Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau [1 ed.] 9783428540389, 9783428140381

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat sich zur Leitidee des nicht mehr absolut staatszentrierten, allmählich demokra

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German Pages 207 Year 2013

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Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau [1 ed.]
 9783428540389, 9783428140381

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Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Band 27

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn Dietrich Murswiek

Duncker & Humblot · Berlin

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau

Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Herausgeber im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn: Dieter Blumenwitz †, Karl Doehring †, Gilbert H. Gornig, Christian Hillgruber, Hans-Detlef Horn, Bernhard Kempen, Eckart Klein, Hans v. Mangoldt, Dietrich Murswiek, Dietrich Rauschning

Band 27

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau

Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn Dietrich Murswiek

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Bände 1 – 19 der „Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“ erschienen im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1434-8705 ISBN 978-3-428-14038-1 (Print) ISBN 978-3-428-54038-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84038-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist eines der zentralen Konstitutionsprinzipien des modernen Völkerrechts. Es hat sich seit dem Ersten Weltkrieg – zunächst als politisches Prinzip, später auch als Rechtsprinzip – zur Leitidee des nicht mehr absolut staatszentrierten, allmählich demokratisch werdenden Völkerrechts entwickelt. Die Staaten sind zwar die Bausteine der Völkerrechtsordnung geblieben. Aber für das Völkerrecht ist es nicht mehr gleichgültig, wie der Status zustande kommt, der den Staat ausmacht: Über ihren politischen Status – ihren Territorialstatus, ihren Verfassungsstatus – entscheiden alle Völker selbst kraft ihres Selbstbestimmungsrechts, heißt es in Artikel 1 der beiden UN-Menschenrechtspakte. Die Erstarkung des Selbstbestimmungsrechts zum Rechtsprinzip hat freilich an der Souveränitätsfixierung des Völkerrechts nichts geändert. Die Zuordnung der staatlichen Souveränität, insbesondere des Anspruchs der Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität, zum Selbstbestimmungsrecht der Völker wirft in der Praxis immer wieder Probleme auf, ist aber auch in der Theorie keineswegs in jeder Hinsicht geklärt. Meist setzt sich in der Praxis das Beharrungsvermögen des staatlichen Status quo gegen Selbstbestimmungsforderungen durch, aber andererseits ist die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg reich an Beispielen gelungener Selbstbestimmung. Zuerst war es die Dekolonisierung, die vielen Völkern unter dem Banner des Selbstbestimmungsrechts die Unabhängigkeit gebracht hat. Dann, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, waren es die zuvor unterdrückten Völker Mittel- und Osteuropas, die ihre Freiheit und Unabhängigkeit gewinnen konnten. Das bedeutet aber keineswegs, dass in der internationalen Politik nun immer und überall das Selbstbestimmungsrecht die Richtung vorgibt. Trotz oder auch wegen des reichhaltigen Anschauungsmaterials gibt es nach wie vor viele rechtliche Streitfragen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker bleibt also ein spannendes Thema für Politik und Rechtswissenschaft. Diesem Thema widmete sich die von der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht geplante und von der Hanns-Seidel-Stiftung in Verbindung mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen veranstaltete Tagung „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau“, die am 7. und 8. Dezember 2010 im Kloster Banz stattfand. Die dort gehaltenen Vorträge werden in diesem Band dokumentiert. Ziel der Tagung war es, die rechtssystematischen, historischen und politischen Grundlagen unter Berücksichtigung der neuesten Entwicklungen zu ver-

6

Vorwort

gegenwärtigen und offene Probleme anhand ausgewählter Problemfelder in den Blick zu nehmen. Wilfried von Bredow gibt eine Einführung in das Thema aus der Sicht eines auf Außenpolitik und internationale Beziehungen spezialisierten Politikwissenschaftlers. Mit Blick auf die historische Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts und auf gegenwärtige Selbstbestimmungskonflikte zeigt er, welche Probleme die Verwirklichung von Selbstbestimmung aufwerfen kann. Ohne die Position prinzipieller Selbstbestimmungsskepsis einzunehmen, macht er deutlich, dass es eine reine Verwirklichung der Selbstbestimmungsidee in der praktischen Politik nicht geben könne. Insbesondere seien konkurrierende Ansprüche zu berücksichtigen. Nach dem Ersten Weltkrieg sollte das Selbstbestimmungsrecht der Völker bei der Neuordnung der europäischen Staatenwelt durch Grenzplebiszite verwirklicht werden. Dies geschah freilich nur in sehr unvollkommener Weise, wie Gregor Ploch zeigt. Sein Beitrag widmet sich im Schwerpunkt einem Spezialthema – den Volksabstimmungen in Oberschlesien am 20. März 1921, deren Voraussetzungen und Folgen er darstellt. Der Beitrag macht deutlich, welche Probleme sich bei einer am Selbstbestimmungsrecht orientierten Grenzziehung in gemischten Siedlungsgebieten ergeben. Er zeigt auch, dass die Sprache keineswegs immer ausschlaggebend dafür ist, für welche Seite die Menschen in einem umstrittenen Gebiet votieren. Mit den juristischen Grundlagen beschäftigen sich die Vorträge von Christian Hillgruber und Dietrich Murswiek. Hillgruber geht der Frage nach, was eigentlich „Volk“ im Sinne des Selbstbestimmungsrechts bedeutet? Welche Gruppen von Menschen können Subjekte des Selbstbestimmungsrechts sein? Welche Kriterien gibt es, um ein Volk zu definieren? Bliebe die Frage nach dem Subjekt unbestimmt, dann könnte sich das Recht auf Selbstbestimmung schnell als unbrauchbar erweisen, vor allem dann wenn konkurrierende Subjekte auf demselben Territorium das Selbstbestimmungsrecht für sich in Anspruch nehmen. Weil es über diese Frage immer wieder Streit gegeben hat, ist in der völkerrechtlichen Literatur sogar der Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts verneint worden – lasse sich das Problem des Subjekts nicht lösen, könne das Selbstbestimmungsrecht auch kein Recht sein. Hillgruber zeigt demgegenüber, dass es durchaus juristisch handhabbare Kriterien für die Bestimmung des Subjekts gebe, auch wenn diese nicht in jedem Einzelfall ganz randscharfe Lösungen bieten könnten. Murswiek legt dar, dass manche Streitpunkte sich klären, wenn man hinsichtlich der Zielrichtung zwischen dem offensiven und dem defensiven Selbstbestimmungsrecht unterscheidet und das erstere dem Volk im ethnischen Sinne, das letztere dem Staatsvolk zuordnet. Zu den praktischen Ergebnissen dieser Betrachtungsweise gehört es, dass das offensive Selbstbestimmungsrecht des Volkes im ethnischen Sinne sich grundsätzlich als interne

Vorwort

7

Selbstbestimmung in einem vorhandenen Staat verwirklichen muss, während das defensive Selbstbestimmungsrecht des Staatsvolkes sich auf Verteidigung des territorialen Status quo und gegen äußere Fremdbestimmung richtet. Das offensive Selbstbestimmungsrecht könne aber dann auf eine Änderung des bestehenden Territorialstatus gerichtet sein, wenn keine interne Autonomie gewährt wird und auf jeden Fall dann, wenn der betreffende Staat beziehungsweise die dort lebende Mehrheitsbevölkerung die physische oder kulturelle Existenz eines Volkes, das Subjekt des offensiven Selbstbestimmungsrechts ist, bedroht. Dieser Ansatz, den der Autor bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten entwickelt hatte, hat sich – wie Murswiek darlegt – im Hinblick auf die Entwicklungen insbesondere auf dem Balkan, zuletzt im Kosovo-Konflikt, bewährt. Um die Gewährleistung von Autonomie geht es insbesondere beim Selbstbestimmungsrecht der indigenen Völker, wie René Kuppe in seinem Beitrag deutlich macht. Im Zentrum dieses Beitrags steht die Deklaration der UNGeneralversammlung über die Rechte indigener Völker von 2007. Kuppe zeichnet die Entstehungsgeschichte dieser Deklaration nach, stellt sie in den Kontext der Dekolonisierung, arbeitet die besondere Situation indigener Völker – im Vergleich zu den europäischen Minderheiten – heraus und zeigt auf, was Autonomie- und Partizipationsrechte im Sinne der UN-Deklaration bedeuten. Einer der brisantesten Selbstbestimmungskonflikte ist der Palästinakonflikt – seit Jahrzehnten ein Herd gewaltsamer Auseinandersetzungen und Thema politischer Kontroversen und nach wie vor ungelöst. Welchen Schwierigkeiten jeder Lösungsversuch begegnet, wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, mit wie unterschiedlichen Vorverständnissen beide Seiten an die Sache herangehen. Dies zeigen die beiden Referate, mit denen die Tagung ihren Abschluss fand. Godel Rosenberg und Abdullah Hijazi formulieren Standpunkte eines israelischen Juden und eines Palästinensers. Die teilweise sehr subjektiv gefärbten Vorträge können und wollen nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Sie werden hier mit abgedruckt als Dokumente kontroverser Sichtweisen und zugleich als Dokumente für praktische Schwierigkeiten, mit denen sich die konkrete Anwendung des Selbstbestimmungsrechts konfrontiert sieht. Marburg/Freiburg, im Mai 2012 Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn Dietrich Murswiek

Preface The right of self-determination of peoples is one of the most essential constituent principles of modern international law. Since the First World War, this right has (first as a political principle, and afterwards also as a legal principle) evolved in such a way that it has now become the guiding principle of international law – an international law which is no longer absolutely state-centred but is gradually evolving into something more democratic. Although the states are still the building blocks of the international law system, it is no longer irrelevant how the state’s status as a state has been achieved: all peoples can autonomously decide on their political status – their territorial status and their constitutional status – by virtue of their right of self-determination. This is laid out in Article 1 of both UN human rights pacts. Admittedly, the strengthening of the right of self-determination has not changed the fact that international law is engrained with the principle of sovereignty. The attribution of national sovereignty to national self-determination, especially the states’ claim to respect their territorial integrity, frequently leads to problems in practice, and even in theory it is far from being clarified in all respects. Practically, the inertia of the state’s status quo usually prevails over claims for self-determination. On the other hand, since the Second World War history provides an abundance of examples of successful self-determination. At first, it was decolonisation that brought independence to many peoples under the banner of the right to selfdetermination. Then, after the fall of the iron curtain, it were the formerly suppressed peoples of East and Central Europe who gained their freedom and independence. However, one cannot conclude that today the right to selfdetermination always determines the course of international politics. In spite of the rich illustrative material, or maybe because of it, there are still numerous matters of legal dispute. That is why the right to self-determination of peoples remains an enthralling subject in both political and legal science. A symposium focusing on this subject was planned by the Study Group for Politics and International Law (Studiengruppe für Politik und Völkerrecht) and organized by the Hanns Seidel Foundation (Hanns-Seidel-Stiftung), together with the Cultural Foundation of German Expellees (Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen). It took place on the 7th and 8th of December 2010 at the Banz monastery (Kloster Banz) in Upper Franconia near Bamberg, Germany. The lectures which were held there are presented in this book.

Preface

9

The symposium’s purpose was to analyze the current situation in terms of the legal system and the political and historical dimensions, whilst considering the latest developments, and with a view to unresolved problems in selected problematic areas. Wilhelm von Bredow gives an introduction to the subject from the viewpoint of a political scientist who specializes in foreign policy and international relations. In view of the historical development of the right to self-determination and current self-determination conflicts, he illustrates what problems can arise from the implementation of self-determination. Although he is not sceptical of self-determination on principle, he demonstrates that a complete realization of the idea of self-determination is not possible in practical politics. Especially as competing claims have to be considered. After the First World War, when the new post-war order was being implemented, the right to self-determination of peoples was (in some cases) intended to be realized in the form of plebiscites in border areas. This only happened in a very imperfect way, as Gregor Ploch shows. His article mainly deals with a specialist subject – the plebiscite in Upper Silesia on the 20th of March 1921. He explains its preconditions and its consequences. His article reveals what sort of problems can arise when – in settlement areas with a mixed population – a demarcation line is determined, whilst taking into account the right of selfdetermination. He also shows that language is by no means always the decisive factor when the residents of a disputed area have to vote for one side or the other. Christian Hillgruber’s and Dietrich Murswiek’s lectures concentrate on the basic legal principles connected to self-determination. Hillgruber deals with the questions: What does the term “people” mean in the context of the right to selfdetermination? Which groups of people can be subjects of the right to selfdetermination? Which criteria can be used to define a people? If the question as to the subject remained undefined, the right of self-determination could easily prove to be unusable, especially when different competing subjects on the same territory all claim the right of self-determination for themselves. There have often been arguments about this question, and some of the relevant publications on international law go so far as to negate the legal nature of self-determination – they maintain that if no solution of the subject problem was found, the socalled right of self-determination cannot be seen as a right at all. In contrast, Hillgruber demonstrates that there are definitely usable criteria in order to identify the subject, even if they cannot offer an absolutely accurate solution in every single case. Murswiek points out that some matters of dispute can be settled – with respect to the objective – if one distinguishes between an offensive and a defensive right of self-determination, and assigns the former to the “people” in an ethnical sense and the latter to the people of a nation. In practice, one

Preface

10

of the results of this approach is that the offensive right of self-determination of a people in the ethnical sense always has to be realized as internal selfdetermination within the borders of an existing state, whereas the defensive right to self-determination of the people of a nation is directed at defence of the territorial status quo and against external domination. The offensive right of self-determination can, however, be aimed at changing the existing territorial status in cases where no internal autonomy is granted, and at any rate in cases where the respective state or the majority of the population are threatening the physical or cultural existence of the people which is the subject of the offensive right to self-determination. This approach, which the author developed two decades ago, has – like Murswiek explains – been well-proven, most recently in the case of the developments in the Balkan states, especially in the Kosovo. The guarantee of autonomy is the major issue when it comes to indigenous peoples’ right of self-determination, as René Kuppe clarifies in his article. He focuses on the UN declaration on the Rights of Indigenous Peoples from 2007. Kuppe retraces the declaration’s history of origins, examines it in the context of decolonisation, analyses the indigenous peoples’ special situation – in comparison to the European minorities – and illustrates the meaning of the right to autonomy and participation in the sense of the UN declaration. One of the most sensitive political issues concerning self-determination is the Palestinian conflict – for decades, it has been the source of violent confrontations and the subject of political controversies. It is a fundamental problem which still remains unresolved. To what extent every attempted solution is hindered by severe obstacles becomes apparent when one considers the different preconceptions with which both sides approach the matter. The two lectures concluding the symposium demonstrate this situation. Godel Rosenberg and Abdullah Hijazi express the viewpoints of an Israeli Jew and of a Palestinian. Their lectures, which are partly very subjective, cannot and do not claim to be based on scientific evidence. They are published here as documents revealing controversial points of view, and at the same time as documents giving evidence of the practical troubles and difficulties which have to be faced when the right to self-determination is actually applied. Marburg/Freiburg, May 2012 Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn Dietrich Murswiek

Inhaltsverzeichnis / Table of Contents Wilfried von Bredow Das Selbstbestimmungsrecht der Völker zwischen Politik und Recht.................

19

Abstract ...............................................................................................................

44

Gregor Ploch Die Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg .........................................

45

Abstract ...............................................................................................................

72

Christian Hillgruber Wer ist Träger des Selbstbestimmungsrechts und wie kann man es durchsetzen? – Rechtsinhaberschaft und Rechtsdurchsetzungsmacht .......................................... 75 Abstract ...............................................................................................................

94

Dietrich Murswiek Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht ...........................................

95

Abstract ............................................................................................................... 119

René Kuppe Indigene Völker und Selbstbestimmungsrecht .................................................... 121 Abstract ............................................................................................................... 167

Godel Rosenberg Das Selbstbestimmungsrecht der Juden............................................................... 169 Abstract ............................................................................................................... 178

Inhaltsverzeichnis / Table of Contents

12 Abdullah Hijazi

Das Recht eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung ......................................... 179 Abstract ............................................................................................................... 186

Die Autoren / The Authors ....................................................................................... 187 Personenregister / List of Names .............................................................................. 197 Sachregister / Index .................................................................................................. 199

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations a. A.

andere(r) Ansicht (Auffassung)

a.a.O.

am angegebenen Ort

Abk.

Abkommen

Abs.

Absatz

Abschn.

Abschnitt

AEMR

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AJIL

American Journal of International Law

al.

alii (und andere)

ANC

African National Congress

Anm.

Anmerkung(en)

Art.

Artikel

Aufl.

Auflage

ausf.

ausführlich

AVR

Archiv des Völkerrechts

AWR

Forschungsgesellschaft für das Weltflüchtlingsproblem

BbgVerfG

Brandenburgisches Verfassungsgericht

Bd.

Band

BDGV

Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht

ber.

berichtigt

Ber

Bericht

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BR-Drs.

Bundesratsdrucksache

BT-Drs.

Bundestagsdrucksache

BullBReg

Bulletin der Bundesregierung

BvD

Bund vertriebener Deutscher

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVFG

Bundesvertriebenengesetz

14

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations

bzw.

beziehungsweise

CCPR

U.N. Covenant on Civil and Political Rights

CITRA

Conférence Internationale de la Table ronde des Archives

Cong.

Congress

CYIL

Canadian Yearbook of International Law

DDR

Deutsche Demokratische Republik

dens.

denselben

ders.

derselbe

DGVR

Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht

d.h.

das heißt

Diss.

Dissertation

Doc.

document

Dz.U.

Gesetzblatt (Polen)

EA, EuArch

Europa-Archiv

ebd.

ebenda

ECOSOC

Economic and Social Council

ed., eds.

editor, edition, editors

EG

Europäische Gemeinschaft

EGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft v. 27. Januar 1957

EinigungsV

Vertrag zwischen der BRD und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands (31. August 1990 (BGBl. II 1990, S. 885)

EJIL

European Journal of International Law

EMGR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EMRK

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4. November 1950, BGBl II 1952, 686,953 („Europäische Menschenrechtskonvention“)

EPZ

Europäische Politische Zusammenarbeit

ETA

Euskadi Ta Askatasuna

EU

Europäische Union

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

EUV

Vertrag über die Europäische Union v. 7. Februar 1992, BGBl II 1253 („Maastricht-Vertrag“)

EZAR

Entscheidungssammlung zum Ausländer- und Asylrecht

f.

folgende

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

ff.

folgende

FLN

Front de Libération Nationale

Fn.

Fußnote

FRV

Frankfurter Reichsverfassung

FS

Festschrift

15

FUEV

Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen

GA-Res.

General Assembly Resolution

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23. Mai 1949 (BGBl S. 1)

GK

Genfer Flüchtlingskonvention (Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951)

GTZ

Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit

GVBl.

Gesetz- und Verordnungsblatt

GV-Res.

Resolution der Generalversammlung

Hg.

Herausgeber

Hinw.

Hinweis(e)

HLKO

Haager Landkriegsordnung vom 25. Januar 1910

HRLJ

Human Rights Law Journal

hrsg.

herausgegeben

Hrsg.

Herausgeber

HStR I, VIII

Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg, Bd. I., 1987 (2. Aufl. 1995); Bd. VIII, 1995

ICA

International Council on Archives

ICCPR

International Covenant on Civil and Political Rights

ICJ

International Court of Justice

id.

idem (derselbe, dasselbe)

IFLA

International Federation of Library Associations

IGH

Internationaler Gerichtshof

IK

Interallierte Regierungs- und Plebiszitkommission

ILC

International Law Commission

ILM

International Legal Materials

ILO

International Labour Organization

insbes.

insbesondere

IPBPR, IPbpR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

16

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations

IRG

Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen

i.V.m.

in Verbindung mit

IWGIA

International Work Group for Indigenous Affairs

Jg.

Jahrgang

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (1.1907 – 25.1938; N.F. 1.1951 ff.)

JZ

Juristenzeitung

k. A.

keine Angabe(n)

Kap.

Kapitel

KfbG

Kriegsfolgenbereinigungsgesetz v. 21. Dezember 1992

KFOR

Kosovo Force

KK

Kulturpolitische Korrespondenz

Komm.

Kommentar

LAG

Lastenausgleichsgesetz

lit.

littera (Buchstabe)

Lit.

Literatur

LKV

Landes- und Kommunalverwaltung

LT-Drs.

Landtagsdrucksache

m.

mit

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

Nachw.

Nachweise

NATO

North Atlantic Treaty Organization

NGO

Non-Governmental Organization

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

No.

number

Nr.

Nummer

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

o.S.

ohne Seite

OAU

Organisation of African Unity

OGH

Oberster Gerichtshof

OSN

Entscheidungen des Polnischen Obersten Gerichts (die nachfolgenden zwei Buchstaben bezeichnen den Senat)

OSP

Rechtsprechung polnischer Gerichte

OTK

Entscheidung/en des Verfassungsgerichtshofes in Polen

Para.

paragraph

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations PKNW

Polnisches Komitee der Volksbefreiung

PLO

Palestine Liberation Organization

Rep.

Report

Res.

Resolution

RGBl.

Reichsgesetzblatt

Rn.

Randnummer(n)

ROW

Recht in Ost und West

S.

Seite(n); Satz, Sätze

SächsVBl.

Sächsische Verwaltungsblätter

SächsVerfGH

Sächsischer Verfassungsgerichtshof

17

Sen.

Senate

Sess.

Session

sog.

so genannte(n/r)

SRBH

Socialist Republic of Bosnia-Hercegovina

st. Rspr.

ständige Rechtsprechung

StAngRegG

Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit

SZ

Süddeutsche Zeitung

TRNC

Turkish Republic of Nothern Cyprus

u.

und

u. a.

unter anderem; unter anderen

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

UN, UNO

United Nations

UNDRIP

United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples

UNGA

United Nations General Assembly

UNHCR

Office of the United Nations High Commissioner for Refugees

UNMIK

United Nations Interim Administration in Kosovo

UNTS

United Nations Treaty Series

UNYB

United Nations Year Book

U.S.

United States

usw.

und so weiter

v.

vom, von; versus

v.a.

vor allem

VdL

Verband der Landsmannschaften

18

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations

VerfGE

Entscheidungen des Verfassungsgericht(hof)s

VerfGH

Verfassungsgerichtshof

vgl.

vergleiche

Vol.

Volume

VOL

Vereinigte ostdeutsche Landsmannschaften

VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz

WGO

Monatshefte für osteuropäische Politik

WK

Wiener Konvention vom 8. April 1983 über Staatennachfolge in Vermögen, Archive und Schulden von Staaten

YBILC

Yearbook of the International Law Commission

z.B.

zum Beispiel

z.T.

zum Teil

zahlr.

zahlreich; zahlreiche

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZAR

Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik

Ziff.

Ziffer

ZP

Zusatzprotokoll

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker zwischen Politik und Recht Von Wilfried von Bredow

„Meine Position war immer klar: Die Deutschen hatten mit Zustimmung all ihrer Nachbarn und in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts die Einheit erreicht. Ich hätte es als eine in höchstem Grade unmoralische Politik empfunden, wenn die Deutschen und der deutsche Bundeskanzler ein Jahr nach der Wiedervereinigung mit Blick auf einen anderen Teil Europas nun gesagt hätten, das ginge uns alles überhaupt nichts an.“1

Der „andere Teil Europas“, um den es hier geht, ist das damals am Anfang seines Auseinanderbrechens als föderaler Staat stehende Jugoslawien. Ist die Ankündigung Deutschlands am 23. Dezember 1991, den gegen den Willen der jugoslawischen Regierung in Belgrad verkündeten Austritt Sloweniens und Kroatiens aus der Föderation trotz einer anders lautenden Vereinbarung mit den übrigen EG-Mitgliedstaaten diplomatisch anzuerkennen, wirklich eine prinzipientreue Reverenz vor dem Selbstbestimmungsrecht der Völker? In den Memoiren des Bundeskanzlers wird dies so betont, zugleich jedoch werden auch ein paar andere Gründe für diesen Schritt angegeben, die große Zahl der in Deutschland lebenden Kroaten und die Hoffnung, durch diesen Schritt den Hass zwischen den Konfliktparteien (Serben, Kroaten, Slowenen) eindämmen zu können. Außerhalb Deutschlands wurde dieses Vorgehen der Bundesregierung so gut wie einhellig kritisiert – mit Ausnahme der großen Mehrheit in den beiden sezessionistischen Staaten. „Hat Bonn die hier miteinander verquickten Themen Souveränität, Selbstbestimmung und Menschenrechte politisch und diplomatisch ausreichend analysiert? War die Anerkennung im Blick auf die Geschichte des Balkans, Deutschlands und Europas von moralischem Verantwortungsbewusstsein getragen? Wer die jüngste und die etwas weiter zurückreichende Vergangenheit Deutschlands auch nur oberflächlich kennt, kommt hier zu eindeutig negativen Antworten.“2

___________ 1

Helmut Kohl, Erinnerungen 1990-1994, Droemer Verlag, München 2007, S. 406 f. Carl Cavanagh Hodge, Botching the Balkans: Germany’s Recognition of Slovenia and Croatia, in: Ethics and International Affairs, 12. Jg., N° 1/1998, S. 1-18. S. 1 – eigene Übersetzung. 2

20

Wilfried von Bredow

Die harsche Kritik an dem Vorgehen der deutschen Regierung und deren Rechtfertigung dieses Schrittes gründet sich auf sehr unterschiedliche Motive, nicht zuletzt auf der (wie sich dann rasch herausstellen sollte) weit übertriebenen politischen Furcht vor einem deutschen Unilateralismus in europäischen Angelegenheiten. Diese Absicht bestand nicht. Als die Bundesregierung 1992 zur Kenntnis nehmen musste, dass ihr die nachdrückliche Bezugnahme auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker Konflikte mit vielen anderen Regierungen in Europa und anderswo einbrachte, nahm sie sich diesbezüglich auch wieder etwas zurück. Selbstbestimmung3 zwischen Politik und Recht – mit dieser Formulierung soll ein besonderer, in sich übrigens schiefer Schwebezustand bezeichnet werden. Die Selbstbestimmung von Sozialverbänden, die sich unter territorialen, kulturellen, religiösen, ethnischen und, all dies umfassend, eben auch unter politischen Gesichtspunkten als Einheit verstehen und von anderen als Einheit behandelt wissen wollen, erscheint diesen als ein hohes Gut, das auch gegen Widerstände anzustreben oder zu erhalten ist. Kollektive Selbstbestimmung ist ein Wert. Als solcher war er im Laufe der Geschichte nicht immer und überall hoch im Kurs. Aber erst implizit mit der westlichen Aufklärung und dann mit der Ausbreitung des Nationalismus als Großgruppen-Integrations-Ideologie im späten 18., dann im 19. und 20. Jahrhundert stieg dieser Kurs unaufhaltsam. Im 20. Jahrhundert ist aus dem Wert, weil er eine so hohe politische Priorität genoss, in mehrfachen Anläufen eine völkerrechtliche Norm zu machen versucht worden.4 In der Politik rangieren Werte auf derselben Stufe wie Interessen – die verschiedenen Akteure tun ihr Möglichstes, um sie zu realisieren, müssen dabei allerdings häufig Abschläge von ihren Zielvorstellungen machen, die Konkurrenz mit anderen Werten und Interessen abwägen, Kompromisse eingehen. Normen hingegen sind verhaltensbestimmend. Wer sich nicht an sie hält, macht sich eines Verstoßes schuldig. Wie ein solcher geahndet wird, hängt allerdings von den näheren Umständen ab. Völkerrechtliche Normen hängen auf besonders drastische Weise von politischen Konstellationen im internationalen System ab, gibt es hier doch keine über den Staaten stehende Autorität mit der Befugnis und den nötigen Mitteln zu ihrer Durchsetzung.5 Insofern hängt das gesamte Völkerrecht zwischen Poli___________ 3 Gemeint sind immer, wenn nicht ausdrücklich anders ausgewiesen, kollektive (nationale) Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. 4 Während in völkerrechtlichen Diskursen der Norm-Charakter im Vordergrund steht, wird in der politischen Philosophie eher über die Selbstbestimmung als Wert debattiert (siehe u. a. Chris Armstrong, National Self-Determination, Global Equality and Moral Arbitrariness, in: The Journal of Political Philosophy, 18. Jg., N° 3/2010, S. 313-334, S. 317). 5 Durchsetzung umfasst die Erfüllung der Norm seitens aller an sie gebundenen Akteure und darüber hinaus die Ahndung von Verstößen gegen die Norm.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker zwischen Politik und Recht

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tik und Recht. Denn es spiegelt „durchgängig politische Interessen der Staaten“ wider.6 Diese Verbindung lässt sich wegen der Notwendigkeit staatlicher Macht für die Implementierung von Recht und der Notwendigkeit von Recht als Voraussetzung der Entfaltung politischer Macht auch nicht kappen.7 Es ist aber völlig unangebracht, diesen Sachverhalt als Argument zur Herabstufung der politischen Relevanz des Völkerrechts ins Feld zu führen. Selbstbestimmung als das Recht von Völkern, über ihren politischen Status zu bestimmen, war, schreibt Eckart Klein8, bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eher eine bloße politische Handlungsmaxime. Der Durchbruch zum verbindlichen Rechtssatz sei mit seiner Aufnahme in die beiden UNOMenschenrechtspakte von 1966 erfolgt. Für die Entkolonialisierung sei das Selbstbestimmungsrecht zur maßgeblichen juristischen Grundlage geworden. In politikwissenschaftlicher Perspektive haftet diesem „Durchbruch“ allerdings die Aura der Zwiespältigkeit an, weil sich das Selbstbestimmungsrecht im Prozess der Entkolonialisierung zwar oft Geltung zu schaffen vermochte, aber auch oft missachtet und beiseite geschoben wurde. Und das ist so bis heute geblieben. Deshalb verspricht das Grübeln darüber, ob die kollektive Selbstbestimmung eher (nur) ein politisches Ziel und ein Grundsatz oder inzwischen schon ein Teil des positiven Völkerrechts ist9, und über die Anschlussfrage, wie zwingend dann dieses Recht ist, kaum weiterführende Aufschlüsse für die viel wichtigere Frage, wer denn mit welchen Mitteln kollektive Selbstbestimmung als Recht in Anspruch nehmen kann und wie diejenigen Akteure sich verhalten sollen, „gegen“ die ein solches Recht in Anspruch genommen wird. Im Übrigen ist Vorsicht geboten bei allen Denkfiguren mit verborgener Teleologie. Die frohgemute Rede vom unbestreitbaren Siegeszug des Selbstbestimmungsrechts der Völker bezeugt nicht schon eine Entwicklung „von der Politik zum Recht“, also ___________ 6

Hans-Joachim Heintze, Völkerrecht und Ethnizität – Minderheitenschutz, Recht und Politik, in: WeltTrends, N° 38/2003, S. 31. 7 Vgl. zu diesem komplexen Wechselverhältnis Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Suhrkamp 1992, Frankfurt/M., S. 168 f., dort in Bezugnahme auf innerstaatliches Recht, aber auf das Völkerrecht mit geringen Modifikationen übertragbar. 8 Eckart Klein, Völker und Grenzen im 20. Jahrhundert, in: Der Staat, 32. Jg., N° 3/1993, S. 357-378, S. 361. 9 So stellvertretend für die Mehrheit der Völkerrechtler: Kurt Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Geschichtliche Grundlagen – Umriß der gegenwärtigen Bedeutung, Ein Versuch, Böhlau, Köln/Wien 1973, 2. umgearb. u. erw. Aufl.; Karl Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Bruno Simma (Hg.), Charta der Vereinten Nationen. Kommentar, München: C. H. Beck, München 1991, S. 15-31; Daniel Philpott, In Defense of Self-Determination, in: Ethics, 105. Jg., N° 2/1995, S. 352385.

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von dem Herauskristallisieren des kollektiven Selbstbestimmungsrechts als unumstößlicher und über allen politischen Infragestellungen angesiedelter Norm. Jedenfalls wurde die Anerkennung eines solchen Rechts für Kroatien und Slowenien seitens der deutschen Regierung als ein Akt mit politischen Interessen und als Folge eines politischen Kalküls betrachtet und von den allermeisten Beobachtern kritisiert. Die politische Instrumentalisierung des Selbstbestimmungsrechts ist ein permanenter und, so meine These, nicht zu neutralisierender Aspekt seiner Inanspruchnahme. Dies war am Ende des Ersten Weltkriegs schon so, als das Selbstbestimmungsrecht zum Ordnungsprinzip für das postimperiale Europa (wenn auch damals noch nicht für die überseeischen Kolonien der europäischen Mächte) werden sollte. Wegen „abweichender machtpolitischer Interessen einerseits, der weit verbreiteten Mischsiedlung der Sprachgruppen andererseits“ ließ sich dieses Prinzip nicht umsetzen, schreibt Wolfgang Reinhard10. Und Karl Dietrich Bracher11 hat darauf hingewiesen, „dass gerade das Prinzip der Selbstbestimmung, von Wilson emphatisch als Vehikel der Demokratie propagiert, vorrangig als ein Mittel zur Verschärfung und Legitimierung der Nationalitätenkämpfe wirkte.“ Die folgenden Ausführungen sind in zwei Teile untergliedert. Weil es schon eine ganze Reihe von Rückblicken auf die Vorgeschichte und Geschichte der Selbstbestimmung12 gibt, werden im ersten Teil nur die wichtigsten Episoden dieser Geschichte herausgegriffen und kurz beleuchtet. Dies soll vor allem dazu dienen, die politischen Umstände in Erinnerung zu rufen, aus denen heraus und zu deren Veränderung das Konzept von der Selbstbestimmung der Völker sich entwickelt hat. Im zweiten Teil werden einige der Konfliktlinien in den Blick genommen, die mit der Durchsetzung der Selbstbestimmung entstehen oder vertieft werden. Scheinen die Ausführungen in diesen beiden Teilen grundsätzlich selbstbestimmungs-kritisch eingefärbt zu sein, so wird dieser Eindruck im abschließenden Fazit ein Stück weit korrigiert. Es geht darum, die verschiedenen politischen Zielwerte und Rechtsansprüche behutsam auszubalancieren. Denn es muss verhindert werden, dass die umstandslose Durchsetzung be___________ 10 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, C. H. Beck, München 1999, S. 453. 11 Karl Dietrich Bracher, Europa in der Krise. Innengeschichte und Weltpolitik seit 1917, Propyläen, Frankfurt am Main 1979, S. 37. 12 U. a. Paul Kluke, Selbstbestimmung – Vom Weg einer Idee durch die Geschichte, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1963; Rabl (Fn. 9); Wolfgang Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Zur Geschichte und Bedeutung eines internationalen Prinzips in Praxis und Lehre von den Anfängen zu den Menschenrechtspraktiken der Vereinten Nationen, F. Schöningh, Paderborn 1973; jüngst noch Jörg Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Die Domestizierung einer Illusion, C. H. Beck, München 2010.

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stimmter politischer Konzepte, sei es das der territorialen Integrität von Staaten, sei es das des Rechts auf nationale Selbstbestimmung, anomische Konsequenzen für das internationale System zeitigt und damit eine Situation schafft, wie sie etwa umgangssprachlich mit dem Ausspruch charakterisiert wird: „Operation gelungen, Patient tot“. Wenn bestimmte, von etlichen Akteuren als ungerecht empfundene politische Herrschafts-Konstellationen verändert werden sollen, ohne dass sich mit dieser gewollten Änderung auch eine ganze und vielleicht sogar unübersehbare Reihe ungewollter Änderungen einstellt, braucht es in der internationalen Politik Veränderungs-Konzepte, die das eine ermöglichen und das andere möglichst blockieren. An solchen Konzepten, welche die Praxis-Probe bestanden haben, fehlt es leider.13 Die politische Konstellation auf dem Balkan zu Beginn des jugoslawischen Zerfallsprozesses 1991/92 sah ziemlich trostlos aus. Sie war auch unübersichtlich, so dass schwer zu erkennen war, welche Konsequenzen ein bestimmtes Handeln dritter Akteure zeitigen würde. Immerhin konzedieren auch die Kritiker der eiligen deutschen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, dass dieser Zerfallsprozess auch ohne deutsches Zutun so verlaufen wäre, wie er verlaufen ist.14

I. Politische Karriere eines Konzepts 1. Fremdherrschaft als illegitime Herrschaft Der Gegenbegriff zu politischer Selbstbestimmung ist Fremdherrschaft. Es ist schwer, mit diesem Begriff grundsätzlich positive Assoziationen zu verbinden. Weiter ausholende und systematische historische Rückblicke könnten unschwer zu Tage fördern, dass Fremdherrschaft eigentlich immer, mal mehr, mal weniger, als Last gesehen wurde. Anders gesagt, der Tausch-Mechanismus ‚Schutz gegen Unterwerfung und Tribut‘ hat bei Fremdherrschaft selten reibungslos funktioniert. Fremdherrschaft wurde besonders dann als problematisch angesehen, wenn sie entweder zu hohe Tributforderungen stellte oder das kulturelle (meist religiöse) und politische Selbstverständnis der unterworfenen Gruppierung ungenügend respektierte. War beides nicht der Fall, konnte Fremdherrschaft allerdings auch schon einmal auf Akzeptanz rechnen. ___________ 13 Ein solches Konzept, das des peaceful change, wird von Murswiek behutsam und hoffnungsvoll beschrieben und analysiert: Dietrich Murswiek, Peaceful Change – Ein Völkerrechtsprinzip? Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1998. 14 Carl Cavanagh Hodge, Botching the Balkans: Germany’s Recognition of Slovenia and Croatia, in: Ethics and International Affairs, 12. Jg., N° 1/1998, S. 1-18, S. 15.

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In seiner umfangreichen Studie über Fremdherrschaft bezieht sich Koller15 ausschließlich auf die Moderne, wo sie in dem Diskursrahmen des sich ausbildenden Nationalismus einen wichtigen Platz einnimmt, nämlich als Anathema. Fremdherrschaft wird in diesem Rahmen zur illegitimen Herrschaft schlechthin. Das moderne Nationalbewusstsein entsteht aus der Integration von drei Entwicklungen: dem Zusammenstreben kleinerer Gruppen zu einer größeren Einheit, der Abgrenzung dieser Einheit von anderen Gruppen und schließlich dem Anspruch auf politische Unabhängigkeit in einem eigenen Staat, also dem Streben nach politischer Selbstbestimmung.16 Entscheidende Promotoren dieses Prozesses waren und sind in der Regel kleine Zirkel von politisch-kulturellen Eliten, die aufgrund ihrer Sprachmächtigkeit entsprechende Mobilisierungsschübe in Gang setzen können. Im Selbstverständnis dieser Promotoren17 sind die von ihnen verkündeten Einheitsparameter „objektiv“, ja geradezu organisch oder ontologisch. Es geht aus ihrer Perspektive lediglich darum, das Bewusstsein von dieser objektiven Einheit bei ihren Angehörigen zu wecken und politisch werden zu lassen. Aus heutiger Beobachterperspektive fällt dagegen ins Auge, dass die auf Gemeinschaftsbildung, Abgrenzung zu anderen und kollektive Selbstbestimmung abzielenden Prozesse auf Imaginationen, Mythisierung und Konstruktionen beruhen. Ohne Einbildungskraft keine über die primordialen Gemeinschaften hinausgehend kollektive Identitäten. Dass das so ist, nimmt dem Phänomen, um das gleich hinzuzufügen, nichts von seiner politischen Bedeutung. Die Entwertung von Fremdherrschaft hat in der Moderne in mehreren Schüben stattgefunden. Als kürzlich die Zeitschrift Ethnopolitics mehrere Autoren darum bat, zu den Möglichkeiten der Legitimation von Fremdherrschaft Stellung zu nehmen, gab es so gut wie keine überzeugenden Begründungsversuche für Fremdherrschaft. Hechter18 wollte immerhin die logische Möglichkeit nicht ausschließen, dass bestimmte Formen von Fremdherrschaft (alien rule) bessere Ergebnisse erzielen könnten als Selbstbestimmung (native rule). Auch Coakley19 betonte die Differenz zwischen legitimer Herrschaft und effizienter Herrschaft. Fremdherrschaft könne in diesem Sinne durchaus effizienter sein. Im ___________ 15 Christian Koller, Fremdherrschaft – Ein politischer Kampfbegriff im Zeitalter des Nationalismus, Campus, Frankfurt am Main 2005, S. 453. 16 Vgl. Franz Ansprenger, Wie unsere Zukunft entstand, Von der Erfindung des Staates zur internationalen Politik – ein kritischer Leitfaden, Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2000, S. 258. 17 Man könnte sie auch Ideologie-Unternehmer nennen. 18 Michael Hechter, Legitimating Alien Rule, in: Ethnopolitics, 9. Jg., N° 3-4/2010, 401-405, S. 404. 19 John Coakley, When is Alien Rule Legitimate?, in: Ethnopolitics, 9. Jg. 2010, N° 3/4, S. 407 ff.

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20. Jahrhundert gab es, unter Ausnahmebedingungen, immerhin zwei Beispiele von Fremdherrschaft mit einer höheren Legitimität und beachtlicher Effizienz, nämlich die Besatzungsregime der Vereinigten Staaten in Japan und Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Deutschland der totalen Niederlage mag diese Beobachtung cum grano salis auch für die beiden anderen westlichen Besatzungsmächte Großbritannien und Frankreich zutreffen, aber wohl kaum oder nur mit wesentlichen Einschränkungen für das sowjetische Regime in der von ihr besetzten Zone. Auf jeden Fall lagen in Deutschland und Japan besondere Umstände vor, die anderswo nicht anzutreffen waren. 20 Das Thema Fremdherrschaft wird noch einmal auftauchen, wenn es um das Phänomen der zerfallenden Staaten geht. Hier ist zunächst einmal festzuhalten, dass der Siegeszug des Konzepts der Selbstbestimmung in der Moderne die dramatische Delegitimierung jeglicher Fremdherrschaft einschließt. 2. Der Kampf gegen Vielvölkerstaaten und Imperialismus Mit der Amerikanischen Revolution21 und der Französischen Revolution ist die Vorstellung verbunden, dass hier die politischen Türen für eine universale Entwicklung aufgestoßen wurden, in deren Verlauf sich das Recht auf Selbstbestimmung für die Individuen, und ebenso für Gruppen, die sich als politische Einheit verstehen, immer mehr durchgesetzt hat. Die individuelle Selbstbestimmung, wenn man so will das Anliegen der Aufklärung, wurde in den allgemeinen Menschen- und Freiheitsrechten befördert. Von daher ergibt sich ein deutlicher Einfluss auf die kollektive Selbstbestimmung. Er besagt, dass sich die Legitimation der Träger dieses Rechts über demokratische Strukturen herstellt. Dabei muss man freilich in Rechnung stellen, dass sich die Vorstellungen darüber, wie eine Demokratie gestaltet sein müsse und was die Mindestanforderungen an eine Demokratie sind, im Laufe der letzten 200 Jahre erheblich verändert haben. Als Träger für die kollektive Selbstbestimmung kamen in erster Linie Nationen in Frage. „Die Verbindung mit dem Nationalitätenprinzip war dabei einerseits für Völker, die wie die Deutschen und Italiener nach staatlicher Einheit strebten, andererseits für Viel___________ 20

Zur Legitimierung der zeitweisen amerikanischen Machtübernahme im Irak nach dem Niederwerfen des Regimes von Saddam Hussein 2003 bemühte Condoleezza Rice, damals Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten George W. Bush, den Vergleich mit Deutschland und Japan nach 1945. Das überzeugte aber kaum jemanden; und wie sich zum Leidwesen der USA bald herausstellte, verlief die irakische Besatzung ganz anders als die deutsche oder japanische. Ausführlich zu diesem historischen Vergleich Sonja Grimm, Historisch vergleichen, aber richtig – Irak ist nicht Westdeutschland, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 4. Jg., N° 1/2010, S. 53-77. 21 Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776.

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völkerstaaten, wie die Habsburger Doppelmonarchie und das Russische Reich von Bedeutung“.22 Spätestens an dieser Stelle taucht ein begriffliches Problem auf, das in allen politischen Auseinandersetzungen eine Rolle spielt – je härter die Auseinandersetzung, desto gewichtiger dieses Problem: Der Inhalt der verwendeten und umstrittenen Grundbegriffe bleibt vage und kann nicht einvernehmlich präzisiert werden. Das betrifft, wie oben angedeutet, den Begriff der Demokratie, wobei auf der Hand liegt, dass Demokratie ohne Selbstbestimmung nicht geht.23 Es betrifft genauso den Nationsbegriff. Selbst wenn man ihn so elegant definiert wie Karl W. Deutsch24: „Eine Nation ist ein Volk im Besitz eines Staates.“ Die Definitionsprobleme sind hier auf den Begriff Volk verschoben. Selbstverständlich gibt es zahlreiche anregende, vertiefende und auch zu großen Teilen nachvollziehbare Studien über die objektiven und subjektiven Merkmale eines Volkes (stellvertretend für andere: Margalit/Raz 1990). Aber all diese Überlegungen nutzen wenig, wenn einer sozialen Gruppe die Anerkennung als Volk versagt bleibt und sie nicht über die Möglichkeiten verfügt, sich diese Anerkennung auch gegen Widerstände zu ertrotzen. Anders gesagt: Entscheidend sind nicht irgendwelche Begriffs-Gestaltungen, sondern das sich in Anerkennung oder Nicht-Anerkennung ausdrückende politische Urteil anderer Akteure mit ihren jeweils eigenen politischen Werten, Interessen und Strategien. Die erste große und folgenreiche Konjunktur des Konzepts der Selbstbestimmung begann im Ersten Weltkrieg, als Lenin es zum Aufbrechen des Zarenreiches und Wilson es zum Aufbrechen der beiden feindlichen Vielvölkerstaaten Deutschland und Österreich-Ungarn verwendeten. Sie taten das jeweils politisch bewusst und verbanden damit (konträre) weit reichende Hoffnungen für die Nachkriegsordnung Europas. Als Aufsprengmittel für die multinationalen Imperien hat das Selbstbestimmungsrecht Erfolg gehabt. Der Nachkriegsordnung brachten die Propagierung und die durch allerlei politische NebenÜberlegungen beeinträchtigte Umsetzung dieses Konzepts indes vorrangig Instabilität und Konfliktverschärfung. Wenn am Ende eines Krieges neue Regeln für die internationale Ordnung entworfen und in Kraft gesetzt werden, dann liegt die Annahme nahe, dass die___________ 22

Boris Meissner, Der Nationsbegriff und die Frage nach dem Subjekt oder Träger des Selbstbestimmungsrechts, in: Nation und Selbstbestimmung in Politik und Recht, Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises, Duncker & Humblot, Berlin 1984, S. 2355, S. 23. 23 Stephen D. Krasner, Sovereignty, Organized Hypocrisy, Princeton University Press 1999, S. 93. 24 Karl W. Deutsch, Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, A. Ashkenasi u. P. Schulze (Hrsg.), Bertelsmann Universitätsverlag, Düsseldorf 1972, S. 204.

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se Regeln nicht unbedingt den oder die Verlierer des Krieges begünstigen. Wenn also Wilson 1918/19 den Grundsatz verkündete, Annexionen sollten durch die Selbstbestimmung der betroffenen Bevölkerung ersetzt werden, dann galt das „selbstverständlich nur zugunsten der Siegerstaaten“.25 Ein wenig musste das bemäntelt werden, um den Grundsatz nicht sofort als Mittel für andere Zwecke zu desavouieren. Aber, um nur ein Beispiel anzuführen, in den Volksabstimmungen in Oberschlesien zwischen 1918 und 1920 war dies nur ein löchriges Mäntelchen. 3. Der Kampf gegen die koloniale Fremdherrschaft Man kann die Welle der Entkolonialisierung26 mit ihrem Kamm in den 1960er Jahren als die hohe Zeit des Selbstbestimmungsrechts der Völker bezeichnen. Aus dem Zusammentreffen und der wechselseitigen Verstärkung verschiedener Begründungszusammenhänge (Weltordnungsvorstellung in der Charta der Vereinten Nationen, Ost-West-Konflikt als Kalter Krieg, Ausbildung eigener Führungseliten in den Kolonien, Organisation einer ‚Dritten Welt‘) gewann der Gedanke von der Unhaltbarkeit des Kolonialstatus großer Teile Afrikas und Asiens sozusagen materielle Gewalt. Die Kolonialregime erschienen als durch nichts zu rechtfertigende Formen der Fremdherrschaft mit dem Ziel der Ausbeutung ihrer Kolonien und der Unterdrückung der einheimischen Bevölkerungen. Bald sahen das die politisch bestimmenden Kreise in den Hauptstädten der Kolonialmächte überwiegend auch so. Folglich erlahmte der Widerstand gegen die politischen und militärischen Organisationen der einheimischen antikolonialistischen Führungen bald. In zahlreichen gewaltsamen Konflikten und Kriegen, „Aufstände“ und „Rebellionen“ aus der Sicht der Kolonialmächte, „Befreiungskriege“ aus der Sicht der Einheimischen, setzten sich die mit Guerillataktiken operierenden Streitkräfte der Kolonialvölker durch. Oberstes Ziel solcher militärischen und aller politischen Bemühungen der Kolonialvölker und ihrer Anführer war die staatliche Unabhängigkeit. Damit waren sie früher oder später auch erfolgreich. Eine politische, rechtliche und moralische Legitimation für das Anstreben dieses Ziels lieferte das Konzept der Selbstbestimmung. In den 1950er und 1960er Jahren konzentrierte ___________ 25

Peter Krüger, Völkerrecht und internationale Politik, Internationale Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Ulrich Lappenküper/Reiner Marcowitz (Hrsg.): Macht und Recht, Völkerrecht in den internationalen Beziehungen, F. Schöningh, Paderborn 2010, S. 207-231, S. 217. 26 In der Literatur findet sich zumeist der Begriff Entkolonisierung, der ein bisschen missverständlich ist, weil er ja eigentlich nichts anderes als Entvölkerung bedeutet. Der Unterschied zwischen Kolonisierung (= Besiedlung) und Kolonialisierung (= Errichtung einer Fremdherrschaft) sollte m. E. aber auch bei der Bezeichnung entsprechender Reversions-Prozesse nicht eingeebnet werden.

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sich dieses Konzept auf den Prozess der Entkolonialisierung. Einer großen Koalition aus Vertretern der kommunistischen Staaten, den Anführern der Befreiungsbewegungen und aus den zunehmend anwachsenden Kreisen von Entkolonialisierungs-Anhängern in den Kolonialgesellschaften selbst „gelang es … das Selbstbestimmungsrecht als universell geltendes Recht zu kodifizieren. Andererseits wurde Selbstbestimmung im Wesentlichen als Entkolonisierung definiert oder zumindest verstanden. Jegliche Form der Entkolonisierung galt als Selbstbestimmung, und Selbstbestimmung bestand nahezu ausschließlich aus Entkolonisierung“.27 Diese Kodifizierung fand im Rahmen der Vereinten Nationen statt. Aufbauend auf Aussagen in der Charta und anderen Texten (vor allem Resolutionen der Generalversammlung) haben die beiden Menschenrechtspakte der UNO vom 16. Dezember 1966 in ihren Artikeln 1 jeweils wortgleich festgehalten: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“28 Die Praxis der Entkolonialisierung hat in vielen Fällen der hier festgelegten Norm nicht genügt. Einer der Gründe dafür, ein wichtiger, jedoch nicht der wirkungsmächtigste, war die Beibehaltung der Grenzverläufe zwischen den früheren Kolonien nach dem uti possidetis-Prinzip. Auf diese Weise blieben Grenzen erhalten, die im 19. Jahrhundert von den Kolonialmächten gezogen worden waren und oft genug ethnische Einheiten durchtrennten.29 Wie sehr dieser Sachverhalt auf die vielen internen Schwierigkeiten der neuen Staaten negativ eingewirkt hat, ist allerdings gar nicht so einfach festzustellen. Man trifft auf dieses Argument aber sehr häufig und kann sich zuweilen des Eindrucks nicht erwehren, dass es manchmal zur Ablenkung von hausgemachten Konflikten vorgeschoben wird. Zudem wurde das Selbstbestimmungsrecht auf seine Rolle als Legitimation für den kolonialen Befreiungskampf und nur für ihn reduziert. „Sobald Unabhängigkeit erreicht worden war, wurde das Recht als verwirklicht angesehen“.30 ___________ 27

Fisch (Fn. 12), S. 218. Weltpakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; Weltpakt für bürgerliche und politische Rechte; Resolution der UNO-Generalversammlung vom 16.12.1966, UN-Doc. 22200/ A(XXI); beide Pakte sind wegen der dann genügend hohen Zahl von Unterzeichnerstaaten im Jahr 1976 in Kraft getreten. Der Text ist zitiert nach Ermacora (1977, 60 bzw. 73). 29 Malcolm Anderson, Frontiers, Territory and State Formation in the Modern World, Cambridge Polity Press 1996, S. 79. 30 Hans-Joachim Heintze (1997): Wege zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker innerhalb bestehender Staaten, in: ders. (Hg.), Selbstbestimmungsrecht der Völker – Herausforderung der Staatenwelt. Zerfällt die internationale Gemeinschaft 28

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Ansätze für eine weitergehende Inanspruchnahme dieses Rechts wurden unterdrückt. 4. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts schien es für eine kurze Zeit so, als stünde es so gut wie nie zuvor um die Verwirklichung einer internationalen Ordnung ohne ideologisch vertiefte Bedrohungsfronten und mit den besten Aussichten auf die endgültige Durchsetzung der Selbstbestimmung der Völker. Dieser Optimismus speiste sich aus dem, was der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington (1993) die „dritte Welle der Demokratisierung“ genannt hat. Gemeint war damit der in der Tat empirisch erkennbare Vorgang, dass Militärdiktaturen und andere undemokratische Regime in verschiedenen Teilen der Welt verschwunden und durch demokratie-freundlichere Regime ersetzt worden waren. Außerdem versprach man sich im Westen mittels der mit viel Eifer geförderten Transformations-Prozesse in den post-kommunistischen Regimen eine rasche Übernahme demokratischer Strukturen in diesen Staaten. In der Charta von Paris für ein neues Europa vom 21. November 1990, der offiziellen Verabschiedung des Ost-West-Konflikts, rufen die Unterzeichner „ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Freiheit“ aus und bekräftigen neben vielen anderem auch „die Gleichberechtigung der Völker und ihr Selbstbestimmungsrecht in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen und den einschlägigen Normen des Völkerrechts“. Sie betonten jedoch in dem gleichen Satz auch jene völkerrechtlichen Normen, „die sich auf die territoriale Integrität der Staaten beziehen“.31 Wenige Monate später war der Lack von dieser friedlich-freundlichen Vision schon wieder abgebröckelt. Neue gewaltsame Konflikte und, aus europäischer Perspektive besonders bedrohlich, die ethnischen Auseinandersetzungen, die den Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens auslösten, verschärften und den harmonischen Zusammenhang zwischen Demokratie und Selbstbestimmung als Wunschdenken entlarvten, führten zu einer im Grunde bis heute anhaltenden „weltpolitischen Ernüchterung“.32

___________ in Hunderte von Staaten?, Verlag J. H. W. Dietz Nachfolger, Bonn 1997, S. 16-59, S. 62. 31 Auswärtiges Amt (Hrsg.), 20 Jahre KSZE 1973-1993, Eine Dokumentation, Bonn 1993, S. 147. 32 Mir. A. Ferdowski, Probleme und Perspektiven der Transformationsprozesse in Ost- und Südosteuropa, in: Europa-Archiv, 48. Jg., N° 9/1993, S. 249-255, S. 249.

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Im Zuge dieser Ernüchterung bekommt auch das Pathos der Bundesregierung bei ihrer Argumentation bezüglich der vorauseilenden diplomatischen Anerkennung von Slowenien und Kroatien einen leichten Grauschleier. Die Debatte über das Konzept der Selbstbestimmung und seiner Umsetzung verlagerte sich in den letzten Jahren auf Themenfelder wie dem der fragilen und zerfallenden Staaten, der humanitären Intervention und des Minderheitenschutzes. Im UNO-Rahmen, der ja personell und institutionell einen eigenen weltpolitischen Diskurs umfasst, münden diese (und andere Debatten) in Konzepte wie Human Security und Responsibility to Protect. Bei westlichen Regierungen setzte sich in den 1990er Jahren die Einsicht durch, dass die „Vorenthaltung des Selbstbestimmungsrechtes allein“ als Anlass für eine humanitäre Intervention nicht ausreicht, „wohl aber ein zusätzliches Argument liefer(t) für Aktionen gegen massive Menschenrechtsverletzungen“.33 Wie massiv Menschenrechtsverletzungen sein müssen, damit eine humanitäre Intervention seitens der gerne, aber viel zu euphemistisch so bezeichneten internationalen Gemeinschaft34 in Gang kommt, lässt sich nicht genau festlegen. Ein Interventions-Beschluss seitens der Staaten wird, nicht zuletzt weil er schwer absehbare Folgekosten impliziert, von den jeweiligen Eigeninteressen beeinflusst, von den Öffentlichkeiten (zivilgesellschaftlichen Organisationen und Medien) und auch von der noch frischen Erinnerung an frühere Interventionen.35 Jedenfalls setzte Mitte der 1990er Jahre ein kritisches Nachdenken über die Möglichkeiten solcher Interventionen und über die mit der Selbstbestimmung verbundenen potentiellen Probleme ein. „Niemand stellt das Prinzip in Frage, aber wenn auf dem Territorium der früheren Sowjetunion und im postkommunistischen Europa Selbstbestimmung rigoros verwirklicht würde, dann würde das eine endlose Folge von irredentistischen und sezessionistischen Kämpfen zur Folge haben, die staatliche Unterdrückung von Minderheiten, ethnische Säuberungen, riesige Flüchtlingszahlen, und all das könnte womög___________ 33

Klaus Otto Nass, Grenzen und Gefahren humanitärer Interventionen, Wegbereiter für Frieden, Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung?, in: Europa-Archiv, 48. Jg. 1993, N° 10, S. 279-288, S. 281. 34 Kritisch zu diesem Terminus und den ihn auratisch umgebenden Assoziationen: Wilfried von Bredow, Ein Konstrukt, kein Akteur. Die internationale Gemeinschaft zwischen Heterogenität und Verrechtlichung, in: Ulrich Lappenküper/Reiner Macowitz (Hg.), Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen, F. Schöningh, Paderborn 2010, S. 295-313. 35 So lässt sich das Nichthandeln der Staaten im Fall des Völkermords in Ruanda 1994 auch mit den mehr als zwiespältigen Erfahrungen der UNO-Missionen in Somalia 1992/1993 erklären.

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lich in einen Konflikt zwischen Großmächten eskalieren“.36 Vor einem solchen Konflikt schreckten die westlichen Staaten zurück. Die Folge davon war, dass Selbstbestimmungs-Ansprüche von manchen politischen Gruppierungen, die sich selbst als eigenständiges Volk sahen und auch von anderen so gesehen wurden, dennoch kaum Chancen hatten, verwirklicht zu werden, wenn sie etwa mit der nachdrücklichen Zurückweisung solcher Ansprüche seitens der russischen Regierung rechnen mussten. Auf der anderen Seite gibt es einen europäischen Paradefall für die Durchsetzung solcher Ansprüche auch gegen den Widerstand der Zentralregierung (und einiger Staaten in den Vereinten Nationen). Das ist die UnabhängigkeitsGeschichte des Kosovo. Im März 1999 begannen die NATO-Staaten37 nach einer Phase längeren, aber fruchtlosen Verhandelns mit der Regierung in Belgrad und den Sprechern der auf Unabhängigkeit drängenden Provinz Kosovo eine militärische Intervention mit dem Ziel, ethnische Säuberungen im Kosovo seitens serbischer Streitkräfte zu verhindern. Ungefähr 90 % der damaligen Bevölkerung des Kosovo waren Albaner, etwa 5 % Serben. Im föderalen Bundesstaat Jugoslawien, als er noch funktionierte, besaß die albanische Volksgruppe im Kosovo eine Reihe von Selbstverwaltungsrechten. Dies war aber vielen Serben immer schon ein Dorn im Auge gewesen, und im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens unternahm es die Regierung Miločević, diese Rechte wieder zu kassieren, wogegen sich ein breit gefächerter Widerstand der albanischen Bevölkerung formierte. Die humanitäre Intervention der NATO wurde moralisch und rechtlich mit massiven Menschenrechtsverletzungen der serbischen Streitkräfte und Milizen begründet, aber nicht etwa mit dem Recht der Kosovaren auf nationale Selbstbestimmung.38 Nachdem die Regierung in Belgrad als Konsequenz der westlichen Luftangriffe ihr Einverständnis erklärt hatte, serbische Streitkräfte und paramilitärische Truppen aus dem Kosovo abzuziehen, übernahmen die United Nations Interim Administration in Kosovo (UNMIK) und eine multinationale Streitmacht KFOR die Verantwortung für die Verwaltung und die Sicherheit ___________ 36 James D. Fearon, Commitment Problems and the Spread of Ethnic Conflict, in: David A. Lake/Donald Rothchild (Hrsg.), The International Spread of Ethnic Conflict, Fear, Diffusion and Escalation, Princeton University Press 1998, S. 107-126, S. 107 – eigene Übersetzung. 37 Bekanntlich geschah das ohne ein Mandat der Vereinten Nationen, weil Russland und China angekündigt hatten, eine entsprechende Resolution im Sicherheitsrat zu blockieren. Auch anhand dieses Falles kann man die Schwierigkeiten im Verhältnis von Machtpolitik und Völkerrecht anschaulich machen. 38 Tom J. Farer, Humanitarian Intervention Before and After 9/11: Legality and Legitimacy, in: J. L. Holzgrefe/Robert O. Keohane (Hrsg.), Humanitarian Intervention, Ethical, Legal and Political Dilemmas, Cambridge University Press 2003, S. 53-89, S. 57.

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der Provinz. In den folgenden Jahren wurde auf diplomatischer Ebene unter Federführung der Vereinten Nationen darüber verhandelt, ob der Kosovo aufgrund des Selbstbestimmungsrechts aus dem Staatsverband ausscheiden darf oder ob der Erhalt der territorialen Integrität des (post-)jugoslawischen (serbischen) Staates39 Priorität besitzt. Diese Verhandlungen brachten kein Ergebnis. Im Februar 2008 erklärte daraufhin das Parlament in Priština die Unabhängigkeit von Serbien. Manche Staaten haben diesen Schritt diplomatisch anerkannt, manche nicht. In längerer Perspektive erscheint die Sezession des Kosovo als erfolgreiches Beispiel für die Durchsetzung des Anspruchs auf Selbstbestimmung. In seiner Literatur-Übersicht über die unterschiedlichen theoretischen Positionen zum Recht auf Abspaltung unterscheidet Dietrich40 zwischen drei Ansätzen: (1) Theorien, welche die freie Entscheidung einer auf einem Territorium zusammenlebenden Gruppe darüber postulieren, in welchen staatlichpolitischen Verhältnissen sie leben wollen; (2) Theorien, die dieses Recht nur Gruppen mit einer eigenen ethnischen oder nationalen Identität zugestehen, und schließlich (3) Theorien, die das Recht auf Sezession in Analogie zum Widerstandsrecht sehen.41 Dietrich dekliniert diese Ansätze durch und prüft mit ihrer Hilfe das Konfliktverhalten der Führungen in Belgrad und Priština, wobei er fairerweise jegliche Schwarz-Weiß-Malerei vermeidet. Sein nachvollziehbares, vorsichtiges Fazit lautet: Die Abspaltung des Kosovo von Serbien lässt sich prinzipiell rechtfertigen. Jedoch gibt es wichtige Bedingungen. „Die Bildung eines souveränen Kosovo ist nur zu rechtfertigen, wenn die Sicherheit und die Grundrechte der dort lebenden serbischen Minderheit erfolgreich garantiert werden können“.42 Aber genau hier ist das Problem, denn von einer solchen Garantie kann heute nur deshalb gesprochen werden, weil die Europäische Union diesen Part übernommen hat. Das aber kann nur eine Übergangslösung sein, denn die Souveränität eines Staates ist nicht kompatibel mit einem Verhalten seiner Regie___________ 39

Nach dem Auseinanderbrechen der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien bildeten Serbien und Montenegro 1992 zunächst die Bundesrepublik Jugoslawien. Daraus wurde 2003 der Staatenbund Serbien und Montenegro, der sich 2006 auflöste. Seither heißt der Staat Serbien. 40 Frank Dietrich, The status of Kosovo – reflections on the legitimacy of secession, in: Ethics and Global Politics, 3. Jg., N° 2/2010, S. 123-142, S. 127 ff. 41 Die englischen Bezeichnungen lauten: 1) primary right or choice theories; 2) theories of national self-determination; 3) remedial right or just causes theories. 42 Dietrich (Fn. 40), S. 137 – eigene Übersetzung.

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rung und seines politischen Systems insgesamt, das unliebsame interne Aufgaben an Dritte auslagert.

II. Konfliktlinien In diesem zweiten Teil sollen einige der Konfliktlinien in Augenschein genommen werden, die im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht zu Tage liegen. Dabei geht es nicht nur um Schwierigkeiten bei seiner Durchsetzung, sondern auch um die Frage nach deren Voraussetzungen, Begleiterscheinungen und antizipierbaren Konsequenzen. In der politischen Debatte darüber werden die praktischen Schwierigkeiten damit ziemlich direkt, in der völkerrechtlichen Debatte etwas verklausulierter angesprochen. So hat der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Boutros Boutros-Ghali 1992 in seiner vielzitierten „Agenda für den Frieden“ auf eine, wie es damals schien, besonders bedrohliche Schwierigkeit hingewiesen: „Wollte … jede ethnische, religiöse oder sprachliche Gruppe Anspruch auf Staatshoheit erheben, käme es zu einer maßlosen Zersplitterung, und es würde immer schwieriger, Frieden, Sicherheit und wirtschaftliches Wohlergehen für alle zu verwirklichen.“ Und ein paar Sätze weiter: „Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Souveränität, territoriale Unversehrtheit und Unabhängigkeit der Staaten innerhalb des etablierten internationalen Systems und der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker – beides Grundsätze von großem Wert und großer Bedeutung – in der vor uns liegenden Zeit in ein gegensätzliches Verhältnis zueinander geraten“.43 1. Territoriale Integrität vs. Selbstbestimmung zur Sezession Die sich hier ausdrückende Furcht vor einem unverhältnismäßig starken Anwachsen der Zahl von kollektiven Akteuren, die das Selbstbestimmungsrecht für sich beanspruchen könnten, war und ist unter den Regierungen der Staaten weit verbreitet, zumal unter denen, die mit solchen Ansprüchen auf ihrem eigenen Territorium zu rechnen haben. Auch viele Staaten, die in ihrem offiziellen Selbstverständnis ethnisch homogen zu sein beanspruchen, sind unterhalb dieser geglätteten politischen Oberfläche dies keineswegs. Würde sich diese Oberfläche aufrauen, könnten als bedrohlich empfundene Wünsche nach (mehr) Selbstbestimmung einzelner Gruppierungen die Folge sein. Jedenfalls fällt auf, dass in vielen Dokumenten, die das Selbstbestimmungsrecht der Völ___________ 43

Agenda für den Frieden. Analysen und Empfehlungen des UN-Generalsekretärs – Forderungen an die deutsche Politik, Bonn: Stiftung Entwicklung und Frieden, 1992, S. 28 f.

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ker ausdrücklich hervorheben, zugleich auch die territoriale Integrität der Staaten betont wird. In ihrem Prinzipienkatalog macht die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 aus beiden Werten einen festen semantischen Knoten: „Die Teilnehmerstaaten werden die Gleichberechtigung der Völker und ihr Selbstbestimmungsrecht achten, indem sie jederzeit in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und den einschlägigen Normen des Völkerrechts handeln, einschließlich jener, die sich auf die territoriale Integrität der Staaten beziehen“.44 Martti Koskenniemi45 hat darauf hingewiesen, dass diese Verknotung im Prinzip VIII des KSZE-Prinzipienkatalogs, er nennt sie ein „offensichtliches Paradox“, die politische und die rechtliche Aufmerksamkeit von der Sezessionsmöglichkeit weg- und auf einen aktiven Minderheitenschutz innerhalb der bestehenden Staaten hinlenkt. Das ist gewiss eine für die politische Praxis dienliche Folgerung, womit die bestehende Konfliktlinie vielleicht nicht überbrückt, aber leichter umgangen werden kann. Sie bleibt aber theoretisch unbefriedigend, denn die Probe auf den Kuchen kommt beim Essen. Für die Entscheidung, welcher von den beiden einander widerstrebenden Werten in konkreten Einzelfällen Priorität genießen soll, gibt das alles nichts her. 2. Wer ist das Volk? Der Begriff des Volkes ist undeutlich. Wie häufig bei solchen undeutlichen Begriffen hilft im Alltag die Einstellung „Ich kann es zwar nicht definieren, aber wenn ich es sehe, erkenne ich es.“ In einer wissenschaftlichen Analyse ist derlei aber nicht zulässig. Der berühmte Demonstrations-Slogan aus den letzten Tagen der DDR lautete: „Wir sind das Volk“. Dabei lag die Betonung auf dem ersten Wort: Wir. Gemeint war der Gegensatz zu Partei und Herrschaftsapparat, die sich beide volksdemokratisch legitimiert wähnten. Diese Legitimation wurde ihnen durch den Slogan abgesprochen. Noch berühmter wurde dann die Abwandlung dieses Slogans: „Wir sind ein Volk“. Die Betonung lag auf dem Satzende: ein Volk. Hier umfasste der Begriff des Volkes nicht mehr nur die DDR-Bewohner, sondern alle Deutschen in DDR und Bundesrepublik. Dies ist nur ein Beispiel für die verschiedenen Bedeutungen, welche der Volksbegriff sogar in demselben politischen Zusammenhang annehmen kann. Das ist auch nicht zu beklagen. Aber abzustellen ist es auch nicht. Auf jeden ___________ 44 Auswärtiges Amt (Hrsg.), Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Dokumentation zum KSZE-Prozess, 7. Aufl., Bonn 1990, S. 56. 45 Martti Koskenniemi, National Self-Determination Today: Problems of Legal Theory and Practice, in: The International and Comparative Law Quarterly, 43. Jg., N° 2/1994, S. 242-269, S. 256.

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Fall wird in der Literatur zum Selbstbestimmungsrecht der Völker immer wieder darauf hingewiesen, dass, weil es keine exakte und verbindliche Definition des Begriffes Volk gibt, der Träger dieses Rechts auch nicht exakt und verbindlich definiert werden kann. Koskenniemi46 spricht deshalb von dem „revolutionären und unklaren Charakter der Selbstbestimmung“. Und Klein47 formuliert leicht verdrießlich: „Auch wenn weitgehend Einigkeit darüber erzielt werden kann, dass es sich dabei um eine soziale Einheit handelt, die eine eigene klare – ethnische, kulturelle – Identität und ihren eigenen Charakter hat, bleibt doch noch vieles im Hinblick auf die nähere Abgrenzung des Personenkreises, der das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nehmen kann, ungeklärt.“ Aber er überspielt diese Verdrießlichkeit dann mit einer etwas überraschenden Aussage: „Die begriffliche Unschärfe, die in vielen Fällen nicht zu leugnen ist, kann daher die Existenz des Rechts nicht insgesamt diskreditieren.“48 Unterm Strich kommt bei all solchen Deliberationen heraus: „Volk ist, wer ein Volk sein will. Also entscheidet die Selbstdefinition“.49 Aber sie muss, wenn das Selbstbestimmungsrecht beansprucht wird, ergänzt werden um die Anerkennung dieser Selbstdefinition durch andere Akteure, möglichst solchen, die im internationalen System einen hohen Status haben. In der politischen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden solche Selbstdefinitionen von Kolonien nach einigem Zögern weltweit anerkannt, auch gegen politisch-rechtliche Manöver einiger Kolonialmächte, ihre Kolonien oder einige davon als Bestandteil ihrer eigenen Nation zu deklarieren. Der Versuch, das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die Kolonien zu beschränken und es damit gewissermaßen zu zähmen, wurde auch gemacht, aber er blieb dann doch erfolglos, weil mit dem Abschluss der Entkolonialisierung keineswegs alle aktuellen und potentiellen Ansprüche auf Selbstbestimmung erledigt waren.50 Auch ein anderer Einschränkungsversuch, nämlich einzig die Staatsbürger eines Staates in ihrer Gesamtheit als selbstbestimmungsberechtigtes Volk anzusehen, hat sich nicht durchgesetzt. ___________ 46

Koskenniemi (Fn. 45), S. 242. Klein (Fn. 8), S. 363. 48 Das kann man nicht ohne hochgezogene Augenbrauen zur Kenntnis nehmen. Was ist denn eine „klare Identität mit eigenem Charakter“? Ein Volkscharakter? Das ist ein Begriff, den man auch besser meidet, will man sich nicht in einem Urwald von Klischees verirren. Liegt die Entscheidung darüber, ob derlei vorliegt oder nicht, eben wegen der begrifflichen Unschärfe im politischen Auge des Betrachters? Und wenn ein Begriff unscharf ist, dann ist er es doch in allen und nicht nur in „vielen“ Fällen. 49 Fisch (Fn. 12), S. 41. 50 Martti Koskenniemi (Fn. 45), S. 242; Robert McCorquodale, Self-Determination: A Human Rights Approach, in: The International and Comparative Law Quarterly, 43. Jg., N° 4/1994, S. 857-885, S. 859 ff. 47

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Der Ansatz, das Selbstbestimmungsrecht der Völker mittels einer – irgendeiner – Definition des Volksbegriffes zu begründen, funktioniert nicht, jedenfalls nicht als rechtliche Begründung. Denn die Anerkennungs-Entscheidung eines Staates für ein Volk innerhalb seines Staatsgebietes oder woanders ist letztlich immer eine politische Entscheidung. Und, schreibt McCorquodale51, die Menschen, die ihr Selbstbestimmungsrecht geschützt sehen möchten, dürfen doch nicht von den wankelmütigen politischen Entscheidungen von Regierungen („the whims of governments“) abhängig sein. Sind sie aber. 3. Innere Autonomie versus Abspaltung Die Schwierigkeit, den Träger des Selbstbestimmungsrechts zu identifizieren und als solchen anzuerkennen, ist das eine. Nachdem sie im konkreten Einzelfall neutralisiert worden ist, beginnen aber neue. Denn Warnungen wie die von Boutros-Ghali, das Selbstbestimmungsrecht nicht automatisch so zu verstehen, dass es nur als Instrument zur Sezession und Bildung eines „eigenen“ Staates führen kann, sind ja nicht aus der Luft gegriffen. Eben wegen des Fehlens einer ubiquitären Definition eines Volkes gibt es auch keine genauen Zahlen über die Völker auf dem Planeten. McCorquodale52 führt eine Schätzung an, wonach es ungefähr 5.000 ethnische oder nationale Gruppierungen sind, die als Träger des Selbstbestimmungsrechts in Frage kommen könnten.53 Die Vorstellung, der Globalisierungsprozess, der ja in der Tat auch staatliche Fragmentierungen umfasst, könnte die Zahl der Staaten in die Tausende hochtreiben, ist für alle, die eine gewisse Stabilität des internationalen Systems als einen wichtigen Wert ansehen, eine Art Albtraum. Nimmt (nähme) man es genau, dann impliziert das Selbstbestimmungsrecht auch das Recht auf Sezession. Aus den eben genannten übergeordneten Erwägungen heraus, aber auch in vielen konkreten Fällen aus staats-internen machtpolitischen Gründen haben Sezessionen nur eine geringe Erfolgschance, jedenfalls immer dann, wenn ein „starker“ Staat eine solche Bestrebung auf seinem Territorium nicht zulässt. Fisch54 spitzt diesen Zielkonflikt zu, wenn er schreibt: „Wer keine Sezession zulässt, kann aber auch kein Selbstbestimmungsrecht zulassen.“ Das stimmt, ___________ 51

McCorquodale (Fn. 50), S. 868. McCorquodale (Fn. 50), S. 857. 53 Circa 5.200 sind es nach der Website http://www.voelker-der-erde.de/ (Zugriff am 24.11.2010). Im Übrigen zählen, nebenbei gesagt, Anthropologen heute 6.500 bis 7.000 verschiedene Sprachen auf der Erde, wobei manche nur von ganz wenigen Menschen gesprochen wird. Die Zahl der lebenden Sprachen nimmt deshalb ab. Hat das auf längere Sicht Signalcharakter für die Träger des Selbstbestimmungsrechts? 54 Fisch (Fn. 12), S. 55. 52

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logisch betrachtet; aber es stimmt nicht so ganz und immer, politisch betrachtet. Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma ist die Eröffnung eines gewissermaßen verdünnten Selbstbestimmungsrechtes für eine ethnische, kulturelle oder religiöse Gruppierung, die in einem bestehenden Staat, ohne ihn verlassen zu können oder zu wollen, mehr Selbstverwaltungsrechte fordert. Darunter fallen insbesondere solche, mittels derer die ethnischen, kulturellen oder religiösen Eigenarten dieser Gruppierung geschützt und gepflegt werden. Föderale Verfassungsmodelle bieten sich für die Institutionalisierung solcher Ansprüche am ehesten an. Multiethnische Staaten wie die Sowjetunion und Jugoslawien wiesen stark entwickelte föderale Strukturen auf. Sie bieten zugleich Beispiele dafür, wie derlei dennoch nur über Zwang aufrechterhalten werden kann – eine Zeitlang. Innerhalb der westlichen Staaten geben etwa Kanada, Spanien oder Belgien Beispiele ab für einen multinationalen Föderalismus. Besonders gut funktioniert das auch nicht, aber interne Konflikte, etwa der zwischen Québec und dem Rest von Kanada, spielen sich doch in demokratischen Formen und nach demokratischen Spielregeln ab. Aber selbst, wenn solche Regeln gelten, kann sich kollektiver Unmut mit der Situation einer als mangelhaft empfundenen Selbstbestimmung ansammeln. Dies dann wieder zu de-eskalieren, ist ein Vorgang, der die ‚normale‘ demokratische Politik vor sehr große Herausforderungen stellt. Das lässt sich gegenwärtig an Belgien studieren, dessen innerer Zusammenhalt zunehmend zur Disposition steht. Für den Sachverhalt „mehr Selbstverwaltung“ innerhalb eines Staates hat sich der Begriff Autonomie fest eingebürgert, so dass man ihn kaum aus der politisch-rechtlichen Sprache verbannen kann. Aber wenigstens angemerkt werden soll doch, dass es sich bei dieser Art von Autonomie gerade nicht um eine solche im strengen Wortsinne handelt, vielmehr (nur, aber immerhin) um eine Lockerung der Einbindung. 4. Minderheitenschutz und Menschenrechte Was aus der Perspektive von mehr Selbstbestimmung55 einfordernden Gruppierungen ein Recht ist, stellt sich aus der Perspektive des zentralen Staates als die Pflicht zum Schutz der in ihm lebenden Minderheiten dar. Der Minderheitenschutz ist, rechtlich gesehen, nicht etwa ein Gruppenrecht wie das Selbstbestimmungsrecht. „Im Lichte des unvergleichlichen Siegeszuges der Menschenrechte im modernen Völkerrecht werden auch die Minderheitenrechte als Individualrechte der einzelnen Angehörigen nationaler, kultureller und sprachlicher Minderheiten ausgestaltet“.56 Das ist nicht so ganz einfach, weil Minderheiten___________ 55

Hier haben wir übrigens ein kleines sprachliches Paradox – „mehr Selbstbestimmung“ ist weniger als „Selbstbestimmung“. 56 Heintze (Fn. 6), S. 33.

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Schutz-Aspekte sich ja auf ein Kollektiv beziehen, das es zu erhalten, weiterzuentwickeln und zu schützen gilt. Zu schützen gegen was oder wen? In der Hauptsache sind hier die Mehrheitsgruppierungen in der Gesellschaft eines Staates gemeint, die davon abgehalten werden sollen, die Minderheiten zu diskriminieren, assimilieren zu wollen oder gar aus dem Territorium, wo sie leben, vertreiben zu wollen. Die Pflicht eines Staates zum Schutz in ihm lebender Minderheiten ist also so gedacht, dass er in andere Richtungen weisende Impulse aus sich selbst heraus nicht zum Zuge kommen lässt. Minderheitenschutz ist ein Schutz gegen den Staat. Das sind die Menschenrechte auch. Für Sutter57 gibt es deshalb auch keine kollektiven Menschenrechte, so dass er zu der Auffassung gelangt, das Selbstbestimmungsrecht bezeichne kein Menschenrecht, vielmehr eher ein staatliches Gegengewicht zum Menschenrecht. Genau umgekehrt argumentiert McCorquodale58, für den sich das Selbstbestimmungsrecht am besten über den Ansatz der Menschenrechte begründen lässt. Das Selbstbestimmungsrecht ist geschaffen für alle Lagen, in denen Völker unterdrückt, von anderen beherrscht oder ausgebeutet werden. Die früheren Kolonien sind nur ein Anwendungsfall für das Selbstbestimmungsrecht; es gibt noch andere. Das Selbstbestimmungsrecht unter dem Aspekt der Menschenrechte zu analysieren, hat nach McCorquodale den Vorteil, dass es nicht „absolut“ gesetzt werden muss, was unabdingbar wäre, gäbe es eine allgemein akzeptierte Definition dessen, was unter dem Begriff Volk zu fassen ist. Jede von einer solchen Definition erfasste Gruppierung hätte dann das zwingende Recht zur Selbstbestimmung, was immer der Inhalt und die politischen Konsequenzen dieser Willensbildung wären. So aber könne der Prozess-Charakter der Selbstbestimmung im Widerspiel zur Staatspraxis besser zur Geltung gebracht werden. Auf diese Weise ließen sich gegenläufige Interessen besser ausbalancieren. Das ist ein interessanter Gesichtspunkt, wenn ihm auch die letzte Überzeugungskraft zu fehlen scheint. 5. Selbstbestimmung, Demokratie und Gewalt Sie fehlt auch deshalb, weil sich in den letzten zwei Jahrzehnten nachdrückliche Inanspruchnahmen des Selbstbestimmungsrechts nur im Ausnahmefall mit den Interessen und Prioritäten des zentralen Staates argumentativ und nach demokratischen Spielregeln ausbalancieren ließen. In aller Regel gehört zu den Folgen von solcher nachdrücklichen Inanspruchnahme des Selbstbestimmungs___________ 57

Alex Sutter, Keine kollektiven Menschenrechte! Zur Problematik der Minderheitenrechte im Rahmen der individuellen Menschenrechte, in: Widerspruch, N° 35/1998, S. 35-47. 58 McCorquodale (Fn. 50).

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rechts der Ausbruch von Gewalt zwischen dem Staat und der sich als eigenständiges Volk oder als Nation begreifenden Gruppierung innerhalb dieses Staates, die ihren eigenen Staat „in Besitz nehmen“ möchte. Ob dies gelingt, wie im Falle der Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawien und einer Reihe von Staaten aus der Konkursmasse der früheren Sowjetunion, oder ob das misslingt, wie etwa im Fall Tschetscheniens, oder ob es durch besondere Umstände in der Schwebe gehalten wird wie im Falle Palästinas – auf jeden Fall kam es zu Gewalthandlungen. Sie können von kürzerer oder längerer Dauer sein, aber von der harmonischen Idee, das Recht setze sich sozusagen von selbst und getragen von seinen eigenen Schwingen durch, bleibt angesichts dieses Sachverhalts wenig übrig. Wenn der mit den Forderungen nach Selbstbestimmung für eine auf seinem Gebiet lebende Gruppierung konfrontierte Staat eine Demokratie ist, stehen die Chancen für eine friedliche Regelung besser. Allerdings nur graduell. Sowohl die lange Auseinandersetzung Großbritanniens mit der IRA in Nordirland als auch die Gewalttaten der baskischen ETA in Spanien, um nur diese Beispiele zu nennen, legen Skepsis nahe. Zwar wird heute oft die These vertreten, dass Selbstbestimmungsrecht und Demokratie Hand in Hand gehen. Aber das ist mehr eine politische Forderung und noch lange nicht erreicht. Ganz zu schweigen von den beiden ersten großen Karriere-Sprüngen des Selbstbestimmungsrechts nach dem Ersten Weltkrieg und während der Entkolonialisierung. Hier wie dort hat sich das Selbstbestimmungsrecht mit nicht-, manchmal sogar antidemokratischen Ideologien verbunden. Selbst wo es Plebiszite gab, waren sie oft nur der Ausdruck erbitterten politischen Ringens mit Tricks unterhalb der demokratischen Gürtellinie. 6. Selbstbestimmung als Wiedergutmachung Dies soll nur ein kursorischer Unterpunkt sein, der aber insofern angesprochen zu werden verdient, als bei dem bislang erfolgreichsten Karriere-Schritt des Konzepts der Selbstbestimmung eine ganze Reihe von im Grunde untrennbar mit ihm verbundenen politischen Aspekten kaum eine Rolle gespielt haben, jedenfalls in der Praxis nicht. (In der Rhetorik der Entkolonialisierungs- und neuen Herrschaftseliten in den unabhängig gewordenen neuen Staaten nehmen sie freilich breiten Platz ein.) Gemeint sind die Aspekte Menschenrechte, Minderheitenschutz und Demokratie. Sie alle gelten, das geht aus den Ausführungen bis jetzt ja deutlich hervor, als untrennbar verbunden mit dem Selbstbestimmungsrecht. In den früheren Kolonien ist mit diesen Werten und Normen während der Jahrzehnte seit ihrer staatlichen Unabhängigkeit unterschiedlich verfahren worden, so dass sich Pauschalurteile verbieten. Jedoch zeigt schon

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ein oberflächlicher Überblick, dass die neuen Herrschaftseliten eher wenig davon verwirklicht haben. Das hat auch Kritik hervorgerufen, weniger von den westlichen Regierungen der früheren Kolonialstaaten als vielmehr von transnationalen Menschenrechtsorganisationen, aber diese Kritik ist es gewöhnt zu verhallen. Zumal ein Argument der Regierungen in den neuen Staaten darauf hinauslief, alle Verantwortung für diesbezügliche Missstände auf die früheren Kolonialverwaltungen zu schieben. Dieses Argument hat gewiss etwas für sich, etwa wenn man an die zuweilen eigenartigen Grenzverläufe in Afrika denkt und die uti possidetisKonsequenzen für die nation-building-Prozesse in den neuen Staaten. Indes verliert dieses Argument mit der Zeit immer mehr an Überzeugungskraft. Das Selbstbestimmungsrecht hat, so lässt es sich zuspitzen, in der Epoche der Entkolonialisierung, aus der Sicht der erschöpften Kolonialmächte auch die Funktion einer Wiedergutmachung gehabt, wenigstens auf symbolischer Ebene. Das ist ihm aber nicht gut bekommen. Heute könnte das Motiv der Wiedergutmachung in einem anderen Zusammenhang wieder eine Rolle spielen, nämlich wenn es um das Selbstbestimmungsrecht der so genannten indigenen Völker geht.59 Diesen Völkern ist in der Vergangenheit in der Tat übel mitgespielt worden; deshalb gibt es gute Gründe für ihre besondere Schutzwürdigkeit. Die Vertreter indigener Völker oder der first nations nehmen in der Regel das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch, um mehr Selbstverwaltungsrechte und Forderungen nach Überlassung (Rückgabe) bestimmter Ländereien (land claims) innerhalb der Staaten durchzusetzen, auf deren Territorien sie leben. Wie berechtigt das auch immer sein mag, es muss auffallen, dass der diesbezügliche Diskurs in Ländern wie Kanada, den Vereinigten Staaten oder Australien stark vom Gedanken der Wiedergutmachung beeinflusst wird. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Jedoch besteht die Gefahr, das Problem der häufig sehr komplizierten und schwierigen Lage der Angehörigen indigener Völker in der modernen Gesellschaft zu romantisieren.60 7. Selbstbestimmungsrecht und Staatszerfall Der Ost-West-Konflikt besaß unter anderem auch eine StabilisierungsFunktion für schwache Staaten, insofern nämlich deren Regierungen für ihre Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen ‚Lager‘ oder auch nur ihre Nicht___________ 59

Vgl. u. a. Monika Ludescher, Menschenrechte und indigene Völker, Peter Lang, Frankfurt/M. 2004, S. 363 ff. 60 Nicht ganz frei davon ist die im September 2007 von der Generalversammlung der UNO angenommene United Nations Declaration on the Right of Indigenous Peoples.

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Zugehörigkeit zu dem jeweils anderen Lager einen Preis verlangten – Entwicklungs- und Militärhilfe. Die damit erreichten Stabilisierungen waren jedoch häufig nur oberflächlicher Natur, wie sich nach dem Ende des Ost-WestKonflikts rasch herausstellte. Schwache oder fragile Staatlichkeit und, einen Schritt weiter, Staatszerfall können durch die Politisierung ethnischer oder kultureller (einschließlich religiöser) Unterschiede verstärkt werden. Die Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts führt aber in solchen Situationen nicht dazu, dass nach einer Übergangsphase neue und stabilere staatliche Einheiten entstehen oder dass die Selbstverwaltungsmöglichkeiten der Gruppe wirklich verbessert werden. Vielmehr stehen Bürgerkrieg, ethnische Säuberungen und generelle Unsicherheit ins Haus. Eine die Grenzen zur organisierten Kriminalität und zum Terrorismus überspringende Kriegsökonomie entsteht – außer den warlords und Anführern organisierter Banden samt ihrer Klientele profitiert niemand von diesen Zuständen, weder im Lande noch außerhalb davon. Das Problem-Syndrom, das mit solchen Entwicklungen verbunden ist, übt einen starken Druck auf die betroffenen Menschen aus, aber auch, vermittelt über die Medien, auf die internationale Öffentlichkeit. Hier setzen dann die Auseinandersetzungen über humanitäre Interventionen und Friedensmissionen an, deren Ziel in kurzer Perspektive erst einmal die Linderung des Elends vor Ort sein muss. In mittlerer und längerer Perspektive geht es dann aber um den Aufbau oder Wiederaufbau von politischen Ordnungsstrukturen, die so beschaffen sein sollten, dass sie dem Selbstbestimmungsrecht kein Hindernis in den Weg bauen.61 Die Fallstudien des „States at Risk“-Projekts der Stiftung Wissenschaft und Politik62 befassen sich mit Weißrussland, Jordanien, Kenia, Sambia, Turkmenistan und Venezuela (als „schwache Staaten“) und Birma, Georgien, Indonesien, Jemen, Pakistan und Sri Lanka (als „versagende Staaten“). Eine vollständige Liste von Staaten, die man in eine dieser beiden Kategorien einordnen muss, wäre noch erheblich länger. Das einigermaßen vage Konzept, aber wegen des Fehlens anderer Konzepte auch das einzige, was aus westlicher Sicht gegen solche Verfallsprozesse unternommen werden kann, ist das des state building. Man kann gegenwärtig besonders drastisch am Fall Afghanistans studieren, wie wenig die kombinierten Anstrengungen einer größeren Zahl westlicher Länder bewirken, um state building in Gang zu bekommen. Das Selbstbestimmungsrecht spielt innerhalb ___________ 61

Vgl. auch Matthias Pape, Humanitäre Intervention. Zur Bedeutung der Menschenrechte in den Vereinten Nationen, Nomos, Baden-Baden 1997. 62 Ulrich Schneckener (Hrsg.), Fragile Staatlichkeit. ‚States at Risk‘ zwischen Stabilität und Scheitern, Nomos, Baden-Baden 2006.

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solcher Anstrengungen von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren eine große Rolle. Aber richtig umsetzen lässt es sich nicht. 8. Selbstbestimmungsrecht und Integrationsprozesse In seiner Philippika gegen den im Juni 2003 vom Europäischen Rat angenommenen „Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa“, der sich dann aber in der Europäischen Union nicht implementieren ließ, schreibt Schachtschneider63, ein solcher Schritt in Richtung auf die Bildung eines europäischen Bundesstaates müsse als Voraussetzung die Bildung eines europäischen Volkes erfüllt haben. Die Bildung einer europäischen Nation sei vor allem Sache der europäischen Völker, die den Willen haben müssen, in einer Nation zu leben. „Diesen Willen müssen die Völker, die Bürgerschaften, selbst erklären, unmittelbar demokratisch.“ Die juristischen Ausführungen des Autors und seiner Mitstreiter, insgesamt eher Außenseiter im akademischen und politischen Diskurs zur Weiterentwicklung der Europäischen Union, brauchen uns in diesem Zusammenhang nicht zu interessieren. Es geht hier nur um einen Aspekt des Selbstbestimmungsrechts, der in den meisten Debatten darüber keine Rolle spielt, nämlich die allmähliche Vertiefung der teils zwischenstaatlichen, teils supranationalen Integration Europas. Dabei wird gerade nicht eine besondere nationale, ethnische oder sonst wie begründete Eigenart geschützt und gepflegt, stattdessen geht es um einen Prozess gegenseitiger Anpassung nationaler Politik von Mitgliedsstaaten der Union und – vielleicht – in der Tat um die Ausbildung eines europäischen demos. Wie sich die einzelnen Schritte bei diesem Prozess am klarsten legitimieren lassen, wird in den Staaten Europas unterschiedlich gesehen. So müssen in einigen von ihnen Volksabstimmungen über die Annahme oder Ablehnung solcher Verträge wie den Verfassungs-Entwurf angesetzt werden, in anderen genügt eine Ratifizierung durch das Parlament. Die im Laufe der Jahre angewachsene Distanz vieler Menschen in der Europäischen Union zu dem Gemeinschaftsprojekt geht auf mehrere Ursachen zurück. Aber eine davon ist sicherlich auch, dass in dieses Projekt zu wenig Selbstbestimmung eingeflossen ist.

___________ 63

Karl Albrecht Schachtschneider, Das europäisierte Deutschland nach dem Konventsentwurf einer ‚Verfassung für Europa‘, 2003, http://www.kaschachtschneider. de/Schriften/Dokumente-herunterladen/Konventsentwurf.pdf (Zugriff am 5.11.2010), S. 12.

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III. Fazit Selbstbestimmung, so kann man Koskenniemi64 interpretieren, ist einerseits ein Konzept, das auf dem Sinn für gemeinschaftliche Nähe und gemeinsamen Vorstellungen von der Rolle der eigenen Gruppe in der Welt beruht und also auch auf Freiheit und der Verwirklichung individueller Lebensentwürfe in einem „eigenen“ Kollektiv. Es kann aber auch einen bösartigen Sinn annehmen, dann nämlich, wenn die eigenen kollektiven Rechtsansprüche bis ins Extrem gedehnt und die sich damit überlappenden Ansprüche anderer Kollektive militant verneint werden. Diese Widersprüchlichkeit besteht sozusagen aus dem Inneren des Selbstbestimmungsrechts heraus, und auch der gemütvolle Hinweis, das Recht der einen habe dort seine Grenze, wo es das gleiche Recht anderer verneine, hilft in der Praxis der Auseinandersetzungen kaum weiter. Auch aus einer anderen Perspektive heraus kommen potentiell anomische Konsequenzen des Selbstbestimmungsrechts in den Blick, nämlich der der internationalen Ordnung. Wenn man sich nicht den Trugschluss einredet, dass die generelle Entwicklung der Politik auf dem Planeten auf einen Siegeszug der Demokratie (westliches Modell) innerhalb der Staaten und auf den dann automatisch anbrechenden „demokratischen Frieden“ zwischen den Staaten hinauslaufen wird, dann wird man sich damit anfreunden müssen, dass die Stabilität dieser Ordnung auch damit bezahlt wird, dass in einigen, vielleicht sogar in nicht wenigen politischen Einheiten auf dem Globus die faktische Nichtachtung formell anerkannter Rechtsgrundsätze weiterbesteht. „Das Selbstbestimmungsrecht hat viele Gegner, die ihre Gegnerschaft aber nicht offen zu äußern wagen, und wenige kompromisslose Anhänger“.65 Auch die deutsche Bundesregierung gehört nicht zu diesen kompromisslosen Anhängern, obwohl es 1991 im Fall der diplomatischen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens oberflächlich so aussah. Kompromisslose Anhänger bringen es in der Politik zu nichts, jedenfalls zu nichts Beständigem. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, dass wir das Selbstbestimmungsrecht der Völker, so wie es kodifiziert worden ist, nicht respektieren und ihm, wo möglich, bei der Durchsetzung helfen sollten. Aber dieses „wo möglich“ ist eine Einschränkung von enormem praktischem Gewicht.

___________ 64 65

Koskenniemi (Fn. 45), S. 259 f. Fisch (Fn. 12), S. 288.

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Abstract The end of the East-West conflict in 1990 transformed the international order. National self determination seemed to become a constitutive element of the new multipolar world order. This assumption was, however, premature. The concept of national self-determination played an important role in Germany’s peaceful unification and in the mostly, but not always peaceful decomposition of former multinational socialist/communist states like the Soviet Union and Yugoslavia. However, these developments did not open the road for a general break-through of national self-determination. The article argues that the concept of national self-determination is characterized by an unavoidable ambiguity. On the one hand, it responds to the more or less strongly developed sense of national identity, but often it creates new or deepens old conflicts. Both from an international law and from an international relations perspective, national selfdetermination is not able to function as a principle pillar of the international order.

Die Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg1 Von Gregor Ploch

I. Einleitung Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte für die europäische Nachkriegsordnung radikale Umwälzungen nicht nur in territorialer, wirtschaftspolitischer und sozialer Dimension, sondern auch in der Art und Weise, wie Konflikte zukünftig gelöst wurden. Die Grundzüge der neuen Ordnung arbeitete USPräsident Woodrow Wilson in seinem berühmten 14-Punkte-Programm heraus, das er Anfang 1918 vorstellte. Das Leitmotiv war das Selbstbestimmungsrecht der Völker als ein völkerrechtlicher Grundsatz, nach dem jede Nation das Recht hat, die wirtschaftspolitische und gesellschaftliche Ausrichtung ihres Staates selbst zu gestalten. Eines der wirksamsten Instrumente waren dabei Volksabstimmungen, in denen Volksgruppen ihren Wunsch nach der Änderung der Staatssouveränität artikulieren und gegebenenfalls auch herbeiführen konnten.2 Dieser Aspekt ist der Gegenstand des vorliegenden Artikels, welcher der Frage nachgeht, wie demokratisch diese Prozesse waren und inwieweit man wirklich von der Selbstbestimmung der Völker sprechen kann. Dabei soll die Volksabstimmung in Oberschlesien vom 20. März 1921 in den Vordergrund rücken, weil dieses Plebiszit für den weiteren Verlauf der Geschichte am verhängnisvollsten war und sehr deutlich die geopolitische Lage verdeutlicht. Die oberschlesische Region war bei diesem Konflikt nur ein Handlungsobjekt, ein Spielball der großen Mächte im Ringen um die europäische Nachkriegsord___________ 1 Der vorliegende Artikel ist eine erweiterte und überarbeitete Fassung des gleichnamigen Referats, das im Rahmen der Tagung gehalten wurde. Die Textfassung lehnt sich an bestehende Forschungsliteratur an, wobei der Vortragscharakter ganz bewusst beibehalten wurde. 2 Vgl. zu dieser Thematik: Dieter Blumenwitz/Boris Meissner (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht 2), Köln 1984; Otto Kimminich, Der Selbstbestimmungsgedanke am Ende des Ersten Weltkrieges – Theorie und Verwirklichung, in: Richard Breyer (Hrsg.), Deutschland und das Recht auf Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg, Probleme der Volksabstimmungen im Osten (1918-1922), Bonn 1985, S. 11-39; sowie Eckart Klein, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht 4), Berlin 1990.

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nung. Um Oberschlesien drehte sich auch die Frage, ob diese vom Versailler Vertrag bestimmte politische Zukunft Europas dauerhaft Bestand haben würde. Bis zum Ersten Weltkrieg gab es meistens nur einen Weg, um die Änderung der staatlichen Souveränität herbeizuführen, nämlich den Krieg bzw. Militäreinsatz. Diese Art von Konfliktlösung sollte nun demokratischeren Methoden weichen: Dazu gehörten Volksabstimmungen, deren Ausgang nicht selten durch militärische Intervention beeinflusst wurde, und die bedingungslose Abtretung von Gebieten, die von der Völkergemeinschaft bestimmt wurde. Der letztgenannte Schritt wurde mehrfach angewendet, so z.B. im Saarland, wo eine Volksabstimmung erst 1935 durchgeführt wurde, im Elsass und in Lothringen, in Danzig, im Memelland, im Südtirol und in zwei Teilen Oberschlesiens, die an die neu gegründete Tschechoslowakei abgetreten wurden: im sog. „Olsagebiet“ und im sog. „Hultschiner Ländchen“. Der östliche Teil des ehemaligen Kronlandes Herzogtum Ober- und Niederschlesien (Österreichisch-Schlesien), das Ostschlesien bzw. Teschener Schlesien genannt wurde, wurde am 23. Januar 1919 von der ein Jahr zuvor gegründeten Tschechoslowakischen Republik annektiert. Diese Region blieb bis 1938 ein Zankapfel zwischen der Tschechoslowakei und Polen und wurde unter der Bezeichnung „Olsagebiet“ bekannt. Die letzte österreichische Volkszählung vom 31. Dezember 1910 ergab, dass dort 434.821 Menschen lebten. Davon sprachen 53,8 % Polnisch, 26,6 % Tschechisch und 17,7 % Deutsch.3 Im Falle der polnischsprachigen Gruppe ließ sich der Sprachgebrauch mit der nationalen Zugehörigkeit jedoch nicht automatisch gleichsetzen. Die Tschechoslowakei beanspruchte den westlichen Teil des „Olsagebietes“ für sich, wodurch sie einen Konflikt mit Polen provozierte. Dieser konnte auch nicht durch die Unterzeichnung eines Abkommens zwischen dem tschechoslowakischen Außenminister Edvard Beneš und dem Leiter der polnischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Paris, Roman Dmowski, abgebaut werden. Dieses Dokument vom 1. Februar 1919 sah die Durchführung eines Plebiszits vor. Auch der Schiedsspruch des Oberstes Rates der Friedenskonferenz im September 1919, ein Plebiszit über die staatliche Souveränität durchzuführen, konnte nicht verhindern, dass sich die politische Lage in diesem Gebiet dramatisch zuspitzte und einem Chaos glich. Aus diesem Grunde fasste am 28. Juli 1920 der Botschafterrat der Alliierten einen Schiedsspruch, auf die Volksabstimmung zugunsten einer bedingungslosen Abtretung zu verzichten.

___________ 3 Statistiken nach Ludwig Patryn, Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in Schlesien, Troppau 1912, S. 80 f.

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Damit folgte der Rat den Plänen des tschechoslowakischen Außenministers Edvard Beneš, die Region zu teilen.4 Ähnlich spannungsgeladen sah die Situation im südöstlichen Teil des Landkreises Ratibor aus. Diese Region fiel im Rahmen der Beschlüsse des Breslauer Vorfriedens, der 1742 den Ersten Schlesischen Krieg zwischen Friedrich II. und Maria Theresia beendete, an Preußen. 1920 beanspruchte die Tschechoslowakei dieses Gebiet für sich. Umgekehrt sah die Lage in dem größeren, ehemals preußischen Teil Oberschlesiens aus. Selbst Oberschlesiern ist der Umstand kaum bekannt, dass in der ursprünglichen Fassung des Versailler Friedensvertrags keine Volksabstimmung vorgesehen war. Die Franzosen folgten den Wünschen der Polen und wollten ihnen den größten Teil dieses Gebietes bedingungslos abtreten. Dem widersetzten sich die Briten vehement, worauf noch an späterer Stelle näher eingegangen wird. Das Prinzip der Volksabstimmung ging vom Selbstbestimmungsrecht der Völker aus. Dennoch war damit keine Garantie gegeben, dass sich der Oberste Rat der Alliierten an das Votum der Wähler hielt und es umsetzte. Bestes Beispiel dafür war die Abstimmung in Vorarlberg am 11. Mai 1919, bei der sich die Bevölkerung zu fast 80 % für die Eingliederung in die Schweiz aussprach. Auch das Abstimmungsergebnis in Tirol vom 24. April 1921 wurde ignoriert, nachdem das Votum mit über 98 % klar für Deutschland ausgefallen war.5 Es gab aber auch Fälle, dass Plebiszite sich nicht für Änderungen der Staatssouveränität aussprachen. So wurden beispielsweise die Kärntner am 10. Oktober 1920 darüber befragt, ob sie bei Österreich verbleiben oder dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen einverleibt werden sollten. Kärnten wurde dabei in zwei Zonen geteilt, in denen an unterschiedlichen Terminen abgestimmt werden sollte. Zunächst gingen die Südkärntner (Zone A) zur Wahl. Da sie sich für den Verbleib bei Österreich aussprachen, wurde die Abstimmung in der Nordzone B gegenstandslos. An dieser Stelle sollte der Blick auf die weiteren Volksabstimmungen, die in den Pariser Vorortverträgen beschlossen wurden, gerichtet werden. Dazu kam es in den Jahren 1919 bis 1921 sowie in verspäteter Folge und unter anderen ___________ 4

Hans Roos, Geschichte der Polnischen Nation 1918, S. 1916-1960; von der Staatsgründung im Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart 1961, S. 89 f; Guido Hitze, Carl Ulitzka (1873-1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 40), Düsseldorf 2002, S. 301. 5 Heidemarie Uhl, Zwischen Versöhnung und Verstörung, Eine Kontroverse um Österreichs historische Identität fünfzig Jahre nach dem „Anschluß“, Wien u. a. 1992, S. 48.

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politischen Vorzeichen auch, wie bereits eingangs erwähnt, im Jahre 1935 im Saarland. Chronologisch gesehen, fand die erste Volksabstimmung in Vorarlberg statt. Dieser folgte das Plebiszit in Schleswig. Ähnlich wie in Kärnten wurde das Gebiet in zwei Zonen geteilt: Nord- und Mittelschleswig. Auf ein Plebiszit in Südschleswig wurde verzichtet. Hierbei handelte sich um ein Gebiet, das im deutsch-dänischen Krieg 1864 von Preußen eingenommen wurde. Die Abstimmung erfolgte an zwei unterschiedlichen Terminen, im Februar und im März 1920. In Nordschleswig sprachen sich 74,9 % der Stimmberechtigten für die Änderung der Staatssouveränität zugunsten Dänemarks aus, in Mittelschleswig plädierten 80,2 % für den Verbleib beim Deutschen Reich. Die beiden Zonen wurden auch dementsprechend aufgeteilt.6 Die erste Volksabstimmung, die die Staatssouveränität Polens berührte, war jene im Regierungsbezirk Allenstein und Marienwerder am 11. Juli 1920. Sie wurde in den Artikeln 94-98 des Versailler Friedensvertrags bestimmt. Die Wahlberechtigten wurden vor die Frage gestellt, ob sie in der deutschen Provinz Ostpreußen verbleiben oder Bürger der Polnischen Republik werden wollten. Für die polnische Regierung war diese Abstimmung die erste große Herausforderung, weil die Festlegung der Staatsgrenzen im Norden vom Ausgang des Plebiszits abhing. Außerdem wurde dieses als ein bedeutender Test vor der Volksabstimmung in Oberschlesien angesehen. Für die polnische Seite fiel das Ergebnis jedoch äußerst ernüchternd aus. 92,4 % der Stimmberechtigten im Abstimmungsgebiet Marienwerder und 97,9 % im Regierungsbezirk Allenstein sprachen sich für den Verbleib bei Deutschland aus.7 Bei diesem Plebiszit wurde zum ersten Mal deutlich, dass der Gebrauch der Muttersprache keinesfalls automatisch mit der nationalen Zugehörigkeit gleichgesetzt werden konnte. Im Vorfeld erlag die polnische Regierung dem Trugbild, dass sich die Masuren mit dem Polentum identifizieren würden. Diese ethnische Gruppe betonte jedoch ihre Eigenständigkeit. Zum größten Teil handelte es sich um Protestanten, die sich von den polnischen Katholiken distanzierten. Zudem sprachen sie die heute nahezu ausgestorbene masurische Mundart, die sie als eine eigene Sprache, und nicht als einen polnischen Dialekt ansahen.8 Zu diesen ethnischen Fragen ___________ 6 Vgl. dazu Hans Schultz-Hansen, Die Schleswiger und die Teilung, in: Grenzen in der Geschichte Schleswig-Holsteins und Dänemarks (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 42), Neumünster 2006. 7 Heidi Hein, Die Ergebnisse der durch den Versailler Vertrag festgesetzten Volksabstimmungen in West- und Ostpreußen und in Schlesien, in: Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte – Modul Zweite Polnische Republik, 2007, http://quellen.herder-institut.de/M01/materialien/Mat02/Dok02.doc/TextQuelle_view, (Zugriff vom 30.03.2011). 8 Hans-Werner Rautenberg, Probleme der Volksabstimmung vom 11. Juli 1920 im südlichen Ermland und in Masuren, in: Breyer (Hrsg.), Deutschland, S. 83-88.

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trat noch ein politischer Faktor hinzu, der bei der Untersuchung der Ergebnisse nicht vernachlässigt werden sollte: Zum Zeitpunkt des Plebiszits wurde die junge Republik Polen von ihrer größten Krise heimgesucht, deren Ausgang darüber entscheiden sollte, ob der Staat bestehen oder untergehen würde. Es war der Polnisch-Sowjetische Krieg (1919-1921). Während die Volksabstimmung im Juli 1920 durchgeführt wurde, befand sich der Kommandeur der sowjetischen Westfront, Marschall Michail Tuchatschewski9, im Anmarsch auf Warschau. Nicht wenige Stimmen sagten den Untergang des polnischen Staates voraus. In der Schlacht bei Warschau, dem sogenannten „Wunder von Weichsel“, wurde er im August 1920 jedoch von polnischen Truppen geschlagen. Diese instabile politische Lage dürfte auch einen gewissen Einfluss auf den Ausgang der Volksabstimmung gehabt haben. Änderungen in der staatlichen Souveränität haben auch die östlichen Gebiete Österreichs berührt. In der größten Stadt Deutsch-Westungarns, Ödenburg (Sopron), wurde für Dezember 1921 eine Volksabstimmung vorgesehen. Der neue österreichische Staat erhoffte sich dadurch eine verbindliche Bestätigung, dass Ödenburg zur Hauptstadt des neuen Bundeslandes Burgenland werden würde. Nach der Auszählung der Stimmen wurde jedoch ersichtlich, dass Ödenburg an Ungarn abgetreten werden würde. 72,8 % der Stimmberechtigten sprachen sich dafür aus. Das Resultat war nicht unumstritten.10 Österreich stellte überhaupt einen Sonderfall dar. Im Friedensvertrag von Saint-Germain (September 1919) wurden die Bezeichnung „Deutsch-Österreich“ und die Eingliederung in das Deutsche Reich untersagt. Nach der Ausrufung der Republik am 12. November 1918 wurde dieser Name gebräuchlich und es bestanden Tendenzen, sich mit dem Deutschen Reich zu vereinigen. In Tirol und im Salzburger Land fanden Volksabstimmungen statt. Am 24. April 1921 sprachen sich 98,8 % der Tiroler Stimmberechtigten und am 29. Mai 1921 99,3 % der Salzburger Wähler für die Eingliederung in das Deutsche Reich aus. Den Alliierten war der Ausgang der Abstimmungen nicht genehm. Daher verboten sie weitere Plebiszite, weil sie die Bestimmungen von Saint-Germain einhalten wollten. Das letzte Plebiszit fand schließlich am 13. Januar 1935 im Saarland statt. Dass sich die Abstimmung so lange verzögerte, lag an der Haltung Frankreichs, das die Region nach Abschluss der Versailler Friedensverträge für 15 Jahre unter seine Kontrolle stellen wollte. Die französische Regierung wollte damit die Wiedergutmachung für die zerstörte Industrie erlangen. Offiziell wurde die Entscheidung, dort keine Volksabstimmung zuzulassen, mit dem Argument begründet, dass die lange deutsche Herrschaft den Ausgang des Plebiszits zuguns___________ 9

1893-1937. Otto Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, Pullach b. München 1975, S. 37.

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ten Deutschlands „verfälschen“ könnte. 1920 wurde das damalige „Saargebiet“ politisch dem Völkerbund unterstellt, während es zum französischen Wirtschaftsraum gehörte. Nach Ablauf dieses Kontrollzeitraumes setzte dort Adolf Hitler 1935 eine Volksabstimmung durch, der eine große propagandistische Maschinerie („Heim ins Reich“) vorausging. Die Stimmberechtigten sprachen sich mit überwältigender Mehrheit von 90,8 % für die Eingliederung in das Deutsche Reich aus.11 Wie bereits eingangs erwähnt wurde, wurden nicht überall Volksabstimmungen angesetzt, um eine Entscheidung über die zukünftige staatliche Souveränität herbeizuführen. In einigen Grenzregionen wurde nur teilweise abgestimmt, andere Gebiete wurden wiederum ohne ein Plebiszit abgetreten. Dazu gehört beispielsweise Westpreußen, das größtenteils ohne Volksabstimmung geteilt wurde. Die Franzosen hatten nach Absprache mit der polnischen Delegation einen freien Zugang des polnischen Staates zur Ostsee gefordert. Daher setzten sie die Schaffung des „Polnischen Korridors“ durch. Die Teilung der Region erfolgte nach dem nationalen Mehrheitsprinzip. So verblieb der westliche und nordöstliche Teil der Provinz Westpreußen bei Deutschland bzw. wurde im letzten Fall teilweise an die Freie Stadt Danzig angegliedert. Frankreich und Polen erhoben auch Ansprüche auf die Stadt Danzig, die sie in den polnischen Staatsverband einverleiben wollten. Dem widersetzten sich die Briten vehement, so dass Danzig schließlich als deutsches Gemeinwesen im polnischen Wirtschaftsraum zur Freien Stadt erklärt und unter die Aufsicht des Völkerbundes gestellt wurde. Keine Volksabstimmung wurde auch in der Provinz Posen durchgeführt, denn das Gebiet wurde geteilt. Lediglich ein Gebietsstreifen im nordwestlichen Teil mit großem deutschem Bevölkerungsanteil verblieb im Deutschen Reich, der Rest wurde an Polen angegliedert. Auch das Memelland wurde im Februar 1920 ohne eine Volksabstimmung an den neu gegründeten litauischen Staat abgetreten. Eine ähnliche Situation herrschte in Eupen-Malmedy vor. Dieses Gebiet wurde 1920 ohne eine Abstimmung vom Deutschen Reich herausgelöst und provisorisch an Belgien abgetreten. Nach einer fünfjährigen Übergangszeit wurde es 1925 endgültig dem belgischen Staatsverband einverleibt. Seitdem wurde es als „Ostbelgien“ bzw. „Neubelgien“ bezeichnet. Im September 1920 wurde eine Volksbefragung durchgeführt, die allerdings wegen Manipulationen als „petite farce belge“ bekannt wurde. Es handelte sich hierbei um keine Volksabstimmung. Den Bewohnern wurde lediglich die Möglichkeit eingeräumt, gegen den Beschluss zu protestieren und sich in Malmedy und Eupen auf eine öffentliche Liste eintragen zu lassen. Da die Protestierer eingeschüchtert wurden und sie ___________ 11

Otto Kimminich (Fn. 10), S. 33.

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zahlreiche Schikanen erleiden mussten, machten nur die wenigsten Stimmberechtigten davon Gebrauch. Wenn man sich die Situation in den jeweiligen aufgezählten Gebieten zusammenfassend vor Augen hält, so kann festgestellt werden, dass überall unterschiedliche Lösungen für den Status quo der Staatssouveränität gefunden und durchgesetzt wurden. Der Verlauf der Geschehnisse muss daher in jeder Region gesondert betrachtet werden.

II. Die Vorgeschichte der Volksabstimmung in Oberschlesien Nachdem die unterschiedlichen von den Pariser Vorortverträgen betroffenen Gebiete einleitend vorgestellt worden sind, wird nun das Augenmerk gezielt auf die Vorgeschichte des Plebiszits in Oberschlesien vom 20. März 1921 gelenkt. Dies steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil die Grundsteinlegung einer stabilen politischen Nachkriegsordnung von der Lösung der Oberschlesienfrage abhing. Daher ist es wichtig, bereits bei den Vorverhandlungen zu den Pariser Vorortverträgen anzusetzen, um die Genese des Problems, die unterschiedlichen Interessen, schließlich den Ablauf des Plebiszits und seine Folgen zu verstehen. Zunächst sollen die politischen Hauptakteure und ihre Motive vorgestellt werden. Die Friedensverhandlungen wurden von den sog. „Großen Vier“ bestimmt: dem britischen Premierminister David Lloyd George12, dem französischen Premier Georges Clemenceau13, dem US-Präsidenten Woodrow Wilson14 und dem italienischen Ministerpräsidenten Vittorio Emanuele Orlando15. Dies war keinesfalls eine ausgewogene Runde, denn alle Beteiligten verfolgten unterschiedliche Pläne. Der französische Premier machte keinen Hehl aus seiner antideutschen Haltung. Seine Politik war davon bestimmt, Deutschlands Schwäche auszunutzen, um die Vorherrschaft Frankreichs auf dem Kontinent zu sichern. Daher unterstützte er die polnischen Verhandlungspartner uneingeschränkt. Davon zeugte Clemenceaus Personalpolitik bezüglich der polnischen Frage. Zwei Gefolgsleute des Premiers wurden mit Schlüsselpositionen in der polnischen Frage bedacht: Jules Cambon leitete die „Hauptkommission für polnische Angelegenheiten“, General Henri Le Rond16 war mit ___________ 12

1863-1945, zwischen 1916 und 1922 britischer Premierminister. 1841-1929, zwischen 1906 und 1909 sowie zwischen 1917 und 1920 Premierminister von Frankreich, zugleich zwischen 1917 und 1920 Kriegsminister von Frankreich. 14 1856-1924, zwischen 1913 und 1921 Präsident der Vereinigten Staaten. 15 1860-1952, zwischen 1917 und 1919 Ministerpräsident von Italien. 16 1864-1949. 13

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der Ausarbeitung der Pläne für die deutsch-polnische Grenzziehung betraut. In dieser Stellung war er in den Jahren 1920-1922 als Präsident der Interalliierten Plebiszitkommission für Oberschlesien tätig. Der General war rechte Hand des französischen Premiers und teilte offen dessen Antipathie für Deutschland. Zudem war er ein Polyglott und sprach unter anderem fließend Polnisch. Le Rond verstand sich sehr gut mit dem späteren Anführer der polnischen Aufständischen17, Wojciech Korfanty18. Der geistige Vater der Selbstbestimmung der Völker, US-Präsident Wilson, hatte bei den Überlegungen zur künftigen Gestaltung der Nachkriegsordnung, die im Vorfeld der Vorverhandlungen zu den Friedensverträgen geführt wurden, die Hauptrolle gespielt. Zu Beginn der Verhandlungen am 18. Januar 1919 ergriff der französische Premier jedoch sofort die Initiative und bestimmte den Diskussionsverlauf, so dass sich Wilson lediglich nur als Streitschlichter betätigen konnte. Im Verlauf der Sitzungen zeigte sich bereits, dass der politische Wille der Hauptakteure, insbesondere der Franzosen, vom 14-Punkte-Programm des US-Präsidenten stark abwich. Dieser zog sich immer mehr von den Verhandlungen zurück und weigerte sich schließlich, die Endbestimmungen der Pariser Konferenz anzuerkennen. Aus diesem Grund ratifizierten die US-Amerikaner die Friedensverträge nicht. Je dominanter die Haltung der Franzosen wurde, desto stärkeren Widerstand gegen sie übte die britische Delegation aus. Guido Hitze macht die interessante Feststellung, dass die Briten immer mehr die „Anwaltsrolle für die deutschen Interessen“19 übernommen hätten. Der Grund dafür lag nicht in der Parteilichkeit zugunsten der Deutschen, sondern eher in der englischen Rationalität, die auf das Gleichgewicht der politischen Kräfte auf dem europäischen Kontinent ausgerichtet war. Den Briten war bewusst, dass die politische Zukunft des zweitgrößten Industriegebietes Deutschlands, des oberschlesischen Reviers, untrennbar mit der Frage verbunden war, inwieweit es für die Nachkriegsordnung sinnvoll sei, das Deutsche Reich soweit politisch und wirtschaftlich zu schwächen, dass Frankreich diese Lücke füllen und seine Hegemonialstellung auf dem Kontinent noch weiter ausbauen könnte. Der Ausgang des Ersten Welt___________ 17

Der Begriff „Schlesische Aufstände“ ist politisch-propagandistisch geprägt und deshalb sehr problematisch. Er suggeriert, dass sich die Oberschlesier nach dem Beispiel der polnischen Aufstände des 19. Jahrhunderts als polnische Nation gegen die deutschen Fremdbesatzer aufgelehnt hätten. Es handelt sich demnach um eine Freiheitsbewegung. Dieses Bild wurde in Polen direkt nach den Aufständen und vor allem nach 1945 gepflegt. Richtiger wäre der Begriff „Polnische Aufstände“. Da die Bezeichnung „Schlesische Aufstände“ im Polnischen als Fachterminus vorkommt, wird sie im vorliegenden Artikel in Anführungszeichen wiedergegeben. 18 1873-1939, zwischen 1903 und 1912 Mitglied des Deutschen Reichstages; führende Persönlichkeit bei den sog. „Schlesischen Aufständen“. 19 Guido Hitze (Fn. 4), S. 346.

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krieges ist aus der Sicht der Briten zufriedenstellend verlaufen, so dass sie keinen Anlass dafür sahen, die Deutschen noch weiter zu schwächen oder gar zu demütigen. Ganz im Gegenteil sah die Londoner Regierung die Notwendigkeit, den Deutschen die Möglichkeit zu geben, wieder zum gleichberechtigten Partner aufzusteigen, um die politische Stabilität zu gewährleisten. Gisela BertramLibal umschrieb die britische Perspektive folgendermaßen: „Deutschlands Flotte war zerstört, seine machtpolitische Position in der Welt und in Europa soweit reduziert, dass nach Auffassung der britischen Staatsmänner die Friedensregelung auch Frankreich ausreichende Sicherheitsgarantien bot. Die Haltung der britischen Regierung wurde entscheidend durch die Bereitschaft charakterisiert, Deutschland weiterhin als europäische Großmacht zu akzeptieren. Da Deutschland als Machtfaktor auch in Zukunft im Spiele blieb, war die britische Regierung bemüht, die Friedensbestimmungen so erträglich zu gestalten, dass das Reich weder auf den Kurs der Revanchepolitik noch in die Arme des Bolschewismus getrieben wurde, sondern die Tür zu einem allmählichen Ausgleich mit dem Westen offen fand.“20

Die Verhandlungen zu den Friedensverträgen gestalteten sich unter den „Großen Vier“ immer mehr zu einem polarisierenden britisch-französischen Dualismus, da sich die Amerikaner Schritt für Schritt vom Tagesgeschehen zurückzogen. Sehr auffällig war dabei die sehr passive Haltung der italienischen Delegation, der letzten Entente-Macht, die an den emotionalen und kontroversen Diskussionen wenig Anteil nahm. Ministerpräsident Orlando suchte die Nähe zu der britischen Regierung, da er deren inhaltliche Ausrichtung größtenteils teilte. Die Franzosen arbeiteten dagegen eng mit der polnischen Abordnung, die zu den Verhandlungen eingeladen wurde, zusammen. So bildeten sich schnell zwei Fronten heraus, nämlich eine französisch-polnische einerseits und eine britisch-italienische andererseits. Die deutsche Seite hatte auf den Verlauf der Verhandlungen keine Einflussmöglichkeit. Beide Parteien verfolgten so unterschiedliche und entgegengesetzte Ziele, dass ein zufriedenstellender Kompromiss scheinbar unmöglich schien. Die Unterredungen hatten keinen diplomatischen Charakter mit kühl-reserviertem und rationalem Verhandlungsstil, sondern sie wurden von emotionalen Ausbrüchen und Auseinandersetzungen dominiert, was die gemeinsame Suche nach einer Kompromisslösung erschwerte. Der französische Ministerpräsident wurde in seiner Haltung von der polnischen Delegation sehr stark beeinflusst. Es lohnt sich daher, deren personelle Zusammensetzung und Zielausrichtung näher zu untersuchen. Obwohl sie in der Folgezeit darauf gepocht hat, dass Oberschlesien ein untrennbarer Bestandteil des polnischen Staates sei, war diese Haltung keinesfalls selbstverständlich.

___________ 20 Gisela Bertram-Libal, Die britische Politik in der Oberschlesienfrage, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20, 1972, S. 106 f.

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Staatsführer Józef Piłsudski21 schenkte der oberschlesischen Region zunächst wenig Beachtung. Seine politischen Ambitionen richtete er auf den Osten, daher verfolgte er das Ziel, den großpolnischen Staat in der Größe wiedererstehen zu lassen, wie er seit der Entstehung der Polnisch-Litauischen Union 1569 bestanden hatte. Dies betraf die Gebiete der heutigen Westukraine, Weißrusslands und Litauens. Piłsudski hielt Oberschlesien ohnehin für eine preußische Provinz. Damit drückte er aus, dass er diese Region nicht zum festen Bestandteil des polnischen Staates rechnete, auch wenn er schließlich aus staatspolitischen Erwägungen die einzelnen Aktionen von Wojciech Korfanty im Rahmen der sog. „Schlesischen Aufstände“ unterstützte. Ähnlicher Meinung war der britische Premierminister Lloyd George, die er zum Missfallen der Polen äußerst drastisch äußerte: den Polen Oberschlesien zu überlassen sei so, als ob man einem Affen eine Uhr geben würde. Diese berühmte und berüchtigte Aussage wurde in späterer Zeit politisch instrumentalisiert und missdeutet. Im Zuge ethnischer Spannungen in Oberschlesien wird er noch heute in diesem Sinne zitiert. Piłsudskis Handlungsmotive resultierten aus seiner antirussischen Haltung, wohingegen er die politische Zusammenarbeit mit den Deutschen für nicht unmöglich hielt. Anders dachte sein großer politischer Kontrahent, der Führer der rechtsgerichteten nationaldemokratischen Partei (Narodowa Demokracja, „Endecja“), Roman Dmowski, der antideutsch eingestellt war. Nach dem Posener Aufstand von 1918 und Misserfolgen im Osten musste Piłsudski einsehen, dass das Verhältnis zu Deutschland gespannt bleiben würde. Aus diesem Grunde begann er, die politische Haltung Dmowskis zu teilen. Diesen bestimmte schließlich Piłsudski zum Leiter der polnischen Delegation in Paris. Dort legte Dmowski am 28. Februar 1919 eine Liste polnischer Ansprüche auf die deutschen Gebiete vor: das gesamte Oberschlesien, Teile von Mittelschlesien, die Provinzen Posen und Westpreußen, das östliche Pommern, Danzig, Masuren, das Ermland und die Memel-Niederung. Die Begründung für diese Ansprüche war eine Mischung aus historischen, ethnisch-nationalen, sprachlichen, wirtschaftlichen sowie verkehrs- und militärstrategischen Argumenten. Dabei wurden ethnische Volksgruppen wie die Schlonsaken (sog. „wasserpolnische“ Oberschlesier), Masuren, Ermländer, Litauer und Kaschuben als Polen angesehen, die Jahrhunderte lang „germanisiert“ und vom polnischen Mutterland getrennt worden seien, was mit der neuen Grenzziehung revidiert werden sollte.22 Ganz problematisch war die Behandlung des oberschlesischen Industriegebiets. Dmowski berief sich auf Punkt 13 der Friedensordnung des US-Präsi___________ 21 22

1867-1935, zwischen 1918 und 1922 kommissarisches Staatsoberhaupt Polens. Guido Hitze (Fn. 4), S. 206.

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denten Wilson, wonach ein „unabhängiger polnischer Staat […] errichtet werden [sollte], der alle Gebiete einzubegreifen hätte, die von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt sind.“ Dabei legte er die Ergebnisse der amtlichen deutschen Volkszählung von 1910 zugrunde, wonach 52,9 % der Oberschlesier angegeben haben, dass Polnisch ihre Muttersprache sei. In weiterer Reihenfolge folgten 40 % für Deutsch, sieben Prozent deklarierten sich als Zweisprachige und 0,1 % gaben Mährisch an.23 Da Dmowski die Zweisprachigen auf seiner Seite wähnte, hielt er somit 60 % der Oberschlesier für Polen und behauptete, dass ganz Oberschlesien und Teile Niederschlesiens „unstrittig polnisch“ seien.24 Dass die Sprache nicht mit einer bestimmten Nationalität gleichgesetzt werden konnte, zeigte sich bald darauf im bereits erwähnten Abstimmungsverhalten der Masuren. Der französische Premier griff die Argumentation Dmowskis bereitwillig auf, weil die Abtretung ganz Oberschlesiens an Polen das Deutsche Reich empfindlich schwächen würde. Am 19. März 1919 legte die von Jules Cambon geleitete Hauptkommission diese Pläne mit den Vorschlägen zur neuen Grenzziehung dem „Rat der Vier“ vor. Aufgrund des vehementen Widerstandes der britischen Delegation mussten diese Vorschläge jedoch revidiert werden, damit alle Verhandlungsseiten einem Kompromiss zustimmten. So wurde beschlossen, dass Danzig nicht an Polen abgetreten würde, sondern als „Freie Stadt“ unter das Protektorat des zukünftig geplanten Völkerbundes gestellt werden sollte. Darüber hinaus wurden einige Kreise der Provinzen Posen und Westpreußen beim Deutschen Reich belassen. Diese bildeten dann zwischen 1922 und 1938 die Grenzmark Posen-Westpreußen. Außerdem wurde in den ostpreußischen Bezirken Allenstein und Marienwerder die Durchführung einer Volksabstimmung beschlossen. Damit mussten die Polen ihre territorialen Ansprüche im Westen auf nahezu die Hälfte senken, weil die ursprünglich geforderten Gebiete in der Größenordnung von mehr als 84.000 km2 auf nur noch 43.000 km2 reduziert wurden.25 In dieser Phase der Vorverhandlungen hielt die französische Delegation jedoch weiterhin an der Zielsetzung fest, dass Oberschlesien abgesehen von den Kreisen Neisse und Neustadt ganz an Polen abgetreten werden sollte. Clemenceau stemmte sich gegen ein Plebiszit in dieser Region. Die Briten äußerten inoffiziell schwere Bedenken, womit diese Pläne aber zunächst nicht abgewendet wurden.26 Diese Überlegungen legte die Hauptkommission dem „Rat der Vier“ vor, sie wurden in den ersten Friedensvertragsentwurf eingearbeitet und am 7. Mai ___________ 23 Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, Suhrkamp, rev. u. erw. Aufl., Frankfurt am Main 1972, S. 146. 24 Guido Hitze (Fn. 4), S. 207. 25 Martin Broszat (Fn. 23), S, 206. 26 Guido Hitze (Fn. 4), S. 209.

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1919 der deutschen Delegation vorgelegt. Die deutsche Öffentlichkeit reagierte darauf mit großer Bestürzung. In vielen Städten Oberschlesiens gab es Massenproteste. Die Reaktion der deutschen Bevölkerung hatte aber auf den Entscheidungsfindungsprozess der Alliierten keinen Einfluss. Währenddessen bereitete die deutsche Regierung Gegenvorschläge vor, die sie am 29. Mai 1919 präsentierte. Diese griffen die Briten bereitwillig auf, um den Franzosen entschiedener entgegenzutreten.27 Am 1. Juni 1919 kam die britische Regierungsdelegation in Paris zusammen, um ihr künftiges Vorgehen gegen die französische Seite zu besprechen. Sie beschloss, die Friedenspolitik „nicht länger dem Diktat Clemenceaus unterzuordnen“28. Seitdem spielte die Frage nach der Zukunft Oberschlesiens eine zentrale Rolle. Am folgenden Tag beriet der „Rat der Vier“ über die eingereichten deutschen Gegenvorschläge. Mit dem Argument, dass Oberschlesien mehr als 600 Jahre von Polen getrennt gewesen sei, forderte Premier Lloyd George dort die Durchführung einer Volksabstimmung, die genauso wie jene in Schleswig und Ostpreußen stattfinden sollte.29 Dabei griff George zu einer rhetorischen List und beruhigte die völlig frappierten Konferenzteilnehmer mit den Worten: „Wenn die Volksabstimmung für Polen günstig ist, wird es später den Deutschen unmöglich sein, von Revanche zu sprechen“30. Der Premier bekräftigte seine Forderung mit der Drohung, dass er die Unterzeichnung des Friedensvertrags andernfalls verweigern würde. Zwischen dem französischen Ministerpräsidenten und George kam es daraufhin zu einer heftigen verbalen Auseinandersetzung, wonach die Verhandlungen vertagt wurden.31 Am 5. Juni wurden sie wieder aufgenommen. George erhöhte den Druck auf Woodrow Wilson und betonte, dass es der US-Präsident selbst gewesen sei, der sich für Plebiszite ausgesprochen habe. Dieser gab dem Premierminister zur Antwort, dass für Oberschlesien keine Volksabstimmung vorgesehen gewesen sei. Der französische Premierminister unterstützte Wilson mit dem Argument, dass Oberschlesien polnisch sei, wie die letzte amtliche Volkszählung von 1910 deutlich gezeigt habe. Auch in diesem Punkt zeigte George seine rhetorische

___________ 27

Guido Hitze (Fn. 4), S. 209-211. Walther Recke, Die historisch-politischen Grundlagen der Genfer Konvention vom 15. Mai 1922. (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde OstMitteleuropas 86), Marburg 1969, S. 15. 29 Walther Recke, (Fn. 28), S. 12-38; Guido Hitze (Fn. 4), S. 212 f. 30 Guido Hitze (Fn. 4), S. 213. 31 Walther Recke (Fn. 28), S. 12-38; Guido Hitze (Fn. 4), S. 212 f. 28

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Schlagfertigkeit und konterte, dass das Elsass vom ethnischen Standpunkt her deutsch sei.32 Die französische Delegation lud den polnischen Ministerpräsidenten, Ignacy Paderewski, ein, an den Verhandlungen teilzunehmen, um ihre Forderungen entschiedener vorbringen zu können. Premierminister George griff den polnischen Gast persönlich schwer an: „Ihre Freiheit ist mit dem Blut anderer Völker bezahlt worden […] Wir haben die Polen, die Tschechoslowaken, die Jugoslawen befreit und haben heute die größte Mühe, sie daran zu hindern, andere Rassen zu unterdrücken […] Ich bin tief enttäuscht, wenn ich sehe, dass diese kleinen Nationen viel mehr Imperialisten sind als die großen.“33

Nach diesen Vorfällen gab US-Präsident Wilson bei und sprach sich für die Durchführung einer Volksabstimmung in Oberschlesien aus, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie unter der Kontrolle einer Interalliierten Kommission stattfände. Bei dieser deutlichen Mehrheit blieben die scharfen Proteste des französischen Premiers ungehört, so dass dieser seinen Widerstand schließlich aufgeben musste.34 Das hieß jedoch noch lange nicht, dass Clemenceau von seinen Plänen abgelassen hätte. Ganz im Gegenteil, versuchte er nun, bei der Vorbereitung und Durchführung des Plebiszits die volle Kontrolle zu übernehmen. Der Schritt dazu war die Besetzung von Schlüsselpositionen mit seinen Vertrauten, die aktiv in das Geschehen eingriffen und auch vor Manipulationen nicht zurückschreckten. So strebte General Le Rond als Kommissionsleiter die Behinderung und Umgehung der Volksabstimmung an, indem er diejenigen oberschlesischen Landkreise an Polen abtreten wollte, die bei den letzten Reichstagswahlen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1912) einen polnischen Kandidaten bestimmt hatten. Le Rond begründete seinen Plan damit, dass diese Tatsache die nationale Option der entsprechenden Landkreise deutlich zeige. Diese Versuche scheiterten wiederum am scharfen Widerstand der britischen Delegation. Der französische General gab daraufhin nicht auf, sondern fing an, auf Zeit zu spielen. Auf der einen Seite schob er den Zeitpunkt des Plebiszits hinaus und spielte andererseits mit dem Gedanken, die deutschen Multiplikatoren in der oberschlesischen Gesellschaft auszuweisen. Dazu gehörten Beamte, Offiziere und katholische Pfarrer. Le Rond wollte damit den Einfluss der deutschen Intelligenz auf die Bevölkerung ausschalten. Davon betroffen wäre etwa der ___________ 32

Guido Hitze (Fn. 4), S. 213. Helmut Neubach, Die Abstimmung in Oberschlesien am 20. März 1921, in: Breyer (Hrsg.), Deutschland, S. 99. 34 Guido Hitze (Fn. 4), S. 214. 33

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Ratiborer Pfarrer Carl Ulitzka35 gewesen, welcher Vorsitzender der oberschlesischen Zentrumspartei und Reichstagsabgeordneter war. Auch gegen diese Pläne gingen die Briten vehement vor und drohten mit dem Abbruch der Gespräche mit der Kommission, der sie Parteilichkeit vorwarfen.36 Am 12. Juni 1919 standen die genauen Pläne der Volksabstimmung fest. Der gemeinsame Entschluss sah deren Durchführung unter dem Protektorat des Obersten Rates der alliierten und assoziierten Mächte vor. Der Völkerbund sollte dabei nicht eingeschaltet werden, weil die Alliierten jegliche Einflussnahme der Deutschen unterbinden wollten. Zunächst sollten deutsche Militärangehörige und höhere Verwaltungsbeamte der Reichsbehörden aus Oberschlesien ausgewiesen werden, damit es nicht zu „deutscher Pression“ kommen konnte. Danach sollte das Plebiszit gemeindeweise durchgeführt werden. Diese Entscheidung wurde bei der polnischen Delegation unterschiedlich aufgenommen. Ministerpräsident Paderewski war sichtlich enttäuscht, dass die ursprünglichen Pläne nicht durchgesetzt werden konnten, während sich Roman Dmowski des polnischen Sieges bei der Volksabstimmung sicher war. Als Ergänzung zum Friedensvertragsentwurf wurde der Artikel 88 ausgearbeitet, der die Durchführung der Volksabstimmung in Oberschlesien genau regelte. Am 16. Juni 1919 wurde er der deutschen Delegation vorgelegt. Abgesehen von einigen Streifen im Westen entsprach das Abstimmungsgebiet im Wesentlichen dem preußischen Regierungsbezirk Oppeln. Zudem wurde bestimmt, dass das Deutsche Reich im Falle eines ungünstigen Abstimmungsergebnisses den südlichen Teil des Kreises Leobschütz an die Tschechoslowakei abtreten würde. Ohne Plebiszit bekam Polen zudem die mittelschlesischen Kreise Groß Wartenberg (Syców), Guhrau bei Glogau (Góra), Militsch (Milicz) und Namslau (Namysłów) zugesprochen.37 Nachdem dieser Beschluss gefasst worden war, wurde der Friedensvertrag von der deutschen Delegation am 28. Juni 1919 unterzeichnet. Bis zum Inkrafttreten des Dokuments am 1. Januar 1920 verblieb Oberschlesien unter deutscher Oberhoheit. Dennoch wurde bis zu diesem Zeitpunkt die Frage nicht geklärt, wie und wo das Plebiszit abgehalten werden sollte. Da alle Beteiligten divergierende Zielsetzungen verfolgten, konnten die Misstöne zwischen den Alliierten nicht abgebaut werden, sondern stiegen noch in der Folgezeit. Die Zeitspanne zwischen der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags und der Durchführung der ___________ 35 1873-1953, katholischer Pfarrer, zwischen 1920 und 1933 Abgeordneter des Deutschen Reichstages. 36 Guido Hitze (Fn. 4), S. 214 f. 37 Guido Hitze (Fn. 4), S. 215 f.

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Volksabstimmung am 20. März 1921 war durch schwerfälliges Taktieren auf allen Seiten gekennzeichnet. Diese schwierige politische Lage spitzte sich zudem noch im Frühjahr und Frühsommer 1919 wegen Unruhen und Arbeiterstreiks im oberschlesischen Industriegebiet zu. Die Spannungen waren mit der Person des Reichsbevollmächtigten für Oberschlesien, Otto Hörsing, verbunden.38 Diesen bestimmte der Zentralrat in Breslau am 6. Januar 1919 zum neuen Leiter des Zentralrates für Oberschlesien mit dem Sitz in Kattowitz. Zunächst wurde Hörsing am 27. März 1919 zum Preußischen Staatskommissar für Oberschlesien ernannt, kurz darauf folgte die Berufung zum Reichsbevollmächtigten für Oberschlesien. In dieser Funktion waren seine Vollmachten nahezu uneingeschränkt. Als gebürtigem Ostpreußen war ihm die Region fremd, zudem interessierte er sich wenig für die Bestrebungen der Oberschlesier nach Separation bzw. Autonomie. Trotz seiner sozialistischen Wurzeln war Hörsing das Sinnbild für die preußische Militärtradition. Der Reichsbevollmächtigte war allen Seiten verhasst: Die Industriellen und Großbürgerlichen misstrauten ihm, weil er Sozialist war, während die sozialistische Arbeiterschaft an seiner militärischen Vorliebe Anstoß fand. Für die Zentrumspartei war Hörsing ein landfremder, kirchenfeindlicher Kulturkampfpolitiker. Die Polen betrachteten ihn als einen „Mann mit ureigenst preußischen Gewaltinstinkten“39. Da er gegen die Arbeiterstreiks mit aller Härte vorging, sahen ihn die Arbeiter als ihren größten Feind an. Die sozialen Spannungen wurden indes immer größer. Die polnischen Oberschlesier waren mittlerweile dazu bereit, die Konflikte mit Gewalt zu lösen. Die Streikwelle erfasste das ganze Industriegebiet. In dieser Situation wurde mit Unterstützung der polnischen Regierung im Frühjahr 1919 ein Geheimbund unter der Bezeichnung „Polnische Militärorganisation für Oberschlesien“ gegründet. Zusammen mit der nationalistischen „Falke“-Bewegung plante er einen Aufstand. Als sog. „Erster Schlesischer Aufstand“ brach dieser in der Nacht vom 17. zum 18. August 1919 aus. Er war jedoch schlecht vorbereitet, zudem konnte die deutsche Seite vorab entscheidende Informationen abfangen, so dass er nach wenigen Tagen von deutschen Kräften niedergeschlagen wurde. Indes verhärteten sich die Fronten bei der Diskussion um die Volksabstimmung. Den Regierungen in Paris und Warschau kam ein verhängnisvoller politischer Fehler Otto Hörsings zugute. Obwohl ihn die Zentrumspartei davor gewarnt hatte, setzte er für den 9. November 1919 dennoch Kommunalwahlen in Oberschlesien an. Die Ergebnisse waren äußerst ernüchternd. Die nationalpol___________ 38

Der vorliegende Abschnitt über Otto Hörsing ist angelehnt an Guido Hitze (Fn. 4), S. 222-228. 39 Piotr Pampuch, 150 Jahre preußische Knechtschaft oder Die Leiden der oberschlesischen Polen unter der preußischen Herrschaft, Nikolai (o.J.), 1920, S. 78.

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nischen Kandidaten konnten auf 53 % der Stimmen kommen. Das war ein deutlicher Erfolg der polnischen Seite, weil sie damit die Anzahl ihrer Gemeindevertreter von 2.922 auf 5.519 ausbaute. Die Deutschen konnten ihre Stimmen dagegen nur geringfügig ausbauen. Für die französische und polnische Regierung waren diese Wahlergebnisse neben der amtlichen Volkszählung von 1910 die Bestätigung, dass Oberschlesien polnisch sei. Deshalb war man sich in Paris und Warschau sicher, dass der Ausgang des Plebiszits nur einen formalen Charakter haben würde.40 Die Frage muss aber gestellt werden, warum die oberschlesischen Wähler so deutlich für Polen votiert haben, wenn die Volksabstimmung anderthalb Jahre später ein völlig anderes Ergebnis zeigen sollte. Wojciech Korfanty und auch die Franzosen wähnten sich zu sehr in Sicherheit, weil sie den Verlauf der Kommunalwahlen falsch interpretiert haben. Dass sich die Mehrheit der Oberschlesier für die polnischen Kandidaten ausgesprochen hat, lag weniger an ihrer nationalen Ausrichtung. Die Entscheidung brachten vielmehr die Protestwähler. Die oberschlesischen Arbeiter haben sich mit ihrer Stimme gegen die preußischen Behörden erhoben, die sie als eine zu dominante Machtgewalt empfanden. Unter den Oberschlesiern war der Wille nach Separatismus bzw. Autonomie der Region verbreitet. Die Zentrumspartei mit Carl Ulitzka war der Idee auch nicht abgeneigt, für die Selbständigkeit der Region zu werben, um sich sowohl von Polen als auch vom Deutschen Reich zu emanzipieren. Selbst zahlreiche Deutsche unter den Oberschlesiern waren dem Gedanken abgeneigt, sich an den preußischen Staat zu binden.41 Im Gespräch war selbst die Idee eines „Freistaates Oberschlesien“.42 Vor diesem Hintergrund muss der Ausgang der Kommunalwahlen gesehen werden. Mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags am 10. Januar 1920 endete die deutsche Regierungsgewalt in Oberschlesien. Am 11. Februar übernahm die Interalliierte Regierungs- und Plebiszit-Kommission offiziell und amtlich die Amtsgeschäfte. Sie bestand aus je einem Vertreter Frankreichs, Großbritanniens und Italiens, nämlich aus General Henry Le Rond, Oberst Harold F.P. Percival und General Armando de Marinis. Alliierte Besatzungstruppen zogen ins Abstimmungsgebiet ein. Darunter waren 13.000 Franzosen, 2.000 Italiener und 1.000 Briten.43 Das geringe Kontingent britischer Soldaten resultiert aus heftigen sozialen Unruhen und Streiks im eigenen Lande, so dass sich die Londoner ___________ 40

Angaben nach Guido Hitze (Fn. 4), S. 248 f. Vgl. dazu Günther Doose, Die separatistische Bewegung in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg (1918-1922), (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 2), Wiesbaden 1987. 42 Vgl. dazu Guido Hitze (Fn. 4), S. 176-183, mit Analyse der politischen Haltung Carl Ulitzkas zur Frage nach der Autonomie bzw. Bundesstaatlösung. 43 Guido Hitze (Fn. 4), S. 262. 41

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Regierung in erster Linie auf die Lösung ihrer innenpolitischen Probleme konzentrierte.44 Die US-Amerikaner entsandten keine Soldaten, weil sie das Vertragswerk nicht ratifiziert hatten. Die deutschen Regierungsvertreter mussten daraufhin aus der Region ausreisen. Die deutschen Sicherheitskräfte, zu denen der Grenzschutz, die Polizei und das Militär zählten, mussten abgezogen werden. Im Land durften nur 3.500 Sicherheitspolizisten bleiben. Fortan dominierten französische und italienische Streitkräfte Oberschlesien. Da der britische Widerstand gegen das Vorgehen Frankreichs damit ausblieb, konnte General Le Rond seine Politik der Einflussnahme auf die Volksabstimmung ungehindert verwirklichen. Diese war für Paris nichts weiter als die Fortsetzung des gerade beendeten „heißen“ Krieges mit diplomatischen und politischen Mitteln; eine Möglichkeit, sich einen Standortvorteil im Ringen um die Hegemonie auf dem Kontinent zu verschaffen.45 Die Franzosen übernahmen die meisten Schlüsselpositionen, nämlich fünf von insgesamt acht sog. „Departments“. Dies waren: Innere Verwaltung, Militär, Finanzen, Wirtschaft und Zentralsekretariat für auswärtige Beziehungen. Insgesamt wurden 21 Kreiskontrolleure nach Oberschlesien entsandt. Elf davon waren Franzosen, die nahezu das gesamte Industriegebiet unter ihrer Obhut hatten. Die Briten und die Italiener beaufsichtigten dagegen eher die ländlichen Gebiete.46 Die polnische Regierung hatte am 28. Dezember 1919 Wojciech Korfanty zum Chef der Plebiszitkampagne ernannt. Dieser gründete das „Polnische Plebiszitkommissariat“, welches sich im Februar 1920 in Beuthen konstituierte. Der Propagandachef für Oberschlesien, Hans Lukaschek, der dem „Schlesischen Ausschuss“ vorstand, musste sich nun Gedanken machen, wen er zum deutschen Plebiszitkommissar berufen sollte. Da General Le Rond die Kandidatur von Carl Ulitzka vehement ablehnte, entschloss sich die deutsche Seite, den Bürgermeister von Roßberg bei Beuthen, Kurt Urbanek47, auf diesen Posten zu berufen. Anfang Juli 1920 waren die ersten Vorbereitungen zum Aufbau eines Deutschen Plebiszitkommissariats abgeschlossen.48 Noch bis Jahresende 1919 herrschte in Oberschlesien eine verhältnismäßig starke pro-polnische Euphorie vor. Diese Situation änderte sich gravierend nach dem Einzug der Interalliierten Kommission und die Stimmung der Bevölkerung ___________ 44 Gisela Bertram-Libal, Die britische Politik in der Oberschlesienfrage, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20, 1972, S. 110. 45 Guido Hitze (Fn. 4), S. 262. 46 Ebd., S. 262 f. 47 Hans-Ludwig Abmeier, Zur Biographie von Kurt Urbanek, in: Oberschlesisches Jahrbuch 8, 1992, S. 117-124. 48 Sehr ausführlich beschreibt diese Vorgänge Guido Hitze (Fn. 4), S. 264-273.

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wandelte sich. Sowohl die deutsche als auch die polnische Seite betätigte sich im großen Stile propagandistisch, um die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen.49 Die deutsche Propaganda betonte die jahrhundertelange Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Deutschland und weckte bei den Wählern ihr nationales Zugehörigkeitsgefühl. Dabei wurde das ungerechte „Versailler Diktat“ angeprangert. Nicht ohne Häme wurde immer wieder unterstrichen, dass Polen politisch und ökonomisch unfähig sei. Wojciech Korfanty stand als Sinnbild für alle Polen im Zentrum der Schmähschriften und wurde als skrupelloser Verbrecher dargestellt.50 Das polnische Plebiszitkommissariat entwarf dagegen eine andere Strategie. Die Propaganda ging in zwei Richtungen: Zum einen war sie sehr emotional und wies nationalistische Tendenzen aus, um Hass- und Rachegefühle bei den Wählern zu wecken. Auf der anderen Seite hatte die Propaganda einen mehr auf die ökonomischen Argumente abzielenden Charakter. So wurde akribisch aufgezählt, wie niedrig der Prozentsatz von einheimischen Oberschlesiern auf höheren Posten in Politik, Verwaltung und Industrie gegenüber den ortsfremden und zugezogenen Reichsdeutschen war. Die Propaganda prangerte in zahlreichen Thesen und Zahlenkolonnen die Ausbeutung der polnischen Bevölkerung durch die Deutschen an. Außerdem wurde stets betont, dass das im Krieg geschlagene Deutsche Reich schwach bleiben würde. Korfanty wollte die Stimmberechtigten zudem mit einem Wahlversprechen locken: So würde jeder Wähler, der für Polen stimmen würde, eine Kuh bekommen. Die berühmte „Korfanty-Kuh“ ist als Sinnbild für ein nicht erfülltes und nicht erfüllbares Wahlversprechen in die Geschichte eingegangen. Damit konnten ihn seine Gegner als einen Wahllügner brandmarken.51 Auf dem Weg zur Volksabstimmung gelang Wojciech Korfanty ein wichtiger propagandistischer Erfolg. Noch vor der Teilung Oberschlesiens setzte er die Gründung einer autonomen polnischen Woiwodschaft Schlesien mit der Hauptstadt Kattowitz durch. Korfanty berief sich dabei auf das preußische Provinzial-Autonomiegesetz vom 14. Oktober 1919. Mit der Verkündung des Gründungsstatuts der autonomen polnischen Woiwodschaft Schlesien durch die Polnische Verfassunggebende Nationalversammlung wurde am 15. Juli 1920 ein polnisches Verwaltungsgebiet geschaffen, das in Wirklichkeit gar nicht existierte. Noch war Oberschlesien nicht in polnischer Hand, sondern befand sich unter der Kontrolle der Interalliierten Kommission. Mit diesem Schachzug konnte Korfanty seine Ansprüche auf Oberschlesien bekräftigen, was ihm in der öffentlichen Meinung Stimmen einbringen sollte. Er reagierte damit auf die ___________ 49 Zu der Grundausrichtung der beiderseitigen Propaganda vgl. Guido Hitze (Fn. 4), S. 279-288. 50 Guido Hitze (Fn. 4), S. 284. 51 Ebd., S. 284-286.

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Gründung der deutschen Provinz Oberschlesien mit der Hauptstadt Oppeln am 14. Oktober 1919. Nach der erfolgten Teilung Oberschlesiens 1922 hatte die autonome polnische Woiwodschaft Schlesien (im Deutschen „Ostoberschlesien“ genannt) Sonderrechte. Sie wurde im Mai 1945 von den kommunistischen Machthabern formal aufgehoben.52 Einen Monat nach der Gründung der autonomen Woiwodschaft und ein Jahr nach dem Ausbruch des „Ersten Schlesischen Aufstands“ brach der „Zweite Schlesische Aufstand“ aus, der nach wenigen Tagen niedergeschlagen wurde.53 Es vergingen mehrere konfliktreiche Monate, bis sich die Interalliierte Kommission im Spätherbst 1920 über den genauen Ablauf der Volksabstimmung Gedanken machte.54 General Le Rond spielte damit auf Zeit, um den deutschen Einfluss auf die Bevölkerung zu mindern. Im November 1920 fingen die Entente-Mächte an, über die ersten Details zu verhandeln. Die Besprechungen hatten jedoch mit sachlicher und diplomatischer Argumentation wenig zu tun, denn es wurde regelrecht gestritten und gefeilscht. Weil die Franzosen unverblümt die polnische Position vertraten, unterstützten die Briten die Deutschen, um einen politischen Ausgleich zu erlangen. Am konfliktreichsten wurde dabei die Frage nach den sog. „Emigranten“ ausgetragen. Im Zuge der Vorverhandlungen zur Pariser Friedenskonferenz setzte sich die polnische Delegation vehement dafür ein, dass bei der in Ostpreußen geplanten Volksabstimmung auch denjenigen Personen die Wahlberechtigung erteilt werden sollte, die dort geboren wurden, aber inzwischen verzogen waren. Es handelte sich im Fachjargon um sog. „ausgewanderte Personen“. Als die Entente-Mächte den Beschluss fassten, ein Plebiszit in Oberschlesien durchzuführen, setzte sich Korfanty beim Leiter der polnischen Delegation, Roman Dmowski, dafür ein, dieselben Kriterien für Oberschlesien einzufordern. Somit sollten alle gebürtigen und außerhalb der Region lebenden Oberschlesier ihre Stimme abgeben dürfen. Korfanty richtete seinen Blick vor allem auf die sog. „Ruhrpolen“ und auf Oberschlesier, die nach Berlin und Brandenburg ausgewandert waren. Von keiner geringen Bedeutung waren ebenfalls die in Groß- und Zentralpolen lebenden Landsleute, die ihre Heimat nach 1918 verlassen hatten. Von dieser Wählerschaft erhoffte er sich den entscheidenden Stimmenzuwachs. Die Entente-Mächte hatten diesem Postulat nichts entgegenzusetzen, weil sie nicht damit rechneten, dass die sog. „Emigranten“ ihre Stimme für Deutschland abgeben würden. Genau dieser Fall trat aber bei der Volksabstimmung in den Regierungsbezirken Allenstein und Marienwerder im Juli 1920 ein, was die War___________ 52

Vgl. Gerhard Webersinn, Die Provinz Oberschlesien, Ihre Entstehung und der Aufbau der Selbstverwaltung, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-WilhelmsUniversität Breslau 14, 1969, S. 289 f. 53 Mehr dazu in: Guido Hitze (Fn. 4), S. 298-307. 54 Die folgende Passage bezieht sich auf Guido Hitze, (Fn. 4), S. 346-349.

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schauer Regierung vollkommen überraschte. Der polnischen Delegation wurde immer klarer, dass sie sich mit ihrer Forderung selbst geschwächt hatte. Das sollte in Oberschlesien nicht passieren. Daher starteten die polnischen Unterhändler ab September 1920 eine diplomatische Gegenoffensive, um ihre von den Alliierten genehmigte Forderung rückgängig zu machen. Die sog. „Emigranten“ durften nicht zur Abstimmung zugelassen werden. Es war für sie jedoch schwierig, plötzlich das Gegenteil einzufordern. Während der Aussprache legte die englische Delegation den Franzosen das Wort von General Le Rond in den Mund, der 1919 „die Geburt als ausreichende Qualifikation für die Teilnahme an der Abstimmung“55 bezeichnet hatte. Im Gespräch war auch die Option, dass jene mit Oberschlesien verbundenen „Auswanderer“ („outvoter“) ihr Votum zeitversetzt nach der erfolgten Abstimmung abgeben könnten. So wäre gesichert worden, dass sie ein knappes Ergebnis überstimmen („outvote“) könnten. Die Unterhändler konnten ihre Vorschläge jedoch nicht genauer präzisieren, nach welchen Kriterien die „Auswanderer“ ausgewählt werden und wo sie abstimmen sollten. Nach heftigen verbalen Auseinandersetzungen haben sich alle Seiten festgefahren und kamen in diesem Punkt nicht weiter. In dieser Phase stand das ganze Plebiszit sogar vor dem Aus. Ende November 1920 schlug der britische Botschafter in Berlin, Lord Edgar d’Abernon, vor, dass man den „Auswanderern“ die Möglichkeit geben könnte, außerhalb von Oberschlesien abstimmen zu können. Dabei wurde die Stadt Köln genannt.56 Alternativ dazu wäre eine zonenweise Abstimmung in Oberschlesien möglich, lautete der Vorschlag d’Abernons. Die französische Regierung griff den ersten Vorschlag bereitwillig auf. Die deutsche Verhandlungsseite lehnte diese Ideen vehement ab und verlangte die strikte Einhaltung des Versailler Friedenstraktats. Aufgrund des starken Widerstands der Briten scheiterten diese Pläne jedoch bereits im Ansatz. Das ganze Jahr 1920 war vergangen, ohne dass die Alliierten in der Frage des Plebiszits weitergekommen wären. Am 30. Dezember 1920 unterstrich die britische Delegation ihren Willen nach einer gleichzeitig stattfindenden Volksabstimmung. Die Interalliierte Kommission erließ ihre vorläufigen „Vorschriften für die Volksabstimmung in Oberschlesien“. Es vergingen jedoch zwei weitere Monate, bis man in der Frage nach der Behandlung der „Emigranten“ weiterkam und die „Vorschriften“ mit Inhalt füllte. Am 21. Februar 1921 beschloss ___________ 55

Joachim Kuropka, Von London bis Oppeln. Zur britischen Politik in Oberschlesien 1919 – März 1921, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universität zu Breslau 20, 1979, S. 203. 56 Guido Hitze (Fn. 4), S. 348.

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der Oberste Rat, dass das Plebiszit am Palmsonntag, dem 20. März 1921, innerhalb des Abstimmungsgebietes durchgeführt werden sollte.57 Bevor die endgültige Version der „Vorschriften“ allen Delegationsteilnehmern offiziell vorgelegt wurde, hatte die Kommission Wojciech Korfanty die Möglichkeit eingeräumt, seine Änderungs- und Ergänzungsvorschläge mitzuteilen. Diese wurden in das Dokument eingearbeitet. Den Deutschen ist diese vorherige Einsichtnahme verweigert worden, so dass sie mit den Bestimmungen überrascht wurden. Als ungerechtfertigt empfanden die Deutschen beispielsweise den Beschluss, dass alle nicht in Oberschlesien gebürtigen Personen, die nach dem 1. Januar 1904 ins Abstimmungsgebiet gezogen waren, vom Plebiszit ausgeschlossen wurden. Von dieser Stichtag-Regelung waren etwa 50.000 bis 100.000 Facharbeiter, Beamte und weitere ausgebildete Berufstätige betroffen.58 Ein Jahrzehnt unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte Oberschlesien einen wirtschaftlichen Höhepunkt, was mit Arbeitsmigration verbunden war. Umgekehrt wurden alle Personen, die nach diesem Stichtag von deutschen Behörden ausgewiesen wurden, zur Volksabstimmung zugelassen. Es handelte sich dabei um zahlreiche illegale polnische Immigranten und Industriearbeiter, die nach ihrer Verhaftung durch die deutschen Behörden außer Landes verwiesen wurden. Auch diese Bestimmung hielt die deutsche Regierung für parteilich und ungerecht. Die deutschen Proteste blieben jedoch ungehört. Nach dem Abstimmungsreglement vom 28. Februar 1921 wurden vier Kategorien von Stimmberechtigten bestimmt. Das Wahlalter betrug 20 Jahre. Gruppe A: Personen, die im Abstimmungsgebiet geboren wurden und wohnhaft waren; Gruppe B: Sog. „Emigranten“: Personen, die im Abstimmungsgebiet geboren wurden, dort aber nicht mehr wohnhaft waren; Gruppe C: Personen, die vor dem 1. Januar 1904 (Stichtag) ins Abstimmungsgebiet gezogen waren; Gruppe D: Personen, die vor dem 1. Januar 1904 (Stichtag) ins Abstimmungsgebiet gezogen waren und von deutschen Behörden ausgewiesen wurden Korfanty konnte auch durchsetzen, dass ein westlicher oberschlesischer Gebietsstreifen mit deutscher Bevölkerungsmehrheit von der Abstimmung ausgenommen wurde. Es handelte sich um die Landkreise Neisse, Grottkau und Falkenberg sowie um den westlichen Teil des Landkreises Neustadt.59 ___________ 57

Guido Hitze (Fn. 4), S. 349-352. Guido Hitze (Fn. 4), S. 352 f. 59 Guido Hitze (Fn. 4), S. 261. 58

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III. Der Verlauf der Volksabstimmung in Oberschlesien und ihre politischen Folgen Der Palmsonntag 1921 war ein besonders schöner Tag, der überdurchschnittlich viele Stimmberechtigte zum Urnengang mobilisierte. Die Wahlbeteiligung lag bei 97,5 %. Das war zweifellos ein einmaliger Vorgang. Völlig zum Entsetzen der polnischen Seite entsprach das Wahlergebnis keinesfalls dem Ausgang der Kommunalwahl von 1919, sondern drehte die Verhältnisse schlichtweg um: 59,6 % der gültigen Stimmen sprachen sich für den Verbleib beim Deutschen Reich aus. 40,4 % entfielen auf Polen.60 Der Annahme, dass die sog. „Emigranten“ den Deutschen den Sieg beschert hätten, wie in polnischer Geschichtsschreibung oft behauptet wurde, kann widersprochen werden.61 Selbst wenn sie geschlossen für den Verbleib beim Deutschen Reich gestimmt hätten, hätte dieses mühelos die Mehrheit der Stimmen bekommen.62 Trotz des klaren Ergebnisses konnte die deutsche Seite noch lange nicht aufatmen. Die Freude wurde vom Wahlsieg der Polen im südöstlichen Teil Oberschlesiens, in den Kreisen Rybnik, Pless und Tarnowitz, sowie im Landkreis Groß Strehlitz getrübt. Für die Deutschen erfreulich war die Tatsache, dass im mehrheitlich polnischsprachigen, aber protestantisch dominierten nördlichen Kreis Kreuzburg über 96 % der Wähler für den Verbleib beim Deutschen Reich votiert hatten. Aussagekräftig ist auch die Analyse des Verhältnisses von Muttersprache und Abstimmungsverhalten, denn rund 42 % der polnischsprachigen Oberschlesier sprachen sich für Deutschland aus. Der Sozialisierungsgrad der Bevölkerung spielte hierbei die entscheidende Rolle, so dass mehrere Faktoren berücksichtigt werden müssen, vor allem der Lebensraum (Industriegebiet oder dörfliches Milieu), das Bildungsniveau, die sozialen und ökonomischen Verhältnisse und das religiöse Umfeld. Die Sorge um die „kleine Heimat“ war den Wählern wichtiger als nationale Fragen.63 Guido Hitze gibt zwei entscheidende Faktoren an, die seiner Meinung nach zum deutlichen Ausgang der Volksabstimmung geführt haben: Zum einen die gut abgestimmte Propaganda der deutschen Seite und zum anderen die parteiliche Haltung der Interalliierten Kommission. Dadurch hätten sich zahlreiche ___________ 60

Zahlen nach Guido Hitze (Fn. 4), S. 363. Vgl. Neubach (Fn. 33), S. 116. 62 T. Hunt-Tooley, German Political Violence and the Border Plebiscite in Upper Silesia, 1919-1921, in: Central European History 21, 1988, S. 88; Guido Hitze (Fn. 4), S. 267 f. sowie S. 363. 63 Ernst Birke, Schlesien, in: Georg Wilhelm Sante, Geschichte der deutschen Länder („Territorien-Ploetz“), Bd. 2, Die deutschen Länder vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart, Würzburg 1971, S. 237. 61

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polnischsprachige Oberschlesier dazu entschieden, für den Verbleib beim Deutschen Reich zu stimmen. In dieser Gruppe seien also diejenigen zu finden, die noch bei der Kommunalwahl von 1919 als Protestwähler aufgetreten seien und ihre Stimme polnischen Kandidaten gegeben hätten. Hitze würdigt aber auch die richtige Wahlkampfstrategie des Schlesischen Ausschusses unter der Führung von Hans Lukaschek und Carl Ulitzka, die es verstanden hätten, „durch eine Integration der polnischsprachigen Oberschlesier die Förderung eines ausgeprägten oberschlesischen Selbstbewusstseins mittels Betonung von Herkunft und katholischer Konfession sowie durch das entschiedene Aufgreifen des Autonomiegedankens bzw. der sozialen Problematik einen durchaus möglichen polnischen Abstimmungssieg in Oberschlesien zu verhindern.“64

An dieser Stelle sollte die entscheidende Frage gestellt werden, warum nach einem solch klaren Ergebnis dennoch die Teilung Oberschlesiens ein Jahr später vorgenommen wurde. Die deutschen Oberschlesier haben gerade diese Tatsache als Beweis für die Willkürherrschaft der von den Franzosen dominierten Interalliierten Kommission angesehen und als eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit empfunden. Zahlreiche heimatvertriebene Schlesier haben bei den alljährlichen Kundgebungen anlässlich des Gedenkens an die Volksabstimmung diesen Punkt immer wieder hervorgehoben. Jetzt – im Jahre 2011 wird der 90. Gedenktag begangen – sollte diese Fragestellung genauer analysiert werden, weil hierbei noch zahlreiche Fehlinterpretationen vorhanden sind. Das größte bis heute allgemein verbreitete Missverständnis ist der irrtümliche Glaube, dass der Beschluss der Interalliierten Kommission bezüglich der Teilung Oberschlesiens alleine vom Gesamtergebnis der Volksabstimmung abhängig gewesen sei. Im Klartext gesprochen, heißt es, dass es irrtümlich zu glauben (gewesen) sei, der deutsche Wahlsieg beim Plebiszit würde die Teilung Oberschlesiens verhindern. Ganz im Gegenteil war die Spaltung der Region eine beschlossene Sache. Es ging lediglich um das Ausmaß der Grenzziehung. In diesem Punkt waren der französische Einfluss und die Stimme Polens zu mächtig. Guido Hitze resümiert, dass dieser Umstand der deutschen Delegation eigentlich von Beginn an klar gewesen sein musste. Dabei verweist er auf die Aussage des französischen Generals Armando de Marinis, der unmittelbar vor der Abstimmung den Deutschen eröffnet habe, dass die Teilung Oberschlesiens notwendig sei, weil sonst kein Friede hergestellt werden könnte. Die britische Seite scheint zu diesem Zeitpunkt eingelenkt zu haben, denn Oberst Harold Percival meinte, dass „die Chancen für ein ungeteiltes Oberschlesien gegenwärtig nicht sehr günstig“ seien, vor allem da „Paris das letzte Wort“65 habe. Die breite Öffentlichkeit ist von der deutschen Abstimmungskampagne über diese ___________ 64 65

Guido Hitze (Fn. 4), S. 366. Zitate nach Guido Hitze (Fn. 4), S. 369.

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Teilungsoption jedoch nicht aufgeklärt worden. Tatsächlich wurde nur der Gesamtsieg thematisiert.66 An dieser Stelle sollte der Friedensvertragstext von Versailles näher angeschaut werden, um festzustellen, was die Alliierten bereits 1919 beschlossen hatten. Im § 4 des Anhangs zum Vertrag lautet der letzte Satz: „Das Ergebnis der Abstimmung wird nach Gemeinden festgestellt, gemäß der Stimmenmehrheit in jeder Gemeinde.“ Entscheidend ist der § 5, in dem es heißt: „Nach Schluss der Abstimmung wird die Anzahl der in jeder Gemeinde abgegebenen Stimmen durch die Kommission den alliierten und assoziierten Hauptmächten mitgeteilt, zugleich mit einem genauen Bericht über den Hergang der Stimmabgabe und einem Vorschlage über die als Grenze Deutschlands in Oberschlesien anzunehmende Linie, bei dem sowohl der von den Einwohnern ausgedrückte Wunsch, wie auch die geographische und wirtschaftliche Lage der Ortschaften Berücksichtigung findet.“67

Auf diese Weise konnten die Polen östlich der Oder die gesamten Landkreise Rybnik und Pless sowie Teile der Landkreise Beuthen-Land und KattowitzLand für sich beanspruchen. Sobald die genauen Ergebnisse vorlagen, begann das mühselige Tauziehen um die Teilung Oberschlesiens. Bereits zwei Tage nach dem Plebiszit legte Korfanty seinen Plan vor, die als sog. „Korfanty-Linie“ bekannt wurde. Im groben verlief die Grenze entlang der Oder, an Oppeln und Ratibor vorbei. Diese Städte sollten aber deutsch bleiben. Dagegen würde das Gebiet östlich der Oder und das gesamte Industriegebiet an Polen fallen. Korfanty beanspruchte 59,1 % des Abstimmungsgebietes mit 70,1 % der Gesamtbevölkerung für Polen, was das umgekehrte Verhältnis des Abstimmungsausgangs darstellte.68 Frankreich unterstützte sofort Korfanty, Großbritannien und Italien übten gegen diese Pläne starken Widerstand aus. Die Briten spielten auch mit dem Gedanken, Oberschlesien aufgrund des Gesamtergebnisses den Deutschen zu überlassen.69 Ihnen war aber klar, dass die Franzosen und Korfanty diese Forderung aufs Schärfste bekämpfen würden. Italien legte inzwischen einen Kompromissvorschlag vor: So sollten die Landkreise Rybnik und Pless im Ganzen und ein kleiner Teil des Landkreises Tarnowitz an Polen abgetreten werden, während das Industriegebiet beim Deutschen Reich verbliebe. Ab April 1921 kam etwas Bewegung auf, da der britische Widerstand allmählich bröckelte. Sie wurden für den Teilungsgedanken immer empfänglicher, auch wenn sie die Grenzen anders als die Franzosen ziehen wollten. Ihnen und auch den Italienern ___________ 66

Guido Hitze (Fn. 4), S. 369 f. Der Friedensvertrag von Versailles, Berlin 1919. 68 Guido Hitze (Fn. 4), S. 372. 69 Kuropka (Fn. 55), S. 208. 67

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war klar, dass eine Zerteilung Oberschlesiens neue Konflikte heraufbeschwören und die Region destabilisieren würde. Die Fronten hatten sich festgefahren und es zeichnete sich keine Lösung ab. General Le Rond brachte indes seine Teilungspläne ins Spiel. Demnach sollten die fünf an der Grenze zu Polen liegenden Landkreise Rybnik, Pless, Kattowitz-Land, Beuthen-Land und Tarnowitz, die sich durch eine polnische Bevölkerungsmehrheit auswiesen, an Polen abgetreten werden. Le Rond sah die Notwendigkeit der Teilung des Industriegebietes darin, dass er die deutschen Industriestädte als eine „Insel inmitten einer polnischen See“70 ansah. In diesen Städten waren zudem zahlreiche polnische Industriearbeiter tätig, wodurch der General die Stabilität der Region gefährdet sah. Le Rond sah es zudem noch für notwendig an, diesen polnischen Industriestädten ein sehr weites Umland zu gewähren, so dass sich seine Teilungspläne nicht wesentlich von der „Korfanty-Linie“ unterschieden. Die Briten und die Italiener legten einen Gegenentwurf der Teilungspläne, die sich nach rationalen und ökonomischen Prinzipien richteten, vor. Sie teilten das Abstimmungsgebiet in drei Zonen: Zone A: Eindeutig deutsche Kreise im zentralen, westlichen und nordwestlichen Abstimmungsgebiet (Kreuzburg, Rosenberg, Oppeln, Cosel, Neustadt, Leobschütz und Ratibor). Diese Kreise sollten nicht geteilt werden; Zone B: mehrheitlich polnische Kreise Rybnik und Pless; Zone C: Industriegebiet und der östliche Teil an der Grenze zu Polen. Der Entwurf sah vor, dass die Zone C nicht geteilt werden würde. In der Zone B befanden sich zahlreiche Bergwerke und noch nicht abgebaute Fördergebiete, wodurch Polen ökonomisch sehr attraktive Gebiete bekäme. Frankreich lehnte diesen Vorschlag jedoch vehement ab.71 Als ein sehr folgenreicher politischer Fehler erwies sich der Entschluss der britischen Regierung, aufgrund drohender Streiks und gewaltsamer Auseinandersetzungen im Lande die britischen Streitkräfte aus Oberschlesien Ende April 1921 abzuziehen. Die polnische Seite unter Korfanty nutzte die Gelegenheit zu einem paramilitärischen Gegenschlag aus. In der Nacht vom 2. zum 3. Mai 1921 wurde der sog. „Dritte Schlesische Aufstand“ entfacht.72 Diese Auseinandersetzung war die blutigste und die längste, denn sie dauerte bis zum 5. Juli 1921. Der Höhepunkt waren die schwersten Kämpfe, die auf dem St. Annaberg ___________ 70

Zitat nach Guido Hitze (Fn. 4), S. 375. Ebd., 375 f. 72 Über die genauen Vorbereitungen und den Verlauf mit weiterer Literaturangabe zu diesem Thema vgl. Guido Hitze (Fn. 4), S. 377-441. 71

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vom 21. bis zum 27. Mai geführt wurden. Die polnische Regierung distanzierte sich zwar offiziell von den blutigen Kämpfen, sie lehnte die Auseinandersetzungen aber auch nicht dezidiert ab. Guido Hitze betont, dass der Ausbruch des „Dritten Schlesischen Aufstands“ von den Franzosen insgeheim unterstützt worden sei, denn die französische Regierung habe den baldigen Ruhreinmarsch und die Besetzung des Ruhrgebietes geplant. Die Kampfhandlungen in Oberschlesien seien daher mit den Einmarschplänen der Franzosen im Ruhrgebiet eng zu sehen.73 Die aktive Rolle Frankreichs beim Ausbruch des „Dritten Schlesischen Aufstands“ bewertet Guido Hitze mit sehr scharfen Worten: „Es war Frankreich, das aufgrund seines Hegemonialstrebens und eines durchaus verständlichen, aber doch leicht überdehnten Sicherheitsbedürfnisses gegenüber Deutschland in seiner Oberschlesienpolitik jedes völkerrechtliche und auch moralische Maß verlor, indes es nicht nur im Rahmen der IK [Interallierte Regierungs- und Plebiszitkommission] seine unmittelbarsten Regierungs- und Aufsichtspflichten in der ihm anvertrauten Region vernachlässigte, sondern auch noch die verschiedenen ethnischen Volksgruppen förmlich aufeinanderhetzte, um aus den sich daraus zwangsläufig ergebenden Konflikten eigenes politisches Kapital zu schlagen. Korfantys gewaltsame Vorgehensweise lag hauptsächlich in einem leidenschaftlichen Patriotismus begründet. Sein Bündnispartner Frankreich hingegen handelte aus reinem Machtkalkül und verriet damit bedenkenlos die kurze Zeit zuvor in Versailles noch selber feierlich beschworenen Prinzipien des Völkerrechts.“74

Mit diesem schweren Konflikt musste sich der Völkerbund in Genf befassen. Dort wurde am 1. September 1921 entschieden, eine Viererkommission zu gründen. Diese bestand aus einem Belgier, einem Spanier, einem Brasilianer und einem Chinesen.75 Die vier Kommissionsmitglieder wurden mit der Aufgabe betraut, die Abstimmungsergebnisse akribisch zu studieren und auf deren Grundlage genaue Vorschläge über die Grenzziehung vorzulegen. Die Abstimmungsergebnisse waren das Hauptkriterium der Entscheidung, erst dann sollten in weiterer Reihenfolge ökonomische und geographische Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Hier lässt sich die Tragweite dieser Entscheidung klar vor Augen führen: Die Zukunft Oberschlesiens hing von den Mitgliedern der Viererkommission, die das Gebiet nie zu Gesicht bekommen haben, ab. Ihre Entscheidungsgrundlage lag alleine im Akten- und Kartenstudium, wobei sie aufgrund des starken Einflusses seitens der Franzosen keine uneingeschränkte Vollmacht besaßen. In dieser Phase brachten die Franzosen einen weiteren Vorschlag ein, den sie schließlich durchsetzten. Es handelte sich um das „Prinzip der Proportionalität der Opfer“76. Demnach sollten die Deutschen keine Industriestädte zugespro___________ 73

Vgl. Guido Hitze (Fn. 4), S. 385 sowie S. 388-392. Ebd., S. 440. 75 Mehr dazu: ebd., S. 453 f. 76 Ebd., S. 454. 74

Die Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg

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chen bekommen, deren Umland größtenteils von Bevölkerung, die sich für die Eingliederung in den polnischen Staat ausgesprochen hatte, dominiert war. Damit sollte verhindert werden, dass diese polnischen Randgebiete doch noch an das Deutsche Reich fielen. Infolge dieser französischen Forderung wurde das Industriegebiet zugunsten Polens aufgeteilt. Am 12. Oktober 1921 war es schließlich soweit: Der Völkerbundrat teilte dem Obersten Rat seine Empfehlung für eine Grenzziehung zwischen dem Deutschen Reich und Polen mit. Polen wurden die gesamten Kreise Rybnik und Pless, der größte Teil des Kreises Tarnowitz, weite Teile der Landkreise Beuthen, Hindenburg, Gleiwitz, Ratibor und Lublinitz, sowie die Stadt- und Landkreise Kattowitz und Königshütte zugesprochen. Zusammen machte das über 3.200 km2 und fast eine Million Einwohner aus, von denen rund 55,8 % für Polen gestimmt hatten.77 Wenn man die Teilung Oberschlesiens rein statistisch analysiert, so mögen die Zahlen scheinbare Gerechtigkeit ausdrücken. 71 % des Abstimmungsgebietes verblieben beim Deutschen Reich und lediglich 29 % fielen an Polen. Wenn die Statistiken jedoch um industrielle Angaben erweitert werden, ergibt sich ein völlig umgekehrtes Bild. Polen bekam ca. 90 % der oberschlesischen Steinkohlevorkommen und 75 % der Industrieanlagen zugesprochen.78 Am Ende setzte sich Frankreich durch. Die Vorschläge des Völkerbundes über den Grenzverlauf wurden der Botschafterkonferenz in Paris übergeben, welche am 15. Oktober 1921 ihre Zustimmung zu dem ausgearbeiteten Grenzverlauf gab. Die Genfer Konvention über Oberschlesien wurde am 15. Mai 1922 verabschiedet und Ende Mai ratifiziert. Die Teilung Oberschlesiens hatte für die politische, wirtschaftliche und soziale Situation der Region schwerwiegende Folgen. Politisch kam es zu Radikalisierungstendenzen auf beiden Seiten, was die nationalen Spannungen noch weiter schürte. Ökonomisch wurde die Region empfindlich geschwächt, auch wenn es dort gegen Ende der 1920er Jahre auf beiden Seiten der Grenze zum Wirtschaftswachstum kam – auf deutscher Seite war dieses stärker als auf der polnischen. Die Teilung Oberschlesiens führte zu einer großen Migrationswelle auf beiden Seiten der Grenze. Deutsche Bürger, die sich plötzlich auf polnischem Gebiet wiederfanden, gaben ihr Hab und Gut auf, verkauften es und wanderten über die Grenze aus. Umgekehrt war es genauso.79 Im polnischen Teil kam es zudem zu einem Austausch der Eliten, nachdem der nationalpolnisch einge___________ 77

Guido Hitze (Fn. 4), S. 458. Zahlen nach: ebd. 79 Siehe dazu: Grenzgänger, Erzählte Zeiten, Menschen, Orte, Gliwice 2008. 78

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Gregor Ploch

stellte Michał Grażyński80 Woiwode der autonomen polnischen Woiwodschaft Schlesien geworden war. Landfremde Eliten und einfache Arbeiter aus unterschiedlichen Teilen Polens, vor allem Galizien, zogen nach Oberschlesien, das sie als ein fremdes Land erlebten. Der Aufprall unterschiedlicher Mentalitäten und Kulturen verstärkte noch die sozialen Konflikte. In seinem opulenten biographischen Werk über den Vorsitzenden der oberschlesischen Zentrumspartei, Carl Ulitzka, fasst Guido Hitze das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes im Hinblick auf die Volksabstimmung in Oberschlesien sehr prägnant zusammen: „Gerade am Beispiel Oberschlesiens aber sollten sich die mitunter verheerenden Auswirkungen des an sich gut gemeinten Wilsonschen Prinzips des ‚nationalen Selbstbestimmungsrechtes‘ zeigen […] Wilsons Idee [schuf] in der von ihm vertretenen doktrinären Form keine Gerechtigkeit, sondern nur immer neue nationale Konflikte mit neuen Unterdrückern und neuen Unterdrückten.“81

In einer gemischten Bevölkerung wurden Trennlinien gezogen und Konflikte heraufbeschworen.

Abstract After the end of World War I, the international community tried to shape the European post-war order according to completely new principles. The American president Woodrow Wilson outlined their main features in his Fourteen Points program, which had the self-determination of peoples as its leitmotif. The realisation of plebiscites was part of it. This article focuses on the plebiscite which took place in Upper Silesia on March 20th, 1921 and examines its prehistory. One cannot refer to the Upper Silesia plebiscite as self-determination of peoples, which (according to contemporary standards) allowed them to express their views to the full democratic extent. Upper Silesia was a pawn in the game of powers between the German Empire and France. Due to the fact that the Military Inter-allied Commission of Control was French dominated and biased, no political objectivity was applied. The clear outcome of the plebiscite in favour of Germany can also be traced back to the attitude of the Military Interallied Commission of Control, which influenced the eligible voters’ political will. Furthermore, the concerted German propaganda system was an important factor. Basically, the idea of self-determination of peoples failed due to the di___________ 80 81

1890-1965, zwischen 1926 und 1939 schlesischer Woiwode. Guido Hitze (Fn. 4), S. 216.

Die Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg

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verging interests of all participants, which created a breeding ground for further political and ethnical conflicts in this region.

Wer ist Träger des Selbstbestimmungsrechts und wie kann man es durchsetzen? – Rechtsinhaberschaft und Rechtsdurchsetzungsmacht Von Christian Hillgruber

I. Einleitung Der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker gilt heute nach allgemeiner Ansicht nicht bloß als politische Leitlinie, sondern als verpflichtendes Rechtsprinzip. Die Entwicklung von einem politischen Programmsatz zu einem Rechtssatz des positiv geltenden Völkerrechts hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen, und es ist dabei in erste Linie der Dekolonisierungsprozess gewesen, der ihm zum Durchbruch verholfen hat1. Die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den jeweiligen Art. 1 der beiden UNPakte über bürgerliche und politische bzw. wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 19662 hat seine Anerkennung als universell geltendes Völkerrecht dann endgültig konsolidiert. In der so genannten „Friendly Relations Declaration“ der UN-Generalversammlung von 1970 (Anhang zu Res. 2625 [XXV]), die zwar als solche rechtlich unverbindlich ist, aber weithin zu Recht als deklaratorische Wiedergabe geltenden Völkergewohnheitsrechts verstanden wird, ist es als fünfter „Grundsatz“ aufgeführt. Die Geltung des Selbstbestimmungsrechts als völkervertrags- wie auch als völkergewohnheitsrechtliche Norm ist daher heute im Prinzip unbestritten; sie ist auch vom IGH in mehreren ___________ 1 Infolge der Generalversammlungsresolution 1514 (XV) vom 14.12.1960 (Ziff. 2) erstarkte der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker durch Konkretisierung von Träger und Inhalt im Kontext der Dekolonisierung zu einem völkerrechtlichen Rechtstitel und wurde so zum Selbstbestimmungsrecht. In dieser Resolution und der nachfolgenden Praxis inner- und außerhalb des institutionellen Rahmens der Vereinten Nationen kommt der (fast) einmütige Wille der (Mitglied-)Staaten zum Ausdruck, die Kolonialmächte dazu zu verpflichten, die noch unter Kolonialherrschaft stehenden Völker in die Unabhängigkeit zu entlassen und ihnen die freie Entscheidung über ihren politischen Status zu überlassen. Zu dieser Entwicklung vgl. Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Die Domestizierung einer Illusion, 2010, S. 232 ff. 2 „All peoples have the right of self-determination. By virtue of that right they freely determine their political status and freely pursue their economic, social and cultural development.“

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Christian Hillgruber

Entscheidungen bestätigt worden3. Nach verbreiteter Ansicht hat es sogar die besondere Bestandskraft von ius cogens4.

II. Der Begriff des Volkes im Sinne des Selbstbestimmungsrechts Ungeachtet seines mithin heute nicht mehr ernstlich bestrittenen Rechtscharakters besteht außerhalb des mittlerweile abgeschlossenen Entkolonialisierungsprozesses5 allerdings bis heute keine Klarheit und Einigkeit über Inhaber und Inhalt des Selbstbestimmungsrechts der Völker, was seine Anwendbarkeit und Anwendung höchst prekär macht. „Die internationale Gemeinschaft hat – im Völkerrecht – bislang keine einschlägige Definition gegeben. [...] Es ist nicht so, dass die Staaten das Volk nicht definieren können – sie wollen nicht, und zwar aus Machtgründen“6. Sie wollen die Entscheidung darüber, wen sie als Träger des Selbstbestimmungsrechts anzuerkennen bereit sind, ad hoc, von Fall zu Fall treffen und sich nicht im vorhinein festlegen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker umfasst – seinem Inhalt nach – im Kern die freie Entscheidung eines Volkes über seinen politischen Status (Art. 1 UN-Menschenrechtspakte).

___________ 3 Namibia, ICJ Rep. 1971, S. 9 (31); Western Sahara, ICJ Rep. 1975, S. 12 (31 ff.); Nicaragua, ICJ Rep. 1986, S. 14 ff.; Différend frontalier (Burkina Faso/Mali), ICJ Rep. 1986, S. 554 (566 f.); Ost-Timor, ICJ Rep. 1995, S. 90 (102); Construction of a Wall in occupied Palestinian territory, Ziff. 118 und 155 f. Siehe aus dem Schrifttum nur Nguyen/Daillier/Pellet, Droit International Public, 6. Aufl. 1999, § 341; Brownlie, Principles of Public International Law, 6. Aufl. 2003, S. 553 f. Die Bundesregierung (vgl. BT-Drs. 11/6553, 10 oder BGBl. II, 1985, S. 1234) und das Bundesverfassungsgericht (BverfGE 77, S. 137 (161) – sog. Teso-Beschluß; siehe dazu Hillgruber/Kempen, ROW 1989, S. 323-332) – haben sich immer wieder auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen und insbesondere auf diesen Rechtstitel den Anspruch des deutschen Volkes auf Überwindung der staatlichen Teilung gestützt. 4 Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992, S. 264 ff.; Doehring, Völkerrecht, 2004, Rn. 194, S. 800; ILC, Yearbook of the International Law Commission, 1976 II/2, 121: Die ILC führt hier das Selbstbestimmungsrecht als die in der Staatenpraxis nach dem Aggressionsverbot am zweithäufigsten genannte ius cogens-Norm an, ohne jedoch die herangezogene und ausgewertete Staatenpraxis im Einzelnen darzulegen. 5 Hier wurde der anerkannte Selbstbestimmungsanspruch den in den jeweiligen Kolonialgebieten als territorialen Einheiten ansässigen Kolonialvölkern als Rechtsträgern ohne Rücksicht auf rassische und ethnische Homogenität zugeordnet und inhaltlich auf die Erlangung staatlicher Unabhängigkeit als konkrete Rechtsfolge ausgerichtet. 6 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Die Domestizierung einer Illusion, 2010, S. 21.

Wer ist Träger des Selbstbestimmungsrechts?

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Aber wer hat dieses Recht, wer ist ein „Volk“ und damit Subjekt dieses politischen Selbstbestimmungsrechts7? Rechtsträger sind zunächst einmal alle bereits staatlich organisierten, durch gemeinsame Staatsangehörigkeit konstituierten Völker8. Das lässt sich aus den Vorarbeiten zu den Pakten ableiten und entstehungsgeschichtlich belegen9 und folgt im Übrigen auch daraus, dass Art. 1 der Menschenrechtspakte das Selbstbestimmungsrecht allen Völkern unabhängig von ihrem internationalen politischen Status gewährleistet10. Die als solche unschwer zu identifizierenden Nationen (Staatsvölker) können mit Hilfe des sog. „defensiven“11 Selbstbestimmungsrechts die Achtung der territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit „ihrer“ Staaten verteidigen12; insoweit tritt das äußere Selbstbestimmungsrecht einer Nation zu den ___________ 7

Zwischen Trägerschaft und Inhalt des Selbstbestimmungsrechts besteht ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis, weshalb ein Vorgriff auf den sachlichen Gewährleistungsbereich des Selbstbestimmungsrechts zumindest teilweise unvermeidlich ist. 8 Doehring, Völkerrecht, 2004, Rn. 783; Heintze, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 28 Rn. 6. 9 Der „Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker“ fand als „Zielbestimmung“ in Art. 1 Nr. 2 und Art. 55 Aufnahme in die UN-Charta, blieb aber in den Beratungen von San Francisco umstritten und zunächst auch inhaltlich konturenlos (vgl. dazu und zum Folgenden Fink, Kollektive Friedenssicherung, 1999, Teil 2, Kap. XXI, S. 888-892). Als eigentliches Ziel erscheinen nach dem Wortlaut der Bestimmungen freundschaftliche Beziehungen zwischen den Nationen, also den staatlich organisierten Völkern; die Präambel spricht von den „Völkern der Vereinten Nationen“. Da indes nicht die Völker der Mitgliedstaaten, sondern diese selbst Vertragsparteien sind, spricht vieles dafür, dass hier in Wahrheit die Staaten gemeint sind. Die anvisierte Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker korrespondiert insoweit mit dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta); vgl. dazu Kelsen, The Law of the United Nations, 1950, S. 50 ff. In den Beratungen wird allerdings auch vertreten, dass das Selbstbestimmungsrecht Volksgruppen zusteht, die in einem ethnisch heterogenen Staatsverband leben, den sie verlassen wollen (Nachweise bei Fink [aaO]). Die Unklarheit in bezug auf Träger und mögliche Inhalte des Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker spricht für die Annahme, dass in Art. 1 Nr. 2 und Art. 55 UN-Charta zunächst nur ein rechtlich unverbindliches Ziel, aber kein Rechtsprinzip festgelegt werden (sollte); so auch Doehring, in: Simma (ed.), UN-Charter, ²2002, Art. I, „Self-Determination“, Rn. 1 ff.; Cassese, Self-Determination of Peoples, 1995, S. 37 ff.; Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1976, S. 89 ff. 10 Siehe Cassese, The Self-Determination of Peoples, in: Henkin (ed.), The International Bill of Rights. The Convenant on Civil and Political Rights, 1981, S. 92 ff. (94 m. umfangreichen Nachw. in Fn. 21). 11 Zu Terminologie und Inhalt siehe Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, Der Staat 23 (1984), S. 532 f., 544 f. 12 In diesem Sinne war auch die bis 1990 offene „deutsche Frage“ angesichts der ohne und gegen den Willen des deutschen Volkes erfolgten „Teilung“ ein Problem der Selbstbestimmung; siehe dazu Hillgruber/Kempen, Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und der Teso-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, ROW 1989, S. 323 ff.; Murswiek, Systematische Überlegungen zum Selbstbestimmungsrecht des deutsches Volkes, in: Deutschland als Ganzes, FS Czaja, 1985, S. 233 ff.

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herkömmlichen Abwehransprüchen des von dieser Nation konstituierten Staates aus dem Interventions- und Gewaltverbot lediglich als weiterer völkerrechtlicher Rechtstitel mit demselben Anspruchsziel, allerdings einem zweiten, eigenständigen Zuordnungssubjekt hinzu. „Würde der Begriff des ‚Volkes‘ im Sinne des Selbstbestimmungsrechts nur Staatsvölker erfassen, so erwiese sich das Selbstbestimmungsrecht „als ein grundsätzlich konservierendes, den ‚Status quo‘ der heutigen Staatenwelt legitimierendes, die ‚beati possidentes’ der gegenwärtigen Ordnungsstrukturen favorisierendes, aussage- und gestaltungsschwaches Prinzip“13. Es stellt sich daher die Frage, ob Subjekt des Selbstbestimmungsrechts auch und gerade die (noch) nicht staatlich organisierten Völker sein können. Die Erstreckung des Selbstbestimmungsrechts auf unter Kolonialherrschaft stehende Völker erfolgte mit der Generalversammlungsresolution 1514 (XV) vom 14.12.196014 („Declaration on Granting Indepedence to Colonial Countries and Peoples“). Mittlerweile kann als gesichert gelten, dass darüber hinaus alle Völker Träger des Selbstbestimmungsrechts sind. Dafür spricht zunächst der Wortlaut der Art. 1 Abs. 1 S. 1 der beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966: „All peoples have the right of self-determination“. Das Wortlautargument wird durch eine systematische Überlegung gestützt: Abs. 3 desselben Art. 1 der Menschenrechtspakte verpflichtet alle Signatarstaaten „including those having responsibility for the administration of Non-Self-Governing and trust Territories“, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts voranzutreiben. Die für noch nicht in staatlicher Unabhängigkeit lebende Völker verantwortlichen Staaten werden so mit in die Pflicht genommen; sie sind aber eben nicht die einzigen Verpflichteten, und daher ist anzunehmen, dass auch alle anderen Völker unabhängig von ihrem gegenwärtigen politischen Status begünstigt sein sollen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker würde ferner bei Verengung seines personellen Anwendungsbereichs auf „colonial peoples“ auch praktisch bedeutungslos sein, weil im Zeitpunkt des Inkrafttretens der UN-Menschenrechtspakte 1976 der Dekolonisierungsprozess im Wesentlichen bereits abgeschlossen war15. Dieses Ergebnis wird schließlich auch durch die nachfolgende ___________ 13

Thürer, in: Reiter (Hrsg.): Grenzen des Selbstbestimmungsrechts, 1996, S. 39. Yearbook of the United Nations 1960, S. 48 ff. 15 In der Literatur wird die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes teilweise als „bridge case“ gedeutet, „der den Übergang von der Entkolonialisierung zur Akzeptanz des Selbstbestimmungsrechts aller Völker dokumentierte“ (Heintze, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 28 II 1 Rn. 4 unter Berufung auf Brownlie, Introduction: International Law in the Second Half of the Twentieth Century, in: FS Elias I, 1992, S. 5). Hieran bestehen erhebliche Zweifel. Die Palästinenser selbst und viele ihrer arabischen Unterstützerstaaten begreifen die Herrschaft Israels über Teile Palästinas als „neue“ Form des Kolonialismus; die PLO und jetzt die Hamas führten bzw. führen nach ihrem Selbstverständnis einen antikolonialen „Befreiungskampf“ gegen Israel. 14

Wer ist Träger des Selbstbestimmungsrechts?

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Staatenpraxis belegt. Zwar haben einzelne Staaten der Dritten Welt versucht, den Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts der Pakte auf Kolonialvölker zu beschränken. Dem sind aber europäische Staaten entschieden entgegengetreten. So hatte Indien bei der Hinterlegung der Beitrittsurkunde zu den beiden Menschenrechtspakten den Vorbehalt anbringen wollen, dass das Recht auf Selbstbestimmung nach Art. 1 der Pakte nur für die Völker unter Fremdherrschaft gelte, „und dass diese Worte nicht für souveräne unabhängige Staaten oder einen Teil eines Volkes oder einer Nation gelten – was das wesentliche Merkmal nationaler Unversehrtheit ist“. Die Bundesrepublik Deutschland erhob jedoch durch die Bundesregierung, ebenso wie Frankreich und die Niederlande, „energisch Einspruch“ und betonte: „Das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte und in den Pakten enthaltene Recht auf Selbstbestimmung gilt für alle Völker und nicht nur für Völker unter Fremdherrschaft. Alle Völker haben deshalb das unveräußerliche Recht, ihren politischen Status frei zu bestimmen und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung frei zu gestalten. Die Bundesregierung kann eine Auslegung, die der klaren Aussage der betreffenden Bestimmungen entgegensteht, nicht als rechtsgültig betrachten. Sie ist außerdem der Auffassung, dass jede Einschränkung ihrer Anwendbarkeit auf alle Nationen mit Ziel und Zweck der Pakte unvereinbar ist“16. „Erkennt man aber [...] auch dissidenten Gruppen oder separatistischen Bewegungen das Selbstbestimmungsrecht zu und versteht man dieses inhaltlich weit im Sinne eines jederzeit wahrnehmbaren, unbeschränkten Rechts auf Sezession, so erhält das Selbstbestimmungsrecht die Sprengkraft eines revolutionären, Kräfte des Umsturzes entfesselnden, in letzter Konsequenz in die Weltanarchie führenden Prinzips“17.

Als Anspruch auf den eigenen Nationalstaat verstanden, geriete ein solches „offensives“, äußeres Selbstbestimmungsrecht eines Volkes, das seine Existenz in eine politische Form bringen, d. h. „verstaatlichen“ will, in Widerstreit mit der vom Völkerrecht geschützten territorialen Unversehrtheit und Souveränität der Staaten, im Übrigen unter Umständen auch mit dem „defensiven“ Selbstbestimmungsrecht des betroffenen Staatsvolkes. Die Entstehungsgeschichte des Art. 1 Ziff. 2 UN-Charta, der Selbstbestimmungsartikel der Menschenrechtspakte, die „Friendly-Relations-Declaration“ von 1970 sowie die Staatenpraxis zeigen jedoch, dass das Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich – Ausnahmen ___________ 16 Siehe die Bekanntmachung über den Geltungsbereich des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 21.11.1980, BGBl. II, S. 1482 f. Demgegenüber vertrat Gros Espiell, Special Rapporteur of the Subcommission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, in seinem Bericht „The Right To Self-Determination. Implementation of United Nations Resolution“, 1980 (E/CN.4/Sub.2/405/ Rev. I) wegen des von den Vereinten Nationen stets betonten Schutzes nationaler Einheit und territorialer Integrität der Staaten die Auffassung, dass „the right does not apply to peoples already organized in the form of a State which are not under colonial and alien domination“ (§ 60). 17 Thürer, in: Reiter (Hrsg.): Grenzen des Selbstbestimmungsrechts, 1996, S. 39 f.

Christian Hillgruber

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sind außerhalb des kolonialen Kontextes wohl nur bei ganz schwerwiegender, genozidaler gruppenbezogener Verfolgung anzuerkennen – nicht zum Zweck der ganzen oder teilweisen Zerstörung der territorialen Integrität eines Staates sollte ausgeübt werden dürfen18. Doch sind immerhin auch Lösungen unterhalb der Schwelle der Sezession denkbar (bundesstaatliche Ordnung; territoriale oder personale Autonomie; kommunale Selbstverwaltung), so dass gegen die Zuerkennung eines „äußeren“ Selbstbestimmungsrechts auch an Völker, die über keine eigene Staatlichkeit verfügen, keine prinzipiellen Bedenken erhoben werden können. Für die nicht staatlich organisierten Völker stellt sich allerdings das Problem, anhand welcher objektiven ethnischen oder subjektiven Kriterien die Volkseigenschaft und damit die Rechtsträgerschaft zu bestimmen ist19. Hier dürfte von objektiven, einheitsstiftenden Momenten auszugehen sein, die um das subjektive Element eines notwendigen Zusammengehörigkeits- und Identitätsbewusstseins zu ergänzen sind. Danach kann ein Volk als Gruppe von Menschen definiert werden, „die sich durch Merkmale wie die räumliche Geschlossenheit des Siedlungsgebietes, gemeinsame Abstammung, Sprache, kulturelle Tradition, Geschichte, besondere psychische Wesensart und Gemeinschaftsbewusstsein von anderen menschlichen Gemeinschaften unterscheidet und die Fähigkeit und den Willen besitzt, eine dauerhafte selbständige Existenz zu führen, über deren Form sie selbst entscheidet und die sich in der Bereitschaft der Angehörigen dieser Gemeinschaft ausdrückt, Opfer für sie zu bringen“20. Der exakte Stellenwert der einzelnen objektiven Kriterien lässt sich nicht generell-abstrakt angeben, sondern hängt vom Einzelfall ab. Es können auch einmal einige der genannten Kriterien fehlen und gleichwohl in der anzustellenden Gesamtbetrachtung eine durch allgemeine Merkmale hinreichend bestimmte und abgegrenzte und ihrer selbst bewusste Menschengruppe als Volk ___________ 18

Vgl. dazu Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1976, S. 70, 115. Auch Gros Espiell, Special Rapporteur of the Subcommission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, betont in seinem Bericht „The Right To Self-Determination. Implementation of United Nations Resolution“, 1980 (E/CN.4/ Sub.2/405/Rev. I) „the difficulty of defining the concept of a people“ (§ 56). 20 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1955, S. 63; siehe auch Doehring, Völkerecht, ²2004, Rn. 786 f.; Heintze, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 28 Rn. 9 ff. Gros Espiell, Special Rapporteur of the Subcommission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, definiert in seinem Bericht “The Right To Self-Determination. Implementation of United Nations Resolution, 1980 (E/CN.4/ Sub.2/405/Rev. I) das Volk als Träger des Selbstbestimmungsrechts funktionalistisch als „a specific type of human community sharing a common desire to establish an entity capable of functioning to secure a common future“ (§ 56). Der Menschenrechtsausschuss hat in seiner Allgemeinen Bemerkung 12/21 sich hinsichtlich des Trägers des Selbstbestimmungsrechts nicht festgelegt; kritisch dazu Heintze, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 28 II 1, Rn. 11. 19

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anzuerkennen sein. So dürften etwa bei den meisten europäischen Juden erst nach und aufgrund des gemeinsamen Schicksals grausamer und tödlicher Verfolgung durch das nationalsozialistische Deutschland das Bewusstsein der Überlebenden und Nachfahren, ein Volk zu sein, entstanden und sich der Wille zur Gründung eines eigenen Staates Israel herausgebildet haben. Die Praxis folgte im Rahmen der Dekolonialisierung (insbesondere in Afrika) allerdings ohne Rücksicht auf die angeführten objektiven Merkmale der uti possidetis-Doktrin21, orientierte sich also an den Verwaltungsgrenzen aus der Zeit der Kolonialherrschaft und identifizierte als „Volk“ einfach die Bevölkerung der jeweiligen, vom Mutterland unter administrativen Gesichtspunkten abgegrenzten territorialen Kolonialverwaltungseinheit22. Lässt sich anhand der einschlägigen Kriterien bei einer bestimmten Menschengruppe der Volkscharakter nicht oder nicht eindeutig feststellen, so scheidet diese Gruppe als Rechtssubjekt aus. Objektive Bestimmungsfaktoren sind unverzichtbar, damit sich eine Menschengruppe nicht willkürlich als Volk „erfinden“ kann. Ein Volk kann nicht wie ein Verein durch bloße Willensübereinstimmung gegründet werden. Das Selbstbestimmungsrecht steht nur existierenden Völkern zu und nicht Individuen zum Zwecke der Gründung von Völkern23. Nimmt man das Selbstbestimmungsrecht ernst, kann allerdings letztlich auch nur ein Volk selbst sich als solches identifizieren. Käme es auf eine Zuschreibung der Volkseigenschaft und Anerkennung als Volk durch Dritte, insbesondere die Staaten an, mutierte die versprochene Selbstbestimmung in Fremdbestimmung. Zudem gebieten die Menschenrechte, dass niemand gegen seinen Willen einem Volk zugerechnet wird, dem er sich nicht zugehörig fühlt24. Mit ___________ 21 Zur Bedeutung dieses Grundsatzes siehe auch Nguyen/Daillier/Pellet, Droit International Public, 6. Aufl. 1999, § 343. 22 Vgl. dazu auch die 1964 von den Staats- und Regierungschefs der OAU angenommene „Kairoer Erklärung“ (abgedruckt in I. Brownlie, African Bounderies – A legal and Diplomatic Encyclopedia, 1979, S. 10 f.), in der diese sich zu der uti possidetisDoktrin bekennen. Bereits bei den Vorarbeiten zur GA Res. 1514 (XV) der Generalversammlung betonten die gerade in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten, die zu den entschlossensten Befürwortern des Selbstbestimmungsrechts rechneten, dass die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen unantastbar seien. Die sozialistischen und die westlichen Staaten widersprachen in diesem Punkt nicht; siehe dazu: Cassese, Self Determination of Peoples, 1995, S. 72 f. Vgl. auch IGH, Kammerurteil v. 22.12.1986, Différend frontalier, ICJ Rep. 1986, S. 567. 23 Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, Der Staat 23 (1984), S. 523 ff., 530. 24 Dementsprechend hat die von der damaligen Europäschen Gemeinschaft eingesetzte Schiedskommission zur Klärung der mit dem Untergang der Sozialistischen Förderativen Republik Jugoslawien verbundenen Rechtsfragen (Badinter-Kommission) auf die Frage „Does the Serbian population in Croatia and Bosnia-Hercegovina, as one

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Recht hält daher Thürer „[j]ede[n] Versuch zur objektiv-abschließenden ‚wissenschaftlich‘-feststellbaren Festlegung des Begriffs des selbstbestimmungsberechtigten Volkes [...] [für] ein[en] Widerspruch in sich“25. Folglich gilt: Kraft seines Selbstbestimmungsrechts definiert sich ein Volk zunächst einmal selbst als solches, indem es ein politisches Selbstbewusstsein entwickelt und artikuliert. Findet eine erhobene politische Selbstbestimmungsforderung hinreichenden Rückhalt in der Menschengruppe, für die sie erhoben wird, kann an der Existenz eines Volkes als Inhaber des Selbstbestimmungsanspruchs nicht mehr ernstlich gezweifelt werden. So hat der UN-Spezialberichterstatter zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, Cristescu, zutreffend festgestellt: „The fact is that whenever in the course of history a people has become aware of being a people, all definitions have proved superfluous“26. Die Selbstbestimmungsforderung kann daher nicht (mehr) einfach mit der Negation der Existenz eines Volkes als Rechtsträger abgewiesen, sondern nur (noch) inhaltlich zurückgewiesen werden. Während die Staaten wegen des Selbstbestimmungsrechts der Völker das manifestierte Selbstverständnis einer Menschengruppe als „Volk“ prinzipiell zu respektieren haben, können sie einer konkreten Selbstbestimmungsforderung jedes berechtigte, d. h. völkerrechtlich geschützte, gegenläufige Interesse entgegensetzen, das dann das Selbstbestimmungsrecht in seiner Reichweite zu begrenzen vermag. Gleichwohl bestreiten die Staaten nicht selten schlicht und einfach die Existenz von selbstbestimmungsrechtsfähigen Volksgruppen oder Minderheiten27; soweit es keine speziellen Kontrollinstanzen gibt, die über die Einhaltung des Selbstbestimmungsrechts wachen, kann dieser Form der Rechtsverweigerung kaum wirksam entgegengetreten werden.

___________ constituent people of Yugoslavia, have the right of Self-Determination?“ geantwortet: „By virtue of that right every individual may choose to belong to whatever ethnic, religious or language community he or she wishes“; EJIL 1992, S. 183 f. Welcher Ethnie man angehört, kann man allerdings nicht wählen. 25 Thürer, in: Reiter (Hrsg.): Grenzen des Selbstbestimmungsrechts, 1996, S. 41; s. auch Heintze, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 28 II 1, Rn. 9-11. 26 UN Doc. E/CN.4/Sub.2/404/Rev. 1, 17. 27 So etwa Frankreich, das wegen der sakrosankten Einheit des französischen Volkes, d. h. des verfassungsrechtlich festgeschriebenen Dogmas von der „nation une et indivisible“ nur französische Staatsbürger, aber keine Basken, Bretonen, Elsässer oder Korsen kennt. Aus diesem Grund hielt das erste Autonomiestatut für Korsika der verfassungsrechtlichen Nachprüfung durch den Conseil Constitutionnel nicht stand (Décision n° 91-290 DC du 9 mai 1991, § 13 – Loi portant statut de la collectivité territoriale de Corse). Mit der gleichen Begründung hat Frankreich die Anwendbarkeit des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten (BGBl. II 1997, S. 1407) verneint.

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Bisweilen ist nicht ganz klar, ob einer Personengruppe die Eigenschaft, ein „Volk“ zu sein, und damit die Rechtsträgerschaft abgesprochen wird, oder lediglich die von diesem „Volk“ geltend gemachte, konkrete Rechtsfolge eines Sezessionsrechts von der Staatengemeinschaft verneint wird. So haben nach der Staatenpraxis ethnische Gruppen innerhalb eines aus einer ehemaligen „Verwaltungseinheit“ (frühere Kolonie oder Gliedstaat eines Bundesstaates) im Wege der Sezession oder Dismembration hervorgegangenen neuen Staates jedenfalls kein Recht auf Sezession, sondern werden auf die Inanspruchnahme des seitens des Neustaates zu gewährleistenden Minderheitenschutzes verwiesen28. Eine Aberkennung (der Inhaberschaft) des Selbstbestimmungsrechts läge darin indes nur dann, wenn man den Minderheitenschutz als aliud zum Selbstbestimmungsrecht und nicht bloß als gewissermaßen „kleines Selbstbestimmungsrecht“, also als „wesengleiches minus“ in der Rechtsfolge im Vergleich zu dem reklamierten Sezessionsrecht betrachtet. Man wird jedenfalls nicht annehmen können, dass ein Bundesstaat durch interne Grenzziehung zwischen den ihm angehörenden Gliedstaaten zugleich mit völkerrechtlicher erga omnes-Außenwirkung festlegen kann, dass Minderheiten innerhalb eines Gliedstaates unter keinen Umständen selbstbestimmungsrechtsfähige „Völker“ sein können. Eine solche negative Definitionsmacht hinsichtlich möglicher Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechts der Völker, mit der diese von der Rechtsausübung von vornherein und endgültig ausgeschlossen wären, kommt keinem (einzelnen) Staat zu29. ___________ 28 So ist beispielsweise das Bestreben der serbischen Volksgruppe in den ehemaligen jugoslawischen Republiken Kroatien und Bosnien-Herzegowina, nach den Unabhängigkeitserklärungen dieser Staaten sich nun ihrerseits von diesen zu trennen und eigene Staaten zu bilden („Sezession in der Sezession“), nicht respektiert, sondern zurückgewiesen worden: Siehe dazu den Schiedsspruch des von der internationalen Jugoslawienkonferenz geschaffenen „Arbitration Committee“ (sog. Badinter-Kommission, EJIL 3 [1992], S. 184), das sich dafür auf den uti-possidetis-Grundsatz beruft: „The Committee considers that, whatever the circumstances, the right to self-determination must not involve changes to existing frontiers at the time of independance (uti possidetis juris) except where the States concerned agree otherwise“. Die formale uti possidetis-Regel aber kann nicht materiell darüber bestimmen, ob eine ethnische bzw. nationale Minderheit innerhalb des Gliedstaates als eigenes, ebenfalls selbstbestimmungsberechtigtes Volk gilt. 29 So konnte etwa im Fall der serbischen Minderheiten in den unabhängig gewordenen Republiken Kroatien und Bosnien-Herzegowina nicht ernstlich streitig sein, dass auch ihnen das Selbstbestimmungsrecht der Völker zustand, sondern allein, ob sie daraus ein Sezessionsrecht herleiten konnten oder sich mit Minderheitenschutz innerhalb des neuen Staatsverbandes zufrieden geben mussten. Bezeichnenderweise hatte denn auch die Badinter-Kommission in ihrem Gutachten vom 11.1.1992 (Opinion No. 4, ILM 31 (1992), S. 1501-1503 [1503]) noch die Auffassung vertreten, „that the will of the peoples (!) of Bosnia-Herzegovina to constitute the SRBH as a sovereign an independent state cannot be held to have been fully established“. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum vom 29.2./1.3.1992 schritt die Staatengemeinschaft zur Anerkennung

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Auch Gliedstaatsvölker kommen als Träger des Selbstbestimmungsrechts in Betracht30, wie die Beispiele Québec31, Eritrea32, ehemalige Sowjetrepubliken33 und die jugoslawischen Teilrepubliken34 zeigen. Auch hier wird allerdings die uti possidetis-Regel zur Geltung gebracht. Sie bewirkt insbesondere, dass eine ethnische oder nationale Minderheit innerhalb des Gliedstaates nicht als eigenes, ebenfalls selbstbestimmungsberechtigtes Volk gilt, sondern dem Gliedstaatsvolk insgesamt zugerechnet wird und dessen Mehrheitsentscheidung gegen sich gelten lassen muss35. ___________ Bosnien-Herzegowinas, obwohl die serbische Volksgruppe durch den Boykott der Abstimmung ihre ablehnende Haltung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hatte. Jetzt ging man offensichtlich von einem einheitlichen Träger des Selbstbestimmungsrechts, dem „Republiksvolk“, aus, dessen Mehrheitsentscheidung sich auch die serbische Volksgruppe zurechnen lassen und der sie sich beugen musste. 30 Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen das Selbstbestimmungsrecht ihnen in der Rechtsfolge das für sie allein noch relevante Sezessionsrecht gibt, ist eine andere Frage. 31 De separatistische Partei Bloc Québecois hat immer wieder ein Sezessionsrecht als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts des Volkes von Québec proklamiert (ablehnend etwa Cassese, Self-determination of Peoples, 1995, S. 251 f. m. ausf. w. N. auf die Debatte inner- und außerhalb Québecs), ist dabei allerdings in zwei Referenden der achtziger und neunziger Jahre gescheitert. Es ist indessen kaum zweifelhaft, dass sich Québec – selbst nach Auffassung der kanadischen Bundesregierung – bei einem anderen Ausgang der Abstimmungen aus dem kanadischen Bundesstaat hätte lösen können. So antwortete der damalige Premierminister Mulroney im Unterhaus auf die Frage eines Abgeordneten, wie er zur Frage eines Selbstbestimmungsrechts für die Québecois stehe („Est-ce que le premier ministre peut nous dire une fois pour toutes s’il est oui ou non d’accord avec le droit d’autodétermination du peuple du Québec?“), alle Kanadier würden eine demokratische und freie Entscheidung der dortigen Bevölkerung akzeptieren (CYIL 29 [1991], S. 515 f.). Inzwischen hat allerdings der kanadische Oberste Gerichtshof entschieden, dass sich die Bevölkerung Québecs für eine Sezession nicht auf das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen könne. Zur Begründung hat er entscheidend darauf abgestellt, dass die Quebecer innerhalb des kanadischen Gesamtstaates gleiche Rechte besäßen und dessen Politik ebenso mitbestimmen könnten wie die anglophone Bevölkerungsmehrheit (Kanadischer OGH, Secession of Quebec, ILM 37 (1998), S. 1340 [1368 – 1374]). 32 Zu Eritrea, das nach einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg schließlich 1993 auf der Grundlage eines Referendums die Unabhängigkeit von Äthiopien erlangte, siehe Cassese, Self-Determination of Peoples, 1995, S. 218 ff. 33 Als diese im Laufe des Jahres 1991 ihre Unabhängigkeit erklärten, erkannten die EG-Staaten in ihren Anerkennungsrichtlinien vom 16.12.1991 (ILM 31 (1992), S. 1486 f. = EA 47 [1992/2], S. 120 f.) einen Zusammenhang dieser Sezessionen mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, während sie gleichzeitig die Unverletzlichkeit der Grenzen dieser Republiken betonten und für die dort ansässigen Minderheiten kein Sezessionsrecht anerkannten, sondern nur Minderheitenrechte forderten. 34 Auch hinsichtlich des Zerfalls Jugoslawiens kann auf die „Anerkennungsrichtlinien“ der EG (Fn. 33) verwiesen werden. 35 Siehe die Ausführungen des von der int. Jugoslawienkonferenz geschaffenen „Arbitration Committee“ (EJIL 3 (1992), S. 183 f.) hinsichtlich der Frage, ob auch die ser-

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III. Geltendmachung und Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts Um das ihnen zustehende Selbstbestimmungsrecht geltend machen zu können, müssen die Völker völkerrechtlich handlungsfähig sein, d. h. es muss sich eine Organisation gebildet haben, die von der Staatengemeinschaft als „legitime“, d. h. repräsentative Vertreterin des entsprechenden Volkes anerkannt wird36. Sofern das Selbstbestimmungsrecht dem Volk eines Gliedstaates zugestanden wird, agieren für dieses als Vertretungskörperschaft die Staatsorgane des Gliedstaates. Die erforderliche völkerrechtliche Handlungsfähigkeit zur Geltendmachung seines Selbstbestimmungsrechts erlangt das berechtigte Volk durch eine von der internationalen Gemeinschaft als seine legitime Vertreterin anerkannte Organisation. Dies ist vielfach bei sog. nationalen Befreiungsorganisationen (insbesondere durch die und in den Vereinten Nationen) geschehen37, so etwa hinsichtlich der PLO38. Diese Anerkennung betraf aber nur ihre Eigenschaft als vertretungsberechtigtes Organ des jeweiligen Volkes und macht sie daher nicht – wie häufig angenommen – selbst zu einem eigenständigen Völkerrechtssubjekt39. ___________ bischen Minderheiten innerhalb der unabhängig gewordenen früheren jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Bosnien-Herzegowina ein Selbstbestimmungsrecht haben: „It is well established that, whatever the circumstances, the right to self-determination must not involve changes to existing frontiers at the time of independance [uti possidetis juris] except where the States concerned agree otherwise“. Vgl. auch die „Richtlinien“, die die EG-Außenminister am 16.12.1991 zur Anerkennung der unabhängig gewordenen neuen Staaten aufstellten. Dort wird im 3. Spiegelstrich die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen hervorgehoben; diese muss der neue Staat akzeptieren, wenn er selbst anerkannt werden will. 36 Dies gilt auch für die Ausübung des internen Selbstbestimmungsrechts; hier hat diese Aufgabe beispielsweise im Fall Südafrika der African National Congress (ANC) wahrgenommen. 37 Die Anerkennungspraxis lässt allerdings insgesamt keine klaren Richtlinien erkennen, sondern ist stark einzelfallgeprägt (vgl. Cassese, Self-Determination of Peoples, 1995, S. 166 ff.; Ngyuen/Daillier/Pellet, Droit International Public, 6. Aufl. 1999, § 343). 38 Vgl. Res. 3210 (XXIX) der UN-Generalversammlung. Siehe ferner der Briefwechsel Arafat/Rabin vom 9.9.1993, in dem Israel die PLO als Vertreterin des palästinensischen Volkes anerkannt hat (IGH, Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Ziff. 118). 39 Es gibt einen einzigen Fall, in dem möglicherweise eine nationale Befreiungsbewegung selbst Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten wird: Sie kann durch einseitige Erklärung gegenüber dem Schweizerischen Bundesrat als Verwahrer des 1. ZP zu den Genfer Konventionen in einem nationalen Befreiungskrieg die Geltung der Genfer Konventionen und des 1. ZP in diesem Konflikt begründen, mit der Folge, dass sowohl sie selbst als auch die staatliche Konfliktpartei (soweit sie Partei dieser Verträge ist) an diese Normen gebunden sind. Der Wortlaut des Art. 96 Abs. 3 des Ersten Zusatz-

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Entscheidend ist daher, ob die Völker durch ihre als vertretungsbefugt allgemein anerkannten Organe zum Zweck der Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts auf völkerrechtlicher Ebene handeln können, z. B. indem sie mit der Kolonial- oder Besatzungsmacht völkerrechtliche Verträge über die Beendigung der Fremdherrschaft oder die Gewährung eines Autonomiestatus schließen (so geschehen in den Accords d’Evian über die Unabhängigkeit Algeriens 40 oder im sog. Gaza-Jericho-Abkommen41). Durch ihre (Befreiungs-)Organisationen nehmen sie teilweise auch als Beobachter oder sogar als Vollmitglieder an internationalen Konferenzen und an der Arbeit (in den Organen) Internationaler Organisationen teil. Die Anforderung, dass das Volk sich zumindest rudimentär organisiert haben muss, stellt allerdings gerade Völker, die in einem Staat besonders intensiv unterdrückt werden, vor ein nahezu unüberwindliches Problem. Damit dieses Volk seine Stimme erst gar nicht erheben und seine Selbstbestimmungsforderung nicht geltend machen kann, wird der Unterdrückerstaat Versammlungen von Volksangehörigen ebenso verbieten wie die Gründung von Vereinigungen, in denen sich die Volksgruppe zusammenschließen könnte. So hat das tibetische Volk nur durch den im Ausland residierenden Dalai Lama überhaupt die Möglichkeit, sein Selbstbestimmungsbegehren zu artikulieren und in das Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft zu heben. Es liegt daher nahe zu erwägen, auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker, an sich ein kollektives Gruppenrecht, zumindest auch als Individualrecht zu konzeptionalisieren, nämlich im Sinne einer actio pro socio als Recht darauf, dass dem Volk, dem das betreffende Individuum als Mitglied angehört, das Recht zugebilligt wird, über seinen eigenen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Status selbst zu bestimmen. In der Tat hat es Ansätze in dieser Richtung gegeben42; teilweise wurde die Verankerung des Selbstbestimmungsrechts in Art. 1 der Pakte als Zeichen für den Individualrechtscharakter des ___________ protokolls zu den Genfer Konventionen ist allerdings nicht eindeutig im Hinblick darauf, ob die erklärende Befreiungsbewegung selbst gebunden ist oder ob sie als Organ „ihres“ Volkes dieses bindet. 40 Durch die Verträge von Evian aus dem Jahr 1962 zwischen Frankreich und der algerischen FLN (ZaöRV 23 [1963], S. 49 ff.) wurde der jahrelange Unabhängigkeitskrieg beendet. 41 Das zwischen dem Staat Israel und dem palästinensischen Volk, vertreten durch die PLO, geschlossene Gaza-Jericho-Abkommen, zeigt ebenso wie die weiteren, zahlreichen Vereinbarungen, die zwischen diesen Vertragspartnern im Rahmen des sog. „Oslo-Prozesses“ zustande gekommen sind, exemplarisch, dass sich ein Volk in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts vertraglich binden kann, und diese Vertragsfähigkeit ist Teil seiner partiellen, ausschließlich auf das Selbstbestimmungsrecht bezogenen Völkerrechtsfähigkeit. 42 Gros Espiell, The Right To Self-Determination. Implementation of United Nations Resolution, 1980 (E/CN.4/Sub.2/405/Rev. I), § 58.

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Selbstbestimmungsrechts gedeutet, da die Pakte im Übrigen nur Individualrechte enthalten. Diese Auffassung hat sich jedoch nicht durchzusetzen vermocht. Das Selbstbestimmungsrecht steht lediglich dem Volk als Ganzem als ein Gruppenrecht zu, nicht dem einzelnen Volksgruppenangehörigen. Damit aber stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls auf welche Weise das nach Maßgabe der Art. 1 der Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte völkervertragsrechtlich geltende Selbstbestimmungsrecht der Völker überhaupt rechtlich durchsetzbar ist. Kann das Selbstbestimmungsrecht im Wege der Individualbeschwerde nach dem Fakultativprotokoll geltend gemacht werden? Nach Art. 1 des Fakultativprotokolls erkennt jeder Vertragstaat des Paktes, der zugleich Partei des Protokolls ist, die Zuständigkeit des Menschenrechtsausschusses für die Entgegennahme und Prüfung von Mitteilungen seiner Herrschaftsgewalt unterstehender Einzelpersonen an, die behaupten, Opfer einer Verletzung eines in dem Pakt niedergelegten Rechts durch diesen Vertragsstaat zu sein. Das Fakultativprotokoll beschränkt damit die aktive Prozessführungsbefugnis ausdrücklich auf Individuen („individuals“, „particuliers“). Dabei handelt es sich um eine bewusst vorgenommene Beschränkung; der ursprüngliche Entwurf im 3. Ausschuss der Generalversammlung hatte eine Beschwerdelegitimation auch für Personengruppen vorgesehen; eine solche war aber schon im sog. „10 Staaten-Entwurf“ entfallen. Allerdings sollten damit v. a. befürchtete Popularklagen von NGO’s wie Amnesty International ausgeschlossen werden. Dieses Ziel wird jedoch bereits durch das Erfordernis der „Opfereigenschaft“ erreicht, so dass die Begrenzung auf Einzelpersonen übervorsichtig erscheint und mit anderen Paktvorschriften im Widerspruch steht; denn teilweise (z. B. Art. 1, 18, 21, 22, 23, 25 oder 27) werden Paktrechte auch Personengruppen oder juristischen Personen garantiert, die bei wörtlicher Auslegung des Fakultativprotokolls diese nicht vor dem Ausschuss einfordern könnten. Deshalb wird in der Literatur z. T. auch eine den Wortlaut korrigierende, erweiternde Interpretation des Fakultativprotokolls vertreten, die auch Personengruppen berechtigt, den Menschenrechtsausschuss im Wege der Individualbeschwerde anzurufen. Der Menschenrechtsausschuss hatte in seiner Spruchpraxis denn auch zunächst die Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechts als Gruppenrecht nicht kategorisch ausgeschlossen, sondern lediglich verlangt, dass eine beschwerdeführende natürliche Person sich als rechtmäßiger Vertreter „seines“ Volkes legitimieren kann. Dementsprechend begründete er im Fall „Grand Captain“ der Mikmaq-Stammesgesellschaft gegen Kanada43 1984 die Unzulässigkeit der Beschwerde auch damit, dass der Beschwerdeführer nicht habe ___________ 43

Beschwerde Nr. 89/1980, EuGRZ 1984, 388 (Ziff. 8.2).

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nachweisen können, dass er im Namen des Indianerstammes der MikmaqNation zu handeln berechtigt sei. Ähnlich argumentierte der Ausschuss im Fall Kitok versus Sweden44. Die Beschwerde von Croes gegen die Niederlande wurde allein wegen der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (Art. 2 des Zusatzprotokolls; local remedies rule) für unzulässig erklärt, obwohl die niederländische Regierung die fehlende Autorisierung des Beschwerdeführers (wie seinerzeit auch Kanada im Fall der Mikmaq-Nation) gerügt hatte45. Diese frühe Spruchpraxis konnte so gedeutet werden, dass der Menschenrechtsausschuss die Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Individualbeschwerdeverfahren nicht für von vornherein ausgeschlossen hielt, denn sonst wären Ausführungen zur Frage der Vertretungsmacht oder der Rechtswegerschöpfung nicht erforderlich und angezeigt gewesen. In der Literatur war daher auch zunächst angenommen worden, bei nachgewiesener „Vertretungsmacht“ könne ein Volk durchaus eine Verletzung seines Selbstbestimmungsrechts im Wege der Individualbeschwerde rügen46. Erstmals im Fall Ominayak and Lubicon Lake Band versus Canada47 wies der Ausschuss 1990 eine Beschwerde der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker jedoch mit der Begründung zurück, der Beschwerdeführer könne als Individuum keine Verletzung von Art. 1 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte geltend machen; zudem sei die Individualbeschwerde nach dem Fakultativprotokoll nur ein Verfahren zur Durchsetzung der Individualrechte nach Art. 6-27 des Pakts. Diese Linie bestätigte der Ausschuss fortan in mehreren Fällen48. Das kollektive Selbstbestimmungsrecht kann demnach überhaupt nicht (mehr) im Wege der Individualbeschwerde geltend gemacht werden; als vertragliche Durchsetzungsmechanismen für das nicht indvidualbeschwerdefähige Selbstbestimmungsrecht bleiben folglich nur die Berichtspflicht der Staaten, die sich nach dem General Comment des Ausschusses 12/2149 auch auf das in ___________ 44

Beschwerde Nr. 197/1985, Ziff. 6.3. Beschwerde Nr. 164/1984. 46 Vgl. Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights – CCPR, Commentary, ²2005, Art. 1 Rn. 25. 47 Beschwerde Nr. 167/1984, HRLJ 1990, S. 305; kritisch – „Rechtsverweigerung – Ermacora, EuGRZ 1991, S. 159. 48 English-speaking Protestant population of the Columbian island of San Andres v. Columbia (Beschwerde Nr. 318/1988, UN Doc. A/45/40 II, S. 184); A.B. v. Italy (Südtirol) (Beschwerde Nr. 413/1990, Ziff. 3.2, EuGRZ 1991, S. 158 m. Anm. Ermacora); R.L. v. Canada (Whispering Pines Indian Band in Canada) (Beschwerde Nr. 358/1989); Mahuika v. New Zealand (Maori) (Beschwerde Nr. 547/1993); Diergaandt v. Namibia (Rehoboth Baster Community in Namibia) (Beschwerde Nr. 760/1997); Gillot v. France (Neukaledonien) (Beschwerde Nr. 932/2000, Ziff. 13.4). 49 Abgedruckt in: Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights – CCPR, Commentary, ²2005, S. 1097 ff. 45

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Art. 1 des Paktes niedergelegte Selbstbestimmungsrecht der Völker bezieht50 sowie die Staatenbeschwerde nach Art. 41 des Pakts. Dieses Ergebnis ist völkerrechtspolitisch kritisiert worden: „This ‘judicial self-restraint’, which may be wise from a political point of view, remains, however, subject to legal criticism. Peoples that assert their right of self-determination will have to rely on the State reporting and the inter-State communication procedures in order to obtain more clarity from the Committee about the interpretation of this right under the Convenant“51. Für das vertraglich in den jeweiligen Art. 1 der UN-Menschenrechtspakte normierte Selbstbestimmungsrecht muss man deshalb wohl konstatieren, dass die „Völker“ nicht als echte Drittberechtigte selbst Träger dieses Rechts, sondern lediglich reflexhaft Begünstigte eines zwischen den Staaten geschlossenen, „unechten Vertrages zugunsten Dritter“ sind; denn ein verfahrensmäßig durchsetzbarer Anspruch gegen einen Vertragsstaat, der einem Volk die Selbstbestimmung verweigert, auf Beachtung des Selbstbestimmungsrechts steht nicht dem unterdrückten Volk zu, sondern ausschließlich den anderen Vertragsstaaten. Da nach der ständigen „Rechtsprechung“ des Human Rights Committee Art. 1 IPBPR nicht zu den Menschenrechten gehört, deren Verletzung im Individualbeschwerdeverfahren gemäß dem Ersten Fakultativprotokoll gerügt werden kann, mithin die Völker nicht selbst (vertreten durch wie auch immer zu bestimmende Repräsentanten) seine Verletzung auf internationaler Ebene geltend zu machen in der Lage sind, können die Völker auch nicht selbst als Inhaber des in den Pakten garantierten Selbstbestimmungsrechts angesehen werden52. Wer, ohne jegliches legal standing, verfahrensrechtlich die ihm von den Vertragsstaaten angeblich zuerkannten Rechte nicht in irgendeiner rechtlich geordneten Form geltend zu machen vermag, kann nicht wirklich als Träger eigener Rechte gelten. Für die aus dem vertraglich eingeräumten Selbstbestimmungsrecht angeblich berechtigten Völker stellt eine solche weder einklagbare noch auf sonstige Art und Weise von ihnen selbst durchsetzbare „Rechtsposition“ eine bloße Naturalobligation (lex imperfecta) dar, während die Vertragsstaaten sich in der Tat zur Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker wechselseitig völkerrechtlich verbindlich verpflichtet haben und ___________ 50 Teilweise werden die Gewährleistungsverpflichtungen der Vertragsstaaten nach Art. 2 IPBPR nur auf die folgenden, nicht jedoch auf das davor genannte (Art. 1) Selbstbestimmungsrecht der Völker bezogen. Dagegen spricht jedoch eine historische Auslegung: Der amerikanische Antrag, den Hinweis auf die Vertragspflichten in allen drei Absätzen des Art. 2 des IPBPR auf die im III. Teil garantierten Rechte zu beschränken bzw. zu konkretisieren, setzte sich in der Menschenrechtskommission nicht durch. 51 Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights – CCPR, Commentary, ²2005, Art. 1, Rn. 26. 52 Cassese, Self-Determination of Peoples, 1995, S. 141 ff.

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wechselseitig Ansprüche auf Erfüllung dieser vertraglichen Verpflichtung haben. Auch bezüglich des gewohnheitsrechtlich geltenden Selbstbestimmungsrechts für die Völker steht kein institutionalisiertes Durchsetzungsverfahren zu dessen Geltendmachung zur Verfügung; dieser Mangel ist aber ein allgemeines Charakteristikum völkergewohnheitsrechtlicher Rechte. Das hindert einen Staat nicht, auf die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes durch einen anderen Staat mittels Retorsionen oder Repressalien zu reagieren. Drittstaaten können diplomatisch protestieren oder andere Retorsionsmaßnahmen, also völkerrechtsgemäße und daher nicht besonders rechtfertigungsbedürftige Gegenmaßnahmen ergreifen. Dem steht das Interventionsverbot nicht entgegen, denn eine Völkerrechtsverletzung stellt keine innere Angelegenheit dar, sondern geht die ganze, sich als Völkerrechtsgemeinschaft begreifende Staatengemeinschaft an. Außerdem dürfen Drittstaaten auch völkerrechtswidrige, aber nicht gewaltsame Zwangsmaßnahmen gegen den das Selbstbestimmungsrecht verletzenden Staat durchführen (sog. Repressalien). Sie werden daran nicht durch den Grundsatz gehindert, wonach nur der durch einen Völkerrechtsverstoß unmittelbar verletzte Staat solche Repressalien ergreifen darf. Denn besteht eine universelle völkergewohnheitsrechtliche Regel, derzufolge die Staaten das Selbstbestimmungsrecht aller Völker zu achten haben, dann kann jeder Staat von jedem anderen die Einhaltung dieser Regel als (auch) ihm gegenüber geschuldet einfordern, und die Missachtung des Selbstbestimmungsrechts verletzt ihn in dem Erfüllungsanspruch, den er gegen den Verletzerstaat hat (erga omnes-Wirkung). Auch wenn man die Qualifikation einer Norm als sog. erga omnes-Verpflichtung53 nicht schon per se ausreichen lässt, um aus ihr ein Recht von Drittstaaten zur Ergreifung von Repressalien abzuleiten, so zeigt doch die Staatenpraxis, dass ein solches Recht jedenfalls bei Verletzungen des Selbstbestimmungsrechts besteht54. ___________ 53

Zum Selbstbestimmungsrecht als erga omnes-Verpflichtung vgl. IGH, ICJ Reports 1995, S. 90 (102) – Ost-Timor; IGH, ICJ Reports 2004, S. 194 Ziff. 155 f. – Construction of a Wall in Occupied Palestinian Territory. 54 Vgl. insbesondere die gegen Südafrika und Südrhodesien anlässlich der dortigen Verletzungen des inneren Selbstbestimmungsrechts ergriffenen Sanktionen, die teilweise über das vom Sicherheitsrat beschlossene Maß hinausgingen (z. B. der USamerikanische Comprehensive Anti-Apartheid-Act). Dazu näher Hillgruber, The Right of Third States to Take Countermeasures, in: Tomuschat/Thouvenin (Hrsg.), The Fundamental Rules of the International Legal Order, 2006, S. 265 ff. Nicht überzeugend dagegen Cassese, Self-Determination of Peoples, 1995, S. 155 f., der „Drittrepressalien“ von Einzelstaaten grundsätzlich ausschließen und nur multilaterale Gegenmaßnahmen, vor allem im Rahmen der UN, zulassen will.

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Nur als Repressalie gerechtfertigt werden kann auch die vorzeitige Anerkennung eines sich in einem noch nicht abgeschlossenen Sezessionsprozess befindlichen Neustaates in statu nascendi, der das Ergebnis der Ausübung des äußeren Selbstbestimmungsrechts sein soll. Dass die Staatengemeinschaft im Falle eines legitimen Selbstbestimmungsbegehrens die nach herkömmlichen Kriterien verfrühte Anerkennung des sezedierenden Teils eines Staatsgebiets als Neustaat nicht (länger) als völkerrechtswidrige Intervention zum Nachteil des sich gegen die Sezessionsbestrebungen zur Wehr setzenden „Mutterlandes“, sondern als zulässige Form der Unterstützung und Absicherung der Selbstbestimmungsentscheidung eines Volkes ansieht, wie dies in der Literatur vertreten wird55, lässt sich mit Staatenpraxis nicht hinreichend belegen56. Als sonstige Form der Durchsetzung der Selbstbestimmungsforderungen von Völkern kommt die Durchführung eines Plebiszits oder Referendums in Betracht, wie es oftmals von den Vereinten Nationen organisiert oder beobachtet worden ist. Da allerdings keine gewohnheitsrechtliche Verpflichtung besteht, sich auf diese Weise des als maßgeblich erachteten Volkswillens zu vergewissern, wird es dazu nur kommen, wenn der betroffene Staat sich prinzipiell auf das Selbstbestimmungsanliegen einlässt und nur sicher gehen will, dass es tatsächlich vom Willen des Volkes getragen ist. Angehörigen ethnischer, religiöser oder sprachlicher Minderheiten in einem Staat steht nach Art. 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte immerhin das Recht zu, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Hier sind allerdings nicht die Minderheiten selbst Zuordnungssubjekt der Rechtsverbürgung. Art. 27 IPBPR enthält gerade im Unterschied zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, das ein ausschließlich kollektives, dem berechtigten Volk als Gesamtheit zustehendes Recht ist, eine menschenrechtliche Schutzbestimmung zugunsten der Angehörigen ethnischer, religiöser und sprachlicher Minderheiten als Individuen. Dass dieses individuelle Menschenrecht auch kollektiv, d. h. von den berechtigten Individuen gemeinschaftlich ausgeübt werden kann, macht es nicht zu einem Gruppenrecht der Minderheit selbst57. Art. 27 IPBPR ist folglich Bestandteil des individuellen Menschenrechtsschutzes und als solcher auch im Individualbeschwerdeverfahren rügefähig. In seiner Entscheidung ___________ 55

Oeter, ZaöRV 52 (1992), S. 741 (766 ff.); Murswiek, AVR 1993, S. 307 (315-325). Auch die Anerkennungspraxis gegenüber den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien gibt dafür nichts her. Zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens siehe näher Hillgruber, Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft, 1998, S. 654-656, 739-741. 57 Siehe zum Meinungsstreit in dieser umstrittenen Frage Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights – CCPR, Commentary, ²2005, Art. 27 Rn. 36-38. 56

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im Fall Apirana Mahuika et al. gegen Neuseeland 58 vom 27.10.2000 hat der Menschenrechtsausschuss eine Brücke zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem individuell konzipierten Minderheitenschutz geschlagen, indem er erklärte, dass „the provisions of article 1 may be relevant in the interpretation of other rights protected by the Covenant, in particular article 27“. Damit dürften zumindest einzelne Ansprüche aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, soweit sie durch Gewährleistung minderheitenrelevanter Menschenrechte erfüllt, also gewissermaßen auf den einzelnen Volksgruppenangehörigen „heruntergebrochen“ werden können, im Wege der Individualbeschwerde nach dem Fakultativprotokoll durchsetzbar sein. Das bestätigt die Sichtweise, die im Minderheitenschutz kein aliud zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts, sondern einen – häufig allerdings nicht ausreichenden – Modus seiner Erfüllung sieht.

IV. Fazit Mit der autonomen Interpretations- und Subsumtionsherrschaft behalten die Staaten die Letztentscheidung über die von ihnen mit der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker übernommenen Verpflichtungen. Sie bleiben „Herren des Verfahrens“. Sie entscheiden letztlich nach Gutdünken darüber, ob und wen sie als Träger des Selbstbestimmungsrechts akzeptieren und wen nicht. Damit bewahrheitet sich jene Aporie, die der berühmte englische Völkerrechtler und frühere Präsident des IGH in dem Bonmot zusammengefasst hat: „The people cannot decide until somebody decides what are the people“59. Und selbst wenn ein Volk Anerkennung als solches gefunden hat, bedarf es doch noch einer repräsentativen Vertretung, um seine Ansprüche geltend zu machen; auch diese Vertretung benötigt, um rechtswirksam für das Volk auftreten zu können, das Akzept der Staatengemeinschaft. Selbst dann kann ein Volk sein vertragliches Selbstbestimmungsrecht nach Art. 1 IPBPR nicht in einem von ihm selbst initiierten Verfahren durchsetzen. Es ist vielmehr auf einen Fürsprecher angewiesen, der sich seines Selbstbestimmungsbegehrens annimmt und es mit Umsicht, Entschlossenheit und Hartnäckigkeit verfolgt. Das aber setzt, wenn nicht landsmannschaftliche Verbundenheit vorliegt, einen Altruismus voraus, der Staaten im Allgemeinen nicht eigen ist. Das macht selbst eines der wenigen Beispiele für eine letztlich erfolgreiche Ausübung des Selbstbestimmungsrechts im Sinne eines Sezessionsrechts aus ___________ 58

Beschwerde Nr. 547/1993 (Fn. 33), Ziff. 9.2. Zitiert nach Blumenwitz, Volksgruppen und Minderheiten. Politische Vertretung und Kulturautonomie, 1995, S. 67. 59

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jüngster Zeit deutlich, das Beispiel des Kosovo und der Kosovaren. Ohne die – von keinem UN-Mandat gedeckte und völkerrechtlich daher höchst prekäre – humanitäre Intervention von NATO-Mitgliedstaaten hätte der Unabhängigkeitskampf gegen das militärisch überlegene, von Russland gedeckte Serbien keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Ein völkerrechtliches Verfahren zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsanspruchs gegen das widerstrebende Serbien stand nicht zur Verfügung. Aber selbst nach der Intervention sprach sich die Staatengemeinschaft zunächst nicht für die Schaffung eines eigenen Staates unter Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker an die Kosovaren aus. Es wurde vielmehr eine internationale Verwaltung (UNMIK) geschaffen; der „endgültige Status“ des Kosovo blieb dagegen einstweilen in der Schwebe; auf mehr als die Garantie „substantieller Autonomie“ unter fortbestehender territorialer Souveränität der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien (Sicherheitsratsresolution 1244 [1999] vom 10.6.1999) konnte man sich nicht verständigen. Man vermied, um nur ja keinen Präzedenzfall zu schaffen, der die territoriale Souveränität und Integrität von Staaten in Frage stellen könnte, sorgfältig auch nur jede Bezugnahme auf das Selbstbestimmungsrecht60. Nachdem die 2006 aufgenommenen Verhandlungen über die Status-Frage zu keiner Einigung führten, kam es erst auf der Grundlage des sog. Athtisaari-Plans („The Comprehensive proposal for Kosovo Status Settlement“) vom 2.2.2007 zur Ausrufung staatlicher Unabhängigkeit des Kosovo am 17.2.2008 und deren nachfolgende Anerkennung durch mittlerweile 71 von 192 UN-Mitgliedstaaten, aber noch immer weniger als der Hälfte. Aber selbst dieser Schritt wurde, soweit er erfolgt ist, nicht mit einem legitimen Anspruch auf Selbstbestimmung begründet, sondern mit einer angeblich einzigartigen Sondersituation, die keine andere Statuslösung möglich gemacht habe. Mit anderen Worten: Im Fall des Kosovo soll sich nach dem Willen der Staaten nicht das Selbstbestimmungsrecht der Kosovaren verwirklicht haben, sondern internationale Politik zum Wohle der Region gemacht worden sein. Es bleibt daher einstweilen dabei, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht nur seinem Inhalt nach, sondern auch mit Blick auf seinen Träger eine höchst vage, unsichere, weil verfahrensrechtlich ungesicherte und deshalb auch durchsetzungsschwache, völkerrechtliche Rechtsposition ist, die zu stärken die Staaten aus Selbsterhaltungsgründen kein wirkliches Interesse haben.

___________ 60

Vgl. dazu Elsner, Die Bedeutung des Volkes im Völkerrecht, 2000, Nachtrag, S. 323-330; Heintze, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 28 II 1 Rn. 16, jeweils m. w. N.

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Abstract The two UN Covenants on Human Rights from 1966 confirm the legally binding character of the right of self-determination of peoples. The defensive aspect of that right guarantees those peoples already organized within a state their sovereignty. Regarding peoples which so far are not organized as sovereign states, the attempt to limit the application of the right of self-determination only to colonial peoples was without success. Rather, the right of self-determination is guaranteed to all peoples. However, under normal circumstances the right of self-determination cannot be used to justify the secession of a territory, but is limited to internal self-determination, granting the relevant people participation in public affairs and protection as a minority. The delineation of such a people must be based on objective, common criteria amended by the subjective aspect of togetherness and common identity. In order to enforce its right of self-determination – for example by appealing to the Human Rights Council on the situation – the peoples have to be capable of performing acts on the international stage and therefore require representative authorities. But the more oppressed peoples are, the more they are unable to fulfil these criteria, and thus it was argued that a single member of those peoples can assert the collective principle of self-determination as an individual right. However, the evaluation of the relevant case law refutes this approach. The collective right of self-determination of peoples may not be enforced by an individual. Only state reports and the inter-state communications procedure can be used as enforcement instruments. Therefore, the right of self-determination is actually not a provision which favours third parties, and the peoples cannot be seen as covenantees, but are merely beneficiaries of the states’ obligations. However, due to the fact they lack any possibility of enforcing these rights, the peoples cannot be seen as effectively entitled by the right of self-determination. Similar considerations apply for the customary international law: A state can enforce these obligations by reprisals or retorsions if a people’s right of selfdetermination is infringed by another state. This finding may be unsatisfactory from a political point of view, but it reflects the state of development of applicable Public International Law. At least, a single member of a people can assert some aspects of the right of self-determination by himself on Art. 27 ICCPR – which establishes an individual human right.

Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht Von Dietrich Murswiek

I. Die Dilemmata des Selbstbestimmungsrechts Trotz der großen Bedeutung, die internationale Organisationen erlangt haben, ist die Welt des Völkerrechts immer noch in erster Linie eine Welt der Staaten. Die Erdoberfläche ist in Staatsgebiete aufgeteilt. Herrschaft als Territorialherrschaft ist staatlich organisierte Herrschaft. Die internationale Ordnung basiert auf den Staaten, und die rechtliche Ordnung der Staatenwelt wird durch zwei Großprinzipien bestimmt: durch die souveräne Gleichheit der Staaten und durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das Souveränitätsprinzip ist mit einem ziemlich klaren Inhalt seit langem etabliert, das Selbstbestimmungsprinzip ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Rechtsprinzip erstarkt. Das erste ist ein Machtprinzip, das in vordemokratischer Zeit wurzelt, das zweite ein an demokratischen Ideen orientiertes Machtkorrektiv. Beide stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, und in der Praxis setzt sich in Konfliktfällen meist die machtgestützte Souveränität gegen die Selbstbestimmung durch. Im Kern impliziert das Selbstbestimmungsrecht das Recht jedes Volkes, sich in einem eigenen Staat zu organisieren. Kraft des Selbstbestimmungsrechts, so heißt es ja im Art. 1 der UN-Menschenrechtspakte, entscheiden die Völker frei über ihren politischen Status. Der politische Status, das ist nach innen die Verfassungsordnung und nach außen der Territorialstatus. Die Entscheidung über den politischen Status umfasst also auch die Entscheidung des Volkes, ob es weiterhin in dem vorhandenen Staat politisch organisiert sein will, ob es sich mit einem anderen Staat zusammenschließen oder in einen anderen Staat integrieren oder aber einen neuen Staat gründen will. Insofern ist das Selbstbestimmungsrecht staatsbezogen. Soweit sein Inhalt sich auf die Gestaltung des politischen Status bezieht, liegt das Konfliktpotential im Verhältnis Selbstbestimmungsrecht und Souveränität auf der Hand. In einer Welt, die nur noch aus souveränen Staaten besteht, setzt die Gründung eines souveränen Staates in der Regel die Sezession aus einem vorhandenen souveränen Staat voraus, es sei denn, dass dieser Staat, etwa durch Dismembration, untergeht. Beide Konsequenzen der Selbstbestimmung, Sezession und Auseinanderbrechen eines Staates, scheinen nun in einem Widerspruch zur Souverä-

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nität zu stehen, insbesondere zur territorialen Integrität der Staaten. Kraft seiner Souveränität hat ja jeder Staat das Recht, seine Existenz zu wahren, und zwar gerade innerhalb der bestehenden territorialen Grenzen. Hier liegt das erste große Dilemma des Selbstbestimmungsrechts: Das Souveränitätsprinzip ist ein bewahrendes Prinzip. Es schützt den territorialen Status quo. Das Selbstbestimmungsrecht hat ein den Status quo veränderndes Potential. Die Frage ist, ob dieser mögliche Konflikt zu einem rechtlichen Widerspruch zwischen beiden Prinzipien führt. Ein zweites großes Dilemma liegt im Selbstbestimmungsrecht selbst. Wer Subjekt des Selbstbestimmungsrechts sein kann, ist eine umstrittene Frage1. Die völkerrechtliche Praxis ist sehr uneinheitlich, und die Texte des Völkervertragsrechts weisen zwar „die Völker“ als Subjekte des Selbstbestimmungsrechts aus, definieren diesen Begriff aber nicht. Sprachlich, historisch und auch rechtlich kann der Begriff des Volkes unterschiedliche Bedeutungen haben. Insbesondere kann das Staatsvolk als die Gesamtheit der Staatsangehörigen gemeint sein oder das Volk im ethnischen Sinne als eine traditionell auf einem bestimmten Territorium ansässige Gruppe von Menschen, die sich durch Merkmale wie gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte, Abstammung oder Religion auszeichnet. Historisch ist das Selbstbestimmungsprinzip ein Staatenbildungsprinzip. Als solches kann es nicht dem Staatsvolk zustehen, sondern nur einer Gruppe, die erst einen Staat hervorbringen will. Subjekt des Selbstbestimmungsrechts als eines staatenumbildenden, damit unter Umständen auch staatenzerstörenden Prinzips, kann das Volk im ethnischen Sinne sein2, nicht aber das Staatsvolk; so hat etwa nach dem Ersten Weltkrieg die Selbstbestimmungsidee zur Auflösung der Habsburger Monarchie geführt. Das Selbstbestimmungsrecht, wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Rechtsprinzip entwickelt hat, ist aber auch Staatsvölkern zugesprochen worden3. Politisch hatte das eine große Plausibilität, waren doch viele Völker, die als Nationalstaaten ihre politische Form gefunden hatten, unter die Herrschaft des kommunistischen Sowjetimperiums geraten. Selbstbestimmung im ___________ 1 Vgl. Dietrich Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht. Zum Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker, Der Staat 23 (1984), S. 523 ff.; sowie z. B. Christian Hillgruber, Wer ist Träger des Selbstbestimmungsrechts und wie kann man es durchsetzen? – Rechtsinhaberschaft und Rechtsdurchsetzungsmacht, in diesem Band S. 75 ff. m. w. N. 2 Vgl. z. B. Sebastian Weber, Das Sezessionsrecht der Kosovo-Albaner und seine Durchsetzbarkeit, AVR 2005, S. 494 (498) m. w. N. – „Volk im ethnischen Sinne“ als potentielles Subjekt des Selbstbestimmungsrechts kann auch eine „Volksgruppe“ sein, also eine Gruppe von Menschen mit bestimmter ethnischer Identität innerhalb eines Staates, die aber nicht die Gesamtheit des betreffenden Volkes im ethnischen Sinne umfasst, z. B. die Kosovo-Albaner im Unterschied zu den Albanern insgesamt. 3 Vgl. z. B. Matthias Herdegen, Völkerrecht, 10. Aufl. 2011, § 36 Rn. 2.

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Sinne der Negation von Fremdherrschaft ist ein zentrales Anliegen der Selbstbestimmungsidee, und die Positionierung des Selbstbestimmungsrechts zur Durchsetzung der politischen Freiheit in konkreten Territorien organisierter Völker stand nach dem Zweiten Weltkrieg ganz im Vordergrund der Praxis des Selbstbestimmungsrechts. Dabei ging es zunächst nur politisch-rhetorisch um die unterdrückten Nationen in Mittel- und Osteuropa, während tatsächliche und durchschlagende Erfolge von den Kolonialvölkern erzielt wurden. Im Zuge der Dekolonisierung wurden die noch bestehenden Kolonialreiche liquidiert; die ehemaligen Kolonien erlangten kraft des Selbstbestimmungsrechts ihre staatliche Unabhängigkeit. Die Kolonialvölker waren, solange der Kolonialstatus dauerte, freilich noch nicht Staatsvölker. Sie waren aber meist auch nicht Völker im ethnischen Sinne, denn sie bestanden regelmäßig aus verschiedenen Ethnien, die sich allerdings vor allem von dem Volk der Kolonialmacht ethnisch unterschieden. Was sie als Subjekte des Selbstbestimmungsrechts konstituierte, war freilich das durch die Grenze der Kolonie markierte Territorium und die über dieses Territorium ausgeübte Kolonialherrschaft. Insofern waren sie „potentielle Staatsvölker“ beziehungsweise „Staatsvölker im Werden“4. Was ihnen dazu fehlte, war die eigene, unabhängige Staatsgewalt. Die Dekolonisierung ist ein historisch praktisch abgeschlossener Prozess. Darauf möchte ich nicht weiter eingehen. Gehen wir davon aus, dass Subjekt des Selbstbestimmungsrechts einerseits das Volk im ethnischen Sinne ist, andererseits aber auch das Staatsvolk, dann ist ein faktisches Konfliktpotential immer dann gegeben, wenn – wie fast immer – das Volk im ethnischen Sinne mit dem Staatsvolk nicht identisch ist, sondern in einem Staat mehrere Völker leben, die kraft ihrer ethnisch-kulturellen Besonderheit Subjekte des Selbstbestimmungsrechts sind, oder auch dann, wenn das Siedlungsgebiet eines Volkes im ethnischen Sinn die Grenzen mehrerer Staaten übergreift. Wenn zwei verschiedene Subjekte auf ein und demselben Territorium das Recht zur Entscheidung über den Territorialstatus haben, fragt sich, auf wessen Entscheidung es ankommt. Für ein Territorium kann die Statusentscheidung nur einheitlich getroffen werden. Die spanischen Basken beispielsweise entscheiden sich für Sezession und Bildung eines eigenen Staates, das spanische Staatsvolk hingegen votiert für die Aufrechterhaltung der staatlichen Einheit Spaniens. Wenn die Völkerrechtsordnung beiden Subjekten das Selbstbestimmungsrecht zuspricht und keine Regel enthält, auf wessen Entscheidung es in einer solchen Situation ankommt, ist sie widersprüchlich. Sich widersprechende rechtliche Regeln sind unwirksam.

___________ 4 Vgl. Kay Hailbronner/Marcel Kau, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 5. Aufl. 2010, 3. Abschnitt Rn. 124.

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Das Dilemma des Subjekts löst den normativen Gehalt des Selbstbestimmungsrechts auf, wenn es nicht überwunden werden kann. Und das Dilemma des Verhältnisses von Souveränität und Selbstbestimmungsrecht lässt vom Selbstbestimmungsrecht jedes mit dem Staatsvolk nicht identischen Selbstbestimmungssubjekts nichts übrig, wenn man – wie die Praxis dies nahelegen mag – die Entscheidung über den inneren und äußeren Status als rechtliche Angelegenheit des Souveräns betrachtet. Es hat immer wieder Autoren gegeben, die wegen der aufgezeigten Dilemmata und scheinbaren Widersprüche dem Selbstbestimmungsrecht der Völker den Rechtscharakter abgesprochen haben5. Das Selbstbestimmungsrecht sei ein politisches Prinzip, aber kein Recht. Da aber das Selbstbestimmungsrecht in den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen – dazu noch an prominenter Stelle, jeweils als Art. 1 – als Recht proklamiert wird und nach ganz überwiegender Auffassung auch gewohnheitsrechtlich gilt6, ist es Aufgabe des Juristen, den scheinbaren Widerspruch durch systematische Auslegung wenn möglich aufzulösen. Vor 26 Jahren habe ich in meinem Habilitationsvortrag den Versuch einer solchen Auslegung unternommen7. Ich habe den Inhalt des Selbstbestimmungsrechts funktional abgeschichtet, habe zwischen offensivem und defensivem Selbstbestimmungsrecht unterschieden und den beiden potentiell konkurrierenden Selbstbestimmungssubjekten unterschiedliche Selbstbestimmungsfunktionen zugewiesen, nämlich dem Staatsvolk das defensive, dem Volk im ethnischen Sinne das offensive Selbstbestimmungsrecht. Und für die Ausübung beider Funktionen habe ich Regeln entwickelt, die Konflikte reduzieren und rechtliche Widersprüche vermeiden sollen. Diese Regeln sollen zugleich den Konflikt zwischen Selbstbestimmungsprinzip und Souveränitätsprinzip bewältigen helfen. Ich möchte im Folgenden meine Konzeption noch einmal skizzieren. Sodann werde ich überlegen, ob diese Konzeption sich im Lichte der seitherigen völkerrechtlichen Praxis bewährt hat oder ob sie korrekturbedürftig oder weiterentwicklungsbedürftig ist.

___________ 5

Vgl. z. B. Hubert Armbruster, Selbstbestimmungsrecht, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts Bd. 3, 1962, S. 250 (253). 6 Zur gewohnheitsrechtlichen Geltung vgl. z. B. Hailbronner/Kau (Fn. 4), Rn. 122; Herdegen (Fn. 3), § 36 Rn. 3. 7 Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht (Fn. 1).

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II. Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht Meine These lautet also: Der Widerspruch zwischen Selbstbestimmungsrecht des Staatsvolkes und Selbstbestimmungsrecht des Ethnos wird aufgelöst, wenn man sich klarmacht, dass jeder dieser Volksbegriffe sich jeweils nur auf eine dieser miteinander voll kompatiblen Funktionen beziehen kann8. Die beiden unterschiedlichen Funktionen des territorialen Selbstbestimmungsrechts ergeben sich daraus, dass der Selbstbestimmungszweck sich in zweifacher Weise auf den Territorialstatus beziehen kann. Die territoriale Selbstbestimmung kann zunächst dadurch verletzt werden, dass eine äußere Macht in den bestehenden Territorialstatus eingreift. Fremdbestimmung als Gegensatz zu Selbstbestimmung liegt vor, wenn ein anderer Staat – typischerweise mit militärischer Gewalt – den Territorialstatus eines Staates ändert, etwa durch Annexion eines Gebietsteils. Das Selbstbestimmungsrecht hat insofern die Funktion, Eingriffe in den Territorialstatus bzw. Änderungen des bestehenden Status abzuwehren, den Status quo zu verteidigen. Diese Funktion bezeichne ich als „defensives Selbstbestimmungsrecht“. Subjekt des defensiven Selbstbestimmungsrechts ist das durch den verteidigten Territorialstatus bezeichnete Volk, also das Staatsvolk. Das defensive Selbstbestimmungsrecht des Staatsvolkes weist die aus dem Souveränitätsprinzip folgenden Rechte des Staates, über den politischen Status zu bestimmen, auch dem Staatsvolk dieses Staates zu. Inhaltlich fügt das defensive Selbstbestimmungsrecht dem nichts hinzu, was sich an Rechten für den Staat bereits aus dem Souveränitätsprinzip ergibt. Eigenständige Bedeutung hat das Selbstbestimmungsrecht aber insofern, als das Staatsvolk als Subjekt dieser Rechte auch dann erhalten bleibt, wenn der Staat infolge etwa militärischer Besetzung handlungsunfähig ist und wenn gegen den Willen des Volkes Gebiete abgetrennt oder der gesamte Staat annektiert wird. Nun kann aber gerade der bestehende Territorialstatus seinerseits im Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht eines Volkes stehen. Er kann insofern fremdbestimmt sein, als er dem Willen eines Volkes oder mehrerer Völker, sich in einem anderen Staat oder in Staaten mit anderen Grenzen zu organisieren, entgegensteht. Der bestehende Territorialstatus kann den in diesem Staat organisierten Völkern aufgezwungen worden oder im Laufe der Zeit für sie unerträglich geworden sein. Man denke etwa an die Völker des ehemaligen Jugoslawiens. Das Selbstbestimmungsrecht hat auch die Funktion, die Selbstbestimmung eines Volkes gegen den bestehenden Territorialstatus zur Geltung zu bringen, wenn dieser Fremdbestimmung bedeutet. Es kann auf Änderung eines ___________ 8 Dazu auch Dietrich Murswiek, Die Problematik eines Rechts auf Sezession – neu betrachtet, AVR 31 (1993), S. 307 ff.; (original English version: The Issue of a Right of Secession – Reconsidered, in: Christian Tomuschat [ed.], Modern Law of SelfDetermination 1993, pp. 21-39).

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mit dem Selbstbestimmungspostulat nicht übereinstimmenden Territorialstatus gerichtet sein. Diese Funktion soll als „offensives Selbstbestimmungsrecht“ bezeichnet werden. Subjekt des offensiven Selbstbestimmungsrechts kann natürlich nur das Volk im ethnischen Sinne sein, niemals dagegen das Staatsvolk, das durch den das Staatsvolk mit konstituierenden territorialen Status seines Staates per definitionem nicht verletzt sein kann. Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht bestehen somit nebeneinander und stehen unterschiedlichen Subjekten zu, dem Volk im ethnischen Sinne und dem Staatsvolk. Es ist also nicht so, dass das territoriale Selbstbestimmungsrecht zwei unterschiedlichen Subjekten zusteht, deren Selbstbestimmungsforderungen miteinander konkurrieren und sich gegenseitig paralysieren, sondern das Selbstbestimmungsrecht ist ein Rechtsprinzip, aus dem sich unterschiedliche Rechte ergeben, die unterschiedlichen Subjekten zugeordnet sind9. Mit dieser Unterscheidung sind unsere Dilemmata noch nicht aufgelöst; die Unterscheidung eröffnet aber die Möglichkeit ihrer systematischen Auflösung. Sind offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht verschiedene Rechte, die verschiedenen Subjekten zustehen, so wird zunächst nur der logische Widerspruch vermieden, der darin bestünde, dass die Entscheidungsbefugnis über eine Sache zwei verschiedenen Subjekten zusteht. Noch nicht ausgeschlossen ist, dass die beiden unterschiedlichen Rechte miteinander in Konflikt geraten. Insofern müsste der potentielle Konflikt durch interpretative Zuordnung beider Rechte gelöst werden. Keinen Konflikt zwischen offensivem und defensivem Selbstbestimmungsrecht könnte es geben, wenn man das defensive Selbstbestimmungsrecht lediglich als Abwehrrecht gegen Eingriffe äußerer Mächte in den Territorialstatus zu verstehen hätte. Die Wahrnehmung dieses Rechts kann in keiner Weise das offensive Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigen. Umgekehrt wäre das defensive Selbstbestimmungsrecht – wenn es per definitionem nur gegen äußere Fremdbestimmung gerichtet wäre – nicht tangiert, wenn ein Selbstbestimmungssubjekt innerhalb des betreffenden Staates sein offensives Selbstbestimmungsrecht geltend macht10. ___________ 9 Mit dieser Feststellung wird nicht etwa der Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts geleugnet. In diesem Sinne hat Otto Kimminich, Rechtscharakter und Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Blumenwitz/Meissner (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, 1984, S. 37 (39 f.), ähnlich klingende Äußerungen von Jörg Manfred Mössner, Einführung in das Völkerrecht, 1977, S. 207, verstanden. Vielmehr ist das „Selbstbestimmungsrecht“ ein Rechtsprinzip, das mehrere unterschiedliche Rechte umfasst. 10 Dies scheint der IGH in seinem Kosovo-Gutachten tatsächlich anzunehmen, vgl. ICJ, Advisory Opinion v. 22.7.2010, Rn. 80. Dort heißt es, der Anwendungsbereich des Grundsatzes der territorialen Integrität sei auf die Sphäre der Beziehungen zwischen

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Die territoriale Integrität eines Staates, wie sie in der Praxis der Vereinten Nationen verstanden wird, ist jedoch nicht nur ein Recht, das den Staat gegen Angriffe von außen schützt, obwohl dies zweifellos die wichtigste Funktion dieses Rechts ist. Sie wird vielmehr als Rechtsposition verstanden, die den Staat auch gegen Beeinträchtigungen von innen, insbesondere gegen Sezessionsbestrebungen schützt. So heißt es ja in der Friendly-Relations-Deklaration der UN-Generalversammlung zwar einerseits, die Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates sei eine Möglichkeit der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts; andererseits wird aber betont, die Ausführungen zum Selbstbestimmungsrecht seien nicht so auszulegen, als ermächtigten oder ermunterten sie zu Maßnahmen, welche die territoriale Integrität oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten beeinträchtigen. Da das defensive Selbstbestimmungsrecht inhaltlich parallel zum Souveränitätsprinzip ausgerichtet ist, erscheint somit ein Konflikt auch zwischen defensivem und offensivem Selbstbestimmungsrecht als möglich. Wie aber lässt sich der potentielle Konflikt zwischen dem defensiven Selbstbestimmungsrecht, das auf die Bewahrung des territorialen Status quo gerichtet ist, und dem offensiven Selbstbestimmungsrecht, das potentiell der Überwindung dieses Status quo dient, rechtlich bewältigen? Wenn und soweit das offensive Selbstbestimmungsrecht völkerrechtlich garantiert ist, ist die Souveränität des Staates, gegen den der Selbstbestimmungsanspruch sich richtet, entsprechend eingeschränkt. Souveränität bedeutet heute nicht mehr völlig uneingeschränkte Herrschaftsbefugnis, sondern völkerrechtlich eingebundene Herrschaftsbefugnis. So wie die Souveränität der Staaten durch die völkerrechtlich garantierten Menschenrechte eingeschränkt ist, ist sie auch durch das Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt. Und soweit das Selbst___________ Staaten beschränkt. Aus dieser Sicht kann die territoriale Integrität nur durch äußere, nicht hingegen durch innerstaatliche Akteure verletzt werden. Dies entspricht der klassischen Souveränitätsauffassung, nach der innerstaatliche Angelegenheiten nicht Gegenstand des Völkerrechts sind. Demzufolge kann der Staat sich auf der Basis seiner Souveränität und des mit ihr verbundenen Gewaltmonopols gegen Aufständische und Separatisten verteidigen und bedarf dazu keines völkerrechtlichen Titels. Ob dies noch dem heutigen Völkerrechtsverständnis und der neueren Staatenpraxis entspricht (vgl. dazu die Hinweise von Anne Peters, Das Kosovogutachten und die Kunst des Nichtssagens, JZ 2010, S. 1168 [1170]) muss freilich bezweifelt werden. Wenn das Völkerrecht innerstaatlichen Akteuren Rechte und somit den Status beschränkter Völkerrechtssubjekte gibt, muss es auch möglich sein, dass es denselben Subjekten Pflichten auferlegt beziehungsweise dass es ihre Rechte implizit durch entgegenstehende Rechte des Staates begrenzt. Im übrigen stellt sich das Problem des Verhältnisses zwischen offensivem Selbstbestimmungsrecht und territorialer Integrität beziehungsweise Souveränität des betreffenden Staates auf jeden Fall unter dem Aspekt, dass Drittstaaten dem sich auf sein Selbstbestimmungsrecht berufenden Volk Hilfe leisten, und sei es auch nur durch vorzeitige Anerkennung als unabhängiger Staat. Die Frage der vorzeitigen Anerkennung war dem IGH leider nicht gestellt worden, so dass er sich hierzu auch nicht geäußert hat.

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bestimmungsrecht einen Anspruch auf Änderungen des Territorialstatus umfasst, ist dementsprechend das Recht des Staates auf territoriale Integrität eingeschränkt. Das Souveränitätsprinzip und das Prinzip der territorialen Integrität können also dem Selbstbestimmungsrecht nicht entgegengehalten werden, soweit die sich aus dem Selbstbestimmungsrecht ergebenden Ansprüche reichen. Aber wie weit reichen diese Ansprüche? So wie das Souveränitätsprinzip durch das Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt wird, muss umgekehrt auch das Selbstbestimmungsrecht im Lichte des Souveränitätsprinzips interpretiert werden. Dem Wortlaut des Selbstbestimmungsartikels der Menschenrechtspakte nach ist nämlich das Selbstbestimmungsrecht viel weiter gefasst, als es offensichtlich von allen beteiligten Staaten gemeint ist11. Uneingeschränkte Selbstbestimmung über den politischen Status würde auch die Möglichkeit implizieren, dass das Volk als Subjekt des offensiven Selbstbestimmungsrechts sich aus dem bestehenden Staatsverband herauslöst und einen unabhängigen Staat gründet oder sich an einen anderen Staat anschließt. Da es nur wenige reine Nationalstaaten gibt, die in sich ethnisch homogen sind, wären sehr viele, vielleicht die allermeisten Staaten, von einem solchen Sezessionsrecht betroffen. Die Realisierung dieses Rechts würde nicht nur viele der unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien, sondern auch ___________ 11 Vgl. z. B. auch Hailbronner/Kau (Fn. 4), 3. Abschnitt, Rn. 124. – Die Diskussion über den sowjetischen Vorschlag, das Selbstbestimmungsrecht in die Satzung der Vereinten Nationen aufzunehmen, in dem technischen Komitee I/1 der United Nations Conference on International Organisation (San Francisco 25.4.-26.6.1945), das mit der Festlegung der Präambel und der „Ziele und Grundsätze“ befasst war, kam zu dem Ergebnis, dass das Selbstbestimmungsrecht mit den Zwecken der Charta nur insoweit übereinstimme, als es das Recht auf Selbstregierung impliziere, nicht aber das Sezessionsrecht, UNCIO-Dokumente VI, S. 296. Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Art. 1 Nr. 2 UNCharta Daniel Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1976, S. 68-73, der allerdings zutreffend darlegt, dass die traveaux preparatoires für die Auslegung dieser Bestimmung nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein können, S. 71 f. – Auch die Entstehungsgeschichte der Selbstbestimmungsartikel der Menschenrechtspakte zeigt, dass es die Absicht kaum einer Delegation war, innerstaatlichen Minderheiten ein Sezessionsrecht zuzusichern, vgl. Thürer a.a.O., S. 115-117 m. w. N. – Gegen ein Sezessionsrecht bereits die vom Völkerbundsrat eingesetzte Juristenkommission im AalandKonflikt, vgl. die Wiedergabe des Gutachtens bei Hermann Raschhofer, Selbstbestimmungsrecht und Völkerbund. Das Juristengutachten im Aalandstreit vom 5. Sept. 1920, 1969, S. 37 (40). Von der UN-Generalversammlung ist ein Sezessionsrecht in verschiedenen Resolutionen ausdrücklich abgelehnt worden, vgl. die Dekolonisierungsdeklaration (Declaration on the granting of independence to colonial countries and peoples, A/RES/1514(XV) v. 14.12.1960), Nr.7, oder die Prinzipiendeklaration (Declaration on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Co-operation among States in accordance with the Charter of the United Nations, A/RES/2625(XXV) v. 24.10.1970), V Abs. 7; dazu Eckart Klein, Vereinte Nationen und Selbstbestimmungsrecht, in: Blumenwitz/Meissner, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, 1984, S. 107 (113 f.).

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jahrhundertealte Staaten aufsplittern. Dies würde die auf den souveränen Staaten aufbauende Völkerrechtsordnung im Ganzen erschüttern12. Ein ius secedendi wird daher von der völkerrechtlichen Praxis grundsätzlich nicht anerkannt. Ein Teil der Literatur sieht es unter engen Voraussetzungen als gegeben an13. Wie also lassen sich territoriale Integrität und defensives Selbstbestimmungsrecht einerseits, offensives Selbstbestimmungsrecht andererseits so einander zuordnen, dass beide Seiten zu ihrem Recht kommen? Da die Völkerrechtsordnung eine Rechtsordnung souveräner Staaten ist und da das Völkerrecht in der Regel eine Tendenz zur Wahrung des Status quo hat, spricht im Falle von Prinzipienkonflikten eine Vermutung für die Souveränität. Dies kann aber nicht heißen, dass die Souveränität das offensive Selbstbestimmungsrecht völlig verdrängt. Es ist eine Grundregel juristischer Interpretation, dass Normen so auszulegen sind, dass ihr normativer Gehalt nicht völlig verloren geht. Vielmehr sind die Normgehalte durch harmonisierende Interpretation möglichst umfassend zur Geltung zu bringen14. Daraus lässt sich im Verhältnis offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht beziehungsweise offensives Selbstbestimmungsrecht und Souveränität Folgendes ableiten15: 1. Ein Sezessionsrecht kann es grundsätzlich nicht geben. Andernfalls wäre das Prinzip der territorialen Integrität hinfällig. 2. Das Sezessionsrecht ist aber nicht der einzige Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, sondern lediglich das im Verhältnis zum bestehenden Staat am weitesten reichende Recht. Wenn dieses regelmäßig hinter dem Recht auf territoriale Integrität zurücktreten muss, kann dies nicht heißen, dass auch alle anderen Inhalte nicht zur Anwendung kommen können. 3. Die Garantie des Selbstbestimmungsrechts der Völker impliziert denknotwendig die Garantie der Existenz jedes einzelnen Volkes. Das Recht, seinen ___________ 12

Vgl. die Juristenkommission im Aaland-Konflikt, Gutachten, abgedruckt bei Raschhofer (Fn. 11, S. 37 (40). 13 Vgl. z. B. Karl Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz des Völkerrechts, 1974 (BerDGVR 14), S. 30 ff.; Aureliu Cristescu, The Right to SelfDetermination. Historical and Current Development on the Basis of United Nations Instruments, New York 1980, E/CN.4/Sub.2/404 Rev. 1, Sales No. E.80.XIV.3, S. 26; E. Klein (Fn. 11), S. 114 f.; Hailbronner/Kau (Fn. 4), 3. Abschnitt, Rn. 124; Herdegen (Fn. 3), § 36 Rn. 7; Weber (Fn. 2), S. 499. 14 Vgl. auch Jochen Wilhelm, Sezessionsrecht des Volkes im ethnischen Sinne und Anerkennung von Staaten. Jur. Diss. Heidelberg 2003, S. 83 ff. m. w. N. 15 Zum systematischen Zusammenhang von Selbstbestimmungsrecht der Völker und Souveränität der Staaten bereits ausführlich Murswiek (Fn. 8), S. 325 ff.

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politischen Status zu bestimmen oder über seine Bodenschätze zu verfügen, wäre wertlos, wenn das Volk ausgerottet werden dürfte. Mit „Existenz“ meine ich aber nicht nur die physische Existenz der dem Volk angehörenden Individuen, sondern auch die kulturellen und territorialen Voraussetzungen der Gruppenexistenz. Entscheidend ist, dass die Gruppe auf ihrem angestammten Territorium erhalten bleibt und dort die spezifischen, identitätsbestimmenden Besonderheiten pflegen, bewahren und weiterentwickeln darf. Alle Maßnahmen, die darauf abzielen, dem Volk seine gruppenspezifischen Besonderheiten zu nehmen oder die Basis seiner Existenz als territorialbezogene ethnische Gruppe zu zerstören, sind mit dem Selbstbestimmungsrecht unvereinbar. Dazu gehören beispielsweise das Verbot, die eigene Sprache zu sprechen, die eigene Geschichte zu überliefern, unter Gruppenangehörigen zu heiraten, Vertreibung von Teilen der Bevölkerung, gezielte Ansiedlung von Angehörigen des Mehrheitsvolkes, um das betroffene Volk im eigenen Territorium in die Minderheit zu drängen, willkürliche Inhaftierung oder Hinrichtung von Führungspersonen des betroffenen Volkes. Die Wahrung der Existenz der Völker steht in keiner Weise im Widerspruch zum Prinzip der Souveränität oder der territorialen Integrität. Diese fundamentale Voraussetzung der Selbstbestimmung muss also von allen Staaten geachtet werden. Wenn ein Staat sich über diese Pflicht hinwegsetzt, dann kann er das Prinzip der Souveränität bzw. der territorialen Integrität dem Recht des betroffenen Volkes auf Sezession nicht mehr entgegensetzen. Zumindest dann, wenn die Wahrung der Existenz des Volkes als einer Gruppe, die auf einem bestimmten Territorium Subjekt des Selbstbestimmungsrechts ist, anders als durch Sezession aus dem vorhandenen Staat nicht mehr als möglich erscheint, muss ein Sezessionsrecht gegeben sein16. Die unzumutbare Diskriminierung des betroffenen Volkes wegen bestimmter Gruppeneigenschaften kann die Existenz des Volkes im beschriebenen Sinne gefährden und deshalb die Sezession legitimieren. Es kann aber auch weitere Maßnahmen geben, die sich nicht als „Diskriminierung“ charakterisieren lassen, die aber ebenfalls die Existenz des Volkes bedrohen und deshalb ein Sezessionsrecht begründen. 4. Was könnte der über die Existenzerhaltung hinausgehende Inhalt des Selbstbestimmungsrechts sein, soweit es nicht auf Unabhängigkeit von dem Staat, in dem das Volk lebt, gerichtet sein darf? Der Sinn des Selbstbestimmungsrechts besteht doch darin, jedem Volk die Möglichkeit zu geben, unter denjenigen politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen zu leben, die seinen besonderen Eigenarten am besten entsprechen, vor allem aber diese besonderen Eigenarten, die eigene Identität, zu bewahren und zu entwickeln. Wenn ___________ 16 So auch z. B. Hailbronner/Kau (Fn. 4), 3. Abschnitt, Rn. 124; Herdegen (Fn. 3), § 36 Rn. 7; Weber (Fn. 2), S. 499 f.

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das so ist, dann ist Selbstbestimmung unterhalb der Schwelle der Sezession nicht nur möglich, sondern auch rechtlich geboten. Wenn also ein Ausnahmefall, in dem ein Sezessionsrecht gegeben ist, nicht vorliegt, dann hat das Volk das Recht auf ein Mindestmaß an innerstaatlicher Autonomie. Dieses Mindestmaß lässt sich konkret nicht präzise angeben, ohne die Umstände jedes Einzelfalles zu kennen. Abstrakt müsste man fordern, dass ein Optimum an Autonomie anzustreben ist: Soviel Autonomie wie möglich, ohne die gesamtstaatliche Einheit zu gefährden. Wieviel das ist, wird sicherlich in vielen Fällen streitig sein. Zentralistische Staaten neigen zu der Ansicht, dass jede Dezentralisierung schon die staatliche Einheit gefährden könnte, während in Staaten, die Erfahrung mit dem Föderalismus haben, im Gegenteil die Auffassung vorherrscht, dass eine Gliedstaatlichkeit, welche die Besonderheit der Teile pflegt, zugleich die Einheit des Ganzen stärkt. Als Minimum ist jedenfalls dasjenige Maß an Autonomie zu fordern, das zur Erhaltung der Existenz und Identität des Volkes notwendig ist. Dazu gehören insbesondere kulturelle Rechte, die zum Teil durch Minderheitenschutzbestimmungen garantiert sind, zum Teil aber auch darüber hinausgehen müssen, z. B. das Recht auf Gebrauch der eigenen Sprache in der Öffentlichkeit, das Recht, diese Sprache auch vor Behörden und Gerichten zu gebrauchen oder das Recht auf Schulunterricht in der eigenen Sprache. Wenn dies Inhalt des Selbstbestimmungsrechts ist, dann ergibt sich daraus eine wesentliche Folgerung für das Recht auf Sezession: Wenn der Staat den Anspruch des Volkes auf Autonomie und kulturelle Rechte nicht erfüllt, dann muss das Volk ein Recht auf Sezession haben, um auf diese Weise seine Selbstbestimmung ausüben zu können17. Auf diese Weise werden Selbstbestimmungsrecht und Souveränität optimal koordiniert. Die territoriale Souveränität und Integrität bleibt gewahrt, und doch kann das Volk seine Identität wahren und über seine besonderen Lebensumstände bestimmen. Nur wenn ein Staat nicht bereit ist, dem Volk diese innerstaatliche Selbstbestimmung zu gewähren, die übrigens das Volk nicht aus der Loyalitätspflicht gegenüber dem Gesamtstaat entlässt, dann muss die territoriale Integrität hinter das Selbstbestimmungsrecht zurücktreten. Kein Staat wird also aufgrund des offensiven Selbstbestimmungsrechts gezwungen, Abspaltungen von seiner territorialen Einheit hinzunehmen; er kann sich dafür entscheiden, entweder die innerstaatlichen Existenz- und Autonomierechte der Völker zu respektieren oder die Sezession zu dulden. Nur wenn er ersteres nicht tut, ist das Recht auf Sezession gegeben. Würde man dies verneinen, dann wäre das als fundamentales Völkerrechtsprinzip gepriesene Selbstbestimmungsrecht heute nicht viel mehr als eine hohle ___________ 17 So auch Stefan Oeter, Selbstbestimmungsrecht im Wandel, ZaöRV 52 (1992), S. 741 (758 ff.).

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Deklamation, die zu nichts anderem geeignet ist, als die Glaubwürdigkeit der Völkerrechtsordnung zu untergraben18.

III. Bewährung des Konzepts in der Praxis der letzten Jahrzehnte Konnte dieses Konzept sich in der völkerrechtlichen Praxis der letzten Jahrzehnte bewähren? Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sind in Ost- und Mitteleuropa viele Staaten unabhängig geworden. Politisch kann man den Zerfall des Sowjetimperiums, die Rückgewinnung der Souveränität der zuvor nur der Form nach souveränen früheren Ostblockstaaten, die Loslösung etlicher früherer Sowjetrepubliken aus der UdSSR sowie den Zerfall Jugoslawiens sicherlich als Triumph der Selbstbestimmungsidee verstehen. Ein Beleg für ein entsprechendes Recht auf Selbstbestimmung ist diese Entwicklung jedoch nicht ohne weiteres. Hinzukommen müsste, dass die Staatenpraxis zugleich von einer diesbezüglichen Rechtsüberzeugung getragen war. Dies nachzuweisen ist schwierig, weil die Staaten regelmäßig nicht ausdrücklich erklären, ob das, was sie tun, ihrer Auffassung nach der Erfüllung einer Rechtspflicht dient, einen Rechtsanspruch befriedigen soll oder überhaupt auch nur rechtmäßig ist. Es gibt aber einige Indizien, aus denen sich Rückschlüsse auf das Selbstbestimmungsrecht ziehen lassen19. 1. Die Wiederherstellung der Souveränität der baltischen Staaten lässt sich als Beispiel für die Durchsetzung des defensiven Selbstbestimmungsrechts des Staatsvolkes nach einer langen Zeit der Fremdbestimmung interpretieren20. Litauen, Lettland und Estland waren 1941 von der Sowjetunion annektiert worden. Die USA hatten diese Annexion nie anerkannt. Als die baltischen Staaten sich im August 1991 für unabhängig erklärten, wurden sie von den EG-Staaten sogleich anerkannt, obwohl sie ihre Unabhängigkeit noch nicht effektiv durchgesetzt hatten. So standen noch sowjetische Truppen im Land. Dies spricht dafür, dass die Anerkennung vorzeitig erfolgt und die Souveränität der UdSSR verletzt hätte, wenn diese nicht kraft des Selbstbestimmungsrechts zur Duldung der Sezession verpflichtet gewesen wäre. In diesem Kontext kann man das Verhalten der die Anerkennung aussprechenden Staaten so verstehen, dass sie implizit ihre Auffassung zum Ausdruck brachten, dass die baltischen Staaten ein auf das Selbstbestimmungsrecht gestütztes Recht auf souveräne Staatlichkeit hatten. Freilich hätte diese Staatenpraxis einen stärkeren Indizcharakter für ___________ 18

Zustimmend Weber (Fn. 2), S. 500. Zum Folgenden ausführlicher Murswiek (Fn. 8), S. 315 ff. 20 Vgl. auch Hailbronner/Kau (Fn. 4), 3. Abschnitt, Rn. 176, die aber die wiederhergestellten Staaten als Sonderfall verstanden wissen wollen. 19

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das Bestehen eines Rechts auf Sezession gehabt, wenn die Unabhängigkeit der baltischen Staaten gegen ein nachdrückliches Widerstreben der UdSSR hätte durchgesetzt werden müssen. Jedoch folgte kurze Zeit später die Anerkennung durch die UdSSR, so dass man auch argumentieren kann, die EG-Staaten hätten nicht in die Souveränität der UdSSR eingegriffen, so dass die Anerkennung der baltischen Staaten keiner Rechtfertigung durch das Selbstbestimmungsrecht bedurft hätte21. 2. Im Falle Jugoslawiens sind die Äußerungen der Staatenvertreter und der Vertreter der UNO zwiespältig. Es gibt einige Stellungnahmen, in denen sich die Staaten zum Selbstbestimmungsrecht bekennen22 bzw. betonen, dass es allein Sache der Völker Jugoslawiens sei, über ihre Zukunft zu entscheiden23. Ein klares Bekenntnis zum Recht der jugoslawischen Völker auf Sezession lässt sich jedoch nicht finden. Überwiegend relativieren die Erklärungen ihr Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht dadurch, dass sie zugleich das Erfordernis betonen, dass dieses Recht „im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen und den einschlägigen Bestimmungen des Völkerrechts, einschließlich der Bestimmungen zur territorialen Unversehrtheit der Staaten“ auszuüben sei, schaffen also im entscheidenden Punkt keine Klarheit. Wichtig ist jedoch Folgendes: Aus diesen Erklärungen lässt sich entnehmen, dass die Staaten die Sezessionsbestrebungen der jugoslawischen Republiken nicht nur als eine Frage des jugoslawischen Verfassungsrechts ansehen, sondern als einen Gegenstand des Völkerrechts, auf den die Grundsätze des Selbstbestimmungsrechts anzuwenden sind. Die Staatsvölker der jugoslawischen Republiken werden konkludent als Subjekte des Selbstbestimmungsrechts der Völker betrachtet, ungeachtet dessen, ob ihnen im konkreten Fall ein Sezessionsrecht zusteht oder nicht. Was dagegen die Frage eines Rechts auf Sezession angeht, ist die Staatenpraxis anfangs sehr zurückhaltend gewesen24. Die EG hat sich zunächst be___________ 21

Näher Murswiek (Fn. 8), S. 320 f. So z. B. die EPZ, Erklärung zur Lage in Jugoslawien, Den Haag, 5.7.1991, EA 1991, S. D536; Außenminister der EG (EPZ), Erklärung zu den „Richtlinien für die Anerkennung neuer Staaten in Osteuropa und in der Sowjetunion“ v. 16.12.1991, Bulletin Nr. 144 v. 19.12.1991, S. 1173; Deutscher Bundestag, Beschl. v. 15.11.1991, FAZ v. 16.11.1991; UN-Generalsekretär Pérez de Cuéllar, Brief an Bundesaußenminister Genscher v. 14.12.1991, FAZ v. 16.12.1991, S. 2; Jugoslawiens neuer Premierminister Milan Panic, SZ v. 16.7.1992, S. 8. 23 Gemeinsame Erklärung der Ministertroika der EG und der jugoslawischen Konfliktparteien über einen Friedensplan für Jugoslawien, vereinbart in Brioni am 7.7.1991, EA 1991, S. D537. Zum Ablauf der Geschehnisse vgl. auch Wilhelm (Fn. 14), S. 136 ff. 24 Positiv zur Möglichkeit der Sezession lässt sich die Praxis der Tschechoslowakei verstehen. So hat der Präsident der Tschechoslowakei, Vaclav Havel, ein entschiedener Befürworter der Einheit der Tschechoslowakei, geäußert, wenn die Slowaken die Unab22

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müht, die Einheit Jugoslawiens aufrechtzuerhalten25. Dies änderte sich aber Ende 1991 mit dem Beschluss der EG über die Anerkennung der jugoslawischen Republiken26. Dieser Beschluss stellt nicht nur eine Wende in der Politik der EG dar, sondern könnte auch einen neuen Trend in der völkerrechtlichen Bewertung der Sezession eingeleitet haben. In diesem Dokument heißt es, dass die EG und ihre Mitgliedstaaten vereinbaren, die Unabhängigkeit jener jugoslawischen Republiken anzuerkennen, die als unabhängige Staaten anerkannt zu werden wünschen und bestimmte weitere Bedingungen erfüllen, insbesondere Garantien für die Rechte ethnischer und nationaler Gruppen und Minderheiten übernehmen und sich zur Achtung der Unverletzlichkeit aller Grenzen, die nur auf friedlichem Wege und einvernehmlich geändert werden dürften, verpflichten27. Zu den in der Erklärung genannten Voraussetzungen gehört nicht, dass auch alle Bedingungen erfüllt sein müssen, deren Erfüllung nach dem bislang geltenden allgemeinen Völkerrecht Voraussetzung für die Anerkennung eines neuen Staates sind. Man könnte meinen, dass dies als bloße Selbstverständlichkeit überflüssig gewesen sei. Doch vor dem konkreten Hintergrund der Lage in Jugoslawien spielt dieser Umstand eine große Rolle. Zu den herkömmlichen Voraussetzungen für die Anerkennung eines infolge Sezession entstandenen neuen Staates gehört nämlich, dass dieser sämtliche Merkmale eines Staates im völkerrechtlichen Sinne aufweist, insbesondere dass sich die neue Staatsgewalt auf dem sezedierten Territorium effektiv und mit Aussicht auf Dauer durchgesetzt hat. Ist dies nicht der Fall, bedeutet die Anerkennung eine völkerrechtswidrige Intervention. Im Dezember 1991 und im Januar 1992 war durchaus noch zweifelhaft, ob der Sezessionsversuch Kroatiens effektiv und dauerhaft geglückt war 28. Jugoslawien hatte die Unabhängigkeit der sezedierten Republik noch nicht anerkannt, und die jugoslawische Bundesarmee stand in Teilen Kroatiens und kämpfte noch gegen die Sezession29. In einer solchen Lage durfte eine Aner___________ hängigkeit wollten, dann könne und solle man sie daran nicht hindern; dann gehe es nur noch darum, die Trennung auf zivilisiertem Wege zu vollziehen, vgl. FAZ v. 7.7.1992. Freilich lässt sich dieser und weiteren ähnlichen Stellungnahmen nicht entnehmen, ob damit ein völkerrechtliches Recht der Slowakei auf Sezession respektiert wird oder ob man lediglich Einsichten der politischen Notwendigkeit oder Vernunft folgt. 25 Vgl. z. B. FAZ v. 27.8.1991; vorher z. B. die EPZ-Erklärung v. 9.5.1991, EA 1991, S. D528. 26 Erklärung zu Jugoslawien, Brüssel 16.12.1991, Bulletin Nr. 144 v. 19.12.1991, S. 1173. 27 Verweis auf die Richtlinien für die förmliche Anerkennung neuer Staaten in Osteuropa und in der Sowjetunion (Fn. 29), die u.a. diese Bedingungen aufstellen. 28 Vgl. auch Hailbronner/Kau (Fn. 4), 3. Abschnitt, Rn. 179; Wilhelm (Fn. 14), S. 136 f., 159. 29 Der Schiedsausschuss, den die EG im Zusammenhang mit der Friedenskonferenz über Jugoslawien eingesetzt hatte (Badinter-Komitee), hat in seiner Opinion No. 1 vom

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kennung nicht erfolgen – es sei denn, aus dem Selbstbestimmungsrecht hätte sich für Kroatien ein Recht auf Sezession ergeben. Dann nämlich könnte die Anerkennung nicht als Einmischung in innere Angelegenheiten Jugoslawiens verstanden werden, sondern als Unterstützung des völkerrechtskonformen Verhaltens eines selbständigen Völkerrechtssubjekts30. Die EG hat sich nicht explizit zu diesem Problem geäußert. In dem Kriterienkatalog für die Anerkennung neuer Staaten31 heißt es, dass die EG „in Übereinstimmung mit den Gepflogenheiten internationaler Praxis und den politischen Realitäten jedes Falles“ diejenigen „neuen Staaten“ anerkennen wolle, die bestimmte Bedingungen erfüllen. Mit dem Hinweis auf die „Gepflogenheiten der internationalen Praxis“ und der Verwendung des Begriffs „Staaten“ könnte möglicherweise implizit gemeint sein, dass eine Anerkennung nur ausgesprochen wird, wenn alle Kriterien für die Entstehung eines neuen Staates erfüllt sind. In der Erklärung zu Jugoslawien vom 16.12.1991 wird jedoch für die Anerkennung aller jugoslawischen Republiken einschließlich Kroatiens ein Termin festgesetzt, nämlich der 15.1.1992. Eine Prüfung, ob diese Republiken bis zu diesem Termin auch das Kriterium einer effektiven und Aussicht auf Dauer versprechenden Staatsgewalt in ihrem Territorium erfüllen, ist nicht vorgesehen und dann auch tatsächlich nicht erfolgt. Kroatien ist nach Ablauf der Frist ebenso wie Slowenien von allen EG-Staaten diplomatisch anerkannt worden32, obwohl das Kriterium der Effektivität und Dauerhaftigkeit der Staatsgewalt nach herkömmlichen Beurteilungsmaßstäben auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfüllt war33. Andere Staaten haben sich dem Beschluss der EG angeschlossen und die Anerkennung im Dezember oder Januar ausgesprochen, so z. B. Schweden34 und Österreich35. Die Belgrader Regierung hat der EG wegen ___________ 20.11.1991, EJIL 1992, S. 182 (183) die Auffassung vertreten, dass sich Jugoslawien in einem Prozess der Auflösung befinde. Ob dieser Prozess aber zum Ergebnis der – vollständigen – Dismembration führen würde, war noch nicht entschieden. Auch in einer Bürgerkriegssituation, in der die Staatsgewalt nicht im ganzen Staatsgebiet effektiv durchgesetzt werden kann, ist eine Einmischung – durch Anerkennung sich für unabhängig erklärender Staatsteile – nach herkömmlichem Völkerrecht nicht zulässig. Deshalb ging diese Feststellung des Komitees an den entscheidenden völkerrechtlichen Kriterien vorbei – möglicherweise, um ein ausdrückliches Präjudiz zugunsten des Sezessionsrechts zu vermeiden. 30 Vgl. Ian Brownlie, Principles of Public International Law, Fourth Edition, Oxford 1990, S. 598; James Crawford, The Creation of States in International Law, Oxford 1979, S. 257 ff.; Wilhelm (Fn. 14), S. 160 ff., insb. S. 174 f., sowie S. 181 ff.; Katharina Parameswaran, Der Rechtsstatus des Kosovo im Lichte der aktuellen Entwicklungen, AVR 46 (2008), S. 172 (176). 31 Fn. 22. 32 FAZ v. 17.1.1992. 33 Ebenso z. B. Christian Schaller, Die Sezession des Kosovo und der völkerrechtliche Status der internationalen Präsenz, AVR 46 (2008), S. 131 (143) m. w. N. 34 FAZ v. 20.12.1991.

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der Anerkennung Völkerrechtsbruch vorgeworfen und den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angerufen; mit der Anerkennung betreibe die EG die Zerstörung Jugoslawiens und mische sich in seine inneren Angelegenheiten ein36. Dieser Kritik hat sich aber, soweit ich sehe, kein anderer Staat angeschlossen, und auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat das Verhalten der anerkennenden Staaten nicht gerügt. Die USA, die sich gegen eine Anerkennung Kroatiens und Sloweniens ausgesprochen und die Anerkennung durch die EG-Staaten kritisiert hatten, haben dafür keine völkerrechtlichen, sondern nur politische Gründe geltend gemacht37. Somit besteht in der Staatenwelt – abgesehen von der Stimme des von der Sezession betroffenen Jugoslawiens – Übereinstimmung darüber, dass die Anerkennung Kroatiens nicht völkerrechtswidrig war. Die Völkerrechtskonformität der Anerkennung aber setzt, wie gesagt, voraus, dass Kroatien in der gegebenen Situation ein Recht auf Sezession hatte. Somit hat die Staatenwelt implizit zu erkennen gegeben, dass sie ein Recht des kroatischen Volkes auf Sezession für gegeben ansah. Ein weiterer Aspekt des EG-Beschlusses über die Anerkennung der jugoslawischen Republiken verdient hervorgehoben zu werden: Indem die EG sich dafür entscheidet, diejenigen Republiken, die dies wünschen (unter bestimmten Bedingungen) als unabhängig anzuerkennen, gibt sie zugleich dem mehrfach ausgesprochenen Bekenntnis zur Unverletzlichkeit aller Grenzen, die – wie es in der Erklärung zu den Richtlinien für die Anerkennung neuer Staaten38 heißt – „nur auf friedlichem Wege und einvernehmlich geändert werden dürfen“, eine neue und jetzt eindeutige Bedeutung: Die zu schützende territoriale Integrität bezieht sich jetzt nicht mehr auf den Gesamtstaat Jugoslawien, sondern auf die jeweiligen Territorien der einzelnen Republiken. Auch und gerade die sezedierenden Republiken können hiernach die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen einfordern. Damit wurden auch die Grenzen zwischen den jugoslawischen Republiken, früher nur innerstaatliche Grenzen, zu Grenzen auf der Ebene des Völkerrechts erklärt, und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem die meisten der betreffenden Republiken noch keine eigene souveräne Staatsgewalt auf ihrem

___________ 35

FAZ v. 16.1. und v. 17.1.1992; auch z. B. Island und der Heilige Stuhl, FAZ v. 21.12.1991; Lettland, Litauen, Estland, Bulgarien, Polen, die Schweiz, Norwegen, Australien, Neuseeland, Kanada und die Tschechoslowakei, FAZ v. 17.1.1992; Finnland, Liechtenstein, FAZ v. 18.1.1992; Rumänien, FAZ v. 20.1.1992; Albanien, FAZ v. 23.1.1992. 36 FAZ v. 20.12.1991, 16.1.1992. Dieser Protest ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Sezessionsvorgang noch nicht effektiv abgeschlossen war. 37 Vgl. z. B. FAZ v. 1.2.1992. 38 Fn. 22.

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Territorium effektiv und dauerhaft durchgesetzt hatten; wohl nur für Slowenien hätte man dies im Dezember 1991 bejahen können39. 3. Das jüngste Beispiel einer selbstbestimmungsbezogenen Staatenpraxis, die Rückschlüsse auf das Verständnis des Selbstbestimmungsrechts ermöglicht, ist das Kosovo. Kosovo hat am 17.2.2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt, zu dem es rechtlich noch gehörte, obwohl Serbien dort nach dem Ende des Kosovokrieges infolge der Besetzung durch NATO-Truppen keine effektive Staatsgewalt mehr ausüben konnte. Diese wurde seither durch die UNVerwaltung (United Nations Interim Administration Mission in Kosovo – UNMIK) in Verbindung mit den von ihr gegründeten kosovarischen „Institutionen der provisorischen Selbstverwaltung“ ausgeübt40. Einige Staaten, darunter die meisten EU-Staaten und insbesondere Deutschland, haben kurz nach der Unabhängigkeitserklärung das Kosovo als Staat anerkannt41. Im Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung und der Anerkennung war das Kosovo noch kein Staat im Sinne des Völkerrechts. Es fehlte eine eigenständige effektive Staatsgewalt42. Zwar konnte Serbien keine effektive Staatsgewalt im Kosovo mehr ausüben. Aber die dortige öffentliche Gewalt beruhte auf der Macht der dort stationierten ausländischen KFOR-Truppen. Und selbst wenn man unterstellte, dass 2008 die von der Regierung des Kosovo ausgeübte Hoheitsgewalt eine effektiv etablierte unabhängige Gewalt war, könnte rechtlich nicht unberücksichtigt bleiben, wie diese Gewalt sich etabliert hatte: durch die Bomber der NATO und die Truppen ausländischer Staaten43. Diese hatten die serbischen Truppen aus dem Kosovo gedrängt, und nur ihre immer noch an___________ 39

Damit wurde das Prinzip uti possidetis, das aus der Dekolonisation der südamerikanischen Länder stammt, zur Anwendung gebracht. Das Badinter-Komitee (ein von der EG im Zusammenhang mit der Friedenskonferenz über Jugoslawien eingesetzter Schiedsausschuss) hat dieses Prinzip ausdrücklich als allgemeines Völkerrechtsprinzip bezeichnet, Opinion No. 2 und 3, EJIL 1992, S. 183 (184) und 184 (185). Es liegt auf der Hand, dass dies nicht unproblematisch ist. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Ausführlich hierzu Wilhelm (Fn. 14), S. 68 ff. 40 Hierzu Weber (Fn. 2), S. 502 ff. 41 Vgl. Schaller (Fn. 33), S. 131 ff. 42 Alexander Orakhelashvili, Statehood, Recognition and the United Nations System: A Unilateral Declaration of Independence in Kosovo, Max Planck UNYB 12 (2008), S. 1 (10), weist darauf hin, dass die Unabhängigkeit des Kosovo eine „kontrollierte“ und „überwachte“ sein soll, weswegen – zumindest nach herkömmlichen Maßstäben – von „effectivité“ auf Seiten des Kosovo keine Rede sein könne. 43 Im Übrigen sollte durch den NATO-Einsatz die territoriale Integrität der Republik Jugoslawien, heute Serbien, gar nicht in Frage gestellt werden, vgl. Orakhelashvili (Fn. 42), S. 31. Auch die Übernahme der Hoheitsgewalt durch UNMIK hatte nicht das Ziel, eine Entscheidung über den Status des Gebiets vorwegzunehmen, vgl. Kerstin A. Wirth, Kosovo am Vorabend der Statusentscheidung: Überlegungen zur rechtlichen Begründung und Durchsetzung der Unabhängigkeit, ZaöRV 67 (2007), S. 1065 (1079 f.).

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dauernde Präsenz hinderte die serbische Armee, den serbischen Souveränitätsanspruch im Kosovo wieder durchzusetzen44. Das Kosovo verfügte weder über eine zur Selbstbehauptung fähige Armee noch über eine Polizei, die in der Lage wäre, die Grundfunktion des Staates – die Herstellung und Bewahrung der öffentlichen Sicherheit und des inneren Friedens – wahrzunehmen. Diese Aufgabe sollte weiterhin von den KFOR-Truppen sowie zusätzlich von den nach der Unabhängigkeitserklärung entsandten Polizeikräften der EU-Mission „EULEX“ erfüllt werden. Auch in Verwaltung und Gerichtsbarkeit musste das Kosovo sich von außen, von UN-Administration beziehungsweise den EURichtern und -Beamten, helfen lassen. War das Kosovo also mangels eigenständiger Staatsgewalt – noch – kein eigenständiger Staat, dann gehörte es nach wie vor völkerrechtlich zu Serbien. Die Anerkennung verletzte deshalb die Souveränität Serbiens und war somit völkerrechtswidrig, wenn es nicht ein Recht des kosovarischen Volkes auf Sezession gab. Existierte ein solches Recht, dann ließ sich die vorzeitige Anerkennung damit rechtfertigen, dass sie der Durchsetzung des Völkerrechts diente. Dann wurde eine Organisation als Staat anerkannt, die noch kein Staat war, aber sich auf den Weg gemacht hat, mit Hilfe Dritter – mit Hilfe der KFORTruppen, der EULEX-Polizei und der anerkennenden Staaten – ein eigenständiger Staat zu werden. Dann griff die vorzeitige Anerkennung zwar in die Souveränität des bisherigen Staates ein, war jedoch durch das Selbstbestimmungsrecht des sezedierenden Volkes gerechtfertigt. Die Regierungen, die das Kosovo als Staat anerkennen45, handeln also nur dann völkerrechtskonform, wenn sie darlegen, dass die Voraussetzungen des Sezessionsrechts gegeben sind. Da sie in die Souveränität Serbiens eingreifen, tragen sie die Beweislast. Sie müssen also zeigen, dass ohne die Sezession die Existenz der Kosovo-Albaner als Volk oder jedenfalls ihre Autonomie nicht gewährleistet wäre. Dafür könnte die Vorgeschichte sprechen. Wenn es zutrifft, was die NATO-Staaten 1999 zur Begründung ihrer militärischen Intervention vorgebracht hatten, dass nämlich die Kosovo-Albaner von serbischer Seite mit menschenrechtswidriger Gewalt und „ethnischen Säuberungen“ überzogen worden und von einem Genozid bedroht waren, dann dürfte die für eine effek-

___________ 44 Auf die Frage der Rechtmäßigkeit des NATO-Einsatzes kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Auch zu dieser Frage nimmt der IGH in seinem KosovoGutachten nicht Stellung, vgl. Christian J. Tams/Antonios Tzanakopoulos, IGH: Gutachten zur Unabhängigkeit Kosovos, Vereinte Nationen 2/2011, S. 80 (81). 45 Der Stand der erfolgten Anerkennungen samt Anerkennungsschreiben kann unter http://kosovothanksyou.com abgerufen werden.

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tive Autonomie unerlässliche Vertrauensgrundlage damals zerstört worden sein. Die damalige genozidartige Gewalt wirkt so auf die heutige Lage fort46. Lässt sich die Sezession des Kosovo auf diese Weise rechtfertigen, dann ist sie kein Präzedenzfall für beliebige Sezessionsbestrebungen auf der ganzen Welt. Diejenigen Staaten, die – wie Spanien in Bezug auf die Basken – den auf ihrem Gebiet lebenden autochthonen Volksgruppen Autonomie gewähren und ihre Existenzrechte achten, haben nichts zu befürchten. Nur Staaten, die dies nicht tun, müssten damit rechnen, dass die Anerkennung des Kosovo den von ihnen unterdrückten ethnischen Minderheiten ein zusätzliches rechtliches Argument verschafft. Dies als „Erschütterung der Stabilität der Staatenwelt“ zu werten, wie die Kritiker der Anerkennung dies tun, ist zynisch. Das geltende Völkerrecht verpflichtet alle Staaten schon längst zur Achtung der Existenzund Autonomierechte, die sich aus dem Selbstbestimmungsrecht für alle Völker ergeben, die Subjekte dieses Rechts sind. Staaten, die ihre Stabilität nur der Unterdrückung auf ihrem Gebiet lebender autochthoner Völker verdanken, werden durch das Völkerrecht hierin nicht geschützt. Dennoch sind die meisten Regierungen vorsichtig und vermeiden alles, was der impliziten Bestätigung des Sezessionsrechts expressiv Ausdruck verleihen könnte. Wenn sie sich bei der Anerkennung des Kosovo allein auf die faktisch erfolgte Sezession stützen47, dann wird die Anerkennung zwar nicht zu einem Präzedenzfall für das Sezessionsrecht, aber zu einem Präzedenzfall dafür, dass ein mit militärischer Gewalt von ausländischen Truppen besetzter Gebietsteil von dem bisherigen Staat abgetrennt werden kann, wenn die dort installierte Regierung dies verlangt. Das wäre ein Rückfall hinter die seit dem Briand___________ 46

Das wird in der Lit. teilweise anders gesehen. So argumentiert Wirth (Fn. 43), S. 1074 f., der grundsätzliche Rechtswiderstreit zwischen dem Recht des Staates auf territoriale Integrität und dem Recht des Volkes auf (äußere) Selbstbestimmung gebiete es, die Abwägung zu jedem in Frage stehenden Zeitpunkt erneut aktuell vorzunehmen. Christian Schaller, Sezession und Anerkennung. Völkerrechtliche Überlegungen zum Umgang mit territorialen Abspaltungsprozessen. (SWP-Studie S 33), 2009, S. 16, vertritt die Auffassung, die Konservierung des Sezessionsrechts sei mit dessen Qualifikation als Not(wehr)recht nicht vereinbar. Insoweit dürfte es gegenwärtig an der Notwehrlage fehlen. – Wie hier aber Parameswaran (Fn. 30), S. 179: „Dieser Einwand vermag nicht zu überzeugen. Das an den Kosovaren verübte Unrecht liegt erst neun Jahre zurück. Während der letzten neun Jahre unterstand das Kosovo faktisch nicht Serbien, sondern der UN-Übergangsverwaltung. Das Wiederaufleben der Bürgerrechte der Kosovaren fand damit nicht unter der Ägide Serbiens, sondern der Vereinten Nationen statt, so dass kein neues Vertrauen zwischen Serbien und den Kosovaren aufgebaut wurde“. Vgl. auch ihre weiteren Ausführungen auf S. 179 ff., sowie Weber (Fn. 2), S. 505. – Zum Volkscharakter der Kosovo-Albaner siehe Weber (Fn. 2), S. 496 ff.; dort finden sich auch Ausführungen zum innerstaatlichen Status der Provinz Kosovo (S. 497) sowie zum Sezessionsrecht (S. 499 ff., 508 f.). 47 So hat Georg Nolte, Kein Recht auf Abspaltung, FAZ v. 14.2.2008, S. 7, die Bundesregierung beraten.

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Kellogg-Pakt von 1928 geltenden Prinzipien des Völkerrechts, eine zusätzliche Prämie auf Interventionskriege, und könnte daher internationale Stabilität und Frieden weit mehr gefährden als die Argumentation mit einem – in seinen Voraussetzungen eng begrenzten – Recht auf Sezession48. 4. Welche Schlussfolgerungen lassen sich für das Recht auf Sezession aus dieser Analyse der Staatenpraxis ziehen? a) Im Fall Kroatien49 ist durch Äußerungen von Drittstaaten, vor allem aber durch die weltweit akzeptierte Anerkennungspraxis ein Recht auf Sezession konkludent anerkannt worden. Unter welchen Voraussetzungen ein solches Recht gegeben ist, hängt von der Beurteilung der politischen Verhältnisse in Kroatien im Jahre 1991 ab: Geht man davon aus, dass durch das Verhalten Serbiens die Existenz des kroatischen Volkes gefährdet oder dass der Tatbestand einer unzumutbaren Diskriminierung erfüllt war50, dann hat die Staatenpraxis die diesbezügliche Lehrmeinung bestätigt. Dies ist das mindeste, was sich aus dem Fall Kroatien folgern lässt. Für eine Existenzgefährdung Kroatiens spricht immerhin, dass der Krieg Serbiens gegen Kroatien Züge eines Vernichtungskrieges angenommen hatte, dass von übelsten Grausamkeiten gegen kroatische Zivilpersonen berichtet wurde und dass die Vertreibung der kroatischen Bevölkerung aus gemischt besiedelten Gebieten angestrebt wurde. Geht man dagegen davon aus, dass eine Existenzgefährdung oder unzumutbare Diskriminierung nicht gegeben war, dann muss aus der Anerkennungspraxis gefolgert werden, dass die Voraussetzungen für ein Recht auf Sezession erleichtert worden sind. Um diese Voraussetzungen zu klären, muss man sich vergegenwärtigen, was die spezifischen Charakteristika der Lage waren, in der Kroatien seine Unabhängigkeit erklärte: Innerhalb des alten Jugoslawiens hatten die Serben die dominierenden Machtpositionen inne; die übrigen Völker sahen ihre Interessen nicht ausreichend gewahrt. Was Kroatien und Slowenien zunächst anstrebten, war nicht die Zerstörung Jugoslawiens oder eine völlige Loslösung, sondern die Konföderalisierung Jugoslawiens. Als sich dies wegen des Widerstandes Serbiens nicht realisieren ließ, bemühte man sich um die Unabhängigkeit auf dem Verhandlungswege. Selbst die Unabhängigkeitserklärung vom 25. Juni 1991 wurde noch damit begründet, dass man nicht eine Abspaltung wolle; vielmehr solle die Trennung eine Erneuerung der Beziehungen innerhalb Jugoslawiens ___________ 48

Dietrich Murswiek, Eine Prämie auf Interventionskriege, FAZ v. 27.3.2008, S. 8. Zum Folgenden bereits Murswiek (Fn. 8), S. 322 f. 50 Zu den Anforderungen an das Maß der Diskriminierung, ab dem von einem „Umschlagen“ des internen Selbstbestimmungsrechts in ein Sezessionsrecht auszugehen ist, vgl. auch Wilhelm (Fn. 14), S. 87 ff. 49

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ermöglichen51. Eine solche Entwicklung wurde durch den unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung von Serbien gegen Kroatien und Slowenien geführten Krieg unmöglich gemacht. Erstes Merkmal der Lage war also ein gescheiterter Versuch einer einvernehmlichen Föderalisierung des Staates. Zweites Merkmal: Es handelte sich um einen Vielvölkerstaat. Drittes Merkmal: Die „staatstragenden“ Völker waren innerhalb des Gesamtstaates in Republiken organisiert mit eigenem Territorium und eigenen Organen. Die Sezessionsforderung wurde von den zuständigen Organen einer solchen Republik für das vorgegebene Territorium erhoben. Wenn also die Lage, in der sich Kroatien befand, nicht als existenzgefährdend oder unzumutbar diskriminierend bewertet werden kann, dann ergibt sich aus der Staatenpraxis im Fall Kroatien, dass auch unabhängig von einer solchen Lage jedenfalls dann ein Recht auf Sezession besteht, wenn die genannten drei Voraussetzungen gegeben sind. Bejaht man dagegen eine zur Sezession berechtigende existenzgefährdende oder unzumutbar diskriminierende Lage, dann lässt sich aus der konkreten Situation Material für die Konkretisierung dieser Voraussetzungen des Sezessionsrechts gewinnen. Eine genauere Analyse würde wohl zeigen, dass die Kriterien „Existenzgefährdung“ und „unzumutbare Diskriminierung“ nicht sehr eng ausgelegt werden dürfen. b) Wie im Fall Kroatien ging es auch im Fall Kosovo um das offensive Selbstbestimmungsrecht eines durch ethnische Merkmale geprägten Volkes, das sich aus einem durch ein anderes Volk im ethnischen Sinne dominierten Staat lösen wollte, in diesem Fall um die Kosovo-Albaner, die in der serbischen Provinz Kosovo die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Die Anerkennung des Kosovo als Staat, die erfolgte, obwohl das Kosovo noch nicht alle völkerrechtlichen Merkmale eines Staates aufwies, ließ sich nur rechtfertigen, sofern man annimmt, dass die Kosovo-Albaner ein Recht auf einen eigenen Staat hatten – dass sie also Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker waren und dieses Recht in der konkreten Situation das Recht auf Sezession aus der Republik Serbien zum Inhalt hatte. Da man davon ausgehen muss, dass die die Anerkennung aussprechenden Staaten nicht völkerrechtswidrig handeln wollen52, kann man die Anerkennung als impliziten Ausdruck der Rechtsauffassung verstehen, dass den Kosovo-Albanern dieses Recht zustand. Dass das Selbstbestimmungsrecht zur Sezession berechtigte, könnte sich aus der Vorgeschichte des Kosovokrieges ergeben. Immer vorausgesetzt, dass die entsprechenden Tatsachenbehauptungen zutreffen, konnte der von der NATO gegen Serbien geführte Kosovokrieg nur mit der Verhinderung eines drohenden Genozids an den ___________ 51

So der stellvertretende kroatische Parlamentspräsident Seks in der Begründung der die Trennung regelnden Gesetzesentwürfe, FAZ v. 26.6.1991. 52 Dies ergibt sich auch aus den Schlussfolgerungen des Rates vom 18.2.2008, Dok. 6496/08 (Presse 41).

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Kosovo-Albanern gerechtfertigt werden, also mit dem Ziel, die Existenz dieser ethnischen Gruppe und ihr Recht, in ihrer angestammten Heimat zu leben53, zu verteidigen. Die Etablierung eines unabhängigen Staates Republik Kosovo mit Hilfe ausländischer Truppen und ausländischer Staaten kann in Konsequenz dessen als Mittel gerechtfertigt werden, das offensive Selbstbestimmungsrecht der Kosovo-Albaner durchzusetzen, da die dauerhafte Aufrechterhaltung der Existenz dieser Gruppe innerhalb der Republik Serbien nicht gewährleistet oder in Anbetracht der vorangegangenen Existenzbedrohung jedenfalls nicht als zumutbar erschien54. c) Die Praxis der letzten Jahrzehnte scheint im übrigen ein Prinzip zu bestätigen, das wir aus der Dekolonisierung kennen: das Prinzip uti possidetis55. Das bedeutet: Die Selbstbestimmung findet innerhalb der vorgegebenen Grenzen statt; insbesondere werden die Grenzen nicht anhand der Siedlungsgebiete unterschiedlicher Ethnien neu gezogen. Sowohl beim Zerfall der UdSSR als auch bei der Dismembration Jugoslawiens und der Sezession des Kosovo aus der Republik Serbien waren die Einheiten, die sich als selbständige Staaten organisierten, zuvor bereits Teilrepubliken beziehungsweise autonome Gebiete innerhalb eines föderalen Staates. Es gab also insbesondere in Kroatien und im Kosovo bereits eine auf das jeweilige Gebiet bezogene politische Organisation mit Staatsorganen, die in diesem Gebiet gliedstaatliche Staatsgewalt ausübten und für dieses Gebiet und seine Bevölkerung sprechen konnten. Sie erklärten die Unabhängigkeit für das jeweilige Gebiet und für die dort lebenden Staatsangehörigen. Die Grenzen blieben unverändert, obwohl in Kroatien und im Kosovo auch Serben leben und dort in Teilgebieten die Mehrheit haben. Wenn die Staaten – auch und gerade diejenigen, die den neuen Staat anerkannten –, darauf bestanden, dass keine Grenzkorrekturen vorgenommen wurden, so lässt sich dies als Anwendung des uti possidetis-Prinzips auf eine sich von der Dekolonisierung im Übrigen wesentlich unterscheidende Selbstbestimmungssituation verstehen56.

___________ 53 Vgl. Dietrich Murswiek, Die völkerrechtliche Geltung eines „Rechts auf die Heimat“, in: Gornig/Murswiek (Hrsg.), Das Recht auf die Heimat, 2006, S. 17 ff. 54 Vgl. auch Weber (Fn. 2), S. 509. 55 Dazu z. B. Dieter Blumenwitz, Uti possidetis iuris – uti possidetis de facto. Die Grenze im modernen Völkerrecht, in: Dreier/Forkel/Laubenthal (Hrsg.): Raum und Recht. Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 377 ff.; Michael Weber, „Uti possidetis iuris“ als allgemeines Rechtsprinzip im Völkerrecht: Überlegungen zum Verhältnis von „uti possidetis“, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Effektivitätsprinzip, Jur. Diss. Göttingen 1999; Christiane Simmler, Das uti possidetis-Prinzip: Zur Grenzziehung zwischen neu entstandenen Staaten, 1999; jeweils m. w. N. 56 Ausführlich zur Staatenpraxis in Europa seit 1989 Simmler (Fn. 55), S. 215 ff.

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Bedeutet dies jetzt, dass Selbstbestimmungssubjekte somit nicht Völker im ethnischen Sinne, sondern nur die „Staatsvölker“ von Teilrepubliken oder anderen Gliederungen föderaler Staaten sein können? Ich möchte diese Frage klar verneinen. Aus systematischer Sicht ist ein Volk auch dann Subjekt des Selbstbestimmungsrechts und potentiell Subjekt des Sezessionsrechts, wenn es noch nicht über ein verfassungsrechtlich statuiertes Territorium und über innerstaatliche Regierungsorgane und Verwaltungskompetenzen verfügt57. Es hat möglicherweise einen Anspruch gegenüber seinem Staat, dass ihm ein solcher Status eingeräumt wird. Das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht kann aber grundsätzlich nicht davon abhängen, ob der Staat dem Volk Rechte gewährt oder nicht. Und in den konkreten Fällen waren die Gliedstaaten, die sich selbständig gemacht haben, ja keine zufälligen Verwaltungseinheiten, sondern sie waren – wie insbesondere Kroatien, aber auch das Kosovo – Einheiten, in denen Völker im ethnischen Sinne organisiert waren, die sich vom ethnischen Mehrheitsvolk des Gesamtstaates unterschieden. Es waren ethnische Konflikte zwischen dem gesamtstaatlichen Mehrheitsvolk und dem Mehrheitsvolk des Gliedstaates – konkret: zwischen Serben und Kroaten beziehungsweise zwischen Serben und Kosovo-Albanern –, die zu den Forderungen nach Selbstbestimmung und zur Sezession führten. Ohne das Streben der Kroaten oder der Kosovo-Albaner nach Bewahrung und Verwirklichung der ethnischen Identität wären die Sezessionsforderungen nicht plausibel gewesen und hätten sie keine politische Durchschlagskraft entfaltet. Das Vorhandensein eines verfassungsrechtlich bestimmten Territoriums und eigener Staatsorgane erleichtert freilich die Ausübung des Rechts auf Sezession, weil auf diese Weise das Subjekt des Rechts und das relevante Territorium klar bestimmbar sind und auch das Problem keine Schwierigkeiten bereitet, wie und durch wen das Volk sich artikulieren kann. Dies kann aber nicht bedeuten, dass nur ein bereits als innerstaatliche „Republik“ organisiertes Volk Subjekt eines Rechts auf Sezession sein kann. Wäre dies der Fall, dann würden viele Staaten in der Praxis den Völkern jede Autonomie vorenthalten, um die Gefahr auszuschließen, dass diese ein Sezessionsrecht geltend machen können58. Dieses Ergebnis würde der Idee des Selbstbestimmungsrechts diametral zuwiderlaufen. Das Umgekehrte ist richtig: Gerade ein Volk, das bereits als innerstaatliche „Republik“ organisiert ist, hat grundsätzlich kein Recht auf Sezession, nämlich dann nicht, wenn diese Gliedstaatlichkeit nicht nur auf dem Papier

___________ 57

Vgl. Murswiek (Fn. 8), S. 330 f.; ebenso Weber (Fn. 2), S. 501. Richard Falk, The Kosovo Advisory Opinion: Conflict Resolution and Precedent, AJIL 105 (2011), S. 50 (58), bezeichnet diese Konstellation als „Selbstbestimmung dritten Grades“. 58 Ebenfalls auf diese Problematik hinweisend Weber (Fn. 2), S. 508.

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steht, sondern echte Autonomie gewährleistet und dem Volk die Wahrung seiner Identität und seiner kulturellen Besonderheit ermöglicht59. Das uti possidetis-Prinzip in seiner Ausprägung als Anknüpfung an bestehende Staatsorganisationsstrukturen insbesondere innerhalb föderaler Staatswesen ist Ausdruck pragmatisch-politischer Erwägungen. Es dient der Vermeidung von Streit über das Subjekt der Selbstbestimmung und über den territorialen Gegenstand der Selbstbestimmung. Insofern hat es prinzipiell konfliktentschärfende und möglicherweise friedenswahrende Funktion. Freilich kann es auch Stoff für neue Konflikte in sich tragen, wenn es innerhalb des neu entstandenen Staates Siedlungsgebiete von Angehörigen anderer Ethnien, insbesondere von Angehörigen des bisherigen Mehrheitsvolkes gibt, die sich jetzt ihrerseits fremdbestimmt fühlen. Deshalb haben die Staaten bei der Neuorganisation des ehemaligen Jugoslawiens großen Wert darauf gelegt, dass die unabhängig gewordenen Staaten den auf ihrem Gebiet lebenden ethnischen Minderheiten effektiven Minderheitenschutz gewähren. Die EU-Staaten haben dies – wie erwähnt – sogar zur Voraussetzung der Anerkennung gemacht, obwohl einige von ihnen im eigenen Staat weit davon entfernt sind, den dort lebenden Minderheiten einen vergleichbaren Schutz zu gewähren. Insofern bestätigt die Entwicklung auf dem Balkan den engen Zusammenhang von Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenschutz, auf den ich in meinen systematischen Überlegungen schon hingewiesen habe. d) Die Erkenntnis, dass das Selbstbestimmungsrecht für Völker im ethnischen Sinne ein Recht auf innerstaatliche Autonomie zum Inhalt hat, wurde in meiner Konzeption systematisch aus dem allgemeinen Selbstbestimmungsprinzip abgeleitet. Die völkerrechtliche Praxis ist noch weit davon entfernt, das Selbstbestimmungsrecht, wie es in den UN-Menschenrechtspakten garantiert ist, in jeder Hinsicht zu verwirklichen. Aber nicht nur die Stärkung des Minderheitenschutzes im Zusammenhang mit der staatlichen Neustrukturierung des Balkans macht deutlich, dass auch in der Staatenpraxis die Selbstbestimmung der Völker innerhalb bestehender Staaten zunehmende Beachtung findet. Dies wird ganz besonders im Hinblick auf indigene Völker deutlich, die früher die Stiefkinder der Selbstbestimmungsdiskussion waren, aber jetzt verstärkte internationale Aufmerksamkeit finden. Mit nur vier Gegenstimmen – allerdings wichtiger Staaten – hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 13. September 2007 die Deklaration über die Rechte indigener Völker angenommen60. Diese Deklaration sichert den indigenen Völkern – bei Wahrung der territorialen Integrität der existierenden Staaten – ihr Selbstbestimmungsrecht ___________ 59 60

Vgl. auch Weber (Fn. 2), S. 508; Parameswaran (Fn. 30), S. 181. United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, GA-Res. 61/295.

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zu, das seinen Ausdruck vor allem in innerstaatlicher Autonomie findet (Art. 3 und 4)61. 5. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat die Selbstbestimmungsidee durch die staatliche Neuordnung Ost- und Mitteleuropas starken Auftrieb erhalten. Die von mir vertretene Konzeption der Unterscheidung von offensivem und defensivem Selbstbestimmungsrecht und Ausprägung des offensiven Selbstbestimmungsrechts in erster Linie als eines Rechts auf – nicht nur physische, sondern auch kulturelle – Existenz und darüber hinaus auf ein Mindestmaß an Autonomie und nur in zweiter Linie – bei Existenzbedrohung oder Autonomieverweigerung – auf Eigenstaatlichkeit hat jedenfalls in den Fällen Kroatien und Kosovo Bestätigung erfahren62. Freilich ist die Staatenpraxis immer noch uneinheitlich und inkonsistent. Aber indem sie in den umstrittensten Anwendungsfällen sich in das systematisch entwickelte Konzept der Völkerrechtstheorie fügt, gibt sie dem Konzept größeres Gewicht, als dieses es früher – als nur theoretisches Konstrukt – haben konnte.

Abstract The right of peoples to self-determination is not only guaranteed to peoples in the sense of nations (sum of all citizens of the respective state) but also to peoples in an ethnical sense. Seemingly, this results in a contradiction. In cases where there are various different subjects on the same territory, they cannot all have the right to determine the territorial status. However, the rights of nations and the rights of peoples in an ethnical sense are different by definition. The nation is the subject of the defensive right of self-determination, which is, first and foremost, a defensive right against alien domination and subjugation or aggression. It is insofar meant to preserve the territorial status quo and the population’s freedom within the existing boundaries. On the other hand, a people in an ethnical sense is the subject of the offensive right of self-determination. This right tends to bring about a change of the territorial status quo, for example by aiming at the secession of a people from the existing state and the foundation of their own state. Insofar it is in conflict with the principle of state sovereignty, especially with the principle of territorial integrity. This conflict must be solved in such a way that peoples in an ethnical sense, whose traditional settlement ___________ 61

Hier ausführlich René Kuppe, Indigene Völker und Selbstbestimmungsrecht, in diesem Band, S. 121 ff. m. w. N.; ältere Beiträge zum Thema „indigene Völker und Selbstbestimmungsrecht“ z.B. Gudmundur Alfredsson, The Right of Self-Determination and Indigenous Peoples, in: Christian Tomuschat (ed.), Modern Law of SelfDetermination, 1993, S. 41 ff.; Douglas Sanders, Self-Determination and Indigenous Peoples, ebd., S. 55 ff. 62 Für den Kosovofall im Ergebnis ebenso Weber (Fn. 2), S. 500 ff.

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area is on the territory of an existing state, should implement their selfdetermination within the boundaries of the existing state. The sovereignty of the state is opposed to the right of secession, and therefore limits the offensive right of self-determination; state sovereignty itself, however, is restricted by offensive self-determination to the extent that peoples in an ethnical sense have the right to conserve not only their physical but also their cultural existence, and moreover have the right to a minimum of cultural and political autonomy. If these rights are perpetually violated by the state, this can result in a right to secession – at least in cases where the respective people’s existence is at stake. This point of view has been tendencially confirmed by the developments in the Balkan states during the last two decades, especially the developments in Kosovo.

Indigene Völker und Selbstbestimmungsrecht Von René Kuppe

I. Einleitung Am 13. September 2007 wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Deklaration über die Rechte indigener Völker1 (United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, in der Folge manchmal UNDRIP) angenommen. Durch diesen Schritt, der von Organisationen indigener Völker teilweise ekstatisch gefeiert2, vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, als „Triumph der indigenen Völker weltweit“3 und von Menschenrechtsexperten als zumindest vorläufiges Ende einer langen Reise, als Meilenstein eines langen und beschwerlichen Marschs durch die Institutionen der Vereinten Nationen gepriesen wurde4, wurden die Rechte indigener Völker international außer Streit gestellt, bekräftigt, und detaillierter inhaltlich umschrieben. Erstmals verankerte die Staatengemeinschaft in einem Menschenrechtsinstrument hier auch ausdrücklich das Recht der indigenen Völker auf Selbstbestimmung. So heißt es in Art. 3, einer der zentralen und inzwischen am meisten kommentierten Stellen der UNDRIP: „Indigene Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ent-

___________ 1

GA Res. 61/295, 143 Staaten stimmten dafür, vier Staaten dagegen, 11 enthielten sich der Stimme. 2 Victoria Tauli-Corpuz, „How the Declaration on the Rights of indigenous Peoples Got adopted“, 13. Oktober 2007. Online unter: http://www.tebtebba.org/index.php/allresources/category/20-un-declaration-on-the-rights-of-indigenous-peoples, Zugriff 24. Juni 2011. 3 Statement attributable to the Spokesperson for the Secretary-General on the adoption of the Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, http://www.un.org/apps/ sg/sgstats.asp?nid=2733, Zugriff 12. Nov. 2011. 4 James Anaya und Siegfried Wiessner, The UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples: Towards re-Empowerment, in: The Jurist, Legal News & Research, 2007.

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wicklung.“5 Insgesamt können weltweit mindestens 5000 indigene Völker unterschieden werden6. Wurde durch die Annahme des Art. 3 der Deklaration die rechtliche Grundlage dafür geschaffen, dass diese 5000 Völker sich nun ihre eigenen Staaten schaffen können? Hans Joachim-Heintze spricht im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Selbstbestimmungsrecht der Völker – Herausforderung der Staatenwelt“7 das Vorherrschen einer derartigen, symptomatischen Betrachtungsweise der Norm des Selbstbestimmungsrechtes der Völker an: Wird dieses doch oftmals als Herausforderung für den Status quo der bestehenden Staatenwelt, oder – genauer gesagt – als Bedrohung der gegebenen politischen Geografie angesehen, als Anspruch also, der auf Veränderung oder Verschiebung von Staatsgrenzen oder auch auf die Bildung neuer Staaten zu Lasten des bereits bestehender, „alter“ Staatsgebiete hinausläuft. In der Folge soll untersucht werden, auf welchen völkerrechtlichen Hintergrund sich eine Sichtweise, die Selbstbestimmungsrecht mit der Herstellung staatlicher Selbständigkeit verknüpft, zu stützen glaubt; es wird gezeigt, wie die Verankerung des Selbstbestimmungsrechts als allgemeines Menschenrecht eine dynamische Sichtweise auf den Inhalt dieses Rechtes notwendig macht. Im Hauptteil der Arbeit wird untersucht, wie das Selbstbestimmungsrecht indigener Völker gemäß neuer völkerrechtlicher Entwicklungen durch Autonomie in eigenen und lokalen Angelegenheiten verwirklicht werden soll. Diese Regelungen sollen Raum schaffen für eine selbstbestimmte rechtliche, kulturelle und sozio-politische Entwicklung der Völker und lenken somit den Blick auf den prozeduralen Aspekt von Selbstbestimmung. Die in der Folge versuchte dogmatische Umschreibung des Selbstbestimmungsrechtes indigener Völker muss auch unter Bezugnahme auf die möglichen Eigenheiten indigener Selbstregierung erfolgen, was durch ein plakatives Beispiel deutlich gemacht wird. Autonomie in eigenen Angelegenheiten wird durch politische Partizipationsrechte in staatlichen Entscheidungen ergänzt, durch welche indigene Völker be___________ 5 Die deutschen Sprachversionen dieses UN-Textes werden hier und in der Folge übernommen von der Publikation: Rechte indigener Völker. Dokumentation der UNResolution 61/295 und des ILO-Übereinkommens 169, Blaue Reihe Nr. 106 (http://www.dgvn.de/fileadmin/user_upload/PUBLIKATIONEN/Blaue_Reihe/blaue_rei he_nr106.pdf), die von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen herausgebracht wird. Der (offizielle) englische Text der Deklaration (samt anderen offiziellen Sprachversionen) findet sich unter: http://www.un.org/esa/socdev/unpfii/en/ declaration.html. 6 International Work Group for Indigenous Affairs, „Indigenous Peoples. Who are they?“ http://www.iwgia.org/culture-and-identity/identification-of-indigenous-peoples (Zugriff 1. Juli 2011). 7 Dietz-Verlag, Bonn 1997, S. 7.

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troffen werden. Ein Blick auf die Schwierigkeiten bei der Erfassung dieser Rechte rundet die Arbeit ab.

II. Selbstbestimmungsrecht als Legitimationsgrundlage zur Bildung neuer souveräner Staaten Genährt wird ein rein etatistisches Verständnis von Selbstbestimmungsrecht einerseits durch die Ära der Entkolonisierung, in welcher bekanntlich, vor allem unter Berufung auf die Entkolonisierungsresolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 14. Dezember 19608, die weitaus meisten überseeischen Kolonialländer in Afrika, Asien und dem karibischen Raum ihre staatliche Unabhängigkeit beanspruchten und schließlich auch erlangten. Gemäß dem Wortlaut dieser Resolution wird die Unterwerfung von Völkern unter Fremdherrschaft als Verletzung der Menschenrechte und als in Widerspruch zur Förderung des Weltfriedens stehend bezeichnet (Art. 1), und ferner das „Recht aller Völker“ auf Selbstbestimmung bekräftigt9. Gleichzeitig zeigt jedoch der Titel der Resolution („Declaration on the granting of independence to colonial countries and peoples“), dass hier nur der spezifische und begrenzte Vorgang der Gewährung von Unabhängigkeit, also der Sezession überseeischer – durch Meereswasser vom „Mutterland“ getrennter Länder – angesprochen war. Dieser Vorgang der Entkolonisierung war schließlich im Großen und Ganzen um 1980 abgeschlossen. Doch nicht nur der politische Entkolonisierungsprozess10 lief auf Entstehung neuer souveräner Staaten hinaus: ___________ 8

G.A. Res. 1514 (XV) 1960. Selbstbestimmung der Völker war, im Gegensatz zur Satzung des Völkerbundes, bereits als Grundsatz in die UNO-Charta (1945) aufgenommen wurden, zu dessen Erreichung sich die Mitglieder dieser Organisation verpflichteten; gleichzeitig lag die Idee des Selbstbestimmungsrechtes aber zur Zeit der Verabschiedung der Entkolonisierungsresolution gewissermaßen „in der Luft“, hatte es doch bereits im Laufe der 1950er Jahre Eingang in die Redaktionsdebatten und Textentwürfe der späteren, allerdings erst 1976 in Kraft getretenen zwei Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen gefunden. Zur Redaktionsgeschichte des Pakts über zivile und politische Rechte siehe ausführlich: Manfred Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokoll, CCPR-Kommentar, Engel, Kehl/Rhein 1989. 10 Der hier verwendete qualifizierende Zusatz „politischer“ Dekolonisierungsprozess deutet den gerade in diesem Beitrag noch näher ausgeführten Gedanken an, dass Dekolonisierung nicht nur das Phänomen der Begründung neuer Souveränität (eben im Sinne politischer Dekolonisierung) meint, sondern Dekolonisierung, gerade rechtlich gesehen, einerseits auch das Phänomen des Abbaus wirtschaftlich-kolonialer Abhängigkeit unabhängiger Staaten meint (wirtschaftliche Dekolonisierung), und andererseits aber auch die Überwindung des internen Kolonialismus durch kulturelle und rechtliche Emanzipation mit dem Begriff der Dekolonisierung erfasst werden soll. Gerade diese letzte Di9

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Nach dem Ende des sozialistischen Staatenblocks wurde in Verbindung mit dem Zerfall der multiethnischen Föderationen Sowjetunion und Jugoslawien eine Art „Wiederaufleben“ des Selbstbestimmungsrechtes konstatiert, das punktuell auch auf einige andere, vormals sozialistische Staaten der Welt (Äthiopien/Eritrea) überschwappte. Wieder wurde dieses Recht zur Legitimation der Schaffung neuer Staaten herangezogen11. Hier waren es jedoch nicht Kolonialgebiete in Übersee, die sich vom Mutterland loslösten, sondern die Titularnationen einzelner Gliedstaaten betrieben, unter möglicher Beanspruchung der Bewahrung früherer staatsinterner politischer Grenzen, den Austritt aus dem föderalen Staatsverband. In beiden Fällen, bei der klassischen Entkolonisierung wie beim Zerfall multiethnischer Föderationen, wurde das Selbstbestimmungsrecht also mit der Umwandlung bestimmter bestehender politischer Territorialeinheiten (Überseekolonien, Teilstaaten von Föderationen) in neue souveräne Staaten in Verbindung gebracht. Auch eine entsprechende Staatenpraxis bestätigte diesen Eindruck: Im Gefolge der Entkolonisierung erkannten die Staaten nicht vorkoloniale – also kolonial unterdrückte – politische Strukturen oder ethnische Gruppen als Träger des Rechtes an, sondern territoriale Gebilde in den von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen. Beim Auseinanderfallen der Sowjetunion und Jugoslawiens wurde das Selbstbestimmungsrecht als Anspruch auf Unabhängigkeit „in den bisherigen inneren administrativen Grenzen, also den Republiksgrenzen, ausgelegt“12 und auch durch die Anerkennungspraxis von Seiten der meisten Staaten der Welt in diesem Sinne konsequent umgesetzt. Alternativen zur Anerkennung neuer Staaten, als mögliche Formen der Verwirklichung und Sicherung eines Selbstbestimmungsrechtes von Völkern multiethnischer Staatsverbände, wurden dagegen kaum in Betracht gezogen, die staatliche Unabhängigkeit bisheriger Gliedstaaten wurde in der Anerkennungspraxis sogar, worauf Jörg Fisch hinweist, „als so selbstverständlich betrachtet […], dass sie beinahe als obligatorisch erschien, selbst in Gebieten, die kaum entsprechende Forderungen angemeldet hatten, etwa in Mazedonien, Weißrussland oder Zentralasi___________ mension ist, wie noch zu zeigen sein wird, zentrale Grundlage für das Selbstbestimmungsrecht indigener Völker. 11 Siehe den Überblick in: Hurst Hannum, „Self-determination, Yugoslavia, and Europe: Old Wine in New Bottles?“ 3/1 Transnational Law & Contemporary Problems (1999) S. 57-69. Der Zerfall Jugoslawiens wurde von Seiten der Europäischen Union als „Auflösung“ (Dismembratio) und nicht als Folge von Sezession betrachtet, obwohl vor allem im Fall von Slowenien und Kroatien genau Letzteres passierte, wie der Autonomierechtsexperte Hurst Hannum betont (S. 62). 12 Jörg Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen, in: Peter Hilpold (Hg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Vom umstrittenen Prinzip zum vieldeutigen Recht? Reihe Völkerrecht, Europarecht, internationales Wirtschaftsrecht, Band 10, Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main 2009, S. 69.

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en“13. Entsprechend dieser Praxis wurde auch akademisch vielfach die Ansicht vertreten, dass „das Selbstbestimmungsrecht der Völker […] dem Wesen nach auf Schaffung und Erhalt eines Staates, einer umfassenden politisch-rechtlichen Selbstorganisation durch das betreffende Volk gerichtet“14 sei. Durch die Gleichsetzung von Selbstbestimmung mit staatlicher Eigenständigkeit kann die oben zitierte Verankerung eines Selbstbestimmungsrechtes für (mindestens 5000) indigene Völker in der Tat vor allem als Herausforderung, wenn nicht als Bedrohung für die Integrität bestehender Staaten gesehen werden. Erst eine nähere Auseinandersetzung mit Begründung, Entstehungsgeschichte und Inhalt des Selbstbestimmungsrechtes, auch aus Perspektive indigener Völker, erlaubt jedoch, die „staatsbezogene“ Debatte um das Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches ausschließlich auf das Thema politischer Unabhängigkeit konzentriert ist, in Frage zu stellen und dieses Recht in seiner menschenrechtlichen Funktion zu erfassen.

III. Selbstbestimmungsrecht als Menschenrecht 1. Selbstbestimmungsrecht in den UN-Menschenrechtspakten Im Art. 1 beider Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen15 heißt es gleichlautend: „(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. (2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, […] In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.“

Diese beiden zentralen Menschenrechtsinstrumente der Vereinten Nationen wurden in einer Ära nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitet, in welcher man davon ausging, dass jede Person frei und gleich sein sollte an Würde und Rechten und jeder Einzelne Anspruch auf alle Menschenrechte habe16. Es mag über___________ 13

Id. Manfred Mohr, Abgrenzung von Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenschutz, in: Hans Joachim-Heintze (Hg.), Selbstbestimmungsrecht der Völker – Herausforderung der Staatenwelt, S. 128. 15 Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, 16. Dezember 1966, 999 UNTS 171, in Kraft getreten 23. März 1976; Pakt über zivile und wirtschaftliche Rechte, 16. Dezember 1966, 999 UNTS 3, in Kraft getreten 3. Januar 1976. 16 Asbjørn Eide, The Indigenous Peoples, the Working Group on Indigenous Populations and the Adoption of the UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, in: Claire Charters & Rudolfo Stavenhagen (Hg.), Making the Declaration Work: The 14

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raschen, am Anfang von zwei zentralen Rechtsinstrumenten, durch welche individuelle Menschenrechte anerkannt und bekräftigt werden, ein kollektives Recht der Völker vorzufinden. Das Selbstbestimmungsrecht kann jedoch als Voraussetzung für die Verwirklichung aller anderen Menschenrechte angesehen werden17. Da den Staaten eine zentrale Rolle bei Anerkennung, Sicherung und Umsetzung der Menschenrechte zukommt, hängen diese letztlich davon ab, wie Staatlichkeit und Regierung ausgestaltet sind, unter denen die Menschen und Völker leben. Selbstbestimmung, als Menschenrecht verstanden, beruht somit auf der Grundidee, dass Menschen, sowohl als einzelne wie als Gruppen, Anspruch auf Kontrolle ihres eigenen Schicksals haben und dementsprechend unter öffentlichen Institutionen leben sollen, die zur Verwirklichung dieses Anspruchs ausgestaltet sind18. Das Selbstbestimmungsrecht ist aus diesem Grund nicht lediglich ein Recht, das isoliert vor oder neben den anderen Menschenrechten steht, sondern es ist mit diesen eng verbunden und muss bei Interpretation und Anwendung anderer Menschenrechte herangezogen werden 19. Diese Ansicht hat auch die Arbeit des für die Behandlung von Individualbeschwerden wegen behaupteter Verletzungen von Rechten aus dem Pakt über zivile und politische Rechte zuständigen Menschenrechtskomitees geprägt20. 2. Träger des Menschenrechts auf Selbstbestimmung In den Pakten (und einigen anderen wichtigen UNO-Instrumenten, in welchen Bezug auf die Selbstbestimmung genommen wird) ist jedoch weder genauer umschrieben, was unter Völkern zu verstehen ist, wer also als Träger des Selbstbestimmungsrechtes in Frage kommt, noch wie der Inhalt dieses Rechtes aussieht.

___________ United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, IWGIA, Copenhagen 2009, S. 34-35. 17 Russel Barsh, Indigenous peoples and the right to self-determination in international law, in: Barbara Hocking (Hg.), International Law and Aboriginal Human Rights, The Law Book Company, North Ride 1988, S. 69. 18 James Anaya, The Right of Indigenous Peoples to Self-Determination in the PostDeclaration Era, in: Claire Charters & Rudolfo Stavenhagen (Hg.), Making the Declaration Work: The United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, IWGIA, Kopenhagen 2009, S. 187. 19 Siehe dazu: Martin Scheinin, The Rights of an Individual and a People: Towards a Nordic Sámi Convention, in: Mattias Åhrén et al., The Nordic Sami Convention, International Human Rights, Self-Determination and other Central Provisions, Gáldu Čála, 3 Journal of Indigenous Rights (2007), S. 42, Fn. 10. 20 John Henriksen et al., The Saami People’s Right to Self-Determination, in: ibid. S. 59.

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Bei den Vorarbeiten zur späteren UNDRIP spielte deshalb der heftige Diskurs um diese beiden wichtigen Aspekte des Selbstbestimmungsrechtes eine große Rolle. Schon von Anfang an stellten die wichtigsten in diesem Prozess engagierten indigenen Organisationen darauf ab, dass in einem zukünftigen internationalen Instrument das Recht auf Selbstbestimmung für indigene Völker ausdrücklich verankert sein solle. So verabschiedete zum Beispiel der Weltrat der Eingeborenenvölker (World Council of Indigenous Peoples), die damals wohl wichtigste und am meisten impulsgebende international aktive Organisation indigener Völker, auf seiner Generalkonferenz im September 1984 in Panamá eine Erklärung von 17 Prinzipien über die Rechte indigener Völker, an deren Anfang als Prinzip 1 das Selbstbestimmungsrecht stand21. Diesem Anspruch lag der Gedanke zugrunde, dass sich das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 1 der beiden Menschenrechtspakte ableiten lasse und in nicht-diskriminierender Weise eben auch auf indigene Völker angewandt werden müsse 22. Die entscheidende Kernfrage, die sich zu einem – auch im rechtlich verstandenen Sinne – Selbstbestimmungsrecht indigener Völker stellte, betraf jedoch die Anwendbarkeit dieses Konzepts auf Gruppen, die nicht mit der (Gesamt-) Bevölkerung politischer Territorien zusammenfielen. Wie schon oben ausgeführt, war in der zentralen Phase der politischen Entkolonisierung nach dem zweiten Weltkrieg nicht nur die staatliche Unabhängigkeit als Inhalt des Selbstbestimmungsrechtes angesehen worden, sondern als Träger dieses Rechtes wurden vor dem Hintergrund der Entkolonisierungspraxis auch primär oder ausschließlich Völker verstanden, die mit der Gesamtheit der Bevölkerung nicht-unabhängiger Länder umschrieben waren. Für die Gleichsetzung des Begriffs Volk mit der Einwohnerschaft insbesondere eines Kolonialgebietes finden sich insbesondere in der Charta der Vereinten Nationen Anhaltspunkte. So heißt es in Art. 73 der Charta: „Mitglieder der Vereinten Nationen, welche die Verantwortung für die Verwaltung von Hoheitsgebieten haben oder übernehmen, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben, bekennen sich zu dem Grundsatz, dass die Interessen der Einwohner dieser Hoheitsgebiete Vorrang haben. […]“. In dieser Stelle bezieht sich also der Begriff „Völker“ ziemlich eindeutig auf die Einwohnerschaft politisch unselbständiger Kolonialgebiete, und zwar offenbar auf die Einwohnerschaft als Ganzes. Hier ___________ 21

UN Working Group on Indigenous Populations, Report of the Working Group on Indigenous Populations on its fourth session, Chairman/Rapporteur: Mrs. Erica-Irene A. Daes, UN Doc E/CN.4/Sub.2/1985/22 (27 August 1985), Annex III, 1 and 2. Die Prinzipienerklärung stellte in der Folge einen wichtigen Hintergrund und Ausgangspunkt für die spätere, „offizielle“ Arbeit am Entwurf der späteren UNDRIP dar, die im Jahre 1985 in der Working Group on Indigenous Populations, einem Expertenforum der UNO, aufgenommen wurde. 22 Vgl. die an Art. 1 der beiden Pakte vollständig angelehnte Wortwahl des Prinzips 1.

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mag auch eine der Grundlagen zu sehen sein, dass im Kontext der politischen Entkolonisierung die auf Unabhängigkeit hinauslaufende Selbstbestimmung auf die gesamte Bevölkerung der jeweiligen Territorialeinheiten abzielte. Diese in Bezug auf Träger eines möglichen Selbstbestimmungsrechtes formalisierte und eingeschränkte Praxis erklärt sich nicht nur aus pragmatisch-politischen Gründen – die Festlegung neu entstehender politischer Einheiten auf „alte“ Kolonialgrenzen sollte, wie immer wieder behauptet wird, unzählige Sezessionsbestrebungen und nationale Kleinkriege und Konflikte um neu festzulegende Grenzen verhindern23 – sondern hat ihre Wurzeln vor allem auch in kulturellen Vorurteilen und handfesten materiellen Interessen der neuen, „postkolonialen“ Eliten der neuen Staaten. „In den meisten entkolonisierten Staaten hielt die Gewalt gegen die indigene Bevölkerung innerhalb der neuen Grenzen an, im allgemeinen eine Bestätigung der Kolonialverwaltung und ihrer Teile- und Herrsch-Strategie“24. Die unabhängigen Staaten stützten sich auf repressive koloniale Gesetzgebung und militärische Macht und versuchten die Integration aller in ihrem Territorium lebenden Gruppen in eine oftmals künstlich definierte neue „Nationalkultur“ voranzutreiben, die der kanadische Indianer Henderson zutreffend als „nationale Diaspora-Kultur der Kolonisten“25 bezeichnet. Gleichzeitig wurde, bedingt durch die wirtschaftliche Abhängigkeit der „postkolonialen“ Staaten, der Druck auf Länder und natürliche Reichtümer der indigenen Völker laufend erhöht, wodurch vielfach auch die materiellen Grundlagen für deren wirtschaftliches und soziales Überleben in Frage gestellt wurden. Indigene Völker existierten also jetzt innerhalb der Grenzen von unabhängigen Staaten, waren selbst aber weder politisch, kulturell noch wirtschaftlich entkolonisiert. Um das Einfordern eines Selbstbestimmungsrechtes durch indigene Völker auch formaliter abwehren zu können, wurden diese Gruppen in den ersten Jahrzehnten nach Entstehen der Vereinten Nationen im Sprachgebrauch verschiedener internationaler Organisationen durchgängig als populations, also „Bevölkerungen“, bezeichnet. Im Besonderen beschäftigte sich schon in den 1950er ___________ 23

Stellvertretend für viele, die diese Ansicht vertreten, sei hier auf Jörg Fisch, „Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen“, S. 67, verwiesen. Fisch vertritt dort auch die Ansicht, dass es gerade das „Recht auf Entkolonisierung in den Kolonialgrenzen“ war, das dazu beitrug, die Entkolonisierung eingermaßen erfolgreich zu bewältigen (Id.). Die Frage muss jedoch aufgeworfen werden, ob ein Vorgang, durch den zumindest die Mehrheit der indigenen Völker der Welt gewaltsamen Prozessen des nation building unterstellt und auch in den unabhängigen Staaten einer zwangsweisen kulturellen Assimilierung und politischen Bevormundung unterworfen blieben, überhaupt als „erfolgreiche“ Entkolonisierung bezeichnet werden kann. 24 James (Sa’ke’j) Henderson, Indigenous Diplomacy and the Rights of Indigenous Peoples, Purich, Saskatoon 2008, S. 28. 25 Id., 27.

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Jahren die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) vor allem mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen indigener „Bevölkerungen in unabhängigen Ländern“, was schließlich sogar in ein 1957 verabschiedetes internationales Abkommen, das Übereinkommen 107 „über den Schutz und die Eingliederung eingeborener Bevölkerungsgruppen und anderer in Stämmen lebender oder stammesähnlicher Bevölkerungsgruppen in unabhängigen Ländern“26 mündete. Das Übereinkommen stellte nicht auf eine selbstbestimmte oder von eigenen Vorstellungen kontrollierte Zukunft dieser Gruppen ab, sondern sollte vor allem deren soziale Situation verbessern und zu diesem Zweck wirtschaftliche Integration fördern. Lange Zeit war es das einzige internationale Rechtsinstrument, das den Staaten zumindest bestimmte soziale Mindeststandards für den Umgang mit diesen Gruppen vorgab. Während das Übereinkommen 107 nicht von indigenen Völkern sprach und sich daraus also nicht unmittelbar Ansprüche dieser Gruppen auf Selbstbestimmungsrecht ableiten ließen, ergaben sich neue rechtliche Impulse, nachdem einige Länder, innerhalb deren Grenzen indigene Völker lebten, den Pakt über zivile und politische Rechte27 und in der Folge auch das 1. Zusatzprotokoll zu diesem Pakt28 ratifiziert hatten. Bekanntlich räumt Art. 1 dieses Zusatzprotokolls Einzelpersonen („individuals“) das Recht ein, internationale Beschwerden wegen behaupteter Verletzung von Rechten aus dem Pakt beim UN-Menschenrechtsausschuss29 einzubringen. Erlaubt dieses Verfahren nun indigenen Völkern die Möglichkeit, das Selbstbestimmungsrecht verfahrensmäßig geltend zu machen? Im Fall Ominayak Chief of the Lubicon Lake Band v. Canada30 hat der Stammesführer einer indianischen Band in der kanadischen Provinz Alberta die Verletzung des Rechts auf Selbstbestimmung und – unter Anlehnung an den Wortlaut von Art. 1 des Paktes – die Verletzung des Rechts auf freie Entscheidung über den politischen Status, auf freie Gestaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung und auf Verfügung über eigene natürliche Reichtümer als Folge der staatlichen Genehmigung von Öl- und Gasförderung auf dem traditionellen Gebiet der Band geltend gemacht. Dazu hat der Aus___________ 26

Siehe deutschen und englischen Text unter: http://www.ilo.org/ilolex/english/ index.htm. Das Übereinkommen ist am 2. Juni 1959 in Kraft getreten. 27 S. oben Fn. 15. 28 Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights, 999 U.N.T.S. 302, in Kraft getreten 23. März 1976. Text unter: http://www1.umn.edu/ humanrts/instree/ b4ccprp1.htm. 29 Der UN-Menschenrechtsausschuss (UN Human Rights Committee) ist ein durch den Pakt eingerichtetes Monitoring- und Beschwerdeorgan, das aus 18 Experten zusammengesetzt ist. 30 Communication No. 167/1984, UN Doc. Supp. No. 40 (A/45/40) at 1 (1990), online unter: http://www1.umn.edu/humanrts/undocs/session45/167-1984.htm.

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schuss die Meinung vertreten, dass der Beschwerdeführer als Einzelperson nicht die Verletzung eines Kollektivrechtes auf Selbstbestimmung (der Völker) geltend machen könne und somit gerade eine Beschwerde gegen Verletzung von Rechten aus Art. 1 nicht auf das Verfahren des Zusatzprotokolls gestützt werden könne. Die so getroffene, auf verfahrensrechtliche Gründe gestützte Zurückweisung der Beschwerde ist jedoch keine materiell-abweisende Entscheidung über die Geltung des Selbstbestimmungsrechtes auch für indigene Völker. Wenn es auch für den Beschwerdeführer im Fall Lubicon Lake Band letztlich eine bittere Lektion wurde, dass der Ausschuss nicht gewillt war, seine Zuständigkeit auf die Prüfung der Verletzung des Kollektivrechtes der Selbstbestimmung zu erstrecken, so enthalten die hier vorgelegen Ausführungen bemerkenswerte obiter dicta31, welchen zufolge dieses Recht und der damit verbundene Anspruch auf Verfügung über natürliche Reichtümer eine wesentliche Bedingung für Einhaltung und Förderung der individuellen Menschenrechte sei. Der Umstand, dass der Ausschuss eine derartige Bezugnahme zum konkreten Sachverhalt dieses Falles anstellte, zeigt, dass er die Relevanz des im Art. 1 umschriebenen Selbstbestimmungsrechtes grundsätzlich auch für indigene Völker nicht in Abrede stellt, auch wenn er unter dem Zusatzprotokoll lediglich über Beschwerden über individuelle Rechte unmittelbar entscheiden konnte. Des Weiteren wirft der Ausschuss den Gedanken auf, ob die vom Beschwerdeführer als Verstoß gegen die Rechte aus Art. 1 des Selbstbestimmungsrechtes gerügten Staatshandlungen als Verletzung von Individualrechten der Angehörigen der betreffenden indianischen Gruppe, insbesondere der Rechte aus Art. 2732, qualifiziert werden könnten. Der Ausschuss behält sich also die eigene rechtliche Beurteilung des angefochtenen Sachverhaltes vor, was an sich weiter nichts Ungewöhnliches bei der Vorgangsweise judizieller (und, wie hier, quasi-judizieller) Instanzen ist. Er praktiziert hier aber auch deutlich seinen An___________ 31 So auch Martin Scheinin, The Right to Self-Determination under the Covenant on Civil and Political Rights, in: Pekka Aikio and Martin Scheinin (Hg.), Operationalizing the Right of Indigenous Peoples to Self-Determination, Institute for Human Rights, Åbo Akademi University, Turku/Åbo 2000, S. 180, Fn. 4. 32 Siehe UN Doc. Supp. No. 40 (A/45/40) at 1 (1990), Para 32.2. Art. 27 des „Paktes über zivile und politische Rechte“, ist die einzige „Minderheitenschutzbestimmung“ dieses wichtigen Menschenrechtsinstruments, wobei die hier festgelegten Rechte vom Wortlaut her als individuelle Abwehrrechte ausformuliert sind: „In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen“. Als Träger der Minderheitenrechte sind hier also die individuellen Angehörigen der Minderheitengruppen festgelegt, wenn auch der Artikel so formuliert ist, dass darauf Bedacht zu nehmen ist, dass die Ausübung gewisser Minderheitenrechte nur gemeinsam mit anderen Angehörigen derselben Minderheitenkultur erfolgen kann.

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satz, dass die Aspekte und Dimensionen des Selbstbestimmungsrechtes, so wie dieses in Art. 1 verankert ist, zur inhaltlichen Interpretation und „Auffüllung“ der individualrechtlichen Artikel des Paktes herangezogen werden. Diese Vorgangsweise hat der Ausschuss auch in anderen Entscheidungen, in welchen es um Rechte indigener Völker ging, verfolgt und weiterentwickelt33. Gleichzeitig stellte das Beschwerdeverfahren zur Durchsetzung von Rechten aus dem Pakt kein adäquates Mittel dar, durch welches die inhaltlichen Konturen des Selbstbestimmungsrechtes in Hinblick auf seine Relevanz und sogar grundsätzliche Geltung für indigene Völker unmittelbar geklärt werden konnte. Verfahrensrechtlich nicht so eng und formalistisch gebunden wie bei der Entgegennahme der Individualbeschwerden, konnte der Ausschuss wie auch andere Vertragsorgane im System der Vereinten Nationen bei Bewertung der periodischen Berichte der Vertragsstaaten vorgehen. Henriksen, Scheinin und Åhrén weisen in einer genaueren Untersuchung nach34, dass diese internationalen Überwachungsorgane zumindest in jüngerer Zeit deutlich dazu übergegangen sind, von den Staaten Informationen zur Umsetzung von Art. 1 des Paktes in Hinblick auf innerhalb der Staaten lebende Völker, und insbesondere indigene Völker, einzufordern. Im General Comment des Ausschusses35 wird in diesem Sinn gerügt, dass nur wenige Staaten detaillierte Informationen zur Umsetzung von Art. 1 des Paktes übermitteln, obwohl die Berichtspflichten auch diesen Artikel umfassen. Manche Staaten würden überhaupt keine oder nur unzureichende Informationen zu Art. 1 vorlegen oder beschränken sich auf Hinweise aufs (allgemeine) Wahlrecht. Nach Ansicht des Ausschusses umfasse das Selbstbestimmungsrecht mehr als nur die Teilnahme an allgemeinen Wahlen, sondern schließe zumindest das Recht dieser Völker ein, in weitergehender Weise die eigene Entwicklung zu kontrollieren36. Gleichzeitig zeigt diese Überwachungspraxis, dass der Ausschuss gerade auch nicht mit dem „Staatsvolk“ zusammenfallende Gruppen als Träger des Selbstbestimmungsrechtes der Völker anerkennt. Diese nicht rein etatistische Deutung des Begriffes Volk im Art. 1 ist jedoch keineswegs so revolutionär, wie sie im ersten Moment erscheinen mag. Schon die unvoreingenommene Interpretation der beiden Menschenrechtspakte würde ein Ergebnis, dem zufolge „Völker“ – und somit tatsächliche oder potentielle ___________ 33

Siehe z. B. Apirana Mahuika et al. v. New Zealand (Communication No. 547/ 1993), U.N. Doc. CCPR/C/70/D/547/1993 (2000). 34 Siehe John Henriksen et al., The Saami People’s Right to Self-Determination, insbes. S. 61-75. 35 General Comment No. 12 (21), UN Doc. HRI /GEN/1/Rev.5. Online unter: http:// www1.umn.edu/humanrts/gencomm/hrcom12.htm. 36 John Henriksen et al., The Saami People’s Right to Self-Determination, S. 87.

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Träger des Selbstbestimmungsrechtes – lediglich die Gesamtbevölkerung eines Territoriums innerhalb international anerkannter Grenzen darstellen, wenig plausibel erscheinen lassen. Gemäß Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention37 sind internationale Verträge nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen Bedeutung ihrer Bestimmungen auszulegen. Im Sinne einer gewöhnlichen Wortbedeutung wäre die weitgehende oder gar ausschließliche Gleichsetzung des für den Art. 1 tragenden Begriffes „Volk“ mit „Territorialbevölkerung“ keineswegs eindeutig. Obwohl der Inhalt des Begriffes im allgemeinen Sprachgebrauch auch durch seine politische Instrumentalisierung hin zum Staatsvolk mitgeprägt wurde, stellt die Hauptbedeutung des Wortes im 20. Jahrhundert in den meisten europäischen Sprachen auf eine Gruppe von Personen ab, die auf gemeinsame, allgemein verstandene Abstammung zurückblicken, sich durch relativ homogene Sprache und/oder Kultur auszeichnen und die wohl auch eine gewisse demografische Konzentration und Größe aufweisen müssen, um nicht nur vorübergehenden Bestand als Gruppe zu haben. In Webster’s Dictionary der englischen Sprache wird in diesem Sinne ein Volk (people) definiert als „die Gesamtheit der Personen, die als Gemeinschaft oder andere Gruppe bestehen kraft gemeinsamer Kultur, Religion oder ähnlichem“38. Brockhaus definiert Volk als „eine durch gemeinsame Herkunft, Geschichte, Kultur und meist auch Sprache verbundene Gesamtheit von Menschen;“39 die gewöhnliche Wortbedeutung von „Volk“ stellt danach also nicht auf Gesamtbevölkerungen (bestehender) politischer Territorialgebilde, sondern auf Gruppen ab, die sich durch faktisch-kulturelle Merkmale und Identitätsbildungen auszeichnen, die freilich durch politische Entwicklungen mitgeprägt sein können. Da auch im allgemeinen Völkerrecht nach wie vor keine anderslautende verbindliche Definition des Begriffs Völker entwickelt worden ist, kommen als Träger des in Art. 1 der beiden Menschenrechtspakte verankerten Rechtes zumindest auch jene Gruppen in Frage, die nach allgemeiner Wortbedeutung als Völker wahrgenommen werden. ___________ 37

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, (Vienna Convention on the Law of Treaties) vom 22. Mai 1969, 1155 U.N.T.S. 331, in Kraft getreten 27. Januar 1980. 38 Webster’s Collegiate Dictionary (Random House ed., 1955), S. 1.000, zitiert nach: The Implementation of the Right to Self-determination as a Contribution to Conflict Prevention, Report of the International Conference of Experts Held in Barcelona from 21 to 27 November 1998, organised by the UNESCO Division of Human Rights Democracy and Peace and the UNESCO Centre of Catalonia, S. 10; Online unter: http:// www.unpo.org/downloads/THE%20IMPLEMENTATION%20OF%20THE%20RIGHT %20TO%20SELF.pdf. 39 Brockhaus Enzyklopädie, Band 19, 1974, S. 682.

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1989 wurde auf einem Expertenseminar der UNESCO zum Begriff der Rechte der Völker40 eine detailliertere Definition des Begriffs Volk erarbeitet, in welcher neben gemeinsamer kultureller und sprachlicher Homogenität und historischer Tradition auch auf eine territoriale Bindung und gemeinsames wirtschaftliches Leben abgestellt wurde. Die von dem prominenten australischen Juristen und früheren Höchstrichter Michael Kirby stammende Definition bezog weitere Elemente wie das Bewusstsein der Angehörigen, als Volk identifiziert zu werden, und das Vorhandensein eigener Institutionen zum Ausdruck dieser Identität in die Definition ein. Schließlich muss die Gruppe „eine gewisse Anzahl [von Personen] umfassen, die nicht groß zu sein braucht, aber zumindest mehr sein muss als eine bloße Ansammlung von Einzelindividuen innerhalb des Staates“41. Auch diese Expertendefinition stellt also nicht auf eine Bevölkerung politischer Territorialeinheiten ab, um als Träger des Anspruchs des Selbstbestimmungsrechts in Frage zu kommen. Zur deren Umschreibung werden vielmehr Merkmale, die im Allgemeinen bei externer Wahrnehmung von Gruppen als „Völker“ eine Rolle spielen, mit dem Kriterium des Bewusstseins um eigene Identität als Volk verbunden42. Gerade in Verbindung mit Debatten, die im Zuge der Redaktionsarbeiten zur UNDRIP um die Rechte indigener Völker geführt wurden, zeigt sich jedoch, dass die Klärung der Frage der Trägerschaft des Rechtes auf Selbstbestimmung nicht von den Aspekten seiner inhaltlichen Ausgestaltung gelöst werden kann.

IV. Das Selbstbestimmungsrecht in den Vorarbeiten der UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker Die Einforderung politischer Rechte von Seiten indigener Völker ist keineswegs neu. So wurde beispielsweise schon im Jahre 1961 als Ergebnis eines Workshops an der Universität Chicago 1961 von indigenen Aktivisten der Vereinigten Staaten eine Deklaration verabschiedet, in welcher „das inhärente Recht auf Selbstregierung“ eingefordert wurde43. Es mussten jedoch noch viele Jahre vergehen, bis Selbstregierung als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechtes angesehen wurde. Die 1982 eingerichtete „UN Arbeitsgruppe über indigene Bevölkerungen“, ein inzwischen nicht mehr bestehendes Expertengremium, das ___________ 40

In: The Implementation of the Right to Self-determination as a Contribution to Conflict Prevention. Report of the International Conference of Experts held in Barcelona from 21 to 27 November 1998, S. 10-11. 41 John Henriksen et al., The Saami People’s Right to Self-Determination, S. 65. 42 The Implementation of the Right to Self-determination (Fn. 40). 43 James Anaya, Indigenous Peoples in International Law, 2nd edition, Oxford University Press, Oxford 2004, S. 77.

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der damaligen Menschenrechtskommission untergeordnet war, begann 1985 mit der konkreten Arbeit an der Redaktion eines zukünftigen UN-Menschenrechtsinstruments über die Rechte indigener Völker44. Schon im gleichen Jahr wurden sieben Prinzipien über Rechte indigener Völker verabschiedet, die im zukünftigen Entwurf enthalten sein sollten45. Diese Prinzipien enthielten allerdings keine Referenz auf das Selbstbestimmungsrecht. In der Arbeitssitzung des Jahres 1987 wurden diese Prinzipien auf vierzehn erweitert, unter welchen sich nunmehr das Recht indigener Völker auf Identität befand. In dem zu jener Zeit immer stärker werdenden Aktivismus indigener Organisationen weltweit gewann das Selbstbestimmungsrecht eine besondere Bedeutung. Dank der „open-door“-Politik des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe besaßen während deren Sitzungen indigene Vertreter nicht nur das Rederecht, sondern auch die Möglichkeit, Arbeitspapiere einzubringen und den Experten konkrete inhaltliche Vorschläge zu unterbreiten46. So setzte auch in den Arbeitssitzungen eine Diskussion über eine mögliche Bezugnahme des zukünftigen Menschenrechtsinstrumentes auf das Selbstbestimmungsrecht ein. Selbst manche Angehörige der Arbeitsgruppe verknüpften das Selbstbestimmungsrecht jedoch mit der Emanzipation der Kolonialvölker und meinten, dass sich die Deklaration auf die Autonomierechte indigener Bevölkerungen innerhalb von Staaten beziehen sollte. Auf Grund der erarbeiteten Prinzipien und der Debatten erarbeitete EricaIrene Daes, Mitglied der Arbeitsgruppe, einen ersten Entwurf des Texts einer Deklaration, der die Grundlage für die Arbeitssitzung im Jahre 1988 darstellte47. Bemerkenswerterweise bezieht sich dieses Dokument erstmals mit der Verwendung des Begriffes „Völker“ auf die indigenen Gruppen. Indirekt wird mit der Verwendung dieses Begriffs der Anspruch auf Selbstbestimmungsrecht in den Raum gestellt; ausdrücklich erwähnt der Entwurf jedoch das „Kollektivrecht auf Autonomie“ in internen und lokalen Angelegenheiten, wobei explizit, aber nicht taxativ, Erziehung, Information, Kultur, Religion, Gesundheit, Un___________ 44 Gemäß UN ECOSOC Resolution 1982/34 kam der „Working Group on Indigenous Populations“ – neben der Beobachtung menschenrechtlicher Entwicklungen bezüglich indigener Bevölkerungen – die Aufgabe zu, auf die Entwicklung neuer Standards hinzuarbeiten. Siehe UN Doc E/RES/1982/34 (7. Mai 1982). Nach offiziellem Wortlaut war im Titel und im Mandat der Arbeitsgruppe von indigenen „Bevölkerungen“ die Rede. 45 Siehe Report of the Working Group on Indigenous Populations on its fourth session, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1985/22. 46 Asbjørn Eide, The Indigenous Peoples, the Working Group on Indigenous Populations and the Adoption of the Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, S. 36. 47 Universal Declaration on Indigenous Rights: A Set of Draft Preambular Paragraphs and Principles, in: UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1988/25 (1988).

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terkunft, soziale Wohlfahrt, traditionelle und andere wirtschaftliche Aktivitäten, Verwaltung von Ländereien und Ressourcen und – bemerkenswerterweise – die Erhebung interner Steuern zur Finanzierung dieser autonomen Funktionen angeführt werden. Gleichzeitig wird ein Entscheidungsrecht über die Struktur der autonomen Institutionen vorgesehen und Hand in Hand damit ein Recht auf Kontrolle der Mitgliedschaft in diesen Institutionen. Angehörige der Arbeitsgruppe bekräftigten, dass die indigenen Völker in der Tat „Völker“ seien, machten jedoch den Vorschlag, einen ausdrücklichen Vorbehalt in die zukünftige Deklaration einzubauen, wonach der Begriff „Völker“ keinen Anspruch auf Unabhängigkeit oder Sezession begründe48. So entstand die Idee einer einzufügenden Schutzklausel, ähnlich wie jener, die fast zur gleichen Zeit in den Text des 1989 verabschiedeten ILO-Übereinkommens 169 „über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“49 Eingang gefunden hatte. Dieses neue Übereinkommen, das im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation als Überarbeitung des oben erwähnten Übereinkommens 10750 zustande gekommen war, ging zwar grundsätzlich nicht mehr von der Zielsetzung der Integration der indigenen Völker aus. Dennoch ist das Selbstbestimmungsrecht in das Übereinkommen 169 nicht ausdrücklich eingegangen, verankert wurden hier jedoch wichtige soziale und wirtschaftliche Rechte und vor allem das Recht auf Festlegung eigener Prioritäten beim Entwicklungsprozess und jenes auf Konsultation durch repräsentative Institutionen. Insgesamt können diese Rechte als wichtige inhaltliche Teilkomponenten eines Selbstbestimmungsrechtes verstanden werden. Dieser Aspekt wird durch die durchgängige Verwendung des Begriffs „Völker“ für die hier geschützten Gruppen unterstrichen. Gleichzeitig enthält das Übereinkommen jedoch folgende Bestimmung: „Die Verwendung des Ausdrucks ‚Völker‘ in diesem Übereinkommen darf nicht so ausgelegt werden, als hätte er irgendwelche Auswirkungen hinsichtlich der Rechte, die nach dem Völkerrecht mit diesem Ausdruck verbunden sein können“ (Art. 1.3.). Im Zuge der Debatten und Verhandlungen um die UNDeklaration haben sich VertreterInnen und AktivistInnen indigener Völker durchwegs gegen den Einbau einer ähnlichen, als Beschränkung erachteten Bestimmung gewandt, und dies trotz des Umstandes, dass sie selbst gar keine Se___________ 48 Siehe Details zu diesem Diskurs: Catherine Iorns, Indigenous Peoples and SelfDetermination: Challenging State Sovereignty, 24 Case Western Reserve Journal of International Law (1992), insbes. S. 209 ff. 49 28 I.L.M. 1382 (1989). Siehe deutschen und englischen Text unter: http://www. ilo.org/ilolex/english/htm. 50 Siehe oben Fn. 26.

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zession oder Begründung eigenständiger neuer Staaten anstrebten. Zum einen wurde eine derartige Schutzklausel als diskriminierend empfunden: Es wurde argumentiert, dass durch eine derartige Klausel eine Kategorie von Völkern „zweiter Klasse“ geschaffen werden würde. Des Weiteren widersetzten sich indigene Vertreter einer Einschränkung des Selbstbestimmungsrechtes auf dessen so genannte „interne Dimension“, weil sie für sich bestimmte Möglichkeiten auf internationaler Ebene offen halten wollte, wie etwa die Teilnahme und Mitwirkung an internationalen Standard-Setting-Gremien und MonitoringOrganen, vor allem soweit diese Relevanz für ihre eigenen rechtlichen Positionen besitzen. Derartige Möglichkeiten wurden von ihnen als wesentlicher Ausdruck ihres Status als selbstbestimmte freie Völker angesehen. Die offenen Konfliktlinien zum Selbstbestimmungsrecht waren auch Ausdruck von gegensätzlichen Sichtweisen zur eigentlichen Funktion eines neuen internationalen Rechtsinstruments zu indigenen Völkern. Die meisten indigenen Vertreter teilten die Ansicht, dass es sich lediglich um die Bekräftigung inhärenter Rechte handle, also um Bestätigung von Rechten, die den indigenen Völkern auf Grund ihrer Eigenschaft als „Völker“ bereits zustünden, die aber bislang vielfach in Frage gestellt und in der Realität systematisch verletzt werden; im Sinne dieser Position handelt es sich bei der ausdrücklichen Verankerung des Selbstbestimmungsrechtes für indigene Völker lediglich um die Bekräftigung bereits ihnen zukommender und geltender Rechte. Auf der anderen Seite wurde von Seiten der meisten Staatenvertreter grundsätzlich die Ansicht vorgetragen, dass die Deklaration auf Festlegung neuer Rechte für indigene Gruppen hinauslaufen würde, weswegen sie Reserviertheit zum Ausdruck brachten, diesen etwas zuzugestehen, was lediglich den in Form von Staaten organisierten Völkern zustünde. Gemäß dieser Argumentationslinie stellen indigene Völker eine substantiell andere Form menschlicher Organisation als jene der Staaten dar; den Staaten komme das Recht auf Festlegung des Inhalts jener Rechte zu, die diesen Gruppen letztlich eingeräumt werden sollten. In den nachfolgenden Arbeitsgruppensitzungen gab es zwischen indigenen Organisationen und staatlichen Delegationen schon in Hinblick auf diese Grundsatzfragen zu Funktion und normativem Stellenwert der Deklaration keine Einstimmigkeit. Während viele indigene Organisationen auf dem Einschluss eines unbeschränkt formulierten Selbstbestimmungsrechtes bestanden und andere die Erweiterung des Vorschlages der Vorsitzenden Daes verlangten, drückten manche Staatendelegationen sogar ihren Vorbehalt gegenüber einem verbindlichen Rechtsanspruch auf Autonomie aus, da dieser in Gegensatz zum jeweils gelten-

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den staatsinternen politischen System stünde und somit nicht umgesetzt werden könne51. Ein wesentlicher Fortschritt konnte durch Interventionen von Prof. Danilo Türk, damals Arbeitsgruppenmitglied, erzielt werden52. Eine informelle „Redaktionsgruppe“, deren Vorsitz Türk führte, erarbeitete im Jahre 1990 einen Entwurfstext, der in Art. 1 lautete: „Die indigenen Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung, kraft dessen sie frei über ihren politischen Status entscheiden, ihre eigene wirtschaftliche, soziale, religiöse und kulturelle Entwicklung verfolgen und ihre eigenen Institutionen festlegen können“53. Keine weiteren Bestimmungen beschränkten in diesem Entwurf den Umfang dieser Rechte, er enthielt gleichzeitig aber auch Art. 24, der das Recht der indigenen Völker zum Ausdruck brachte, zu bestimmen, wer deren Angehöriger sein sollte, und der weiter die Pflicht der Staaten aussprach, diese Festlegung zu akzeptieren. Türks Vorschlag erhielt während der Arbeitsgruppensitzungen des Jahres 1991 starke Unterstützung von Seiten indigener VertreterInnen, traf aber auf Skepsis unter Staatendelegationen, die aus der Formulierung eine mögliche Bedrohung für die Integrität der Staaten herauszulesen glaubten: Würde das den indigenen Völkern zuerkannte Selbstbestimmungsrecht nicht einen Anspruch auf Sezession implizieren und somit die rechtliche Grundlage für die Destabilisierung der bestehenden Staaten liefern? Angesichts dieser konfliktiven Situation legte Türk in mehreren Ausführungen im Rahmen der Arbeitsgruppe den Unterschied zwischen der Bekräftigung eines rechtlichen Prinzips und den Formen von dessen realer Anwendung dar: nach seinen Darlegungen sei zwar das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes unteilbar, während dessen Anwendungsform jedoch unter verschiedenen äußeren Umständen unterschiedlich sein könne: Die Bestätigung des Selbstbestimmungsrechtes umschreibt weder endgültig die Gruppen, die als Träger des Selbstbestimmungsrechts in Frage kommen, noch bestimmt sie im Voraus, zu welchem konkreten Ergebnis dessen Anwendung im Interesse einer bestimmten Gruppe führe54. Die Ausführungen Türks beziehen sich auf einen Aspekt des Selbstbestimmungsrechtes, den dieses durchaus mit anderen Menschenrechten teilt: Menschenrechte dürfen nicht als unflexible Formalmechanismen verstanden werden. Wie andere Menschenrechte muss auch das Selbstbestimmungsrecht institutionell so ausgestattet sein, dass es Antworten auf die verschiedensten Szena___________ 51 Catherine Iorns, Indigenous Peoples and Self-Determination: Challenging State Sovereignty, S. 217. 52 Danilo Türk ist derzeit Staatspräsident der Republik Slowenien. 53 UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1990/42, Annex: Text of Paragraphs Provisionally Adopted by Drafting Group II, Paragraph 1. 54 Catherine Iorns (Fn. 51), S. 220.

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rien bietet, durch welche die durch dieses Recht geschützten Werte und Zielsetzungen bedroht werden. In diesem Sinne muss dieses Recht den als Völkern organisierten Gruppen genügend Platz bieten, um sich in Freiheit kontinuierlich und laufend selbständig entwickeln zu können55. Somit ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht notwendigerweise gleichzusetzen mit der Neubildung eines (voll souveränen) Staates, sondern es bezieht sich auf alle Regelungen und Rahmenbedingungen, die notwendig sein können, um dieser Zielsetzung – innerhalb oder wenn nötig außerhalb bestehender Staaten – entsprechen zu können. Vertreter indigener Völker wie auch akademische Experten unterstützten die Ansätze Türks. Die aus den USA stammende Professorin Maivân Lâm bezog sich auf die von Türk (in Anlehnung an Art. 1 der beiden Menschenrechtspakte) vorgeschlagene Formel; zufolge der Deutung von Lâm komme dem Begriff der Selbstbestimmung, wie er auch in den beiden UN-Menschenrechtspakten Verwendung findet, keine eindeutige inhaltliche Bedeutung zu. Aus diesen Rechtsquellen lasse sich nicht eindeutig ableiten, welcher Grad an Ausübung der Selbstbestimmung einer bestimmten Gruppe in einem Kontext zukomme. Lâm entwickelt ein Verständnis des Selbstbestimmungsrechts als dynamisches Beziehungsgeflecht der Völker zu den Staaten und verwirft gleichzeitig die Ansicht, der zufolge das Selbstbestimmungsrecht lediglich im Anspruch auf Herstellung eines neuen, gleichzeitig aber endgültigen politischen Status bestünde56. In der Sitzungsperiode des Jahres 1992 wurde dann von der Arbeitsgruppe eine Version des Entwurfs behandelt, in welchem sich der Diskurs der Experten niederschlug und das Selbstbestimmungsrecht mit dem Autonomierecht verbunden wurde; diese Beziehung fand ihren Ausdruck in den folgenden Worten: „Die indigenen Völker haben in Einklang mit dem internationalen Recht das Recht auf Selbstbestimmung, kraft dessen sie frei über ihren politischen Status und ihre [politischen] Institutionen entscheiden und frei ihre eigene wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung verfolgen können. Integraler Bestandteil dessen ist das Recht auf Autonomie und Selbstregierung“57. Der Einschluss des mit dem Autonomierecht verbundenen Anspruchs auf Selbstbestimmung war einer der wesentlichen Meilensteine in den Arbeiten an der zukünftigen Deklaration und öffnete den Weg für die Fertigstellung des ___________ 55

Siehe auch oben, Fn. 18, und zugehöriger Text. Lâm legte ihre Ansichten als akademische Beobachterin in Sitzungen der Working Group dar und ließ sie in spätere Publikationen einfließen, siehe z.B.: Maivân Lâm, Indigenous Hawaiians’ Options for Self-Determination Under U.S. and International Law, 8 Law & Anthropology (1996), S. 200-211. 57 Draft Declaration on the Rights of Indigenous Peoples. Arbeitsdokument, Art. 1, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1992/28. 56

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Entwurfs im Rahmen der Arbeitsgruppe. Diese beendete ihre Arbeit am Text im Sommer 1993. Diese Fertigstellung war zum einen vor allem dem geschickten diplomatischen und einsichtigen Agieren der langjährigen Vorsitzenden, Erica-Irene Daes, zu verdanken; gleichzeitig beruhte der Inhalt des Entwurfs auf dem Engagement zahlreicher indigener Experten und grassroots-Vertreter aus allen Teilen der Welt. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschenrechtsdokumenten der Vereinten Nationen entstammt dieses Dokument somit nicht der Sichtweise abgehobener Expertinnen und Experten, sondern wurde im Zuge der Verhandlungen in Genf unmittelbar und prägend von VertreterInnen der unmittelbar betroffenen und zu schützenden Bevölkerungsgruppen mitgestaltet. Der Endentwurf58 wurde der Sub-Commission on the Prevention of Discrimination and Protection of Minorites59 vorgelegt und am 28. Oktober 1994 von dieser unverändert verabschiedet. Der Entwurf enthält die folgenden Bestimmungen: „Art. 3: Indigene Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechtes entscheiden sie frei über ihren politischen Status und verfolgen frei ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“ „Art. 31: Indigene Völker, als konkrete Form der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechtes, haben das Recht auf Autonomie oder Selbstregierung in Fragen bezüglich ihrer inneren und lokalen Angelegenheiten, insbesondere der Kultur, der Religion, der Erziehung, des Informationswesens, den Kommunikationsmedien, der Gesundheit, der Unterkunft, der Beschäftigung, des Wohlfahrtswesens, den wirtschaftlichen Aktivitäten, der Verwaltung von Land und Ressourcen, der Umwelt und dem Zugang zu ihren Territorien von Personen, die nicht ihre Mitglieder sind, sowie den Mitteln, um diese autonomen Kompetenzbereiche finanzieren zu können.“

Der Entwurf enthält außerdem eine Präambelbestimmung, welche lautet: „[…] In Anerkennung, dass die Charta der Vereinten Nationen, der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und der Internationale Pakt über zivile und politische Rechte die grundsätzliche Bedeutung des Rechts aller Völker auf Selbstbestimmung bestätigen, kraft welches diese [Völker] frei ihren politischen Status bestimmen und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung verfolgen;“

und ebenso bestätigt der Entwurf in seinem Art. 1: „Indigene Völker haben das Recht auf vollen und wirksamen Genuss aller von der Charta der Vereinten Nationen, der Allgemeinen Menschenrechtserklärung und den internationalen Menschenrechtsnormen anerkannten Menschenrechten und Grundfreiheiten.“

___________ 58

U.N. Doc E/CN.4/Sub.2/1994/56; in: 34 I.L.M. (1995) 541. Die Sub-Commission war ein im Jahre 1947 von der UN-Menschenrechtskommission eingerichtetes Expertengremium, das innerhalb des Aufbaus der Vereinten Nationen der Working Group hierarchisch übergeordnet war. 59

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Aus den Zusammenhängen im Text dieses Entwurfes ist ersichtlich, dass das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Völker dasselbe Recht ist, das allen Völkern zusteht, es daher nicht als anderes oder besonderes Recht verstanden werden darf, obwohl es von vielen als lediglich so genanntes „internes Selbstbestimmungsrecht“ unterschieden und in diesem Sinne als Selbstbestimmungsrecht eingeschränkter Art abqualifiziert wurde. Art. 31 streicht den auf das Selbstbestimmungsrecht gestützten Anspruch der indigenen Völker auf Autonomie heraus, wodurch das Autonomierecht als Mindeststandard der politischen Rechte indigener Völker anerkannt wird. Nach der Annahme übersandte die Sub-Commission den Entwurf an die ihr hierarchisch übergeordnete Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Erwartet wurde die baldige Weiterleitung an die Generalversammlung zur endgültigen Annahme. Zur Überraschung vieler gab es aber Widerstände innerhalb dieses Gremiums, das ja im Gegensatz zu den bisher befassten untergeordneten Expertenforen ein politisches Organ darstellte: Die Kommission richtete ein neues Gremium ein, die Arbeitsgruppe über den Entwurf der Deklaration über die Rechte der indigenen Völker60, welche in den Folgejahren bis zum Jahre 2006 insgesamt 11 Mal tagen sollte. Im Zuge dieser Sitzungen traten abermals Konflikte um das Selbstbestimmungsrecht besonders in den Vordergrund. Es ist bemerkenswert, dass der Entwurf bis zum Ende des Bestehens der Menschenrechtskommission nicht verabschiedet werden konnte, dann aber – fast symbolträchtig – in der ersten Sitzung des neu eingerichteten Menschenrechtsrates61, im Juni 2006 mit 30 Stimmen, zwei Gegenstimmen (Russische Föderation und Kanada) und 12 Enthaltungen angenommen wurde62. Man muss dazu festhalten, dass Länder mit wichtigen und politisch aktiven indigenen Bevölkerungsteilen wie die USA, Australien oder Neuseeland zu jener Zeit nicht Mitglieder des Rates waren und daher an der Abstimmung nicht teilnahmen, dennoch aber ihre mangelnde Übereinstimmung mit dieser Entscheidung zum Ausdruck brachten63 und in der Folge gemeinsam mit Kanada eine Kampagne zur Beeinflussung der zukünftigen Entscheidung der Generalversammlung über ___________ 60 Open-ended inter-sessional Working Group on the draft declaration, eingerichtet durch Resolution 1995/32 der Menschenrechtskommission. 61 Der Menschenrechtsrat wurde durch Resolution A/Res/60/251 vom 3. April 2006 eingerichtet und ersetzt die MR-Kommission. Er ist nunmehr das Hauptorgan der Vereinten Nationen für alle Menschenrechtsangelegenheiten. 62 Human Rights Council, Resolution 2006/2, Text in: Report to the General Assembly on the First Session of the Human Rights Council, A/HRC/1/L.10. 63 Asbjørn Eide, The Indigenous Peoples, the Working Group on Indigenous Populations and the Adoption of the UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, S. 39.

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die Deklaration in die Wege leiteten. Unter anderem richtete sich die Kritik dieser Länder gegen das Selbstbestimmungsrecht, so wie dieses in Art. 3 des approbierten Entwurfes verankert war. Im Dezember 2006, gestützt auf eine Resolution, die durch Namibia im Namen der Gruppe der Afrikanischen Staaten vor dem Dritten Komitee der Generalversammlung eingebracht worden war, wurde über eine Vertagung der Entscheidung über die Deklaration entschieden. Neuerliche Debatten über die Abänderung des Deklarationstextes wurden vor allem vom Block der Staaten Afrikas, von Australien und Kanada angeregt und zu nutzen versucht, um eine Modifikation in den Text einzubringen, durch welche das Selbstbestimmungsrecht eingegrenzt werden sollte; dies trotz der Bestimmung in Art. 4, durch welche Autonomie oder Selbstregierung als konkrete Form der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes der indigenen Völker deklariert wurde64. Die afrikanischen Staaten schlugen eine weit reichende Änderung des Art. 3 vor, durch welche die Worte „Recht auf Selbstbestimmung“ durch die Formel „Recht auf das Mitwirken in politischen Angelegenheiten der Staaten“ ersetzt werden sollten65. Im Gefolge dieser dramatischen Infragestellung des ganzen Projekts der Deklaration fanden im Sommer 2007 in New York intensive Verhandlungen auf diplomatischer Ebene unter dem Vorsitz des Botschafters der Philippinen vor den Vereinten Nationen, Hilario Davide, statt. So kam es zu einer Annäherung zwischen den Positionen des afrikanischen Blocks und jenen Staaten, die unter Führung Mexikos die Deklaration rasch zur Annahme bringen wollten. Allmählich wurde deutlich, dass die afrikanischen Staaten die Formel des Art. 3 akzeptierten, sofern an geeigneter Stelle der Deklaration eine Schutzklausel die territoriale Integrität der Staaten garantieren würde. So wurde schließlich ein Weg gefunden, der zu Übereinstimmung unter den Staatengruppen führte und der in der Einbringung von insgesamt neun Abänderungen in jenen Text führte, wie er vom Menschenrechtsrat im Juni 2006 angenommen worden war66. Viele dieser Abänderungen waren auch das Ergebnis von Konsultationen mit indigenen Organisationen. Unter anderem betraf eine der Änderungen den Präambelparagrafen 16, in dem „die grundlegende Bedeutung des Rechts aller Völker auf Selbstbestimmung“ bekräftigt wird: Hier wurde ein Verweis auf die

___________ 64 Die früher im Art. 31 stehende Bestimmung zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes durch Autonomie oder Selbstregierung stand in der im Jahre 2006 vom Menschenrechtsrat angenommene Version in Art. 4. 65 Albert Barume, Responding to the Concerns of the African States, in: Claire Charters & Rudolfo Stavenhagen (Hg.), Making the Declaration Work: The United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, IWGIA, Copenhagen 2009, S. 172. 66 Siehe im Detail: Id., S. 179.

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„Erklärung und das Aktionsprogramm von Wien“67 neu eingefügt. Diese Wiener Erklärung garantiert, in ihrem Art. 2.3: „[…] die territoriale Integrität und politische Einheit der souveränen und unabhängigen Staaten sofern sich diese in Einklang mit der Gleichheit der Rechte und der Selbstbestimmung der Völker verhalten und die daher mit einer Regierung ausgestattet sind welche, ohne irgend eine Diskriminierung, die Gesamtheit des zum Territorium gehörenden Volkes repräsentiert.“

Die auffälligste Änderung im Text des Instrumentes war jedoch eine Erweiterung des Art. 46, der bisher gelautet hatte: „1. Diese Erklärung darf nicht so ausgelegt werden, als begründe sie für einen Staat, ein Volk, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die gegen die Charta der Vereinten Nationen verstößt“.

Diese Bestimmung wurde nun durch den Zusatz erweitert: „[…] oder so verstanden werden, als ermächtige oder ermutige sie zu Maßnahmen, welche die territoriale Unversehrtheit oder politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten ganz oder teilweise zerstören oder beeinträchtigen würden.“

Diese neue Schutzklausel wiederholt und bekräftigt das schon in der UNCharta festgelegte Schutzgut der territorialen Unversehrtheit der Staaten, macht aber keinen Hinweis bezüglich der Verknüpfung dieser Integritätsgarantie mit der Verpflichtung der Staaten, ihrerseits die Gleichheit der Rechte und die Repräsentativität ihrer Regierungen sicherzustellen, so wie diese in der Wiener Erklärung angesprochen ist. Dies kann als expliziter Ausschluss eines Sezessionsrechtes verstanden werden, zumindest soweit sich dieses auf die Deklaration stützen könnte. Die Relevanz sonstiger möglicher völkerrechtlicher Grundlagen für ein Sezessionsrecht, insbesondere die in diesem Zusammenhang immer wieder geltend gemachte Friendly Relations Declaration, ist durch Art. 46 freilich nicht betroffen68. ___________ 67 A/CONF.157/24 (Part I), Kap. III. Diese Dokumente sind das Ergebnis der Weltkonferenz der Vereinten Nationen über die Menschenrechte vom 14. bis zum 25. Juni 1993 in Wien. 68 „Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation Among States in Accordance with the Charter of the United Nations“. UNGA Res. 2625 (XXV); UN Doc. A/8028 (1971). Gemäß des Wortlauts dieser Deklaration, an welchen sich der bereits zitierte Art. 2.3. der „Wiener Erklärung“ eng anlehnt, kann das Prinzip der territorialen Unversehrtheit und politischen Einheit des Staaten nicht absolut und unter allen Umständen von den Staaten geltend gemacht werden; es setzt vielmehr als fundamentale Bedingung voraus, dass diese Staaten in Einklang mit dem Prinzip der Gleichheit der Rechte und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker agieren. Siehe dazu auch: Adelfo Regino Montes & Gustavo Torres Cisneros, The United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples: the Foundation of a New Relationship between Indigenous Peoples, States and Societies, in: Claire Charters &

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Der Text der Deklaration, der somit diese aufgezeigten Änderungen enthielt, wurde schließlich in der Generalversammlung mit 143 Stimmen, bei vier Gegenstimmen von den Staaten USA, Kanada, Australien und Neuseeland, angenommen. Es ist letztlich erwähnenswert, dass sich kein einziger afrikanischer Staat gegen die Annahme aussprach, 15 jedoch an dem Verfahren nicht mitwirkten. Die für unser Thema zentralen Bestimmungen lauten jetzt: Art. 3: „Indigene Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“

Art. 4 „Bei der Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung haben indigene Völker das Recht auf Autonomie oder Selbstverwaltung in Fragen, die ihre inneren und lokalen Angelegenheiten betreffen, sowie das Recht, über die Mittel zur Finanzierung ihrer autonomen Aufgaben zu verfügen“.

V. Deutung des Selbstbestimmungsrechtes der Deklaration über die Rechte indigener Völker 1. Selbstbestimmungsrecht als Recht indigener Völker Wie weiter oben dargelegt wurde, lag den Redaktionsarbeiten an der UNDRIP eine dynamische Sichtweise auf den Inhalt des Selbstbestimmungsrechtes zugrunde. Sowohl die unmittelbar zur Redaktion berufenen Angehörigen der UN-Arbeitsgruppe wie auch akademische ExpertInnen, von denen wichtige Impulse für die Redaktionsarbeit ausgingen, waren nicht von einem konkreten Inhalt dieses Rechtes ausgegangen und hatten insbesondere die Gleichsetzung des Selbstbestimmungsrechtes mit der Herstellung eines souveränen Staates in Frage gestellt. Auch aus den rechtlichen Grundlagen, von welchen im internationalen Rahmen das Selbstbestimmungsrecht der Völker ableitbar ist, kann kein eindeutiger Inhalt dieses Rechtes herausgelesen werden. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes, als von beiden UN-Menschenrechtspakten verankertes Menschenrecht, inhaltlich jeweils zu den konkreten Anforderungen und Bedürfnissen der Völker und ihrer Angehörigen in Bezug gesetzt werden muss. ___________ Rudolfo Stavenhagen (Hg.), Making the Declaration Work: The United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, IWGIA, Copenhagen 2009, S. 151.

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Der Inhalt der Deklaration über die Rechte indigener Völker orientiert sich nun durchgängig am besonderen realen soziopolitischen Kontext, der die menschenrechtlich problematische Situation indigener Völker prägt. Ganz allgemein kann gesagt werden, dass die Rechte indigener Völker mehrere parallele Zielsetzungen verfolgen und sich somit durch eine gewisse Mehrdimensionalität auszeichnen69. –

Zum Zwecke der Überwindung der kolonialen Situation, in welcher indigene Völker nach wie vor leben, muss die UNDRIP (und andere rechtliche Ansätze zum Schutze der indigenen Völker) in ihrer Entkolonisierungsfunktion (besonders zur Überwindung des innerhalb souveräner Staaten bestehenden Neokolonialismus) verstanden werden;



Indigene Rechte dienen zweitens dem Schutz und der Sicherung der – selbst gewollten – kulturellen Besonderheiten indigener Völker; in diesem Sinne sind indigene Rechte ähnlich wie die Rechte zum Schutz der Ausübung der Kultur durch (Angehörige von) Minderheiten;



Schließlich sollen indigene Rechte der Überwindung von Diskriminierung dienen, sind also eine besondere Form der Anwendung des materiellen Gleichheitsgrundsatzes.

Ein wichtiger Aspekt, der die Situation indigener Völker prägt und davon abgeleitet das Verständnis um deren Rechte bestimmen sollte, begründet sich durch den Umstand, dass diese vielfach eigene politische und juristische Institutionen, Regierungs- und Verwaltungssysteme und Mechanismen öffentlicher Konfliktlösung und sozialer Kontrolle bewahrt und eigenständig weiterentwickelt haben. Dieser wichtige Aspekt institutioneller Eigenständigkeit unterscheidet indigene Völker ganz wesentlich von klassischen Trägern des Minderheitenschutzes, insbesondere jenen im europäischen Raum, welche jedoch historisch den konzeptuellen Ausgangspunkt und Bezugsrahmen für die internationale Entwicklung des Minderheitenschutzes, besonders auch im Rahmen des Paktes über zivile und politische Rechte70, darstellten. Der Minderheitenschutz zielt vor allem auf die Sicherung der Ausübung der Minderheitenkultur ab, dies jedoch vor dem Hintergrund und im Rahmen der allgemeinen staatlichen Institutionen. Die zentrale historische Erfahrung indigener Völker war deren Konfrontation mit dem expandierenden kolonialen und postkolonialen Etatismus, mit der Expansion und Neuerrichtung „kolonialstaatlicher“ Strukturen und Institutionen, die ihrer eigenen Institutionalität übergestülpt wurden. Die Errich___________ 69 Siehe Näheres dazu: René Kuppe, The Three Dimensions of the Rights of Indigenous Peoples, 11 International Community Law Review (2009), S. 103-118. 70 Vgl. oben vor allem Fn. 32. Näheres zur Entstehung und Ausgestaltung des Minderheitenschutzes siehe: Sarah Pritchard, Der völkerrechtliche Minderheitenschutz, Historische und neuere Entwicklungen, Duncker & Humblot, Berlin 2001.

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tung der Nationalstaaten – und deren kolonialer, historischer Vorläufer – bewirkte nicht nur einen Prozess individueller Diskriminierung, sondern institutioneller Repression und Ausgrenzung. Nichtsdestoweniger haben indigene Völker charakteristischerweise unter der vielfach fiktiven Fassade des kolonialeuropäischen Rechtes ihre eigenen Normen und Institutionen zur Gestaltung des eigenen Lebens bewahren können. Schon UN-Sonderberichterstatter Martinez Cobo hat in seiner berühmten Studie zur Situation der indigenen Völker auf die Relevanz hingewiesen, die der Bewahrung der eigenen Institutionen für die Identität indigener Völker zukommt. Danach sind diese „Sektoren, die gegenwärtig in der Gesellschaft nicht dominant sind […] und die den Wunsch hegen, ihre Territorien und ihre ethnische Identität als Grundlage für ihre fortgesetzte Existenz als Völker zu bewahren, zu entwickeln und an zukünftige Generationen weiterzugeben, und dies in Einklang mit ihren eigenen kulturellen Mustern, sozialen Institutionen und rechtlichen Systemen“71. Die Entwicklung der Deklaration über die Rechte indigener Völker entsprach diesem Gesichtspunkt der Anerkennung der Institutionen der indigenen Völker. Ausdrücklich heißt es in Art. 5: „Indigene Völker haben das Recht, ihre eigenen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen zu bewahren und zu stärken, während sie gleichzeitig das Recht behalten, uneingeschränkt am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben des Staates teilzunehmen, sofern sie dies wünschen.“

Dieser Gesichtspunkt hat wesentliche Konsequenzen für die Deutung jenes Rechtes, welches von der UNDRIP selbst als wichtigstes Vehikel für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes vorgesehen ist, nämlich die Autonomie oder Selbstverwaltung in inneren oder lokalen Angelegenheiten72. 2. Generelles Autonomiekonzept? Zum Schlüsselbegriff für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes indigener Völker wird im Rahmen der UNDRIP die Autonomie. In der Folge sollen einige grundsätzliche Überlegungen zum Inhalt und zur Bedeutung des Autonomiebegriffes angestellt werden. Der finnische Autonomierechtsexperte Lauri Hannikainen weist darauf hin, dass in der Rechtssprache Autonomie und Selbstregierung im Allgemeinen als Synonyma Verwendung finden. Demzufolge könne der Träger von Autonomierechten ein gewisses Ausmaß an Selbstregierung ausüben. Diese Konkordanz ___________ 71 Martinez Cobo, Study of the problem of discrimination against indigenous populations: conclusions, proposals and recommendations, E/CN.4/Sub.2/1986/7/Add.4. 72 Siehe (oben zitierten) Art. 4 der Deklaration.

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der beiden Begriffe erklärt auch deren Verwendung in Artikel 4 des Deklarationstextes73. Autonomie kann definiert werden als „Mechanismus, der ethnischen oder anderen Gruppen, die eine eigene Identität beanspruchen, ermöglichen soll, direkte Kontrolle über für sie relevante Angelegenheiten auszuüben und gleichzeitig der höheren Einheit erlaubt, Kontrolle über Angelegenheiten im gemeinsamen Interesse zu bewahren74.“ Die meisten Autoren sind sich darin einig, dass der Begriff Autonomie für eine Vielzahl verschiedenartiger institutionell-juristischer Regelungen verwendet wird. Im Allgemeinen werden Autonomieregelungen verabschiedet, um innerhalb eines Staates besonderen kulturellen, linguistischen, regionalen oder historisch gewachsenen soziokulturellen Gegebenheiten entsprechen zu können. Bekanntlich wurden derartige Regelungen im modernen Sinne vor allem in der Völkerbundzeit in mittel- und osteuropäischen Staaten eingeführt, um den Bestand größerer kultureller oder sprachlicher Minderheiten innerhalb der damals bestehenden oder neu gegründeten Nationalstaaten sichern zu können. Die Autonomieregelungen sollten vor allem auch eine stabilisierende und friedenssichernde Funktion haben – Sezessionen verhindern und/oder internationale Konflikte vermeiden helfen. Die Autonomieregimes der damaligen Zeit waren jedoch nicht Ausdruck oder Umsetzung einer geltenden völkerrechtlichen Norm, sondern wurden in selektiver und primär politisch motivierter Weise eingerichtet. Autonomie wurde niemals zu Lasten der Siegermächte des Ersten Weltkriegs eingeführt, und eben so wenig kam Autonomie als Schutz von ethnischen Gruppen oder Minderheiten in den damaligen Kolonialgebieten in Betracht. Autonomie war somit kein Teil des universellen Völkerrechts und im Besonderen auch kein allgemeiner Standard des (damaligen) Systems des Minderheitenschutzes75. ___________ 73 Lauri Hannikainen, Self-determination and Autonomy in International Law, in: Markku Suksi (Hg.), Autonomy, Applications and Implications, Kluwer, Den Haag/ London/Boston 1998, S. 79. 74 Yash Ghai, Ethnicity and Autonomy: A Framework for Analysis, in: Yash Ghai (Hg.), Autonomy and Ethnicity, Negotiating Competing Claims in Multi-Ethnic States, Cambridge University Press, Cambridge 2000, S. 8. 75 Minderheitenschutz als Ganzes kann allerdings als Teil der nach dem Ersten Weltkrieg verstandenen neuen, zumindest in Europa geltenden, völkerrechtlichen Friedensordnung angesehen werden. Eine völkerrechtliche Verantwortung für den Minderheitenschutz kann als Bestandteil des damaligen allgemeinen (europäischen) Völkerrechtes angesehen werden. Selbst Staaten, die nicht unmittelbar vertraglich zu bestimmten Minderheitenschutzregeln verpflichtet werden, hatten den Minderheitenschutz als völkerrechtliche Angelegenheit zu achten. Siehe dazu Sarah Pritchard, Der völkerrechtliche Minderheitenschutz, S. 108. Der allgemeine Charakter des Minderheitenschutzes gab

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In der früheren Ära der Vereinten Nationen entwickelte sich nur zögerlich ein allgemeiner Minderheitenschutzstandard, der seinen zentralen Ausdruck schließlich im mehrfach erwähnten Art. 27 des Pakts über zivile und politische Rechte fand. Dieser ab 1976 endgültig geltende Schutzstandard ist jedoch primär als Individualrecht konzipiert. In seinem Kern beschränkt er sich auf die Garantie der Ausübung der (Minderheiten-)Kultur. Zumindest ausdrücklich findet sich keine Referenz auf mögliche Funktionen von Selbstregierung oder Autonomie im Interesse der Minderheitengruppe. Gleichzeitig spielen Autonomieregelungen in vielen Fällen des Minderheitenschutzes eine wichtige Rolle, brisante Konfliktsituationen um Minderheitenfragen sind sogar durch neuere Autonomieregelungen für alle Beteiligten relativ befriedigend gelöst worden, siehe z. B. die Beispiele Südtirol oder Baskenland in Spanien. Diese Autonomieregelungen sind jedoch, ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit, primär als Einzelfalllösungen anzusehen. Sie unterscheiden sich inhaltlich teilweise erheblich voneinander. Vor allem aber besteht nach wie vor im internationalen Recht, insbesondere auch im internationalen Menschenrechtssystem, keine Verpflichtung, Autonomierechte grundsätzlich für Minderheitengruppen innerhalb eines Staates einzuräumen oder zu gewähren76. Angesichts der internationalen Normen, aber auch der relevanten Staatenpraxis „wäre es vorschnell, von einem allgemeinen Recht auf Autonomie für territorial konzentrierte Minderheiten zu sprechen“77. Nur dort, wo zum Beispiel durch bilaterale Verträge bestimmte entsprechende Schutzregelungen vorgesehen sind, genießen ethnische Minderheiten einen international gesicherten Autonomieanspruch. Aus demselben Grund gibt es auch keine allgemeinen internationalen normativen Standards für die inhaltliche Ausgestaltung politischer Autonomieregelungen. Man wird jedoch davon ausgehen können, dass diese dort, wo sie zur Sicherung der Eigenständigkeit von kulturell-ethnischen, sprachlichen oder (auch) religiösen Besonderheiten einer Minderheitengruppe dienen sollen, den Zielsetzungen des Art. 27 (und allenfalls anderer internationaler Abkommen zur Sicherung von Minderheitenrechten) nicht widersprechen dürfen, also beispielsweise nicht eingerichtet werden dürfen, um die Ausübung der kulturellen Besonderheiten einer Minderheit gezielt zu beschränken. Der Inhalt des Begriffs Autonomie kann lediglich deskriptiv-rechtsvergleichend festgestellt werden. In diesem Sinne haben beispielsweise Hannum & ___________ aber keine bestimmte inhaltliche Ausgestaltung des Minderheitenschutzes vor, insbesondere waren keine Autonomieregelungen allgemein im Interesse von ethnischen Minderheiten vorgesehen. 76 Lauri Hannikainen, Self-determination and Autonomy in International Law, S. 87. 77 Marc Weller, Towards a general comment on self-determination and autonomy, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/AC.5/2005/WP.5 (2005), 15.

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Lillich 198078 eine Analyse von Minderheitenregelungen in allen Teilen der Welt vorgelegt, aus welcher sie bestimmte charakteristische Merkmale ableiten, die es erlauben sollen, in Bezug auf bestimmte Territorialregelungen innerhalb eines Staates von „voller“ Autonomie zu sprechen: Der Studie zufolge verfügen Autonomieregimes beispielsweise über eigene gesetzgebende Gremien, deren Verfahrensweisen vom Gesamtstaat nur grundsätzlich geregelt sind und deren Zuständigkeitsbereich im Allgemeinen lokale Angelegenheiten, einschließlich der Regelung lokaler Selbstregierung, umfasst. Das gesetzgebende Gremium darf bezüglich seiner Entscheidungen keinen weiteren Zustimmungs- oder Vetorechten von Seiten des Gesamtstaates unterliegen, kann jedoch einer allgemein-verfassungs- und grundrechtlichen Kontrolle, etwa durch einen Verfassungsgerichtshof, unterliegen. Des Weiteren müssen eigenständige administrative und judizielle Funktionen der autonomen Einheit bestehen, welche primär die regionalen Gesetze und Regelungen anwenden. An die Autonomieinstanzen kann die Vollziehung des allgemeinen staatlichen Rechtes innerhalb der geografischen Autonomiezone als übertragener Wirkungsbereich delegiert sein. Nach Hannum und Lillich ist der Umstand, dass die vom Zentralstaat als Angelegenheiten des nationalen Interesses betrachteten Angelegenheiten nicht in den Wirkungsbereich der Autonomieinstanzen gelegt werden (wie etwa Außenpolitik, allgemeines Zivil- und Strafrecht), kein Grund, um derartige Regelungen nicht als volle Autonomie einstufen zu können. Um volle Autonomie identifizieren zu können, stellt auch Hannikainen79 einen Kriterienkatalog von notwendigen Elementen auf, der sich mit jenem von Hannum und Lillich fast vollständig deckt. Ihm zufolge müssen aber noch einige weitere Merkmale erfüllt werden: In Fällen, in denen sich die in der Autonomieregion gesprochene Sprache von jener des Gesamtstaates unterscheidet, sollte dieser offizieller Status im Autonomiegebiet zukommen; die autonome Einheit sollte an – zumindest wichtigen – Entscheidungen des Gesamtstaates, die sie besonders betreffen, mitwirken können: Schließlich verlangt Hannikainen, dass der Status der Autonomiezone innerhalb des Gesamtstaates von Regelungen festgelegt wird, deren Bestandsgarantie über jene der allgemeinen Gesetzgebung hinausgeht (beispielsweise Verfassungsnormen). Wenn es also auch keinen normativ festgelegten Standard für den Inhalt von Autonomieregelungen gibt, so liegt es in der Natur der Sache, dass diese gewisse gemeinsame Merkmale aufweisen: Die meisten Autoren stimmen darin ___________ 78

Hurst Hannum & Richard Lillich, The Concept of Autonomy in International Law, 75 American Journal of International Law (1980), S. 858-889. 79 Lauri Hannikainen, Self-determination and Autonomy in International Law, S. 91-92.

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überein, dass es sich bei Autonomie nicht nur um öffentliche Einheiten handelt, die politische und administrative Funktionen ausüben, sondern ihnen innerhalb ihrer Zuständigkeitsbereiche auch legislative und judizielle Kompetenzen zukommen. Dennoch werden diese Funktionen auf Grundlage der verfassungsmäßigen Struktur des Staates und im Rahmen der gesamtstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt. Im Allgemeinen geht die Einrichtung von Autonomie durch Delegation, also Übertragung von staatlichen Funktionen administrativer, gesetzgebender und rechtsprechender Art an die Autonomieeinheiten, vor sich. Mit anderen Worten hat Autonomie in diesem üblichen Sinne ihre Grundlage in einem delegierenden Übertragungsakt öffentlicher Funktionen von Seiten des (Gesamt-)Staates. Aus diesem Grunde ist das Recht der autonomen Einheiten Teil der staatlichen Rechtsordnung80 und funktioniert somit auf Grundlage der Prinzipien, Rechtsregeln und Rechtsformen des Staatsrechtes. Trotz seines besonderen Inhaltes ist das Autonomierecht, gemeinsam mit dem sonstigen Rechtsbestand des jeweiligen Staates, Teil eines einheitlichen Rechtssystems. So kommen dieselben Kategorien an Rechtsnormen wie im allgemeinen Rechtssystem zur Anwendung, es gelten grundsätzlich dieselben Rechtsschutzmechanismen und Verfahren und das Grund- oder Menschenrechtssystem, an das auch das staatliche Recht gebunden ist. Durch Autonomie in diesem Sinne wird kein Rechtspluralismus begründet, also keine Geltung unterschiedlicher Rechtssysteme, die sich durch andersartige Geltungslogiken und Normanwendungsformen voneinander unterscheiden81. Autonomieregimes sind somit herkömmlicherweise Modifikationen der staatlichen Rechtsordnung zum Zwecke der Sicherung der Bedürfnisse der Träger des Autonomieregimes, aber auf Basis des staatlichen Rechtes, mit dessen inhärenten Prinzipien und Grenzen. 3. Autonomie als Selbstbestimmungsrecht indigener Völker Die Autonomieregelungen, die Art. 4 UNDRIP vorsieht, dienen der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes dieser Völker. Diese hier vorgesehene ___________ 80 Stephen Wheatley, Chapter 9, Autonomy: Self-government, consultation and participation rights, including trans-border rights, Entwurf für ein Kapitel eines Kommentars zur UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker, vorgestellt am Arbeitstreffen der Commission on the Rights of Indigenous Peoples der International Law Association, Fiesole/Florenz, Dezember 2009, S. 5. 81 Zu diesen Aspekten des Rechtspluralismus siehe: René Kuppe, Legal Pluralism – Basic Concepts and Debates, in: Austrian Association for the Middle East HammerPurgstall (Hg.), Family, Law and Religion. Debates in the Muslim World and Europe and their Implications for Co-operation and Dialogue, Publikation der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit, Wien 2009, S. 21-36.

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Autonomie unterscheidet sich jedoch von den charakteristischen Merkmalen der Autonomieregimes in anderen Kontexten: Wie oben dargelegt wurde, ist die Grundlage von Autonomie im Allgemeinen Delegation staatlicher Gewalten: Das Autonomieregime bleibt mit anderen Worten Teil des staatlichen Rechtes. Die Einrichtung von Autonomie indigener Völker hingegen, wie sie im Rahmen der Architektur der UNDRIP vorgesehen ist, wird im Gegensatz dazu nicht durch die Rechts- und Verfassungsordnung des Staates oder durch Teile seiner Institutionalität konstituiert oder begründet. Ein fundamentaler Aspekt der indigenen Autonomie liegt darin, dass es sich um die Anerkennung der eigenen Institutionen und Normen der indigenen Völker von Seiten des Staates handelt und dass diese Autonomie die Funktion haben soll, indigenen Völkern die Möglichkeit zu geben, ihr öffentliches Leben durch eigene Institutionalität regeln und lenken zu können. Diese Zielsetzung der Anerkennung der eigenständigen Institutionen der indigenen Völker durchzieht nicht nur die gesamte UNDRIP82, sondern entspricht auch der skizzierten Dreidimensionalität der Rechte indigener Völker: Erstens stellt sie eine Wiederherstellung der politischen Gewalt dieser Völker dar, welche, wie ausgeführt, durch die Einrichtung und „Überstülpung“ der kolonialen und nachkolonialen Staatlichkeit an den Rand gedrängt und unterdrückt worden war. Die Emanzipation aus der kolonialen Situation kann nur durch die eigenständigen, autonom kontrollierten Institutionen als Form juristischer Entkolonisierung realisiert werden. Zweitens wird durch die Anerkennung und Rehabilitierung der Institutionen der indigenen Völker den kulturellen Gegebenheiten dieser Völker entsprochen. Es wird die „Konstruktion kulturell homogener öffentlicher Räume“83 überwunden, die durch flächendeckende Wirkung der staatlichen Institutionen und den undifferenzierten Geltungsanspruch des staatlichen Rechts angestrebt worden war. Dadurch bewirkt die indigene Autonomie kulturelle Entkolonisierung. Schließlich und drittens erlaubt die auf eigenen Institutionen beruhende Autonomie den indigenen Völkern in gleicher Weise wie anderen Völkern, Kontrolle über jenen politischen Rahmen auszuüben, der ihren Statuts und ihre Weiterentwicklung als Volk regelt. In diesem Sinne verlangt Art. 2 UNDRIP, dass indigene Völker „frei und allen anderen Völkern und Menschen gleichge___________ 82

Zentrale Bestimmung dazu ist der schon zitierte Art. 5. Marco Aparicio, Los derechos políticos de los pueblos indígenas en la declaración de las naciones unidas, en: Mikel Berraondo (Hg.), La declaración de los derechos de los pueblos indígenas, Punto y seguido, AlterNativa, Barcelona 2008, S. 36. 83

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stellt“ sind und das Recht haben, „bei der Ausübung ihrer Rechte keinerlei Diskriminierung ausgesetzt zu sein, insbesondere nicht auf Grund ihrer indigenen Herkunft oder Identität“. Diese Gleichheit muss unter Bedachtnahme auf die besonderen Bedürfnisse der indigenen Völker verwirklicht werden, welche die Restituierung der indigenen Institution mit sich einschließt. Die Anerkennung der Selbstbestimmung und Autonomie als zentraler Form von deren Verwirklichung, die auf der Diskurslogik der Menschenrechte beruht, ist eine Ausdehnung des Entkolonisierungsprozesses, der hier jedoch nicht nur auf den politischen Status beschränkt bleibt, sondern, wie schon oben ausgeführt, auch in seinen juristischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen verwirklicht werden muss. Dieser Prozess ist nicht nur gegen den internationalen Kolonialismus gerichtet. Es handelt sich vielmehr um einen Vorgang, der sich vor allem gegen den internen Kolonialismus in unabhängigen Staaten richtet, um eine horizontale und ausgeglichen Beziehung zwischen den indigenen Völkern und dem Rest der Bevölkerung innerhalb der Staaten, in welchen sie leben, herzustellen. So kann man feststellen, dass die drei Dimensionen, welche die Rechte indigener Völker ausmachen, in der auf eigenen Institutionen beruhenden Autonomie zusammenfallen. Wenn in diesem Sinne in Art. 5 vom Recht auf Bewahrung und Stärkung der eigenen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen die Rede ist, dann bezieht er sich auf eine Realität, die sich sehr deutlich von den Institutionen und Strukturen unterscheiden kann, die im allgemeinen mit dem Funktionieren des (modernen) Staates und mit staatlichem Recht assoziiert werden. Die Unterschiede liegen aber nicht nur oder primär im unterschiedlichen materiellen Gehalt indigener und staatlicher Institutionen, sondern in der teilweise sehr stark andersartigen Legitimation, Funktionslogik und Organisation der meisten indigenen politisch-rechtlichen Ordnungssysteme. Viele indigene Völker besitzen nach wie vor soziale Strukturen mit sehr informellen politischen Funktionen, und die gesellschaftlichen Konfliktlösungsformen ähneln oftmals Phänomenen, die im „westlichen“ Kontext als Mediation bekannt sind84. Andere indigene Völker, wie etwa jene Mesoamerikas und im südamerikanischen Andenraum, haben Elemente des spanischen Kolonialrechtes („derecho indiano“) in ihre lokalen Regierungssysteme integriert und bis heute erhalten und weiterentwickelt85. ___________ 84

Siehe z. B. David J. Thomas, Order Without Government, The Society of the Pemon Indians of Venezuela, Univ. of Illinois Press 1982. 85 Siehe dazu kolumbianische Beispiele: Carlos César Perafán, Sistemas Jurídicos Paez, Kogi, Wayuu y Tule, Colcultura, Bogotá 1992.

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Wieder andere indigene Völker, etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika, sind unter dem direkten Einfluss des modernen staatlich-„westlichen“ Rechtes teilweise von außen stark verändert worden86, betrachten das „verwestlichte“ indigene Rechtssystem aber dennoch heute als Teil ihrer aktuellen kulturellen und institutionellen Identität. Viele indigene Selbstregierungs- und Konfliktlösungssysteme funktionieren jedenfalls auf Grundlage von Institutionen, die sich von jenen des üblichen staatlichen Rechtes stark unterscheiden. Besonders bemerkenswert ist, dass im Allgemeinen eine formelle autonome Gesetzgebung zur Gestaltung oder Normierung der Selbstregierung fehlt. Ebenso wenig herrscht ein Konzept der internen Geltung individueller Rechte vor, welches durch Gesetzgebung formalisierte Rechtsquellen voraussetzt, durch welche ein normatives Fundament geschaffen wird, von welchem sich die vom einzelnen Rechtsträger beanspruchten Rechtspositionen relativ klar ableiten lassen. Dennoch können die Staaten nicht, unter Verweis auf die institutionelle Andersartigkeit der indigenen gesellschaftlichen Institutionen, deren Geltung in Frage stellen. Gestützt auf die UNDRIP haben indigene Völker die Befugnis, ihre Autonomie nicht mittels der vom staatlichen Recht geschaffenen Institutionen und Normen zu verwirklichen und weiterzuentwickeln, sondern auf Grundlage eigener Institutionen. Das Selbstbestimmungsrecht gem. Art. 3 sichert Kontrolle über die politische Entwicklung und – in Verbindung mit vielen anderen Bestimmungen der UNDRIP – kulturelle Identität. Gleichzeitig ist Autonomie nicht lediglich ein möglicher Mechanismus, der von den Staaten im Interesse indigener Völker lediglich optativ vorgesehen werden kann. Im Gegensatz zu ethnischen Minderheiten und anderen potentiellen Trägern von Autonomieregelungen haben indigene Völker, als einzige spezifische Kategorie des Völkerrechts, auf Grund der UNDRIP ein Anrecht auf Autonomie. Da die Autonomie aber als Recht der indigenen Völker und nicht als absolute Verpflichtung der Staaten vorgesehen ist, sind die Staaten gleichzeitig nicht gehalten, indigene Autonomie einzuführen, sofern diese von betreffenden indigenen Völkern nicht selbst eingefordert wird87. Autonomie bedeutet Ausübung von Kontrolle über relevante eigene Angelegenheiten, ist jedoch keine vollständig selbständige Regierung. Regelmäßig funktioniert Autonomie innerhalb eines weiteren staatlichen Rahmens. Aus diesem Grunde ist die Frage der konkreten Abgrenzung des sachlichen Wirkungsbereiches der Autonomie gegenüber der allgemeinen Staatlichkeit von wesent___________ 86

Sharon O’Brien, American Indian Tribal Governments. University of Oklahoma Press, Norman and London 1989. 87 Stephen Wheatley, Chapter 9: Autonomy: Self-government, consultation and participation rights, including trans-border rights, S. 11.

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licher Bedeutung. Wie aus dem zitierten Art. 4 ersichtlich, umfasst die Autonomie Fragen, die die inneren und lokalen Angelegenheiten betreffen, dabei werden jedoch in der Bestimmung die konkreten Kompetenzbereiche nicht ausdrücklich angeführt. In früheren Entwürfen der Deklaration waren, wenn auch nicht taxativ, charakteristische Kompetenzfelder dieser Angelegenheiten ausdrücklich angeführt, wie Kultur, Religion, Erziehung, Informationswesen, Kommunikationsmedien, Gesundheit, Unterkunft, Beschäftigung, Wohlfahrtswesen, wirtschaftliche Aktivitäten, Verwaltung von Land und Ressourcen, Umwelt und schließlich Zugang zu eigenen Territorien durch Nicht-Mitglieder88. Die UNDRIP im endgültigen Wortlaut verweist an verschiedenen anderen Stellen auf die Mehrheit dieser Angelegenheiten und betont, dass diese durch Selbstregierung der indigenen Völker geregelt werden sollen89. Mit anderen Worten zeigt die UNDRIP einige Konturen, nach welchen die Grenzen der indigenen Autonomie abgesteckt sind. Es sprechen jedoch auch einige Gründe dafür, warum der Umfang der Autonomie nicht einheitlich-präziser für indigene Autonomieregimes umschrieben wurde: Erstens ist Autonomie die Ausübungsform des Menschenrechts auf Selbstbestimmung. Inhalte und Umfang eines Menschenrechtes werden im Allgemeinen aus Perspektive und gemäß Bedarf des konkreten Nutznießers dieses Rech___________ 88

Siehe U.N. Doc E/CN.4/Sub.2/1994/56, Art. 31; vgl. auch oben Fn. 58. Art. 31.1.: „Indigene Völker haben das Recht auf die Bewahrung, die Kontrolle, den Schutz und die Weiterentwicklung ihres kulturellen Erbes, ihres traditionellen Wissens und ihrer traditionellen kulturellen Ausdrucksformen sowie der Erscheinungsformen ihrer Wissenschaften, ihrer Techniken und ihrer Kultur“; Artikel 14.1: „Indigene Völker haben das Recht, ihre eigenen Bildungssysteme und -institutionen einzurichten und zu kontrollieren, in denen in ihrer eigenen Sprache und in einer ihren kulturspezifischen Lehr- und Lernmethoden entsprechenden Weise unterrichtet wird“; Art. 16.1. „Indigene Völker haben das Recht, eigene Medien in ihrer eigenen Sprache einzurichten […]“; Artikel 23: „Indigene Völker haben das Recht, Prioritäten und Strategien zur Ausübung ihres Rechts auf Entwicklung zu bestimmen und zu entwickeln. Sie haben insbesondere das Recht, aktiv an der Ausarbeitung und Festlegung von Gesundheits-, Wohnungs- und sonstigen Wirtschafts- und Sozialprogrammen, die sie betreffen, mitzuwirken und solche Programme so weit wie möglich über ihre eigenen Institutionen zu verwalten“; Art. 21.1.: „Indigene Völker haben ohne Diskriminierung das Recht auf die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation, unter anderem in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Berufsausbildung und Umschulung, Wohnungswesen, Sanitärversorgung, Gesundheit und soziale Sicherheit“; Art. 26.1. und 2.: „Indigene Völker haben das Recht auf das Land, die Gebiete und die Ressourcen, die sie traditionell besessen, innegehabt oder auf andere Weise genutzt oder erworben haben. […] Indigene Völker haben das Recht, das Land, die Gebiete und die Ressourcen, die sie besitzen, weil sie ihnen traditionell gehören oder sie sie auf sonstige Weise traditionell innehaben oder nutzen, sowie die, die sie auf andere Weise erworben haben, zu besitzen, zu nutzen, zu erschließen und darüber zu verfügen“; Art. 32.1.: „Indigene Völker haben das Recht, Prioritäten und Strategien für die Erschließung oder Nutzung ihres Landes oder ihrer Gebiete und sonstigen Ressourcen zu bestimmen und zu entwickeln“. 89

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tes bestimmt – in diesem Fall also aus Perspektive betreffender indigener Völker. Das bedeutet zwar nicht dass der Staat absolut dazu angehalten ist, Grenzen und Umfang indigener Autonomie ausschließlich nach den Perspektiven oder Kriterien der betreffenden indigenen Gruppe festzulegen. Er wird aber die Einschränkung der Kompetenzen indigener Autonomie, soweit diese in die nachweislichen Interessen einer indigenen Gruppe eingreift, jedenfalls mit hohem Allgemeininteresse rechtfertigen müssen. Die Begrenzung muss außerdem gesetzlich legitimiert sein, darf also nicht in das Belieben der Verwaltung oder politischer Entscheidungsträger gestellt sein. In diesem Sinne heißt es in Art. 46 UNDRIP: „Bei der Ausübung der in dieser Erklärung verkündeten Rechte sind die Menschenrechte und Grundfreiheiten aller zu achten. Die Ausübung der in dieser Erklärung niedergelegten Rechte darf nur den gesetzlich vorgesehenen und mit den internationalen Verpflichtungen auf dem Gebiet der Menschenrechte im Einklang stehenden Einschränkungen unterworfen werden. Solche Einschränkungen dürfen nicht diskriminieren und müssen unbedingt notwendig sein zu dem ausschließlichen Zweck, die gebührende Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten anderer zu sichern und den gerechten und dringendsten Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaft zu genügen.“

Eine weitere, im faktischen Bereich liegende Grenze für den Umfang der Autonomie eines indigenen Volkes kann in dem Umstand begründet sein, dass dessen Institutionen nicht genügend Kapazitäten besitzen, um der Ausübung der Autonomie in allen Sachbereichen entsprechen zu können. Jedenfalls müsste in derartigen Fällen die Möglichkeit eröffnet werden, einen institutionellen Apparat zu entwickeln, der ihnen auch in faktischer Hinsicht erlaubt, den Aufgaben eines für interne und lokale Angelegenheiten vorgesehenen Autonomiesystems genügend entsprechen zu können. Das Recht indigener Völker auf Autonomie hat eine weitere Grenze im Artikel 46.2., wenn es dort heißt, dass bei Ausübung von Rechten aus der Deklaration „die Menschenrechte und Grundfreiheiten aller zu achten“ seien. Hier handelt es sich jedoch um keine Kompetenzschranke im üblichen Sinne sondern um die generelle Festlegung einer inhärenten Bindung der individuellen und kollektiven Rechte indigener Völker an die Menschenrechte. Eine undifferenzierte Bindung indigener Autonomieregimes an die Institutionen des staatlichen Menschenrechtssystems wird den indigenen Völkern oftmals – hinter juristisch neutraler Fassade verbrämt – moralische Wertvorstellungen und gesellschaftliche Ordnungsmaßstäbe der dominanten Gesellschaft überstülpen. Außerdem sind gewisse im positiv-staatlichen Recht verankerte Menschenrechtsinstitutionen innerhalb der Mechanismen indigener Selbstregierung vielfach nicht anwendbar. Die adäquate Umsetzung dieser Bindung wird

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eine Berücksichtigung der ethischen Grundlagen und der sozio-politischen Funktionen der konkreten geltenden Menschenrechtsinstitutionen voraussetzen. 4. Exkurs: Indigene Autonomie und Menschenrechte am Beispiel der Autonomie der Arhuaco in Kolumbien Einen illustrativen Blick auf einen Konflikt um Geltung und Anwendung staatlich vorgesehener Menschenrechte im Rahmen indigener Selbstregierung zeigt ein Fall, den das kolumbianische Verfassungsgericht 1998 zu entscheiden hatte90. In dieser Entscheidung91 bestätigte das Gericht das Recht der traditionellen Autoritäten des indigenen Arhuaco-Volkes (Sierra Nevada de Santa Marta, Nordkolumbien), Angehörigen der eigenen Gruppe, die zur Pfingstkirche von Kolumbien92 übergetreten waren, die Ausübung des neuen Glaubens innerhalb des (staatlich anerkannten) autonomen Territoriums ihres Volkes zu verbieten. Das Gericht erlaubte außerdem den Autoritäten, das Kirchengebäude dieser Gruppe schließen zu lassen und den Eintritt von indigenen und nicht-indigenen Missionaren oder Predigern in das Arhuaco-Gebiet zu unterbinden und zu sanktionieren. Was auf den ersten Blick wie ein Fall der Unterdrückung des klassischen (auch in Kolumbien geltenden) Grundrechtes der Religionsfreiheit aussieht, ist bei näherer Betrachtung ein Konflikt um grundsätzliche Legitimität der Ausübung indigener Regierungsgewalt, welche in den eigenen gesellschaftlichen Dynamiken und kulturellen Werten verankert ist. Das soziale Zusammenleben der Arhuaco hat, gemäß ihrer Weltsicht, seine Basis im „Gesetz der Mutter“, einem Konzept spirituellen Gleichgewichts, welches nicht nur die menschlichen Wesen, sondern auch Tiere, Pflanzen und den Rest der diesem Volk bekannten Welt umfasst. Innerhalb der Arhuaco-Gesellschaft ist es Aufgabe der mamos, der traditionellen „Priester“, Vermittler zwischen den Menschen und den kosmischen Kräften zu sein. Die mamos prägen das gesamte Alltagsleben in dieser Gesellschaft. Sie haben Einfluss auf persönliche Lebensentscheidungen, organisieren Zeremonien, sorgen und kümmern sich um die wirtschaftliche Lage der Familien und sind die Konfliktlösungsinstanzen in dieser Gesellschaft. Alle öffentli___________ 90

Corte Constitucional de Colombia, Sentencia SU-510/98. Eine ausführliche Darstellung und Kommentierung des Falles ist: René Kuppe, Religionsfreiheit und Schutz der kulturellen Identität im Widerspruch? Das Erkenntnis SU510/1998 des Verfassungsgerichtes Kolumbiens, Österreichisches Archiv für Recht und Religion, 2000/Heft 1, S. 48-81. 92 Iglesia pentecostal de Colombia. 91

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chen Entscheidungen in dieser Gesellschaft müssen durch den sakralen Diskurs der mamos bestätigt werden. „Westlicher“ Logik zufolge beruht dieses System auf absoluter Gewalt der Priesterkaste, aus Perspektive des Weltbilds der Arhuaco jedoch verteidigen diese die Gemeinschaft gegenüber drohendem Chaos und Verfall, welche spirituelles Ungleichgewicht mit sich bringen können. „[D]ie universelle Ordnung durchdringt den Menschen so, dass menschliche Handlungen die gesamte Architektur der kosmischen Ordnung aus den Angeln heben können […]. [R]eligiöse und spirituell Erfahrung […] ist eingebettet in ein verbindliches reziprokes System unter den einzelnen und zwischen ihnen und der Natur. Das Subjekt, das sich aus dieser Daseinsperspektive ableitet, ist in erster Linie durch das Kollektiv bestimmt und nicht durch seine Individualität. Daher ergibt sich die Autonomie des Individuums nicht aus einem Prozess der Selbstdefinition, sondern vielmehr aus einem solchen der Festlegung der Persönlichkeit, der von den Beziehungen der Person zur Gesellschaft ausgeht und von den Rollen und Funktionen die ihr in diesem Rahmen zukommen.“93

Das Rechtssystem der Arhuaco erklärt sich aus dieser kulturell begründeten Perspektive auf das soziale Leben. Konfliktlösung beruht auf langen öffentlichen Debatten, in welchen nach der spirituellen Ursache des Problems gesucht wird. Das Verfahren kann sich über Tage hinziehen und mündet möglichst in einen Konsens über die Ursachen, welche das Individuum zu seinem Verhalten veranlasst haben, aber auch über die angemessenen Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung. Schlüsselrolle kommt bei diesem Verfahren dem mamo zu; Sanktionen können darin bestehen, dem „Täter“ Ratschläge durch diese Autorität erteilen zu lassen, sich rituellen symbolischen Handlungen unterwerfen zu müssen oder Opfergaben zu erbringen. Alle Maßnahmen sind letztlich auf die Restitution des „Gesetzes der Mutter“ ausgerichtet. Wichtiger Aspekt für den Erfolg dieses Verfahrens ist die Mitwirkung des/der Betroffenen. Die Verweigerung der Mitwirkung durch den Einzelnen wird von der Gemeinschaft als extrem gegen die Gemeinschaft gerichtetes Verhalten eingestuft, da sie nicht nur die Integrität der Gemeinschaft aufs Spiel setzt, sondern die gesamte kosmische Ordnung in Gefahr bringen kann. Sie führt üblicherweise zum Ausschluss des Individuums aus der Gemeinschaft. Der Konflikt, der zum Verfassungsgericht gelangte, ergab sich durch die Weigerung von konvertierten Arhuacos, die breiten sozialen Funktionen der traditionellen Priester anzuerkennen. Anstatt die Rolle der mamos als Konfliktlöser anzuerkennen, sahen die Pfingstkirchler diese sogar als Manifestationen ___________ 93

Sentencia SU-510/98, Para. 17.

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des (im evangelikalen Christentum sehr wörtlich genommenen) Teufels an. Aus diesem Grunde sind es nicht die christlichen Predigten oder Gottesdienste als solche gewesen, die den Anlass für die Unterdrückung der religiösen Manifestationen der Gruppe darstellten, sondern deren Infragestellung des herkömmlichen sozialen Lebens. Das Verfassungsgericht legitimierte die Handlungen der autonomen Regierung dieses indigenen Volkes, indem es feststellt, dieses könne autonom seinen Grad an Öffnung nach außen festlegen. Das Gericht stellt das Recht des indigenen Volkes, sich durch eigene Autoritäten unter Anwendung eigener Sitten und Gewohnheiten selbst regieren zu können, außer Streit. Unter Verweis auf andere Entscheidungen betonte das Gericht, dass diese Selbstregierung, um kulturell überleben zu können, einen hohen Grad an Autonomie benötige. Aus diesem Grunde könne die Autonomie nur zur Vermeidung von „willkürlichen Akten, welche schwerstens die menschliche Würde verletzen, indem sie den wesentlichen Kern der fundamentalen Rechte der Angehörigen der Gemeinschaft berühren“94, beschränkt werden. Mit anderen Worten, es sind also nicht alle (staatlich vorgesehenen und verankerten) Menschenrechte, die pauschal die indigene Selbstregierung beschränken können, sondern nur deren außer Streit stehender Kern. Das Verfassungsgericht Kolumbiens hatte in anderen Fällen erkannt95, dass dieser Kern im Wesentlichen das Recht auf Leben, das Folterverbot und das Verbot der Sklaverei und daneben bestimmte elementare Verfahrensgarantien umfasse, und hatte methodisch argumentiert, dass in Hinblick auf diese Kernrechte ein echter interkultureller Konsens bestehe. Die Festlegung und Anwendung dieses „transkulturellen“ Kerns als normative Schranke für die indigene Autonomie – wie sie vom kolumbianischen Verfassungsgericht in seiner Entscheidungspraxis entwickelt und begründet worden ist – beansprucht, nicht etwa einen Maßstab darzustellen, der im Rahmen der kulturellen oder gesellschaftlichen Besonderheiten der mainstream-Gesellschaft einseitig entwickelt wurde; es handelt sich vielmehr um die Geltendmachung fundamentaler Werte und Kriterien, die jeder menschlichen öffentlichen Ordnung inhärent zukommen. Einer der Hauptzwecke der Deklaration über die Rechte indigener Völker liegt in der Überwindung der kolonialen Situation, in welcher die indigenen Völker nach wie vor leben; gleichzeitig sollen deren kulturelle Besonderheiten geschützt werden. In diesem Sinne können die Kriterien, wie sie hier vom Verfassungsgericht Kolumbiens entwickelt worden sind, ein angemessener Standard zur Interpretation und Umsetzung des Art. 46.2 UNDRIP sein: Die Verpflichtung zur Achtung der „Menschenrechte und ___________ 94

Sentencia SU-510/98, Para. 49. Siehe Details dazu: René Kuppe, Indigene Rechtsprechung und staatliches Recht in Lateinamerika. Broschüre herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), Eschborn 2010, insbes. S. 16-21. 95

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Grundfreiheiten aller“ würde so nicht auf ein undifferenziertes Überstülpen aller positiv rechtlich verankerten Menschenrechte über die indigene Selbstregierung hinauslaufen, sondern es ginge um die Geltendmachung jenes eindeutigen Kernes, der auch der indigenen Autonomie – wie jeder menschlichen Ordnung – inhärent zugrunde liegt. 5. Mittel zur Finanzierung indigener Autonomie Art. 4 bezieht sich im letzten Teil auch auf die Problematik der angemessenen Ausstattung der indigenen Autonomiestrukturen, besagt er doch, dass die indigenen Völker das Recht haben, „über die Mittel zur Finanzierung ihrer autonomen Aufgaben zu verfügen“. In einer sehr frühen Phase der Erarbeitung war an der entsprechenden Vorläuferstelle des Textes vom Recht auf die Einhebung interner Steuern zur Finanzierung dieser autonomen Funktionen die Rede gewesen96. Durch die Textänderung kommt die Verantwortung der gesamten Gesellschaft innerhalb eines Staates für das Funktionieren der Einrichtungen der indigenen Selbstregierung zum Ausdruck. Die Bestimmung lässt aber in der Tat eine breite Palette an Möglichkeiten offen, in welcher Weise die Finanzierung der indigenen Autonomiefunktionen realisiert werden könnte. Angesichts der wirtschaftlichen Situation der meisten indigenen Völker wird eine direkte Finanzhilfe von Seiten des Staates in sehr vielen Situationen unabdingbar sein. Die Zusage oder Abwicklung staatlicher Finanzierung sollte nicht als Druckmittel verwendet zu werden, um die Ausrichtung der indigenen Autonomieregierung möglicherweise an politischen Zielvorgaben des Gesamtstaates zu binden, da dies der Grundidee von Selbstbestimmungsrecht widersprechen würde97. Die staatliche Finanzierung der indigenen Autonomieinstitutionen kann jedoch an die Erfüllung bestimmter (Mindest-) Anforderungen an das adäquate Funktionieren der Ausübung der indigenen Autonomie geknüpft werden. Hier kann vor allem die Respektierung der Schranke gegenüber dem nichtberührbaren Kernbereich der menschenrechtlichen Garantien, so wie diese etwa vom kolumbianischen Verfassungsgericht umschrieben worden war, oder die Vermeidung von Korruption vom Staat vorausgesetzt und eingefordert werden. 6. Territoriale Basis indigener Autonomie Nach Betrachtung der sachlichen Grenzen der indigenen Autonomie und ihrer inhärenten Beschränkungen, die sich aus dem Kern der Menschenrechte er___________ 96

UN Doc. E/CN.4/Sub.2/1988/25 (1988). Stephen Wheatley, Chapter 9: Autonomy: Self-government, consultation and participation rights, including trans-border rights, S. 12. 97

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geben, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf die territoriale Basis dieser Autonomie zu werfen. Bekannt ist die Tatsache, dass sich indigene Völker durch ihre besondere Beziehung zu Land und Territorium auszeichnen. In diesem Sinne schreibt der kolumbianische Experte und Jurist Roque Roldán: „Heute wie gestern bleibt die wesentliche Grundlage des Überlebens der indigenen Völker das Land, der Raum, welcher den indigenen Völkern und Gemeinschaften die physische Existenz, die Aufrechterhaltung des gemeinschaftlichen Lebens, die Bewahrung ihrer Geschichte und die Ausübung ihrer Regierungsorganisation sichert.“98 Unter Beachtung der Relevanz des geografischen Raums für die Existenz der indigenen Völker – und zwar auch ihres Bestandes als selbstbestimmte politische Einheiten – werden nicht nur die Rechte über traditionell intensiv besiedelte und genutzte Landstriche anerkannt werden müssen, sondern vielmehr die soziale Kontrolle über Territorien, die mit dem kulturellen Leben dieser Gruppen verbunden sind99. So ergibt sich die große Bedeutung einer ausreichenden territorialen Grundlage für die indigene Selbstbestimmung. Erica-Irene Daes fasst als Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen in ihrem Bericht zur dauernden Souveränität indigener Völker über Naturschätze zusammen: „[E]s ist klar und deutlich geworden, dass bedeutungsvolle politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung indigener Völker niemals möglich sein wird wenn diesen die rechtliche Befugnis zur Ausübung von Kontrolle über Länder und Ressourcen fehlt.“100

Das Thema der indigenen Selbstbestimmung und Autonomie ist somit mit der Angelegenheit der Formalisierung der indigenen Rechte über ihre Territorien eng verbunden. Diese Angelegenheit ist jedoch äußerst komplex: ___________ 98 Roque Roldán Ortega, Manual para la Formación en Derechos Indígenas, Territorios, recursos naturales y convenios internacionales, Abya Yala, Quito 2005, S. 19. 99 Siehe dazu Art. 26 UNDRIP: „1. Indigene Völker haben das Recht auf das Land, die Gebiete und die Ressourcen, die sie traditionell besessen, innegehabt oder auf andere Weise genutzt oder erworben haben.“ „2. Indigene Völker haben das Recht, das Land, die Gebiete und die Ressourcen, die sie besitzen, weil sie ihnen traditionell gehören oder sie sie auf sonstige Weise traditionell innehaben oder nutzen, sowie die, die sie auf andere Weise erworben haben, zu besitzen, zu nutzen, zu erschließen und darüber zu verfügen.“ „3. Die Staaten gewähren diesem Land und diesen Gebieten und Ressourcen rechtliche Anerkennung und rechtlichen Schutz. Diese Anerkennung erfolgt unter gebührender Achtung der Bräuche, Traditionen und Grundbesitzsysteme der betroffenen indigenen Völker.“ 100 „Indigenous peoples’ permanent sovereignty over natural resources“, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/2004/30, Para. 8.

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Rein äußerlich gesehen ist die Grundlage der Beziehungen der meisten indigenen Völker zu ihrem Territorium ein flexibles und extensives normatives Muster, welches den Zugang zum Land und die Nutzung der natürlichen Ressourcen regelt. Trotz des Umstandes, dass die Ausübung von Subsistenzwirtschaft und weitere auf dem Land vorgenommene Aktivitäten auf Regeln beruhen, die in Kultur und Weltbild verankert sind, werden Siedlungsgebiete dieser Völker oftmals als „leere“ oder „offene“ Räume wahrgenommen. Deshalb verweigern die Staaten vielfach die Anerkennung formeller Rechte über diese Ländereien oder zumindest über große geografische Teile derselben. Diese zögerliche Haltung hängt – neben vielfach vordergründigen politischen Ursachen – vielfach damit zusammen, dass das (flexible und extensive) Landnutzungsmodell indigener Völker nicht den Kriterien entspricht, die der Staat im Allgemeinen anwendet, um Rechte über Land anzuerkennen101. Wegen der defizitären formellen Anerkennung indigener Landrechte, die sich aus dieser Situation ergibt, darf die Einrichtung der indigenen Autonomieregimes nicht notwendigerweise auf formell ausgewiesene indigene Länder und Territorien beschränkt bleiben. Das Gebiet, auf das sich indigene Selbstregierung zu beziehen hat, muss sich auf die nach wie vor mit ihrer Kultur verbundenen Territorien und auf jene Regionen, in denen die indigene Bevölkerung die demografische Mehrheit darstellt, erstrecken. Der räumliche Gebietsumfang hat unter Beachtung von Art. 3 UNDRIP bestimmt zu werden, der auf die freie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung dieser Völker abzielt. Bedingt durch eine Situation, in welcher der geografische Bestand der formell anerkannten Eigentumsrechte an Land von den Grenzen indigener Autonomiezonen abweichen kann, ist es nicht ausgeschlossen, dass innerhalb des Autonomiegebietes Ländereien liegen, die eigentumsrechtlich Personen gehören, welche gleichzeitig Nicht-Angehörige des betreffenden indigenen Volkes sind. Im Rahmen der Autonomiekompetenzen sind auch diese Länder in der Folge dem indigenen Autonomieregime unterworfen.

VI. Sonstige politische Rechte indigener Völker: Partizipation In der Präambel der Deklaration über die Rechte indigener Völker heißt es inter alia: „[B]esorgt darüber, dass indigene Völker unter anderem als Folge ihrer Kolonialisierung und der Entziehung des Besitzes ihres Landes, ihrer Gebiete und ihrer Ressour-

___________ 101 Andrew Erueti, „The Demarcation of Indigenous Peoples’ Traditional Lands: Comparing Domestic Principles of Demarcation with Emerging Principles of International Law“, 23 Arizona Journal of International & Comparative Law (2006), v. a. S. 544-545.

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cen historische Ungerechtigkeiten erlitten haben, was sie daran gehindert hat, insbesondere ihr Recht auf Entwicklung im Einklang mit ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen auszuüben.“

Ebenso wird in der Präambel deklariert: „in der Überzeugung, dass die Kontrolle der indigenen Völker über die sie und ihr Land, ihre Gebiete und ihre Ressourcen betreffenden Entwicklungen sie in die Lage versetzen wird, ihre Institutionen, ihre Kultur und ihre Traditionen zu bewahren und zu stärken und ihre Entwicklung im Einklang mit ihren Bestrebungen und Bedürfnissen zu fördern […]“.

Gestützt auf diese Einsichten hat die Generalversammlung in der UNDRIP eine Reihe von politischen Rechten verkündet, von welchen das Recht auf Selbstbestimmung in Art. 3 und die Garantie auf politische Autonomie gem. Art. 4 die zentralste Bedeutung besitzen. Diese Bestimmungen sollen den indigenen Völkern, im Sinne der genannten Präambeleinsichten, möglichst viel Kontrolle über die sie betreffenden Entwicklungen sichern, um sie in die Lage zu versetzen, ihre Entwicklung selbst bestimmen zu können. Die durch Autonomie ausgeübte Selbstbestimmung betrifft jedoch nur, um beim Wortlaut der UNDIRP zu bleiben, interne und lokale Angelegenheiten dieser Völker und ihrer Gemeinschaften. Lediglich die Kontrolle über interne und lokale Angelegenheiten kann jedoch selbstbestimmte Entwicklung nicht ausreichend sichern. Indigene Völker sind, wie andere Bewohner und Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Staates, in vielfacher Weise grundsätzlich allgemeinen staatlichen Regelungen, Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen unterworfen. Selbstverständlich können sich gerade auch Maßnahmen, die im gesamtstaatlichen oder öffentlichen Interesse erlassen werden und die also keine spezifischen Angelegenheiten oder Interessen indigener Völker betreffen, auf indigene Völker auswirken. Parallel dazu haben aber Angehörige indigener Völker, wie andere Staatsbürger auch, einen allgemeinen Anspruch auf aktive und passive diskriminierungsfreie Mitwirkung in öffentlichen Angelegenheiten102. Diese Garantie wird durch Art. 5 UNDRIP für Angehörige indigener Völker noch besonders bekräftigt103, wobei die allgemeine Partizipation hier ausdrücklich als Recht und nicht als Ver___________ 102 Vgl. UN-Pakt über Zivile und Politische Rechte, Art. 25: „Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, […] a) an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen; […] c) unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben.“ 103 „Indigene Völker haben das Recht, ihre eigenen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen zu bewahren und zu stärken, während sie gleichzeitig das Recht behalten, uneingeschränkt am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben des Staates teilzunehmen, sofern sie dies wünschen.“

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pflichtung umschrieben wird, was eine Warnung gegenüber zwangsweisen Versuchen politischer Assimilierung darstellt. Das Recht auf politische Mitgestaltung aller ist einer der Kernpunkte moderner demokratisch-repräsentativer Staatlichkeit und wichtiger Aspekt des Selbstbestimmungsrechtes beziehungsweise, aus staatlicher Sicht gesprochen, ein Eckpfeiler von repräsentativem good governance. Gerade durch die demografische Minderheitenposition, in welcher sich indigene Völker charakteristischerweise innerhalb des Staates befinden, und durch den kulturellen Abstand zur staatstragenden Mehrheitsbevölkerung ist die allgemeine politische Partizipation jedoch keine Garantie dafür, vor schwerwiegenden Eingriffen in eigene Lebensinteressen als Folge von an sich demokratischen Mehrheitsentscheidungen abgesichert zu sein. Die sprichwörtliche „Tyrannei der Mehrheit“104 wird zur besonders prägenden politischen Erfahrung indigener Völker. Aus diesem Grunde sind in der UNDRIP zwei Artikel eingebaut, die ein spezifisches Recht indigener Völker auf Partizipation in politischen Entscheidungen vorsehen, durch welche deren Interessen oder sogar Rechte betroffen sein können: Art. 18: „Indigene Völker haben das Recht, an Entscheidungsprozessen in Angelegenheiten, die ihre Rechte berühren können, durch von ihnen selbst gemäß ihren eigenen Verfahren gewählte Vertreter mitzuwirken und ihre eigenen indigenen Entscheidungsinstitutionen zu bewahren und weiterzuentwickeln.“

Art. 19: „Die Staaten verständigen sich und kooperieren nach Treu und Glauben mit den betroffenen indigenen Völkern, über deren eigene repräsentative Institutionen, um ihre freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung zu erhalten, bevor sie Gesetzgebungs- oder Verwaltungsmaßnahmen beschließen und durchführen, die sich auf diese Völker auswirken können.“

Im ersten dieser beiden Artikel ist ein spezifisches Mitwirkungsrecht der von Maßnahmen rechtlich betroffenen indigenen Völker sichergestellt, wobei dieses Recht als (vertretene) Gruppe ausgeübt werden muss, also aus Art. 18 keine individuellen Mitwirkungsrechte erwachsen. Dem Staat sind durch die Bestimmung keine konkreten Verfahren zur Umsetzung dieser Gruppenvertretung vorgegeben, diese werden je nach Umständen variieren können und aus sachlichen Gründen wohl sogar müssen. Es wird jedoch auf die effektive Vertretung

___________ 104

„Tyrannei der Mehrheit“ ist ein Kapitel in Alexis de Tocqueville’s berühmtem Werk „Demokratie in Amerika“ (orig. 1835/40) und wurde als Konzept später von John Stuart Mill aufgegriffen und bekannt gemacht.

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der betroffenen Völker ankommen: Um von effektiver Vertretung sprechen zu können, sind zwei verschiedene Dimensionen zu unterscheiden105: Ein Aspekt ist prozedural: Es ist sicherzustellen, dass die Vertretung der indigenen Völker in der Tat zufriedenstellend an den Entscheidungsprozessen mitwirken kann, etwa durch ausreichende Informationen, durch die diskriminierungsfreie Zugänglichkeit der Institutionen, in welchen die Mitwirkung erfolgt etc. Der zweite Aspekt ist materieller Natur: „[D]ie Idee wirksamer politischer Mitwirkung wird durch die Möglichkeit, das Ergebnis eines Entscheidungsfindungsprozesses zu beeinflussen, belegt“106.

So ist Art. 18 also nicht als Garantie voller Kontrolle der die eigenen Rechte betreffenden Entscheidungen, wohl aber als Recht auf wirksame Beeinflussung derselben zu verstehen. Art. 19 war und ist, neben Art. 3, eine der umstrittensten Normen der gesamten UNDRIP. Die Grundidee dieses Artikels liegt darin, dass durch Kooperation mit indigenen Völkern, durch Informations- und Meinungsaustausch zwischen diesen Völkern und dem Staat vorgesehene Maßnahmen schon bei Planung so beeinflusst werden können, dass es zu keinen oder nur vertretbaren Eingriffen in das Leben der indigenen Völker kommt. Ausdrücklich sind hier nicht nur Verletzungen formeller Rechtspositionen dieser Völker angesprochen, sondern auch alle Arten von vorstellbaren de facto Auswirkungen auf deren physisches, soziales, wirtschaftliches oder kulturelles Leben. In der Bestimmung ist von „Kooperation nach Treu und Glauben“ die Rede. Der Staat muss seiner Informationspflicht also nach bestem Wissen und Gewissen nachkommen. Da der Zweck der Bestimmung darin liegt, nicht gerechtfertigte negative Folgen der Maßnahme auf das Leben der indigenen Völker vermeiden zu können, muss sich die Information auch auf die Auswirkungen beziehen, die die Maßnahme(n) auf die Interessen der betreffenden Völker haben könnte(n). Nur auf dieser Basis wird ein echter Dialog und Meinungsaustausch möglich sein können. Bei Bewertung des Vorhabens sollten möglichst die kulturspezifischen und sonstigen relevanten Besonderheiten der Gruppe berücksichtigt werden, um die Auswirkungen konkret beurteilen zu können. Unter Kooperation nach Treu und Glauben ist auch zu verstehen, dass die betreffenden indigenen Völker und deren Anliegen von staatlicher Seite ernst genommen werden. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Stärkung von Gruppen, die üblicherweise in einer marginalen und diskriminierten Position lebten und deren In___________ 105 International Law Association – The Hague Conference – the Rights of Indigenous Peoples, Draft Interim Report 2010, S. 14. 106 Id.

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teressen somit auch bei Entscheidungsfindungen durch den Staat nicht beachtet worden sind. Umstritten ist vor allem das Ausmaß, in welchem die Einflussnahme der indigenen Völker auf die debattierten Maßnahmen im Art. 19 normativ vorgesehen ist: In der von der Arbeitsgruppe über indigene Bevölkerungen überarbeiteten Version der Vorgängerbestimmung des Artikels hatte es geheißen: „Staaten sollen die freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte Zustimmung der betroffenen Völker erhalten, bevor sie solche Maßnahmen beschließen und durchführen.“107 Der Unterschied im Vergleich zum Wortlaut der oben wiedergegebenen Endversion des Art. 19 liegt auf der Hand. Während die Entwurfsversion als Verankerung eines Vetorechts indigener Völker gelesen werden muss („[die Staaten] sollen […] Zustimmung […] erhalten“), ist die in Kraft getretene Version so formuliert, dass die Staaten mit den indigenen Völkern kooperieren müssen, um deren Zustimmung zur Maßnahme zu erlangen. Es ist hier nicht auf die Erzielung eines Ergebnisses – die freie Zustimmung – abgestellt, sondern auf gutgläubige Kooperation, die auch von Seiten des Staates vom ernsthaften Bemühen getragen sein muss, einen Konsens zu erreichen. Dies ist jedenfalls weit mehr als ein stumpfes Informations- und Anhörungsrecht der indigenen Gruppe über mehr oder weniger bereits fertig feststehende Maßnahmen, ist aber auch weniger als ein absolutes Vetorecht indigener Völker. Die vom Staat zu erlangende Zustimmung ist gem. Art. 19 mehrfach qualifiziert: Sie muss erstens freiwillig erfolgen, das heißt der Staat darf weder Druck noch Beeinflussungen auf die Gruppe oder deren Vertreter ausüben, um die Zustimmung zu einer umstrittenen Maßnahme zu erlangen. Denkbar ist hier nicht nur etwa unmittelbarer Druck in Form vom Repression, sondern möglicherweise auch die staatliche Drohung, Fördermaßnahmen zu streichen, Gelder einfrieren zu lassen, oder auch die Anwendung von Beeinflussungen durch die öffentliche Meinung, soweit diese vom Staat kontrolliert werden kann. Die Zustimmung muss zweitens zeitlich „vorherig“ sein, das heißt sie hat erteilt zu werden, bevor Verwaltungs- oder Gesetzgebungsmaßnahmen getroffen oder umgesetzt werden. Schließlich muss die Zustimmung auf ausreichende Kenntnis der relevanten Sachlage gestützt sein, also auf einen Informationsstand, der es erlaubt, die Merkmale, Auswirkungen und Risiken der Maßnahme aus Sicht der betroffenen Bevölkerung ausreichend beurteilen zu können. Gerade der Erzielung dieses Informationsstandes soll ja die Kooperation nach Treu und Glauben ___________ 107 U.N. Doc E/CN.4/Sub.2/1994/56, Draft United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, Art. 20.

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dienen, die ja der Verabschiedung der hier in Frage kommenden Maßnahmen voranzugehen hat. Die freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung ist ein wichtiges übergreifendes Standbein der UNDRIP, um das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Völker möglichst auch in Lebensbereichen verwirklichen zu können, die nicht von der internen oder lokalen Autonomie108 umfasst sind. Dem Selbstbestimmungsrecht entspricht der Anspruch, Kontrolle über eigene Angelegenheiten ausüben zu können und somit wirksam an Entscheidungen mitzuwirken, durch die diese Völker betroffen sind109. Dadurch soll das historische Muster des Ausschlusses von staatlicher Entscheidungsfindung überholt werden, durch welches diesen einseitig Maßnahmen auch in für sie lebenswichtigen Bereichen auferlegt werden konnten. Die Kooperations- und Konsultationsverpflichtung mit indigenen Völkern besteht vor Erlass von Gesetzgebungs- oder Verwaltungsmaßnahmen, die sich auf diese Völker auswirken können. Der Staat wird also die Anwendung von Art. 19 nicht von vornherein unter Verweise auf eine vorwegnehmend noch nicht belegte oder eindeutig festgestellte Betroffenheit indigener Völker durch vorgesehene Maßnahmen ausschließen dürfen. Ausmaß und Art und Weise der zu erwartenden Auswirkungen sollen ja gerade durch offene Kooperation und Informationsaustausch festgestellt werden. Bei Maßnahmen, die schon von ihrer Zielsetzung her indigene Völker (z. B. ein Gesetz über interkulturelle Erziehung indigener Völker) oder deren unmittelbaren Lebensraum (z. B. die Regelung für den Bau eines Kraftwerkes in indigenen Siedlungsgebieten) betreffen, wird dieser Impakt von vornherein feststehen. Indigene Völker können jedoch ___________ 108

Neben der allgemeinen Bezugnahme auf die freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung des Art. 19, welche ernsthaft angestrebt werden soll, ist in einzelnen besonderen Fällen diese Form der Zustimmung indigener Völker verbindlich vorgesehen: Art. 10: „Indigene Völker dürfen nicht zwangsweise aus ihrem Land oder ihren Gebieten ausgesiedelt werden. Eine Umsiedlung darf nur mit freiwilliger und in Kenntnis der Sachlage erteilter vorheriger Zustimmung der betroffenen indigenen Völker […] stattfinden…“; Art. 29.2.: „Die Staaten ergreifen wirksame Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ohne die freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung der indigenen Völker in deren Land oder deren Gebieten keine gefährlichen Stoffe gelagert oder entsorgt werden“; Art. 32.2.: „Die Staaten verständigen sich und kooperieren nach Treu und Glauben mit den betroffenen indigenen Völkern, über deren eigene repräsentative Institutionen, um ihre freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte Zustimmung zu erhalten, bevor sie ein Projekt genehmigen, das sich auf ihr Land oder ihre Gebiete und sonstigen Ressourcen auswirkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Erschließung, Nutzung oder Ausbeutung von Bodenschätzen, Wasservorkommen oder sonstigen Ressourcen.“ 109 Siehe ähnlich auch: Promotion and Protection of all Human Rights, Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights, including the Right to Development, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights and fundamental freedoms of indigenous people, James Anaya, UN Doc. A/HRC/12/34 (2009), Para. 41.

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auch durch Regelungen betroffen sein, die prima facie nichts mit ihren Interessen zu tun haben (z. B. eine allgemeine sozialmedizinische Regelung für Diabetes-Kranke). Die Betroffenheit wird jedenfalls dann gegeben sein, wenn durch die Maßnahme indigene Völker oder deren Angehörige zumindest unverhältnismäßig stärker betroffen sein könnten als andere Teile der Bevölkerung eines Staates. Die Folge der Kooperation und Konsultation mit den indigenen Völkern im Sinne des Art. 19 werden von Art und Ausmaß der festgestellten Eingriffe der Maßnahme in indigene Interessen oder Rechte abhängen. Es wurde schon festgehalten, dass der Artikel kein generelles Veto-Recht indigener Völker verankert. Der UN-Sonderberichterstatter zu den Rechten indigener Völker betont aber in einem Bericht: „Eine bedeutende, direkte Auswirkung auf Leben oder Territorien indigener Völker schafft eine starke Vermutung, dass die vorgesehene Maßnahme ohne Zustimmung der indigenen Völker nicht durchgeführt werden sollten. In gewissen Situationen wird sich diese Vermutung zu einem Verbot der Maßnahme oder des Projektes verdichten, sofern keine indigene Zustimmung gegeben ist“110. Zumindest dort, wo essentielle Überlebensbedingungen der Gruppe nachweislich betroffen sind, wird eine nach Treu und Glauben erfolgende Kooperation wohl auch auf den Verzicht der Vornahme des Vorhabens hinauslaufen können. Selbst bei weniger schwerwiegenden Eingriffen in wichtige Rechte der indigenen Völker wird der Staat gehalten sein, vorgesehene Maßnahmen in Kooperation mit indigenen Völkern gegebenenfalls abzuändern, um die Impakte möglichst abzuschwächen oder auszugleichen. Bei sehr geringen Auswirkungen wird der Staat hingegen einen entsprechend weniger großen Argumentationsaufwand betreiben müssen, um die Maßnahme auch ohne vorliegenden Konsens der indigenen Gruppe verabschieden zu können. In jedem Fall werden jedoch die Minimalanforderungen an das Konsultationsverfahren eingehalten werden müssen, wie etwa die Gewährung ausreichender Information an die indigene Gruppe und der frei und in kulturell angemessener Weise durchgeführte Dialog mit den repräsentativen Institutionen der indigenen Völker. Der konkrete Einfluss der indigenen Völker auf die Letztentscheidung wird sich aus einer aus den Zwecken des Partizipationsrechtes ergebenden Deutung des Deklarationstextes ergeben. Die auf freie Zustimmung hinauslaufende Kooperation des Staates mit den indigenen Völkern ist kein Formalmechanismus, sondern muss so verwirklicht werden, dass der Rahmen indigener Völker für selbstbestimmte Entwicklung in wirtschaftlicher, sozialer und kulturelle Hinsicht gewahrt bleiben kann. ___________ 110

Id., Para. 47.

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VII. Schluss Durch die UNDRIP haben die politischen Rechte der indigenen Völker deutliche Konturen bekommen. Sie sollen durch Autonomie weitgehende Kontrolle über eigene Angelegenheiten und durch Mitwirkungsrechte an allgemein-staatlicher Entscheidungsfindung die Garantie erhalten, dass zumindest nicht unreflektiert und ungerechtfertigt in ihre eigenen Interessen eingegriffen werden kann. Diese Rechte sind Ausdruck des kollektiven Menschenrechts auf Selbstbestimmung. Gleichzeitig versucht die UNDRIP, die territoriale und politische Unverletzbarkeit der Staaten nicht zu gefährden. Autonomie und Partizipation sind auch als Instrumente vorgesehen, um politische und soziale Ausgrenzung zu überwinden, und gleichzeitig wichtige institutionelle Vorkehrungen, um die auf Ethnozid hinauslaufende Konstruktion kulturell einheitlich konzipierter Nationalstaaten zu überwinden. Die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechtes für indigene Völker zielt auf einen Entkolonisierungsprozess ab, der den internen rechtlichen und kulturellen Kolonialismus dieser Nationalstaaten und die hinter diesen Nationalstaaten stehende anachronistische Formel „Ein Volk, eine Kultur, ein Staat!“ abbauen soll. Aus dem indigenen Recht auf Selbstbestimmung ergeben sich somit breitere Impulse für die Konstruktion moderner, plural konstituierter Staatlichkeit. Gerade weil Autonomie- und Partizipationsregimes nicht auf Loslösung von bestehenden Staaten abzielen und somit nicht auf die bloße Umgestaltung der Territorien indigener Völker in neue unabhängige Staaten hin orientiert sind, zeigt sich, dass Eigenstaatlichkeit nicht der essentielle Kern von Selbstbestimmung ist. Staaten haben vielmehr, wie bei Verwirklichung anderer Menschenrechte, instrumentelle Bedeutung bei der Schaffung eines Rahmens, der die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes im Sinne von selbstbestimmter Entwicklung der Völker erlaubt und fördert.

Abstract Political rights are at the core of Indigenous Peoples’ rights. They are (part of) the implementation of the right to self-determination of peoples, which on principle applies to all peoples, but which has to be implemented in a specific manner when it comes to Indigenous Peoples. According to the UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples (2007), Indigenous Peoples have a claim to autonomy and self-government in matters relating to their internal and local affairs, and a right to participation in state decisions that could affect their interests.

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This article looks at the debates before UN bodies which resulted in the concrete formulation of regulations for indigenous self-determination, and details the dogmatic specificities of indigenous rights to autonomy and participation.

Das Selbstbestimmungsrecht der Juden Von Godel Rosenberg

Die Einladung, zu dieser Diskussion meinen Beitrag zu leisten, habe ich gerne angenommen und möchte mich bei der Hanns-Seidel-Stiftung dafür bedanken. Ich darf aber eingangs klar betonen, dass ich mich nicht an einer Diskussion über das Existenzrecht Israels beteiligen werde. Kein Land der Welt, kein Mitglied der Vereinten Nationen wird einer derartigen Diskussion ausgesetzt, und Israel hat ein Recht auf Gleichbehandlung. Mit dem UN-Teilungsplan 1947 hat die diplomatisch-politische Aufteilung des Landes zwischen Mittelmeer und Jordan einen sauberen Ausgangspunkt für die Gründung zweier Staaten – eines jüdischen und eines arabischen Staates – gefunden. Unmittelbar nach dem 29. November 1947 haben Juden die landwirtschaftliche Schaufel in die Hand genommen und den Staat Israel, wie er heute 63 Jahre danach existiert, zu einem blühenden Gemeinwesen aufgebaut. Die Araber haben 1947 das Gewehr in die Hand genommen, die eigenen Muslime ins Verderben geschickt und seither keine der zahlreichen Chancen wahrgenommen, mit dem westlichen Nachbarn friedlich und in guter Nachbarschaft zu leben. Während Israel darum gebeten wird, einen Staat für das palästinensische Volk anzuerkennen, sollte man auch von den Palästinensern erwarten dürfen, dass sie Israel voll als den Nationalstaat des jüdischen Volkes akzeptieren. Die Rechtfertigung versteht sich von selbst. Der Staat Israel ist ein jüdischer Staat, vor allem wegen der 4.000 Jahre alten historischen Beziehung zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel. Darüber hinaus haben Juden, wie alle anderen Völker, ein Recht auf Selbstbestimmung. Bezeichnenderweise gibt es kein anderes Land, in dem Juden dieses Recht ausüben können, da es kein anderes Land gibt, auf das Juden einen souveränen Anspruch erheben können, in dem sie ihr Leben voll gemäß ihren eigenen Bräuchen und Überzeugungen, ihrer Sprache und ihrer Kultur, ihren Zielen und Plänen für die Zukunft ausleben können. Bei all dem wahrt Israel seine Identität sowohl als jüdischer als auch als demokratischer Staat, mit Freiheit für alle seine Bürger und völliger Gleichheit vor dem Gesetz, unabhängig von Religion, Geschlecht oder Herkunft.

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Das Recht des jüdischen Volkes auf Verwirklichung seiner Selbstbestimmung im Land Israel wurde 1922 erstmals von der internationalen Gemeinschaft durch den Völkerbund (dem Vorläufer der Vereinten Nationen) offiziell unterstützt. Im Jahr 1947, kurz nach der Gründung der Vereinten Nationen, verabschiedete die UN-Vollversammlung die Resolution 181, die zur Errichtung sowohl eines jüdischen als auch eines arabischen Staates im Mandatsgebiet Palästina aufrief. Die lange Geschichte des Konflikts sowie die gegenwärtigen Schwierigkeiten zeigen, dass der Konflikt tatsächlich in der Weigerung der Palästinenser und der arabischen Welt begründet liegt, das Recht des jüdischen Volkes auf einen Staat in seinem historischen Heimatland anzuerkennen. Die Araber haben Vorschlag um Vorschlag zu einer Teilung des Landes zurückgewiesen – vom UN-Teilungsplan 1947 bis hin zu wiederholten Friedensangeboten Israels, insbesondere denen von Camp David und Taba im Jahr 2000 –, die zur Gründung eines palästinensischen Staates neben dem jüdischen geführt hätten. Leider haben die Palästinenser stets mehr Anstrengungen darauf verwandt, den jüdischen Staat zu zerstören, als darauf, einen eigenen Staat aufzubauen. Oder wie es die große, alte Dame Israels, Golda Meir, einmal formuliert hat: wenn die arabischen Nachbarn ihre eigenen Kinder mehr lieben als sie uns Israelis hassen, dann erst haben wir den Weg zum Frieden erreicht. Die Anerkennung Israels als Nationalstaat des jüdischen Volkes ist nicht einfach eine Frage des Prinzips oder der historischen Korrektheit – sie liegt im Kern einer Konfliktlösung – denn nur so kann Israels Existenz garantiert werden. Israel hat Verhandlungen nie von der Anerkennung Israels als jüdischen Staat abhängig gemacht. Dennoch ist eine wirkliche Anerkennung Israels als Nationalstaat des jüdischen Volkes der Schlüssel zu einem wahren Frieden. Es gibt sicherlich viele Ansätze, Antworten auf die Frage zu finden, wann das Selbstbestimmungsrecht der Juden begonnen hat und wie es sich begründet. Je später man ansetzt, z.B. bei der Staatsgründung des modernen Israels oder bei Theodor Herzls „Der Judenstaat“, desto leichter tut man sich, weil der Ballast der Geschichte geringer ist und damit die Beweisführung für einen Zeitraum von gut 100 oder 62 Jahren viel einfacher wäre. Die Selbstbestimmung der Juden ist aber ohne die fast 4.000-jährige Geschichte der Juden nicht einzuordnen. Glauben oder Nicht-Glauben an die Geschichte der Juden, festgeschrieben in der Thora, der jüdischen Bibel, ist eine wichtige Frage für die Definition des Selbstbestimmungsrechts der Juden. Die Berufungs- und Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, zwei Tempelzerstörungen, 2.000 Jahre Diaspora, die gleichzeitig fast 2.000 Jahre Verfolgung, Unterdrückung und Vernichtung beinhalten, und die 62-jährige Geschichte des modernen Israel sowie die vorausgehende Idee des Zionismus sind untrennbar mit dem Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes verbunden.

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Deshalb orientiert sich die Selbstbestimmung an drei Perioden der jüdischen Geschichte. Diese Argumentation ist umstritten, auch in den eigenen Reihen. Dies ist nach 2.000 Jahren Heimatlosigkeit, Verfolgung und dem schleichenden Gift der Assimilation, um sein Dasein zu bewältigen, auch nicht verwunderlich. Dieser Diskussion stellt sich Israel nicht nur mit seinen muslimischen Nachbarn. Aber ich hoffe, es wird ein konstruktiver Streit, mit Gelassenheit ausgetragen, aus dem alle klüger hervorgehen, als sie hineingehen. Die drei Perioden sind –

Erzväter – Abraham,



Propheten – Moses,



Zionismus – modernes Israel.

Sie sehen an dieser Auswahl, dass die Bibel für die Selbstbestimmung der Juden ein wichtiges Buch ist. Damit werden gewisse Verdachtsmomente ausgelöst. So ein Buch kann sich ja jedes Volk schreiben, könnten Kritiker sagen. Das stimmt, aber kein anderes Volk wird mit einem der Bibel vergleichbaren Werk in Verbindung gebracht und kein anderes Volk kann seine fast 4.000-jährige Geschichte mit der Bibel verbinden. Sie suchen Beweise: Juden haben sich fast 4.000 Jahre an die Bibel gehalten, fast 4.000 Jahre überlebt und mit der Bibel Grundlagen menschlichen Zusammenlebens weltweit geschaffen. Die Rechtsprechung des Abendlandes ist eng verbunden mit der Bibel. Die Bibel ist Grundlage für die Definition der Menschenrechte, unseres deutschen Grundgesetzes, Grundlage vieler Verfassungen und der Rechte der Frau in der Moderne. Von mehreren Beweisen möchte ich an dieser Stelle nur einen nennen: die Bibel richtet sich an Mann und Frau, siehe das 5. Gebot „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir's wohlgehe und du lange lebest auf Erden.“ Kunst und Kultur des Abendlandes sind ohne die Bibel nicht vorstellbar, das gilt von Michelangelo über Shakespeare und Johann Sebastian Bach bis hin zu Gotthold Ephraim Lessing und Thomas Mann. Geben Sie bei Google Bibel, Kunst und Kultur ein und Sie werden eine unüberschaubare Liste von Büchern erhalten, die zu diesem Thema allein in den letzten 10 Jahren erschienen sind. Abraham, so steht es im 1. Buch Mose, hat mehrere Bünde mit Gott geschlossen. Gott, oder wem diese Bezeichnung zu abgedroschen erscheint, die „Höhere Kraft“ oder die „große Energie“, hat Abraham aufgefordert, das Haus seines Vaters, sein Land zu verlassen und nach Kanaan zu gehen. Mit Abraham ist die gesamte Sippe des Geschäftsmannes aus Ur gemeint. Gott hat ihm dieses Land versprochen. Er hat ihm zugesagt, dass er ihn und die Seinen beschützen wird. Dafür hat er Opfer gefordert, das für die damalige Zeit übliche Opfer des Erstgeborenen abgeschafft. In einem weiteren Bund wurde die Beschneidung aller Männer der Sippe Abraham vereinbart und sie wurde vollzogen.

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Und nach fast 4.000 Jahren können wir – pro oder contra – feststellen, es gibt die Juden immer noch. Weil oder trotz der Tatsache, dass sie sich immer selbstbestimmt haben und sich noch immer selbst bestimmen aufgrund der Bünde mit Gott, wie in der Bibel beschrieben. Wir überspringen 500 Jahre, in denen Gott seinen besonderen Bund mit den Nachkommen Abrahams immer wieder erneuert: Isaak, Jakob, der von Gott selbst den Namen „Israel“ bekommt, seine Söhne Juda und Joseph. Letzterer ist verkauft worden, er macht Karriere am ägyptischen Hof, daraus entwickelt sich ein 210-jähriges Exil jüdischer Sippen und Stämme unter den Pharaonen, davon 86 Jahre als Sklaven. Auch im ägyptischen Exil haben die Juden ihre Identität – den Glauben an den einen einzigen Gott, die Beschneidung etc. nicht aufgegeben, weder in guten Zeiten als reiche Beamte der Pharaonen noch in schlechten Zeiten als Sklaven. Dann kommt Moses, eine Jude aus dem Stamm Levi, zu dem Gott sagt: Führe Deine Leute aus Ägypten heraus nach Israel. Eine der größten Freiheitsbewegungen der Menschheit nimmt seinen Lauf, 600.000 Männer packen ihr Hab und Gut, gefolgt von weiteren 2,5 Millionen Frauen, Kindern und Alten. Auf dem Weg meldet sich Gott erneut und übergibt ihm die Gesetzestafeln. Wegen Moses’ Verspätung von einem Tag am Berg Sinai wären besagte Sippen und Stämme beinahe vom Glauben abgefallen. Gott sei Dank konnte dies abgewendet werden. Die Selbstbestimmung der Juden bekam einen kräftigen Schub. Mit der Annahme der Bibel durch Moses wurde aus den zwölf jüdischen Stämmen ein Volk mit einer Selbstbestimmung, die sich aus den Gesetzen der Bibel, dem ausgeübten Gehorsam und den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen ergeben: –

Ein Gott,



eine Sprache,



ein gemeinsames Lebensziel, vor Gott zu bestehen und in der kommenden Welt einen ehrenvollen Platz zu erhalten,



die Ausübung der 613 Mitzwoth, den Wohltaten für Gott, die Gesellschaft und sich selbst,



eine gemeinsame Währung, den Shekel,



stetes Streben nach Israel mit dem Zentrum Jerusalem – 803 Mal in der Bibel erwähnt –

sind nur einige Beispiele des äußeren und inneren Ausdrucks der Selbstbestimmung der Juden. Sie sind voller Zweifel? Kann ich verstehen. Aber es bleibt festzuhalten: Kein anderes Buch hat auf den Verlauf der Geschichte der Menschheit mehr

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Einfluss ausgeübt als die Bibel. Zwei weitere monotheistische Religionen haben sich daran angelehnt und fast die Hälfte der Menschheit seit 2.000 Jahren bzw. 1.400 Jahren unter ihrem Glaubensdach vereint. Für Juden gehören die Bibel und das Land Israel untrennbar zu ihrer Selbstbestimmung. Und in jenen Zeiten, in denen es ihnen verwehrt war, das Land Israel zu bewohnen, haben sie sich allein auf die Bibel gestützt. Damit trugen sie fast 2.000 Jahre ihr Land in Buchform durch die Diaspora. Und es hat eine unübersehbare Wirkung: Es gibt die Juden immer noch. Wir überspringen 1.900 Jahre unserer Zeitrechnung – Jahre, in denen das jüdische Volk im Exil war und immer wieder verfolgt wurde, abhängig von der Gnade und Laune des jeweiligen Landesherrn. Jahre, in denen es vielen Juden so schlecht ging, dass sie aus Verzweiflung ihre Identität aufgeben wollten, wenn sie und ihre Kinder nur in Ruhe gelassen würden – man denke z. B. an die spanische Inquisition mit Zwangstaufen. Viele Juden wollten und konnten sich nicht assimilieren, sie konnten ihre Identität nicht aufgeben, flohen, wenn sie noch Gelegenheit dazu hatten. Viele Juden wollten sich assimilieren, und dies wurde ihnen verwehrt – auch Schicksalsgemeinschaft, Leidensgemeinschaft macht ein Volk zum Volk. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts schreibt Theodor Herzl – getrieben durch Pogrome an den Juden im Osten Europas und durch den Schauprozess gegen den unschuldigen jüdischen Offizier Dreyfuss in Paris – das politische Dokument „Der Judenstaat“, oder wie sein Biograph Alex Bein ausführt: „Es brach über ihn herein. Donner rollen, Blitze schlagen ein, tausend Eindrücke hat er auf einmal – eine gigantische Vision. Er kann nicht denken, er kann sich nicht bewegen, er kann nur schreiben, atemlos, unreflektiert, unfähig sich selbst zu kontrollieren, seine Fähigkeiten zur Kritik auszuüben ...“.

Herzl wächst in einem jüdischen Haus in Budapest auf, aber für seine Mutter ist die Nähe zur deutschen klassischen Literatur wichtiger als Bibel und Gebete. Während seiner Studentenzeit trägt er sich mit dem Gedanken zu konvertieren. „Der Judenstaat“ verändert das Bewusstsein der Juden in Europa. Vor Herzl fanden Träumerei und Diskussion über eine eigene Heimstatt jahrhundertelang hinter verschlossenen Türen in Ghettos statt, bevorzugt nach Pogromen. Herzl animierte zuerst die Intellektuellen, und die Idee breitete sich schnell aus, findet Eingang in die politische Szene Europas um die Jahrhundertwende. Seine Ideen fallen in ein günstiges Umfeld: in jener Zeit entstehen viele Nationalstaaten. Auf dem ersten Zionistischen Kongress sagte Herzl: „Wir wollen keine Konspiration, keine geheimen Unternehmungen oder indirekte Methoden anwenden. Wir wollen unsere Frage in die politische Arena werfen und wir stellen uns der offenen Diskussion.“

Juden wurden zu aktiven Faktoren ihrer eigenen Emanzipation, betont Alex Bein, und zitiert Herzls wohl bekanntesten Spruch: Wenn wir es wollen, wird

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der Traum Realität. Das Bewusstsein der Juden in Europa war verändert, ihre Selbstbestimmung hatte eine neue Note erhalten. Im 1. Weltkrieg besiegen die Engländer das Osmanische Reich im Nahen Osten und übernehmen die Herrschaft in Palästina. Die Balfour-Deklaration gesteht den Juden dreizehn Jahre nach Herzls Tod eine eigene Heimstatt zu. 1.900 Jahre nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem nimmt ein jüdischer Nationalstaat Formen an. Wäre Israel in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts gegründet worden, haben Statistiker errechnet, würden heute zwischen Mittelmeer und Jordan über 50 Millionen Juden leben. Die Selbstbestimmung der Juden war aber noch nicht so weit. Sie mussten zuerst die härteste Prüfung überstehen, der je ein Volk ausgesetzt war. Ein Drittel der weltweiten jüdischen Bevölkerung sind während des Holocaust ermordet worden. Erst danach wurde der jüdische Nationalstaat Israel geschaffen. In der jüdischen Selbstbestimmung wurde der 4.000 Jahre alte Bund zwischen Gott und Abraham staatliche Wirklichkeit. Es war die Kraft der jüdischen Selbstbestimmung, genährt und getragen durch die Inhalte der Bibel, die das Unvorstellbare möglich gemacht haben. In dieser Zeit sind große und mächtige Völker wie Babylon, Athen und Rom untergegangen. Das jüdische Volk lebt, und viele Historiker sind der Meinung, dass es den Juden vor allem in Israel noch nie so gut gegangen ist wie heute. Denn ihre Selbstbestimmung hat ihren Höhepunkt erreicht: Die Bibel ist wieder in Israel, mit der Hauptstadt und dem geistigen Zentrum Jerusalem. Ministerpräsident Benyamin Netanyahu zufolge ist das Kernproblem des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern die fortdauernde Weigerung Letzterer, „den Anspruch des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat in seiner historischen Heimstätte“ anzuerkennen. Netanyahu hat diese Frage zur zentralen „Voraussetzung für die Beendigung des Konfliktes“ erklärt. Dieser Anspruch hat nichts mit der politischen Einordnung Netanyahus zu tun. Kein Ministerpräsident Israels kann und wird von dieser Forderung abrücken. Das war schon 1948 so wie in der Neuauflage des Buches „1949 – die ersten Israelis“, mit erst in diesem Jahrzehnt zugänglich gewordenen Dokumenten der Kabinettssitzungen der ersten israelischen Regierung unter Staatsgründer Ben Gurion, beschrieben. Der Autor, Tom Segev, der ein israelischer Historiker und regierungskritischer Journalist ist, beschreibt detailliert die Stimmung in Israels politischer Führungsschicht nach dem UN-Teilungsplan und der Gründung des Staates Israels. Man konnte sich damals nicht vorstellen, dass die Palästinenser nach dem Unabhängigkeitskrieg und Waffenstillstandsvereinbarungen nicht doch irgendwann das Gewehr gegen die landwirtschaftliche Schaufel eintauschen. Dem zwingenden Gesetz des Lebens gehorchend: Das

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Land ist nicht heilig, sondern es muss bebaut werden, damit die Menschen davon leben können. Durch die Forderung Netanyahus nach Anerkennung des jüdischen Staates wurde ein fundamentales nationales Anrecht auf globaler Ebene wiederbelebt, das einst als axiomatisch galt, heute aber kaum noch erwähnt wird. Vor neunzig Jahren beschloss der Oberste Rat der Entente-Mächte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Niederlage des Osmanischen Reiches auf der SanRemo-Konferenz die Aufteilung der Territorien des Nahen Ostens. Dabei entschied man sich, die Balfour-Deklaration, die eine jüdische Heimstätte in Palästina befürwortete, in das britische Mandat für die Region einzubeziehen, womit international das jüdische Recht auf Selbstbestimmung anerkannt wurde. Die in San Remo verwendete Sprache war ein Triumph der zionistischen Bewegung, die eine nationale Lösung für das jüdische Dilemma vorsah. Damit wurde die Existenz der Juden als mehr als nur individuelle Anhänger einer bestimmten Religion – des Judentums, sondern als gesellschaftliche Gruppe mit Anspruch auf nationale Selbstbestimmung bestätigt, in diesem Fall in Form einer nationalen Heimstätte. Diese sollte Palästina sein, die antike Heimat der Juden. Die in San Remo bestimmte Sprachregelung stellte mit den Worten des britischen Außenministers Lord Curzon „die Magna Carta des Zionismus“ dar. Es war klar, dass der Begriff einer „nationalen Heimstätte“ einen Staat meinte. Die jüdische Selbstbestimmung war Teil eines Dekolonisationsprozesses im Nahen Osten, der zur arabischen und jüdischen Unabhängigkeit führte. Die wiederholten Assoziationen, mit denen Israel als „koloniales Projekt“ gesehen wird, sind ahistorisch und falsch, leugnen die jahrtausendelange Beziehung der Juden mit dem Land Israel und ignorieren die Vorteile, die der Zionismus den Arabern im Prozess der Dekolonisation gebracht hat. Durch die Gründung des Staates Israel wurde das jüdische Volk wieder zu einem geschichtlichen Akteur. Zu verdanken war dies den internationalen Institutionen, die die Berechtigung und Bedeutung des jüdischen Selbstbestimmungsrechts anerkannten. Diese Institutionen akzeptierten die Gültigkeit des Zionismus, der nationalen Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes. 62 Jahre nach Gründung des Staates wird Israel mit einer andauernden Diskussion über seine Legitimation als Staat und damit sein Selbstbestimmungsrecht konfrontiert. Einige der 192 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen machen manchmal Fehler, viele führen Kriege und werden dafür auch manchmal zur Rechenschaft gezogen. Im Sudan tobt seit Jahren ein Bürgerkrieg, zigtausende von Opfer sind zu beklagen. In Birma, Nordkorea, China werden die Menschenrechte mit Füssen getreten, in den meisten muslimischen Staaten werden Frauen noch immer wie Sklaven gehalten. Frauenrechte? Allein die

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Erwähnung dieses Wortes in einem muslimischen Umfeld wird als Provokation gewertet. Ein Historiker, der zu diesem Thema kürzlich vor einem EUGremium in Brüssel einen Vortrag gehalten hat, wurde belehrt, dass das Wort Sharia, also die Grundlage der gängigen Rechtssprechung in muslimischen Staaten, nicht erwähnt werden darf, politisch nicht opportun ist. Aber wenn Israel in seiner Hauptstadt Jerusalem 800 oder 8.000 Wohnungen baut, gibt es einen weltweiten Aufschrei und UN-Sondersitzungen in New York, begleitet von Stellungnahmen und Kommentaren, die von einer Bedrohung des Friedens künden und die Legitimation des Staates Israel in Frage stellen. 80 Prozent der UN-Resolutionen des Jahres 2010 – ebenso in den Vorjahren – beschäftigen sich mit Israel, einem Land, das annähernd 0,1 Prozent der Weltbevölkerung stellt. Fällt Ihnen nichts auf? Kommt Ihnen das nicht seltsam vor? In Israel leben 1,5 Millionen Muslime als freie Staatsbürger mit fast allen Rechten und fast allen Pflichten, also auch mit einem eigenen Recht auf Selbstbestimmung. Entscheidend ist aber, dass sie dort freiwillig leben. Sie könnten morgen das Land verlassen, in die Westbank oder nach Gaza sind es weniger als eine Stunde Autofahrt. Aber sie bleiben. Und es gibt auch einen Grund: weil ihre Lebensbedingungen in Israel besser sind als in den meisten arabischen Ländern. Zionismus ist keine Ideologie, schreibt, A. B. Jehoshua, ein international gewürdigter und angesehener israelischer Schriftsteller, dessen Familie seit Generationen in Jerusalem lebt. Ideologie wird in der hebräischen Enzyklopädie als eine konsolidierte und systematische Zusammenfassung von Ideen, Verständnissen, Prinzipien und Geboten definiert, die eine gemeinsame Weltanschauung einer Sekte, Partei oder Sozialen Klasse zum Ausdruck bringt. Zionismus ist dagegen eine gemeinsame Plattform für verschiedene und sogar gegensätzliche soziale und politische Ideologien und kann deshalb nicht selbst als Ideologie bezeichnet werden, schreibt Jehoshua. Zionismus bildete und baute nur den Rahmen für eine jüdische Heimstätte. Welche Regierungsart, welche Grenzen, welche sozialen Werte darin verwirklicht werden sollten, ist den Einwanderern überlassen worden. Dutzende von sozialen und politischen Ansichten und ihren Interpretationen wurden angewendet. Das einzige Gesetz im Staat Israel, das die Bedeutung des Zionismus manifestiert, ist das Rückkehrrecht aller Juden. Deshalb ist Zionismus nur ein Streitpunkt zwischen Juden in Israel und Juden in der Diaspora. Ein derartiges Gesetz gibt es auch in Ungarn oder Deutschland und hoffentlich auch bald in einem palästinensischen Staat, der eine gemeinsame friedvolle Grenze mit Israel haben wird. Und genauso wenig wie dieses palästinensische Gesetz nicht rassistisch sein wird, genausowenig ist das in Israel existierende Recht rassistisch.

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Ich möchte an dieser Stelle auf ein neues Buch verweisen, das vor wenigen Wochen erschienen ist: Start-up Nation, The Story of Israels’ Economic Miracle. Ich erwähne dieses Buch aus 2 Gründen: 1. Es hat etwas mit dem Selbstbestimmungsrecht der Juden zu tun, also mit unserem Thema. 2. Ich wünsche mir, dass dieses Buch bald ins Arabische übersetzt wird und zur Pflichtlektüre bei meinen Nachbarn im Nahen Osten wird. Denn dieses Buch beschreibt, wie sich das Selbstbestimmungsrecht entwickeln kann, in Bewegung bleibt, sich verändert, ja verändern muss. Was heute finanz- und wirtschaftspolitisch richtig ist, wurde in Israel in den 80er Jahren als falsch erkannt – Israel hatte damals eine fast 1.000prozentige Inflationsrate, und es war der ermordete Itzchak Rabin, der den Hebel umlegte von einer abgeschotteten –fast Zwangswirtschaft – zu einer offenen Marktwirtschaft. Das hat ungeahnte schöpferische Kräfte freigesetzt. Mit dem Ergebnis, dass es heute weltweit keinen Computer und kein mobiles Telefon gibt, in dem nicht mindestens ein Chip ist, der in Israel entwickelt wurde. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch zwei Umstände, auf die Israel oder die Juden keinen Einfluss hatten und haben. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion wurden eine Million Juden aus den GUS-Staaten nach Israel geschwemmt, davon zigtausende gut ausgebildete Ingenieure, die hungrig waren, bereit 7 Tage die Woche zu arbeiten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Kommunismus, der Jahrzehnte Israel bekämpfte und seine Feinde unterstützte, dem Land letztlich eine der größten Sauerstoffzufuhren verabreicht hat. Ständige Bedrohung macht erfinderisch, besonders wenn man keine natürlichen Rohstoffe besitzt, wenn Kreativität der einzige Rohstoff ist, über den man verfügt. Wichtig dabei ist aber, dass ein Klima herrscht, politische Voraussetzungen gegeben sind, die es zulassen und fördern, dass Menschen ihre Neugier ausleben und Fragen stellen können, gemeinsam mit ihren Lehrern nach Antworten suchen, neue Wege erkunden. Diese gelebte Neugier, die ein Wesenszeichen jeder Jugend ist, in allen Kulturen und Religionen, hat in Israel etwas mit der Bibel zu tun. Juden haben in jeder Generation ihre Geschichte, ihre Bibel neu gelernt und hinterfragt. Wie war das damals mit Abraham und Isaak, wollte er ihn wirklich opfern? Wie konnte Moses Millionen Menschen aus Ägypten in die Freiheit führen? Warum sprach Gott gerade mit ihm? Jede Generation stellt neue Fragen, darin steckt Unruhe, schöpferische Unruhe, die Verkrustungen verhindert, Lehrer nicht alt werden lässt, sie ständig herausfordert und mit ihren Schülern zusammenschweißt. Ich erzähle das nicht, weil ich Israel und meine Juden hervorheben will. Wenn ich eine Botschaft aus Israel, nach 12 Jahren Nahost, an meine palästi-

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nensischen Nachbarn mitbringe, dann lautet sie: schreibt ab, so wie wir in der Schule vom Nachbarn gespickt haben. Wir wurden dann Jahre später kreativ. Japaner haben es den Europäern nachgemacht, rücksichtslos kopiert, bis sie selbst kreativ wurden und Sony und Toshiba erfolgreicher waren als Grundig und Telefunken. China macht bis heute fast nichts anderes. Wenn Nachmachen durch den Zweck geheiligt wird, soziale Spannungen friedenstiftend abzubauen, sollten die Kreativen nichts dagegen haben, wenn ihnen die Noch-WenigerKreativen über die Schulter schauen. Kopieren statt schießen heißt die Devise. Halten wir uns doch bei unserer Selbstbestimmung, so verschiedenartig sie bei Juden und Arabern sein mag, nicht damit auf, was uns trennt, sondern was uns verbindet. Und das ist viel mehr als allgemein bekannt ist. Abraham und Ibrahim, Propheten wie Moses, aber was viel wichtiger ist – und der Waldbrand im November/Dezember 2010 hat es erneut bewiesen: Zusammenarbeit ist möglich. Palästinenser und Israelis, unterstützt von Ägyptern, Jordaniern und Türken, haben gemeinsam mit Europäern und Amerikanern die verheerendste Katastrophe in der neueren Geschichte der Region in den Griff bekommen. Warum? Es ist unser gemeinsamer Wald, unsere gemeinsame Luft, unser gemeinsames Wasser. Dafür gibt es keine Grenzen, Zäune oder Mauern. Je eher wir das im Nahen Osten und in der Welt akzeptieren und praktizieren, desto besser für alle Beteiligten. Und beteiligt sind wir alle.

Abstract First of all: I am not willing to participate in a discussion on whether Israel has the right to exist. No country, none of the UN member states would agree to answer such a question. Israel has the same right to exist as a state and a nation as all others on our planet. Israelis are building their country with a view to a flourishing society and a successful economy. Furthermore, as a member of the OECD they have shown that as a democracy Israel is a shining example, not only for the Middle East. The deep motivation to get back to Israel after more than 1900 years in exile and to fight for survival for 63 years comes from the Thora, the Jewish Bible, which is also the foundation of two more monotheistic religions, Christianity and Islam. The Bible and the country of Israel are inseparably connected to the Jewish people’s right of self-determination. My humble advice: The Middle East should copy Israel, do not invest in weapons or explosives, invest in education, invest in the future of the young generation of Israel´s neighbours, and you will find out: Israelis and Arabs have more in common than what separates them.

Das Recht eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung Von Abdullah Hijazi

Bei dem Selbstbestimmungsrecht der Völker geht es um einen völkerrechtlichen Rechtssatz, dem zufolge jede Nation das Recht hat, frei, also unabhängig von ausländischen Einflüssen, über ihren politischen Status, ihre Staats- und Regierungsform und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Unter dem Eindruck des verheerenden 2. Weltkrieges wurde 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) formuliert. Sie enthält in Verbindung mit den 2 UN-Pakten von 1966 in ihren 30 Artikeln einen Menschenrechtskatalog, der staatsbürgerliche und politische, liberale Freiheits-, Gleichheits- und Teilhaberechte mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten verbindet. Darin heißt es: (1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. (2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden. (3) Die Vertragsstaaten, einschließlich der Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandgebieten verantwortlich sind, haben entsprechend der Charta der Vereinten Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten. Für die Überwachung der Einhaltung dieser Vertragspflicht sind der UNMenschenrechtsausschuss sowie der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verantwortlich. Soweit Idee und Definition des Selbstbestimmungsrechts. Leider zeigt die Geschichte und der Zustand der Welt mit seinen unzähligen Konflikten, dass alle Resolutionen und Verträge nichts nützen, wenn die Einhaltung der Kriterien bzw. die Verstöße gegen die Kriterien nicht geahndet werden, weil dahinter keine Macht zu ihrer Durchsetzung steht. Deshalb ist die Verurteilung eines Vertragsbrechers eine stumpfe Waffe ohne Folgen. Die Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist die Ursache für viele alte und neue Konflikte in der Welt.

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Uns interessiert in diesem Zusammenhang der schon Jahrzehnte andauernde israelisch-palästinensische Konflikt. Im Nachfolgenden werde ich die Kriterien, die Ursachen und Folgen der permanenten Verletzung des palästinensischen Rechts auf Selbstbestimmung durch die Besatzung Israels darlegen. Zunächst ein kurzer Blick zurück in die Geschichte des Israel-PalästinaKonflikts: Das zionistische Projekt der Errichtung eines Judenstaats war eine rein europäische Erfindung, das keine Wurzeln in der Region hatte. Es traf in Palästina auf eine Bevölkerung, die gerade dabei war, ein nationales Bewusstsein heranzubilden. Palästina hatte keine nationalstaatliche Tradition entwickeln können, da es sich bis 1917 unter osmanischer Herrschaft befand und anschließend unter britischem Mandat stand. Das zionistische Programm sah – schon von Theodor Herzl konzipiert – eine massive Ansiedlung von Juden in Palästina vor, bis hin zur gänzlichen Entfernung der dort lebenden Araber. Das Ziel war von Anfang an: der Judenstaat. In der öffentlichen Darstellung wurde dieser Sachverhalt verhehlt bzw. seine Bedeutung heruntergespielt durch die gängige Parole „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land.“ Anfang 1947 gab Großbritannien das Palästina-Mandat an die UNO zurück, in der Folge beschloss die UN-Generalversammlung die Teilung Palästinas, was einerseits zur Gründung des Staates Israel und andererseits – gleichzeitig – zur palästinensischen Katastrophe – der Nakba – führte. Während die zionistische Führung dem Teilungsplan zustimmte – stellte er doch den ganz großen Schub in der Verwirklichung der zionistischen Pläne mit gleichzeitiger internationaler Anerkennung dar – lehnten die Palästinenser ihn vehement ab. 1948 begann in der Folge der Ausrufung des Staates Israel der erste arabisch-israelische Krieg. Oberstes Kriegsziel der darauf vorbereiteten Zionisten war Landgewinnung und die Vertreibung der Palästinenser. Von den etwa 900.000 Palästinensern, die in diesem Gebiet gelebt hatten, waren nach dem Krieg nur noch etwa 150.000 da. Die Vertreibungen geschahen mit äußerster Brutalität, es kam zu etlichen Massakern. Das Ziel war die Entvölkerung arabischer Dörfer und Stadtviertel. Gelegentlich wird argumentiert, die Palästinenser seien ja selbst schuld an ihrem Unglück, weil sie dem Teilungsplan nicht zugestimmt haben. Von den Palästinensern zu erwarten, dass sie die Gründung eines jüdischen Staates auf ihrem Gebiet ohne Weiteres hinnehmen würden, ist unrealistisch. Die zionistische Führung erwartete das auch gar nicht, vielmehr bereitete sie sich in dem zu erwartenden Krieg vor auf größtmögliche Erweiterung des jüdischen Staates mit möglichst geringer arabischer Bevölkerung. In dem israelisch-arabischen Krieg wurden mindestens 400 arabische Dörfer nach ihrer

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Entvölkerung zerstört, die bis dahin arabischen Wohngebiete der Städte mit Juden besiedelt. Es handelt sich dabei um einen Akt massiver ethnischer Säuberung, die Vertreibung von Zivilisten ist kriegsvölkerrechtlich unzulässig. Was das zionistische Ziel der Errichtung eines jüdischen Staates angeht, war diese Politik zwar konsequent, sie war aber völkerrechtswidrig und ging mit massiven Kriegsverbrechen einher. Ein weiterer Verstoß gegen das Völkerrecht ist die Weigerung Israels bis zum heutigen Tag, Flüchtlinge bzw. Vertriebene zurückkehren zu lassen.

Die Lage der Palästinenser nach 1948 Die Verfassung Israels war und ist ein Problem für seine palästinensischen Bewohner. Israel war als jüdischer Staat gegründet worden, was sich in einer Reihe von Privilegien für Juden gegenüber Nichtjuden niederschlug. Durch das israelische „Rückkehrgesetz“ hatten zwar nicht-israelische Juden überall auf der Welt das Recht, nach Israel einzuwandern und die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten, die arabischen Palästinenser, die in Israel verblieben waren, wurden dagegen in vieler Hinsicht diskriminiert, ausgegrenzt und unterdrückt. Den 1948 Vertriebenen und Flüchtlingen wurde nicht gestattet nach Israel zurückzukehren. Ihr Land und sonstiger zurückgelassener Besitz wurden konfisziert. Auch den in Israel verbliebenen Palästinensern wurde seit 1948 ein großer Teil ihrer Ländereien unter verschiedenen gesetzlichen Vorwänden weggenommen – eine Praxis, die bis heute anhält und völkerrechtlich verurteilt wird.

Zur Vergegenwärtigung des an den Palästinensern begangenen Unrechts Am Ende des britischen Mandats – also 1947 – befanden sich circa 8 % des Territoriums, das dann der Staat Israel wurde, in jüdischem Besitz. Wenige Jahre später waren es 93 %: ein gigantischer nachträglich legalisierter Landraub! Es ist wichtig, den Israel-Palästina-Konflikt unter völkerrechtlichem Gesichtspunkt zu betrachten, weil die juristische Beurteilung allgemein anerkannte nachprüfbare Kriterien enthält. Die Besatzung eines Landes sieht völkerrechtliche Gebote und Verbote vor, um das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen. Artikel 42 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 besagt: ein Gebiet gilt als kriegerisch besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet. Die Besatzung erstreckt sich nur auf die Gebiete, wo diese Gewalt hergestellt und ausgeübt werden kann. Besetzt ist ein Gebiet dann, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt und effektiv unter der Kontrolle

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der gegnerischen Streitkräfte befindet, d. h. wenn die Besatzungsmacht faktisch in der Lage ist, ihre Herrschaft über die Zivilbevölkerung durchzusetzen. Dies gilt für das Westjordanland und Ostjerusalem seit 1967. Auch für den Gazastreifen, den Israel zwar 2005 offiziell verlassen hat, spätestens aber seit 2007 durch die Abriegelung faktisch wieder besetzt hat. Rechtliche Verpflichtungen der Besatzung sind kodifiziert in der HLKO und später im IV. Genfer Abkommen von 1949, sowie in den Zusatzprotokollen zum Genfer Abkommen von 1977. Dabei geht es hauptsächlich um Schutz und Versorgung der Zivilbevölkerung. Zitat: Die Besatzungsmacht hat die Aufgabe „alle von ihr abhängenden Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar soweit kein zwingendes Hindernis besteht unter Beachtung der Landesgesetze.“

Diese Aufgaben umfassen: 1. Versorgung der Bevölkerung mit den lebensnotwendigen Nahrungsmitteln und medizinischen Gütern. (Art. 555 IV. Genfer Abk.), 2. Schutz der Menschenrechte, der religiösen und anderen Gebräuche (Art. 27 IV. Genfer Abk.), 3. Achtung der innerstaatlichen Rechtsordnung (Art. 64 IV. Genfer Abk.). Verboten sind der Besatzungsmacht ausdrücklich: 1. Annexion des besetzten Territoriums (Art. 2.3 und 2.4 der UN-Charta für Menschenrechte), 2. Besiedlung mit eigenen Staatsangehörigen, sowie Verschleppung von Teilen der Bevölkerung (Art. 147 IV. Genfer Abk. von 1976). Verstöße gegen diese Verbote sind als Kriegsverbrechen zu ahnden, wofür der internationale Gerichtshof in Den Haag zuständig ist.

Die Realität in der Westbank und in Gaza Der Gazastreifen und die Westbank werden demnach nicht nur faktisch von Israel beherrscht, es handelt sich auch völkerrechtlich um eine Besatzung, denn Israel kontrolliert und reglementiert die Grenzen und den Grenzverkehr, den Luftraum, das Seegebiet, die Im- und Exporte, die Exporterlöse (Zölle), die Bewegungsfreiheit, die Geldtranfers etc. Israel übt damit faktisch das gesamte Gewaltmonopol aus über das Westjordanland und den Gazastreifen. Das gesamte zivile Leben der Bevölkerung wird von der israelischen Politik und dem Militär diktiert. Damit verstößt Israel tagtäglich gegen internationales Recht. Davon zeugen die israelischen Siedlungen und der Mauerbau auf palästinensi-

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schem Gebiet, sowie die ca. 600 Checkpoints. Auf den Raubbau der israelischen Besatzungsmacht an den natürlichen Ressourcen, vor allem Wasser, gehe ich später ein. Aus völkerrechtlicher Sicht der gravierendste Verstoß und Haupthindernis für einen palästinensischen Staat sind die israelischen Siedlungen im Westjordanland. Sie durchlöchern das Land der Palästinenser wie einen Schweizer Käse und sind nach internationalem Recht völkerrechtswidrig. Dadurch hat Israel 50 % des Landes unter seine Kontrolle gebracht, tatsächlich beherrscht Israel durch das von den Palästinensern getrennte Straßensystem, das die Siedlungen untereinander verbindet, das gesamte Westjordanland. Mittlerweile leben 300.000 Menschen in den Siedlungen, weitere 180.000 in Ostjerusalem. Seit dem Friedensprozess von Oslo in den 1990er Jahren hat sich die Zahl der Siedler verdreifacht, obwohl sich Israel durch die Unterzeichnung der Roadmap 2002 verpflichtet hatte, die Siedlungsaktivitäten einzustellen. Auch gegenwärtig sind sehr substantielle Erweiterungen der Siedlungen in Ostjerusalem und im Westjordanland geplant oder befinden sich schon im Bau. Die israelische Regierung hat die faktischen Neuansiedlungen immer verschleiert als Ausbau bestehender Siedlungen, bzw. mit natürlichem Wachstum begründet. Dies gilt besonders für die Siedlungsaktivitäten im besetzten Ostjerusalem. Dort ist ein Drittel des annektierten Ostteils für den jüdischen Siedlungsbau enteignet worden. Immer wieder kommt es zur Vertreibung arabischer Familien und zur Zerstörung ihrer Häuser. Der verbleibende Teil Ostjerusalems steht der palästinensischen Bevölkerung allerdings auch nicht zur Verfügung: auch hier bestimmt Israel als Besatzungsmacht und verbietet den Ausbau oder Neubau von Häusern. Wenn dann die Palästinenser aus Verzweiflung, weil sie keine Baugenehmigungen von Israel bekommen, trotzdem bauen, leben sie mit dem Risiko, dass ihre Häuser von den israelischen Behörden abgerissen werden, weil sie „illegal“ sind. 60.000 Palästinenser – ein Viertel der Bevölkerung Ostjerusalems – leben unter dieser Bedrohung. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die Landnahme der Israelis im Jordantal. Von den 2.400 km2 fruchtbarsten Ackerlandes des Jordantales wird die Hälfte von israelischen Siedlern besetzt, weiteres Land des Jordantales hat Israel als Militärzone ausgewiesen. Den Palästinensern bleiben demnach nur 4 % des Tales für Landwirtschaft und Wohnen. Das alles veranschaulicht den klaren Bruch des Völkerrechts durch Israel. Ich möchte noch zurückkommen auf den ebenso völkerrechtswidrigen Raub an den natürlichen Ressourcen, besonders des Wassers, durch die Besatzungsmacht. Unter der Westbank gibt es große regionale Wasserressourcen, die zu 80 % von Israel beansprucht werden. Pro Person und Tag erhalten Israelis davon 300 Liter, Palästinenser nur 70 Liter, in manchen Regionen nur 20 Liter.

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Eine weitere Diskriminierung ist das Verbot für Palästinenser, Brunnen bis zu einer größeren Tiefe als 70 Meter bohren zu dürfen, wo es kein Grundwasser mehr gibt. Die Israelis hingegen dürfen 1.000 Meter tief bohren. In manchen Gegenden der Westbank haben die Menschen nur 10 bis 15 Liter Wasser am Tag, das reicht nicht, um hygienische Verhältnisse sicherzustellen und widerspricht der Verpflichtung zur Gewährleistung einer Grundversorgung durch die Besatzungsmacht. Nach internationalem Recht hat jeder Mensch ein Grundrecht auf Wasser, die Ausbeutung der Ressourcen durch die Besatzungsmacht ist völkerrechtswidrig und illegal.

Die Trennungsmauer Sie ist nicht etwa nur ein Zaun. Auf einer bis zu 100 Meter breiten Sicherheitszone mit Bewachung, Elektrozäunen, Gräben, Kameras, Patrouillen etc. erhebt sich die bis zu 10 Meter hohe Mauer auf 709 km Länge. Damit ist die Trennungsmauer zweimal so lang wie die sog. Grüne Linie, die Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland. Sie steht aber ganz und gar auf palästinensischem Boden und ist nur an einigen Stellen passierbar – wenn die Israelis es erlauben. Sie schneidet ca. 200.000 Palästinenser auf drei oder sogar vier Seiten von ihrer Umgebung, ihren Feldern und Dörfern ab, ja sogar von ihren Familien. Die Mauer zerschneidet nicht nur das Land, sondern schneidet auch das Leben der Menschen von lebenswichtigen Strukturen, der elementaren Grundversorgung und ihren sozialen Netzen ab. Seither ist der Bau der Mauer auf palästinensischem Gebiet in etlichen Resolutionen der UN-Vollversammlung und in Gutachten des Internationalen Gerichtshofs als völkerrechtswidrig verurteilt worden bzw. es ist gefordert worden, den Mauerbau rückgängig zu machen.

Zusammenfassung der Menschenrechtsverletzungen im Sinne des Völkerrechts durch Israel an den Palästinensern Maßnahmen der israelischen Regierung, die nicht vereinzelt, sondern massiv und systematisch angewandt wurden: Unnötiges und unverhältnismäßiges Einsetzen von tödlicher Gewalt durch die Armee (während der 1. und 2. Intifada). Gezielte Tötungen, willkürliche Festnahmen, Misshandlung von Gefangenen, Folter bei Verhören, auch mit Todesfolge, Inhaftierung ohne gerichtliche Verfahren, so genannte Administrativhaft, häufige und langandauernde Einschränkung der Bewegungsfreiheit wie Hausarrest, Stadtarrest, Verbot, ein bestimmtes Gebiet zu betreten, Ausreiseverbot, Zwangsexilierungen, Enteignungen, Zerstörung bzw. Schließung von Häusern oder Wohnungen, Zerstörung von Ernten oder Plantagen, Schließung

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von Institutionen wie Schulen, Behinderung der Religionsausübung, Entzug von Aufenthaltsgenehmigungen, Verhinderung von Familienzusammenführungen, Zerstörung von historischem Kulturgut. Und nicht zuletzt die Folgen der Strangulierung des Gazastreifens, wo die gesamte Bevölkerung seit der Abriegelung 2007 in Kollektivhaft genommen wird. Auf den Krieg, den Israel 2008/09 gegen die schutzlose Bevölkerung des Gazastreifens führte, gehe ich hier nicht ein. Der so genannte Goldstone-Bericht befasst sich auf über 500 Seiten mit der israelischen Operation Cast Lead und den damit verbundenen Kriegsverbrechen. Der Menschenrechtsrat der UN verurteilt Israel regelmäßig für sein Vorgehen gegen die Palästinenser, was aber von Israel immer ignoriert wird. Die wichtigste Resolution ist die Resolution 242 vom November 1967, welche den israelischen Rückzug aus den 1967 besetzten Gebieten, die Beendigung des Kriegszustands und die Anerkennung aller Staaten der Region in gesicherten Grenzen, sowie eine gerechte Regelung des Flüchtlingsproblems forderte. Die Idee dahinter war „Land gegen Frieden“, also israelischer Rückzug aus den eroberten und besetzten Gebieten im Austausch gegen seine Anerkennung durch die arabischen Staaten. Die arabischen Staaten ließen sich schrittweise darauf ein, während Israel in den besetzten Gebieten durch seine Siedlungsaktivitäten vollendete Tatsachen schuf. Praktisch alle Staaten der Welt – einschließlich der USA – haben die Siedlungen als flagranten Bruch des Völkerrechts verurteilt, gemäß der Genfer Konvention, die die Besiedlung militärisch besetzten Landes mit der eigenen Zivilbevölkerung verbietet. Trotzdem hält Israel weiterhin an der Besatzung der palästinensischen Gebiete fest und verletzt trotz aller Appelle die Gebote und Verbote des Völkerrechts. Besatzungsregime sind aber nicht nur nach geltendem Völkerrecht als Dauereinrichtung verboten, sondern führen nur zu berechtigtem Widerstand und Gewalt und großem Leiden der Zivilbevölkerung. Israel kann sich sein insgesamt völkerrechtswidriges Vorgehen gegen die Palästinenser nur leisten, weil es über die fast bedingungslose finanzielle, militärische und politische Unterstützung der westlichen Welt unter Führung der USA verfügt.* ___________ * Literaturhinweise: Menschenrechte: Dokumente und Deklarationen, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1999; Human Rights Council, Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen über den Gaza-Konflikt: Menschenrechte in Palästina und anderen besetzten Gebieten („Goldstone-Bericht)“, Abraham Melzer (Hrsg.), SEMITedition, Neu-Isenburg 2010; Ludwig Watzal, Frieden ohne Gerechtigkeit? Israel und die Menschenrechte der Palästinenser, Böhlau Verlag, Köln 1994; Alexander Flores, Der Palästinakonkflikt – Wissen was stimmt, Herder Verlag 2009; Norman Paech / Kerstin Seifert, Israel und Palästina – die aktuelle Lage aus völkerrechtlicher Perspektive. Ein Beitrag aus: Sophia Deeg / Hermann Dierkes (Hrsg.), Bedingungslos für Israel?, Neuer ISP Verlag, Köln/Karlsruhe 2010.

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Abstract “The right of all peoples to self-determination” is exposed to severe strains. Although it is generally accepted in public international law, its practical application remains problematic. This issue hardly becomes more evident in any other present conflict than in the struggle between Israelis and Palestinians, which has been going on for more than 60 years now. Therefore, when compared, the pertinent legal standards of public international law stipulating the right of peoples to self-determination, and the actual situation of Palestinians living in the West Bank, the Gaza Strip and East Jerusalem, reveal a sharp contrast. In this regard, the rigid occupation regime and especially the continued building of settlements, as well as the separation wall, represent the most blatant examples. These elements are moreover identified as major obstacles on the road to a Palestinian state, which would effectively implement the Palestinians’ right of self-determination. Hence, in the author’s view, the failure to implement the U.N. Security Council Resolution 242, which stipulates Israel’s withdrawal from territories which were occupied in 1967, constitutes a continuous suppression of the Palestinians’ right of self-determination.

Die Autoren / The Authors Prof. Dr. Wilfried von Bredow Persönliche Angaben / Personal Data Wilfried von Bredow, Jahrgang 1944, promovierte 1969 im Fach Politische Wissenschaft bei Karl Dietrich Bracher in Bonn; nach seiner Zeit als Wissenschaftlicher Assistent und Akademischer Rat am Seminar für Politische Wissenschaft in Bonn wurde er 1972 bis zu seiner Emeritierung 2009 an die Philipps-Universität auf eine Professur für Außenpolitik und Internationale Beziehungen berufen. Von 1975 bis 1977 war er Vizepräsident der PhilippsUniversität, danach häufig für längere Zeit Research Fellow oder Gastprofessor an Universitäten in Frankreich, den USA, Kanada und Taiwan. 1994 erhielt er den Diefenbaker-Award des Canada Council und 1999 den Dr. h. c. der Wilfrid Laurier University in Waterloo, Kanada. Wilfried von Bredow, born 1944, received his PhD in political science at Bonn in 1969. From 1972 to 2009, he was professor for political science at Philipps-University Marburg. He served as vice-president of that institution from 1975 to 1977. Frequent sojourns as research fellow (St. Antony’s College, Oxford), guest scholar, or visiting professor (France, USA, Canada, Taiwan). In 1994, he received the Diefenbaker Award of the Canada Council, and in 1999 an honorary doctorate by Wilfrid Laurier University, Waterloo, Canada. Forschungsschwerpunkte / Research Interests Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Entwicklung des Ost-WestKonflikts, die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands, Kanadas Rolle in der internationalen Politik und das zivil-militärische Verhältnis in Demokratien. His main research interests are Germany‘s foreign and security policy, the development and the demise of the East-West conflict, civil-military relations and Canada’s role in international politics.

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Die Autoren / The Authors

Auswahlbibliographie / Selected Publications Jüngste Buchveröffentlichungen / Recent publications : Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland (Wiesbaden 2008²); Militär und Demokratie in Deutschland (Wiesbaden 2008); Politische Urteilskraft (mit Thomas Noetzel, Wiesbaden 2009). Among his recent publications are: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland (Wiesbaden 2008²), Militär und Demokratie in Deutschland (Wiesbaden 2008) and (with Thomas Noetzel) Politische Urteilskraft (Wiesbaden 2009).

Kontaktadresse / Contact Address Prof. Dr. Dr.hc. Wilfried von Bredow (ret.) Philipps-Universität Marburg Altes Schulhaus Göttingen 35094 Lahntal Internet: http://staff-www.uni-marburg.de/~vonbredo/

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Abdullah Hijazi Persönliche Angaben / Personal Data Abdullah Hijazi wurde am 01.08.1948 in Nablus / Palästina geboren. Studium Maschinenbau an der TU Dresden, Kulturwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin. Seit 1980 im Diplomatischen Dienst der PLO, seit 2011 Botschaftsrat der Palästinensischen Diplomatischen Mission in Deutschland und Leiter der Abteilung für Kultur und Information. Abdullah Hijazi was born on August 1, 1948 in Nablus / Palestine. Study of Mechanical Engineering at the TU Dresden (Technical University Dresden), and Cultural History and Theory at the Humboldt University in Berlin. Since 1980, Foreign Service for the PLO, since 2011 Counsellor at the Palestine Diplomatic Misson in Germany, and Head of the Department for Culture and Information.

Die Autoren / The Authors

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Kontaktadresse / Contact Address Palästinensische Diplomatische Mission Ostpreußendamm 170 12207 Berlin Tel.: +49 (0) 30 206 177 – 18 Fax: +49 (0) 30 206 177 – 81 www.palaestina.org

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Prof. Dr. Christian Hillgruber Persönliche Angaben / Personal Data Prof. Dr. Christian Hillgruber ist Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Prof. Dr. Christian Hillgruber is Professor of Public Law at the RheinischeFriedrich-Wilhelms-University of Bonn. Forschungsschwerpunkte / Research Interests Staatsrecht, Völkerrecht, institutionelles Europarecht, Rechts- und Staatsphilosophie. Constitutional Law, Public International Law, European Law, Philosophy of Law, Political Philosophy. Auswahlbibliographie / Selected Publications Der Schutz des Menschen vor sich selbst (1992); Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz nationaler Minderheiten (zusammen mit M. Jestaedt); Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft (1998, Kölner Schriften zu Recht und Staat, Band 6); Staat und Religion, Überlegungen zur Säkularität, zur Neutralität und zum religiös-weltanschaulichen Fundament des modernen Staates. „Schönburger Gespräche“, Bd. 10, Paderborn 2007, 121 S.

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Die Autoren / The Authors

Kontaktadresse / Contact Address Prof. Dr. Christian Hillgruber Institut für Öffentliches Recht Universität Bonn Adenauerallee 24-42 53113 Bonn [email protected]

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Prof. Dr. René Kuppe Persönliche Angaben / Personal Data Dr. René Kuppe, geboren 1955, ist Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und arbeitet in Lehre und Forschung schwerpunktmäßig zu den Rechten indigener Völker. In den Jahren 2006 bis 2008 koordinierte er ein von der Europäischen Kommission gefördertes Projekt zur Unterstützung der Partizipation indigener Völker Venezuelas bei der rechtlichen Sicherung ihrer Länder. Von 2009 bis 2011 wirkte er an einem vom Nordischen Rat geförderten Projekt zur Situation der Landrechte der indigenen Völker der arktischen Region mit.

Dr. René Kuppe (born 1955 in Vienna) is professor of law at Vienna University, Austria. The focus of his research and teaching is concentrated on the rights of indigenous peoples. Between 2006 and 2008 he was the coordinator of a project, funded by the European commission, supporting the participation of indigenous peoples of Venezuela in the legalization of their traditional territories. From 2009 to 2011 he took part in an international research project funded by the Nordic Council, “Recognition of Indigenous Property Systems within Arctic States”, coordinated by the University of Lapland, Rovaniemi, Finland. Auswahlbibliographie / Selected Publications 2009: ‘The Three Dimensions of the Rights of Indigenous Peoples’, 11/1 International Community Law Review, 103-118; 2009: ‘Religious Freedom Law

Die Autoren / The Authors

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and the Protection of Sacred Sites’, in: Thomas G. Kirsch & Bertram Turner (ed.), Permutations of Order. Religion and Law as Contested Sovereignties, Ashgate; 2010: ‘Autonomía de los pueblos indígenas – la perspectiva desde la Declaración sobre los derechos de los pueblos indígenas’, in: Miguel González et al. (Hg.) La autonomía a debate. Autogobierno indígena y Estado plurinacional en América Latina. FLACSO, Quito, Ecuador, 95-145.; 2010: ‘Die Herausforderung des Immaterialgüterrechts durch traditionelles Wissen’, in: Kroeger, Odin, Günther Friesinger, Paul Lohberger und Eberhard Ortland (Hg.), Geistiges Eigentum und Originalität: Zur Politik der Wissens- und Kulturproduktion. Wien, Turia + Kant, 111-137; 2011: ‘Expropiación Liberal. Un ensayo sobre la transformación de recursos locales en mercancías globales’, in: Victoria Chenaut, Magdalena Gómez, Héctor Ortiz y Teresa Sierra (coord.), Justicia y diversidad en América Latina. Pueblos Indígenas ante la globalización. Ciesas Mexico y FLACSO, Quito, Ecuador, 63-81. Kontaktadresse / Contact Address ao. Univ.-Prof. Dr. René Kuppe Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht Universität Wien Schenkenstraße 8-10 A-1010 Wien T: +43-1-4277-358 15 F: +43-1-4277-3 5899 [email protected]

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Prof. Dr. Dietrich Murswiek Persönliche Angaben / Personal Data Dietrich Murswiek (geb. 1948): Studium der Rechtswissenschaft in Erlangen, Marburg und Heidelberg; 1978 Promotion an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg; 1984 Habilitation an der Universität Saarbrücken; 1986 Professur für Öffentliches Recht an der Georg-August-Universität Göttingen; seit 1990 Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht, Deutsches und Internationales Umweltrecht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; 1995–1997

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Die Autoren / The Authors

Dekan an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät; Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht. Dietrich Murswiek (born 1948) studied Law in Erlangen, Marburg and Heidelberg. 1978 Doctor’s degree in law, Heidelberg; 1984 Professorial thesis and academic qualification as a university teacher (Habilitation) at the University of Saarland; 1986 Professor of Public Law at the Georg-August-University of Göttingen; since 1990 Professor of Constitutional and Administrative Law and of German and International Environmental Law at the Albert-LudwigsUniversity of Freiburg; 1995–1997 Dean of the Law Faculty; Managing Director of the Institute of Public Law. Forschungsschwerpunkte / Research Interests Verfassungsrecht und -theorie; Umweltrecht; Völkerrecht. Constitutional Law and Constitutional Theory; Environmental Law; Public International Law. Auswahlbibliographie / Selected Publications Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978; Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985; Umweltschutz als Staatszweck, 1995; Peaceful Change. Ein Völkerrechtsprinzip?, 1998; Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung. Zur Frage nach der Verfassungswidrigkeit der wiedervereinigungsbedingten Grundgesetzänderungen, 1999. Kontaktadresse / Contact Address Prof. Dr. Dietrich Murswiek Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Öffentliches Recht D-79085 Freiburg / Deutschland Tel.: 0761/203-2237, -2241 Fax: 0761/203-2240 E-Mail: [email protected] Internet: www.jura.uni-freiburg.de/institute/ioeffr3/kontakt

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Die Autoren / The Authors

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Dr. Gregor Ploch Persönliche Angaben / Personal Data Dr. Gregor Ploch war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen (Hösel). Dr. Gregor Ploch was scientific assistant in the Upper Silesian State Museum, Ratingen (Hösel). Forschungsschwerpunkte / Research Interests Geschichte Schlesiens in der Neuzeit und Zeitgeschichte unter Berücksichtigung konfessioneller Aspekte; Geschichte Oberschlesiens im 19./20. Jahrhundert; Vertriebenen- und Aussiedlerforschung. History of Silesia in the modern era, and contemporary history, in consideration of denominational aspects; history of Upper Silesia in the 19th and 20th century; research of the expulsion of Germans, and research of the resettlement of so-called “ethnic Germans” (Aussiedler). Auswahlbibliographie / Selected Publications Monographien: Clemens Riedel (1914-2003) und die katholischen deutschen Vertriebenenorganisationen: Motor oder Hemmschuh des deutsch-polnischen Verständigungsprozesses? (Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 21), Berlin; Münster: LIT-Verlag, 2011; Heimatwerk Schlesischer Katholiken: Anfänge, Verlauf, Aussichten. (Arbeiten zur schlesischen Kirchengeschichte 16). Münster: Aschendorff, 2006. Kontaktadresse / Contact Address Dr. Gregor Ploch Wackenbrucher Str. 19 46485 Wesel E-Mail: [email protected]

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Die Autoren / The Authors

Godel Rosenberg Persönliche Angaben / Personal Data Godel Rosenberg wurde 1946 in Lodz/Polen geboren. Er ist deutscher und israelischer Staatsbürger, hat eine Frau (Eva) und drei Kinder. 1971: Abschluß der Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule München. Politikredakteur für verschiedene deutsche Tages- und Wochenzeitungen. 1979–1988: Leiter der Pressestelle der CSU, CSU-Sprecher in Bayern. 1989–1998: in leitender Position zuständig für Außen- und Europapolitik, und Moderator beim Deutschen Fernsehen (Bayerischer Rundfunk). 1999–2007: Leiter des Repräsentationsbüros von DaimlerChrysler Israel, PA, Jordanien (Büro in Israel). Seit 2008: Berater (Senior Advisor) bei der Daimler AG für Israel, Palästina, Jordanien. Seit 2009: Leiter der Bayerischen Auslandsrepräsentanz in Tel Aviv, Israel. Ehrenämter: 2001–2011: Gründer und Vizepräsident der Organisation Rette ein Kinderherz e. V. (SACH – Save a Child’s Heart. Seit 2003 Dozent am Interdisciplinary Center IDC Herzliya, Israel. ). 2001–2012: Vizepräsident der Israelisch-Deutschen Industrie und Handelskammer. Seit 2001: Schatzmeister der Israelisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer. Seit 2011 Berater bei Onebridgehouse (International Business Advisors). Godel Rosenberg was born in 1946 in Lodz/Polen, is a German and Israel citizen, married to Eva and a father of three children. 1971: Degree of the Academy of Journalism in Munich/Germany (Deutsche Journalistenschule), has been working as a political editor for several daily and weekly newspapers in Germany. 1979–1988: Head of the Media Department of the CSU, spokesman of the ruling party in Bavaria/Germany. 1989–1998 in charge as an Executive for Foreign Affairs and European Policy, and a tv-presenter for the German TV (Bavarian Broadcasting, BR). 1999–2007: Head Corporate Representative Office of Daimler (Chrysler) AG Israel, PA, Jordan (office located in Israel). Since 2008: Senior Advisor Daimler AG Israel, PA, Jordan (concluded end of 2009). Since 2009: Head of the Representative Office of the State of Bavaria in Israel (located in Tel Aviv/Israel). Honorary appointments: Since 2001 Founder and Vice-President of Save a Child’s Heart (SACH) Germany (Rette-ein-Kinderherz.de) (concluded 2011). Since 2003 regular lecturer at Interdisciplinary Center IDC Herzliya, Israel. 2001–2012 Vice-President of the Israel-German Chamber of Commerce and Industry. Since 2011 Treasurer of the Israel-German Chamber of Commerce and Industry. Since 2011 member of the Advisory Board of Onebridgehouse (International Business Advisors) Munich, Germany/Atlanta, Ga. USA.

Die Autoren / The Authors

Kontaktadresse Godel Rosenberg POB 12676 Herzliya 46733 Israel Tel +972 9 957 9091 Fax +972 9 957 9718 E-Mail: [email protected]

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Personenregister / List of Names

Åhrén 131

Deutsch, Karl W. 26 Dietrich, Frank 32

Bach, Johann Sebastian 171 Ban Ki-moon 121

Dmowski, Roman 46, 54 f., 58, 63 Dreyfuss, Alfred 173

Bein, Alex 173 Beneš, Edvard 46, 47

Fisch, Jörg 36, 124

Ben-Gurion, David 174

Friedrich II. 47

Bertram-Libal, Gisela 53 Boutros-Ghali, Boutros 33, 36

George, David Lloyd 51, 54, 56 f.

Bracher, Karl Dietrich 22 Hannikainen, Lauri 145, 148 Cambon, Jules 51, 55

Hannum, Hurst 147 f.

Clemenceau, Georges 51, 55, 56, 57

Hechter, Michael 24

Coakley, John 24

Heintze, Hans-Joachim 122

Cobo, Martinez 145

Henderson, James 128

Cristescu 82

Henriksen, John 131

Croes 88

Herzl, Theodor 170, 173 f., 180

Curzon, Lord George 175

Hitler, Adolf 50 Hitze, Guido 52, 66 f., 70, 72

d’Abernon, Lord Edgar 64 Daes, Erica-Irene 134, 136, 139, 159

Hörsing, Otto 59 Huntington, Samuel P. 29

Davide, Hilario 141 de Marinis, Armando 60, 67

Jehoshua, Abraham B. 176

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Personenregister / List of Names

Kirby, Michael 133

Paderewski, Ignacy 57 f.

Klein, Eckart 21, 34

Percival, Harold F.P. 60, 67

Koller, Christian 24

Piłsudski, Józef 54

Korfanty, Wojciech 52, 54, 60 ff., 65, 68 ff.

Rabin, Itzchak 177

Koskenniemi, Martti 33 f., 42

Reinhard, Wolfgang 22 Roldán, Roque 159

Lâm, Maivân 138 Le Rond, Henri 51 f., 57, 60 ff., 69 Lessing, Gotthold Ephraim 171 Lillich, Richard 148 Lukaschek, Hans 61, 67

Schachtschneider, Karl Albrecht 42 Scheinin, Martin 131 Segev, Tom 174 Shakespeare, William 171 Sutter, Alex 38

Mann, Thomas 171

Thürer, Daniel 82

Maria Theresia 47

Tuchatschewski, Michail 49

McCorquodale, Robert 35 f., 38

Türk, Danilo 137 f.

Meir, Golda 170 Michelangelo 171

Ulitzka, Carl 58, 60 f., 67, 72 Urbanek, Kurt 61

Netanyahu, Benyamin 174 f.

Wilson, Thomas Woodrow 22, 26, 45, 51 f., 54, 56 f., 72

Orlando, Vittorio Emanuele 51, 53

Woiwode, Michał Grażyński 72

Sachregister / Index

Abendland 171 Abspaltung 32, 36 ff., 105, 114 Abstammung 80, 96, 132 Abwehrrecht (siehe auch defensives Selbstbestimmungsrecht unter Selbstbestimmungsrecht) 100, 130 Allenstein und Marienwerder 48, 55, 63 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 179 Anerkennung 19, 21, 23, 26 f., 35, 43, 75, 81, 85, 90 ff., 106 ff., 118, 124, 126, 139, 145, 150 f., 154, 160, 170, 175, 180, 185 Annexion 26, 99, 106, 182

– innere / interne 7, 36 f., 105, 118 ff., 165 – personale 80 – politische 161 – substantielle 93 Autonomieinstanzen 148, 158 Autonomiekonzept 145 ff. Autonomierecht 7, 105, 113 ff., 134 ff., 138 ff., 147, 149 ff. Autonomieregelungen 146 ff., 149 ff. Autonomieregime 146, 148 ff., 153, 160, 167 Autonomiestatus 86 Autonomiezone 148, 160

Arbeitsgruppe über den Entwurf der Deklaration über die Rechte der indigenen Völker 134 ff., 140

Balfour-Deklaration 174 f.

Arhuaco-Volk 155

Befreiungsorganisation 85

Assimilation 171

Beschwerdelegitimation 87

Autonome polnische Schlesien 62 f., 72

Woiwodschaft

Autonomie 59 ff. – effektive 112 ff. – indigene 7, 140 ff., 150, 153 f., 155 ff., 158 ff.

Beuthen-Land 68 f. Bevölkerung 26 f., 31, 47, 55 ff., 62 f., 66, 71 f., 81, 104, 115 f., 127 f., 133, 151, 164, 166, 180 ff. – arabische 180 – deutsche 56 – indigene 128, 134, 140, 160

200

Sachregister / Index

– jüdische 174 – kroatische 114 – palästinensische 183 – polnische 62 – Territorial- 132 – Welt- 176 – Zivil- 180 ff., 185

Diskriminierung 104, 144 f., 151, 184

114 f.,

142,

diskriminierungsfrei 161, 163 Dismembration 83, 95, 116 Doktrin – uti possidetis 28, 39, 81, 84, 116, 118 Durchsetzungsverfahren 90

Breslauer Vorfrieden (1742) 47 Eiserner Vorhang 1, 106, 119 Camp David und Taba 170 Charta der Vereinten Nationen 27, 29, 33, 79, 107, 127, 139, 142, 179 Danzig 46, 50, 54 f. Definitionsmacht 83 Deklaration über die Rechte indigener Völker (United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, UNDRIP) 10, 17, 118, 121, 133 ff., 143 ff., 160, 167 Dekolonisierung 1, 7, 97, 116 Dekolonisierungsprozess 74, 78 Demokratie 22, 25 f., 29, 38 f., 43 derecho indiano 151 Deutsch-Dänischer Krieg 48 Deutsche Volkszählung von 1910 55 f., 60 Dezentralisierung 105 Diaspora 128, 170, 173, 176 Die Großen Vier 51, 53

Elsass und Lothringen 46 Entkolonialisierung 21, 27 f., 35, 39 f., 123 f., 127, 144, 150 Entkolonialisierungsprozess 76, 151, 167 – politischer 123 Entkolonialisierungsresolution 123 Eupen-Malmedy 50 Existenzrecht 113 – Israels 169 Fakultativprotokoll 87 ff., 92 „Falke“-Bewegung 59 Föderalismus 105 – multinationaler 37 Frauenrechte 175 Fremdbestimmung 7, 81, 99 f., 106 Fremdherrschaft 23 ff., 79, 86, 97, 123 – koloniale 27 f. Friedensprozess von Oslo 183

Sachregister / Index Friedensvertrag von Saint-Germain (September 1919) 49 Friedvolle Grenze 176 Friendly Relations Declaration 75

Herrschaft 96, 174, 182 – deutsche 49 – effiziente 24 – illegittime 23

Gaza 175, 182 ff., 185 f.

– legitime 24

Gaza-Jericho-Abkommen 86

– osmanische 180

Gemeinschaftsbewusstsein 80

– politische 22

Generalversammlung der Vereinten Nationen 7, 28, 75, 87, 101, 118, 121, 123, 140 f., 143, 161, 180

– Territorial- 95

Genfer Abkommen 182 Genfer Konvention 71, 185 Genozid 80, 112 f., 115 Gewalthandlungen 38 Ghetto 173 Gliedstaat(lichkeit) 83 ff., 105, 116 f., 124 Goldstone-Bericht 185

Herrschaftsapparat 34 Herrschaftsbefugnis 101 Herrschaftseliten 39 Herrschaftsgewalt 87 Holocaust 174 Hultschiner Ländchen 46 Human Rights Committee 89 Identität 34, 104 f., 118, 132 ff., 145 f., 151 f., 169, 172 f.

Groß Strehlitz (Landkreis) 66

– ethnische 34, 117, 145

Gruppenrecht 37, 87, 91

– kollektive 24

– kollektives 86 GUS-Staaten 177 Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 181 Habsburger (Doppel-) Monarchie 25, 96 Handlungsmaxime – politische 21 Heim ins Reich 50

201

– kulturelle 34, 152 – nationale 32 Identitätsbewusstsein 80 ILO-Übereinkommen (107) 129, 135 ILO-Übereinkommen (169) 135 Imperialismus 25 ff. Individualbeschwerde 87 ff., 126, 131 Individualrecht 37, 86 ff., 130, 147 Informations- und Anhörungsrecht 164

202

Sachregister / Index

Inquisition 173

Machtkorrektiv 95

Integration 20, 23, 41 f., 67, 128 f., 135

Machtprinzip 95

Integrität 125, 137, 156

Marktwirtschaft 177

– territoriale 1, 22, 29, 31, 33 f., 77, 80, 93, 96, 101 ff., 110, 118, 141 f. Interalliierte Kommission 52, 57, 60, 62 f., 64, 66 f. Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) 128, 135 Internationaler Gerichtshof in Den Haag (IGH) 75, 92, 182, 184 Interventionsverbot 90 ius cogens 76

Memelland 46 Menschenrechte 19, 37 ff., 81, 89, 92, 101, 123, 125 f., 130, 137, 139, 151, 153 ff., 167, 171, 175, 182 – kollektive 38 Menschenrechtskomitee 126 Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen 134, 140 Menschenrechtspakt der Vereinten Nationen 1, 21, 28, 76 ff., 89, 95, 98, 102, 118, 125 ff., 131 f., 138, 143

ius secedendi 103

Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen 140 f., 185

Kärnten (10. Oktober 1920) 47 f.

Minderheiten 7, 30, 37, 82 f., 91, 108, 113, 118, 144, 146, 152, 162

Kollektivrecht 129 f., 134 f.

Minderheitenrechte 37, 147

Kolonialherrschaft 78, 81, 97

Minderheitenschutz 29, 34, 37 ff., 83, 92, 118, 144, 146 f.

Kolonialvölker 27, 79, 97, 134 – colonial peoples 94, 123

Minderheitenschutzbestimmungen/ -regelungen 105, 148

– Dritte Welt 27, 79 Kommunismus 177

Nahost 177

Kooperations- und Konsultationsverpflichtung 165

Nakba (palästinensische Katastrophe) 180

Korfanty-Kuh 62

Nationalstaat 79, 96, 102, 145 f., 167, 169 f., 173 f., 180

Korfanty-Linie 68 f. Kreuzburg 66, 69 Leidensgemeinschaft 173

Naturalobligation 89 Oberschlesien 6, 27, 45 ff., 51 ff., 66 ff.

Sachregister / Index – Kommunalwahlen (9. November 1919) 59 f., 66 f. Ödenburg (Sopron) 49

203

Rechtsträger 77, 80, 82 f., 152 Referendum 91 Repressalien 90

Olsagebiet 46

Retorsionen 90

Ominayak Chief of the Lubicon Lake Band v. Canada 88, 129 Österreichische Volkzählung (1910) 46

Roadmap 2002 183 Rückkehrgesetz 181 Rückkehrrecht 176

Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 139 Pakt über zivile und politische Rechte 126, 129, 139 Palästina 38, 170, 174 f., 180

Saarland 48, 49 Salzburg (29. Mai 1921) 49 San-Remo-Konferenz 175 Schicksalsgemeinschaft 173,

Pariser Vorortverträge 47, 51

Schlacht bei Warschau 49

Plebiszit 39, 45 Pogrome 173

Schlesische Aufstände 52, 59, 63, 69, 70

Polnische Militärorganisation für Oberschlesien 59

Schlesischer Krieg 47

Polnische Plebiszitkommissariat 61 f. Polnischer Korridor 50

Schleswig 48, 56 Selbstbestimmung 19, 26 ff., 46, 52, 89, 95 ff., 125, 169 ff.

Polnisch-Litauische Union (1569) 54

– individuelle 25

Polnisch-Sowjetische 1921) 40

– innerstaatliche 105

Krieg

(1919-

Posener Aufstand (1918) 54 Präambel der Deklaration über die Rechte indigener Völker 160 Prinzip der Proportionalität der Opfer 70 Rat der Vier 55 f. Recht auf Partizipation 122, 161 f., 166 f.

– kollektive 20 ff., 24 f. – nationale 31, 175 – politische 23 f., 82 – territoriale 99 ff. Selbstbestimmungsbegehren Selbstbestimmungsrecht 5 f., 19 ff., 46 f., 72, 75 ff., 95 ff., 121 ff., 169 ff. – defensives 6 f., 77, 79, 95 ff.

Sachregister / Index

204 – Dilemmata des 36, 96 ff.

– Durchsetzung des 29, 32, 85 ff., 93 – Geltendmachung 129 f.

des

85 ff.,

Sprache 6, 37, 46, 48, 55, 66, 80, 91, 96, 104, 105, 132, 145, 148, 169, 172, 175 Staatenbildungsprinzip 96 Staatsangehörigkeit 77

– internes 140

Staatsgewalt 97, 108 ff., 116

– kollektives 21, 33, 38, 86, 88, 91, 126, 129 f., 167

Staatszerfall 40

– offensives 6 f., 79 f., 90 f., 95 ff. – Subjekt des: siehe Träger des – territoriales 99 ff., 118 – Träger des 36, 76 ff., 92, 96 ff., 99 f., 107, 115 ff., 126 ff., 137 – Verwirklichung des 6, 78, 92, 101, 124, 143, 167, 170 Selbstregierung 102, 122, 127, 133, 138, 141, 145 ff., 179 Separation 59 Sezession 32, 33 ff., 80, 90, 124 – Bestrebungen 91, 101, 107, 113, 128 – Recht 32, 36, 83, 96, 99, 102, 107 ff., 113 f.

Status – äußerer 98 – innerer 98 – Kolonial- 27, 97 – politischer 76, 77, 78, 79, 86, 99, 102, 103, 121, 125, 129, 137 ff., 143, 151, 179 – Territorial- 97, 99, 100, 102 – territorialer 96, 100, 101 Status quo 5, 7, 51, 78, 96, 99, 101, 103, 122 Sub-Commission on the Prevention of Discrimination and Protection of Minorities 139 f. Südtirol 46, 147, 88

Sharia 176

Tirol (24. April 1921) 47, 49

Siedlungsgebiet 6, 80, 97, 116, 118, 160, 165

Tradition 59, 133, 161, 180 – kulturelle 80

Sopron (Ödenburg) 49 Souveränität 5, 32, 33, 45, 46 ff., 79, 95 f., 99, 101 ff., 106 f., 112, 159 – territoriale 5, 93 Souveränitätsprinzip 95 ff., 101 f.

UN-Arbeitsgruppe über indigene Bevölkerung 134 Unabhängigkeit 5, 24, 28, 31, 33, 77, 86, 93, 104, 106, 107, 108, 111, 114, 116, 123, 125, 127, 135, 175

Sachregister / Index – staatliche 27, 39, 78, 97, 123, 124, 127

205

– indigenes 154, 157, 160 – Kolonialvolk 27, 79, 97, 134

Unabhängigkeitserklärung 111, 112, 114, 115

– Mehrheitsvolk 104, 117, 118

Unabhängigkeitskrieg 86, 174

– Staatsvolk 6, 7, 79, 96 ff., 106, 131, 132

UN-Ausschuss soziale und

für

wirtschaftliche,

kulturelle Rechte 179

– Volksgruppe 31, 45, 54, 70, 77, 82, 83, 84, 86 f., 92, 96, 113 – Volkswillen 91, 99

UN-Charta für Menschenrechte 182 Unechter Vertrag zugunsten Dritter 89

– Volkszählung 46, 55, 56, 60

UNESCO 132, 133

Völkerbund 50, 55, 58, 70, 71, 102, 103, 123, 146, 170

Unilateralismus 20

Völkergewohnheitsrecht 75, 90

UN-Menschenrechtsausschuss 179

129,

UN-Sondersitzungen 176 UN-Teilungsplan 1947 69, 170 Unterdrückung 27, 30, 113, 155, 157, 170

Völkerrecht 5, 20, 21, 70, 75, 76, 79,. 90, 95, 103, 105 ff., 132, 135, 146, 152, 181, 183 ff. Völkerrechtliche Norm 20, 29, 33, 37 Völkerrechtlicher Grundsatz 45 Völkerrechtssubjekt 85, 101, 109

UN-Vollversammlung 170, 184

Völkerrechtsverletzung 90

Uti possidetis 28, 39, 81, 83, 84, 85, 111, 116, 118

Volksabstimmung 6, 27, 42, 45 ff.

Verfassung Israels 181 Versailler Vertrag 46, 47, 48, 49, 58, 60, 62, 64, 68, 70 Vielvölkerstaat 25 f., 115 Volk – Begriff 6, 26, 34 ff., 78 ff., 96 ff., 127, 131, 132 ff. – Gliedstaatsvölker 84 – im ethnischen Sinne 97 ff.

Vorarlberg (11. Mai 1919) 47, 48 Waffenstillstandsvereinbarungen 174 Weltkrieg – Erster 6, 22, 26, 39, 45, 46, 52, 57, 65, 96, 146, 174, 175 – Zweiter 5, 21, 24, 75, 95, 96, 97, 125, 127, 179 Weltrat der Eingeborenenvölker (World Council of Indigenous Peoples) 127 Westbank 176, 182, 184

206

Sachregister / Index

Wiedergutmachung 39, 40, 49 Wiener Erklärung (Ergebnisse der Weltkonferenz der Vereinten Nationen über die Menschenrechte vom 14. – 25.06.1993) 142 Wiener Vertragsrechtskonvention 131 f.

Working Group on Indigenous Populations 125, 127, 134, 140, 164 Zionismus 170, 171, 175, 176 Zwangswirtschaft 177