen führen muß.

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hung für neu entstandene Staaten anzuwenden.837 Gleichfalls gewahrt wurde dieses Prinzip bei der Sezession Eritreas von Äthiopien, die ebenfalls außerhalb des ursprünglichen kolonialen Anwendungsbereichs erfolgte. Eine konsequente Anwendung dieses Prinzips auf die Neugründung eines tibetischen Staates als Notwehrakt erscheint indes fraglich. Nach diesem Prinzip müßte an die gegenwärtige Grenze zwischen der Autonomen Region Tibet und der restlichen VRC angeknüpft werden. Damit geriete die Umsetzung des Notwehrrechtes jedoch in Widerspruch mit seinem Anwendungszweck, nämlich der (gesamten) betroffenen Bevölkerung ein ultima ratio-Mittel zu gewähren. Folglich wäre es nur sinnvoll, das Territorium hier über das Rechtsträgerkollektiv zu bestimmen, das geschützt werden soll. Unter diesem Ansatz sind aber die gegenwärtigen administrativen Grenzen grundsätzlich unbeachtlich. Anderenfalls würde dem Territorialprinzip ein Vorrang gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht eingeräumt. Ein solcher Vorrang wurde jedoch schon für den Grundsatz der territorialen Integrität verneint.838 Auch hier lassen sich dafür keine Anhaltspunkte finden. Zudem ergibt sich aus einer anderen Stellungnahme des IGH, daß das uti possidetis-Prinzip nicht zwingend mit der Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts verknüpft werden muß. So hat das Gericht in seinem West-Sahara Gutachten festgestellt „The right of self-determination leaves the General Assembly a measure of discretion with respect to the forms and procedures by which that right is to be realized".839 Hilfsweise könnte allenfalls auf die anhand ethnischer Merkmale vorgenommene administrative Untergliederung der angrenzenden Provinzen Bezug genommen werden. So wurden auf dem hier als Rest-Tibet bezeichneten Gebiet in der Zeit von 1951 bis 1967 unterhalb der Provinzorganisation sog. autonome Bezirke eingerichtet, die ihre Grundlage gerade in dem überwiegenden Anteil einer nationalen Minderheit in diesem Gebiet hatten. Sämtliche an die Autonome Region Tibet angren837

Vgl. S. 100, 102. Allerdings weist Türk in EJIL 4/1, 1993, 70 darauf hin. daß das Prinzip damit erstmals unmittelbar in Europa angewendet wurde. Vgl. zum Echo in der Literatur auf die Anwendung des uti possidetis-Prinzips im Falle Jugoslawiens Kapitel D. Fn. 29. 838 Vgl. dazu unter C. III. 2.2. (S. 89 ff). Zum Konflikt des uü possideüs-Prinzips mit dem Selbstbesümmungsrecht tendenziell wie hier auch Wooldridge in EPIL (10) S. 520. 839 ICJ Reports 1975, 36.

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zenden autonomen Bezirke der umgebenden Provinzen sind auf eine, zumindest im Zeitpunkt ihrer Gründung bestehende, Majorität der Tibeter gegründet. Allerdings decken diese eben nicht das gesamte Gebiet Rest-Tibets ab, da dafür noch weitere Teile der Provinz Qinghai hinzukommen müßte.840 Außerdem weisen inzwischen infolge chinesischer Zuwanderung nicht mehr alle diese Bezirke eine ethnische Homogenität im tibetischen Sinn auf.841 Daher müßte eine territoriale Abgrenzung aufgrund der faktischen Verhältnisse vorgenommen werden. Insoweit dürften wohl die direkt an die Autonome Region Tibet angrenzenden autonomen Bezirke ethnisch homogener sein, so daß die Tibeter auch noch über die Autonome Region Tibet hinaus die Bevölkerungsmehrheit stellen.842 Inwieweit unter diesem Gesichtspunkt eine exakte Grenzziehung möglich ist, erscheint aber ungewiß. Zum einen fehlt es derzeit an exaktem Zahlenmaterial, zum anderen ist nicht ausgeschlossen, daß dieses Vorgehen zur Entstehung von Enklaven fuhrt, die ihrerseits wieder den Grundstein für Instabilität bilden. 3.8.4. Grenzziehung durch Plebiszit

Bereits das IGH Gutachten zur West Sahara enthält Ausführungen zur „ validity of the principle of self-determination, defined as the need to pay regard to the free expressed will of peoples... ". Auch in der Literatur wird häufig auf das Mittel des Plebiszites zur Ermittlung des Volkswillens im Rahmen der vom Selbstbestimmungsrecht gewährleisteten freien Statuswahl hingewiesen.843 Deshalb könnte zunächst daran gedacht werden, das Sezessionsrecht an eine Abstimmung unter der Gesamtbevölkerung Rest-Tibets (einschließlich der zugezogenen Han-Chinesen) zu knüpfen. Dieses Junktim erscheint jedoch angesichts des Notwehraspektes nicht zulässig. So 840

Dazu bereits S. 184,313. Vgl. zur aktuellen Bevölkerungsstruktur schon oben unter D. V. 3.6. 842 So sollen nach tibetischen Angaben in dem an die Art grenzenden autonomen Bezirk Ganzi (auch: Kanze) von den 800.000 Einwohnern 76% Tibeter sein: T. I. N.-News Update vom 10.11.1990, S. 13. 84 ' Vgl. ICJ Reports 1975, 33. Aus der Literatur: Frowein bei Tomuschat (Modern Law of Self-Determination) S. 217; Nowak Artikel 1 Rn. 32; Cassese S. 102, Thürer (Das Sbr) S. 135; Gros-Espiell S. 29 f, § 62; Cristescu S. 46, § 305. Vgl. auch Artikel 9 lit. b) des Pariser Friedensvertrages zur Beendigung des Vietnamkrieges, Text in ArchdG 43/1973, 1762 ff. Kritisch zur Grenzfesüegung durch Plebiszit als Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts: Bothe in EPIL (10) S. 19. 841

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wurde die Notwehrlage nur für die tibetische Bevölkerung bejaht, da gerade diese von den staatlichen Maßnahmen in einem gravierenden Ausmaß betroffen ist. Es wäre daher widersprüchlich und der Schutzrichtung dieses Rechtes nicht angemessen, die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts als Notwehrakt an den Willen jenes Bevölkerungsteils zu koppeln, der sich eben nicht in dieser Notwehrlage befindet. Daher scheidet diese Möglichkeit aus. Auch die Internationale Juristenkommission schlägt für Tibet die Abhaltung eines Referendums vor. Aus der Staatenpraxis leitet sie das Kriterium ab, daß die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts derjenigen Gebietsbevölkerung zustehe, die „a genuine and demonstrable link to a territory and ist original Community" aufweise. Diese Verbundenheit könne auch durch einen langjährigen Aufenthalt in dem Gebiet, Annäherung an Sprache und Kultur sowie aus dem Willen erwachsen, künftig dort zu leben und Teil der Gemeinschaft zu werden. Die Juristenkommission fordert daher ein Referendum in Tibet unter Überwachung der UNO, bei dem alle Personen und deren Nachkommen stimmberechtigt sein sollen, die vor dem Einmarsch Chinas im Jahr 1950 dort lebten, ebenso wie alle Flüchtlinge und deren Nachkommen. Das Referendum soll dabei in allen Gebieten abgehalten werde, in denen die Tibeter vor 1950 die Mehrheit stellten sowie unter den Exiltibetern. 844 Die Lösung der Internationalen Juristenkommission würde zunächst dazu fuhren, daß einige Regionen Groß-Tibets von dem Referendum per se ausgeschlossen wären, obwohl sich die Tibeter auch dort in einer Notwehrlage befinden. Es handelt sich dabei um Regionen, in denen die Tibeter auch schon vor 1950 in der Minderheit waren. Wie bereits erwähnt trifft dies insbesondere für Teile der Region Amdo zu, die traditionelle Siedlungsgebiete der Han-Chinesen, Hui und Mongolen sind. Ferner kam die vorliegende Untersuchung zu dem Ergebnis, daß die Tibeter in "Rest-Tibet" lediglich den Status einer Minderheit haben, die grundsätzlich nicht vor innerstaatlichen Bevölkerungsverschiebungen geschützt ist. Danach haben aber auch zumindest die nicht nur befristet zugezogenen chinesischen Zivilisten ein legitimes Interesse auf Mitentscheidung über die Zukunft ihrer neuen Heimat. Denkbar wäre eine Kombination des Plebiszitverfahrens mit dem Grundsatz des uti possidetis. So könnten in den wegen ihrer ursprüng844

Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 344 f.

320

Fallgruppen

lieh tibetischen Bevölkerungsmajorität eingerichteten autonomen Bezirke Abstimmungen unter der gesamten Zivilbevölkerung abgehalten werden. Unter der Prämisse, daß von diesen Gebieten zumindest die unmittelbar an die Autonome Region Tibet angrenzenden immer noch mehrheitlich von Tibetern bewohnt werden, müßten Ergebnisse zu erwarten sein, die der differenzierten Bevölkerungsstruktur Rechnung tragen. Allerdings wäre wohl auch nach diesem Verfahren die Bildung von Enklaven nicht völlig ausgeschlossen. 3.8.5. Schlußfolgerung

Eine ähnlich genaue Bestimmung des territorialen Anwendungsbereichs wie im Falle des Selbstbestimmungsrechts als Restitutionsanspruchs ist somit an dieser Stelle nicht möglich. Zunächst fehlt es dafür noch an Sachverhaltsaufklärung über die Bevölkerungsverhältnisse, die nur von Seiten der chinesischen Regierung erfolgen könnte. Zum anderen lassen sich aber auch weder aus der Praxis noch aus der Völkerrechtsdogmatik hinreichende Vorgaben für eine konkrete territoriale Anknüpfung gewinnen. Ferner darf nicht übersehen werden, daß alle für die Tibeter eingerichteten Autonomen Zonen einschließlich der Autonomen Region Tibet etwa 25% des gesamten chinesischen Staatsgebietes ausmachen. 845 Das Szenario, unter dem China ein solcher Gebietsverlust, selbst bei bloßer innerer Autonomie dieses Gebietes dauerhaft abgetrotzt werden könnte, scheint zur Zeit nicht vorstellbar. Eine Lösung des Problems wird letztlich auch unter günstigsten Umständen nur auf dem Verhandlungswege unter Beachtung der beiderseitigen Interessen von Tibetern und Chinesen gefünden werden können. Die Abhaltung von Plebisziten in den für die Tibeter eingerichteten autonomen Bezirken könnte dafür eine Grundlage sein. Einige Parameter lassen sich gleichwohl aufstellen. So ist festzustellen, daß das bevölkerungsreichste und auch kulturelle Hauptgebiet Tibets im Süden liegt und sich von Zentral-Tibet bis in den Ostteil Sichuans erstreckt. 846 Auch scheinen die Tibeter gerade in diesem Areal noch die mehrheitliche Bevölkerung zu stellen. Die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts sollte sich daher territorial zumindest auf diese Gebiete erstrecken. Außerdem ist kein Grund ersichtlich, die kaum bewohnten Gebiete im Norden der Autonomen Region Tibet, die traditionelles 845 846

Tibetbericht der Internationalen Juristenkommission von 1997 S. 309 Fn. 438. Vgl. Richardson S. 3; Bell (1) S. 10, 15; Shen/Liu S. 11, 14; Karan S. 7 f.

Fallgruppen

321

tibetisches Territorium darstellen, nicht auch einzubeziehen. Die so umrissene Region bildet somit die Mindestanforderung an den territorialen Umfang des Selbstbestimmungsrechts. Bei genauerer Kenntnis der Zahlenverhältnisse in den daran angrenzenden Regionen müßte dieser Kernbereich gegebenenfalls ausgeweitet werden. Daneben ist aber auch zu beachten, daß die außerhalb dieses Gebietes lebenden Tibeter vom Schutzzweck des Selbstbestimmungsrechts als Notwehrrecht umfaßt werden. Soweit eine über den beschriebenen Mindestumfang hinausgehende Zusammenfuhrung der traditionellen tibetischen Siedlungsgebiete nicht erfolgt, sollte die übrige Bevölkerung daher auch die Möglichkeit erhalten, sich frei für die Umsiedlung in das neu geschaffene Gebiet zu entscheiden. 3.9. Ergebnis zum Notwehrrecht der Tibeter Die Voraussetzungen für die Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechts als Notwehrrecht sind für die Tibeter gegeben. Allerdings mußten zahlreiche Menschenrechtsverletzungen außer Betracht bleiben, da sie nicht den restriktiven Anforderungen an eine Notwehrlage im hier definierten Sinn genügten. Dennoch wurde eine Notwehrlage bejaht wegen schwerwiegender Verletzungen der Religionsfreiheit, die in den Kernbereich dieses Rechtes eingreifen. Das damit verbundene Notwehrrecht steht der tibetischen Bevölkerung Chinas in ihrer Gesamtheit zu, da sie von dieser Notwehrlage wegen ihrer Zugehörigkeit zu der religiösen Gemeinschaft als solche betroffen sind. Dennoch bedeutet dies nicht notwendig, daß sich das Sezessionsrecht auf das gesamte von Tibetern bewohnte Territorium erstreckt. Ein Hindernis hierfür ist insbesondere die umfangreiche Ansiedlung von Han-Chinesen sowie anderen Minderheiten in einem Teil des Gebietes. Eine schematische Lösung aus Praxis und Dogmatik konnte nicht ermittelt werden. Auch fehlt es dazu noch an Sachverhaltsaufklärung, die hier nicht geleistet werden kann. Jedenfalls sollte das vom Selbstbestimmungsrecht umfaßte Gebiet die heutige Autonome Region Tibet und die östlichen Regionen mit dem stärksten tibetischen Bevölkerungsanteil außerhalb der Autonomen Region Tibet umfassen.

322

Fallgruppen

VI. Zusammenfassung der einschlägigen Fallgruppen 1. Das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch Den Tibetern steht zum einen das Selbstbestimmungsrecht in seiner Ausprägung als Restitutionsanspruch zu. Ausgangspunkt für die Bejahung des Restitutionsanspruchs ist die Feststellung, daß die Tibeter von 1913 bis 1950 in einem unabhängigen Staat mit voller Souveränität lebten. Dieser Staat wurde 1950 von der VRC annektiert. Damit stand den Tibetern als Staatsvolk zunächst das Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht gegen die von China errichtete Fremdherrschaft zu. Auch wenn das Selbstbestimmungsrecht zum Zeitpunkt der Annexion noch nicht zu einem bindenden Recht erstarkt war, so ist doch von einer andauernden Staatlichkeit Tibets auch noch für den Zeitraum auszugehen, in dem sich das Selbstbestimmungsrecht zu Völkergewohnheitsrecht verdichtete, da der Annexion als solcher wegen ihrer Völkerrechtswidrigkeit keine Rechtswirkung zukommt. Seit 1959 begann sich die Einverleibung Tibets jedoch zunehmend zu konsolidieren, so daß vom gegenwärtigen Standpunkt aus mit einer Wiedererrichtung des Staates in seiner ursprünglichen Form nicht mehr gerechnet werden kann. Eine Fiktion fortbestehender Staatlichkeit trotz fehlender Regierungsgewalt kann daher nicht aufrechterhalten werden. Mit dem Untergang des tibetischen Staates infolge des Konsolidierungsprozesses scheidet aber auch das Abwehrrecht zur Verteidigung der staatlichen Souveränitätsrechte aus. Allerdings ist das existentielle Schicksal eines Staatsvolkes nicht eo ipso mit dem des Staates verknüpft. So wandelt sich bei fortbestehender nationaler Identität das Abwehrrecht in einen Anspruch auf Wiedererlangung der Staatlichkeit um. Den Tibetern als "ehemaligem" Staatsvolk steht daher das Selbstbestimmungsrecht als Restitutionsanspruch zu. Diese Rechtsposition bezieht sich jedoch nur auf den Teil der Tibeter, über die der untergegangene Staat auch Personalhoheit ausüben konnte. Da das ehemalige Staatsgebiet sich auf das Territorium der heutigen Autonomen Region Tibet beschränkte, steht der Restitutionsanspruch auch nur der Bevölkerung dieses Territoriums zu. 2. Das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht Den Tibetern ist auch das Selbstbestimmungsrecht in der Funktion eines Notwehrrechtes zuzuerkennen. Bei dieser Fallgruppe bleiben Fragen

Fallgruppen

323

des Gebietsstatus unberücksichtigt. Vielmehr beinhaltet das Selbstbestimmungsrecht in dieser Ausprägung ein Sezessionsrecht für Bevölkerungsteile innerhalb eines Staates. Dieses Recht hat eine durch den Staat verschuldete Notwehrlage gerade dieser Bevölkerungsgruppe zur Voraussetzung. An die Feststellung dieses Tatbestandes sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen, da das Selbstbestimmungsrecht auch in dieser Form kein Sanktionsinstrument gegen Menschenrechtsverletzungen ist. Der Tatbestand war für die Tibeter letztlich unter dem Aspekt zu bejahen, daß schwerwiegende Eingriffe in den Kernbereich des Rechtes auf Religionsfreiheit festgestellt werden mußten, die in ihren Auswirkungen den Anforderungen an eine Notwehrlage genügen. Da die Notwehrlage für die Tibeter als religiöse Gruppe insgesamt bejaht wurde, steht das Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht grundsätzlich der gesamten tibetischen Bevölkerung in der VRC zu. Die territoriale Erstreckung des damit verbundenen Sezessionsrechtes folgt im Prinzip der Ausdehnung des von dieser Gemeinschaft geschlossen eingenommenen Siedlungsgebietes. Problematisch ist allerdings, daß die Tibeter in einem Teil dieses Siedlungsgebietes nicht mehr die Bevölkerungsmehrheit stellen. Das Selbstbestimmungsrecht der zugezogenen Han-Chinesen sowie anderer Minderheiten kann nicht ohne weiteres zugunsten des Selbstbestimmungsrechts der Tibeter übergangen werden. Aufgrund der bestehenden Unsicherheit in bezug auf die demographischen Fakten und der offenen Dogmatik in dieser Frage konnten nur Ansätze für die Problemlösung entwickelt werden. Danach sollte das tibetische Gebiet zumindest die heutige Autonome Region Tibet und angrenzende östliche Gebiete umfassen Für diese angrenzenden Gebiete kann die Abhaltung von Plebisziten unter Beachtung des uti possidetis-Prinzips die Grundlage sein. Mit dieser Zuteilung sollte eine Einwanderungsregelung für die übrigen Tibeter außerhalb dieses neuen Territoriums verbunden werden. 3. Das Selbstbestimmungsrecht bei Staatendismembration

Eine Sonderstellung nimmt das Selbstbestimmungsrecht für einzelne Bevölkerungsgruppen im Falle der Staatendismembration ein. Wenn ein multinationaler Staat zerfallt, können aus ihm mehrere souveräne Einzelstaaten hervorgehen. Allerdings ist die VRC vom heutigen Standpunkt aus nicht in der akuten Gefahr sich aufzulösen. Daher war diese Fallgruppe als nicht einschlägig abzulehnen. Jedoch ist die VRC als

324

Fallgruppen

großer Staat mit 56 anerkannten Nationalitäten trotz der starken chinesischen Bevölkerungsmajorität bereits potentiell anfällig für einen solchen Vorgang. Diese Einschätzung wird noch dadurch verstärkt, daß die VRC ein gesellschaftspolitisches System unterhält, das sich gerade in den letzten Jahren mit den Zusammenbruch der UdSSR und der sog. Ostblock-Staaten als langfristig instabil erwiesen hat. Auch wenn derzeit keine Anzeichen für einen Staatszerfall vorliegen und diese Entwicklung wegen ihrer möglichen Risiken für den internen und externen Frieden auch nicht propagiert werden sollte, rechtfertigten die genannten Umstände eine etwas ausführlichere Behandlung innerhalb der Arbeit sowie die Erwähnung an dieser Stelle.

Nachwort Nach den Ergebnissen dieser Arbeit kann festgestellt werden, daß den Tibetern als Volk das Recht auf Selbstbestimmung zusteht. Gleichwohl hat sich die internationale Staatengemeinschaft in den letzten Jahren mit Rücksicht auf das ständige Sicherheitsratsmitglied China allenfalls in Menschenrechtsgremien mit der Tibet-Frage befaßt. Von konkreteren Schritten, die über die Erörterung von Resolutionsentwürfen in der Menschenrechtskommission hinausgehen, ist sie jedoch weit entfernt. Eine generelle Verpflichtung der Staatengemeinschaft, unter bestimmten Voraussetzungen Maßnahmen zur Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts zu ergreifen, kann den einschlägigen Dokumenten nicht entnommen werden. So ist die mehrfach statuierte allgemeine Pflicht zur Förderung des Selbstbestimmungsrechts doch zu allgemein gehalten, um als Einschränkung staatlichen Handlungsspielraums im Sinne einer Verpflichtung zu aktiven Maßnahmen interpretiert werden zu können. 1 Auch die Praxis bietet keine Anhaltspunkte dafür, daß die Staaten das Ergreifen von oder die aktive Teilnahme an Sanktionen und ähnlichen Maßnahmen nicht als in ihre souveräne Entscheidung fallend angesehen haben. 2 Zu bedenken ist jedoch, daß eine Norm zu ihrer Festigung im Völkerrecht auch der internationalen Beachtung und Anwendung im konkreten Fall bedarf. Insofern kann der Zweck dieser allgemeinen Förderungspflicht nur dann erreicht werden, wenn alle Staaten einen Fall der Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts nicht reaktionslos hinnehmen, da dies einer acquiescence gleich käme, durch die das Selbstbestimmungsrecht als Norm mit der Zeit ausgelöscht würde. Aus der allgemeinen Förderungspflicht ergibt sich somit zugleich die Aufgabe, eine Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts eindeutig als Verstoß gegen das Völkerrecht zu brandmarken. Dies führt zu der Schlußfolgerung, daß die Staatengemeinschaft zum Beispiel unter dem Dach der UNO angehalten ist, Fälle konkreter Mißachtung nicht

1 Vgl. schon die GA-Resolution 2131 v. 21.12.1965, Zif. 6. Die Deklaration 2625 (XXV) v. 24.10.1970 statuiert in den Absätzen 2 und 3 ihres Selbstbestimmungsabschnitts die Pflicht eines jeden Staates, die Verwirklichung des Prinzips der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker sowie die Menschenrechte zu fordern. 2 Ebenso: Hailbronner in ArchVR 30/1, 1992, 11. So hat sich Deutschland unter Hinweis auf seine Verfassung nicht an militärischen Maßnahmen gegen den Irak während des sog. Golfkrieges im Jahr 1991 beteiligt.

326

Nachwort

schweigend hinzunehmen, sondern zumindest verbal für die Beachtung des Selbstbestimmungsrechts als Norm des Völkerrechts einzutreten. Für Tibet bedeutet dies, daß Appelle an Staaten zur Ausübung diplomatischen Drucks auf China oder zum Ergreifen anderer Maßnahmen zwar legitim sind, diese Staaten aber allenfalls moralisch, nicht jedoch im Sinne des Völkerrechts verpflichtet sind, solche Maßnahmen zu ergreifen. Allerdings besteht eine Verpflichtung der Staatengemeinschaft, das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern explizit gegen seine Mißachtung durch die VRC Stellung zu beziehen. Daher sind Forderungen, die UNO solle die Tibet-Frage wieder auf ihre Tagesordnung setzen, berechtigt. Angesichts des jahrzehntelangen Stillschweigens zum Beispiel in der Generalversammlung der UNO wäre bereits dies ein bedeutender Fortschritt.

Anhang

* ohne die an Indien und Birma gefallenen Gebiete

(++++ Grenze nach einer Handzeichnung des Verfassers beruhend auf kartographischen Angaben bei v. Walt, Avedon und Peissel)

328

K a r t e II

Anhang

P r o k l a m i e r t e und d e - f a c t o G r e n z e n T i b e t s

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(Grenze zu .Xigang" und des historischen Tibet vom Verfasser eingezeichnet)

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Aaland-Gutachten 205 Acquiescence 30, 70, 131, 148, 157 f, 174, 325 Abspaltung- s. Sezession Administrativhaft 273 ff Afghanistan 106 f, 117, 206 Fn. 437 Afirikanische Charta der Rechte der Völker 51 Aggressionsdefinition 58, 72 Ambane 5, 115, 123 Fn. 109 Amdo -Bevölkerung 185,290 -Status 185 ff - s. auch Qinghai Anerkennung internationale - EG-Richtlinien 96 f, 101 f - chinesischer Herrschaft über Tibet 154 ff - und Praxis zum Sbr 61 ff, 96, 101, 103, 165 ff - und Staatlichkeit 61, 101, 103, 137 f -Tibets 134ff -vorzeitige 61 ff, 96, 101, 166, Annexion - Definition 145 - Tibets durch China 145 ff - und Gewaltverbot 145 f - s. auch Effektivitätsgrundsatz - s. auch Konsolidierung Autonomie - Begriff 12 f - s. auch Minderheiten: Rechte - s. auch Selbstbestimmungsrecht: - Inhalt, - internes S. - s. auch Tibet

Badinter-Kommission 98 ff, 102 Fn. 35 Baltische Staaten 95, ¡51 ff, 153, 156 ff, 164 f f , 181 f Bangladesch 72, 90, 207 Fn. 441, 218 f f , 228, 230,315 Banjul-Charta 51 Fn. 69 Biafra 90, 207 Fn. 440 f, 221 f 223 Fn. 494, 225 f Bildungspolitik 262 f Birma 111 Fn. 63, 112 Fn. 66 f, 121 Fn. 100 Bosnien-Hercegowina 97ff, 181 Fn. 354, 241 Bürgerkrieg - und Selbstbestimmung 223 Fn. 494, 225, 239 Burma - s. Birma

CCPR - s. Menschenrechtspakte CESCR - s. Menschenrechtspakte Chamdo 132, 180, 194,291 Fn. 751 Chefoo-Konvention 117 Chiang Kai-shek 189 China - Bürgerkrieg 6, 190 f, 192 Fn. 395 — s. auch Warlords -Revolution 187,191 -Zerfall 187 f, 191 - s. auch Taiwan - s. auch Tibet

356 - s. auch Volksrepublik China Ching-Dynastie 5, 109, 114, 116, 187 Chö-yön - s. Priester-Patron-Beziehung Crimes against the peace and security of mankind - s. Internationales Strafrecht

Dalai Lama - Einsetzung des 14. D. L. 125 - Flucht ins Exil 11,172 - Kampagne Chinas 303 f, 306 -Wahlmodus 116, 303 Fn. 795 - Wiedergeburt 307 Fn. 808 Dayton-Abkommen 100 Defacto-Herrschaftssystem 137 ff, 146, 190, 193 Demographische Veränderungen - und Völkerrecht 180 ff, 241 ff, 313 ff - in Tibet s. Sinisierung Demokratische Reformen 11, 259 Demonstrationsgesetz 296, 300 Deng Xiaoping 104 Diskriminierung - im Bildungswesen 279 ff - chinesisches Recht 277 ff, 281 f - Freizügigkeit 284 f - im Gesundheitswesen 250 - wegen der Religion 285 ff - im Wirtschaftsleben 281 ff - im Wohnungsbereich 282 f - und Völkerrecht 277 ff Dismembration 94 ff, 98 f, 102 f, 164, 166, 188

Effektivitätsgrundsatz - Praxis Chinas 149 f - und Staatsgewalt 61 f, 101, 128 f - und Stimson Doktrin 148 ff

Stichwortregister

- s. auch Konsolidierung Elemente der Staatlichkeit 126 f, 133 f, 137 Entkolonialisierung - s. Selbstbestimmungsrecht erga omnes Pflichten allg. 231 ff, 235,251 - Selbstbestimmungsrecht als - 39 f Eritrea 94, 317 Ersitzung 149, 158, 199 - s. auch Konsolidierung Estoppel 30, 135 Ethnozid - s. kultureller Genozid

Familienplanung 263 ff Feudalherren 145, 172 Feudalherrschaft Chinas 109, 116Fn. 81 Folter 234, 239 f, 273 Fremdherrschaft - s. Selbstbestimmungsrecht: - Volksbegriff allg. Fünf-Punkte-Plan 10 Fn. 26, 16

Gebietstitel 131, 162 f, 198 f - durch Annexion 162 f - Chinas über Rest-Tibet 146, 187 f, 190, 192, 195 ff, 204 - und Sezessionsbegriff 88 f - bei Staatensukzession 188 - und Staatlichkeit 131 - Lhasas über Rest-Tibet 183,196 - s. auch historische Titel - s. auch Souveränitatstitel Gelbmützen 114,311 Genozid -Definition 237,257 - kultureller G. 238, 257 f - und Notwehrrecht 236 ff - an den Tibetern 257 ff, 308

357

Stichwortregister

- s. auch erga omnes-Pflichten Genozidverbot - als Völkergewohnheitsrecht 236 f Gewaltverbot 6 f, 41, 51, 137, 143, 146f, 160 f, 163, 178, 189, 314 - und Effektivitätsgrundsatz 148 f - s. auch Stimson Doktrin Gewohnheitsrecht - s. Völkerrecht: - Rechtsquellen Großbritannien - Haltung zu tibetischer Staatlichkeit 4, 135 f - Vertrage über Tibet 5, 117 ff - s. auch Simla-Konvention - s. auch Younghusband-Mission

Helsinki-Schlußakte 50 f Helsinki-Dokument v. 1992 78 Historische Titel 129 f, 198 ff Hochkommissare - s. Ambane Hui 25, 185, 289, 290 Fn. 749, 319 Humanitäre Intervention 230 Humanitäres Kriegsrecht 236

Indien - Grenze zu Tibet 7, 8 Fn. 18, 122, 130f, 149 - Intervention in Ostpakistan s. Bangladesch -Tibetpolitik 5, 135 f, 154f - Vorbehalt zum Selbstbestimmungsrecht 50 Fn. 64 Internationale Juristenkommission - Forderung nach Referendum 319 - Genozidbefund von 1960 258 f - Studie zu Bangladesch 223 f - Tibetbericht v. 1997 23 ff Internationales Strafrecht 233 ff Internationale Verbrechen 231 ff

Intertemporales Recht 121 f, 169 f , 177,199, 202 f Interventionsverbot - allg. 221, 147 Fn. 226 - vorzeitige Anerkennung 62 - und Menschenrechte 213 ff, 230 ff - und Selbstbestimmungsrecht 22, 62 Fn. 110, 223 Israel, besetzte Gebiete - s. Palästinenser ius cogens 40, 58 Fn. 93, 148, 232

Jugoslawien 97 ff, 317 Fn. 837 Jugoslawientribunal 235, 237 Fn. 542, 241

Kambodscha 107, 181 Fn. 354 Kanting-Krieg 20 Fn. 76, 171 Katanga 90, 22lf, 223 Fn. 494, 226 Kham -Status 193 ff Klöster -Verwaltung 294, 304 f -Wiederaufbau 295 f, 302,304 Kommunistische Partei (KPC) -Führungsrolle 13,286,294 - Mitgliedschaft 285 ff Konsolidierung - von Annexionen 148, 150 ff, - und Selbstbestimmung 162 ff - chinesischer Herrschaft 153 ff, 170 ff Konterrevolutionäre Verbrechen 15, 272 f, 296, 300 Kriegsherren s. Warlords Kroatien 97 ff Kublai-Khan 113 Kulturrevolution 249 f, 295 Kuweit 181 Fn. 354

358 Lhasa -Kriegsrecht 15, 173, 175,261 Fn. 616, 306 Fn. 806 - Stadtsanierung 282 Fn. 717, 283 Fn. 721 Lhasa-Konvention 117

Manchus 5, 187 MaoZedong 126, 141 Mazedonien 97, 99 McMahon 4 McMahon-Linie 130 Mekong 131 f Menschenrechte - International Bill of Human Rights 217 - und Selbstbestimmungsrecht 211 f, 239 ff - und staatliche Souveränität 205 ff, 213 ff, 230 ff - in Tibet -vor der EG 254 - Menschenrechtsberichte 256 - österreichische Expertenkommission 255 f - UN-Diskussionen 252 ff - UN-Sonderberichterstatter 254 -WeißbücherderVRC 256 - im Völkerstrafrecht 233 f - universelle Geltung 215 ff - s. auch erga omnes-Pflichten - s. auch Diskriminierung - s. auch Genozid - s. auch Recht auf Reproduktion - s. auch Recht auf Umwelt - s. auch Religionsfreiheit - s. auch Weltanschauung Menschenrechtskonferenz 91,208, 214 Fn. 465, 217f Menschenrechtspakte - Bindung Chinas 34, 69 ff - und Gewohnheitsrecht 49 f, 217

Stichwortregister

-

Inkrafttreten 34 Ratifikationsstand 49 Republik China 34, 69 Selbstbestimmungsformel 49, 50 Fn. 65, 75 Mexiko City-Deklaration 264 f Minderheiten - Bestandsschutz 245 f, 280 -Rechte 77ff, 87, 243 ff, 280, 293, 309 - und Völker 77 ff, 82 ff, 204 ff - i n der VRC 104 f, 276 f - s. auch Diskriminierung - s. auch Recht auf Umwelt Ming-Dynastie 109 Fn. 57, 114, 186 Mongolei 9, 134, 187 Fn. 375, 188 Mongolen - Beziehung zu Tibet 3, 110 Fn. 61, 113 f , 127, 185 Fn. 365,186 - in der VRC 25,104 Fn. 44, 115, 184 ff, 286, 319 Montenegro 97, 101 Mussori-Erklärung 143

Naturrecht 58 Fn. 93, 216 Fn. 471 Nepal 117, 155 Ngapoi Ngawang Jigme 140, 142 f Nichteinmischung - s. Interventionsverbot

Oberhoheit - s. Suzeränität Okkupation - allg. 21,55, 106 f, 152, 198, 201 ff -Begriff 201 f Ost-Timor 39 f

359

Stichwortregister

Pakt über bürgerliche und politische Rechte (CCPR) - s. Menschenrechtspakte Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) - s. Menschenrechtspakte Palästinenser 56 f , 71, 85, 177 Panschen Lama 115, 303, 307 f Patronatsbeziehung 140 Persistent objector 37, 6 7 / 1 4 9 Plebiszit - s. Referendum Polhannas 115 Politische Gefangene 272 f Priester-Patron-Beziehung 3, 110, 125 Protektorat 5, 116 f , 118 Fn. 88, 146 Fn. 222, 188 Fn. 380, 196

Qinghai - allg. 6, 10, 115, 131 f f ' , 1 8 4 f f , 261,268,313, 318 - Bevölkerung 289 Fn. 745, 290 Fn. 749 - s. auch Amdo

Recht auf Heimat 228 Fn. 510 Recht auf Reproduktion 265 - s. auch Familienplanung Recht auf Umwelt 246 ff Referendum - Eritrea 94 - und Selbstbestimmung 25, 100 Fn. 29,318 - für Tibet 17, 25, 316, 318 ff, 323 Religionsfreiheit - chinesisches Recht 293 f, 307 f - Inhalt 298 ff, 304 ff - in Tibet 259 f, 285 ff, 295 ff - im Völkerrecht 240 f, 292 f - s. auch Panschen Lama

- s. auch Weltanschauung Republik China - Nachfolgerin des Kaiserreiches 187 ff - siehe auch Taiwan Resolutionen - s. Tibetresolution - s. UN-Resolutionen Revolution - s. China

Salween 131 Selbstbestimmungsrecht der Völker - als Abwehrrecht 105 ff, 163 f - bei Annexion - s. Abwehrrecht, - s. Restitutionsanspruch - Bindung Chinas 34 f, 67 ff - defensives S. - s. S. als Abwehrrecht - als Entkolonialisierungsrecht 37 f, 63, 82, 199 - extemes/intemes S. 18, 43, 51, 59, 85, 87,91, 105,212, 227 - föderales S. 86 ff - für geteilte Völker 93 - gewaltsame Erzwingung 20, 58, 72 - und historische Titel 198 ff -Inhalt 18 f, 317 - Autonomie 84 f - kommunistisches S. 36 - als Menschenrecht 212 Fn. 460 - als Notwehrrecht 204 ff - Rechtscharakter 29 ff - erga omnes Pflicht 39 f - Gewohnheitsrecht 36 ff, 175 ff - Internationaler Gerichtshof 39 f - als ius cogens 40, 58 Fn. 93 - Rechtsgrundsatz 35 -"standard" 64 ff, 200 f, 209 ff - Vertragsrecht 32 ff, 48 ff

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- zeitliche Verfestigung 175 ff - s. auch Bindung Chinas - als Restitutionsanspruch 159 ff - und Sezession 81, 88 ff, 91 ff - bei Staatenzerfall 94 ff - nach Staatenzusammenschluß 93 - und territoriale Integrität 88 ff - in UN-Resolutionen 52 ff, 56 f, 71, 106 f - Volksbegriff allg. 75 ff, 80 ff - ehemalige Staats Völker 159 ff -Minderheiten 77 ff, 82 ff, 204 ff - soziale Gemeinschaften 201 f - zwischenstaatliche Aggression - s. Abwehrrecht - s. demographische Veränderungen - s. auch Menschenrechte - s. auch Referendum Selbstverwaltung 13, 78, 193, 263, 278, 284 - s. auch Autonomie Serbien 97, 100 f Sezession - Begriff 88 f , 163, 165 - territorialer Umfang 312 ff - Verbot im Völkerrecht 90 - s. auch Selbstbestimmungsrecht - s. auch territoriale Integrität Sichuan 6, 132 f, 184 f, 193 ff, 197, 320 Siebzehn-Punkte-Abkommen 11, 14, 93, 120,139 ff, 1 4 5 , 1 7 ] , 173 Sikkim 117 Sikang s. Xigang Sinkiang s. Xinjiang Simla-Konferenz 4, 6, 9 f, 124, 135, 186 Simla-Konvention 4 Fn. 6, 9 Fn. 21, 117 f, 124 f , 130 f Sinisierung 178 ff, 243, 281 ff, 288 ff, 313 ff

Stichwortregister

- s. demographische Veränderungen - s. auch Diskriminierung: - Freizügigkeit Slowenien 97, 99 Souveränität staatliche - Chinas über Tibet 3 ff, 108 ff - s. auch Gewaltverbot - s. auch Interventionsverbot - s. auch territoriale Integrität Souveränitätstitel - durch Annexion 146 ff, 162 f - und vorzeitige Anerkennung 62 - chinesische Haltung 149 - über soziale Gemeinschaften 201 f - und Staatenuntergang 149, 162 - relative Wirksamkeit 162 f - über Zentral-Tibet 122,129 - s. auch Gebietstitel - s. auch historische Titel Sowjetunion - s. UdSSR Suzeränität 4 f , 9 , 1 1 6 f , 121, 124, 135, 186, 196, 198, 202 Staatenkontinuität 70, 187, 191 f, 198 Staatennachfolge 187 ff Staatensukzession - s. Staatennachfolge Staatenzerfall - s. Dismembration Staatlichkeit - s. Elemente der Staatlichkeit - s. Taiwan - s. Tibet Statusverträge 5, 118f, 144 Stimson Doktrin 147 ff - s. auch Gewaltverbot Strafverfahren in China 273 ff

Taiwan - Staatlichkeit 70, 123 Fn. 107, 190 f

Stichwortregister

-UN-Mitgliedschaft 69, 190 Tempus regit actum 169 Territoriale Integrität 7, 17, 22, 24, 65, 80, 83, 86, 88 ff, 122, 137, 147,176, 178, 192, 206 ff, 227, 251,299, 317 - s. auch Sezession Territoriale Titel - s. Gebietstitel Tibet - Äußeres-/inneres T. 9, 124, 130 - Autonome Region T. - Errichtung 11, 172 - Autonomiestatus 12 ff, 139 f, 171 ff, 278, 293 f - ethnisches T. 8 f - geographisches T. 8 -Groß-T. 2,9, 16 f, 21, 295, 313 ff, 319 - historisches T. 9 / 1 1 4 , 130, 183 f , 313 - Ost-T. - s. Kham - politisches T. 8 f - s. auch Autonome Region T. - Rest-Tibet -Begriff 10, 183 -Status 183 ff - s. auch Amdo, Kham - Unabhängigkeitsbewegung 15 f, 20, 157, 171 f, 271 - unabhängiges Tibet - Anerkennung 134 ff - Annexion durch China 145 ff - s. auch Konsolidierung -Erlöschen 139 ff, 158, 170 ff - Exilregierung 153 ff - Staatlichkeit 7, 123 ff, 137 ff -Staatsgebiet 130 ff -Staatsgewalt 127 ff -Staatsvolk 127 - Unabhängigkeitserklärung 6, 123 f

361 - Verhältnis zu China 2 ff, 108 ff - Interventionen Chinas 114 ff -vor der UNO 25 ff, 156, 174 - Widerstandsbewegung - s. Unabhängigkeitsbewegung - Zentral-T. - Begriff 9, 14, 172 - s. auch Amdo - s. auch Kham - s. auch UN-Resolutionen Tibeter - Bevölkerungszahl - Autonome Region T. 179 -in China 269 f, 313, 314Fn. 829 - Rest-T. 289 Fn. 742, 290 Fn. 749 - s. auch Sinisierung - Siedlungsgebiet 8 ff, 184, 313 Tibetresolution des Bundestages 155 - s. auch UN-Resolutionen Titel - s. Gebietstitel - s. Historische Titel - s. Souveränitätstitel Tributpflicht 3,111 Tributsystem 4, I I I

Ü-Tsang 9, 113 f, 122, 185 - s. auch Zentral-Tibet UdSSR 95 f f , 104, 151 ff, 155, 164 ff, 220, 224, 324 Uiguren 104, 312 Fn. 825 UN-Resolutionen - Deklaration 2625 -Rechtsfortbildung 52 ff, 176 - Sezessionsvorbehalt 91 f, 208 ff - Konsensusverfahren 47, 53, 55, 71,292

362

- zum Selbstbestimmungsrecht 52 ff, 106f - zu Tibet 26 f, 56 f, - im Völkergewohnheitsrecht 45 ff Unabhängigkeit -formale 128 f, 140 - s. auch Tibet UNO - Aufnahmebegehren Tibets 25 f, 126 - Behandlung der Tibet-Frage 26 f, 56 f, 156 - Mitgliedschaft Chinas 69 f USA 25, 96, 102 Fn. 36,126, 135, 142, 152, 154, 164 Fn. 295, 253, 256 Uti possidetis-Prinzip 100, 102 f, 200, 316 ff

Vasallenverhältnis 3, 109, 116, 198, 202 Vereinigte Staaten - s. USA Veijährung 148, 150, 157, 158 Fn. 268, 174 - s. auch Konsolidierung Verträge über Tibet 116 ff Verträge völkerrechtliche -Wirksamkeitsmängel 141 ff - Statusverträge 118 f, 144, 199 - als Rechtsquelle 29 f, 45 ff Vietnam 107, 318 Fn. 343 Völkermord - s. Genozid Völkerrecht -Rechtsquellen 30 ff - numerus clausus 31 - Gewohnheitsrecht 36 ff, 42 ff, - instant custom 44 -"Standards" 64 ff - s. auch Intertemporales Recht - Völkerstrafrecht

Stichwortregister

- s. Internationales Strafiecht Volksrepublik China - Aufnahme in die UNO 69, 155 f, 174, 190 f - Bindung an das Sbr 34 f, 67 ff - innere Stabilität 103 ff - Souveränität über Tibet 3 ff, 120, 190 ff, 197f - s. auch China - s. auch Familienplanung - s. auch Menschenrechte - s. auch Minderheiten - s. auch Staatenkontinuität

Waffenstillstände -Tibets 9, 132, 189, 197 - s. auch de facto-Herrschaftssystem Warlords 6, 132, 186,189f, 195, 197 Weltanschauung 299 ff West-Sahara 39, 52, 118 f, 198, 202 Fn. 429, 317 Wiener Vertragsrechts-Konvention 141 ff Wiener Menschenrechtskonferenz - s. Menschenrechtskonferenz Xigang 133, 194 ff, 197 Xinjiang 104, 310, 312 Fn. 825 Yangtze 132, 193 f, 196 Yuan-Dynastie 3, 114 YuanShikai 124 Younghusband-Mission 118Fn. 91, 119 Zwang - zum Vertragsschluß 141 ff Zwangsabtreibung - s. Familienplanung Zypern 181 Fn. 354